Zur Verteidigung der Utopie
Erstellt von Redaktion am Donnerstag 7. August 2014
Das Europa von heute und die Wirklichkeit von morgen
von Oskar Negt
Mit Verblüffung muss man heute feststellen, wie viel intellektuelle Energie auf Europadiskurse gelenkt wird, die selbst in ihrer radikalsten und kritischsten Position vollkommen dem Bannkreis des Geldes und der politischen Institutionen verhaftet bleiben. Manchmal könnte man auf den Gedanken kommen, dass die öffentlich definierte Realitätsmacht der vorherrschenden Wirklichkeit nicht nur die Gedanken erfasst, sondern auch die Denkstrukturen. Das ist umso erstaunlicher, als gerade in den vergangenen Jahren weltweite Protestbewegungen hörbar und sichtbar gemacht haben, dass die auf unterschlagenen Wirklichkeiten und von oben inszenierten demokratischen Legitimationen beruhenden Herrschaftssysteme brüchig sind und zu Fall gebracht werden könnten.
Was in Europa und den USA einen neuen kollektiven Lernprozess einleiten könnte, ist die massenhafte Erfahrung, dass es die Realpolitiker in allen Machtzentren der Gesellschaft, den Banken ebenso wie den Regierungen, gewesen sind, die eine hochentwickelte Gesellschaftsordnung an den Rand der Katastrophe getrieben haben – nicht die Utopisten, nicht die mit dem Vorwurf der Realitätsferne geschlagenen Konstrukteure einer besseren Welt.
Im Verhältnis von Utopie und Wirklichkeit vollzieht sich weltweit eine entscheidende Veränderung: Die Realitätsmacht der Utopien, in der 68er-Bewegung verbal und mit viel Leidenschaft eingeklagt, scheint immer stärker besonders Jugendliche zu motivieren, sich gegen Unterdrückung, Ausbeutung und politische Manipulation zu wehren. Die Erosion der offiziellen politischen Machtinstrumente nimmt den Tatsachen-Menschen, die unentwegt die Alternativlosigkeit ihres Wirklichkeitssinnes behaupten, alle Überzeugungskraft. Das eröffnet dem Möglichkeitssinn neue Perspektiven und ermutigt die Menschen, sich zu empören und Forderungen zu stellen, die noch vor einem Jahrzehnt als verrückt gegolten hätten.
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Fotoquelle: Wikipedia – Urheber Deror avi
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