DER ROTE FADEN
Erstellt von Redaktion am Mittwoch 16. Juni 2021
Grell geschminkte Lebensläufe
Durch die Woche mit Nina Apin
Grünen-Fans müssen sich eingestehen, dass sich das Spitzenduo entzaubert hat: Sie sind einfach ganz normale Polit-Karrieristen.
Wenn der Zauber des Neuanfangs zusammenfällt mit 26 Grad Außentemperatur, dann führt das ganz sicher zu Kopfweh. Der Zauber, das war natürlich diese große Maschine, die, stockend zwar, aber mit immer schnellerer Drehzahl, wieder anzulaufen beginnt: Als ich das erste Mal wieder in der Umkleidekabine eines Ladens stand, den ich spontan betreten hatte, kam ich mir noch vor, als würde ich etwas Illegales tun.
Doch abends draußen in der Pizzeria, fühlte es sich schon wieder beinahe normal an – wäre nicht ein Rollkommando vom Ordnungsamt mit Laserpointern und Zollstöcken aufgetaucht, um unter großem Bohei die Abstände zwischen den Tischen, sowie zwischen Stühlen und Gehweg zu vermessen.
Und siehe da: Die braunen Stuhllehnen ragten an zwei Stellen sechs Zentimeter zu weit in den Durchgang hinein! Ein Anwohner hatte sich beschwert. Aufgeregte Verhandlungen, ein Flehen des Pizzeriabetreibers – er brauche doch die Tische, habe so lang keine Umsätze gehabt…
Einige Restaurantbesucher sahen sich zu ad-hoc-Solidaritätsaktionen veranlasst. Eine ältere Frau schob demonstrativ ihren Rollator durch: „Sehn Se, keen Problem!“ – und ein Junge steckte dem Mann vom Ordnungsamt, dass der Anzeiger bestimmt derselbe fiese Typ sei, der schon dem Kinderladen im Hinterhof die Gartennutzung verbieten wollte. Offenbar kehrt mit dem allgemeinen Erwachen auch die menschliche Niedertracht zurück – ich bekam Kopfweh beim Gedanken an den Nachbarn, den ich auch kennenlernen musste.
U-Bahnfahrt für Sozialpolitiker
Kopfweh auch im öffentlichen Nahverkehr, auf dem Weg zum Bürgeramt. Wer wieder reisen will, braucht nicht nur einen Impfnachweis, sondern auch einen gültigen Pass. Um den in Berlin zu bekommen, muss man sich in die rauen Randbezirke begeben, denn dort kriegt man noch Termine.
In der U-Bahnlinie, die Berlin einmal der Länge nach von Norden nach Süden durchzieht, wurden die negativen Effekte der Pandemie visuell so dermaßen deutlich, dass man jedem Sozialpolitiker zu Anschauungszwecken sofort so eine Fahrt spendieren möchte: Sehr viele sehr übergewichtige Kinder, sehr viele offensichtlich nervlich auf dem letzten Loch pfeifende Mütter, und Menschen jeden Alters, denen das letzte Jahr jede Körperspannung genommen hat.
Im Bus dann wollte ein Restalkoholisierter, dem immer wieder die Maske vom Gesicht rutschte, dem Kontrolleur weismachen, dass Bill Gates daran schuld sei, dass ihm das Portemonnaie samt Fahrschein und Ausweis geklaut worden sei. Während ich das Ende der Fahrt herbeisehnte, informierte mich mein Handy über eine neue Studie: Während der Pandemie sei der Absatz von dekorativer Kosmetik stark zurück gegangen. Deutschland ungeschminkt – auch kein schöner Gedanke.
Die Grünen jedenfalls, früher notorisch ungeschminkt, malen sich jetzt die Lebensläufe mit dem dicken Pinsel schön und stecken sich Boni und Weihnachtsgelder in die Taschen. Ist das moralisch verwerflich? Darüber diskutierten wir abends im Gemeinschaftsgarten, in den sich nach und nach wieder mehr GärtnerInnen wagen, um gemeinsam zu gießen und zu quatschen. Endlich nicht mehr allein oder zu zweit (so manche fing schon an, mit den Pflanzen zu reden), sondern jetzt wieder schön bei Bier und selbst angebautem Salat an Bratwurst politisieren.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs
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Unten — Annalena Baerbock und Robert Habeck sind die Parteivorsitzenden von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Foto: © Dominik Butzmann.