Chile, Kolumbien, Brasilien
Erstellt von Redaktion am Dienstag 15. März 2022
Lateinamerika vor einer neuen Linkswende?
von Ulrich Brand, Kristina Dietz
Welchen Herausforderungen aber sieht sich linke Politik unter Bedingungen der (Post-)Pandemie gegenüber, die geprägt sind von ökonomischer Krise, wachsender Ungleichheiten und Armut? Wie bekämpft sie die zunehmende Reichtumskonzentration, die Ausbeutung und Zerstörung von Natur, aber auch die strukturellen Abhängigkeiten vom Weltmarkt? Fest steht: Welche Antworten die Regierungen und die sie tragenden Kräfte auch immer geben, wird weit über die Länder der aktuellen Linkswende hinaus von Bedeutung sein.
Chile: Der Beginn einer neuen Epoche
Mit der Wahl Boric‘ in Chile wurde das seit dem Ende der Pinochet-Diktatur ab 1990 herrschende System von an der Macht alternierender Mitte-links- bzw. Mitte-rechts-Regierungen endgültig abgewählt. Kein Kandidat der beiden Formationen kam bei der jüngsten Präsidentschaftswahl in die zweite Runde. Den überraschend deutlichen Wahlsieg über seinen rechtsextremen Kontrahenten José Antonio Kast – Boric erzielte knapp 56 Prozent der abgegebenen Stimmen, Kast 44 Prozent – verdankt der 36jährige ehemalige Studierendenaktivist und Abgeordnete vor allem den Jungen, Frauen und einer ungewohnt starken Wahlbeteiligung in den ärmeren Vierteln und Regionen. Dabei spielte zum einen die starke Mobilisierung der feministischen Bewegungen eine große Rolle. Zum anderen, so analysiert es die chilenische Soziologin Pierina Ferretti, verdankt Boric sein Ergebnis aber auch den traditionell nicht organisierten Teilen der Bevölkerung, die sich im Zuge der Aufstände Ende 2019 politisierten und oft gar nicht explizit als links verstehen. Zudem verstanden viele ihre Wahl auch als eine gegen den Pinochet- und Bolsonaro-Bewunderer Kast.[1] Daneben suchte sich Boric aber auch die Unterstützung liberaler Teile des Establishments, etwa von Ex-Präsidentin Michelle Bachelet.
Sein Programm ist in vielen Teilen klassisch sozialdemokratisch: Die durchprivatisierten Systeme für Bildung, Gesundheit und Renten sollen reformiert und stärker öffentlich organisiert werden. Es finden sich aber auch viele Forderungen der feministischen und ökologischen Bewegungen in dem Programm wieder. Weil zu dessen Umsetzung mächtige privatwirtschaftliche Interessen angegangen werden müssen, ist es ist im neoliberalisierten Chile geradezu radikal.
In dem vermeintlichen „Wirtschaftswunderland“ ist die Macht der Eliten tagtäglich zu spüren. Ein Prozent der chilenischen Bevölkerung verfügt über ein Drittel des Vermögens, während viele Familien von 400 bis 500 Dollar im Monat leben müssen, was in etwa der monatlichen Studiengebühr an vielen Hochschulen entspricht. Gleichzeitig zeigt das relativ gute Abschneiden von Boric‘ Gegenkandidat Kast jedoch auch, wie gespalten die Gesellschaft ist. Fast 60 Prozent der über 70jährigen – und damit jene, die die Militärdiktatur zwischen 1973 und 1990 miterlebt haben – votierten für Kast.
Das relativ starke Abschneiden der Rechten wird Boric das Regieren nicht gerade erleichtern: Zwar gibt es eine knappe linke Mehrheit im Abgeordnetenhaus, im Senat aber dominieren rechte Parteien.
Ungeachtet der zu erwartenden Widerstände lässt Boric‘ Kabinett, dem erstmalig in der Geschichte Chiles mehr Frauen als Männer angehören, jedoch auf ein dezidiert linkes Projekt schließen, das durchaus Konflikte mit mächtigen Interessengruppen einzugehen bereit ist. So wird etwa die prominente Naturwissenschaftlerin und Mitglied des Weltklimarates IPCC, Maisa Rojas, Umweltministerin und die Enkelin des ehemaligen sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, den die Militärs 1973 aus dem Amt geputscht hatten, Maya Fernández Allende, Verteidigungsministerin.
Progressive Impulse kommen in Chile zudem von der Verfassunggebenden Versammlung, die sich im Juli vergangenen Jahres konstituierte und innerhalb eines Jahres eine neue Verfassung ausarbeiten soll.[2] Alle 155 Mitglieder des Konvents wurden im Mai 2021 direkt gewählt: Die politische Rechte verfügt in ihr, anders als sie es sich erhofft hatte, über keine Sperrminorität. Stattdessen wurden viele unabhängige Kandidat*innen in die Versammlung gewählt. Präsidentin des Konvents ist mit Elisa Loncón eine Angehörige der Mapuche-Indigenen – auch das vor wenigen Jahren schlicht undenkbar in Chile. Die sich im Konvent abzeichnenden Vorschläge für eine neue Verfassung muten geradezu revolutionär an: Demnach könnten Bildung, Gesundheit und Renten in Chile bald zu allgemeinen Rechten werden, Chile sich als „plurinationaler Staat“ konstituieren, die Rechte der Natur in der Verfassung festgeschrieben und ein gemischtes Wirtschaftssystem errichtet werden.
Für den Erfolg der Versammlung ist der Wahlsieg Boric‘ von enormer Bedeutung: Anders als Kast wird er sich nicht gegen deren Ergebnisse stellen und die notwendige Zurückhaltung gegenüber der Legislative akzeptieren.
Kolumbien: Kommt ein historischer Machtwechsel?
Auch in Kolumbien steht möglicherweise ein historischer Machtwechsel bevor: Am 13. März wird hier das Parlament (Abgeordnetenhaus und Senat) neu gewählt, am 29. Mai findet der erste Wahlgang zu den Präsidentschaftswahlen statt. Zwar werden die Präsidentschaftskandidat*innen der unterschiedlichen Wahlbündnisse offiziell erst am 13. März nominiert. Aber in den landesweiten Umfragen führt schon lange der linke Kandidat Gustavo Petro mit seinem Bündnis Pacto Histórico. Das Bündnis setzt sich aus linken, sozialdemokratischen, indigenen und bewegungsnahen Parteien zusammen. Petro repräsentiert in diesem als Vorsitzender der Partei Colombia Humana eine linke Sozialdemokratie. Sollte er tatsächlich gewinnen, wäre er der erste linke Präsident in der Geschichte Kolumbiens – das wäre in der Tat historisch. Bei einem Sieg könnte zudem die Umweltaktivist*in und Stimme der emanzipatorischen Linken in dem Bündnis, Francia Márquez, die erste schwarze Vizepräsidentin Kolumbiens werden.
Petro verfolgt eine linke sozialdemokratische Reformagenda, die vor allem auf Umverteilung und soziale Sicherung, Frieden und sozialökologische Transformation setzt. Bereits das aber wäre für ein Land, das politisch und ökonomisch seit Jahrzehnten der neoliberalen Doktrin folgt und dessen Gesellschaft mit die höchsten Ungleichheitswerte in der Region aufweist, geradezu eine Revolution. Konkrete Vorhaben sind eine Steuerreform, um die Vermögenden und Großgrundbesitzer stärker zu belasten. Die unter der aktuellen Regierung Duque im Frühjahr 2021 angekündigte Steuerreform, die die unteren Einkommensschichten stärker belastet hätte, war einer der Auslöser der monatelangen sozialen Proteste im vergangenen Jahr.
Zugleich plant Petro, die sozialen Ausgaben zu erhöhen und den Verteidigungsetat zu kürzen sowie eine stärkere öffentliche Kontrolle der privatisierten Sicherungssysteme, allen voran des Gesundheits- und Rentensystems. Ein zentrales und ambitioniertes Ziel ist der Umbau der Wirtschaft, um Kolumbiens Abhängigkeit von der Drogenökonomie, Rohstoffrenten und dem Finanzsektor zu brechen. Klima- und Biodiversitätsschutz sollen stärker gefördert und der Friedensprozess wiederbelebt werden. Derzeit ist der Wahlausgang trotz der bislang eindeutigen Umfragen weiter offen. Neben dem Bündnis Historischer Pakt kämpfen zwei weitere Parteienbündnisse und eine Reihe unabhängiger Kandidat*innen um den Einzug in die Casa de Nariño, den kolumbianischen Präsidentenpalast. Die Coalición Centro Esperanza (Bündnis Zentrum Hoffnung) vereint liberale Kräfte der politischen Mitte. Sie tritt als Alternative zu „links“ und „rechts“ an und verspricht einen moderaten politischen Wandel. Interne Querelen und Umfragewerte von zuletzt nur knapp über 12 Prozent lassen jedoch vermuten, dass das Bündnis kaum eine Chance haben wird, die Stichwahl zu erreichen.
Im dritten Wahlbündnis, Equipo por Colombia (Team für Kolumbien), vereinigt sich Kolumbiens traditionelle konservative Rechte. Zwar sprachen sich in den jüngsten Umfragen nur knapp 15 Prozent für dieses Bündnis aus. Das sagt aber noch nicht viel, verfügt die traditionelle Rechte doch über starke klientelistische Beziehungen und eine breite Machtbasis in den ländlichen Regionen, den evangelikalen Kirchengemeinden und der Oberschicht. Diese Wählergruppen würden Petro in einer Stichwahl mehrheitlich ihre Stimme verweigern. Offen ist zudem, wen die extreme Rechte um deren Symbolfigur, den Expräsidenten Álvaro Uribe, und dessen Partei Centro Democrático (CD) unterstützen wird. Möglich wäre, dass es zu einem Bündnis mit Rudolfo Hernández kommt. Der 76jährige ist ehemaliger Bürgermeister der Stadt Bucaramanga, Bauunternehmer und Millionär. Er präsentiert sich als „Außenseiter“, als Technokrat mit weißer Weste, der Korruption effektiv bekämpft und nicht dem politischen Establishment angehört. Einige Beobachter*innen bezeichnen ihn als „Trump Kolumbiens“. Hernández‘ Populismus kommt gerade bei den unentschlossenen Wähler*innen an: In den Umfragen liegt er derzeit, wenn auch mit deutlichem Abstand, bereits an zweiter Stelle hinter dem Pacto Histórico.
Vor allem eine Stichwahl könnte dem Linksbündnis zum Verhängnis werden. Denn Petro ist der Rechten ein Dorn im Auge. Doch auch in der Linken ist er aufgrund seiner polarisierenden und teils populistischen Rhetorik nicht unumstritten. Petro war Mitglied der Guerilla-Gruppe M-19, saß lange für die linke Partei Polo Demóctratico im Unterhaus des Kongresses, später im Senat. Von 2012 bis 2015 war er Bürgermeister von Bogotá. Er will die Macht der Drogenkartelle brechen – eine Herkules-Aufgabe. Käme es zu einer Stichwahl, würde die politische Rechte alle Kräfte mobilisieren, um ihn zu verhindern – egal, wer gegen ihn antritt.
Auch deshalb setzt Petro auf einen Sieg im ersten Wahlgang. Den könnte er jedoch nur mit absoluter Mehrheit erlangen. Damit es dazu kommt, sucht Petro auch Verbündete im Mitte-rechts-Lager, etwa Luis Pérez, den ehemaligen Gouverneur der Provinz Antioquia, eine Hochburg der Uribisten und Ursprungsregion des kolumbianischen Paramilitarismus. Pérez könnte Petro hier wichtige Stimmen einbringen. Die Frage ist: zu welchem Preis? Dem Pacto nahestehende Beobachter*innen betonen, dass solche Allianzen nicht ohne Zugeständnisse erfolgen und mithin eine Gefahr für das linke Projekt bedeuten. Vielmehr gelte es stattdessen, Stimmen im großen Lager der Unentschlossenen und Nichtwähler*innen, der Jungen und politisch bisher Ausgeschlossenen zu mobilisieren, ähnlich wie es Boric in Chile gelungen ist.
Brasilien: »Demokratie vs. Faschismus«
Und schließlich stehen auch in Brasilien, wo im Oktober ein neuer Präsident gewählt wird, die Zeichen auf Linkswende. Dort werden sich, so viel steht jetzt schon fest, der frühere sozialdemokratische Präsident Luiz Inázio Lula da Silva, der das Land von 2003 bis 2011 regierte, und der rechtsextreme Amtsinhaber Jair Messias Bolsonaro ein Duell liefern, in der brasilianischen Öffentlichkeit kurz mit „Lula vs. Bolsonaro“ oder „Demokratie vs. Faschismus“ betitelt. Zur Erinnerung: Bei der Präsidentschaftswahl im Oktober 2018 hatte die Arbeiterpartei PT ebenfalls auf Lula gesetzt; dessen Kandidatur jedoch wurde nach monatelangem Ringen neun Wochen vor der ersten Abstimmung vom Obersten Wahlgericht wegen Korruptionsvorwürfen (die sich Mitte 2019 als weitgehend haltlos herausstellten) für ungültig erklärt und Lula später unter Hausarrest gestellt. Der damals kurzfristig angetretene Alternativ-Kandidat der PT, Fernando Haddad, verlor im zweiten Wahlgang mit 45 zu 55 Prozent der Stimmen gegen Bolsonaro.
Quelle : Blätter- online >>>>> weiterlesen
*********************************************************
Grafikquellen :
Oben — Amtseinführung von Gabriel Boric als Präsident von Chile, 11. März 2022
**************************
Unten — Die Präsidenten Brasiliens, Luís Inácio Lula da Silva, und Russlands, Wladimir Putin, während eines Treffens in Moskau.