Der 09. Mai in Russland
Erstellt von DL-Redaktion am Sonntag 8. Mai 2022
Was der 9. Mai in Wladimir Putins Russland heute bedeutet –
und wie es dazu kam
Von : Shaun Walker
Was an diesem Montag in Moskau oder Mariupol auch geschieht: Der „Tag des Sieges“ der Sowjetunion über Deutschland hat seit Putins Amtsantritt eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen – bis zum Motiv der „Entnazifizierung“ der Ukraine.
In den Städten Russlands werden an diesem Montagmorgen Panzer und Raketenfahrzeuge durch die Hauptstraßen donnern. Soldaten werden über zentrale Plätzen marschiere. Über die Köpfe der Menschen werden Kampfjets hinwegdonnern. Der Tag des Sieges, an dem die Russen das Ende des „großen patriotischen Krieges“, wie sie ihn immer noch nennen, im Jahr 1945 feiern, ist in den zwei Jahrzehnten, in denen Wladimir Putin an der Macht ist, allmählich zum Kernstück eines russischen Identitätskonzepts geworden.
In diesem Jahr, dem des grausamen Angriffs der russischen Armee auf die Ukraine, findet der Tag besondere Resonanz. Einige erwarten eine dramatische Ankündigung Putins, die entweder den Sieg in der Ukraine verkündet oder die Lage weiter verschärft.
In ganz Russland werden einige Familien in Stille ihrer Vorfahren gedenken, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus ihr Leben ließen, oder auf die wenigen noch lebenden Veteranen anstoßen. Andere werden im Einklang mit der offiziellen Botschaft einen bombastischeren Ansatz wählen, vielleicht den Kinderwagen ihres Kindes mit einem Pappmaché-Turm versehen, damit er wie ein Panzer aussieht, oder „Nach Berlin“ auf ihr Auto schmieren.
Die „Entnazifizierung“ der Ukraine
Ein düsterer Slogan, der in den vergangenen Jahren am Tag des Sieges an Popularität gewonnen hat, lautet „Wir können es wieder tun“. Russischen Staatsnachrichten zufolge ist dies genau das, was Russland in der Ukraine seit der Invasion am 24. Februar getan hat. Von Anfang an hat der Kreml die Sprache und die Bildsprache des Zweiten Weltkriegs verwendet, um den Angriff auf sein Nachbarland zu beschreiben.
Putin hat die „Entnazifizierung“ der Ukraine als eines der zentralen Ziele seiner Invasion beschrieben. Als er Mitte März im Moskauer Luzhniki-Stadion vor einer fahnenschwenkenden Menge sprach, versprachen Transparente eine „Welt ohne Faschismus“. Seine Soldaten tragen oft das orange-schwarze St.-Georgs-Band, das zum Symbol sowohl für den Sieg im Zweiten Weltkrieg als auch für den Krieg in der Ukraine geworden ist.
Viele halten dieses Gerede von „Entnazifizierung“ für reine Propaganda. Sicherlich gibt es andere überzeugende Erklärungen für den Einmarsch Russlands in die Ukraine: die Angst vor der Expansion der NATO, die postimperiale Verachtung der ukrainischen Sprache und Kultur, oder die Erzählung von Putin als isoliertem Führer, der die Covid-19-Pandemie in einem Bunker verbrachte und dabei über sein Vermächtnis nachdachte. Aber auch die Rhetorik des Sieges und des Kampfes gegen die Nazis, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten immer verdrehter geworden ist, spielt eine Rolle.
Natürlich bedarf es einer besonderen Denkweise, um angesichts des russischen Expansionskrieges mit seinen Hinrichtungen, den gezielten Angriffen auf Zivilisten und der Schikanierung Andersdenkender im eigenen Land zum Schluss zu kommen, die Ukrainer seien Nazis. Doch schon seit einigen Jahren wird der Siegeskult von Kritikern als „Pobedobesie“ bezeichnet – eine abfällige Anspielung auf die russischen Wörter für „Sieg“ und „Obskurantismus“.
Putins Vertrauter Nikolai Patruschew
Da sich diese Pobedobesie von Jahr zu Jahr ausbreitete, nahm das Phänomen immer groteskere Formen an: In den Schulen wurden Aufführungen veranstaltet, bei denen sich Kinder als sowjetische Soldaten verkleideten; Menschen, die sich als gefangene Nazis ausgaben, wurden durch die Straßen geführt. Immer mehr Gegner des modernen Russlands wurden als Nazis, Neonazis oder Nazi-Komplizen gebrandmarkt. Heutzutage wird in fast jedem Interview mit einem Repräsentanten des russischen Staates über aktuelle Ereignisse auf den Zweiten Weltkrieg Bezug genommen. Das Außenministerium twittert fast täglich darüber. Putins einflussreicher Vertrauter Nikolai Patruschew machte kürzlich den Westen für den Aufstieg Hitlers verantwortlich und meinte, die heutige westliche Welt (und ihre ukrainischen „Marionetten“) seien die wahren Erben der Nazis. „Man sollte sich nicht von angelsächsischer Seriosität täuschen lassen. Selbst ein eng geschnittener Anzug kann Hass, Wut und Unmenschlichkeit nicht verbergen“, wütete er.
In modernen russischen Darstellungen der sowjetischen Kriegsanstrengungen wird Unbequemes wie der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt von 1939 und die anschließende Aufteilung Europas oder die Deportation ganzer ethnischer Gruppen durch Stalins Regime während des Krieges stillschweigend ignoriert. Auch das Bild der „Nazis“ hat sich zunehmend verwischt. In russischen Geschichtslehrbüchern ist kaum von Hitlers Politik, seinem Aufstieg zur Macht, seinem Antisemitismus und vom Holocaust die Rede. Stattdessen ist das Hauptmerkmal der „Nazis“, dass sie die Sowjetunion angegriffen haben. Nach dieser Logik sind alle, die das moderne Russland bedrohen, ebenfalls Nazis.
Dieser Prozess ging im Laufe der langen Amtszeit Putins schrittweise voran. Im Jahr 2000 fand der Tag des Sieges nur zwei Tage nach Putins erstem Amtsantritt als Präsident statt. In einer Rede vor Veteranen erklärte der neue russische Staatschef die Bedeutung des historischen Sieges: „Durch Sie haben wir uns daran gewöhnt, Sieger zu sein. Das ist uns ins Blut übergegangen. Das war nicht nur für militärische Siege verantwortlich, sondern wird auch unserer Generation in friedlichen Zeiten helfen, ein starkes und blühendes Land aufzubauen.“
Es gab kaum eine Familie in Russland ohne Verwandte, die im Krieg gekämpft hatten, und die enormen Verluste, die die Sowjetunion durch den Sieg über Deutschland erlitt, stellen die Verluste der anderen Alliierten zusammengenommen in den Schatten. Doch das Erbe des Krieges und Putins Rede von den „Siegern“ war auch ein seltener historischer Lichtblick für eine Bevölkerung, die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und das wirtschaftliche Chaos der 1990er Jahre traumatisiert war.
Natürlich ist Russland nicht das einzige Land, das in seinen Erzählungen über den Zweiten Weltkrieg gefangen ist. Großbritannien hat einen Premierminister, der sich derzeit – weitgehend erfolglos – darum bemüht, den Geist Winston Churchills wirken zu lassen; Polens Regierung arbeitet fieberhaft daran, jeden Hinweis auf polnische Komplizenschaften beim Holocaust herunterzuspielen. Deutschlands Zurückhaltung bei der Lieferung von Waffen an die Ukraine wird weithin dem historischen Schuldgefühl angesichts der Nazi-Vergangenheit des Landes zugeschrieben, und in Teilen der Ukraine verwehren sich viele Menschen tatsächlich dagegen, die Mitschuld ukrainischer Nationalisten an den Verbrechen während der Kriegsjahre zu untersuchen.
2008: Einmarsch in Georgien
Quelle : Der Freitag-online >>>>> weiterlesen / The Guardian
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Grafikquellen :
Oben — Leuchtschrift zum 9. Mai vor dem Weißen Haus, dem Regierungssitz in Moskau (2009)
- CC BY-SA 3.0
- File:Den Pobedy Reg 0801b m1.jpg
- Erstellt: 8. Mai 2009
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Unten –– Военный парад на Красной площади в ознаменование 74-й годовщины Победы в Великой Отечественной войне 1941–1945 годов