Der rote Faden
Erstellt von DL-Redaktion am Samstag 25. November 2017
Radikale Freiheit, maximale Auswahl – wer hält das aus?
Von Robert Misik
Es gibt ja gerade eine Obsession mit Identität. Identität ist so eine Sache, die ganz allgemein positive Assoziationen hervorruft. Wer eine bestimmte „sexuelle Identität“ hat und die ohne Angst und Ressentiment ausleben kann, dem oder der oder * geht es besser als jemandem, der oder die das nicht kann.
Identität wird erkämpft, und wenn sie einmal erkämpft ist, dann ist das gut. „Identität“ ist aber auch eine Kampfvokabel der ganz anderen gesellschaftspolitischen Seite. „Kulturelle Identität“, etwa im ethnisch geprägten Nationalstaat, Leitkultur, all das muss verteidigt werden gegen Auflösungserscheinungen, Vermischungen, Dezentrierungen, meint man da.
Dass allein der Begriff „kulturelle Identität“ eine absurde Wortkombination ist, darauf hat gerade der französische Denker François Jullien in seinem Buch „Es gibt keine kulturelle Identität“ hingewiesen. Das trägt die These schon im Titel: Kultur ist nie natürlich, sondern immer von Menschen gemacht, sie verändert sich, nimmt Anregungen und Einflüsse auf, ist ein stets variierendes Mosaik, kurzum: „Kulturelle Identität“ ist so ziemlich das Gegenteil von Identität, die ja eine gewisse Fixiertheit unterstellt. Die Wortkombination „kulturelle Identität“ sei also, meint Jullien, etwa so sinnvoll wie „schmutzige Sauberkeit“ oder „brutal friedlich“.
Aber wahrscheinlich steckt im Begriff der „Identität“ eine Sehnsucht nach Klarheit und Eindeutigkeit. Bei den Radikalen sieht man das ja deutlich: Wer seine „teutsche Identität“ hochhält, wähnt diese meist bedroht. Wer die „muslimische Identität“ hochhält, der sieht sie meist auch von einem Ozean der Gefahren umgeben.
Identität, so betrachtet, ist eine Rebellion gegen absolute Freiheit, eine Rebellion gegen eine Welt, in der nichts gegeben und in der alles wählbar ist. Entscheidungen überfordern, dauernde Auswahl macht auch unglücklich. Die israelische Soziologin Eva Illouz hat in einigen berühmten Studien darauf hingewiesen, wie Liebe, Romantik und Beziehungen heute dem Konsummodell folgen, das man aus der Warenwelt kennt, beruht doch der „Konsum auf dem Drang nach Erregung, denn der Kauf und die Erfahrung neuer Waren sind eine Quelle der Freude, und die Affäre befriedigt mit all der Erregung eines neuen Liebhabers diesen Drang ebenso“. Auf Partner lassen wir uns nicht mehr völlig ein, denn es könnte ja ein noch besserer um die Ecke kommen. Partnerschaften, einmal eingegangen, haben von Beginn an ihr Ablaufdatum, da wir sie nur mehr als „Lebensabschnittspartnerschaften“ definieren.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquelle : Austrian journalist and author