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„Das ist illegal“

Erstellt von DL-Redaktion am Freitag 12. Oktober 2018

Mitglied der Härtefallkommission NRW über Abschiebungen

Das Interview führte Anette Selle

Um so viele Geflüchtete wie möglich abzuschieben, bescheinigen Behörden den Betroffenen, gesund und reisefähig zu sein. Dabei sind sie seelisch schwer traumatisiert. Das Prozedere ist ein Skandal und rechtswidrig, sagt der Psychoanalytiker Hans Wolfgang Gierlichs.  (74 Jahre)

taz: Herr Gierlichs, Sie prüfen als Psychoanalytiker und Mitglied der Härtefallkommission Nordrhein-Westfalen Gutachten von Fachleuten zu Geflüchteten. Wie viele haben Sie bisher gesichtet?

Hans Wolfgang Gierlichs: In 5.000 bis 6.000 Fällen habe ich so gut wie nie ein Gutachten über die Reisefähigkeit von Geflüchteten gesehen, die von Experten ausgestellt waren, die eine spezielle Fortbildung hatten. Aber: In dem großen Pool der deutschen Psychiater gibt es sehr viele einfühlsame Fachleute mit Fortbildungen – nur die werden kaum gefragt.

Stattdessen haben die Behörden ein Netzwerk aus begutachtenden Ärzten aufgebaut, die ihrem Willen entsprechen. Die bescheinigen Reisefähigkeit bei nahezu jedem. Die Behörden stehen unter enormem Druck, weil immer gesagt wird, es würde zu wenig abgeschoben. Insofern kann man verstehen, wie sie handeln. Aber rechtens ist das nicht.

Wie erklären Sie sich dieses Vorgehen?

Wenn man die Ausnahmejahre 2015 und 2016 als Ausreißer betrachtet, haben wir durchschnittlich 100.000 Asylbewerber pro Jahr. Bezüglich Bürgerkrieg, Genozid und Regimen mit Folter kommen weltweit unzählige wissenschaftliche Untersuchungen zu dem Schluss, dass mindestens 30 bis etwa 40 Prozent der Bevölkerung eines betroffenen Landes traumatisiert sind.

Untersuchungen in Deutschland haben ergeben, dass etwa 35 bis 40 Prozent der Asylsuchenden unter einer akuten Traumatisierung leiden. Jetzt stellen Sie sich mal vor, man würde anerkennen, dass von 100.000 Menschen mindestens 30 Prozent unter einer Krankheit leiden, die sie reiseunfähig macht. Dann hätten Sie 30.000 Menschen pro Jahr, die einen Aufenthalt kriegen müssten. Und eine Therapie. Das ist teuer. Deswegen sagt man einfach, die Menschen seien gar nicht krank. Sonst müsste man ja zur Unmenschlichkeit der Entscheidungen stehen. Ich habe Hunderte Fälle vergewaltigter Frauen gesehen, die zurückgeschickt wurden.

Die sogenannte Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) gilt seit dem Asylpaket II im Jahr 2016 nicht mehr als Abschiebehindernis.

In diesem Paket steht die erstaunlich Feststellung, dass bei PTBS regelmäßig eine schwerwiegende Erkrankung nicht ­angenommen werden könne, formuliert von Verwaltungsbeamten. Das hat zu intensivem Ärger geführt, auch zu Protesten der Bundesärztekammer und der Psychotherapeutenkammer. Aber die haben alle nichts gebracht. Diese Formulierung ist jetzt Grundlage sämtlicher Briefe, die Ausländerbehörden schreiben.

Wie äußert sich die Posttraumatische Belastungsstörung?

Sie ist eine ernsthafte Erkrankung, die auftritt, wenn ein Mensch etwas erlebt hat, was er nicht verarbeiten kann. Etwas, das die Verarbeitungsfähigkeit des Gehirns übersteigt. Dann schaltet sich das Gehirn teilweise ab, das Erlebte wird nicht normal gespeichert und kann folglich nicht verarbeitet werden. Es ist keine Vergangenheit, sondern bleibt permanent Gegenwart.

Die Betroffenen schlafen nicht mehr und werden immer ängstlicher. Sie können nicht mehr denken, werden aggressiv und fangen an, andere Leute zu schlagen, oder sich komplett zurückzuziehen. Sie können sich nicht mehr um die Menschen kümmern, die sie eigentlich lieb haben.

Es ist nach wie vor illegal, Menschen mit PTBS abzuschieben, wenn durch die Abschiebung eine Selbstgefährdung möglich wäre.

Natürlich ist das illegal. Also sorgen die entsprechenden Behörden dafür, dass die Menschen entweder offiziell kein PTBS haben, oder man schließt die Selbstgefährdung offiziell aus. Dann kann man abschieben.

Zudem verbietet das Asylbewerberleistungsgesetz die Behandlung psychischer Krankheiten: Solange jemand nicht anerkannt ist, gibt es eine gesundheitliche Versorgung nur bei akuten Schmerzen: bei offenen Wunden, einer Schwangerschaft, Gallensteinen, solche Sachen. Psychische Erkrankungen gelten nicht als akut. Die Leugnung der Erkrankung und ihrer Schwere macht es möglich, Menschen abzuschieben, ohne gegen ein Gesetz zu verstoßen.

Vor dem Gutachten kommt die Anhörung. Welche Rolle spielt die?

Quelle     :         TAZ            >>>>>          weiterlesen

Ärztliche Mitwirkung bei der Abschiebung

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Wer schiebt denn da, wenn ich ziehe, „aufstehen ihr Faulpelze“

Quelle   : Presse – IPPNWforum

Die „Reisefähigkeitsatteste“ von Dr. Hans Wolfgang Gierlichs
hwgierlichs@t-online.de, www.sbpm.de

01.12.2008 Vor 15 Jahren wurde das Asylrecht in Deutschland gravierend eingeschränkt. Viele Flüchtlinge, die durch politische Verfolgung und Folter traumatisiert sind, werden seither nicht mehr als Asylberechtigte oder Schutzbedürftige anerkannt. Am Ende eines oft jahrelangen und zermürbenden Asylverfahrens stehen sie irgendwann vor der für sie extrem bedrohlichen Situation einer Abschiebung zurück in das Land der erlittenen Gewalt, sie dekompensieren psychisch und werden suizidal.

Da vor ihrer Abschiebung in aller Regel noch eine ärztliche Untersuchung stattfindet, könnte ihr oft bedrohlicher Zustand diagnostiziert und als Abschiebehindernis berücksichtigt werden. Viele Ausländerbehörden bezweifeln aber ihre oft schweren seelischen Erkrankungen. Sie legen fest, vor der Abschiebung nur die Flugreisetauglichkeit; untersuchen zu lassen, und beauftragen damit gern Ärzte, von denen bekannt ist, dass sie dem seelischen Leid der Flüchtlinge nicht weiter nachgehen und die meisten Untersuchten als reisefähig einstufen.

Die Bundesärztekammer entwickelte vor vier Jahren nach langem Streit mit den Innenbehörden einen Katalog, der eine umfassende Untersuchung fordert und bei Hinweisen auf psychische Erkrankungen die Untersuchung durch psychiatrisch-psychologische Fachleute fordert. Der Deutsche Ärztetag forderte, diesen Katalog dann auch in der Praxis anzuwenden. In vielen Bundesländern fanden curriculäre Fortbildungen zur Diagnostik psychischer Störungsbilder bei Flüchtlingen statt, die Teilnehmer wurden zertifiziert, ihre Namen in Gutachterlisten den  Länderinnenministerien zur Verfügung gestellt.

An der Praxis änderte sich danach aber wenig, weil die Listen nicht weitergegeben wurden und viele Behörden das Vorliegen von Hinweisen auf psychische Erkrankungen schlicht bezweifelten und darauf bestanden, nur die reine Transportfähigkeit untersuchen zu lassen. Amtsärzte, die umfassender untersuchten, wurden vielerorts unter Druck gesetzt, die Untersuchungsaufträge an willige Ärzte „ausgelagert“. Unter diesen fiel in Nordrhein-Westfalen vor allem der Kollege K auf. Er besaß eine Fortbildung in „Flugmedizin“, aber keinerlei psychiatrische Qualifikation. Gemeinsam mit gleich gesinnten Ärzten stellte er in größerer Zahl nicht nachvollziehbare Reisefähigkeitsbescheinigungen aus, gelegentlich auch auf dem Flughafen auf einem Stück Papier. Sein Benehmen fiel sogar der Bundespartei auf. Er berücksichtigte häufig qualifizierte Voratteste nicht. So auch bei Herrn M. der viele traumatische Ereignisse im Kosovo erlebt hatte. Bei ihm lagen 15 medizinische Befundberichte u. a. von Fachkliniken vor, die alle zu dem Ergebnis einer schweren psychischen Erkrankung kamen. Kollege K bescheinigte, ähnlich wie bei anderen Flüchtlingen, „Reisefähigkeit“, ohne den Betroffenen je untersucht zu  haben. Dem schwer herzkrankenn Herrn X. erging es nicht besser, Herr K. schrieb ihn ohne Untersuchung reisefähig, er wurde abgeschoben, sein Zustand verschlechterte sich so rasch, dass er zurückgeschickt und hier sofort in ein Krankenhaus eingeliefert wurde.

Einige couragierte Ärzte und Ärztinnen versuchten, gegen ihn vorzugehen. Die zuständigen Ärztekammern zögerten mit einer Reaktion oder erklärten sich für nicht zuständig. Der Arzt selbst versuchte, wenn auch erfolglos, die ihn kritisierenden Kollegen gerichtlich mundtot zu machen. Ausländerbehörden, die mit ihm zusammenarbeiteten, bestanden darauf, ihn weiterhin zu beauftragen. Einige Richter der Obergerichte bestärkten sie darin, nur die Transportfähigkeit überprüfen zu lassen, andere forderten ein Umdenken, die Abwägung aller mit einer zwangsweisen Abschiebung verbundene gesundheitlichen Risiken und eine umfassende Untersuchung. Es gelang schließlich, die Medien auf die Situation aufmerksam zumachen, das WDR-Fernsehen berichtete in drei Sendungen engagiert über Flüchtlinge, die vor Abschiebungen psychisch dekompensiert waren.

Die evangelische Kirche brachte die Listen mit den qualifizierten Experten „in Umlauf“, Ausländerbehörden reagierten verunsichert. Das zuständige Landesinnenministerium wies zunächst darauf hin, dass in der Regel weiterhin Flugmediziner für die „Reisefähigkeitsatteste“ geeignet seien. Nun beantrag-ten verärgerte Landtagsabgeordnete eine Untersuchung der Zustände, es kam zu sehr kontroversen Auseinandersetzungen im Innen- und Gesundheitsaus-schuss. Am Ende forderten die Parlamentarier das Innenministerium auf, seine Einstellung zu ändern und die Expertenlisten offiziell an die Ausländerbehörden weiterzuleiten. Das Innenministerium erklärte sich jetzt endlich hierzu bereit, wollte sich aber zur Qualifikation des Kollegen K. weiterhin nicht äußern.

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CC BY-NC-ND 3.0

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Grafikquellen    :

Oben      —        Demonstration gegen die deutsche Abschiebepraxis

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Unten    ––     Lisboa_20130430 – 45

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