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Der Corona-Schock

Erstellt von DL-Redaktion am Sonntag 5. April 2020

Die finale Entzauberung der Globalisierung

Die Trottel sind allein im Haus – denn niemand geht dort Ein noch Aus.

von Ulrich Menzel

Im das Jahr 1320 brach die Pest in derselben zentralchinesischen Provinz Hubei aus, die heute mit ihrer Hauptstadt Wuhan als Ursprungsregion des Coronavirus gilt. Und bei allen historischen Unterschieden gibt es doch verblüffende Parallelen bei Verlauf und Konsequenzen beider Seuchen. Damals dauerte es noch 25 bis 30 Jahre, bis die Pest die chinesische Küste mit den Häfen für den Überseehandel und den Endstationen des zentralasiatischen Karawanenhandels erreicht hatte, der über die Routen der Seidenstraße China mit Europa verband. Von dort ging es dann jedoch ganz schnell: Innerhalb eines Jahres wütete die Seuche in Tana am Asowschen Meer, dem Endpunkt der zentralasiatischen Route, und in Aleppo, dem Endpunkt der Route durch Persien. Nicht länger dauerte es auf der maritimen Route durch das Südchinesische Meer, den Golf von Bengalen, das Arabische Meer und weiter durch das Rote Meer zum Nildelta oder den Persischen Golf und den Euphrat aufwärts zur syrischen Küste. Dort warteten bereits die italienischen Galeeren darauf, die kostbaren Waren der Karawanen an Bord zu nehmen und in Europa zu verteilen. 1348 hatte die Pest Italien mit voller Wucht erfasst.[1]

Die Konsequenzen für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft waren katastrophal. Neben dem Massensterben der Bevölkerung entlang der Routen und Umschlagplätze des Fernhandels kam es zum Kollaps des ersten Weltwirtschaftssystems, in dem Oberitalien und die Niederlande nur die ferne westliche Peripherie bildeten. Dieses System hatte sich hundert Jahre zuvor unter dem schützenden Dach der Pax Mongolica gebildet, die den Steppengürtel von China bis in die ungarische Taiga überwölbte. Die Folgen dieses Kollapses waren gewaltig: eine langanhaltende wirtschaftliche Stagnation, die Erinnerung an den schwarzen Tod, der sich tief ins kollektive europäische Gedächtnis einnistete und durch Pestsäulen und Passionsspiele bis heute wachgehalten wird, und der Zusammenbruch des Mongolenreiches.

Die Globalisierung vor der Globalisierung – das erste Weltsystem vor Beginn der europäischen Welteroberung – zerbrach innerhalb kürzester Zeit und wurde von einer langen Fragmentierung der Welt abgelöst. Es dauerte bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts, bis die Flottenexpeditionen der frühen Ming das System vom östlichen Ende der Welt her restaurierten, und sogar noch weitere 70 Jahre, bis die Portugiesen den Seeweg nach Indien gefunden und im Becken des Indiks den „Estado da India“ als neuen Ordnungsrahmen errichtetet hatten. Vasco da Gamas erste Reise ins indische Calicut (1498) und die erste Reise des Kolumbus (1492), der Indien auf der Westroute erreichen wollte und die „neue Welt“ entdeckte, markieren aus europäischer Sicht den Beginn der Globalisierung.[2]

Globalisierung besteht in der Intensivierung und Beschleunigung grenzüberschreitender Transaktionen (aus Handel, Finanzen, Menschen, Informationen und sogar Epidemien), die sich gleichzeitig räumlich ausdehnen. Kürzer gefasst, besteht dieser Vorgang also in der Kompression von Raum und Zeit. Corona ist in diesem Sinne die Intensivierung und Beschleunigung einer grenzüberschreitenden Seuche wie der Pest. Globalisierung ist aber, wie gerade das Coronavirus zeigt, kein Selbstläufer, der nur des technischen Fortschritts im Bereich von Transport und Kommunikation bedarf, der diese Transaktionen immer schneller macht und immer weiter vermehrt. Vielmehr bedarf die Globalisierung auch eines institutionellen Rahmens, der zentrale internationale öffentliche Güter garantiert: wirtschaftliche Stabilität und politische Sicherheit. Heute nennt man das Global Governance. Diese Güter können durch internationale Verträge und Organisationen auf kooperative Weise oder durch eine Führungsmacht bereitgestellt werden, an deren Leistungen alle anderen als Freerider partizipieren.[3] Für diesen institutionellen Rahmen sorgten zuerst die Mongolen im Verbund mit den Italienern, später die Ming, dann die Portugiesen und Spanier, bis sie von den Niederländern, Briten und zuletzt den USA abgelöst wurden.

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Master of Desaster

Globalisierung verlangt aber noch mehr, nämlich eine große Erzählung, die erklärt, warum dieser Prozess normativ gut und für alle Teilnehmer von Vorteil ist. Nur so sind die relevanten Akteure überhaupt bereit, den politischen Willen und die Kosten für den Rahmen aufzubringen, dessen Regeln zu etablieren und gegebenenfalls auch gegen Widerstände durchzusetzen.

Der eigentliche Prophet der Globalisierung war David Ricardo, der 1817 sein berühmtes Theorem der komparativen Kosten entwickelte.[4] Seine Begründung, warum überhaupt internationaler Handel stattfindet – und warum er stattfinden soll –, lautete: Alle, die an der internationalen Arbeitsteilung teilhaben, ziehen daraus einen Vorteil, nämlich die Einsparung von Kosten. Aus diesem Argument resultieren beispielsweise die heutigen grenzüberschreitenden Lieferketten. Damit diese Kostenvorteile allerdings wahrgenommen werden können, muss Freihandel herrschen. Jedes Handelshemmnis, ob durch Zölle oder nichttarifärer Art, ist abzuräumen. Damit lieferte Ricardo gegenüber dem bis dato herrschenden Merkantilismus ein neues Paradigma. Er begründete damit nicht nur, warum ein internationales Geflecht von Freihandelsverträgen geboten ist, sondern warum es sogar legitim ist, Länder mit Gewalt für den Handel zu öffnen. Ricardo hatte prominente Vorläufer, die mit an der großen Erzählung gearbeitet haben, etwa den Niederländer Hugo Grotius als Protagonist des Prinzips Freiheit der Meere.[5]

Damit die große Erzählung in der Tradition von Grotius und Ricardo, auf die sich der Neoliberalismus heute beruft, wirkungsmächtig wird, bedarf es allerdings der Interpreten und Multiplikatoren, die Überzeugungsarbeit leisten, und der Politiker, die die Macht haben, die Idee des Liberalismus durchzusetzen. Nur so kann Globalisierung an Fahrt aufnehmen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts haben die Briten diese Rolle übernommen, indem sie ein miteinander verknüpftes System von bilateralen Handelsverträgen geschlossen und Länder wie China seit 1842 mit den Mitteln der „Kanonenbootpolitik“ für Handel und Investitionen geöffnet haben. Japan folgte 1854 auf amerikanischen Druck. Damit begann der wirtschaftliche Wiederaufstieg Chinas und Japans, den ihr selbstgewählter Isolationismus zuvor verhindert hatte. Die Globalisierung beschleunigte sich erheblich. Ein frühes Opfer war paradoxerweise Großbritannien selbst, als es Ende des Jahrhunderts industriell von Deutschland überholt wurde und trotz der „Großen Depression“ beim Freihandel verblieb. Da die große Erzählung die britische Politik fest im Griff behielt, nahm der erste British Decline seinen Lauf.

Vor dem Ersten Weltkrieg: Globalisierung auf dem Höhepunkt

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatte die Globalisierung dank Dampfschifffahrt und Eisenbahn einen neuen Gipfel erreicht. Doch in der Zwischenkriegszeit war Großbritannien zu schwach und die isolationistisch orientierten USA noch nicht bereit, die liberale Führungsrolle zu übernehmen. Daher konnte die Weltwirtschaftskrise ab 1929 lange nicht gemeistert werden. Dies war wiederum gleichbedeutend mit einer radikalen Wende in Richtung Deglobalisierung, die durch den Zweiten Weltkrieg noch verstärkt wurde. Erst mit der Bretton Woods-Konferenz von 1947 nahmen die USA das Heft in die Hand. Die Gründung von Weltbank, IMF und WTO mit ihren immer neuen Zollsenkungsrunden und die Ausweitung ihrer Zuständigkeit auf Dienstleitungen, Kapitalverkehr und Auslandsinvestitionen sorgten dafür, dass das ricardianische Denken zurückkehrte und die Globalisierung wieder zulegte. Ab den 1990er Jahren, als der Neoliberalismus mit dem Ende der kommunistischen Hemisphäre hegemonial wurde, setzten schließlich all jene, die die Globalisierung nicht per se ablehnten, sondern nur die Auswüchse eines ungehemmten Marktradikalismus, auf Global Governance. Die Globalisierung sollte mit Hilfe von internationalen Organisationen, Abkommen und Normen eingehegt werden. Zumindest in Europa schien dieser Ansatz auch lange Zeit erfolgreich zu sein, obwohl die EU mit dem europäischen Binnenmarkt und dem Schengener Abkommen zum Schwungrad einer innereuropäischen Globalisierung mutierte.

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Hier erkaufen sich  die Politiker ihr Wissen ?
Für eine Hand voll Dollar gibt es Panik mit Gedonner ?

Das innenpolitische Pendant zu Globalisierung und Global Governance bildet die Idee des Kosmopolitismus. Sie ist attraktiv für die überdurchschnittlich Verdienenden, Gebildeten, Weitgereisten und Fremdsprachenkundigen, also jene, die für Freizügigkeit, Freihandel und freien Kapitalverkehr sowie für Multikulturalismus und universalistische Werte eintreten. Aber auch der einfache Bürger hat die Annehmlichkeiten der Globalisierung längst schätzen gelernt: billige Textilien und Unterhaltungselektronik, ganzjährig exotische Früchte, Urlaubsreisen nicht nur nach Rimini und Mallorca, sondern in die ganze Welt, keine Kontrollen im Schengenraum, Fußballer aus der ganzen Welt, um den Heimatverein fit zu machen für die Champions League, und nicht zuletzt Arbeitsmigranten, die die körperlich schwere oder schlecht bezahlte Arbeit übernehmen.

Quelle        :          Blätter         >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen      :

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