DER ROTE FADEN
Erstellt von Redaktion am Mittwoch 1. August 2018
Fahren eigentlich auch Reichsbürger in Urlaub?
Durch die Woche mit Nina Apin
So heiß ist es, dass sogar das preußische Berlin tropisches Flair verströmt: in den Straßen viele Urlauber und wenige Einheimische, die sich träge auf schmatzenden Flipflops oder schwankend auf Leihfahrrädern durch die Straßen schieben. In den skandalös schlecht klimatisierten Räumen der taz gerötete Gesichter, glasige Blicke, die sich auf nutzlos rotierende Kleinventilatoren richten. Unter den Konferenztischen sieht man nackte Füße und Beine mit Sonnenbrand. Die Diskussionen sind fahrig und von einer gewissen Gereiztheit: Erst Boateng, jetzt Özil – ist das struktureller Rassismus? Wie milde sollten wir als Linke mit einem Fußballer sein, der Respekt vor der Heimat seiner Vorfahren mit Respekt vor Erdoğan gleichzusetzen scheint? Und wieso äußert sich dieser Grindel nicht? Rücktritt?!
Die Hitze hat manchmal ihr Gutes: Während am Montag ein Meinungsüberschwang herrscht, der sich in einer gewissen, äh, Überpräsenz in der Zeitung spiegelt (seitenweise der „Fall Özil“), ist am Dienstag schon wieder Flaute. Während das Thermometer unbarmherzig klettert, hängen wir mangels Körperspannung über den Konferenztischen und raunen uns ab und zu magische Worte zu: Badesee …, Himbeereis …, noch drei Tage bis zum Urlaub!
Draußen plötzlich ohrenbetäubendes Dröhnen, quietschende Bremsen, so laut, als hätten sich Dutzende Irre zu einer Autorallye auf der Rudi-Dutschke-Straße verabredet. Haben sie auch: Etwa 20 Boliden der sogenannten Nexus-Ball-Rallye, die von Stockholm über Kopenhagen und Berlin bis Danzig und per Fähre zurück in die südschwedische Stadt Visby führt, sind über Berlin hergefallen, einer überfährt eine dunkelrote Ampel, dass es nur so kracht. Wenig später die Genugtuung, dass die Berliner Polizei den Streckenrekord der Raser empfindlich drückt – über eine Stunde überprüfen die Beamten die teilnehmenden Fahrzeuge, bevor sie die PS-Gesellschaft bis zur Stadtgrenze eskortieren. Erstaunlicher Polizeibefund: „Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung wurden nicht festgestellt“, so ein Sprecher. „Ja, wo sind wir denn hier?“, ruft ein Kollege entgeistert.
Ja, wo bin ich eigentlich? Der Tropicana-Effekt bringt erstaunliche Fremdheitsgefühle mit sich. Als ich an einer Ampel unversehens von einer chinesischen Reisegruppe mit Sonnenschirmen umringt werde, als statt meiner Nachbarn fremde Saisonbewohner durchs Treppenhaus laufen und als mein kleiner Kiezdiscounter bevölkert ist von Menschen, die in fremden Zungen sprechen und ungewohnte Dinge kaufen (Kohlrouladen aus der Dose!) – da kommt mir auf einmal dieser skurrile Slogan ins Hirn: Der Große Austausch, es gibt ihn doch! Wenn auch anders, als seine Erfinder ihn sich vorstellen.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquelle :
Oben — Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs