Demütigung als Gefahr
Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 14. Juli 2015
Russland und die Lehren der deutschen Geschichte
von Erhard Eppler
In der letzten Ausgabe der „Blätter“ vertrat der Philosoph Vittorio Hösle die These, dass „Russland heute gefährlicher ist als die alte Sowjetunion“. Und er fügt dem noch eine zeitliche Dramatisierung hinzu: „Putins Alter ist derart, dass er nicht allzu lange warten kann, wenn er als ‚Sammler russischer Erde‘ in die Geschichtsbücher eingehen will“. Will sagen: Passt auf, es kann früher losgehen, als ihr glaubt!
Putin bestimmt die russische Politik seit dem Jahr 2000, also seit 15 Jahren. Noch im Jahr 2013, also nach 13 Jahren Putin, hätte eine solche Warnung bloßes Kopfschütteln oder gar nachsichtiges Lächeln erzeugt. Dass dieser Putin, dem die Russen dafür danken, dass er nach dem Chaos der Jelzin-Jahre wieder so etwas wie einen verlässlichen Staat geschaffen hatte, kein lupenreiner Demokrat im westlichen Sinne war, wussten wir immer. Aber dass er ein Aggressor, dazu einer unter Zeitdruck war, haben wir alle einfach nicht bemerkt – bis der Maidan in Kiew das Abkommen zerriss, das drei europäische Außenminister – mit Zustimmung Putins – den ukrainischen Konfliktparteien abgerungen hatten und eine leidenschaftlich antirussische Regierung installierte.
Haben wir also 14 Jahre lang geschlafen? Immerhin hat Hitler nur 12 Jahre gebraucht, um Europa in Trümmer zu legen.
Immerhin hat dieser Putin dann vieles getan, was nicht auf den von Hösle behaupteten Zeitdruck schließen ließ. Als in Donezk und Lugansk die ukrainische Polizei lächelnd zusah, wie die Separatisten ein Rathaus nach dem anderen besetzten und die Herrscher der neuen „Volksrepubliken“ um Beitritt zur Russischen Föderation baten, hat er das einfach überhört. Und als in Kiew der Ministerpräsident Jazenjuk bei jeder Gelegenheit erklärte, die Ukraine befände sich im Krieg mit Russland, hat er dies nicht als Kriegserklärung gewertet und seine Panzer gen Kiew in Marsch gesetzt, er hat es nicht einmal kommentiert. Er hat also offenbar doch Zeit.
Ich habe diesen Putin nur einmal getroffen, bei Gerhard Schröders 60. Geburtstag. Da kam er nach Hannover mit einem Kosakenchor, der das Niedersachsenlied schmetterte: „Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen.“ Das war ein Putin, der seinen Platz in Europa suchte.
Heute ist es auch in Deutschland so etwas wie ein Denksport, über die finsteren Absichten Putins zu spekulieren. Wollen wir damit vergessen machen, was wir selbst versäumt haben? Warum ist niemand auf die Idee gekommen, mit Putin über das Assoziationsabkommen mit der Ukraine zu reden? Jetzt, nachträglich tun wir es ja, aber nun ist es zu spät. Hätte der damalige Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, das tun sollen? Aber der dachte nicht daran. Und das gefiel auch den Regierungschefs, die, wie vor allem die deutsche Kanzlerin, dafür gesorgt hatten, dass es keinen politisch starken Kommissionspräsidenten gab. Niemand war dafür zuständig, also taten wir so, als ob es Russland gar nicht gäbe. Und rieben uns die Augen, als dieses Russland uns auf dramatische Weise daran erinnerte, dass es noch existierte.
Die Weltgeschichte ist kein Amtsgericht
Quelle: Blätter >>>>> weiterlesen
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Fotoquelle: Wikipedia – Namensnennung: Kremlin.ru
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