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Der Flug ins Ungewisse

Erstellt von Redaktion am Sonntag 24. April 2022

Abschiebungen aus den dreckigen Staaten

Auch die Abschiebung kann für die/den Betroffene/n Mord bedeuten

Aus Addis Abeba : Caroline Laakmann und Bartholomäus Laffert

Es war die vorerst letzte Abschiebung nach Äthiopien: Am 23. März 2021 werden 17 Menschen von Deutschland nach Addis Abeba ausgeflogen, trotz Bürgerkrieg im Land. Für die Betroffenen findet das Trauma kein Ende.

Am Dienstag, den 23. März 2021, zwischen 6 und 7 Uhr früh, fahren zwei Polizeiwagen vor einer kleinen Wohnung am Menzelplatz in Bayreuth vor. Vier Polizisten, so erinnert sich Hussen Adem Eshetu, seien ausgestiegen und hätten die Tür seiner Wohnung aufgebrochen.

„Ich habe erst gar nicht verstanden, was da passiert“. Dann hätten die Polizisten angefangen zu schreien: „Mitkommen, mitkommen!“ Zwei hätten ihn fixiert, während sie ihm Handschellen anlegten. Er habe noch versucht, sich zu erklären, habe nach seinem Schwerbehindertenausweis suchen wollen. „Sie hatten ihre Waffen gezückt und geschrien, ich soll leise sein, wenn nicht, wird etwas Schlimmes passieren.“ Dann hätten sie ihn nach draußen gezerrt und in einen der Polizeiwagen gestoßen.

Wenige Minuten später klopfen 200 Kilometer weiter nordwestlich vier Polizeibeamte an die Tür des Blumenhauses im Werner-Eisenberg-Weg in Witzenhausen, Hessen. Dort wohnt Lemlem Beyene, deren Name wir zu ihrem Schutz geändert haben. Beyene ist 60 Jahre alt, Eritreerin, und lebt seit fast neun Jahren in Hessen. Am Vortag hatte sie ihre Koffer gepackt und mit ihrer Betreuerin in der Gemeinschaftsunterkunft einen letzten Kaffee getrunken, weil sie am Tag darauf in eine neue Unterkunft umziehen sollte, nicht weit von der bisherigen. Sie ist gerade erst von Corona genesen und fühlt sich schwach, als sie an diesem Morgen im Schlafanzug und ohne Schuhe die Tür öffnet. „Sie haben mich sofort an beiden Armen gepackt. Ich habe sie gefragt: Was wollt ihr mit einer alten Frau wie mir? Sie haben gesagt: ‚Wir schieben dich ab!‘“ Auf ihre Bitte, sich wenigstens umziehen zu dürfen, hätten die Beamten nicht reagiert.

Um kurz nach 8 Uhr findet sich 90 Kilometer südlich Abere Damtie Yezachew in der Ausländerbehörde am Heinrich-Bibra-Platz in Fulda ein. Er hat nicht geschlafen. Die ganze Nacht hat er Schichtdienst im Lager des Paketdienstleisters GLS im nahe gelegenen Bad Hersfeld geschoben. Er war nur kurz zu Hause, um sich ein frisches Hemd anzuziehen und rechtzeitig auf dem Amt zu erscheinen. In der Vorladung stand im Betreff: „Angelegenheit: Ablauf Ihrer Duldung“. Er hofft, dass an diesem Morgen seine Aufenthaltspapiere erneuert werden sollen, damit er – so hofft er – auch weiterhin als Lagerist arbeiten kann. Yezachew meldet sich im 2. Obergeschoss mit der Nummer 7687. Dann wartet er. Wie lange, weiß er nicht mehr. Aufgerufen wird er nicht. Stattdessen erscheinen fünf oder sechs Polizisten, so erinnert er sich, und verhaften ihn. „Das war der Moment, in dem ich gemerkt habe, dass ich ausgetrickst worden bin“, sagt er.

Hussen Eshetu, Lemlem Beyene und Abere Yezachew sind sich in ihrem Leben nie begegnet. Bis zu diesem Dienstag im März 2021, der ihre Leben für immer verändern wird. Die drei haben wenig gemein. Eshetu ist damals 33, trägt gerne Hemden, hört Musik von Rihanna und DJ Khaled und kämpft seit Jahren mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Beyene ist 60, tiefgläubige Katholikin und hat sich, seit sie denken kann, nie den Mund verbieten lassen. Der 34-jährige Yezachew ist schüchtern und unsicher, er liebt seine Arbeit, und in seiner Freizeit läuft er Marathon. Was sie eint: Sie alle sind vor vielen Jahren aus Äthiopien geflohen, sie alle haben in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Und sie alle sollen an diesem 23. März abgeschoben werden mit dem Flug ET8761 von München nach Addis Abeba.

An Bord der Maschine sind 17 Personen, 7 Frauen und 10 Männer, die nach Äthiopien gebracht werden sollen, und 76 Beamte der Bundespolizei. Laut Antwort der Bundespolizei auf eine kleine Anfrage der Linken im März 2022 wurde in diesen 17 Fällen „das Hilfsmittel der körperlichen Gewalt eingesetzt“. Bei dem Flug handelt es sich um eine von 163 Sammelabschiebungen im Jahr 2021. Die Kosten für die Abschiebung belaufen sich auf rund 430.000 Euro, 25.000 Euro pro Person. Es ist die teuerste Abschiebung im vergangenen Jahr.

Warum wird so viel Geld ausgegeben, um Menschen wie Eshetu, Beyene und Yezachew in ein Land abzuschieben, in dem zu diesem Zeitpunkt Bürgerkrieg herrscht? Menschen, die sich längst neue Leben aufgebaut haben?

Um Antworten auf diese Frage zu finden und die Geschichte des Fluges zu rekonstruieren, haben wir die drei Betroffenen in Äthiopien getroffen. Wir habe Dutzende Gerichtsakten und Dokumente ausgewertet. Und wir haben mit Un­ter­stüt­ze­r:in­nen und Behörden in Deutschland gesprochen.

Am 23. März um 8.57 Uhr erhält die Anwältin Claire Deery eine SMS von einem befreundeten Juristen. Ob sie spontan helfen könne? Es gehe darum, eine Abschiebung zu stoppen. Eine Frau, 60 Jahre, seit fast zehn Jahren in Deutschland, sei vor wenigen Stunden von der Polizei in Witzenhausen abgeholt worden und seitdem in Gewahrsam. Für Deery beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Noch weiß sie nicht, für welche Uhrzeit der Abschiebeflug angesetzt ist. Zwar arbeitet sie seit zwölf Jahren im Asylrecht, doch einen Fall aus Äthiopien hatte sie nie auf dem Tisch. Obwohl sie Lemlem Beyene nicht kennt, verfasst sie an diesem Morgen einen Asylfolgeantrag, den sie um 11.01 Uhr an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) faxt. Betreff: „Eilt!!! Abschiebung heute!“. Um 11.26 Uhr schickt sie einen Eilantrag an die abschiebende Ausländerbehörde mit der Forderung, Beyene aus dem Polizeigewahrsam zu entlassen, solange der Folgeantrag nicht entschieden wurde. Wenige Minuten später findet sich in Witzenhausen eine Gruppe auf dem Marktplatz ein. Der Asylhelferkreis hat zu einer spontanen Mahnwache aufgerufen, um gegen Beyenes drohende Abschiebung zu demonstrieren. Mehr als einhundert Leute sind gekommen, manche haben Fahnen dabei, auf denen „Leave No One Behind“ steht.

Beyene selbst bekommt davon nichts mit. Sie wird von der Polizei in Fulda in einer kleinen Zelle festgehalten, erinnert sie sich. Zunächst hätte sie noch ihren Pyjama angehabt, dann hätten die Beamten eine Tasche mit Klamotten aus ihrer Wohnung geholt. Doch obwohl sie gefroren habe, hätten die Beamten ihr ihren Schal weggenommen. „Sie haben gesagt, dass ich mich damit erhängen könnte.“ Was sind das für Menschen, fragt sich Beyene, die mich abschieben, obwohl sie glauben, dass mir sogar der Tod lieber wäre?

Währenddessen ist Hanns-Georg Schmidt in Bayreuth in Panik. Seit fast zweieinhalb Jahren ist er der gesetzliche Betreuer von Hussen Eshetu. Am Vortag hat er von Eshetus Anwältin erfahren, dass die Berufung gegen dessen abgelehnten Asylfolgeantrag vom Gericht nicht zugelassen wurde. Kurz gesagt: dass Eshetus letzte Chance auf Asyl in Deutschland verpufft ist. Zusammen mit Eshetus Psychotherapeutin hatte er überlegt, wie er es ihm möglichst schonend beibringen kann. Doch dazu kommt es nicht mehr.

Am Morgen des 23. März bekommt er einen Anruf. Von Eshetu, aus dem Polizeigewahrsam. „Ich war wie unter Schock“, erinnert sich Schmidt. Er habe versucht, den Polizisten am Telefon die Situation zu erklären. „Ich habe gesagt: Wissen Sie, dass Sie dabei sind, einen schwerkranken Mann abzuschieben?“ Die Polizisten hätten nur erwidert, dass sie einen Arzt dabei hätten, der sich darum kümmert. Wenig später wird Eshetu zum Flughafen Franz-Josef-Strauß nach München gebracht.

Es ist der Ort, an dem sich die Wege von Lemlem Beyene aus Witzenhausen, Hussen Eshetu aus Bayreuth und Abere Yezachew zum ersten Mal kreuzen. Yezachews Erinnerung ist verschwommen, wie bei einem schlechten Traum. Er hat das Flugticket aufgehoben: ein Stück Papier mit gold-gelbem Rand. Im linken oberen Eck der aufsteigende Kranich des Lufthansa-Logos. Darauf in krakeligen Lettern mit Kuli geschrieben: ET8761 MUC-ADD, YEZACHEW Abere Damtie, Bag: 0035.

Zwischen 21 und 22 Uhr hebt das Flugzeug ab. Neben jedem Passagier nehmen zwei Polizeibeamte Platz. Yezachew und Eshetu berichten, dass ihnen Fußfesseln angelegt wurden und dass ein dritter Polizist hinter ihnen saß. „Wann immer ich mich zur Seite drehen wollte, um nur aus dem Fenster zu schauen, hat er meinen Kopf festgehalten“, sagt Eshetu.

Im Norden Äthiopiens herrscht zu diesem Zeitpunkt seit fünf Monaten ein blutiger Bürgerkrieg, der bis heute Zehntausende Leben gekostet und laut UN-Angaben mehr als drei Millionen Menschen vertrieben hat. Auf der einen Seite kämpfen die Rebellengruppen der „Volksbefreiungsfront von Tigray“ (TPLF), die bis zum Machtwechsel 2018 selbst das Land regiert hat –, auf der anderen die äthiopische Armee um Premierminister Abiy Ahmed gemeinsam mit den Streitkräften von Eritrea. 2019 hatte Abiy Ahmed mit Eritrea Frieden geschlossen und dafür den Friedensnobelpreis verliehen bekommen. Im Frühjahr 2021 weitet sich der Krieg vom Bundesstaat Tigray auch auf die Regionen Afar und Amhara aus, jener Bundesstaat, aus dem Yezachew kommt.

Traurig wenn sich Menschen von den Uniformierten knechten lassen.

In den Morgenstunden des 24. März landen Yezachew, Beyene und Eshetu in Addis Abeba. Sie reisen in ein Land ein, das sie selbst kaum wiedererkennen und von dem sie sagen, dass es ihnen fremd geworden ist. Zu viel Zeit ist vergangen, seit sie von hier aufgebrochen sind.

Wenn man mit dem Flugzeug über Addis Abeba kreist, sieht man am Boden ein Mosaik, das so recht nicht zusammenpassen will. Monotone, gleichförmige Siedlungen, die am Stadtrand wie Pilze aus dem Boden schießen. Die Hügel der Stadt mit den hohen Eukalyptusbäumen. Man sieht die kugelförmigen Dächer der orthodoxen Kirchen, die Wolkenkratzer der Banken und Tausende von Wellblechdächern, die sich zwischen die Hügel und Hochhäuser quetschen, in denen die meisten der Menschen leben. Äthiopien zählt noch immer zu den ärmsten Ländern der Welt. Dann taucht man wie in einen trüben Teich in den Smog der Großstadt ein, deren Straßen meist von hupenden Autos verstopft sind.

Ein knappes Jahr später, im März 2022, treffen wir Lemlem Beyene zum ersten Mal im Stadtzentrum von Addis, wie es hier alle nur nennen. Sie hat ein Tuch um ihren Kopf gewickelt, eine Sonnenbrille auf, trägt eine Maske, obwohl in Addis kaum jemand Maske trägt. Sie ist kaum zu erkennen, ein wenig sieht sie aus wie eine Agentin auf geheimer Mission. „Ich bin nicht gerne draußen“, sagt sie. „Ich habe Angst.“

Vor drei Jahren sei ihr Bruder, ein regimekritischer Journalist, aus Eritrea nach Äthiopien geflohen. Kurz darauf sei er tot in einem Hotelzimmer aufgefunden worden. Die Umstände des Todes seien bis heute nicht geklärt. Aber Beyene sagt: „Hier in Addis wimmelt es von eritreischen Geheimdienstlern und ich fürchte mich davor, dass mir das Gleiche widerfährt.“ Beyene war nachweislich selbst viele Jahre aktives Mitglied der eritreischen Oppositionspartei EPDP, die sich gegen den Diktator Isaias Afewerki stellt.

In der Lobby eines kleinen Hotels erzählt sie uns ihre Geschichte. Doch wer sie verstehen will, muss versuchen, die Geschichte von Äthiopien und Eritrea zu verstehen. Denn als Beyene 1960 als Tochter eritreischer Eltern in Addis Abeba geboren wird, ist Eritrea kein eigener Staat, sondern kämpft um seine Unabhängigkeit von Äthiopien, das die einstige italienische Kolonie am Roten Meer nach dem Zweiten Weltkrieg in Besitz genommen hat. Erst 1991 wird Eritrea nach jahrzehntelangem Krieg unabhängig. Kinder eritreischer Eltern bekommen automatisch die eritreische Staatsbürgerschaft – aber weil sie damals nicht in Eritrea lebt, bekommt Beyene keinen eritreischen Pass.

Als 1998 ein Grenzkrieg zwischen Äthiopien und Eritrea ausbricht, lässt die äthiopische Regierung Tausende von Eritreern aus Addis Abeba nach Eritrea deportieren; viele werden anschließend an die Front geschickt, um gegen Äthiopien zu kämpfen. Einer von ihnen ist Beyenes Ehemann. „Sie sind in der Nacht gekommen, wie bei meiner Abschiebung, und haben ihn verschleppt.“ Es ist das letzte Mal, dass sie ihn sieht.

Beyene selbst wird damals nicht deportiert. Sie traut sich nicht nach Eritrea zu ziehen, aus Angst selbst an die Front geschickt zu werden. Aber in Äthiopien fühlt sie sich auch nicht mehr sicher. Über mehrere Jahre wechselt sie regelmäßig ihre Unterkunft, zuletzt versteckt sie sich monatelang bei Nonnen in einem Kloster. Im Jahr 2008 ermöglicht die äthiopische Regierung allen Eritreern in Addis einen äthiopischen Pass zu erwerben. Beyene nutzt die Möglichkeit, doch sicher fühlt sie sich trotzdem nicht. Drei Jahre später kauft sie sich ein Flugticket. Am 24. März 2012 landet sie in Deutschland. Eine Woche darauf stellt sie als Eritrerin einen Antrag auf Asyl.

Auch Hussen Eshetu treffen wir in Addis. Er sitzt unter einem Coca-Cola-Schirm auf der Terrasse eines heruntergekommenen Cafés an einem Platz im Zentrum. Von hier aus kann man Straßenkinder beobachten, die zwischen den Autos hin und her laufen, versuchen Kaugummis und Masken zu verkaufen. Frauen, die am Straßenrand Kaffee in mit Äthiopien-Fähnchen bedruckte Tassen ausschenken. Businessmänner mit Sonnenbrillen. Eshetu wirkt, als bekäme er von alldem nichts mit, als hätte er die Welt um sich herum ausgeblendet.

Quelle        :          TAZ-online             >>>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen      :

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