Unser Krieg: Nur die Wahrheit!
Auf der Suche nach Wahrheiten über den Krieg gerät man rasch in schwere See. Nun ist es Zeit für das Schlimmste, was dem starken Gefühl droht: Relativierung!
Sehnsucht
Wer hätte nicht schon einmal zum Besten gegeben, dass im Krieg die Wahrheit zuerst sterbe! Kaum ist dieser Gemeinplatz vollbracht, beginnt der Sprecher in aller Regel, dem Zuhörer die wirkliche Wahrheit darzulegen, also seine Sicht der Dinge. Dagegen kann man kaum etwas machen und ist besonders hilflos, wenn man wie wir in den letzten dreißig Jahren gelernt hat, dass jede Wahrheit gleich viel wert sei, wenn sie nur emotional genug daherkommt. Dies ist dann durch das Jahr 2015 durcheinandergeraten, das sich nicht wiederholt, anschließend durch die streitig gebliebene These, Covid-19 sei eine gefährliche Seuche, und nun durch den Krieg, der zwar nicht wirklich der unsere ist, aber doch irgendwie ein bisschen, weil er ja so lehrreich ist für uns, die wir uns all die Jahrzehnte so schrecklich geirrt haben, so furchtbar falsch lagen, die Wahrheit nicht erkannten: Die Lebenslüge der »Post-68er-Generation«, jetzt endlich widerlegt, wie uns alle Zeitungen für Deutschland an jedem Tag viele Seiten lang versichern. Immer, immer schon hatten sie recht, die uns warnten! Da wird, am Ende eines langen Journalistenlebens, ein Traum wahr.
In solchen Zeiten, in denen unser Führer der freien Welt Kriegsziele dahinplappert, die er, for heaven’s sake, gar nicht meint, und Herr Robert Habeck beim Emir von Katar einen Hofknicks hinlegt, dass es einem die Tränen in die Augen treibt, und eine grüne Außenministerin 30 Jahre nach Petra Kellys Tod die Lieferung von Kampfflugzeugen an eine Kriegspartei fordert, ist selbstverständlich alles möglich, und gleichermaßen das Gegenteil. Der amtliche Antirassismus gibt Musikern mit falschen Frisuren – das passierte, glaube ich, zuletzt im Jahr 1964 – eine Auftrittschance, falls sie zum Friseur gehen; und die deutschen Menschen guten Willens sind allesamt Ukrainer der Herzen, weil die so aussehen und sind wie wir. Insgesamt also ein klarer Fall einer schweren Identitätskrise, was der Autor dieses Beitrags bekanntlich schon immer hat kommen sehen.
Recht
Die deutsche Außenministerin hat, so teilte sie am 18. März der Welt mit, eine »Sehnsucht nach Sicherheit«. Sie fügte hinzu, diese Emotion sei ihrer Generation (sie ist 1980 geboren) »vielleicht neu«. Interessant waren die beigegebenen ministeriellen Merksätze, die Menschen meiner Generation ein bisschen überraschend erscheinen könnten, zum Beispiel:
»Bei Fragen von Krieg und Frieden, bei Fragen von Recht und Unrecht kann kein Land, auch nicht Deutschland, neutral sein.«
Zufällig wurde dieser schöne Satz am 60. Jahrestag der Verträge von Evian (18. März 1962) gesprochen, die den achtjährigen Kolonialkrieg Frankreichs gegen die algerische FLN beendete. Nach vorsichtigen Schätzungen kamen etwa 180.000 algerische und 30.000 französische Kämpfer sowie knapp 100.000 algerische Zivilisten um. Natürlich war der Algerienkrieg nicht dem Ukrainekrieg gleich; um »Recht und Unrecht« ging es aber auch da, ebenso wie in allen anderen Kriegen, die vor und nach 1981 die Sehnsucht nach Sicherheit mal auslösten, mal eher nicht.
Krieg und Frieden, Recht und Unrecht. Keine Neutralität, auch nicht für Deutschland. Da hat jemand eine Offenbarung vernommen: reine, einfache Wahrheit. Man muss hier anmerken, dass es schon vielen Generationen zuvor ganz ebenso gegangen ist: Sie fühlten eine Sehnsucht und füllten sie mit dem Vaterland. Manche brauchten dazu etwas länger:
»Vaterlandsliebe fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland noch nie etwas anzufangen und weiß es bis heute nicht«,
schrieb Herr Habeck im Jahr 2010, aber wenn man Joschka Fischers »Nie wieder«-Rede vom 13. Mai 1999 dazunimmt und außerdem bedenkt, dass es – siehe oben – in allen Fällen einerseits solche gibt, die wie wir sind, und andererseits die anderen, passt das schon irgendwie zusammen. Man müsste allerdings das analytische Instrumentarium von der Unmöglichkeit deutscher Neutralität in Fragen Krieg & Frieden, Recht & Unrecht noch ein bisschen nachschärfen, wie der Epidemiologe sagt.
Minister Habeck, zu Gast beim Emir von Katar, sprach am 19. März, man könne zwecks Gasversorgung nicht nur bei lupenreinen Demokraten einkaufen, aber ein autoritärer Staat mit schlechter Menschenrechtssituation sei besser als ein autoritärer Staat mit völkerrechtswidrigem Krieg. Da traf es sich gut, dass man tags zuvor entschieden hatte, dass Russen nicht an der Fußballweltmeisterschaft in Katar teilnehmen dürfen, dem Land, dessen Bevölkerung aus 88 Prozent weitgehend rechtlosen Arbeitsemigranten und geschätzt 40.000 Sklaven besteht. Die Veranstaltung, die von einem kleptokratischen Feudal- und Klientelsystem unter Ausbeutung Tausender von Arbeitssklaven organisiert wird, um einer von Gier nach Geld und Vergnügen getriebenen Minderheit ein ultimatives Spektakel des Prassens zu bieten, bleibt unbefleckt vom russischen Fußball, der spielerisch, wie wir noch von früher wissen, den Brasilianer in uns sowieso nicht überzeugen kann.

Sklavenmarkt
Die Glaubhaftigkeit des derzeitigen Abscheus vor völkerrechtswidrigen Kriegen relativiert sich ein bisschen, wenn man bedenkt, dass Katar bis 2017 Teil der von Saudi-Arabien geführten Interventionstruppen im Jemen war, die dort seit 2015 Kriegsverbrechen begehen, und nur wegen Verdachts der direkten Finanzierung unter anderem des IS ausgeschlossen wurde. Infolge des grausamen Aggressionskriegs sind inzwischen 90 Prozent der Zivilbevölkerung von Hunger, Durst und Seuchen bedroht, Zehntausende getötet, vier Millionen Flüchtlinge leben im Elend. Die Bundesregierung genehmigte vom Beginn des Kriegs an jährlich steigende Waffenexporte an kriegsbeteiligte Staaten, im Jahr 2020 für mehr als eine Milliarde Euro. Dies, am Rande, zur Rechtssehnsucht.
Keine Neutralität zwischen Recht und Unrecht! Das klingt gut. Fragen wir mal: Könnten Sie auf die Schnelle angeben, zu welcher Kriegspartei Deutschland derzeit im Jemen hält, in der Republik Kongo, in Syrien oder, ganz mutig, im Donbass? Oder wie sich die Unmöglichkeit deutscher Neutralität in Libyen auswirkt? Sind wir eigentlich für oder gegen die Peschmerga-Milizen? Und was sagt unsere Sehnsucht zur Annexion des Westjordanlands außerhalb der Grünen Linie: Ist das ein Völkerrechtsverbrechen oder eine Flurbereinigungsmaßnahme? Ich weiß: Man kann nicht alle Probleme zugleich lösen. Und der Krieg in der Ukraine ist nicht deshalb weniger schlimm, weil der in Syrien ebenfalls schlimm und der Angriffskrieg gegen den Irak ebenso völkerrechtswidrig war. Aber ein bisschen weniger »Zeitenwende«-Romantik dürfte schon sein, wenn man gerade einen zwanzig Jahre währenden Krieg in Afghanistan verloren hat. Es sind in diesem Krieg, dessen Erfolg über die zeitweise Installation und Sicherung eines durch und durch korrupten Marionettenregimes in der Grünen Zone in Kabul nicht hinauskam, 3600 Soldaten der Operation »Enduring Freedom« getötet worden und etwa 70.000 Zivilisten.
Krieg
Dass es in Fragen von Krieg und Frieden »für Deutschland« keine Neutralität geben könne, dürfte eher Unsinn sein, ist aber jedenfalls so gemeinplatzmäßig, dass es wehtut. Es kommt darauf an, sprach der Kanzler der Einheit, was hinten rauskommt. Bekanntlich hat Deutschland den Angriffskrieg des Oligarchen George W. Bush weder mit einer Zeitenwende bekämpft noch mit dem Einfrieren aller Dollar-Vermögen. Und der Satz: »Sie werden mit Feuer, Wut und Macht beantwortet werden, wie die Welt es noch nicht erlebt hat« wurde zwar von Herrn Putin nachgeahmt, stammt aber vom Oligarchen und Möchtegern-Putschisten Trump. Dass er das Zeichen für die schlimmstmögliche Entmenschlichung sei, hat der Deutsche erst kürzlich gelernt.
Dass der Regierung nichts Besseres einfällt als ein 100 Milliarden-Rüstungsprogramm, hätte vor 25 Jahren zum Massen-Hungerstreik sämtlicher Landeskirchen, Gewerkschaften, Universitäten und Bio-Bauernhöfe geführt. Und zwar zu Recht.
Im Krieg geht es nicht um die bessere Moral, sondern um den Sieg. Dass das eigene Kriegsziel immer das wahrhaft moralische sei, gilt für alle Seiten und ist ein erwartbares Narrativ; man muss sich darüber nicht erregen. Nun hat in Deutschland eine wahrlich erstaunliche Militärbegeisterung Platz gegriffen, und Zeitungen, Fernseh- und Radiosender ergehen sich unisono 24 Stunden pro Tag in Lobeshymnen auf den gerechten Krieg, den die Ukraine jetzt führt und »wir« zu führen gedenken, wenn die Stunde der Entscheidung gekommen ist. Daher sollte man vielleicht doch noch einmal an ein paar unangenehme Fragen aus dem Zusammenhang von Moral und Sieg erinnern, die uns im nun als Kollektivwahn enthüllten kindischen Friedenstraum abhandengekommen waren:

War eigentlich die Bombardierung Dresdens und Hamburgs ein Kriegsverbrechen oder nicht? War Harry Truman ein Held, als er zwecks Demoralisierung des japanischen Feindes 130.000 Zivilisten auf einen Schlag umbringen ließ, oder ein Jahrhundertverbrecher? Und was ist mit Winston Churchill, der mal als Selenskyj der Vorzeit gefeiert, mal als Truppenführer schmerzlich vermisst wird? Er schrieb 1953, dem Jahr von Stalins Tod und des Autors Gnade der Geburt:
»Jetzt war mit einem Mal dieser Albtraum vorüber, und an seine Stelle trat die helle und tröstliche Aussicht, ein oder zwei zerschmetternde Schläge könnten den Krieg beenden […] Ob die Atombombe anzuwenden sei oder nicht, darüber wurde überhaupt nicht gesprochen […] Es gab eine einstimmige, automatische, unbestrittene Einigung an unserem Tisch; ich habe auch nie den geringsten Vorschlag gehört, dass wir etwas anderes tun sollten.«
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Unterzeichnung des Koalitionsvertrages der 20. Wahlperiode des Bundestages am 7. Dezember 2021
Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0
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2.) von Oben –– Der Sklavenmarkt (Gustave Boulanger)
Samstag 2. April 2022 um 18:35
passt nicht unbedingt hierher, aber ist einen Artikel wert:
STASI goes on:
https://www.achgut.com/artikel/im_victoria_geht_in_rente