Der Hamburger Aufstand
Erstellt von DL-Redaktion am Montag 10. Juli 2017
G20 – Krawalle in Hamburg
Die italienische Europaabgeordnete der Linken ist am Samstagvorübergehend in Hamburg festgenommen worden. Eleonora Forenza „befand sich in einer Personengruppe, die Wechselbekleidung dabeihatte, wie es bei Störern aus dem schwarzen Block üblich ist“, schrieb die Polizei bei Twitter zur Begründung. Forenza kam nach fürnf Stunden wieder frei.
Betrunkene Hooligans oder politisches Kalkül? Man kann die Ausschreitungen von Hamburg verurteilen – natürlich. Man sollte sie aber auch verstehen. Ein Deutungsvorschlag.
Martin Kaul, 35, ist taz-Reporter und beschäftigt sich seit Jahren mit sozialen Bewegungen. Er wurde in der Nacht zum Samstag im Schanzenviertel niedergeschlagen, als er dokumentieren wollte, wie Vermummte inmitten brennender Barrikaden versuchten, einen Bankautomaten aufzubrechen.
Viele sagen, es sei nur sinnentleerte Gewalt, gut. Es ist ja niemand gezwungen, die Krawalle von Hamburg politisch zu deuten. Wer will, kann es trotzdem tun. Dies ist ein Deutungsvorschlag.
Am Abend des 28. Dezembers 2014 stand ein hagerer Mann mit einem grauen Kapuzenpullover auf einer Bühne im Congress Centrum Hamburg und hielt dort vor Tausenden Menschen einen Vortrag. Damals trat er heraus als Mitglied eines „Unsichtbaren Komitees“. Sein französischer Akzent deutete an, woher er angereist war.
Dieser Mann, eigentlich eher ein Jüngelchen, trat hier beim Hackerkongress des Chaos Computer Clubs, beim 31C3, als Teil eines Kollektivs aus der Unsichtbarkeit hervor: Als Teil des „Unsichtbaren Komitees“ – so sagenumwoben wie der „schwarze Block“, von dem viele Menschen auf Demonstrationen wahlweise sehr genau zu wissen meinen, was sich dahinter verbirgt – oder eben gar nicht.
Der Mann sollte den technikaffinen Anarchisten in Hamburg erklären, was „der kommende Aufstand“ mit Google zu tun hat und mit den Infrastrukturnetzen der Glasfaserkabel, die so etwas wie die Lebensadern einer aufgeklärten Informationsgesellschaft sind, weil sie die Kommunikation unserer Zeit transportieren. Er stotterte viel und, ehrlich gesagt, seine Rede war schlecht. Es wäre besser gewesen, einen Schauspieler vortragen zu lassen, was die Gruppe zu sagen hatte, damit der Pathos ihres viel beachteten Buchs erhalten blieb. So war es einfach nur authentisch.
Wahrnehmung wiedererlangen
„Der kommende Aufstand“ ist ein Text, der in Frankreich geschrieben wurde, in Deutschland, 128 Seiten lang, erschien er im Jahr 2010 im Hamburger Nautilus Verlag, der seinen Sitz in der Schützenstraße hat; etwa drei Kilometer entfernt von der Roten Flora, dem autonomen Zentrum Hamburgs. Im Internet ist die Flugschrift jedem frei zugänglich. Im Text heißt es unter anderem:
Ein Aufstand, wir können uns nicht mal mehr vorstellen, wo er beginnt. Sechzig Jahre der Befriedung, ausgesetzter historischer Umwälzungen, sechzig Jahre demokratischer Anästhesie und Verwaltung der Ereignisse haben in uns eine gewisse abrupte Wahrnehmung des Realen geschwächt, den parteilichen Sinn für den laufenden Krieg. Es ist die Wahrnehmung, die wir wiedererlangen müssen, um zu beginnen.
Als am frühen Freitagabend am Neuen Pferdemarkt in Hamburg – 400 Meter entfernt von der Roten Flora und 1.200 Meter entfernt vom Messezentrum, wo zuvor die Staatschefs tagten – die Straßenschlacht beginnt, manifestiert sich gewissermaßen auch ein Wahrnehmungsangebot: Hunderte Menschen, schwer vermummt in schwarzer Kleidung, beginnen, Pflastersteine aus den Bürgersteigen zu brechen. Sie hebeln mit abgebrochenen Straßenschildern Bodenplatten aus, zertrümmern sie in Kleinteile, deponieren sie in rollenden Mülltonnen, mit denen die Steindepots zu strategisch günstigen Stellen gebracht werden.
Während Hunderte in Stoßtrupps immer wieder vorstechen, um an einer Kreuzung Wasserwerfer und Beamte kollektiv mit Steinen zu bewerfen, errichten andere in den hinteren Reihen brennende Barrikaden. Sie befeuern die Barrikaden, bis hohe, lodernde Flammen entstehen. Am Ende der Nacht wird der Asphalt unter den Feuern geschmolzen sein. Stundenlang brennen die offenen Flammen an verschiedenen Stellen im Viertel. Feuerwehr und Polizei? Nicht zu sehen. Als eine Drogerie geplündert wird, greifen sich Vermummte Spraydosen und werfen sie nach und nach ins Feuer. Das sorgt für akustische und auch optische Effekte.
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Aktuelles aus der Gefahrenzone
Die Stadt stinkt noch immer nach muffigen Despoten
Der G-kacken-Report
von Silke Burmester
Woran erkennt man, dass ein „Festival der Demokratie“ zu Ende ist? Daran, dass im Nachbarviertel Schutt und Asche liegen. Aber auch daran, dass es ruhig ist. Ruhig. Leise. Es gab am Freitag einen Zeitraum von etwa einer Stunde, in der kein Hubschrauber knatterte. Das war, als Frau Merkel ihren Despotengästen in der Elbphilharmonie Beethoven vorspielen ließ und bevor die Linken begannen, ihr alternatives Gesellschaftsmodell vorzustellen.
Auch eine interessante Erkenntnis: Wenn man Menschen mürbe machen will, wenn man will, dass sie gereizt sind, sehr, sehr unfreundlich werden und sich nicht mehr gut unter Kontrolle haben, dann setzt man sie Hubschrauberlärm aus, der nur in der Nacht für zwei, maximal drei Stunden unterbrochen wird.
Ich finde, wenn der Senat für die materiellen Schäden aufkommt, die seinen Bürgern durch Abfackeln ihrer Autos und durch Beschädigung und Plünderung ihrer Geschäfte entstanden sind, dann müsste es Anwohnern auch möglich sein, die Kosten für ein Wellnesswochenende einzureichen. Die Geste, dass am Sonntag die Museen als „Dankeschön“ bei freiem Eintritt zu besichtigen waren, ist komplett lächerlich.
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Grafikquellen :
Oben — Woman’s March gegen Trump und die G-20 beim Alten Elbtunnel in Hamburg
Urheber | Frank Schwichtenberg / Eigenes Werk |
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Unten —
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