Der Dammbruch
Erstellt von Redaktion am Samstag 8. September 2018
Rechtspopulismus in Schweden
Von Cordelia Hess
Vor der Parlamentswahl bestimmen Themen der Rechtspopulisten die öffentliche Debatte. Die können sich so positiv besetzten Fragen widmen.
Am 9. September wird in Schweden ein neues Parlament gewählt, und weitgehend unbemerkt von der Außenwelt bahnt sich hier ein radikaler Wechsel in der politischen Landschaft an. Nach einer Legislaturperiode mit einer rot-grünen Minderheitsregierung sehen Umfragen die rechtspopulistischen Sverigedemokraterna (Schwedendemokraten, kurz SD) bei über 20 Prozent, nahe an den Sozialdemokraten und deutlich über den Liberal-Konservativen (Moderaterna, M).
Mitentscheidend für ihren Erfolg sind Fehler, die auch hierzulande im Umgang mit Rechtspopulisten gerne diskutiert werden: die Themen der Rechten besetzen, die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Dabei wird die Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte prominent diskutierbar gemacht. Das Resultat: Die Rechtspopulisten haben Rassismus schon nicht mehr nötig.
Anfang Juli trafen sich wie jedes Jahr schwedische Parteien, Medien und NGOs auf Gotland zum größten öffentlichen politischen Event, der Almedalswoche. In diesem Jahr dominierte die Neonazigruppe Nordiska motståndsrörelsen (Nordische Widerstandsbewegung, NMR), die nach angemeldeten Kundgebungen auf der Insel die ganze Woche über Menschen bedrohte, terrorisierte, filmte und schlug, ohne dass die Polizei eingegriffen hätte.
Währenddessen veröffentlichte der Kanal SVT den Artikel „Faktencheck: NMR verbreitet Falsches über Zyklon B – wurde doch benutzt, um Menschen zu ermorden“. Ein diskursiver Dammbruch: Holocaustleugnung sollte hier mit den besten Absichten widerlegt werden, wurde aber tatsächlich erstmals auch in den öffentlich-rechtlichen Medien breit thematisiert und überhaupt erst diskutierbar gemacht.
Eine rechte Partei als Stichwortgeber
Die Schwedendemokraten haben, wie viele Rechtspopulisten, ein ambivalentes und kompliziertes Verhältnis zur extremen Rechten. Die Zeiten, als sie selbst den Kampf um die Straße führten, sind vorbei, andererseits wurden Personen mit neonazistischen Verbindungen keineswegs so konsequent aus Partei und Wahllisten entfernt, wie die Parteispitze das gern behauptet.
Der SD-Parteivorsitzende Jimmie Åkesson sprach in seiner Wahlkampfrede in Almedalen nicht über Migration, nicht über Asylpolitik und Grenzen, er forderte nicht, Seenotrettung im Mittelmeer lieber sein zu lassen. Åkesson sprach stattdessen über Fußball, über Nationalismus als eine positive, aufbauende Kraft und darüber, dass die Sozialdemokraten das „Volksheim“ zerstört hätten. Gleichzeitig widmeten sich alle anderen Parteien den Themen Migration und innerer Sicherheit sowie der Frage, wie mit den Schwedendemokraten nach ihrem zu erwartenden starken Wahlergebnis künftig umzugehen sei.
Der diskursive Dammbruch, der diese Verschiebungen möglich gemacht hat, ist schon länger vollzogen: Scheinbar sollten die Sorgen der Menschen vor den Folgen von Migration ernst genommen werden – tatsächlich aber wurde eine rechte Partei zum Stichwortgeber der Migrationspolitik, und ihre zentralen Forderungen wurden nicht nur gesellschaftlich salonfähig, sondern auch politisch umgesetzt.
Anderswo in Europa fragt man sich, ob Menschen vor dem Ertrinken gerettet werden sollen oder eher nicht – ebenfalls ein Dammbruch. Auch um Wahlerfolgen rechter Parteien vorzubeugen, werden Grenzen geschlossen und militärisch gesichert, Geflüchtete werden nicht als Menschen, sondern als Manövriermasse bezeichnet.
„Der Untergang“
Letzten Endes wissen die meisten, dass die immer neuen Verschärfungen der Migrationspolitik, die Zehntausende Tote fordern, nicht geeignet sind, reale Missstände in Europa zu verändern, Armut zu bekämpfen oder das Wohlfahrtsniveau der 1960er Jahre wieder einzuführen. Vor allem helfen sie den europäischen Ex-Volksparteien nicht, Wähler*innen von rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien abzuwerben.
Entsprechend wurde es Schwedens rot-grüner Regierung auch nicht gedankt, dass sie die Grenzen bereits im Dezember 2015 schloss und bis heute nur den absoluten europäischen Mindeststandard in Asylverfahren einhält (Grenzkontrollen, nur temporäre Aufenthaltstitel auch für anerkannte Geflüchtete, Familiennachzug nur bei Möglichkeit zur Selbstversorgung). Dass minderjährige Unbegleitete von dieser Regierung zu medizinischen Altersbestimmungen gezwungen und dann nach Afghanistan abgeschoben werden, lenkt die früher sozialdemokratische Arbeiter*innenklasse auch nicht weg von den Schwedendemokraten.
Auch dank solcher Maßnahmen müssen die Rechtspopulisten gar nicht mehr über Asylpolitik sprechen – sie sprechen von innerer Sicherheit, Renten, nationaler Identität und Loyalität und vor allem davon, dass alle anderen Parteien erstens die SD kopieren (was durchaus stimmt) und zweitens das Land in den Untergang treiben.
„Der Untergang“ ist eine Mischung aus faktischen Schwierigkeiten, die der schwedische Wohlfahrtsstaat nach jahrzehntelangen Privatisierungen zu bewältigen hat, und einem Narrativ der extremen und neuen Rechten, in dem das Land kurz vor dem Kollaps steht. Das Gegenbild ist eine Verklärung des „Volksheims“ zu einer homogenen, sicheren, stabilen Gesellschaft, die von weitblickenden Politikern zum guten Leben hingelenkt wird.
Die Anderen nehmen den Rechten die Arbeit ab
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
—————————————————
Grafikquellen :
Oben — Die Insel Riddarholmen, dahinter Stockholms Altstadt Gamla stan und andere Merkmale Stockholms
—————————————–
2.) von Oben –– Parteivorsitzender Jimmie Åkesson