Debatte ums Bürgergeld
Erstellt von DL-Redaktion am Donnerstag 17. November 2022
Der Klang einer Beförderung
Von Katja Kullmann
Ist das Bürgergeld echter Fortschritt? Oder Upgrade des längst Bekannten? Eine kleine Geschichte der Unterschichtsverachtung.
Arno Dübel freut sich aufs kommende Jahr. Denn dann werde er „zum Bürger befördert“. So steht es auf der Facebookseite des Mannes, der vor gut 20 Jahren als „Deutschlands frechster Arbeitsloser“ bekannt wurde, als „Sozialschmarotzer vom Dienst“ und „berühmtester Hartz-IV-Empfänger“.
Ach, was waren das aufregende Zeiten, damals, unter rot-grüner Regierung. Nach 16 Jahren Helmut Kohl schien alles neu. Eine Neue Mitte hatte Gerhard Schröder 1998 bei seinem Einzug ins Kanzleramt beschworen und die Menschen ermuntert, ihr Erspartes in die New Economy zu stecken, etwa in nagelneue Telekom-Aktien. „Achtung, wir haben jetzt Neoliberalismus!“, warnten kluge Leute, und wer nicht auf Anhieb kapiert hatte, was das wohl heißen mochte, bekam es 2001 von Gerhard Schröder noch mal erklärt: „Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft.“ Just in jenem Jahr begann die kleine Medienkarriere des Arno Dübel.
Dessen beruflicher Werdegang ist schnell erzählt: 1974 brach er eine Malerlehre ab – Punkt. Seither lebt Dübel von dem, was einem Langzeitarbeitslosen an Sozialleistungen zusteht. Erst hieß es Sozialhilfe. Dann Hartz IV. Nun also bald Bürgergeld. „Wer arbeitet, ist blöd“: So hat Dübel es in Dutzenden Talkshows verkündet. So gab er es der Bild zu Protokoll. Und so postet er es jetzt, mit 66, bei Facebook: „Das neue Bürgergeld ist die Chance auf ein noch schöneres Leben auf Kosten vom Deutschen Staat. Lasst die Leute arbeiten und nehmt mehr Geld ab 1. 1. 2023 mit.“
Vor lauter Krisen schien der Sozialschmarotzer zuletzt vergessen – doch nun, da es an die Abschaffung von Hartz IV geht, kehrt er auf die öffentliche Bühne zurück. Das ist nicht Arno Dübels Schuld, viele kennen ja nicht mal seinen Namen. Nein, der „Sozialschmarotzer“ kann heute Heiko, Helga oder Hassan heißen, er muss kein dürrer Kettenraucher sein, damit wieder über ihn geredet wird.
Da ist etwa Mario Lochner, Finanzblogger und Redakteur bei Money, Ableger des Magazins Focus, das schon 1995 „Das süße Leben der Sozialschmarotzer“ zur Titelstory erhob. Neulich, zu Halloween, verglich Lochner bei Twitter die Menschen, die bald Bürgergeld beziehen werden, mit faulen Kindern, die anderen die Süßigkeiten klauen.
Die Junge Freiheit raunte vor drei Monaten mal wieder von der „sozialen Hängematte“, und der Vize-Fraktionschef der AfD im Bundestag, Norbert Kleinwächter, dachte laut über Menschen nach, die verlernt hätten, „in der Früh aufzustehen“ und stattdessen beigebracht bekämen, „auf der Couch zu liegen“.
Eleganter und behutsamer – fast schon zärtlich – klang es bei CDU-Chef Friedrich Merz, als er über den Menschentypus „Versorgungsempfänger“ sinnierte. Oder bei Michael Kretschmer, sächsischer Ministerpräsident, der im MDR herumdruckste: „Die Menschen, die jeden Tag arbeiten gehen, die etwas leisten, die fragen doch: Ist dieser Sozialstaat wirklich richtig austariert?“ Immerhin steht es schon in der Bibel: „Wer nicht arbeitet, soll nicht essen.“ August Bebel, Adolf Hitler, Josef Stalin und Franz Müntefering haben das zitiert – warum nicht auch ein Christdemokrat?
Die einen beklatschen das rhetorische Nachuntentreten. Die anderen verurteilen es als Zynismus im Trump-Stil. Manche sprechen von „Kulturkampf“. Viele tragen dieser Tage wieder das Wort „Sozialschmarotzer“ auf der Zunge, aber sie spucken es nicht aus. Man hört es trotzdem. Schließlich wissen heute alle Bescheid über die Symbolkraft von Namen und Vokabeln, über „Hate Speech“ und Klassismus, Wording und Framing.
Vertrauen ? Gebt den immer noch Genossen was auf die leeren Köpfe.
Mit dem Bürgergeld will die Ampel-Koalition die Lebensumstände derjenigen, die aus dem geregelten Arbeitsmarkt geglitten sind oder nie drin waren, ein bisschen verbessern. Mit einem Hauch mehr Geld und Weiterbildungsangeboten, besseren Zuverdienstmöglichkeiten, einem höheren Schonvermögen, mit etwas mehr Zeit, Raum, Ruhe, um finanziell und sozial wieder auf die Beine zu kommen – bevor das Jobcenter den Druck dann doch wieder erhöhen kann. Skeptiker und Zweiflerinnen sprechen von Hartz V: einem billigen Upgrade des längst Bekannten.
Gewerkschaften und Sozialverbände jedoch begrüßen das Projekt. Es „reformiert ein Menschenbild“, meinte unlängst auch taz-Kollegin Anna Lehmann: „Der antriebslose Arbeitslose, der lieber Tiefkühlfritten vor der Glotze konsumiert, als sich um Arbeit oder Schulabschluss zu bemühen, ist passé. Stattdessen traut die Ampel den Menschen, wenn auch zaghaft, zu, dass sie tätige Mitglieder der Gesellschaft sein wollen.“
Anhaltende Arbeitslosigkeit und Aufstockungsbedarf haben viele Ursachen. Krankheit, die Alleinverantwortung für ein Kind, psychische Belastungen, eine Sucht, eine gescheiterte Freiberuflichkeit. Und eben die Arno-Dübel-Jahre, die Schröder-Ära. Hartz IV ist (auch) eine Folge von Hartz I bis III: Leiharbeit, Zeitarbeit, Scheinselbständigkeit – ideale Voraussetzungen für die Vermehrung der working poor, Menschen, die von ihren Jobs nicht leben können. Rund acht Millionen abhängig Beschäftigte arbeiten heute auf Niedriglohnniveau, 46 Prozent mehr als 1995.
Die Neue Mitte: Sie verdünnisiert sich
Seit 2005, der Einführung der Hartz-Gesetze, habe sich die Mitte „nicht wieder erholt“, ist bei der nicht gerade kommunismusverdächtigen Bertelsmann-Stiftung zu lesen. 1995 zählten demnach 70 Prozent der Bevölkerung zu den mittleren Einkommensgruppen, inzwischen sind es knapp über 60. Laut Statistischem Bundesamt ist heute jeder Fünfte „von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht“.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Unten — Franz Müntefering (l.) und Gerhard Schröder (r.) bei der Abschlusskundgebung im Bundestagswahlkampf 2005 in Frankfurt am Main…