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RENTENANGST

Christian Ströbeles Erben

Erstellt von DL-Redaktion am Montag 18. September 2017

Hans-Christian Ströbeles  Erben oder Beutegemeinschaft

Der Wahlkampf in Kreuzberg ist der spannendste im ganzem Land: Nirgendwo sonst haben gleich drei linke Kandidaten gute Chancen auf das Direktmandat. Nach dem Rückzug von Hans-Christian Ströbele ist die Grüne Canan Bayram Favoritin auf den Sieg – aber sie hat zwei starke Konkurrenten

Aus Berlin Kersten Augustin und Gesa Steeger(Text)

Anfang Juli, zweieinhalb Monate vor der Bundestagswahl, beginnt im alternativsten Wahlkreis der Republik der Wahlkampf ohne die Grünen. Wo ist Canan Bayram? In ein paar Minuten soll in einem backsteinroten Familienzentrum das Politiker-Speeddating losgehen – Wähler treffen und interviewen ihre Kandidaten. Die Themen: Wohnungsnot und Kinder, die sich kein Fahrrad leisten können. Doch um kurz nach drei ist die grüne Kandidatin noch nicht da.

In dem Café des Familienzentrums hat sich eine Handvoll Frauen um Tische verteilt, die man gut abwischen kann. Fast alle haben ihre Kinder an der Hand. Sie wohnen im Kiez, kommen aus der Türkei, dem Libanon, engagieren sich als Stadtteilmütter in der benachbarten Schule. Nicht alle dürfen ­wählen. Fragen haben sie trotzdem.

Ihnen gegenüber sitzt Cansel Kiziltepe, die Kandidatin der SPD. Klein und im roten Blazer. Sie kennt viele der Frauen persönlich. Hier ist sie nicht Frau Kiziltepe, sondern Cansel. Cansel aus Kreuzberg. Die benachbarte Schule: Dort hat sie Abitur gemacht. Die Stadtteilmütter: ein Projekt, das sie seit Langem begleitet. Sie schüttelt Hände, verteilt Küsschen, fragt nach der Familie. Pascal Meiser, Kandidat der Linken, kommt etwas später. Die Leiterin des Familienzen­trums verhaspelt sich, als sie ihn vorstellt. Aus Meiser wird Meier. Aber Kiziltepe, das sitzt. Canan Bayram kommt nicht mehr.

Später wird sich herausstellen: Sie saß im Innenausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus zum Fall Anis Amri, dem Terroristen vom Breitscheidplatz. Bayram wird in den kommenden Wochen öfter Wahlkampfveranstaltungen absagen, weil sie Termine im Abgeordnetenhaus hat. Bayram, die pflichtbewusste Anwältin, steigt später in den Wahlkampf ein als ihre Kontrahenten. Als Kiziltepe längst ein Hashtag etabliert hat, #Kiezregiert, ist die Kampagne für Bayram noch nicht richtig losgegangen. Im Juli erzählen Parteifreunde von den Grünen, dass ihre Kandidatin an Wahlständen im bürgerlichen Teil von Kreuzberg noch weitgehend unbekannt sei, und geben zu: In den Medien ist sie auch nicht wirklich präsent.

Canan Bayram.jpg

Dabei hat Bayram viel zu verspielen. Das erste und einzige Direktmandat der Grünen und das Erbe des bekanntesten Direktkandidaten Deutschlands, Hans-Christian Ströbele. Im Dezember letzten Jahres hatte der 78-Jährige erklärt, nach 19 Jahren im Bundestag nicht wieder anzutreten. Viermal hintereinander hatte er das Mandat gewonnen. Die Fußstapfen, oder besser: die Fahrradspur, die er hinterlässt, ist tief. Das macht den Kampf um das Direktmandat für den Wahlkreis 83, Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlau­er Berg Ost, in diesem trägen Wahlsommer zu einem der spannendsten im ganzem Land. Nirgendwo sonst kämpfen gleich drei linke Kandidaten mit guten Chancen um ein Mandat. Eine Prognose sieht die SPD im Bezirk bei etwa 20 Prozent, die Linke bei 24 und die Grünen bei 25 Prozent.

Die erste Runde Speeddating beginnt, die Kandidaten verteilen sich an die Tische. Pascal Meiser, Pferdeschwanz und Kapuzenpullover, verteilt seine Broschüren. Rot. Mit der Überschrift: Bewerbung. Vier Frauen wollen von ihm wissen, wie die Linke zum Thema Wohnungsnot steht. Eine erzählt, dass sie keine Wohnung für ihre Familie findet. „Ich wohne auch in Kreuzberg, kenne das Problem also“, sagt Meiser und schimpft auf die Mietpreisbremse, die nicht funktioniert. Zustimmendes Nicken bei seinen Zuhörerinnen. Er rät: „Gehen Sie wählen, wenn sich was verändern soll.“

Von Meiser liegt der Wikipedia kein Foto vor

Gong, die nächste Runde. Kiziltepe rückt auf Meisers Platz und sitzt nun vor den vier Frauen. „Mein Name ist Programm“, beginnt sie. Kiziltepe heißt auf Türkisch roter Berg. Sie erzählt von ihren zwei Kindern, von ihrer Zeit an der benachbarten Schule und dass Bildung ihre Chance zum Aufstieg war. „Mein Vater hat uns jeden Tag zu dieser Schule gebracht“, eine der ersten Ganztagsschulen in Berlin. „Das war unsere Rettung.“

Cansel Kiziltepe am Halleschen Tor, Sept 2017.jpg

Kiziltepes Eltern sind Gastarbeiter der ersten Generation. Sie sei immer mit dem Gefühl aufgewachsen: Morgen geht es zurück in die Türkei. Ihre Eltern wohnen noch immer in Kreuzberg. Viele ihrer Freunde von damals haben das Abitur nicht geschafft, sind stecken geblieben auf dem Weg nach oben. Kiziltepe nicht. Das macht sie für die Frauen hier interessant. Sie ist Vorbild, Kiziltepe weiß das. Ihr Wahlkampf basiert auf ihrer Geschichte. Das Kind aus dem Kiez, das es nach ganz oben geschafft hat. Eine gute Geschichte.

Wenn Berlin die Spielwiese für die privilegierte Jugend der Welt geworden ist, dann ist der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg das Miniatur-Wunderland der deutschen Linken. Hier leben Altlinke und Neulinke und Exlinke, Linke aus dem Osten und dem Westen. Es gibt türkische und kurdische Linke, genau so wie Grüne, Kommunisten, Antifas. SPD, Grüne und Linke bekamen 2013 hier über 70 Prozent der Stimmen. Auf kleinstem Raum lässt sich beobachten, wie sich die gesellschaftliche Linke in Deutschland verändert – und was das für die drei großen Parteien mit irgendwie linkem Anspruch bedeutet:

Cansel Kiziltepe kämpft darum, jene Wähler zurückzugewinnen, die ihre Partei erst an die Grünen und dann an die Linken verloren hat. Wenn sie scheitert, bleibt die SPD auf ewig die 20-Prozent-Partei. Sie sagt: „Kreuzberg soll wieder rot werden.“

Pascal Meiser kämpft in dem Bezirk um die Stimmen der vielen Berliner, die nicht Meiser oder Meier heißen. Wenn er scheitert, bleibt seine Partei eine für den Osten. Er sagt: „Das Mandat wäre ein riesiger Erfolg.“

Canan Bayram muss beweisen, dass es auch linke Grüne noch schaffen, Wahlen zu gewinnen. Wenn sie scheitert, bleibt ihrer Partei nur das Modell Kretschmann. Sie sagt: „Klar, ich muss die retten.“

Sechs Wochen nach dem Speeddating sitzt die selbsternannte Retterin der Grünen in einem kleinen Versammlungsraum in der Otto-Suhr-Siedlung am Rande Kreuzbergs und spricht über Wärmedämmung. Hier ist Kreuzberg kein Szenebezirk, sondern immer noch Grenzstadt. Das Viertel ist der ärmste Kiez der Stadt, 70 Prozent der Kinder leben von Hartz IV. Hier zeigt sich das drängende Thema des Wahlkampfs: die hohen Mieten. Einst gab es hier sozialen Wohnungsbau am Mauerstreifen, dann wurden die Wohnungen unter Rot-Rot privatisiert. Sie liegen im Herzen Berlins, in Laufweite zur Friedrichstraße. Investoren würden sagen: Toplage.

Quelle   :    TAZ >>>>> weiterlesen

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Grafikquellen   :

Hans-Christian Ströbele (2010)

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Canan Bayram (Mitgl. d. Berliner Abgeordnetenhaus, Bündnis90(Die Grünen) Foto: Stephan Röhl

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Cansel Kiziltepe (SPD) am Halleschen Tor in Berlin-Kreuzberg, September 2017.

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