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Der Reiz von Kleingärten

Erstellt von DL-Redaktion am Donnerstag 10. Februar 2022

„Der Osten ist der Battleground für die Demokratie“

Carsten Schneider im Interview (Friedrich-Naumann-Stiftung, 2017) 03.png

Sein Kleingarten ist der rote Teppich ?

INTERVIEW KATRIN GOTTSCHALK UNDDANIEL SCHULZ

Die Menschen müssen für ihre Interessen kämpfen, sagt Carsten Schneider. Der neue Ostbeauftragte setzt auf Gewerkschaften, will mit Impfgegnern reden und hofft dabei auf den Reiz von Kleingärten.

taz: Herr Schneider, Sie sind jetzt Ostbeauftragter der Bundesregierung. Was ist ein Ostdeutscher?

Carsten Schneider: Das sind ganz grundsätzlich diejenigen, die im Osten geboren sind. Aber meine Kinder sehen sich zum Beispiel nicht so, mein Bruder schon, der ist 1991 geboren. Ich glaube, die Zeit nach 1989 ist für das Herausbilden eines ostdeutschen Bewusstseins entscheidender als die vierzig Jahre DDR. Das gemeinsame Erleben von Unsicherheit, Entwertung, Arbeitslosigkeit, auch Angst, das macht diese Prägung aus.

Kann man Ostdeutscher werden?

Man kann Empathie und einen Blick für Ostdeutschland entwickeln und ein echtes Verständnis. Aber wenn man die neunziger Jahre nicht selbst erlebt hat, ist das – glaube ich – nicht so recht drin.

Sehen Sie es als ein Problem der Repräsentation an, wenn Westdeutsche Mandate in Ostdeutschland bekommen? Der Kanzler ist zum Beispiel auch über ein Direktmandat in Potsdam in den Bundestag eingezogen.

Nein, am Ende entscheiden die Wähler. Wenn wir als Partei nur einen Wahlkreis in Brandenburg gewonnen hätten, wäre das anders gelagert. Aber wir haben dort fast alle Wahlkreise mit neuen Kandidaten besetzt, oft junge Leute, das sind fast alles Brandenburger Gewächse. In Thüringen, wo ich herkomme, sind vier von fünf SPD-Abgeordneten aus dem Osten. Früher war dieses Defizit größer, heute ist es doch eher eine Ausnahme. Es gibt übrigens auch Ossis, die im Westen gewählt werden, das sind aber noch nicht so viele.

Sie sind als Ostbeauftragter jetzt nicht mehr dem Wirtschaftsministerium zugeordnet, sondern dem Kanzleramt, in dem wir hier gerade sitzen. Was verändert das?

Im Kern nutze ich die geliehene Autorität des Bundeskanzlers. Er sitzt eine Etage über mir und er will, dass das hier etwas wird. Deshalb hat er mich zu sich geholt. Entscheidungen werden ja nicht erst im Bundeskabinett getroffen, sondern werden vorbereitet. Und alle, die an für den Osten wichtigen Entscheidungen beteiligt sind, kommen mit ihren Informationen und Ideen zu Forschungsvorhaben oder Infrastrukturprojekten hierher ins Bundeskanzleramt. Und da kann ich Einfluss nehmen, so kann ich vor die Welle kommen. Ich bin viele Jahre im Bundestag und weiß in etwa, wann wo welche Entscheidung getroffen wird.

Wie sieht das praktisch aus?

Im Kanzleramt gibt es Spiegelreferate für die einzelnen Fachressorts. Die wissen, wann welche Entscheidung vorbereitet wird. Und dann kann man moderierend das Gespräch suchen und lenken.

In den Spiegelreferaten finden viele Gespräche gleichzeitig statt. Wie wollen Sie diese als Einzelperson lenken?

Ich baue gerade einen eigenen Arbeitsstab auf.

Wie groß wird der sein?

Wenn wir voll arbeitsfähig sind, werden es wahrscheinlich vierzig Leute sein. Für die Aufteilung sind die Investitionsressorts entscheidend wie Wirtschaft, Verkehr, Bildung und Forschung, aber auch Arbeit und Soziales. Wenn Sie sich auf die wesentlichen Punkte konzentrieren, geht das auch mit wenigen Leuten.

An welchen Punkten werden Sie in vier Jahren festmachen, ob Sie erfolgreich waren? Wenn Sie mehr Geld in Richtung Ostdeutschland geschleust haben?

Wenn wir die Chancen der Transformation nutzen und weitere Unternehmen erfolgreich im Osten ansiedeln können. Wir brauchen neben Tesla noch weitere Kernindustrien. Im Verkehrsbereich brauchen wir vor allem eine schnelle Eisenbahnanbindung nach Osteuropa, nach Polen ist sie furchtbar schlecht, ausgebaut kann man dazu gar nicht sagen. Die 2020er Jahre werden Jahre der Veränderung sein, besonders im Energiebereich wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Das kann man lethargisch hinnehmen oder versuchen, vorn dran zu sein. Ich bin dafür, die Chancen zu ergreifen, vor allem wenn die Claims noch nicht abgesteckt sind, wie Ende der Achtziger in der BRD. Das Gebiet der ehemaligen DDR wurde ökonomisch damals ja eher als erweiterter Absatzmarkt betrachtet und es kam zu einem Nachbau West.

Kennen Sie die Serie „Warten auf ’n Bus“, in der zwei Langzeitarbeitslose in Brandenburg auf den Bus warten?

Nein.

In einer Folge steigt einer der beiden tatsächlich mal in den Bus und fährt zum Job-Interview zu Tesla. Er wird nicht genommen, weil er nicht die passende Qualifikation hat. Macht man Menschen mit solchen Jobs nicht Hoffnungen, die dann gar nicht erfüllt werden können?

Ich kenne viele Langzeitarbeitslose, die einen neuen Job und damit auch ihren Stolz wiedergefunden haben. Beispielsweise bei Zalando in Erfurt. In solchen großen Unternehmen kann man auch als Ungelernter einen Job finden. Das Unternehmen bemüht sich um seine Beschäftigten, mehr als gemeinhin angenommen, auch wenn nicht alles glänzt. Vielleicht wirst du nicht der Mechatroniker bei Tesla, sondern arbeitest erst mal im Lager. Aber du bist wieder drin im Arbeitsleben und damit erfährst du auch wieder gesellschaftliche Wertschätzung. Die DDR war eine Arbeitsgesellschaft. Deswegen waren die 90er und 2000er Jahre mit Massenarbeitslosigkeit auch so demütigend für viele.

Nun hat es in Ostdeutschland viele große Versprechungen mit Großansiedlungen und Zukunftstechnologien gegeben. Chipfabrik und Luftschiffbau in Brandenburg, Solarenergie in Sachsen, Windradbau in Sachsen-Anhalt. Vieles davon ist gescheitert.

Also wenn ich mir den Aktienkurs und die Marktkapitalisierung im Vergleich zu den deutschen Autobauern ansehe, würde ich sagen: Tesla ist die Zukunft. Außerdem haben wir den Vorteil, dass die Globalisierung an ihr Ende gekommen ist. Die Fabriken für Halbleiter, Solar und andere Hochtechnologien werden wieder dezentral gebaut, sicher auch in Deutschland.

Wie zeitgemäß ist das Warten auf den einen großen Investor, der ganze Gegenden retten soll und von dem man sich zugleich sehr abhängig macht? Wäre es nicht besser, auf kleinere Unternehmen zu setzen?

Wenn ein großer Investor kommt, lehne ich doch nicht ab. Der Osten hat etwas, womit er wuchern kann, das andere nicht haben, und das ist Fläche. Natürlich brauchen wir die kleinen und mittleren Unternehmen, nur wegen denen steht Thüringen so gut da. Das Problem ist dort aber, dass sie oft keine Tarifverträge haben und kaum Betriebsräte. Für höhere Löhne brauchen wir eine bessere Tarifbindung, und das geht nur mit starken Gewerkschaften. Ich unterstütze die Beschäftigten bei Forderungen nach fairer Bezahlung. Durch den Eintritt in eine Gewerkschaft können sie dazu auch einen Beitrag leisten.

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Tesla baut immer noch ohne umweltrechtliche Genehmigung, und Konzernchef Elon Musk hat nur gelacht, als ihn eine Reporterin auf den Wassermangel ansprach, den seine Fabrik verursachen wird. Das Unternehmen erschwert die Gründung eines Betriebsrats. Müsste die SPD, die in Brandenburg regiert, da nicht mal selbstbewusster auftreten?

Wir haben die strengsten Umweltvorschriften weltweit, und Wasserprobleme gibt es bei allen Fabriken, die neu gebaut werden. Dass die Amerikaner die deutsche Kultur der Mitbestimmung nicht kennen, ist auch hinreichend bekannt. Man muss die Regeln durchsetzen und den Betriebsrat eben auch. Ich werde mich auch grundsätzlich vor die Werkstore stellen, auch bei Amazon, und für die Interessen der Arbeitnehmer kämpfen. Die müssen aber bereit sein, auch selbst in die Gewerkschaft einzutreten und für Tariflöhne zu streiten.

Es gab in Ostdeutschland in den vergangenen Jahren einige erfolgreiche Streiks, bei Teigwaren Riesa, beim Stahlwerk in Unterwellenborn, bei Eberspächer in Hermsdorf und bei Dagro Automotive in Gera. Ändert sich die ablehnende Haltung vieler Ostdeutscher gegenüber Gewerkschaften?

Ich hoffe sehr, dass diese Erfolge die Leute darin bestärken, ihre Arbeitskraft nicht nur auf den Markt zu tragen, sondern dafür auch einen Preis zu verlangen. Die Jahrzehnte des Kleinmachens aus der berechtigten Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, kenne ich aus persönlichen Erfahrungen. Ich wollte als Auszubildender in der Bank eine Auszubildendenvertretung gründen, aber niemand hat sich getraut, mitzumachen. Wir brauchen eine Renaissance des Klassenbewusstseins in Ostdeutschland. Die Menschen müssen wieder lernen, für ihre Interessen zu kämpfen.

Ist Ostdeutschland auch auf Zuwanderung angewiesen?

Quelle       :        TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Carsten Schneider im Interview zu Themen in Deutschland im Jahr 2017.

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