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Das Opium der Touristen

Erstellt von DL-Redaktion am Samstag 5. Mai 2018

Marx, Heine und die Ökonomie des modernen Reisens

File:Paris - Bateaux vapeur pres du pont Louis-Philippe vers 1840.jpg

Paris – Bateaux vapeur pres du pont Louis-Philippe vers 1840

von Lis Schulz

Sie waren Freunde, Dichter, Philosophen und inspirierten sich gegenseitig.

Eine Zeichnung des sowjetischen Grafikers Nikolai N. Schukow zeigt Heinrich Heine, Karl und Jenny Marx im Gespräch. Es ist Winter in Paris, 1844. Die drei befinden sich in einem kleinen, kahlen Salon eng beieinander vor dem lodernden Kamin. Heine sitzt im Sessel – mit einer Decke über der Lehne – und spricht zu Jenny, die Heine träumerisch zuhört. Neben ihr, am Kamin lehnend, steht Karl mit kritisch-nachdenklichem Blick.

Die Zeichnung illustriert das Verhältnis zwischen Heine und Marx, soweit wir dies heute rekonstruieren können: Der 25-jährige Marx lernt den über 20 Jahre älteren Dichter im Dezember 1843 kurz nach seiner Ankunft in Paris kennen. Die beiden freunden sich schnell an und verbringen im folgenden Jahr viel Zeit miteinander: in den zugequalmten Redaktionsräumen des Vorwärts! oder in der Wohnung des jungen Ehepaars Marx.

Deren Tochter Eleanor erinnerte sich an Erzählungen ihrer Eltern: Heine sei oft vorbeigekommen, mit neuen Versen unterm Arm, und habe gemeinsam mit Karl stundenlang an den Gedichten gefeilt. Marx schätzte Heines „Buch der Lieder“ wie auch dessen „Reisebilder“-Prosa und hatte selbst während seiner Gymnasial- und Studienzeit – zuweilen in Heine’scher Manier – gedichtet. Beide liebten Lyrik, und zudem verband sie eine politische Interessengemeinschaft: Heine suchte neue Bundesgenossen im literarischen Kampf für „Emanzipation“ und „Freiheitsrechte“. Im jungen Marx bewunderte er – wenn auch mit düsteren Vorahnungen – die von ihm selbst prophezeite konsequente Entwicklung der Philosophie des Deutschen Idealismus: vom Geist hin zur Tat.

Marx und der Schriftsteller Arnold Ruge wiederum brauchten den berühmten Dichter, um die Auflagenzahl ihrer Zeitschriften zu erhöhen. Man kann sich nicht vorstellen, und wohl auch der Revolutionszeichner Schukow nicht, dass Marx und Heine nur über Lyrik sprachen; zu sehr hatte sich Heine in Frankreich in die politische Philosophie vertieft und darüber in seinen Korrespondenzartikeln für Cottas Augsburger Allgemeine Zeitung berichtet, nicht zuletzt über den aufkommenden Kommunismus.

Entlaufene Hegel-Schüler

Der Heine-Biograf Wolfgang Hädecke bezeichnete die Freundschaft zwischen Heine und Marx als eine zwischen „dem philosophisch gebildeten Dichter und dem poetisch interessierten Philosophen“. Diese Formulierung verbirgt, dass beide, Marx und Heine, sowohl Philosophen als auch Dichter sind: Konrad Paul Liessmann erkennt zu Recht in Marx den Sprachkünstler und in dessen Texten „große Prosa“, ja „Wissenschaftspoesie“, „wie sie im 19. Jahrhundert zwar nicht selten war, aber in dieser Qualität nahezu konkurrenzlos“. Und der Germanist Klaus Briegleb fordert schon lange, Heine gegenüber endlich eine philosophische Lektürehaltung zu kultivieren. Für Philosophen wie Karl Löwith, der den Schluss von Heines Buch „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ einer Anthologie linkshegelianischer Texte voranstellte, war dies schon immer selbstverständlich.

Ab 1844 finden sich Heine-Zitate in Marx’Aufsätzen. Marx’Adaption Heine’scher Formulierungen funktioniert deshalb so gut, weil diese philosophisch imprägniert sind – wie die berühmte Metapher von der Religion als dem „Opium des Volks“, die ein Zitat aus Heines „Börne“-Schrift ist.

So hat Heine verschiedene Marx’sche Gedanken eher antizipiert, als dass er von ihm beeinflusst wurde. Beide hatten ähnliche philosophische Wurzeln: Sie waren jüdische Intellektuelle, die in die Hegel-Schule gegangen sind; Heine hatte bei Hegel selbst noch Vorlesungen gehört. Und beide haben sich kritisch – nach links – von Hegel entfernt, wenn sie auch zu bestimmten politischen und philosophischen Fragen unterschiedliche Positionen entwickelten.

Das Fräulein stand am Meere

Und seufzte lang und bang,

Es rührte sie so sehre

Der Sonnenuntergang.

Mein Fräulein! sein Sie munter,

Das ist ein altes Stück;

Hier vorne geht sie unter

Und kehrt von hinten zurück.

Heinrich Heine

Sozioökonomische Themen interessierten Heine schon in den 1820er Jahren. Es lohnt sich, seine „Reisebilder“ mit einem an Marx geschulten Blick zu lesen. Die „Reisebilder“ reflektieren nämlich nicht nur Entfremdungs- und Verdinglichungsprozesse des modernen Tourismus, für die Marx und später Georg Lukács das Begriffsvokabular prägten; sondern sie beschreiben auch sehr präzise die Kommodifizierung, das Zur-Ware-Werden des Reisens, dessen Höhepunkt wir gegenwärtig im Billigflug- und Kreuzfahrtschiff-Tourismus erleben.

So stellt schon die 1826 erschienene „Harzreise“ die Brockenwanderung als das Eintauchen in eine inszenierte Konsumsphäre dar. Die „Englischen Fragmente“, die nach Heines 18-wöchiger Englandreise 1827 entstanden, konfrontierten den Leser erstmals mit der detaillierten Beschreibung eines Schaufensters, in dem die ausgestellten Waren „den größten Effekt“ machen: „Die Kunst der Aufstellung, Farbenkontrast und Mannigfaltigkeit gibt den englischen Kaufläden einen eigenen Reiz; selbst die alltäglichsten Lebensbedürfnisse erscheinen in einem überraschenden Zauberglanze.“

File:Harz Brocken Sept-2015 IMG 6433.JPG

Marx wird 40 Jahre später im ersten Buch des „Kapitals“ vom „Fetischcharakter der Ware und seinem Geheimnis“ sprechen: Der „mystische Charakter“ der Ware entspringe nicht ihrem Gebrauchswert, sondern bestünde darin, dass die schön drapierte Ware „den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst“ widerspiegele.

Heines großformatiger Beschreibung des glänzenden Schaufensters folgt der desillusionierende Zusatz, dass die Menschen, welche die schönen Waren verkaufen, nicht heiter sind. Zudem seien Schnitt und Farbe ihrer Kleidung „gleichförmig wie ihre Häuser“. Dann verändert sich die Einstellungsgröße hin zur Totalen, und wie mit einem Kameraschwenk führt Heine den Leser ins Londoner Westend mit breiten Straßen, großen Häuser und Squares. „Überall starrt Reichtum und Vornehmheit“, doch „hineingedrängt in abgelegene Gäßchen und dunkle, feuchte Gänge wohnt die Armut mit ihren Lumpen und ihren Tränen“, eine Armut, die Marx später selbst in London erfuhr. Mit stummen, sprechenden Augen „starrt“ sie „flehend empor zu dem reichen Kaufmann, der geschäftig-geldklimpernd vorübereilt“. Deutlich wird nicht nur der soziale Antagonismus, sondern im wiederholten Bild der leblosen Starre zeigt sich die Kälte der kapitalistischen Gesellschaft. So sind denn auch Heines „Reisebilder“ immer Reisen in die eigene Gegenwart.

Quelle   :      TAZ       >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen   :

Oben   —      Paris um 184o

Français : Les bateaux à aubes sur la Seine, mus par la vapeur, près du pont Louis-Philippe, vers 1840. Paris (France).
Date circa 1840
Source Gravure ancienne
Author Inconnu (unknown)

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Paris_-_Bateaux_vapeur_pres_du_pont_Louis-Philippe_vers_1840.jpg

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Unten   —     Gebäude auf dem Brockengipfel vom Hirtenstieg aus gesehen

Source Own work
Author C. Löser

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