Erstellt von Redaktion am Donnerstag 10. Juni 2021
In sozialen Medien wandelt sich das Klima – in Richtung Frauenfeindlichkeit
Im Internet ist eine neue digitale Dimension des Frauenhasses entstanden. Ein misogyner Mob erschwert es Frauen, sich frei und offen zu äußern. Dagegen hilft vor allem eines.
Es gibt diesen besonderen Sound in sozialen Medien: vorsichtig tastend, manchmal beinahe fragend. Anflüge von Selbstironie mit einem Hauch Selbstzweifel. Fakten zitierend, keinesfalls behauptend. Ein paar »vielleicht«, »oder?« und »glaube ich« einstreuend. Etwas Charme, ein wenig Emotionalität, aber von beidem nicht zu viel. Schließend mit einer Art Demutsgeste gegenüber dem Publikum, etwa »oder wie seht ihr das?«, manchmal gar mit der Bitte um Hinweise auf eventuelle Fehler oder Vorabentschuldigungen. Das mag sich interessant anhören, aber dieser Sound – oder präziser: der Grund für seine Existenz – ist eine Katastrophe. Und zwar eine menschengemachte, eine Männer-gemachte.
Denn es handelt sich um die Art, wie Frauen in den sozialen Medien zu Sachthemen kommunizieren, damit ihnen am wenigsten Hass entgegenschlägt. Es ist der Sound der Misogynie-Minimierung, eine Form von vorauseilender Notwehr, und dass Frauen sich gezwungen sehen – bewusst oder unbewusst – ihre Kommunikation derart zu verändern, ist ein Ausweis des gigantischen Problems Frauenhass im Netz.
In den sozialen Medien findet ein »sozialer Klimawandel« statt.
Eine zunehmend toxische Atmosphäre wird absichtsvoll erzeugt, die insbesondere Frauen davon abhalten soll, unbeschwert und offen zu kommunizieren. (Ähnliches lässt sich bei sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten beobachten.) Die Furcht vor Angriffen führt nicht nur zu dem oben beschriebenen Sound, sondern dient als neue Ausformung eines uralten patriarchalen Instruments.
Folge und Echo des Frauenhasses in den Köpfen
Schon 1792 schrieb die Frühfeministin Mary Wollstonecraft: »Warum müssen Frauen sich erniedrigen lassen, einen Grad an Respekt von Fremden zu erdulden, der sich völlig unterscheidet den Umgangsformen zwischen Männern, die vom Gebot der Menschlichkeit und Zivilisiertheit geprägt sind?« Meine Kolumnenkollegin Margarete Stokowski schrieb 2019 in einem Aufsatz zum Stand der Feminismusdebatte darüber, wie selbstverständlich und aggressiv Kommunikation als Machtinstrument benutzt wird, und zitiert wiederum Mary Beard: »Die abendländische Kultur ist seit Jahrtausenden geübt darin, Frauen den Mund zu verbieten.« Der frauenfeindliche soziale Klimawandel ist im Kern also eine Verschiebung alter, patriarchaler Mechanismen ins Netz, allerdings verbunden mit der netztypischen Eskalation und Beschleunigung.
Der soziale und psychische Preis einer Äußerung im Netz wird für Frauen absichtsvoll hochgetrieben, »silencing« ist der aus der amerikanischen Rassismus- und Sexismusdebatte stammende Fachbegriff dafür. Frauenhass im Netz als Folge und Echo des Frauenhasses in den Köpfen, in der Gesellschaft, in den Strukturen, die schon sehr lange bestehen und von Generationen von Frauenrechtlerinnen erforscht und bekämpft werden.
In den letzten Jahren ist im Netz zusätzlich eine neue digitale Dimension des Frauenhasses entstanden, begünstigt durch die Strukturen sozialer Medien einerseits und den Wandel der Gesellschaft andererseits. Rechtsextremismus und Islamismus, beide in den letzten Jahren auf dem Vormarsch, in der Welt wie im Netz, sind sich überaus einig in ihrer Frauenverachtung.
Es kommen neue netzoriginäre Frauenverachtungen junger, westlich geprägter Männer hinzu. Etwa von Gruppierungen wie den Incels, eine englische Abkürzung für »unfreiwillig zölibatär«, die getrieben sind von misogynem Hass und Verschwörungstheorien, über die Veronika Kracher ein so
verstörendes wie lesenswertes Buch geschrieben hat. Aus diesen Zirkeln heraus sind bereits mehrere Attentate vornehmlich auf Frauen verübt worden, mit Dutzenden Toten: ja, es gibt inzwischen netzgeborenen Frauenhass-Terrorismus.
Tief sitzende Frauenfeindlichkeit aus der Mitte der Gesellschaft
Ergänzt aber wird der Frauenhass dieser extremistischen Gruppen durch eine tief sitzende Frauenfeindlichkeit aus der Mitte der Gesellschaft. Diese wiederum erscheint am sichtbarsten in sozialen Medien, und zwar bei fast jedem irgendwie frauenbezogenen Anlass. Es ist dieser Alltagsfrauenhass, der sich tarnt mit einer Mischung aus grobem Humor, prinzipieller Abwertung und sexistischen Attacken. Der Social-Media-Klimawandel in Richtung Frauenfeindlichkeit wird nicht nur von Extremisten aktiv betrieben, sondern auch von der Passivität und der unterschwelligen Akzeptanz von Frauenhass aus der gesellschaftlichen Mitte. Wo Abwertungen achselzuckend oder schmunzelnd hingenommen werden, von Leuten, die sonst von ihrer eigenen Moral oder gar ihrem proklamierten Feminismus enorm überzeugt sind.
Quelle : Der Spiegel >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Unter dem Motto „#Unteilbar – Solidarität statt Ausgrenzung“ zog am 13. Oktober 2018 eine Demonstration mit 240.000 Menschen durch Berlin.