Das Erbe von ’68 :
Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 27. April 2021
Identitätspolitik als Kulturrevolution

von Steffen Vogel
Sie alle sind Teil einer Emanzipationsbewegung, die vollenden will, was ab 1968 begonnen wurde und für die vollständige Gleichberechtigung und verstärkte Repräsentation von Frauen und Minderheiten streitet. Was sich unter dem umkämpften Label der Identitätspolitik vollzieht, ist daher ähnlich wie ‘68 eine Kulturrevolution, die vielleicht nicht minder bedeutsam ist. Denn bei dieser Auseinandersetzung geht es um die Zukunft der westlichen Gesellschaften als vielfältige Demokratien.
Wie bei jeder sozialen Bewegung, die einen starken moralischen Anspruch erhebt, sehen wir allerdings auch heute zuweilen den Umschlag ins Rigorose, Rigide und teilweise Autoritäre. Auch das ist eine historische Parallele: 1968 hat die westlichen Gesellschaften liberalisiert, obwohl viele 68er ziemlich illiberal waren und sich beispielsweise in streng hierarchischen maoistischen Kaderparteien organisierten. Kurz: Es war eine libertäre Revolte,[4] die mitunter von autoritären Geistern getragen wurde.
Freiheitlich war das Aufbegehren der 1960er Jahre nicht zuletzt auch deswegen, weil es gründlich mit dem Hauptwiderspruchsdenken der Linken aufgeräumt hat. Gegen den orthodoxen Marxismus etablierte die damalige Jugend eine Einsicht, hinter die manche Linke heute wieder zurückfallen: Nicht nur Klassenverhältnisse prägen das Machtungleichgewicht in einer Gesellschaft, daher darf etwa der Kampf um Frauenrechte nicht als nachrangig abgewertet werden. Neben der zweiten Frauenbewegung traten verstärkt Minderheiten auf den Plan und erlangten eine Sichtbarkeit, die ihnen gesellschaftlich lange verwehrt worden war. Diese Selbstermächtigung führte allerdings bislang nicht zu einer vollständigen Emanzipation.
Das lässt sich am Beispiel queerer Menschen deutlich erkennen. Rechtlich hat die ab 1969 auch in Westdeutschland aktive Schwulen- und Lesbenbewegung einiges erreicht:[5] von der schrittweisen Entschärfung und schließlich endgültigen Abschaffung des Paragraphen 175 des Strafgesetzbuchs, mit dem Homosexualität kriminalisiert wurde, im Jahr 1994 bis zur Ehe für alle im Jahr 2017. Doch obwohl auch die gesellschaftliche Offenheit seither gewachsen ist, befinden sich queere Menschen noch immer in der Position mehr oder weniger akzeptierter Außenseiter. Dazu muss man gar nicht nach Polen schauen, wo sich ganze Gemeinden mit Unterstützung der homophoben Regierungspartei PiS als „LGBT-freie Zonen“ deklarieren. Allzu oft ist auch in der Bundesrepublik ein Outing nach wie vor mit massiven beruflichen Nachteilen, offenen Anfeindungen, wenn nicht gar Übergriffen verbunden. Bislang hat beispielsweise kein aktiver Profifußballer diesen Schritt gewagt, Politiker wie Klaus Wowereit und Guido Westerwelle oder die Talkmasterin Anne Will gingen ihn wohlweislich erst, als sie schon etabliert waren. Umso bedeutsamer war im Februar das kollektive Outing von 185 deutschen Schauspielerinnen und Schauspielern der Initiative ActOut.[6]
Ein ähnliches Bild ergibt sich mit Blick auf den Rassismus. Das gilt insbesondere in einer Gesellschaft wie der deutschen, die bis heute ihre koloniale Vergangenheit kleinredet, sich erst 1999 unter heftigem Streit von der Vorstellung verabschiedet hat, dass Staatsbürgerschaft primär durch Abstammung erworben wird, und lange gebraucht hat, um sich selbst als das Einwanderungsland zu begreifen, das sie seit den 1950er Jahren ist. Immerhin hat nun eine Debatte über diese Themen an Fahrt aufgenommen, die Betroffene lange eingefordert haben. Sie ließ sich angesichts der gesellschaftlichen Realitäten aber auch kaum noch aufschieben: Inzwischen haben 26 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, unter Jüngeren und Städtern sind es deutlich mehr. Wie sehr diese Selbstverständigung aber noch in den Kinderschuhen steckt, zeigt sich schon an der Sprache, die Anleihen aus der avancierteren angelsächsischen Debatte machen muss, weil eigene Begriffe fehlen: „Das deutsche Wort für People of Colour lautet übrigens: People of Colour“, bemerkt treffend die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal.[7]
Gleichzeitig hat der Rassismus immer auch eine mörderische Qualität, wie zuletzt das Attentat von Hanau gezeigt hat. Wie zuvor schon die Anschlagsserie des NSU sollte auch diese Gewalttat ein Gefühl von Schutzlosigkeit erzeugen. Die Autorin Aida Baghernejad schreibt: „Kein Pass, kein Titel, kein Kapital, keine Errungenschaft schützt uns davor, immer wieder als die Fremden gesehen zu werden. Als die, die eigentlich nicht dazugehören. Ich muss nicht regelmäßig in Shishabars gehen, um die Nachricht des Terroristen aus Hanau und all jener, die seinen Hass fütterten, zu verstehen.“[8] Angesichts dessen wirkt es mindestens irritierend, „linke“ und „rechte Identitätspolitik“ in einem Atemzug zu kritisieren, wie es auch Wolfgang Thierse in seinem vieldiskutierten FAZ-Beitrag tut – erweckt dies doch den Eindruck einer Äquidistanz zwischen Rassisten und Antirassisten, die gerade ein engagierter Antifaschist wie Thierse nicht intendiert haben kann.
Die Dialektik der Identitätspolitik
Diese Erfahrungen mit Ausgrenzung und Gewalt machen Identitätspolitik nötig – und zwar in einem dialektischen Sinne: Wer nicht dauerhaft auf eine bestimmte Identität reduziert werden will, muss genau diese Identität temporär verstärken. Um ein besonders krasses Beispiel zu wählen: Wenn ein Afroamerikaner in den Augen so manches US-Polizisten in erster Linie nicht ein Mitbürger, sondern ein Schwarzer ist und als solcher misshandelt und sogar getötet wird, dann trifft das Anmahnen eines universellen Rechts auf körperliche Unversehrtheit nicht den Kern des Problems. Denn gefährdet sind eben nicht alle gleichermaßen, sondern gerade schwarze Leben. Deshalb lautet die Forderung auch zu Recht „Black Lives Matter“. Und deshalb ist die Selbstorganisation von Afroamerikanern wichtig: für die politische Sichtbarkeit und das Empowerment einer bedrängten Bevölkerungsgruppe.
Diesen Zusammenhang verkennen oftmals selbst grundsätzlich aufgeschlossene Menschen wie die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Gesine Schwan, die jüngst „kollektive Identitäten“ pauschal als selbstgewählte Abschottung gegenüber der Gesellschaft deutete.[9] Im Falle von Minderheiten ist es aber genau umgekehrt: Die alltägliche und oft strukturelle Diskriminierung verhindert, dass ihre Angehörigen als Individuen – oder emphatischer: als Bürgerinnen und Bürger – gesehen werden. Stattdessen wird ihnen von außen allzu oft ein kollektives Etikett angeheftet: Muslima, Schwuler, Migrantin. Kurz: Sie werden ent-individualisiert und zu „den Anderen“ gemacht. Um irgendwann einfach nur Individuum oder Bürgerin sein zu dürfen, müssen sie daher einen Zwischenschritt gehen und als Vertreter dieser Identitäten Rechte und Repräsentation einfordern. Die Autorin Şeyda Kurt bringt das so auf den Punkt: „Wir wollen uns nicht essenzialisieren lassen durch gewisse Identitäten, wir wollen sie strategisch einsetzen.“[10]
Das hat wenig gemein mit dem utopischen Überschuss, der die Kulturrevolution der 1960er Jahre kennzeichnete. Hoffte Herbert Marcuse damals noch, „Randgruppen“ wie die Afroamerikaner könnten eine revolutionäre Avantgarde bilden und glaubte Michel Foucault, Schwule und Psychiatriepatienten würden letztlich zwangsläufig mit Arbeitern und Studierenden den Kapitalismus herausfordern, so sind die heutigen Engagierten – bei allen Unterschieden zwischen ihnen – zumeist weit weniger radikal: Sie wollen nicht eine ganz andere, sondern vor allem eine bessere Gesellschaft. Ihre Forderungen sprengen meist nicht den Rahmen liberaldemokratischer Gesellschaftsordnungen, sondern nehmen lediglich deren Versprechen ernst.
Die Forderungen von ActOut bieten hierfür ein gutes Beispiel: Wäre es heute bereits selbstverständlich, dass eine lesbische Schauspielerin jede Rolle, also auch die heterosexueller Frauen, spielen kann, und gäbe es gleichzeitig mehr und vielfältigere lesbische Charaktere in Film und Fernsehen, dann wäre das eigene Begehren kein berufliches Hindernis mehr. Das wäre ein Schritt in eine neue Normalität, in der Menschen sich nicht mehr für ihre sexuelle Orientierung rechtfertigen müssen – und würde zugleich dazu beitragen, die Debatten um sexuelle Identitäten zu entpolitisieren. Erstritten werden soll heute also nicht nur die Anerkennung von Minderheitenrechten oder Toleranz für abweichendes Begehren – das wurde schon nach 1968 eingefordert und ist auf eine prekäre Weise etabliert. Jetzt geht es um den Weg in eine Gesellschaft, in der Heterosexualität nicht mehr die unhinterfragte Norm bildet, sondern bloß eine gleichberechtigte Orientierung unter anderen. Oder allgemeiner: Es geht nicht darum, dass die Mehrheit den Minderheiten gütig Rechte gewährt, sondern dass sie sie als gleichrangig ansieht.
Das zielt auch auf materielle Verbesserungen: auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, auf Einstellungspraktiken, bei denen allein die Qualifikation entscheidet – und nicht der Nachname –, und auf das alte bundesrepublikanische Versprechen eines Aufstiegs durch Arbeit. Identitätspolitik steht also nicht zwangsläufig im Gegensatz zu Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit. Denn selbst wenn sich in den jüngsten Debatten, wie bei den meisten sozialen Bewegungen, vor allem die gebildete Mittelschicht zu Wort meldet, so leiden auch niedrig entlohnte Beschäftigte im Dienstleistungssektor unter rassistischer oder sexistischer Diskriminierung. Dass viele in der Coronakrise systemrelevante und damit plötzlich gefährliche Jobs – in der Pflege, an der Supermarktkasse, in der Gastronomie – in erheblichem Maß von Frauen und Migranten verrichtet werden, ist jedenfalls kein Zufall.
Ein anderer Gegensatz ist gravierender: der zwischen den Generationen. Denn deren Einstellungen und Werte unterscheiden sich teilweise deutlich, wie eine aktuelle Umfrage aus der Deutschschweiz zeigt, deren Ergebnisse sich mit denen aus anderen westlichen Ländern decken. Dort bezeichnet sich inzwischen mehr als die Hälfte der Frauen unter 35 Jahren als Feministin, bei den älteren aber nur etwas mehr als ein Drittel. Immerhin 40 Prozent der jungen Frauen ist die konsequente Verwendung einer geschlechtsneutralen Sprache wichtig, ab 35 Jahren aufwärts fordert dies hingegen nur noch gut jede Fünfte.[11] Das spiegelt den kulturellen Wandel der vergangenen Jahrzehnte wider: Die Jüngeren sind mit den Errungenschaften der Jahre nach 1968 aufgewachsen und geben sich nicht mit Verhältnissen zufrieden, die für ihre Eltern und Großeltern aufgrund anderer Erfahrungen noch immer mindestens akzeptabel sind. Der heutige Generationenkonflikt resultiert damit nicht zuletzt aus unterschiedlichen Erwartungen.
Das gilt auf besondere Weise für die Kinder der Gastarbeiter: Ihre Eltern haben über viele Anfeindungen hinweggesehen, weil sie vor allem dankbar für die Chance waren, sich ein auskömmliches Leben zu sichern und ihren Kindern den Aufstieg zu ermöglichen. Diese wiederum haben ein stärkeres Selbstbewusstsein ausgeprägt, das höhere Bildung oft mit sich bringt, und akzeptieren daher nicht mehr so ohne weiteres eine untergeordnete Rolle.
Die Angst vor dem Statusverlust
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Grafikquellen :
Oben — March and Peaceful Protest in Elon (2020 Oct)
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Unten — March and Peaceful Protest in Elon (2020 Oct)