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Erstellt von Redaktion am Freitag 21. Januar 2022

„Ungleichheit ist die Mutter aller Probleme“

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Das Interview mit Gerhard Traber führte Elsa Koester

Gerhard Trabert behandelt die Ärmsten. Jetzt kandidiert er für das Amt des Bundespräsidenten. Was treibt ihn an? Ein Gespräch über Armut, Demokratie in Gefahr – und seine historische Parallele zur Menschenverachtung im Nationalsozialismus.

Beim digitalen Jahresauftakt der Linken sprach er über das Sterben von Geflüchteten – und in diesem Zusammenhang über die Anfänge des Nationalsozialismus: „Wie damals viele Deutsche wussten, was mit den Juden geschieht, ist es heute so, dass wir wissen, was mit geflüchteten Menschen im Mittelmeer, in libyschen, in syrischen Lagern geschieht.“ Diese historische Parallele sorgte für Kritik, der FDP-Politiker Johannes Vogel fordert Traberts Rückzug.

der Freitag: Herr Trabert, Sie wollten über Armut sprechen – nun wird über Ihren historischen Vergleich des Wegschauens diskutiert

Gerhard Trabert: Ich habe das Leid von Geflüchteten nicht mit der Ermordung von Millionen von jüdischen Mitbürgern, von Sinti und Roma und behinderten Menschen im Nationalsozialismus verglichen. Das habe ich nicht getan, weil man das gar nicht kann. Der Holocaust ist nicht vergleichbar.

Sie verstehen also, dass Ihre Äußerung kritisch diskutiert wird?

Ich werde leider falsch wiedergegeben. Der Nationalsozialismus ist nicht durch einen Putsch an die Macht gekommen, sondern aus einer Demokratie heraus entstanden – aus der Weimarer Republik. Als das nationalsozialistische Menschenbild sich durch setzte, hat man nicht genug hingeschaut. Wenn jetzt Menschenrechte verletzt werden, und es wird weggeschaut, besteht die Gefahr, dass die Situation eskaliert. Wir müssen Unrecht sehen und kritisieren, um Demokratie zu bewahren.

Nun erleben wir derzeit, wie manche Demonstranten sich gelbe Sterne anheften: Sie setzen den Ausschluss von Ungeimpften von Restaurantbesuchen in der Pandemie mit der Ermordung von Millionen Juden gleich.

Diese Menschen instrumentalisieren den Holocaust, um sich selbst zu Opfern zu stilisieren, das ist gefährlich. Gerade in diesen Zeiten kann ich nicht nachvollziehen, wieso teils so undifferenziert über mein Sprechen über den Nationalsozialismus berichtet wird. Es darf kein Tabu sein, auf die Strukturen hinzuweisen, die zum Nationalsozialismus geführt haben. Wir haben die Verpflichtung, uns unsere Vergangenheit anzuschauen und zu fragen: Wie fing es an? Aufbauend auf dieser Analyse müssen wir selbstkritisch mit unserem Verhalten in der Gegenwart umgehen. Wir müssen darauf achten, wie wir mit den Ärmsten unserer Gesellschaft umgehen.

Wie gehen wir mit den Ärmsten unserer Gesellschaft um?

Ich kann Ihnen das ganz konkret anhand des Umgangs mit Obdachlosen in der Pandemie zeigen. Mit dem Lockdown im März 2020 wurden Teestuben geschlossen, ebenso die Tafeln und die öffentlichen Toiletten: Die gesamte Versorgungsstruktur ist zusammengebrochen. Man hatte diese Menschen einfach vergessen.

Sie fahren mit einem Arztmobil zu wohnungslosen Kranken. Auch in der Pandemie?

Ja, wir konnten unsere medizinische Versorgung offen halten, und das wurde sehr wertgeschätzt: „Ihr vergesst uns nicht – nicht wie die anderen!“ Wir haben die Kommune dazu gebracht, die Toiletten zu öffnen, damit die Menschen ihre Notdurft verrichten und sich Wasser besorgen können. Wir haben die teuren Masken besorgt und sie verteilt. Dann stellte sich die Frage: Wie erreichen wir die Menschen für die Impfungen?

Die konnten Sie doch über Ihr Arztmobil erreichen?

Natürlich, aber es gab einige illegalisierte Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis, die Sorge hatten, dass sie bei einer Abgabe ihrer persönlichen Daten abgeschoben werden. Wir haben dann beim Land erreicht, dass wir sie anonym impfen dürfen.

Mussten Sie viel Überzeugungsarbeit leisten, damit sich obdachlose Menschen impfen lassen?

Im Gegenteil, die Menschen haben von sich aus gefragt: Wann kommt denn der Impfstoff? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass arme Menschen sehr informiert sind über die politische Lage und die pandemische Situation. Auch jetzt konnten wir in der Teestube problemlos 150 Menschen boostern.

Es gibt Studien, die nahelegen, dass die Impfskepsis bei Menschen mit wenig Einkommen größer ist als bei Akademikern. Ihre Erfahrung ist eine andere?

Es ist wichtig, drei Gruppen voneinander zu unterscheiden. Es gibt jene Menschen, die nicht gut informiert sind und wenig Kontakt zu Ärzten haben. Dann gibt es eine Gruppe, die sich dogmatisch-ideologisch orientiert – klare Impfgegner. Und die dritte Gruppe sind Antidemokraten und Rassisten, die das Impfthema für sich instrumentalisieren.

Ich habe da meine Zweifel. Aber die erste Gruppe kann man noch erreichen – indem man die Menschen dort, wo sie leben, kontaktiert. Ich rede von Gesprächen, nicht von Youtube-Clips.

Oder man verpflichtet diese Menschen zur Impfung …?

Ich bin noch unentschlossen, wie ich zu einer Impfpflicht stehe. Wie soll sie durchgesetzt werden? Wird es eine zentrale Datei geben? Meine Sorge ist vor allem, dass eine Imfpflicht die Gesellschaft weiter spaltet. Einen Teil der bislang Ungeimpften kann man durch eine direkte Ansprache überzeugen, da müssten sich Ärzte allerdings viel Zeit nehmen. Was sie aber leider nicht honoriert bekommen.

Wann haben Sie sich entschieden, die Menschen auf der Straße direkt aufzusuchen?

1994 fing ich mit einem Köfferchen auf der Straße an. Es war schnell klar, dass ich schlecht in der Fußgängerzone zu meinen Patienten sagen kann: Machen Sie sich mal frei, ich muss Sie mal abhören. Es braucht also einen Schutzraum.

Dass arme Menschen Berührungsängste mit Praxen haben, ist längst Stand der Public-Health-Forschung. Wieso aber machen sich so wenige Ärztinnen auf den Weg zu ihnen?

Es hat sich schon eine kleine Szene von kritischen Ärzten etabliert, die das machen. Es gibt Arztmobile, es gibt die Initiative „Ärzte der Welt“, den Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte …

Das sind winzige Initiativen – zur Erinnerung: Sie kandidieren als Bundespräsident! Was kann die Bundespolitik machen, damit arme Menschen breitflächig erreicht werden?

Zunächst muss die medizinische Ausbildung auf die Behandlung von armen Menschen vorbereiten. Und dann muss das Bezahlsystem von Ärzten reformiert werden. Die Zeit, die man in das Gespräch mit Patienten investiert, muss honoriert werden – und nicht die reine Anzahl der Gespräche oder der Diagnosen.

Hausbesuche waren für Hausärzte doch lange selbstverständlich?

Ja, wir erleben in der medizinischen Entwicklung eine Schleife zurück. Ein Hausbesuch ist notwendig, um den Menschen in seinem normalen Lebenskontext kennenzulernen – aber auch unbequem und zeitintensiv. Dafür muss es in der Abrechnung neue Kategorien geben.

Parteitages der Partei DIE LINKE 2019, Bonn.2.jpg

Die Behandlung armer Menschen lohnt sich nicht für Ärzte?

Finanziell gesehen nicht. Hier könnte man gesetzlich einiges ändern – indem man die Trennung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung aufhebt und die solidarische Bürgerversicherung einführt.

Nun kandidieren Sie nicht für das Amt des Gesundheitsministers, sondern für das Amt des Bundespräsidenten

Und als solcher weise ich darauf hin, dass Krankheit hierzulande der dritthäufigste Grund für eine Verschuldung ist. Es ist absurd: Wir haben immer mehr Studien, die den Zusammenhang von Armut und Krankheit belegen. Laut Robert-Koch-Institut stirbt eine arme Frau 4,4 Jahre und ein armer Mann 8,6 Jahre früher als eine reiche Frau und ein reicher Mann. Fast neun Jahre Lebenszeit, die durch Armut vermeidbar gekürzt wird! Und die Ärzteschaft skandalisiert diese Ungleichheit kaum. Ein erschütternder Beleg für die Spaltung dieser Gesellschaft.

Die Linke findet ja, dass Sie ein guter Typ dafür sind, diese Ungerechtigkeit sichtbar zu machen. Wieso hat die Partei es in zwei Jahren Pandemie nicht selber geschafft, das Thema Armut stärker in die Öffentlichkeit zu tragen?

Die Linke versucht das: Sie fordert eine Bürgerversicherung, sie fordert eine bessere Bezahlung in den Pflegeberufen, sie fordert die Abschaffung der Fallpauschalen und eine Erhöhung des Regelsatzes bei Hartz IV.

Quelle      :        Der Freitag-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben       —     Gerhard Trabert

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