Das laute Schweigen
Erstellt von DL-Redaktion am Freitag 28. Januar 2022
Letztlich geht es beim Verbot von Memorial darum,
Wissenschaftlichkeit und Freiheit zu verteidigen.
Memorial, die älteste und wichtigste Menschenrechtsorganisation in Russland, wurde am 28. Dezember 2021 – mit dem Einverständnis des Präsidenten Wladimir Putin – vom Obersten Gericht verboten. Der absurde Vorwurf: Agententätigkeit. Dem folgte das Verbot des Moskauer Memorial-Menschenrechtszentrums. Memorial wurde auch vorgeworfen, „Lügen über die UdSSR“ zu verbreiten, sie als „Terrorstaat“ darzustellen und „staatliche Organe mit Kritik zu überziehen“.
Als Historiker können wir uns nur wundern, dass die große Mehrheit der deutschen Historiker dieses Verbot offenbar gleichgültig und weitgehend schweigend hinnimmt. Niemand in Deutschland hat bislang angekündigt, die Zusammenarbeit mit staatlichen russischen Institutionen der Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik einzustellen, so lange Memorial verboten ist. Wie aber kann irgendwer offiziell mit russischen geschichtswissenschaftlichen Institutionen zusammenarbeiten, wenn gleichzeitig jene Russinnen und Russen, die die kommunistische Vergangenheit aufarbeiten, kriminalisiert werden?
Das Verbot vollzog sich vor dem Hintergrund der schon seit Jahren andauernden Versuche Putins, die Geschichte der Sowjetunion umzudeuten. Der Massenmord der kommunistischen Diktatur an der eigenen Bevölkerung wird aus dem Selbstbild der heute in Russland Herrschenden verdrängt und die sowjetische Rolle beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verschwiegen. So wird die Geschichte des Landes zu einer Kette ruhmreicher Erfolge, die alle Niederlagen und Massenverbrechen überstrahlt. Schmerzhafte Erinnerungen vieler Russen an die Opfer des Kommunismus stören und sollen beseitigt werden. Sie sind aber unverzichtbar für die Zukunft eines demokratischen Russlands.
Hinter dem Verbot steht auch die Auffassung, dass der Staat grundsätzlich nicht kritisiert werden darf. Das ist ein Schlag ins Gesicht aller, die sich mit russischer und sowjetischer Geschichte beschäftigen, die Verbrechen Stalins aufklären und die an einem guten deutsch-russischen Verhältnis interessiert sind. Memorial will nicht aufgeben, sich juristisch wehren und andere Möglichkeiten finden, die Arbeit legal fortzusetzen. In jedem Fall muss es dafür internationale Unterstützung geben.
Gegen das Verbot Memorials gibt es weltweit Proteste. In Deutschland nahm der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands das drohende Verbot von Memorial „mit großer Besorgnis zur Kenntnis“ und wandte sich gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde mit einer Erklärung an russische Behörden und die Europäische Union. Früh und konsequent prangerte die Zeitschrift Osteuropa eine Verletzung der Menschenrechte an, würdigte Memorial als „moralisches Rückgrat der russischen Zivilgesellschaft“. Ähnlich urteilten auch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und verschiedene Einrichtungen der Zivilgesellschaft. Das Deutsch-Russische Forum hielt das Verbot für „ungerechtfertigt“. Andere schweigen.
Trotz der genannten Beispiele blieben die deutschen Historiker insgesamt sehr zurückhaltend mit ihren Kommentaren – als vor vierzig Jahren in Polen das Kriegsrecht verhängt worden war und polnische Historiker zu den Internierten zählten, erhoben sich viele prominente Stimmen aus der bundesdeutschen Historikerschaft. Heute sind die Proteste formal, lau, halbherzig. Wäre es nicht angemessener, wenn die Bundesregierung den Botschafter aus Moskau zur Berichterstattung zurückbeordert oder den russischen Botschafter ins Auswärtige Amt einbestellte?
Das eisige Schweigen der historischen Zunft ist enttäuschend. Auch die Stimmen der meisten Russlandkenner waren kaum zu hören. Woran könnte das liegen? Geht es vielleicht doch um eine ungestörte Zusammenarbeit mit russischen Einrichtungen, um den Zugang zu Archiven, um die Fortsetzung begonnener Projekte und darum, deren Finanzierung nicht zu gefährden? Wenn dies so wäre, dann käme es einer moralischen Bankrotterklärung gleich und wäre ein Verrat an den Ideen und dem Engagement von Memorial.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Protestveranstaltung mit Adam Michnik in Warschau im November 2021 wegen Gerichtsverfahren zur Auflösung in Russland