Das Kokain der Politik
Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 23. Mai 2017
Die SPD und der unaufhaltsame Fall des Martin Schulz
Je höher sich die Blender auf das Podest stellen, je tiefer werden sie einmal fallen.
Das ist Teil einer gefühlten Gerechtigkeit.
von Stefan Reinecke und Ulrich Schulte
Zahlen 20 Prozent, 32 Prozent, 26 Prozent, hoch und runter gehen die Umfragen und mit ihnen taumelt die SPD. Wie umgehen mit dem Hype?
Miriam Wolters postet am 24. Januar auf Facebook eine Nachricht, die aus nur einem Wort besteht: „Done“ – erledigt. Wolters hat gerade ihren SPD-Mitgliedsantrag abgeschickt.
Der Mann, dessentwegen sie Genossin werden will, pflügt am 9. März blendend gelaunt durch die Fußgängerzone in Darmstadt. Martin Schulz, 61, Ex-EU-Parlamentspräsident, Exbürgermeister von Würselen und frisch ausgerufener SPD-Kanzlerkandidat, streichelt Babys, macht Selfies mit Jusos, umarmt Bekannte. „Das ist ja wie bei Justin Bieber“, sagt eine junge Frau.
Schulz ist heiter, locker und aufgekratzt. Mit Darmstadt 98, dem Tabellenletzten, werde es wieder aufwärts gehen, ruft er. Der Trainer, Torsten Frings, sei ja aus Würselen. Fußball und Würselen, das geht immer. Jubel. An einer Currywurstbude fragt eine Lokalreporterin, wie Schulz mit dem Hype um seine Person klar komme. „Ich war ganz unten. Ich habe eine Mitte. Ich hebe nicht ab.“
Das ist viel Ich in drei Sätzen, aber an diesem Tag in Ordnung, denn Schulz strahlt wie eine kleine Sonne. Seine SPD liegt in Umfragen bei 32 Prozent, ein Rekordwert. Schulz, der Herausforderer, und Kanzlerin Angela Merkel liegen Kopf an Kopf. Alles scheint möglich. Schulz, diese Stimmung liegt in der Darmstädter Luft, könnte der nächste Bundeskanzler werden.
In der SPD hatten sie damals ein beseeltes Lächeln im Gesicht, wenn sie von ihm sprachen. Auf Twitter sammelten sich begeisterte Posts unter den Überschriften #JetztistSchulz oder #GeileSau. Auf dem Cover des Spiegels stupst Schulz eine steinerne Merkel vom Sockel.
Heute, gut zwei Monate später, ist Darmstadt aus der Bundesliga abgestiegen. Die SPD hat drei Landtagswahlen verloren, zuletzt die im wichtigen Nordrhein-Westfalen. Neumitglied Miriam Wolters beißt in einem Café am Berliner Spreeufer in ein Franzbrötchen und sagt: „Fair ist das nicht – und auch ein bisschen traurig.“
Fukushima: +6 ProzentSchulz: +12 Prozent
War alles nur Hype? Eine Luftblase, eine Autosuggestion, in der „Martin Schulz“ ein ungedeckter Wechsel war, eine Projektionsfläche ohne eigenes Gewicht? Kommt da noch was? Oder war’s das mit Schulz?
Zum Hype scheint zu gehören, dass alle Medien dauernd fragen, ob das, was gerade passiert, Hype ist – und trotzdem keiner aussteigt. Und er hat viel mit Gefühlen zu tun.
„Martin Schulz ist einfach ein guter Typ. Nahbar, authentisch, humorvoll.“ Miriam Wolters, 41, Glitzerstecker in der Nase, türkisfarbener Blazer, kann sich in Begeisterung reden, wenn sie über Schulz nachdenkt. Der nehme sich nicht so ernst, sagt sie, sei ein überzeugter Europäer und einer, der die Sorgen einfacher Leute kenne. Schulz scheiterte in jungen Jahren als Fußballer, besiegte eine Alkoholsucht, arbeitete als Buchhändler, bevor er seine steile Politikkarriere hinlegte.
Wolters, Referentin beim Deutschen Jugendherbergswerk, nennt sich selbst ein „Fangirl“, ironisch natürlich, denn was sie über die SPD-Liebe zu Schulz erzählt, ist reflektiert. Eine Illusion sei es, dass es in der Politik nur aufs Programm ankomme. „Personen sind entscheidend.“ Schulz sei für die Sozialdemokratie wie ein Befreiungsschlag gewesen.
Wissenschaftlich gesehen ist medialer Hype – eigentlich ein Ausdruck für PR-Kampagnen für neue Produkte – mehr als Übertreibung. Es bezeichnet einen Grenzzustand: Medien bilden die Wirklichkeit nicht mehr nur ab, sie werden selbst zu Akteuren, die Nachrichten produzieren, über die sie berichten. So wächst eine Scheinwelt, ein System, das sich selbst beschleunigt. Bis zum Kollaps. Die Umfragewerte der SPD schnellten vom Moment der Nominierung Martin Schulz’am 24. Januar in vier Wochen von 20 auf 32 Prozent.
Nach Fukushima 2011 stiegen die Werte für die Grünen um 6 Prozent. Die Union verlor im Jahre 2000 mal 13 Prozent – allerdings in drei Monaten, nicht in drei Wochen. Damals weigerte sich Helmut Kohl, der Justiz die Namen illegaler Parteispender zu nennen. Es war die tiefste Krise der Union seit 1949. Thomas Petersen, Demoskop beim Allensbach-Institut, sagt: „Die bloße Ankündigung einer Personalie hat noch nie einen solchen Umschwung ausgelöst.“ Petersen hält die Schulz-Nominierung für das Paradebeispiel eines Zusammenspiels von medialer Übertreibung und Umfragehagel, ein System von sich gegenseitig verstärkenden Echoräumen.
Erst präsentierten Medien Schulz als Sensation, dann beauftragten sie Umfrageinstitute, die – kein Wunder – melden, dass die SPD beliebter sei. Das war wiederum eine Nachricht, die zu beweisen schien, dass es richtig war, viel und positiv über Schulz zu berichten. Das war, so Petersen, „ein Kreis, ein sich selbst nährendes System aus Berichten und oberflächlichen Blitzumfragen“.
Kurzum: eine Blase. Großen Anteil haben die Umfrageinstitute. Die Konkurrenz ist groß, und die Verführung, neue spektakuläre Zahlen zu liefern auch. In den vier Wochen nach Schulz’Nominierung veröffentlichten 7 Institute 23 Umfragen, fast jeden Tag eine. Und für eine Headline taugt „SPD erstmals bei 30 Prozent“ eher als SPD bei 29 Prozent. Der Aufmerksamkeitsmarkt braucht Nachschub. Umfragen, die scheinbar nur messen, was der Fall ist, sind ideale Beglaubigungen.
Die Überschriften waren entsprechend: „Ein Monat Schulz: SPD erstmals seit 2006 in Umfrage vor der Union.“ Oder dass Schulz beliebter als Merkel sei. Die Umfragehausse des SPD-Manns, so Petersen, „hat im Februar sogar Trump eine Weile aus den Schlagzeilen verdrängt“.
Viele Sympathisanten, wenig Wähler
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquelle : Hannelore Kraft auf dem SPD Bundesparteitag am 19. März 2017 in Berlin
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- File:2017-03-19 Hannelore Kraft SPD Parteitag by Olaf Kosinsky-12.jpg
- Created: 19 March 2017
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