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Das Anthropozän oder :

Erstellt von DL-Redaktion am Sonntag 2. Mai 2021

Wie wir die Erde verkonsumieren

Paul Jozef Crutzen - Calcutta 1996-12-21 073.tif

von Michael Müller

Das Erbe des Jahrhundertwissenschaftlers Paul J. Crutzen

Die moderne Zivilisation hat die natürliche Mitwelt radikal verändert; die alte Erde, die in der bisherigen Menschheitsgeschichte unsere Heimat war, existiert nicht mehr.[1] Das war die wichtigste Erkenntnis des Jahrhundertwissenschaftlers Paul J. Crutzen, der am 28. Januar 2021 in Mainz gestorben ist. Deshalb schlugen er und der Gewässerforscher Eugene F. Stoermer zur Jahrtausendwende vor, unsere Erdepoche, die seit rund 12 000 Jahren die Entwicklung der Erde geprägt hat, statt Holozän Anthropozän zu nennen – die vom Menschen maßgeblich geprägte Entwicklung des Planten.[2]

Heute wissen wir, wie hellsichtig Crutzen damit war. Der niederländische Atmosphärenforscher, der 1995 für die Entschlüsselung des stratosphärischen Ozonabbaus im südpolaren Frühling mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet wurde, war ein Vordenker der Erdsystemforschung. Für den langjährigen Direktor des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz ist „die Menschheit auf Jahrtausende hinaus ein maßgeblicher ökologischer Faktor“. Crutzen beschrieb dieses neue Phänomen als Geologie der Menschheit – Geology of Mankind.[3] Anthropozän – das ist keine modische Begriffsänderung, sondern eine Mahnung von enormer Tragweite. Der Begriff besagt: Naturverhältnisse sind heute immer auch „Herrschafts“-verhältnisse.

Gewiss, dass unser Planet neu geformt wird, ist in der 5,4 Mrd. Jahre währenden Geschichte der Erde keine Seltenheit. Denn schon immer haben Lebewesen unseren Planeten geprägt. Vor 2,7 Mrd. Jahren begannen Bakterien, Sauerstoff zu produzieren, damit entstand die uns bekannte untere Atmosphäre. Immer wieder schwankte dabei der Kohlendioxid- und Sauerstoffgehalt. Organismen sorgten dafür, dass Kalk gebildet wird, sich ablagert und sogar Gebirge entstehen konnten. Aber der entscheidende Unterschied im Anthropozän ist: Nie zuvor wurde die Erde innerhalb so kurzer Zeit so vielschichtig verformt. Normalerweise finden Veränderungen in Jahrmillionen statt. Der Einfluss des Menschen wirkt wie eine gewaltige Maschine, nicht nur durch seinen Umfang, sondern auch durch seine Geschwindigkeit. Denn im Zuge der industriellen Revolution sind Kapitalismus und fossile Brennstoffe ein enges Bündnis eingegangen. Insgesamt ist die Menschheit in den letzten 200 Jahren zum stärksten Treiber geoökologischer Prozesse aufgestiegen. Allein im letzten Jahrhundert wurden rund 50 Prozent der Erdoberfläche vom Menschen (insgesamt sind es in der Geschichte unseres Planeten rund drei Viertel der Landflächen) umgepflügt, bebaut und versiegelt, die CO2-Emissionen sind heute 17mal höher als vor 100 Jahren. Der Wasserverbrauch hat sich in der Zeit nahezu verzehnfacht.

Hier zeigt sich: Die Natur ist – in ihrer Begrenztheit und Verletzlichkeit – der limitierende Faktor, der uns vor gewaltige Herausforderungen stellt. Mit der industriellen Revolution kam es zwar zu einer gewaltigen Entfaltung der Produktivkräfte und einer enormen Reichtumsproduktion, aber gleichzeitig stiegen die Menschen mit ihren technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten zur stärksten Kraft geoökologischer Veränderungen auf. Mit den wirtschaftlichen und technischen Möglichkeiten des globalen Kapitalismus übersteigen die Kräfte der Menschen die Kräfte der Natur, ohne jedoch die Fähigkeit zu haben, die ökologischen Systeme zu stabilisieren. Infolge dessen sind wir dabei, planetarische Grenzen zu überschreiten und die Grundlagen des menschlichen Lebens zu vernichten.[4]

Die wissenschaftliche Beweisführung, wonach die von Crutzen geforderte Umbenennung in Anthropozän gerechtfertigt ist, lieferte 2008 die Geological Society of London, die älteste geowissenschaftliche Vereinigung ihrer Art. Das Kardinalskollegium, die Internationale Stratigraphische Kommission (ICS), kam zu dem Ergebnis, dass der von den Menschen verursachte Anstieg der Treibhausgase, die Ausbreitung der industriellen Agrarwirtschaft, die Übersäuerung der Meere und die fortdauernde Vernichtung der Biodiversität zu bleibenden Veränderungen führen, die auf lange Zeit das Leben auf der Erde prägen werden. Nach intensiver Prüfung wurde der Begriff des Anthropozäns auf dem Weltkongress der Geologie 2016 in Kapstadt angenommen. Das bedeutet: Die weitere Entwicklung unseres Planeten basiert auf den vom Menschen geprägten Beständen der Natur. Die Alternative, die sich damit auftut, heißt: Unser Jahrhundert wird entweder ein Jahrhundert erbitterter Verteilungskämpfe und entfesselter Gewalt oder ein Jahrhundert der Nachhaltigkeit sein, das wirtschaftlich-technische Innovationen mit ökologischer Verträglichkeit und sozialer Gerechtigkeit verbindet.

Der Mensch formt die Natur

Crutzen erkannte den historischen Irrtum, wonach die Menschheit sich ihrer gesicherten Zukunft gewiss sein könne. Vor 20 Jahren begründet er seinen Begriffsvorschlag des Anthropozäns mit dem vom Menschen verursachten Klimawandel. Aber nicht nur bei der Erderwärmung, auch in anderen Bereichen steuern wir scheinbar unaufhaltsam auf Tipping Points zu, wie klimatische und ökologische Kipppunkte genannt werden.[5] Planetarische Grenzen, die essentiell sind für das Leben auf dem Planeten, werden überschritten.

Die natürlichen Puffer der Erde sind an vielen Stellen bereits aufgebraucht. Die Ozeane nehmen immer mehr Kohlenstoff auf und versauern. Böden können die Übersauerung nicht mehr kompensieren und degradieren. Das Artensterben hat sich seit Beginn der industriellen Revolution um den Faktor 100 erhöht. Ganze Ökosysteme kippen um.[6]

Paul Jozef Crutzen - Convention Centre - Science City - Calcutta 1996-12-21 124.tif

Für die Überlastung und Ausplünderung der natürlichen Lebensgrundlagen gibt es viele Belege: Fast Dreiviertel der Erdoberfläche sind bereits umgewandelt, bebaut, versiegelt, umgepflügt und verformt. Immer mehr und immer schneller werden die natürlichen Ressourcen vom Menschen ausgebeutet. Über die Hälfte des verfügbaren Süßwassers wird von Menschen vernutzt; ganze Ozeane werden entfischt. Die Stickstoffentnahme aus der Atmosphäre hat sich gegenüber der vorindustriellen Zeit um 347 Prozent erhöht.[7]

Nach den Untersuchungen der Internationalen Energieagentur (IEA) wurde der Höhepunkt der Ölförderung bereits im Jahr 2008 erreicht.[8] Dagegen hat man die absehbare Knappheit bei Metallen noch gar nicht im Blickfeld, obwohl mit der auf ihnen basierenden Elektromobilität völlig irreale Hoffnungen verbunden sind. Das heißt: Die Menschheit ist in ein Zeitalter eingetreten, für das „in den letzten Millionen Jahren keine Entsprechung zu finden ist“.[9] Mit dem Anthropozän ist die menschgemachte ökologische Selbstvernichtung denkbar geworden. Der Wissenschaftsjournalist Christian Schwägerl übersetzt Anthropozän denn auch einfach mit Menschenzeit: „Der Mensch erschafft neue Landschaften, greift in das Weltklima ein, leert die Meere und erzeugt neuartige Lebewesen. Aus der Umwelt wird die ‚Menschenwelt’ – doch sie ist geprägt von Kurzsichtigkeit und Raubbau.“[10]

Die einzige zukunftsfähige Antwort heißt Nachhaltigkeit

Quelle         :        Blätter       >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben         —    This photograph was taken during the inaugural function of the Convention Centre Complex of the Science City, Calcutta on Saturday, 21st December 1996. The centre was inaugurated by Dr. Prof. Paul Jozef Crutzen in presence of the Chief Minister of West Bengal Shri Jyoti Basu, Director General, NCSM Dr. Saroj Ghose and Dr. Ashesh Prasad Mitra, Chairman, NCSM. The photograph was taken by conventional negative film on Nikon camera, later that was scanned for digitization.

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