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Archiv für die 'Wirtschaftpolitik' Kategorie

Umweg als Irrweg

Erstellt von Redaktion am 22. Oktober 2022

Von den Kontrasten zwischen „Reichtum  und Armut“

Presidential Palace of Turkey

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von    :    Petra Ziegler

Der Kontrast könnte nicht größer sein: Anstatt unser Potential zu verwirklichen, schlagen sich die Menschen um die mickrigen Reste, die bei der Produktion abstrakten Reichtums für sie abfallen.

Abstrakter Reichtum? Was meint das? Die bunte Warenwelt um uns herum, die Gewinne der Konzerne, die Milliarden in den Händen einiger weniger? – Das mag alles übel verteilt sein, aber es ist doch sehr konkret. Erst recht, die Schattenseite. Unzählige leiden am Mangel, kaum reicht es zum Überleben, der Druck auf die Mehrheit steigt spürbar. Alles schmerzhaft wirklich. Nicht von stofflichen Dingen ist hier die Rede, ob nun von Weizen, Mobiltelefonen, High-Tech-Waffensystemen, Werkzeug, von irgendeiner Nascherei, oder dem Reichtum an Fähigkeiten und Talenten. Abstrakter Reichtum bleibt gleichgültig gegenüber irgendeinem konkreten Inhalt. Abstrakter Reichtum – das meint Reichtum in seiner spezifisch kapitalistischen Form. Oberflächlich betrachtet: Geld. Im Grunde: Wert.

Ganz nebenbei betreiben wir tagtäglich sein Geschäft. Der Wert, wiewohl nur durch einen gesellschaftlichen Gewohnheitsakt hervorgebracht, scheint den Waren innezuwohnen als wäre er ihre Eigenschaft. Eine gleichsam übernatürliche Eigenschaft. Ein Trugbild und doch nichts weniger als eine einfache Täuschung. Der im fortwährenden Tausch unserer Arbeitsprodukte befreite, praktisch verselbständigte Wert steht uns in Form von Geld und Kapital als eine höchst reale sachliche Macht gegenüber. Seine Logik wird durch unser Handeln hindurch wirksam. Wir reproduzieren sie in den Beiläufigkeiten des Alltags, unabhängig vom Bewusstsein und den Absichten der Einzelnen. Frei gesetzt in der Konkurrenz zwingt uns der Wert seine Gesetze auf, macht was seiner „Natur“ entspricht – ökonomisches Wachstum und betriebswirtschaftliche Effizienz etwa – zur äußeren Notwendigkeit für die Menschen. Was uns zur kaum hinterfragten Selbstverständlichkeit geworden ist, unsere Existenz als Kauf- und Verkaufssubjekt, als ebenso besitzergreifendes wie verlustängstliches ewiges Mangelwesen schuldet sich seiner Regentschaft.

Ausgedacht hat sich das so niemand. Mit der Gleichsetzung und im Austausch unserer individuellen Arbeitsprodukte schaffen wir spontan, ohne Absicht oder Plan – sozusagen hinterrücks – die grundlegenden Struktur- und Bewegungsmuster unserer Gesellschaft. Es sind unsere eigenen wechselseitigen (Produktions-)Beziehungen, die uns in verselbständigter Gestalt konfrontieren. In unserem täglichen Tun, als Eigentümer von Produktionsmitteln und/oder Arbeitskraft, handeln wir uns eine im Wortsinn eigenwillige Form „sachlicher Abhängigkeit“ jenseits persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse und handgreiflich ausgeübter Herrschaft ein. Mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, die zu keinem Zeitpunkt zur Verhandlung standen oder bewusst in Kraft gesetzt wurden. Als blindes Resultat unserer Handlungen bleiben ihre Regeln wirksam, solange wir an dieser Praxis festhalten. Unsere Realität ist die Konsequenz einer blinden Dynamik, die in ihrer Rasanz noch laufend zunimmt.

Unter der Oberfläche fallen mit steigender Produktivität der Arbeit stofflicher und wertförmiger Reichtum zunehmend auseinander. Verringert sich der gesellschaftlich notwendige Arbeitsaufwand, bleibt das nicht ohne Folgen für die pro stofflicher Einheit „produzierte“ Wertmasse. Der Wert der Waren steht also in umgekehrtem Verhältnis zur Arbeitsproduktivität. Je weniger Arbeitszeit auf die Fertigung einer einzelnen Ware aufgewendet wird, desto weniger Wert „steckt“ im einzelnen Produkt. Schon um die potentielle Umverteilungsmasse nicht schrumpfen zu lassen, müssen Output und (Ressourcen-)Verbrauch permanent erhöht werden. Was folgt, sind nicht kreativer Müßiggang, weitgehend befreit von der Sorge um die materielle Existenz, sondern tendenziell immer noch mehr Maloche, Raubbau am Planeten und üble Emissionen.

Ohne Umweg

Die Entwicklung neuer Mobilitätskonzepte, lokaler Gemüseanbau, die Weitergabe von Erfahrungswissen, Stadtparkpflege, aufmerksame Zuwendung, die Erforschung von Wirkstoffen zur Malariabekämpfung, Butterbrotstreichen, die Überwachung von Produktionsabläufen, Malen und Anstreichen, Komponieren, Erkenntnissuche in Sachen Energieeffizienz, Erkenntnissuche überhaupt, die Betreuung Kranker und Hilfebedürftiger und unendlich vieles mehr sind nicht gegeneinander verrechenbar. Sie bilden auch keine „ökonomische Sphäre“ irgendwo außerhalb des sonstigen Lebens. Sie mögen im Einzelnen unverzichtbar sein oder irgendwann überholt, gesellschaftlich umstritten oder allgemein anerkannt. Eine abstrakte Kategorie, die uns ihre Logik aufzwingt, bilden sie nicht. Eine auf stofflicher Ebene hochgradig vernetzte Produktion wie die unsrige ist in ihren Teilen, wie auch im Ganzen, immer wieder zu hinterfragen und neu auszurichten hinsichtlich Ressourcenverbrauchs, Umweltbelastung, der Anforderungen aller Involvierten. Betriebswirtschaftliche Effizienz ist dabei jedoch kein Maßstab.

Medien in der Nähe des Wohnortes von Joe Biden vor der Ankündigung, dass er der mutmaßliche demokratische Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten ist.

Die Fragen, die sich stellen, liegen auf der Hand. Was brauchen wir? Wie kommen wir dazu? Und wie erfüllen wir unsere Bedürfnisse und Begehrlichkeiten – ohne die Umwelt und unsere Mitlebewesen in irreparablem Ausmaß zu schädigen, ohne nachkommenden Generationen den Planeten ausgeplündert, kontaminiert und vermüllt zu übergeben, ohne uns einseitig zu Lasten Dritter auszuleben und ohne unser jeweiliges Gegenüber willkürlich zu Handlungen oder Unterlassungen zu nötigen?

Der Umweg über Geld und Markt schneidet uns von unseren Möglichkeiten ab und zwingt uns in einen Rationalismus, der einzig und allein der Vermehrung des Geldes um seiner selbst willen dient. Unser Leben rationell zu regeln heißt dagegen, die eigenen Lebensbedingungen bewusst und gemäß freier Übereinkunft zu gestalten, anstatt dabei von einer blinden Macht beherrscht zu werden. Bereits heute verfügen wir über eine Vielzahl von Beispielen, wie Informationsaustausch und Koordinierung auch innerhalb sehr großer Netzwerke gelingen (etwa aus Open Source oder Peer-Commons-Projekten), die Herausforderung liegt eher darin, das Gewohnte zu verlernen. Oder auch, künftigen Generationen verständlich zu machen, warum einstmals, unabhängig von allem, was gewünscht, möglich und machbar war, erst einmal Geld aufgestellt werden musste, bevor Bedürfnisse befriedigt werden konnten. Der unablässige Tausch von Äquivalenten dürfte dann nur noch als barbarische Vorstufe des Teilens innerhalb einer vorgeschichtlichen Sozietät bestaunt werden.

Die Koordination unsere sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Belange (Reproduktion, Verteilung, Ressourcenverbrauch etc.) muss bewusst, das meint direkt und nicht über den Umweg einer mit Eigenlogik behafteten abstrakten Form erfolgen. Das krampfhafte Festhalten an der Verwerterei führt uns nur weiter in den Abgrund. Der Verkauf der eigenen Arbeitskraft muss einem Beitragen und Teilen weichen. Wert und Geld müssen verschwinden. Ersatzlos!

Eine Assoziation freier Menschen muss ohne Formprinzip und immanente Logik auskommen, will sie ihr Handeln selbstbestimmt ausrichten. Menschliches Miteinander kann keinem Masterplan folgen, es kann nur der jeweiligen Situation entsprechend gestaltet und immer wieder neu erstritten und errrungen werden. In ernsthafter Auseinandersetzung, in spielerischem Umgang, nach zu vereinbarenden Regeln oder den bloßen Zufälligkeiten folgend. Wir verfügen über ausreichend geistiges, sinnliches, kreatives Vermögen. Vergeuden wir es nicht länger um aus Geld mehr Geld zu machen. Menschen mögen ebenso hemmungslos und unersättlich sein wie hingebungsvoll und fürsorglich. Kaum etwas ist da vorgegeben, die Schattierungen sind nahezu unendlich. Die Farbpalette des guten Lebens wird jedenfalls andere Töne hervorbringen als jene aus Zeiten, in denen Geld Leben frisst.

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Noch ein Wirtschaftskrieg?

Erstellt von Redaktion am 19. Oktober 2022

Deutschland in der Digitalisierungs-Offensive

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Quelle       :        Scharf  —  Links

Von    :     Johannes Schillo

Einer Sache kann sich heutzutage – glaubt man den offiziellen Ansagen – kein Mensch mehr entziehen: der Digitalisierung. Eine neue Streitschrift stellt diesen Megatrend, der „uns alle“ betreffen soll in Frage. Dazu ein Gespräch mit dem Buchautor Peter Schadt.

Schadt, Sozialwissenschaftler und Gewerkschafter, hat vor zwei Jahren eine große Studie zur „Digitalisierung der deutschen Autoindustrie“ vorgelegt (siehe Scharf links, 19.12.20 und 9.3.21). Bei Unternehmerverbänden oder politischen Propagandisten einer schwarzrotgoldenen „Industrie 4.0“ dürfte sie nicht für Begeisterung gesorgt haben. War sie doch im Grunde eine einzige Warnung an die Adresse der Arbeitnehmer, sich nicht für dieses Programm – für eine neue Kampfansage, die vom Standort D in alle Welt ausgeht – zu erwärmen. Jetzt hat Schadt in einer kompakten Streitschrift (https://www.papyrossa.de/neuerscheinung-92) seine Kritik zugespitzt und auf das ganze digitale Innovationswesen gerichtet. Hier ein Gespräch mit dem Autor zur Frage, was er als kritisches Basiswissen in dieser Sache anzubieten hat.

Ein Sachzwang, dem keiner auskommt?

Digitalisierung kennt doch jeder. Sie kommt, ist zu großen Teilen schon da – jetzt muss sie nur noch „gestaltet werden“, wie uns Wirtschaftsführer oder Politiker dauernd versichern. Dass es hochinteressante Perspektiven gibt, dass man aber auch aufpassen muss, ist jedem (kritischen) Zeitgenossen klar. Es soll ja sogar ein digitaler „Überwachungskapitalismus“ drohen usw. Um die Frage des Richtig-Machens dreht sich demnach alles. Was ist denn schon am Ausgangspunkt dieser Bedenken oder Beschwörungen faul, so wie Dein Buch es behauptet?

Schadt: Es ist erstmal sachgerecht, dass Manager und Politik sich den Möglichkeiten der neuen Technik als eine Herausforderung stellen, die es zu meistern gilt. Die Gefahr besteht für diese dann zumeist darin, von anderen Konzernen oder Staaten abgehängt zu werden und in der Konkurrenz ins Hintertreffen zu geraten. Die Chance ist umgekehrt, andere abzuhängen. Entsprechend wurde Wahlwerbung mit Sprüchen wie „Digitalisierung first, Bedenken second“ etwa von FDP-Lindner gemacht.

Auf einem anderen Blatt steht, inwiefern man als Arbeitnehmer diese Stellung einfach übernehmen und an sich und andere die kritische Frage stellen sollte, wie „die Digitalisierung“ gut gestaltet wird. Das unterstellt nämlich ein gemeinsames Interesse aller Beteiligten am Vorankommen dieser Nation, ihrer Rechnungsweise und ihres Kapitals. Da setzt meine Kritik an, und ich will das hier mal an einem Punkt entwickeln. Dass gerade die ökonomische Rechnungsweise darin besteht, ein besonders günstiges Verhältnis von investierter zu erlöster Summe zu erzielen, ist wirklich kein Geheimnis. Was allerdings weniger Beachtung genießt, ist die Sorte Produktivität, die daher mit der Digitalisierung erreicht werden soll. Das heißt nämlich für die Beschäftigten, dass der oder die Betreffende –gleichbleibenden Lohn unterstellt, was in der Inflation aktuell schon ziemlich selten der Fall sein dürfte – jetzt in der Arbeitsstunde mehr herstellt, aber gleich viel verdient. Wenn also die Produktivität des Kapitals steigt – mit der gleichen Lohnsumme mehr Produkte geliefert wird –, sinkt die Produktivität, auf die es dem Arbeiter ankommt: Der muss jetzt mehr herstellen, um auf den gleichen Lohn zu kommen.

Der Ausgangspunkt – wie Du es nennst – meiner kleinen Streitschrift ist also der sehr generelle Einspruch gegen eine Debatte, bei der das „große Ganze“ beschworen wird, für das „wir“ alle uns einzusetzen haben. Wer nicht zufällig diesen Laden leitet oder eine smarte Fabrik besitzt, sollte sich das nicht einleuchten lassen, der ist nämlich selbst ein Kostenfaktor in dieser Kalkulation. Bei Marx heißt das wenig liebevoll, aber sehr treffend: Der ist variables Kapital.

Apropos Marx: An dessen Erklärung schließt Du Dich ja an. Vom ökonomischen Gehalt her gesehen ist Digitalisierung demnach nichts Neues, eben eine Methode, den Ausbeutungsgrad in der Konkurrenz zu erhöhen. Dargestellt wird die Sache aber als eine absolutes Novum. Ganz Deutschland soll in Gefahr sein, den Anschluss ans 21. Jahrhundert zu verlieren.

Schadt: Über die wenig überraschende Auskunft meiner kleinen Sammlung an ‚Argumenten gegen das Dafürsein‘ – dass die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus nach wie vor gelten –, sollte nicht übersehen werden, was alles an Neuem festzuhalten ist: So ist zum Beispiel das moderne Auto nicht mehr nur Produkt, sondern liefert Fahrdaten an die Autokonzerne, die unter anderem fürs autonome Fahren benötigt werden. Insofern wird das Produkt selbst zum Produktionsmittel für andere Produkte. Da steckt schon einiges an ökonomischer Sprengkraft drin, weshalb ich diese Dopplung auch wenig liebevoll als ‚Dual-Use‘ der digitalen Technik bezeichne.

Auf der Grundlage des ebenfalls nicht neuen Prinzips des geistigen Eigentums sind dann auch einige Fortschritte zu verzeichnen. Zwar werden auch Autos und Möhren nur zu Waren, wenn und insofern der Staat sie mit seiner Gewalt als Privateigentum garantiert; dennoch gibt es hier beachtenswerte Unterschiede zum ‚geistigen Eigentum‘, wie es in Daten vorliegt. Die können nämlich der Sache nach erstmal nahezu unendlich vermehrt werden, ohne dass nennenswerte Zusatzkosten entstehen. Damit aus einem Datensatz also ein brauchbares, weil zur Quelle von Reichtum gewordenes Stück Privatmacht wird, braucht es zwar ebenfalls den Staat. Der hat es aber mit ganz neuen Herausforderungen bei der Durchsetzung dieses Eigentums zu tun. Die prinzipielle Vervielfältigung und Verwendung der Daten soll dabei auch nicht einfach verboten werden, weil deren kapitalistischer Nutzen ja nicht im generellen Ausschluss, sondern gerade in ihrer Nutzung liegt. Wie allerdings sollen Daten einerseits genutzt werden, andererseits trotzdem geschützt sein? Da gibt es also eine ganze Menge zu klären, was den Prinzipien dieser schönen Gesellschaft allemal entspricht, was man aber auch nicht einfach dem Studium der drei dicken blauen Bände entnehmen kann.

Wir“ und die anderen

Nicht nur, aber auch dafür soll der Standort sich einer kompletten „Transformation“ unterziehen, damit er den Kampf um „Digitale Souveränität“ gewinnt und „Technologie-Führerschaft“ erlangt; er muss dominieren, darf nicht von anderen abhängig oder zur „verlängerten Werkbank“ degradiert werden, muss statt dessen Standards setzen, bevor andere es tun usw. usf. Ein ziemlich martialisches Programm?

Schadt: Ja. Und das beginnt lange vor den Drohnen und der digitalen Kriegsführung. Da zumindest gibt es öfter mal Zweifel, ob das zielgenaue Töten fremder Landsmannschaften so unmittelbar was mit dem eigenen Nutzen zu tun hat. Auch da sind jetzt Fortschritte zu beobachten, weil man allgemein zu dem Schluss gekommen ist, dass die Militärmaschinen für die BRD schon schwer in Ordnung gehen, weil man – ganz zufällig, wie in jedem Krieg der Weltgeschichte bisher, aber dieses Mal ganz wirklich – auf der Seite des Guten und Schönen und Menschlichen steht. Also, da wird eben zumindest mal in Erwägung gezogen, dass es martialisch und brutal zugeht.

Ziemlich selten dagegen wird sich mal angeschaut, was eigentlich „smarte Stromnetze“, digitale Ressourcenverwaltung leisten, sprich: was es eigentlich mit der Energiewende auf sich hat, die man ja bekanntlich auch selbst gestalten will – für die Zukunft Europas und seine Unabhängigkeit vom russischen Gas. Da will ich in meinem Bändchen zumindest mal den Hinweis gegeben haben, den ich hier jetzt nur an einem Beispiel illustrieren kann: dass eine Energiewende, bei der man sich allen ernstes Sorgen macht – wohlgemerkt Sorgen! –, die Chinesen könnten schneller sein als man selbst, wohl doch nicht in dem Zweck aufgeht, die Welt zu retten. Ich meine, das ist so offen und ehrlich, was die Politik da sagt, dass man schon treudoof entschlossen sein muss, das zu übersehen: Warum freut sich – naiv gesagt – eigentlich keiner, dass die Chinesen es vielleicht noch schneller schaffen als andere Nationen, mit und ohne digitale Technik, die CO2-Emissionen zu reduzieren? Warum ist das nicht einfach ein asiatischer Beitrag zur Weltrettung? Wenn allen arschklar ist, dass das eine „Gefahr“ ist, dann geht es halt auch um etwas anderes, für das die Reduzierung der Treibhausgase eben nur ein Mittel ist. Dann geht es hier um einen Kampf um einen Weltenergiemarkt, der zwar auf regenerativen Energien basieren soll, wo es aber der Sache nach vor allem darum geht, wer ihn stiftet, wer von im profitiert – und wer nur in ihn eingebaut wird.

Das Martialische – um noch gleich einen dritten Punkt zu nennen – kannst Du auch bei den Standards finden, also bei der Frage, welche Hard- und Software eigentlich die allgemeine Vernetzung von allem und allen mit allem bewerkstelligt. Da denken ja manche wirklich, das ginge auf in sowas Harmlosen wie der Reduktion von Müll, weil jetzt alle Smartphones und Kleingeräte mit dem gleichen Anschluss geladen werden können. Die einheitlichen Standards in ganz Europa sind vielmehr für das große – vor allem deutsche – Kapital eine willkommene Erweiterung der Absatzmärkte ihrer digitalen Produkte, während kleinere Unternehmen im Ausland ihre Nischen verlieren, die sie aufgrund von nationalen Eigenheiten bisher als ihren Markt bedienen konnten. Auch zwischen den Kapitalen geht es also allemal „martialisch“ zu, was aber gerne als Dienst am Kunden präsentiert wird.

Ja, einige werden ihre „Besitzstände“ verlieren. Davon wird ja auch offen gesprochen und dann rumgerechnet, wen es wo trifft. Da gibt es Verheißungen, dass wir am Standort D damit schon klar kommen, dass sich lauter neue Perspektiven eröffnen, dass man sich bloß munter weiterzubilden braucht, um seine „Beschäftigungsfähigkeit“ zu erhalten. Sind das tröstliche Mitteilungen?

Schadt: In den Streit, ob es hier bald mehr oder weniger Arbeitsplätze gibt, sollte man sich besser nicht einmischen, weil das recht entscheidend an der Frage hängt, wo sich welches Kapital durchsetzt und welcher Landstrich daher „Standort“ wird oder bleibt. Die Herstellung von Beschäftigungsfähigkeit durch Weiterbildung ist dabei recht verräterisch: Mehr als sich selbst instand zu halten, für den Standort nützlich zu sein, haben die Leute offensichtlich nicht in der Hand. Ob und zu welchen Bedingungen sie dann auch in Zukunft eine Beschäftigung haben, hängt wieder nur negativ von ihnen ab: Ohne entsprechende Kenntnisse muss man sich gar nicht erst bewerben. Ob man mit ihnen genommen wird – oder es überhaupt noch nennenswertes Kapital gibt, wo man seine Bewerbung einreichen kann –, das hat man wieder nicht in der Hand.

Und die Gegenwehr?

Kollege Schadt, mal von DGB-Mitglied zu DGB-Mitglied gefragt – Du bist ja in der Gewerkschaft tätig. Im Digitalisierungs-Diskurs wird also, altmodisch gesprochen, ganz dreist ein Klasseninteresse angemeldet. Dreist auch in der Hinsicht, dass die Damen und Herren aus den Chefetagen offen ihren Vorteil benennen, den sie aus der Sache ziehen wollen. Was dann heißt, dass eine andere Klasse es (in noch nicht genau feststehendem Umfang) auszubaden hat. Dazu ist ja jetzt einiges gesagt, auch zu den ominösen „Herausforderungen“ der Globalisierung, zu den Schönheiten der neuen Arbeitswelt. Aber mal ganz direkt gefragt: Eine solche Dreistigkeit gibt es von Gewerkschaftsseite ums Verrecken nicht?

Schadt: Ich will den Leserinnen ersparen, dass ihnen mal wieder ein Funktionär in kleinerer Position erzählt, wie die Gewerkschaft eigentlich zu handeln hätte, wenn er oder andere „kämpferische“ Gewerkschafter mehr zu melden hätten – oder was weiß ich. Es ist halt auch das Gegenteil einer Erklärung, den DGB ständig gegen die eigene Idee einer dreisten, also antikapitalistischen Kraft zu wiegen und dann für „zu leicht“ zu erklären.

Lieber sollte man sich an der Stelle nochmal an den Anfang unseres kurzen Gespräches erinnern: Einerseits stimmt es, dass die Produktivitätssteigerung des Kapitals, also aus Geld noch mehr Geld zu machen, ziemlich schädlich für das Arbeiterinteresse ist. Aus diesem Grund gibt es die Gewerkschaft und braucht es sie. Andererseits ist das nur die halbe Wahrheit: Wie der Name Lohnabhängige schon ausdrückt, sind die Leute ja abhängig gemacht von dem Lohn, den sie als Lebensmittel benutzen. Und jetzt kommt die Härte: Das gilt, obwohl er gar nicht daran bemessen wird, ob er denn zum Leben reicht. Ob und in welcher Höhe er bezahlt wird, hängt ja an der Kalkulation der Unternehmen und ob er sich für sie lohnt. Zu beobachten ist das nicht nur am Niedriglohnsektor, wo die Leute ohne Hilfe des Staates eh nicht zurechtkommen würden. Hier darf ruhig auch an die Besserverdiener gedacht werden. Ohne staatliche Sozialkassen, ohne Arbeitslosen- oder Krankenversicherung würden schon die normalsten „Schicksalsschläge“ eines Arbeitnehmers ausreichen, die totale Verarmung ganzer Familien hervorzurufen.

In der Digitalisierung heißt das: Die Lohnabhängigen sind vom Erfolg der deutschen Unternehmen abhängig; dieser besteht in der effektiven, daher kostengünstigen Anwendung der Arbeit. Die Beschäftigten sollen sich also für „ihr“ Unternehmen einsetzen, damit es die „Chancen“ der Digitalisierung nutzt. Und die bestehen darin, dass man – verdammt noch mal – selbst mehr arbeiten muss. Auf den kurzen Begriff gebracht: Der Zweck der Gewerkschaft, dass die Beschäftigten gut von ihrer Arbeit leben können, steht also in einem ständigen Widerspruch zu ihrem Grund, nämlich dass die Arbeit und ihre Bezahlung nur und nur dann stattfinden, damit und wenn es sich lohnt.

Ganz jenseits dieses Grundwiderspruchs gewerkschaftlicher Arbeit atmet die Kritik, der DGB solle kämpferischer sein, auch Untertanengeist. Der einzige Schluss, den solche Kritiker aus ihrer schäbigen Lage ziehen, scheint zu sein: Welche Partei, Organisation oder Gewerkschaft löst jetzt dieses Problem für mich? Unterstellt ist da allemal, dass die eigene Lebenslage von anderen Figuren abhängig gemacht ist. Das stimmt auch. Gerade das zu ändern ist aber nötig. Wer nicht länger als variables Kapital leben will, der wird damit schon selbst Schluss machen müssen.

Zuerst im Overton-Magazin Krass & Konkret erschienen.

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Oben   —   Book scanner RBS Pro TTInternational Bookfest in Budapest, 2010.

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Wissenschaftslobbyismus

Erstellt von Redaktion am 18. Oktober 2022

Die Rolle der Bertelsmann-Stiftung in der aktuellen Gesundheitspolitik

Bertelsmann Stiftung 2007-01.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      ;  Joseph Steinbeiss / Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 471, August 2022, www.graswurzel.net

Mit vorgeblich rein wissenschaftlichen Studien seiner Stiftung und offensiver Lobbyarbeit treibt der Bertelsmann-Konzern die neoliberale Zerschlagung der dezentralen Klinikstruktur voran.

Die grösste Dreistigkeit, die es rund um die Bertelsmann-Stiftung zu bestaunen gibt, ist im Grunde die, dass sie nach wie vor und ohne wahrnehmbare öffentliche Proteste als „gemeinnützig“ geführt wird. Dieweil sich CDU-Politikerinnen und -Politiker überall im Lande erst vor Kurzem noch grinsend und schmatzend auf die Schulter klopften, weil es ihnen gelungen war, vielen störenden Umwelt- und Bürgerorganisationen die Gemeinnützigkeit aberkennen zu lassen und ihnen so Steuervorteile zu nehmen – der Journalist Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung (SZ) sagte über dieses Verdikt: „Das Urteil (…) hat toxische Wirkung“ (SZ vom 2.3.2019) –, darf eine mit Unsummen ausgestattete Konzernstiftung weiterhin den Eindruck erwecken, nur den besten Interessen der Gesellschaft zu dienen. Diese Illusion wird von der Bertelsmann-Stiftung mit großer Mühe aufrechterhalten. Selbst wenn man mit Kolleginnen und Kollegen spricht, die mit der Stiftung zusammengearbeitet haben oder dort angestellt sind, bekommt man meist zu hören: Nein, man lege größten Wert auf geistige Unabhängigkeit. Auch vom Mutterkonzern. Kein Wunder also, dass es immer wieder Studien der Bertelsmann-Stiftung sind, die von Befürworterinnen und Befürwortern der neoliberalen Umgestaltung des Gesundheitswesens in Deutschland hochgehalten werden.

Eine neue Form des Lobbyismus

In Wahrheit hat die Bertelsmann-Stiftung eine neue Form des Lobbyismus zur Vollendung gebracht: den Wissenschaftslobbyismus. In einer Zeit, in der politische Entscheidungsträgerinnen und -träger nicht länger auf rauchumwölkte Seher, ihre Maitressen oder Beichtväter hören, sondern idealerweise auf die Wissenschaft, ist jeder Lobbyismus zur Ohnmacht verurteilt, der nicht wenigstens den Eindruck erwecken kann, als stütze er sich auf verbürgte Fakten. „Einen Menschen zu überzeugen, ist viel nachhaltiger, als ihn zu bezahlen“ – so ließe sich das Credo der Bertelsmann-Stiftung wohl formulieren.

Olaf Scholz auf Staatsbesuch in Spanien (2022)

Parteibrüder im Geiste, bis zu den Knien in der Scheiße? Der Eine mit Warburg der Andere mit den Klinken ?

Während es in keinem anderen Wirtschaftszweig in Deutschland so viele gemeldete Lobbyistinnen und Lobbyisten gibt wie in der Gesundheitsindustrie, hat die Bertelsmann-Stiftung es geschafft, in der Öffentlichkeit als dem Geschiebe und Gemauschel irgendwie entrückt wahrgenommen zu werden: als eine seriöse, unvoreingenommene Forschungseinrichtung. Niemand sollte behaupten, an ihren Studien seien keine Fachleute beteiligt. Und auch Konzerninteressen werden selten offen hinausposaunt. Eher geht es um die Wahl der Fragestellung, das passende Abstecken des Forschungsfelds, ein sachtes Zurichten der Ergebnisse, ein Verschieben von Aussagen in Nebensätze und Fußnoten oder das Unterschlagen wesentlicher, aber taktisch unerwünschter Fakten. Dass die Stiftung in ihrem berüchtigten zweiten Gutachten zu den beabsichtigten Krankenhausschliessungen im ersten Pandemie-Jahr offen Farbe bekennen musste, war eher die Ausnahme. Normalerweise bevorzugt man leisere Töne.

In der Wolle gefärbt: Zwei Bertelsmann-Studien

Dies soll am Beispiel zweier viel beachteter Bertelsmann-Studien verdeutlicht werden, die auf aufreizende Weise in die gleiche Richtung zeigen, obwohl sie vorgeblich nichts miteinander zu tun haben: 2015 veröffentlichte die Stiftung eine Studie, in der der in der Tat merkwürdige Umstand untersucht wurde, dass Knieoperationen auf dem deutschen Territorium auffällig ungleich verteilt waren. So brachen beispielsweise kleine Krankenhäuser in der bayrischen Provinz alle Rekorde beim Durchführen solcher Operationen, und selbst der eisernste Preuße hätte Schwierigkeiten zu behaupten, just die Bayerinnen und Bayern seien besonders weich in den Knien. Wer einmal die Resultate einer 08/15-Knieoperation, zumal bei älteren Menschen, gesehen hat, den schüttelt es vor Grausen: das Ganze aufgeschnitten, ein wenig drin herumgestochert, dann Fleisch und Haut – Schlapp, Schlapp – wie einen Briefumschlag übereinandergeworfen, zugenäht, und Gottes Segen auf Ihren Weg. Hinzu kommt, dass schlampige Operationen am Knie fast immer weitere Operationen zur Folge haben. Auf Knie-OP folgt Knie-OP folgt Knie-OP … Und immer klingelt die Kasse.

Warum lässt die Bertelsmann-Stiftung eigentlich mit solcher Hartnäckigkeit Missstände an deutschen Provinzkrankenhäusern untersuchen? Gäbe es dort nicht auch ein paar Vorzüge zu erforschen?

Die Empörung über die Ergebnisse der Studie, von interessierter Seite absichtsvoll geschürt, war entsprechend gross. Das Problem ist nur: Man lässt den Krankenhäusern hierzulande gar keine Wahl. Sie müssen verdienen, um nicht in die Insolvenz zu rutschen. Dass auch öffentliche Krankenhäuser in Deutschland unter wirtschaftlichem Druck handeln müssen, hebt die Studie ausdrücklich hervor. Dann aber bricht sie ab. Weder wird eine ausreichende Kritik am Fallpauschalensystem formuliert, das die Misere wesentlich verursacht, noch wird auch nur mit einer Silbe erwähnt, dass es das eigene Stammhaus war, das jahrelang (und letztlich erfolgreich) intensive Lobbyarbeit für diese Art der Krankenhausfinanzierung gemacht hat. Was bleibt, ist der Eindruck, dass an deutschen Provinzkrankenhäusern betrügerische Menschenschinderinnen und -schinder am Werk sind, denen man die Läden besser heute als morgen dicht machen sollte.

Stimmungsmache gegen dezentrale Klinikstruktur

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine andere Studie, mit der sich heute nicht allein Deutschlands Oberkrankenhausabreisser Manfred Lucha (Grüne) aus Baden-Württemberg politisch die Hemdbrust stärkt: Die Studie führt – durchaus überzeugend – den Nachweis, dass komplizierte Operationen und schwierige Pflegeaufgaben (wie etwa die Versorgung von „Frühchen“) statistisch umso besser gelingen, je öfter sie vorgenommen werden. Es sei daher medizinisch und im Sinne der Versorgungsqualität der Bevölkerung angezeigt, sie an wenigen zentralen Standorten durchführen zu lassen und nicht in vielen kleinen, verstreuten Krankenhäusern. Wieder standen die Provinzkrankenhäuser schlecht da, diesmal als überfordert, während die großmannssüchtigen Pläne der Neoliberalen, die dezentrale Klinikstruktur Deutschlands gegen ein paar Groß Kliniken einzutauschen, Rückenwind bekamen.

Diesmal war es die neu gegründete „Volksinitiative Gesunde Krankenhäuser in NRW – für alle“, die zeigte, wo der Hase im Pfeffer lag: Wohnortnahe Krankenhäuser seien im Normalfall nicht für seltene oder schwierige Operationen zuständig, sondern für Erkrankungen und Notfälle der Grund- und Regelversorgung. In dieser Hinsicht stünden sie Universitätskliniken oder teuren Privatkrankenhäusern qualitativ in nichts nach. Wer eine schwere Operation vor sich habe, könne sich heute mühelos nach dem besten Krankenhaus für ihren oder seinen Fall umsehen (so es sich nicht eben um einen der erwähnten Notfälle handele, bei dem ein wohnortnahes Krankenhaus über Leben und Tod entscheide).

Anders ausgedrückt: Niemand muss heute neue, sündhaft teure und ökologisch katastrophale Zentralkliniken aus dem Boden stampfen und gleichzeitig Provinzkrankenhäuser schließen, um ein drängendes gesundheitspolitisches Problem zu lösen. Es gibt in dieser Hinsicht nämlich, schlicht und ergreifend, keins. Man wäre geneigt hinzuzufügen: Wäre eine solide Grundfinanzierung für alle Krankenhäuser gewährleistet, würde wohl niemand auf die Idee kommen, sich an Eingriffen oder Maßnahmen zu versuchen, für die sie oder er nicht oder unzureichend gerüstet wäre, nur um die Bilanzen aufzubessern. Man würde entsprechende Fälle einfach weiterverweisen (wie es, nebenbei bemerkt, auch heute meist geschieht).

Man könnte aber noch viel naiver fragen: Warum lässt die Bertelsmann-Stiftung eigentlich mit solcher Hartnäckigkeit Missstände an deutschen Provinzkrankenhäusern untersuchen? Gäbe es dort nicht auch ein paar Vorzüge zu erforschen? Oder umgekehrt: Gibt es an Maximalversorgerkliniken etwa keine Missstände, die Untersuchens wert wären? Studien wie diese sind von vornherein in der Wolle gefärbt.

Brigitte Mohn, Karl Lauterbach und die Rhön-Klinikum AG

Wie aber profitiert denn nun der Bertelsmann-Konzern von der durch seine Stiftung so vehement geforderten Schließung hunderter öffentlicher Krankenhäuser? Das ist ganz einfach: Ein wesentliches wirtschaftliches Standbein des Konzerns ist die Rhön-Klinikum AG, der grösste private Klinikbetreiber in Deutschland. Er ist seit 1989 börsennotiert, hat seinen Stammsitz in Neustadt an der Saale und betreibt hierzulande sogar private Universitätskliniken. Das ist einzigartig in Europa. Brigitte Mohn, die Tochter der Bertelsmann-Konzern-Erbin Liz Mohn, war lange Zeit Vorsitzende des Aufsichtsrats der Rhön-Klinikum AG. Gleichzeitig leitete sie übrigens den Bereich Gesundheit der Bertelsmann-Stiftung – ein durchaus günstiger Umstand für die Konzernpolitik.

Die Besetzung des Aufsichtsrats ist ebenfalls traditionell exquisit. So sass dort zum Beispiel lange Zeit ein gewisser Karl Lauterbach (SPD), heute Bundesminister für Gesundheit. Natürlich sass er dort nicht allein, denn bei der Rhön-Klinikum AG legt man großen Wert auf eine politisch paritätische Besetzung ihres obersten Gremiums. Man weiß ja nie, wer die nächste Regierung stellt. Ein Aufsichtsratskollege Lauterbachs war so ironischerweise Karl-Theodor von und zu Guttenberg (CSU). Jawohl, eben jener „Freiherr von Google Berg“, der schließlich über eine Plagiatsaffäre monströsen Ausmaßes bei seiner Dissertation stolperte. Und während an Lauterbachs medizinischer Sachkenntnis nicht zu zweifeln ist, fragt man sich leise, welche Fähigkeiten von Guttenberg wohl geeignet erscheinen ließen, der Leitung eines Klinik-Konzerns anzugehören. Womöglich genügte es, dass er in der CSU war und das Ohr von Kanzlerin Merkel hatte.

Selbst Stoiber konnte hier schon seine Züge fahren lassen.

Es ist übrigens recht einträglich, dem Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG anzugehören. Aufsichtsratsmitglieder bekommen 113.300 Euro im Jahr, und zwar für die Teilnahme an „mindestens zwei der vier [jährlichen] Sitzungen“. So der Geschäftsbericht. In besseren Zeiten hätte man solche Summen, ausgezahlt an Politikerinnen und Politiker ohne jede Sachkenntnis für schieres Nichtstun, wohl Korruption genannt.

Dreifacher Profit durch Privatisierungen

Der Bertelsmann-Konzern profitiert über seine Rhön-Klinikum AG in gleich dreifacher Weise von der Schließung öffentlicher Krankenhäuser: Erstens kann er sie übernehmen und in private Krankenhäuser umwandeln. Der Journalist Thomas Schuler, dessen Buch „Bertelsmann Republik Deutschland“ (Frankfurt 2010) dieses Unterkapitel wichtige Informationen verdankt, beschreibt, was dann geschieht: Nach dem Fallpauschalensystem lukrative Angebote werden beibehalten und ausgebaut, weniger lukrative Angebote abgestoßen oder eingestellt, ganz gleich, ob sie in der jeweiligen Region medizinisch notwendig sind oder nicht. Die Liste ließe sich fortführen: Personalkosten werden systematisch gedeckelt, Rechnungen an die Krankenkasse oft überhöht gestellt, Boni an leitende Ärztinnen und Ärzte ausgeschüttet, damit sie einträgliche Eingriffe durchführen, auch dann, wenn andere Möglichkeiten der Behandlung vielleicht sinnvoller wären usw. usf. Der Konzern kann seine Kliniken außerdem jederzeit Schließen, wenn die Profite nicht mehr stimmen. Werner Bartens, Wissenschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung (nicht gerade ein anti-neoliberales Kampfblatt), stellt trocken fest: „Das Prinzip ist immer das gleiche: Einnahmen aus den gesetzlichen Krankenkassen werden privatisiert und dienen zur Steigerung des Shareholder Value. Gerät eine Klinik ins Straucheln […], werden die Ausgaben hingegen auf die Gemeinschaft umgelegt und öffentliches Geld wird beansprucht“. (1)

Aber die Rhön-Klinikum AG muss öffentliche Krankenhäuser gar nicht unbedingt übernehmen, um ihre Profite zu steigern. Denn jede geschlossene öffentliche Klinik lässt die Patientenzahlen privater Kliniken automatisch steigen, so sie denn in ausreichender Zahl vorhanden sind. Das sind sie in Deutschland seit langem. Tendenz: steigend.

Thomas Schuler hat noch auf einen weiteren Umstand hingewiesen, der Krankenhausschliessungen für Bertelsmann auf beunruhigende Weise profitabel macht: Brigitte Mohn beispielsweise hielt während ihrer Zeit als Aufsichtsratschefin der Rhön-Klinikum AG beträchtliche Aktienanteile am eigenen Konzern. Während sie also über dessen Stiftung Lobbyarbeit für Krankenhausschliessungen machen ließ und eine Firma führte, die mit solchen Schließungen Geschäfte machte, wuchs gleichzeitig ihr Privatvermögen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Familienangehörige der Mohns oder leitende Managerinnen und Manager des Konzerns es heute wirklich anders machen. Hinter dem Schleier vorgeblicher Wissenschaftlichkeit macht die Bertelsmann-Stiftung eine marktradikale Politik, die ihrem Mutterkonzern unmittelbar zugutekommt und zum Teil sogar die privaten Taschen von dessen Besitzerinnen und Topmanagern füllt. Gemeinnützig? Gemeingefährlich wäre passender.

Schlussfolgerung

Man sollte sich im Fall der Bertelsmann-Stiftung vom Zauberwort: „Wissenschaftlichkeit“ nicht länger blenden lassen. Der Schreibforscher Otto Kruse, Professor an der Universität Zürich, hat in einer aktuellen Veröffentlichung darauf hingewiesen, dass wissenschaftlich nur denkt und handelt, wer ausdrücklich keine verborgenen Interessen verfolgt. Es gäbe demnach gute wissenschaftliche Gründe, an der Wissenschaftlichkeit von Studien der Bertelsmann-Stiftung künftig größere Zweifel zu hegen.

(1) Werner Bartens, Einleitung zu Thomas Strohschneider, „Krankenhaus im Ausverkauf“, Frankfurt/Main 2022, S. 13.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben      —     Sitz der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh

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Weiter ein Almosen

Erstellt von Redaktion am 17. Oktober 2022

Die Einführung des Bürgergelds

File:Grundeinkommen statt Existenzangst BGE Berlin 2013.jpg

Ein Debattenbeitrag von Pascal Beucker

Hartz IV wird bald Geschichte sein, verspricht die Ampelkoalition. Doch trotz deutlicher Verbesserungen ist das neue Bürgergeld kein Systemwechsel.

So zufrieden mit sich selbst erlebt man die Ampelkoalition in diesen Tagen selten. Als am vergangenen Donnerstag der Bundestag in erster Lesung über das von der Bundesregierung eingebrachte „Bürgergeld-Gesetz“ beraten hat, klopften sich vor allem die Abgeordneten der SPD und der Grünen kräftig selbst auf die Schultern. Das ist verständlich. Schließlich soll zum 1. Januar 2023 Hartz IV, jene Chiffre für Armut und Ausgrenzung, die insbesondere den So­zi­al­de­mo­kra­t:in­nen so viele Scherereien bereitet hat, Geschichte sein. Für sie ist das ohne Zweifel ein Grund zum Jubeln. Aber auch für die Betroffenen?

Zumindest die Abgeordneten der Ampel scheinen davon überzeugt zu sein. Von einem „echten Kulturwandel“ war im Bundestag die Rede, von einer „grundlegenden Reform unseres sozialen Sicherheitssystems“, die für „mehr Respekt, mehr Chancen, mehr Sicherheit“ sorgen werde. „Es ist gut, dass wir Hartz IV endlich überwinden“, freute sich die grüne Rednerin. Und ihr SPD-Kollege sekundierte: „Deswegen ist es ein guter Tag, weil die Menschen wieder Vertrauen in den Sozialstaat fassen können.“

Schon im Vorfeld hatte SPD-Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil von nicht weniger als der „größten Sozialstaatsreform seit 20 Jahren“ geschwärmt. Wird jetzt also alles wieder gut?

Die Ummodelung des übel beleumundeten Arbeitslosengeldes II zum wohlklingenderen „Bürgergeld“ ist eines der zentralen Vorhaben, auf das sich SPD, Grüne und FDP nach der Bundestagswahl im vergangenen Jahr haben verständigen können. Das zentrale Versprechen: Das neue Bürgergeld soll „die Würde des und der Einzelnen achten“ und „zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen“. Ein hehrer Anspruch.

Der sich eng am Koalitionsvertrag entlanghangelnde Gesetzentwurf aus dem Heil-Ministerium enthält nun tatsächlich etliche Verbesserungen für erwerbslose Menschen im Leistungsbezug. Offensichtlich ist das Bemühen, dass sie nicht mehr ganz so sehr drangsaliert werden sollen. Es geht also schon um mehr als eine bloße Umetikettierung. Gleichwohl ist es ziemlich übertrieben, wenn SPD und Grüne nun behaupten, dass das Hartz-IV-System damit überwunden werde.

Es ist übertrieben, wenn SPD und Grüne behaupten, dass das Hartz-IV-System damit überwunden werde

Was war das „Revolutionäre“ an Hartz IV? Das war die Transformation der alten Arbeitslosenhilfe von einer Versicherungsleistung zu einem staatlichen Almosen, und zwar finanziell auf das deutlich niedrigere Sozialhilfeniveau. Die gesellschaftlichen Verwerfungen, die dieses von der damaligen rot-grünen Regierung Gerhard Schröders durchgesetzte neue Arbeitslosengeld II ausgelöst hat, waren weniger in dem elendig niedrigen Regelsatz begründet, mit dem schon zuvor So­zi­al­hil­fe­emp­fän­ge­r:in­nen auskommen mussten, ohne dass dies zu Massenprotesten geführt hätte.

Die tiefe Erschütterung speziell im klassischen Wäh­le­r:in­nen­kli­en­tel der SPD lag vielmehr in der beängstigenden Vorstellung, dass mit dem Inkrafttreten der Arbeitsmarktreform auch einem gutverdienenden Facharbeiter im Fall der Erwerbslosigkeit drohte, nach nur einem Jahr Bezug von Arbeitslosengeld I alles zu verlieren, was er für sich, seine Familie und seine Nachkommen über Jahrzehnte erarbeitet hat. Denn das Arbeitslosengeld II bekommt nur, wer vorher fast vollständig seine finanziellen Reserven aufgebraucht hat.

Im Parteien Clan wird die Liebe zum Alten nie rosten.

Anders als vor Hartz IV gibt es also für stolze Ma­lo­che­r:in­nen keinen dauerhaften Schutz mehr vor dem Sturz in die Armut. Entsprechend waren und sind nicht nur die praktischen Auswirkungen von Hartz IV fatal, sondern auch die psychologischen.

Modifiziertes Sanktionsregime

Dieses Grundproblem wird mit dem jetzt vorgestellten Bürgergeld nicht beseitigt, aber wenigstens abgemildert. Nach einem Jahr Arbeitslosengeld I soll es künftig weitere zwei Jahre geben, in denen das Vermögen des oder der Leistungsempfangenden und die „Angemessenheit“ seiner oder ihrer Wohnung nicht überprüft werden. Anschließend ist ein etwas höheres Schonvermögen als bisher vorgesehen. Auch Rücklagen für die Altersvorsorge sollen besser geschützt werden. Das ist sicherlich ein Fortschritt. Aber wird das schon reichen, um das neue Bürgergeld als nicht mehr so bedrohlich erscheinen zu lassen?

Nicht abgeschafft, sondern nur modifiziert werden soll auch das Sanktionsregime, mit dem die Jobcenter unbotmäßige Erwerbslose schikanieren können. Zwar soll für die ersten sechs Monate im Bürgergeld-Bezug eine „Vertrauenszeit“ gelten, in der keine Leistungsminderungen mehr stattfinden können.

Quelle         :           TAZ-online       >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Mehr als 2.000 Teilnehmer demonstrieren für ein Bedingungsloses Grundeinkommen auf der BGE-Demonstration am 14. September 2013 in Berlin

Basic Income Demonstration in Berlin

Author stanjourdan from Paris, France
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Unten      —           Trauerfeier für Thomas Oppermann im Deutschen Bundestages am 28. Oktober 2020 in Berlin.

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In der Wachstumsfalle

Erstellt von Redaktion am 16. Oktober 2022

Raus aus der Wachstumsfalle

Wie wir mit der britischen Kriegswirtschaft die Klimakrise bewältigen können.

Der Kapitalismus war zweifellos ein historischer Fortschritt, hat aber leider eine fundamentale Schwäche: Er erzeugt nicht nur Wachstum, sondern muss auch wachsen, um stabil zu sein. Ohne ständige Expansion bricht der Kapitalismus zusammen. In einer endlichen Welt kann man aber nicht unendlich wachsen. Und dennoch tun die Industriestaaten so, als könnten sie mehrere Planeten verbrauchen. Bekanntlich gibt es aber nur eine Erde.

Die nächste Epoche wird daher eine „Überlebenswirtschaft“ sein müssen, die den Kapitalismus überwindet. In der Klimadebatte wird stets suggeriert, dass wir die Lösung schon hätten und allein der politische Wille fehle. Doch tatsächlich gibt es bisher kein Konzept, wie sich der Kapitalismus friedlich beenden ließe. Es wird nur über Nichtlösungen gestritten. Bisher setzen die Regierungen darauf, dass sie Wirtschaft und Klimaschutz irgendwie versöhnen könnten. Die typischen Stichworte heißen „Green New Deal“ oder „Entkopplung“ von Wachstum und Energie. Die große Hoffnung ist, dass sich die gesamte Wirtschaft auf Ökostrom umstellen ließe – ob Verkehr, Industrie oder Heizung.

Dieses „grüne Wachstum“ ist jedoch eine Illusion, denn der Ökostrom wird nicht ausreichen. Diese Aussage mag zunächst überraschen, schließlich schickt die Sonne 5000mal mehr Energie zur Erde, als die acht Milliarden Menschen benötigen würden, wenn sie alle den Lebensstandard der Europäer genießen könnten. An physikalischer Energie fehlt es also nicht, aber bekanntlich muss die Sonnenenergie erst einmal eingefangen werden. Solarpaneele und Windräder liefern jedoch nur Strom, wenn die Sonne scheint und der Wind weht. Um für Flauten und Dunkelheit vorzusorgen, muss Energie gespeichert werden – und dieser Zwischenschritt ist so aufwendig, dass Ökostrom knapp bleiben wird. Wenn die grüne Energie reichen soll, bleibt nur „grünes Schrumpfen“.

Es ist kein neuer Gedanke, dass permanentes Wachstum keine Zukunft hat. Viele Klimaaktivisten sind längst überzeugt, dass die Natur nur überleben kann, wenn der Kapitalismus endet. Also haben sie den eingängigen Slogan geprägt: „system change, not climate change“. Auch mangelt es nicht an Visionen, wie eine ökologische Kreislaufwirtschaft aussehen könnte, in der nur noch so viel verbraucht wird, wie sich recyceln lässt. Stichworte sind unter anderem Tauschwirtschaft, Gemeinwohlökonomie, Konsumverzicht, Arbeitszeitverkürzung oder bedingungsloses Grundeinkommen.

Doch wie lässt sich eine ökologische Kreislaufwirtschaft erreichen? Das bleibt unklar, denn die Vision wird meist mit dem Weg verwechselt. Das Ziel soll zugleich der Übergang sein. Nur selten wird gefragt, wie man eigentlich aus einem ständig wachsenden Kapitalismus aussteigen soll, ohne eine schwere Wirtschaftskrise zu erzeugen und Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Es fehlt die Brücke aus der dynamischen Gegenwart in eine statische Zukunft.

Viele Klimaaktivisten spüren, dass der Abschied vom Kapitalismus schwierig wird. Greta Thunberg wurde kürzlich von einem Anhänger gefragt, wie denn das künftige System aussehen soll. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie. „Es wurde bisher noch nicht erfunden.“

Um sich das „grüne Schrumpfen“ vorzustellen, hilft es, vom Ende her zu denken. Wenn Ökostrom knapp bleibt, sind Flugreisen und private Autos nicht mehr möglich. Banken werden ebenfalls weitgehend überflüssig, denn Kredite lassen sich nur zurückzahlen, wenn die Wirtschaft wächst. In einer klimaneutralen Wirtschaft würde niemand hungern – aber Millionen von Arbeitnehmern müssten sich umorientieren. Zum Beispiel würden sehr viel mehr Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und auch in den Wäldern benötigt, um die Folgen des Klimawandels zu lindern.

Diese Sicht auf die Zukunft mag radikal erscheinen, aber sie ist im wahrsten Sinne des Wortes „alternativlos“. Wenn wir die emittierten Treibhausgase nicht auf netto null reduzieren, geraten wir in eine „Heißzeit“, die ganz von selbst dafür sorgt, dass die Wirtschaft schrumpft. In diesem Klimachaos käme es wahrscheinlich zu einem Kampf aller gegen alle, den unsere Demokratie nicht überleben würde.

Vorbild Großbritannien 1939

Manche Deutschen fragen sich allerdings auch, ob es überhaupt sinnvoll ist, auf nationaler Ebene über den Klimaschutz nachzudenken. Sie fürchten, dass andere Länder es sogar ausnutzen könnten, wenn wir unsere Treibhausgase reduzieren. So schreibt der Ökonom Hans Werner Sinn: „Ob man nun an Kohle, Erdöl oder Erdgas denkt: Wenn Deutschland weniger kauft und verbrennt, dann können die Chinesen halt mehr kaufen und verbrennen.“ Dieses Misstrauen ist verständlich, verkennt aber, dass fast alle anderen Staaten unter der Klimakatastrophe noch weit stärker leiden als Deutschland. Es liegt in ihrem Eigeninteresse, die Treibhausgase ebenfalls zu reduzieren.

Der Kernfehler der marktorientierten Ökonomen ist, dass sie die Ökoenergie für ein normales Produkt halten, das sich beliebig vermehren lässt, wenn die Nachfrage steigt. Also glauben sie, dass nur „Preissignale“ nötig wären, um den Ausbau von Windrädern und Solarpaneelen zu forcieren. Die Idee ist: Wenn die CO2-Steuern hoch genug sind, wird fossile Energie so teuer, dass alle Firmen und Haushalte begeistert auf Ökostrom umsteigen. Die Ökoenergie ist aber nicht beliebig steigerbar – sondern wird, schon aus physischen und technischen Gründen, knapp bleiben. Grüne Technik verschlingt nämlich nicht bloß Stahl, Beton und Aluminium, was bisher ausreichend vorhanden ist – sondern auch eher knappe Mineralien. Dazu gehören unter anderem Lithium, Nickel, Kupfer, Kobalt, Mangan, Graphit und seltene Erden wie Neodym. Nur zum Vergleich: Ein herkömmliches Auto benötigt 35 Kilo dieser Rohstoffe, während es bei einem E-Auto etwa 210 Kilo sind – also sechsmal so viel. Auch Windräder drehen sich nicht von Luft allein. Pro Megawatt installierter Leistung werden mehr als 10 000 Kilo an Mineralien benötigt, und wenn die Rotoren im Meer stehen, sind es sogar 15 000 Kilo. Solarpaneele erfordern nicht ganz so viele Rohstoffe, kommen aber auch auf 7000 Kilo. Konventionelle Kraftwerke sind da viel sparsamer: Wird Kohle verfeuert, sind 2500 Kilo Mineralien pro Megawatt nötig; bei Gas sind es sogar nur 1200 Kilo. Der Bedarf an Mineralien wird also explodieren, wenn die ganze Welt klimaneutral wirtschaften will. Die Internationale Energieagentur prognostiziert, dass sich die Nachfrage nach Kupfer bis 2040 mehr als verdoppeln, die nach Lithium aber auf das 42fache steigen wird, bei Graphit auf das 25fache, bei Kobalt auf das 21fache, bei Nickel auf das 19fache und bei den seltenen Erden auf das Siebenfache. Doch mit diesen sehr konkreten Fragen befassen sich Ökonomen nicht, sondern sie verharren in ihrer theoretischen Welt der Preise.

Die Brücke wurde 1939 erbaut und ist nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt. 

Die Debatte hat sich inzwischen festgefahren, und zwei Lager stehen sich dabei unversöhnlich gegenüber: Die meisten Politiker, Klimaforscher und Ökonomen hoffen auf „grünes Wachstum“, obwohl die Ökoenergie nicht reichen dürfte. Umgekehrt fordern daher die Wachstumskritiker, dass Einkommen und Verbrauch sinken müssen. Ihnen fehlt jedoch ein Plan, wie sie dabei eine schwere Wirtschaftskrise vermeiden können, die Millionen Menschen in Armut und Verzweiflung stürzt.

Schrumpfen, ohne Chaos zu erzeugen

Gesucht wird also eine Idee, wie sich die Wirtschaft schrumpfen lässt, ohne dass Chaos ausbricht. Zum Glück bietet die Geschichte dafür ein Vorbild. Ausgerechnet die britische Kriegswirtschaft taugt als Anregung, wie sich eine klimaneutrale Welt geordnet anstreben ließe.

Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Nicht jede Kriegswirtschaft eignet sich als Vorbild. Hier wird nur die britische Kriegswirtschaft ab 1939 geschildert. Sie war keineswegs die einzige Kriegswirtschaft, die es in der Weltgeschichte je gegeben hat. Momentan zeigt Putins brutaler Angriff auf die Ukraine, dass jede militärische Auseinandersetzung dramatische Folgen auch für die Wirtschaft hat. Zudem kann es in einem einzigen Krieg gleich mehrere Modelle geben, wie die Ökonomie umgestaltet wird. Im Zweiten Weltkrieg hatten nicht nur die Briten und Amerikaner, sondern auch Hitler und Stalin ihre je eigenen Formen einer Kriegswirtschaft. Nicht jede Kriegswirtschaft eignet sich also als Analogie, wie sich eine ökologische Transformation gestalten ließe.

Die Briten standen 1939 vor einer monströsen Herausforderung: Sie hatten den Zweiten Weltkrieg nicht kommen sehen und mussten nun in kürzester Zeit ihre Wirtschaft auf das Militär ausrichten, ohne dass die Bevölkerung hungerte. Fast über Nacht entstand eine Planwirtschaft, die bemerkenswert gut funktionierte. Die Fabriken blieben in privater Hand, aber der Staat steuerte die Produktion – und organisierte die Verteilung der knappen Güter. Es wurde rationiert, aber es gab keinen Mangel. Die Briten erfanden also eine private und demokratische Planwirtschaft, die mit dem dysfunktionalen Sozialismus in der Sowjetunion nichts zu tun hatte.

Der Krieg als Metapher – und Motivation zu höchster Anstrengung

Natürlich wäre es aberwitzig, die damaligen Maßnahmen einfach zu kopieren – schließlich leben wir fast ein Jahrhundert später und befinden uns auch nicht im Krieg mit dem Klima. Aber einige Parallelen gibt es, die für eine nachhaltige Zukunft sehr instruktiv sind. Denn bei der britischen Kriegswirtschaft ab 1939 kommen mehrere Faktoren zusammen, die sie als Anregung interessant machen. Erstens: Die Briten lebten in einer Demokratie; ihr Premierminister Churchill war frei gewählt. Eine „Ökodiktatur“ wird zu Recht gefürchtet, doch wie die Briten bewiesen haben, sind auch Demokratien fähig, entschlossen zu handeln. Zweitens: Die Briten führten keinen Angriffskrieg, sondern mussten sich gegen Hitler verteidigen. Sie befanden sich in einer unfreiwilligen Notsituation, die zudem verspätet erkannt wurde. Lange Zeit hatten die Briten noch gehofft, sie könnten Hitler durch „Appeasement“ befrieden und von einem Krieg abhalten. Ähnlich erleben wir heute den Klimawandel. Seine Dramatik wurde nur verzögert verstanden, zwingt uns aber jetzt zum Handeln. Drittens: Die Briten mussten ihre normale Wirtschaft in kürzester Zeit stark herunterfahren, damit in den Fabriken Kapazitäten frei wurden, um Militärgüter herzustellen. Von all dem lässt sich lernen, wie sich eine schrumpfende Wirtschaft organisieren lässt.

Wachstumskritikern wird gern unterstellt, dass sie große Freude daran hätten, ihre Mitmenschen zu quälen. „Bevormundung macht denjenigen Spaß, die sich die Verbote ausdenken“, klagt etwa die „Bild“-Journalistin Nena Schink, der davor graut, dass Deutschland „zu einer Verbotsnation mutieren“ könnte. Leider wird es ohne Verbote nicht gehen. Unsere Lebensweise kann nur dann ökologisch sein, wenn nicht jede jederzeit unbegrenzt konsumiert. Die Analogie zum Zweiten Weltkrieg ist daher passend: Sie macht klar, dass es Opfer kostet, eine ökologische Kreislaufwirtschaft aufzubauen. Nur Verzicht sichert das Überleben – wie im Krieg.

Es ist auch nicht ungewöhnlich, vom „Krieg“ zu sprechen, sobald ein großes Problem zu lösen ist. So wurden schon Kriege gegen die Armut, gegen die Drogen oder gegen den Krebs ausgerufen. Allerdings wird das Wort „Krieg“ hierbei nur als Metapher verwendet und soll herausstreichen, dass höchste Anstrengung geboten ist. Auch während der Corona-Pandemie war es üblich, militärische Vergleiche zu ziehen. US-Präsident Trump sagte – nachdem er lange das Virus kleingeredet hatte – in einer Pressekonferenz: „Wir sind im Krieg und wir bekämpfen einen unsichtbaren Feind.“ Der französische Präsident Macron sah sich ebenfalls im Krieg, der eine „Generalmobilmachung“ erforderte, während die britische Königin Elisabeth II. von Pflegekräften „an der Front“ sprach. Diesmal waren die Analogien zum Zweiten Weltkrieg wortwörtlich gemeint, und in einigen Staaten wurden sogar Verordnungen aus Kriegszeiten reaktiviert. Trump holte beispielsweise den „Defence Production Act“ wieder hervor, den man 1950 im Koreakrieg erlassen hatte, um den Autokonzern General Motors zu zwingen, Beatmungsgeräte herzustellen. So wie früher Panzer für die Schlacht produziert worden waren, so galten jetzt Masken und Impfstoffe als „Waffen gegen den Virus“. Und wie im Krieg zog der Staat alle wichtigen Entscheidungen an sich: Binnen Tagen wurden Schulen und Gaststätten geschlossen, die Angestellten ins Homeoffice geschickt, riesige Rettungspakete geschnürt und Grenzen teilweise abgeriegelt. Geld spielte keine Rolle mehr, es ging allein um den „Sieg“ gegen die Pandemie. Hier zeigte sich: Der Staat kann handeln, wenn er will.

Der Staat kann handeln, wenn er will

Diese Tatsache ist auch den Klimaschützern nicht entgangen: Sie neigen ebenfalls dazu, den Kampf gegen die Klimakrise mit dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen. Schon 2018 wünschte sich der Weltklimarat IPCC eine globale „Mobilmachung“, und auch der Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz propagiert diese Idee. Klimaschützer begeistert vor allem, wie schnell es den Alliierten damals gelang, die nötigen Waffenarsenale zu produzieren, um Deutschland und seine Verbündeten zu besiegen. Ähnlich schnell sollen nun Windräder, Solarpaneele und E-Autos hergestellt werden.

Die meisten Autoren interessieren sich allerdings nicht so sehr für Großbritannien, sondern vor allem für die USA, weil dort aus dem Nichts riesige Waffenschmieden errichtet wurden, nachdem die Japaner im Dezember 1941 Pearl Harbor angegriffen hatten. Unter anderem bauten die Amerikaner in nur sechs Monaten eine Flugzeugfabrik in Michigan, in der täglich 24 B24 Bomber produziert wurden, obwohl jedes einzelne Flugzeug 1 225 000 Teile und 313 237 Nieten benötigte.Ähnlich beeindruckend war die US-Produktion der standardisierten „Liberty“-Frachter. Diese Schiffe sollten die Verluste ausgleichen, die durch die deutschen U-Boote im Atlantik entstanden. Anfangs dauerte es acht Monate, um einen einzigen Frachter herzustellen, der aus 250 000 Teilen bestand. Am Ende wurde alle fünf Tage ein Schiff gebaut. Gleichzeitig wurden bestehende Fabriken einfach umgewidmet: Heizungsfirmen stellten Helme her, aus Unterwäsche wurden Tarnnetze, Rechenmaschinen verwandelten sich in Pistolen, und Staubsaugerbeutel fanden sich in Gasmasken wieder. Die Stoffe für Autositze wurden zu Fallschirmen, während die Autokonzerne Maschinengewehre und Kanonen, Jagdflugzeuge und Panzer bauten. Zwischen 1942 und 1945 gab die US-Regierung mehr Geld aus, als sie insgesamt von 1789 bis 1941 verbraucht hatte. In den Kriegsjahren stellten die USA 87 000 Marineschiffe, 300 000 Flugzeuge, 100 000 gepanzerte Fahrzeuge und Panzer sowie 44 Mrd. Schuss Munition her. Auch US-Präsident Roosevelt staunte über dieses „Wunder der Produktion“.

Schmerzfrei ökologisch?

Quelle       :         Blätter-online           >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —     Karl Marx, Der Prophet

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Unten         —     Peter Siller (Heinrich-Böll-Stiftung e.V.), Ulrike Herrmann (Journalistin, taz) Foto: <a href=“http://www.stephan-roehl.de“ rel=“nofollow“>Stephan Röhl</a> „Auf der Suche nach der grünen Erzählung III“ Die dritte Ausgabe der Kongressreihe Grüne Erzählung der Heinrich-Böll-Stiftung am 18. und 19. März 2016 in Berlin

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Menschen in der Arbeitswelt

Erstellt von Redaktion am 9. Oktober 2022

Die Jungen sollten noch viel weniger arbeiten!

Von Nicole Opitz

Unsere Eltern konnten sich von ihrer Lohnarbeit vielleicht mal ein Reihenhaus kaufen – das ist vorbei. Liebe Ältere, zeigt mal mehr Solidarität.

Es war vielleicht in der 6. Klasse, da schrieb eine meiner Lehrer:in­nen an die Tafel: „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ – „Was glaubt ihr, wie alt das Zitat ist?“, fragte die Lehrkraft. Ich erinnere mich daran, wie erstaunt wir waren, dass das Zitat von Sokrates stammt und 2.000 Jahre alt ist. Ich wünschte, ich könnte erzählen, dass wir danach die Beine auf den Tisch gelegt haben. Aber der Unterricht ging ganz normal weiter.

Das Zitat von Sokrates geht dieser Tage auch durch die Kommentarspalten der taz, denn vergangene Woche schrieb eine Kollegin an der gleichen Stelle, dass die „Jungen“ nicht mehr arbeiten wollen und meinte damit vor allem Millennials – also Menschen, die um die Jahrtausendwende geboren wurden. Sie wollten Freizeit, Freiheit, Homeoffice und dazu noch flexible Arbeitszeiten.

Das Echo auf den Text war groß – Wut, Verwunderung und Zuspruch, es war alles dabei. Am Mittwoch gab es auf dem Forum Reddit vier Subreddits zum Thema mit mehr als 900 Kommentaren. Ich glaube, dass im Sokrates-Zitat der Kern dessen steckt, woran viele schier verzweifeln: Manchen Boomern fehlt der Perspektivwechsel. Die Lebensrealität aus der Jugend der Älteren ist nicht vergleichbar mit der gegenwärtigen Wirklichkeit. Anders gesagt: Das Arbeitsmodell aus dem 20. Jahrhundert passt nicht zum Leben des 21. Jahrhunderts. Trotzdem läuft es seit Jahrzehnten irgendwie gleich mit der 40-Stunden-Woche, aber auf die komme ich später nochmal zurück.

Unsere Eltern konnten sich von ihrer Lohnarbeit vielleicht mal ein Reihenhaus kaufen. Für mich ist das so schwer vorstellbar, ich hämmere es mehrmals in die Tastatur, weil meine Finger „Wohnung“ statt „Reihenhaus“ tippen. Dabei können sich viele Millennials auch keine Wohnung leisten. Der Begriff Millennial an sich ist übrigens nicht unproblematisch, weil ich da als vergleichsweise privilegierte weiße Journalistin genauso drunter falle wie eine schwarze Person, die im strukturell rassistischen Deutschland ganz anderen Herausforderungen gegenübersteht.

Warum gibt es eigentlich die 40-Stunden-Woche noch?

Laut Statistik verdient dieses Konstrukt „Millennial“ zwar mehr als die Menschen in allen Generationen vor ihm – gestiegene Lebenshaltungskosten und die Inflation sorgen aber dafür, dass Millennials durchschnittlich weniger davon haben. In den USA sind Boomer laut Business Insider zehn Mal so reich wie die Generation Jahrtausendwende.

Viele fragen sich: Warum Überstunden machen für einen Job, der uns nicht mehr geben kann, was unsere Eltern wollten? Zudem wissen wir inzwischen, dass zu viel Lohnarbeit krank macht – laut dem DAK-Gesundheitsreport haben 8,6 Millionen Menschen ein erhöhtes Herzinfarkt-Risiko durch eine psychische Erkrankung oder arbeitsbedingten Stress.

 

Im Jahr 2021 machten Ar­beit­neh­me­r-in­nen laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linken etwa 1,3 Milliarden Überstunden. Etwa 700 Millionen davon wurden nicht bezahlt – und Betriebe profitieren davon mit einem zweistelligen Milliardenbetrag. Besonders profitieren sie von Arbeitnehmer-innen, die befristet angestellt sind. Im Homeoffice sammeln die meisten etwa vier Überstunden pro Woche, im Büro „nur“ 2,7. Auch unter den vielen Überstunden leiden Beschäftigte: So schreibt die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin davon, dass „die Variabilität der Arbeitszeit als ungünstig für die Gesundheit von Beschäftigten zu bewerten“ sei. Und: „Die Arbeit findet dann häufig zu ungünstigen Zeiten statt, worunter auch die soziale Strukturierung des Lebens leiden kann.“

Anders gesagt: Der Kinoabend mit Freun­d-in­nen wird verschoben, weil etwas auf der Arbeit nicht ohne Überstunden funktioniert. Viele machen das nicht mehr mit, einige Jour­na­lis­t:in­nen schreiben schon über „quiet quitting“, einen angeblichen Trend, bei dem die Ar­beit­neh­me­r-in­nen nicht mehr machen als von ihnen verlangt wird. Für mich klingt allein schon die Bezeichnung nach Arbeitgeber-innen-Perspektive. Warum sollte es denn nicht okay sein, wenn man nicht mehr Aufgaben macht als bezahlt werden?

Ich glaube nicht daran, dass sich unablässig produktiv arbeiten lässt. Das Gehirn braucht Pausen. Und: Arbeit kann Sinn schaffen, für manche Menschen sogar Lebenssinn sein, sie muss es aber nicht. Für viele ist es einfach der Weg, die in den letzten Jahren gestiegenen Lebenskosten zu bezahlen, und dafür macht man nicht alles mit, was Ar­beit­ge­be­r-in­nen von einem wollen. Sie arbeiten, um zu leben, nicht umgekehrt.

Zumal Fachkräftemangel herrscht und die Verhandlungsposition junger, einigermaßen okay ausgebildeter Menschen so gut ist wie seit Jahren nicht mehr. Hat uns der Kapitalismus nicht gelehrt, dass das Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen? Na also: deal with it!

Quelle        :       TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Early 20th Century German illustration from 1902 Jugend Magazine publication from Austria

  

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Unten        —    Ein altes französisches Ehepaar, M. und Mme. Baloux aus Brieulles-sur-Bar, Frankreich, seit vier Jahren unter deutscher Besatzung, begrüßt Soldaten der 308. und 166. Infanterie bei ihrer Ankunft während des amerikanischen Vormarsches. Nation WWI Museum Bildunterschrift: „Offizielle A.E.F.-Fotos, die vom Signal Corps aufgenommen wurden: „Mitglieder der Kompanie I, des Dreihundertachtundachtzigsten Regiments Infanterie, der siebenundsiebzigsten Division und der Kompanie I, Einhundertsechsundsechzigstes Regiment Infanterie (ehemals Vierte Ohio Infanterie), Zweiundvierzigste Division, werden von Herrn und Frau Baloux, einem alten Ehepaar, das vier Jahre lang gefangen war, befragt. Von links nach rechts: Philip Tanger von der siebenundsiebzigsten Division und Allen Floyd von der zweiundvierzigsten Division. Brieulles sur Bar [sic], Ardennen, Frankreich. 6. November 1918.“

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Die „UBER – FILES“

Erstellt von Redaktion am 7. Oktober 2022

Die «Uber-Files» und die akademische Korruption

Quelle      :        INFOsperber CH.

Marc Chesney /   

Mit gut bezahlten Uber-Gutachten blamierten sich Professoren. Das war kein Einzelfall und sollte ein Weckruf sein.

Vor kurzem deckten die Uber-Files auf, dass renommierte Finanz- und Wirtschaftsprofessoren in Frankreich und Deutschland im Jahr 2016 für Uber Berichte verfasst hatten, in denen sie die Verdienste des Unternehmens lobten. Uber würde die Verkehrsanbindung von städtischen Randgebieten fördern und die Produktivität erhöhen.

Es zeugt von einer gewissen Doppelbödigkeit oder sogar von Zynismus, dass die Verfasser der Berichte den Stundenlohn der Fahrer in Höhe von 20 Euro hervorhoben (ohne Berücksichtigung der Versicherungs- und Treibstoffkosten), während sie selbst je 100’000 Euro für diese Lobbyarbeit erhalten haben sollen.

Ganz allgemein ging es darum, die Uberisierung der Wirtschaft zu fördern, was in Wirklichkeit die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen vorantreibt.

Die abgeschirmte akademische Welt der Wirtschafts- und Finanzwissenschaften spielt mit solchen Gutachten und Studien eine entscheidende Rolle bei der Verteidigung von Sonderinteressen. Die Tatsache oder die Hoffnung von Professoren, zusätzliche Honorare von großen (Finanz-) Institutionen zu erhalten, ist Anreiz genug.

Uber ist ein Beispiel von vielen

Die Medien liefern gelegentlich Beispiele dafür. Laut der französischen Monatszeitung Le Monde diplomatique vom Mai 2011 wurde ein renommierter Professor der London Business School vor der Finanzkrise von 2008 großzügig dafür honoriert, einen Bericht über die Glanzleistungen des isländischen Finanzsektors zu verfassen. Bekanntlich gingen in der Folge die drei Großbanken des Landes innerhalb von wenigen Tagen in Konkurs.

Die Spitze des Eisbergs

Diese von den Medien an die Öffentlichkeit getragenen Beispiele sind nur Teil eines Gesamtphänomens und werfen ein grelles Licht auf die Korruption in akademischen Kreisen. Es ist daran zu erinnern, dass die ersten eigenständigen Fakultätsinstitute für Finanzwissenschaft erst in den Achtziger- und Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts entstanden sind. Zu jener Zeit begann der Neoliberalismus mit seinen Deregulierungs- und Privatisierungswellen eine dominierende Rolle zu spielen. Zuvor hatten die wenigen auf diesem Gebiet tätigen Professoren zu den Fakultätsdepartementen für Volks- oder Betriebswirtschaftslehre gehört.

Bankensektor mit radikal neuem Geschäftsmodell

Professoren mit einer herkömmlichen Ausbildung in Volks- oder Betriebswirtschaftslehre konnten auf die neuen Fragen der Finanzinstitutionen keine zufriedenstellenden Antworten liefern. Denn die Finanzinstitute hatten ihr Geschäftsmodell radikal neu ausgerichtet. Die traditionelle Aufgabe der Großbanken, bei der ein Gewinn aus der Differenz zwischen Kreditgeber- und Kreditnehmer-Zins erwirtschaftet wird, war und bleibt ein langsames Geschäft. Dieses traditionelle Geschäft ist für die neuen Bänker Generationen geradezu langweilig.

Aufgrund der Deregulierungs- und Privatisierungswellen einerseits und des technologischen Fortschritts andererseits entwickelten sich weitere Tätigkeitsgebiete, die erhebliche und schnelle Gewinne versprachen. Mit den Aktivitäten der Fusionen & Akquisitionen sowie der Entwicklung riesiger Handelsräume, wo Aktien, Obligationen, Derivate usw. gehandelt werden konnten, entstanden auch neue akademischen Disziplinen rund um die Unternehmensfinanzierung und -bewertung («Corporate Finance»), sowie der Kapitalmarktheorie («Market Finance»). Im letzteren Fall war eine Grundausbildung in Mathematik, Physik oder Informatik häufig nützlicher als ein Abschluss in Wirtschaftswissenschaften.

Zuerst private Business Schools, dann Universitäten

So entwickelte sich schnell eine Casino-Finanzwirtschaft. Die Großbanken erreichten internationale Dimensionen und wurden systemrelevant, sodass sie bei unverhältnismäßigen Risiken und zu großen Verlusten auf staatliche Unterstützung zählen können. Dies alles selbstverständlich im Namen des Liberalismus.

Selbstfahrender Uber-Prototyp in San Francisco.jpg

Es musste daher ein Lehrkörper aus dem Boden gestampft werden, der die zukünftigen Experten auf diesen beiden Gebieten ausbilden konnte. Die Kosten für diese Ausbildungen wie insbesondere der Business Schools, die ursprünglich vielfach der Privatsektor finanzierte, wurden im Rahmen von akademischen Ausbildungen zunehmend der öffentlichen Hand übertragen und somit vom Steuerzahler finanziert.

So werden heutzutage beispielsweise Gelder des öffentlichen Haushalts dazu verwendet, die zukünftigen Manager von Hedgefonds auszubilden. Das Hauptziel dieser Fonds besteht darin, den Superreichen die Möglichkeit zu geben, noch reicher zu werden. Ein Mindestmaß an Anstand würde es erfordern, dass diese privaten Strukturen die besagten Kosten selbst tragen.

Akademische Söldner

Die Großbanken, welche die Schaffung dieses Lehrkörpers vorantrieben, wollten sich bei Bedarf in das Gewand der Wissenschaftlichkeit hüllen können. Sie sehen es beispielsweise gerne, wenn «akademische» Publikationen absurd hohe Vergütungen ihrer Geschäftsleitungen trotz eventuell katastrophaler Leistung «wissenschaftlich» rechtfertigen. Bei Bedarf möchten die betreffenden Finanzinstitutionen über akademische Söldner verfügen können, die sich öffentlich zu ihren Gunsten positionieren, oder über dienstbare Lakaien, die es vorziehen, zu schweigen.

Dies war ein strategischer Schachzug gegen alle, die es wagten, die übermäßig hohen Vergütungen und ganz allgemein die Casino-Finanzwirtschaft zu kritisieren.

In vielen öffentlichen Universitäten, insbesondere in der Schweiz und in Deutschland, werden Finanzprofessoren mit Steuergeldern gut entlohnt. Man sollte erwarten dürfen, dass sich diese Professoren dem Gemeinwohl und den Interessen der Mehrheit widmen, Fehlentwicklungen des Finanzsektors untersuchen sowie auch Lösungen vorschlagen. Es wäre Aufgabe dieser Professoren, die übermäßige Macht des Finanzsektors und die damit verbundene Uberisierung der Wirtschaft aus Sicht des öffentlichen Interesses kritisch zu analysieren.

Doch zu viele richten ihre Lehr- und Forschungstätigkeit nach den Bedürfnissen und Interessen des Finanzsektors aus.

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Eine erste Fassung dieses Artikels hat Le Temps am 19. Juli 2022 publiziert.

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Oben      —    Taxi mit Anti-Uber Banner bei einem Protest in Mexiko-Stadt, übersetzt als „Wenn Villa [vermutlich Pancho Villa] leben würde, wäre Uber nicht hier“

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Das Klima ist nicht prima

Erstellt von Redaktion am 4. Oktober 2022

Das Klima braucht keinen Schutz

Quelle        :      Scharf   —   Links

Von Knarx

Klimaschutz klingt nach einer Wohltätigkeitsveranstaltung. Dem Klima ist nicht unwohl. Uns Menschen wird es zunehmend unwohl, bis zum Aussterben.

Es ist nicht aus den Köpfen zu kriegen: Klimaschutz ist ein Kostenfaktor, fossile Energiegewinnung und ungebremste Materiealumformung (Produktion von Konsumgütern) bringen Gewinn und sind positive Wirtschaftsfaktoren. Das ist die bittere Dummheit eines Wirtschaftssystems, dessen zentrale Wirkmechanismen aus unendlichem Wachstum und privater Aneignung des Mehrwertes besteht. Derweil predigen tausende von Wissenschaftlern den Untergang der menschlichen Zivilisation, wenn nicht umgehend drastische Maßnahmen ergriffen werden. Angenommen, die Menschheit würde von einer außerirdischen Intelligenz beobachtet, müsste das Urteil zu der selbsterhaltenden Vernunft der dominanten Lebensform auf unserem Planeten verheerend ausfallen.

Vielleicht käme es auch zu einer galaktischen Ausschreibung, mit dem Ziel, dieses, offensichtlich selbstmörderische Verhalten zu erklären. Politische Diskurse sind eigentlich dazu da, solche Dummheiten zu entdecken und kritisch zu beleuchten. Dass das nicht zu funktionieren scheint, wird nun seit über einhundert Jahren vornehmlich von politisch links verorteten Menschen beklagt. Die Erklärungen reichen von den „goldenen Ketten“ der Menschen in den industriellen Zentren diese Welt, über mangelhafte Bildung anderen Orts, bis hin zu verschwörungstheoretischen Konstruktionen, die geheimnisumwitterte, hintergründig arbeitende Organisationen verantwortlich machen.

Das Schlimme ist: Alles davon stimmt und nichts davon ist wahr. Die Wahrheit scheint mir viel trivialer. Es wird schlicht nicht darüber geredet und schon gar nicht geschrieben – weil, ja weil es nicht interessiert. Diese Behauptung klingt vielleicht ein wenig „steil“ , daher will ich sie in den folgenden Zeilen grob erläutern.

Uns allen ist, seit frühester Jugend erklärt worden, wie Wirtschaft funktioniert. 1948 hat in Deutschland jeder Erwachsene Mensch mit 40 DM Startkapital das „Wirtschaftswunder“ geschaffen. Dabei konnten alle durch Leistung reich werden. Wir wissen, dass das Blödsinn ist und die Kapitalbesitzenden des Tausendjährigen Reiches ohne Probleme auch zu den Kapitalbesitzenden der Bundesrepublik wurden.

Die Ansammlung von Reichtümern unter Nutzung der beispiellos brutalen Bereicherungsmethoden der Nazis (Zwangsarbeit, Enteignung jüdischen Eigentums, Raub durch Krieg …) blieben ebenfalls erhalten. So what. Es hat offenbar nicht gestört, selbst nach dem Erlebnis des Zweiten Weltkrieges, dem Genozid an den europäischen Juden, dem Tod von 60 Millionen Menschen nicht. Aus der Wahrnehmung, das alles könne doch nicht gerecht sein, ist jedenfalls nicht das Motiv entstanden, irgendetwas an dieser Form des Wirtschaftens zu verändern. Nun steht, als Folge desselben Wirtschaftssystems, die Zivilisation auf dem Planeten zur Disposition.

Wieso erwarten wir jetzt, im Vergleich zu einem soeben verlorenen Krieg mit Millionen Opfern, darunter auch eigene Kinder, Ehepartner und andere, weitläufigere Verwandte, angesichts einer Katastrophe mit zwar planetarer Auswirkung, aber, da noch nicht vollständig geschehen und allenfalls in einzelnen Vorkommnissen sichtbar, mit individuell kaum bemerkbaren Wirkungen, ein Einsehen und die richtigen Schlussfolgerungen? Es wäre ein Wunder, wenn es so käme. Zumal bisher vor allem die sterben und leiden, die es in der Geschichte des globalen Kapitalismus schon immer traf und von deren Arbeit und Naturschätzen wir schon immer profitierten. Zunächst mit den ersten Bananen im Kolonialwarenladen und dann mit dem Drittwagen für die Familie, in dessen Akku die Bergbauarbeit von 10 jährigen Kindern aus dem Kongo steckt.
Linkspolitisch wird gerne darauf verwiesen, dass Ausbeutung und Planetenzerstörung von den Wenigen verursacht und von den Vielen erlitten wird.

Das ist eine sehr romantische Darstellung, die vermutlich vom Narrativ des nur Guten gegen das nur Böse beeinflusst ist. In der Realität sind die Leiden einer prekär Beschäftigten in der BRD nicht ganz vergleichbar mit denen einer kongolesischen Bergarbeiter-in. Wenn nun also den bessergestellten, abhängig Beschäftigten in unserem Land, der mögliche Verzicht auf unbegrenzten Fleischverzehr, unbegrenzte Plastikverwendung, unbegrenzte individuelle Mobilität unter Mitführung von 2,5 t Blech und sogar begrenzte Urlaubsreisen mit einem Flugzeug in Aussicht gestellt wird, dann wird das Verantwortungsgefühl für den Planeten und dessen ärmere Bewohner-innen wohl auf einen Wert jenseits der Messbarkeitsgrenze schrumpfen.

Die Bereitschaft, den simplen Satz verstehen zu wollen, dass auf einem begrenzten Planeten kein unbegrenztes Wachstum möglich ist, wird eher noch geringer sein. Die bequemste Lösung für ein gestresstes Menschenhirn dürfte genau die sein, die wir beobachten: Verdrängen, nicht wahrhaben wollen, ignorieren, umwerten – und was so einem Hirn noch alles an Strategien zur Ausblendung der Realität einfällt. Damit sind wir auf dem Niveau der Einwohner der Osterinsel angekommen, die ihre Lebensgrundlage so konsequent zerstört haben, dass sie ausgestorben sind.

Bis es soweit war, haben sie die letzten Bäume gefällt, um ihren Häuptlingen und Mächtigen zur Ehre, riesige Moai – Köpfe zu transportieren und aufzurichten. So verhalten wir uns ebenfalls. Wir wählen weiter Parteien, die sich sogar damit brüsten, unseren zum Wohlstand unerklärten Wahn, dass Verbrauch glücklich mache, auch weiterhin die Treue zu halten. Wir ignorieren ohne Bedenken jede Grenze, solange ihre Überschreitung nicht am eigenen Körper Schmerzen hervorruft. Diese seltsame Verhaltensweise hat Jared Diamond in seinem Buch „Kollaps“ recht vollständig beschrieben (ISBN -10:3596167302 / Fischer Verlag).

Das sind die Gründe, warum es bis heute nicht möglich ist, die unbegrenzte Wachstumsidiotie, oder die völlig inadäquate Idee, mit marktwirtschaftlichen Interventionen der Klimakatastrophe begegnen zu können als dass zu erkennen was sie sind: lebensgefährliche Illusionen. In der gewohnten Ordnung ist die Natur unbegrenzte Ressource und das Glück liegt in unbegrenztem Konsum. Demokratie in ihrer parlamentarischen, uns vertrauten Form, ist aufgrund der innewohnenden Korruption (der Begriff Lobbyismus ist ein Euphemismus) der gewählten Politiker und der quasireligiösen Glaubenssätze eines neoliberalen kapitalistischen Weltbildes, nicht fähig dieses Diktum zu überwinden. Damit will ich sagen: Wundert euch nicht, es ist alles beim Alten.

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Oben      —     Karikatur von Gerhard Mester zum Klimawandel

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Zur Not auch ein Atomkrieg?

Erstellt von Redaktion am 1. Oktober 2022

Was für „unsere Werte“ alles sein muss

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Ein Kommentar von Renate Dillmann

Nach etwas mehr als sechs Monaten Ukraine-Krieg haben sich alle an die Fakten und die dazu gehörenden „Narrative“ gewöhnt – was sie nicht richtiger macht.

Es gibt einen weiteren Krieg. Der ist unerträglich, im Gegensatz zu sonstigen Kriegen. Während normalerweise die USA, „wir“ oder unsere guten Verbündeten die Welt befrieden und ordnen – in Ex-Jugoslawien, im Irak, in Afghanistan, Libyen, Syrien, Gaza, Jemen oder sonstwo – wird dieser Krieg nämlich von Russland geführt. Deshalb ist er „brutal“, ein „Angriffskrieg“ und „völkerrechtswidrig“.

Dieser Krieg und das ganze Leid der ukrainischen Bevölkerung muss aufhören. Putin hat nämlich kein Recht, ihn zu führen. Der Krieg dient auch keinen Interessen, die „wir“ irgendwie nachvollziehen könnten, sondern ist einfach eine Ausgeburt des Bösen oder eines irren Machtwillens. Dass unsere Nato sich nach Osten erweitert hat, sind fake news. Russland ist da etwas überempfindlich nach zwei Weltkriegen, aber das muss man nicht so ernst nehmen. Dass es einen westlichen Aufmarsch mit entsprechenden Militärmanövern von Litauen bis Rumänien gibt, entspricht dagegen dem Sicherheitsbedürfnis dieser Länder, das wir sehr ernst nehmen.

Aufhören muss der Krieg allerdings zu unseren Bedingungen und die heißen „freie Ukraine“. Die Volksrepubliken, die Putin „befreien“ will (dieser Mann nimmt sich wirklich was raus! klaut sogar unsere Propaganda!) gehören nunmal zu einer freien Ukraine – egal, wie die Menschen das in Luhansk und Donetzk sehen nach dem von den USA finanzierten und orchestrierten Putsch gegen die gewählte Regierung. Und nach 8 Jahren Krieg ihrer Kiewer Zentrale mit 15.000 Toten. Einem Kompromiss in diesen Fragen kann der wertebasierte Westen wegen seiner Werte nicht zustimmen – da muss die Bevölkerung dort und im Rest der Ukraine schon weiter leiden. Die Krim muss übrigens auch zurückerobert werden. Ein separatistisches Referendum widerspricht nämlich dem Völkerrecht. Außer im Kosovo, im Südsudan und demnächst in Taiwan.

Frieden schaffen in der Ukraine heißt für „uns“ und unsere Werte deshalb: Lieferung von Waffen. Waffen, schwere Waffen, noch mehr schwere Waffen. Wieviel Milliarden inzwischen? Wer kann da noch mitzählen? Wer daran erinnert, dass damit der Krieg verlängert, die Zahl der Toten erhöht, die Ukraine mehr und mehr zerstört wird, verhält sich unsolidarisch mit den Helden, die für „unsere“ „Freiheit“ kämpfen. In der freien Ukraine kommt man für diese Äußerung sofort in den Knast; im freien Deutschland vorläufig nur auf die Liste der Vaterlandsverräter und Putinversteher.

Datei:Moscow 2012 Victory Day Parade Rehearsal, Topol-M ICBM launcher, Russia.jpg

Wenn Putin „uns“ jetzt daran erinnert, dass die fortlaufenden Waffenlieferungen und die westliche Hochrüstung der Ukraine zur drittstärksten Armee in Europa ein Angriff des Westens auf die russische Souveränität sind und er bereits zu Beginn des Kriegs darauf aufmerksam gemacht hat, dass sein Land über Atomwaffen verfügt, heißt das nur eins: dass Russland auf dem letzten Loch pfeift. Unsere Annalena bleibt standhaft: Die russische Atombombe ist ein Papiertiger. Kein Grund, eingeschüchtert zu sein. Kein Grund, über Kompromisse oder Verhandlungen nachzudenken. Das Volk mal fragen, wie es über Inflation und Bedrohungslage denkt? Auf keinen Fall – das wäre extrem populistisch, sprich undemokratisch. Schließlich hat es gewählt und die Regierung muss jetzt tun, was sie tun muss, egal was ihre Wähler denken.

„Wir“ (hier: die gewählte Regierung) halten also an „unserem“ Wirtschaftskrieg, den man im freien Deutschland nicht so nennen darf, und „unseren“ Waffenlieferungen fest – komme was wolle, „wir“ (hier: das Volk) haben schließlich schon Schlimmeres durchgestanden. Und unsere besten Freunde, die USA, können sich eine Drohung mit Atomwaffen durch Russland nicht bieten lassen – das würde ihre finale Oberhoheit über die Welt einschränken. Also ja: zur Not auch ein Atomkrieg!

PS: Wenn der Wirtschaftskrieg dazu führt, dass die Nahrungsmittel-Produktion auf der Welt nach unten kracht, weil Russland und Belarus bisher 20 Prozent der Düngemittel hergestellt haben, ist das bedauerlich, aber leider nötig. Auch wenn die UN dagegen ist. Die Hungerleider der Dritten Welt, die people of colour, denen wir unseren ganzen Respekt entgegen bringen, werden sich „trotz“ all unserer Entwicklungshilfe die Nahrungsmittel auf unserem schönen, regelbasierten Weltmarkt nicht mehr kaufen können – dumm gelaufen. Aber schuld daran an der laufenden wie der kommenden Hungerkatastrophe ist ja sowieso „der Russe“, „wir“ sollten uns von Horrornachrichten an dieser Front nicht beirren lassen.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben      —     Berlin-Mitte, Rathausstraße / Nikolaiviertel mit Friedenstaube nach Picasso

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 28. September 2022

Oktoberfest und Exzess: Zu Hause sitzen ist auch keine Art

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Ariane Lemme

Das Oktoberfest hat bei vielen einen zweifelhaften Ruf. Aber es ist ein guter Ort, um zu checken, dass Gaudi nicht zur Abgrenzung gegen andere taugt.

Erinnern Sie sich noch? „Die Welt nach Corona wird eine andere sein“, hieß es. Und ich war vermutlich nicht die Einzige, die das mit einem wohligen Gefühl von Hoffnung geglaubt hat. Zwei Jahre Verzicht und Verlangsamung müssen doch ein bisschen Besinnung bewirken können – klima- und sozialpolitisch, oder? Hinter der Entschleunigung, den Grenzerfahrungen musste doch das große Ganze: Solidarität, Mitgefühl, umso heller einleuchten.

Mich haben die Lockdowns an das erinnert, was wir in der 9. Klasse unseres bayerischen Gymnasiums Besinnungstage nannten: eine Woche in einem alten Kloster, wo wir uns in gruppendynamischen Spielen emotional ein bisschen nackig machen mussten. War natürlich super anstrengend und peinlich, aber tatsächlich waren wir als Klasse nachher ein Team, keine Cliquen mehr.

Gut, wir hatten natürlich Glück, dass mein Freund M. beim Kiffen nur beinahe aus dem Fenster des dritten Stocks gefallen ist. Weil aber alles gut ging, sind selbst schüchterne Leute wie ich ein bisschen größer nach Hause gegangen.

Aber hey, die Welt ist kein bayerisches Gymnasium – und deshalb nach Corona genau wie vor Corona. Herbstsonnenklarer als jetzt kann es gar nicht sein, denn derzeit läuft die erste Wiesn aka Oktoberfest nach der Pandemie. Und klar läuft der „Mein Exzess ist besser als deiner“-Contest schon seit Wochen auf Hochtouren.

Ist die Wiesn Abschaum?

Denn wir können uns zwar weder auf einen vernünftigen Umgang mit Putin, ordentliche Waffenlieferungen an die Ukraine, Unterstützung für die Frauen Irans, die ihr unterdrückerisches Kopftuch ablegen wollen (und dafür sterben), eine faire Gasumlage und schon gar nicht auf ein bisschen echten Verzicht fürs Klima (oder auch: unser Überleben) einigen, aber darauf: Die Wiesn ist nicht Bier-, sondern Abschaum. Da werfen sich Menschen in seltsame Kostüme und tun unter Einfluss von Drogen enthemmte Dinge, pfui. Ganz anders als beim Karneval oder im Berliner Kitkat-Club, klar.

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Ich will nichts beschönigen und schon gar keine Verbrechen rechtfertigen. Sexuelle und gewaltvolle Übergriffe sind genau das: Verbrechen, und niemals einfach Kollateralschäden von Exzess. Rassistische und sexistische Lieder, Sprüche haben nirgends etwas verloren auf keiner Party, zu keiner Zeit. Das ist doch auch klar.

Aber es ist auch lächerlich, so zu tun, als wäre all das Alleinstellungsmerkmal der Wiesn und nicht überall zu finden: in Fußballstadien, beim Karneval, beim Spring Break. Macht es das besser? Rechtfertigt das irgendwas? Nö. Aber es ist halt so: Der Zustand der Welt zeigt sich am deutlichsten da, wo viele Menschen aus verschiedenen Blasen zusammenkommen. Und siehe da: Die Welt ist schlecht.

Steckerlfisch und Kotze

Aber zugleich auch schrill, bunt und aufregend. Manchmal riecht sie nach gebrannten Mandeln, manchmal nach Steckerlfisch und Lebkuchen, manchmal nach Kotze. Gut, in Berlin meist nach Hundescheiße, aber auch das gehört halt dazu.

Quelle         :       TAZ-online           >>>>>           weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Heiße Wut auf kalten Winter

Erstellt von Redaktion am 25. September 2022

Kalte Wut macht keinen warmen Winter

Datei:Konstanz im Schnee 2006.jpg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von     :     Mag Wompel

Wie schon die Hartz-Proteste die „leistungskonforme Sozialpolitik“ nicht verhindern konnten.

Zu Recht ist breit die unstrittige Notwendigkeit von sozialen Protesten gegen die (mal wieder) einseitige Abwälzung der Kosten der Profit-Preis-Spirale nicht nur im Energiesektor Thema. Richtig und wichtig sind dabei Überlegungen um die Protestformen, will mensch einerseits möglichst viele der ausnahmslos betroffenen Lohnabhängigen einbinden, dabei andererseits deren abzuschreckenden Vorab-Diffamierungen trotzen und sich dabei von rechten Mobilisierungen distanzieren. Zu kurz gerät dabei die Diskussion der bei den Protesten zu stellenden Forderungen, dabei können die richtigen Ziele den wirksamsten antifaschistischen Schutzwall darstellen und für ihre nicht nur ökologische Nachhaltigkeit sorgen.

Das, was wir gerade erleben und erleiden ist nichts Neues, mögen es auch neue Gründe sein, warum „wir“ den berühmten Gürtel enger schnallen sollen (#Opferbereitschaft!). Natürlich verkürzend erinnere ich aus der jüngsten Vergangenheit an die – durchaus stattgefundenen – Proteste gegen die Hartz-Gesetze (2004/05), die Finanzkrise (2007ff), die „Flüchtlingskrise“ und Festung EU (2015ff) und seit 2 Jahren die Corona-Pandemie. Gemeinsam ist diesen Bewegungen, dass sie für uns linke Menschen das Problem beinhalteten, sich gegen rechte Okkupierungen zu wehren. Und ihre Erfolglosigkeit. „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ war dabei der Grundtenor – doch erst wurden dennoch (zu Lasten gesellschaftlicher Daseinsvorsorge) die Banken gerettet, dann die Pandemiegewinner, nun die Energiekonzerne…

Lange habe ich übrigens als (leider durchaus verdiente) Beleidigung empfunden, dass die Politik den Respekt vor uns Bürger:innen verloren hat, uns wenigstens anständig zu belügen. Diese Offenheit hat allerdings den nun offensichtlichen Vorteil der immer breiteren Desillusionierung.

Erfreulicherweise gibt es breite Wut darüber, wie offensichtlich ausgerechnet die armutsbetroffenen Menschen die Zeche zahlen sollen für immer brutalere Folgen der jahrzehntelangen Politik der Umverteilung und Gewinnsicherung zugunsten des Kapitals und zu Lasten der Gesellschaft, ihrer Infrastruktur wie der Umwelt. Es ist breite und berechtigte Empörung über verletztes Gerechtigkeitsempfinden zu spüren.

Doch wer sich nur moralisch empört und höchstens für gerechtere Behandlung des „kleinen Mannes“ oder gar “ sozial Schwacher“ protestiert (und diese Titulierung akzeptiert), wird sich nicht wundern dürfen, mit einer kurzfristigen Befriedung abgespeist zu werden, die schlimmstenfalls eine „gerechte“ Angleichung nach unten darstellt und keinesfalls die andauernde Umverteilung von unten nach oben tangiert. An den drängenden sozialen Unzumutbarkeiten und dramatischen Umweltfolgen werden und können auch 100 Euro von den 100 Milliarden nichts ändern.

Daher ist es richtig und wichtig, dass nun eine Debatte stattfindet, wie die Proteste dieses Mal erfolgreicher gestaltet werden können – egal ob gegen Gasumlage, drohende Obdachlosigkeit oder für die Fortführung des 9-Euro-Tickets etc. (ich verzichte hier auf Beispiele und verweise auf die Berichterstattung im Labour Net Germany in den diversen Dossiers).

„Erfolgreicher werden“ wird dabei meist mit der wachsenden Größe der Proteste gleichgesetzt. Zwangsläufige Folge ist die – durchaus gesehene – Gefahr, dass ein linker Populismus sich an rechte Mobilisierungsstrategien der einfachen (und durchaus berechtigten) „Wut auf die da oben“ annähert. Schon hat sich der Hashtag #Wutwinter (leider) durchgesetzt…

Übrigens sollten wir Linke (ich meine damit immer die Bewegung) selbstbewusster werden und aufhören, unsere Forderungen daran zu messen, ob sie denen der Nazis gleichen – was sie wollen, wollen sie immer nur für sich, teutsche. Wofür wir kämpfen, sollten wir für alle wollen und nicht nur hier.

Doch die Erfahrungen der Proteste gegen die Hartz-Gesetze haben bereits auch gezeigt, dass „in die Breite gehen“ bedeuten kann, für kosmetische Linderungen auf wesentliche Veränderungen der Politik zu verzichten. Denn diese setzen auch Veränderungen in den Köpfen (und im Verhalten) der betroffenen Bevölkerungsteile voraus.

Am Scheitern der Proteste gegen die Hartz-Gesetze, die die Sozialpolitik endgültig ökonomisiert haben, war nicht die mangelnde Masse schuld. Es war die breit verankerte Ideologie der „Leistungsgerechtigkeit“, die durch latente Akzeptanz des Menschenbildes der Agenda 2010 dem Widerstand das Genick gebrochen hat. Ich erlaube mir, meine eigene Kritik von 2005 zu zitieren (Mag Wompel: Vom Protest zur Revolte?):

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Vertrauen auf die – welche alles versauten(verkauften) ?

„… die bei vielen der Montagsdemos verbreitete Kritik an Hartz IV, nach Jahrzehnten des Buckelns und nach nur 12 bzw. 18 Monaten auf das Sozialhilfeniveau zu fallen, bezeugt ein für Spaltungen und Sozialneid anfälliges Gerechtigkeitsverständnis. Anstatt diesen Versicherungsbetrug als solchen anzuprangern – wie auch die Tatsache, dass Sozialversicherungen allgemein durch die zunehmende Privatisierung der Lebensrisiken zu verdeckten Steuern verkommen – grenzt man sich vielmehr von als »Schmarotzern« empfundenen Sozialhilfeempfängern ab, während es (im Gegensatz zu den Angriffen auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) jahrzehntelang nicht kümmerte, dass sie längst unter der Hartz’schen Verfolgungsbetreuung litten und ihre Grundsicherung kontinuierlich gekürzt wurde. Diese an den Sozialhilfeempfängern erprobten Maßnahmen wurden erst als menschenunwürdig erkannt, als es auch die Menschen betraf, die sich bislang fernab und als »bessere Gesellschaftsmitglieder« wähnten. »Ein diskriminierendes, verarmendes, repressives System wird angeklagt, weil es einen selbst trifft – ein interessantes Phänomen, das allerdings in dieser Gesellschaft voller Untertanen zum gängigen Bewusstseinsrepertoire gehört.« Dieser Haltung müssen wir unbedingt eine solidarische entgegensetzen, bevor uns die andauernde Massenerwerbslosigkeit weitere Spaltungen beschert. (…)
Als die größte Klippe für wirksame einheitliche Proteste und den Widerstand gegen die Hartz-Gesetze hat sich die breite Akzeptanz des Leistungsprinzips und der Lohnabhängigkeit als einziger Quelle der Existenzsicherung erwiesen. Dies gilt für die Gewerkschaftsbürokratie gleichermaßen wie für die meisten der (noch?) beschäftigten wie erwerbslosen Lohnabhängigen selbst. (…)
In dieser gewollten Konzentration auf das Notwendige, auf die blanke Existenz, sollen wir alle Hoffnungen und Träume von Menschenwürde, Luxus und Muße vergessen. Denn die Praxis von Hartz und Agenda 2010 heißt Entwürdigung: um den Job zu bekommen oder um ihn zu behalten. Grundrechte als unveräußerliche, also auch »unverdiente« werden abgeschafft, denn »nichts ist umsonst«. Neben dem ökonomischen Elend, das dadurch keinesfalls vernachlässigbar wird, muss auch dieses kulturelle Elend in den Blick geraten, wenn Protest und Widerstand nicht nur bloße Abwehr, sondern auch ein wirklich besseres Leben bewirken sollen. Denn bloß den schon immer repressiven Sozialstaat verteidigen zu wollen, beließe uns in der Defensive und überließe uns permanent erneuten Zumutungen und Angriffen
…“

Es ist traurig, die Kritik aus aktuellem Anlass wiederholen zu müssen. Denn der immer noch breit vorhandene Glaube an die prinzipielle „Leistungsgerechtigkeit“ auch bei durchaus breiter Kritik an der „neoliberalen“ aktuellen Politik mag zwar viele aus der berühmten „Mitte“ gegen das verletzte moralische Empfinden auf die Straße locken. Aber mit „Leistungsgerechtigkeit“ wird genau diese Politik gerechtfertigt. Die Spaltung der Belegschaften, die Spaltung in den Sozial-, Kranken- und Rentensystemen. Die Spaltung in „faule“ Arme, Erwerbslose und „Leistungsträger der Gesellschaft“ – die nicht erst Lindner betreibt. Und nicht zuletzt legitimiert die „Leistungsgerechtigkeit“ die Ausgrenzung nicht „verwertbarer“ Migrant-innen, wie sie CDU/CSU nicht erst seit 2014 betreibt und sie gerade eben in Freiburg in der Ausweisung einer Pflegekraft mündet. Überhaupt können nicht nur Pflegekräfte belegen, wie verlogen „Leistungsgerechtigkeit“ gerade bei „systemrelevanten“ Berufen buchstabiert wird…

Will ein berechtigter Protest daher nicht nur zum Dampfablassen (womöglich auch nur am Stammtisch) dienen, darf er nicht bei (moralischen) Forderungen nach „Gerechtigkeit“ stehen bleiben, schon gar nicht, wenn sie lauten, dass AUCH die Reichen sparen sollen.

Natürlich ist alles richtig, vom Abschiebestopp über Lohnerhöhung, Mieten- und Gaspreisdeckel, Anhebung aller Sozialleistungen bis zur Übergewinnsteuer und Wiedereinführung der Vermögensteuer usw.

Doch so wie bei der Umbenennung von Hartz IV in Bürgergeld eine höhere Grundsicherung die größte Not lindert, doch keinesfalls gleichberechtigte Bürger-innenrechte sicherstellt, ist eine Gaspreisbremse (bzw. Gaspreisdeckel) nur der kurzfristige Tropfen auf dem heißen Stein gegenüber der notwendigen Enteignung und Vergesellschaftung nicht nur der Immobilien- und Energiekonzerne, sondern aller Bereiche der Daseinsvorsorge, der gesamten sozialen Infrastruktur. Durch Gemeingüter unter gesellschaftlicher Kontrolle ließen sich auch die Lehren der Pandemie und die Notwendigkeiten der Klimakatastrophe verbinden.

Und, ja, natürlich kommen wir um die Überwindung des Kapitalismus nicht vorbei. Die weltweite ökonomische Entwicklung seit Beginn des Ukraine-Kriegs stellt sich zunehmend als eine Systemkrise dar und es gibt bereits wachsende Kritik – hatten wir schon 2007ff selbst in bürgerlichen Feuilletons… Um diese Kritik in richtungsweisende Forderungen zu lenken, müssen wir Linke eine erotischere Vision liefern (und vorleben), als „gleiches Elend für alle“, wie sozialistische Ideen breit übersetzt werden.

Auch das „richtige“ Fordern allein ändert natürlich nichts, auch wenn die Höhe der Tarifforderungen z.B. schon einiges über die Kampfwilligkeit aussagt. Aber so, wie ich immer die Forderung nach einem BGE als „trojanisches Pferd“ für die Loslösung vom „Fetisch Lohnarbeit“ bezeichne, können Forderungen nach Entprivatisierung der gesellschaftlich relevanten Wirtschaftsbereiche ein Ende des Kapitalismus denkbar und verlockend machen – und zugleich Nazis und ihre Mitläufer-innen abschrecken.

Und: Noch vor dem Ende des Kapitalismus muss das Recht auf soziale bedingungslose Grundrechte und Infrastruktur breit als notwendige und machbare Selbstverständlichkeit verankert werden, sonst wird das neue System kein emanzipatorisches. Auch deshalb droht die Selbstbeschränkung auf aktuelle, die Not bloß lindernde Forderungen ohne diese Basis möglichst vieler lohnabhängiger Menschen, die sich an den Grenzen des kapitalistischen Systems reiben, die Emanzipation zu behindern.

Offensichtlich (doch!) breit bestehende Bedürfnisse nach einer gerechten und solidarischen Gesellschaft müssen daher alltäglich – so weit wie möglich – gelebt werden und nicht nur wöchentlich gefordert. Solidarisch zur Seite und nach „Unten“, respektlos nach „Oben“ – ich nenne es bisher „Linkssein im Alltag“ – es muss ein breit gelebtes „Menschsein im Alltag“ werden. Erst wenn der Protest auf der Straße die Krönung und keinen bloßen Puffer darstellt, hat er das Potenzial, wirksam und nachhaltig zu werden.

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Oben      —        Konstanz, Deutschland, im März 2006

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2.) von Oben          —       Franz Müntefering (l.) und Gerhard Schröder (r.) bei der Abschlusskundgebung im Bundestagswahlkampf 2005 in Frankfurt am Main

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Queen – Trauer auf Twitter

Erstellt von Redaktion am 21. September 2022

Die Queen ist ein Relikt, das für eine alte Ordnung und durch Geburt festgelegte Hierarchien steht.

Ähnlich dem Kölschen Karneval nur ohne Kamelle 

Ein Schlagloch von Jagoda Marinic

Traurig, wie viele sich offenbar danach zurücksehnen. In diesem Moment können die Privilegien eines Einzelnen ihn nicht mehr aus der Schlange mit allen anderen freikaufen.

The Queen and the Royals are not my cup of tea. Sie sind mir etwa so gleichgültig wie ich ihnen, nur kriege ich leider mehr über sie mit. Diese Haltung hab ich wohl von meinen kroatischen Verwandten. Mein Lieblingsonkel etwa kommentiert die Tode berühmter Menschen, die gesund ins hohe Alter kamen, immer nur mit einem Satz: „Ein gesegnetes Leben.“ Bei der Queen fügte er mit einem Augenbrauenziehen den folgenden hinzu: „Vor dem Tod sind alle gleich.“ Als ich versuche, mit ihm über die Queen zu reden, sagt er: „Sie würde über mich auch nicht reden und schon gar nicht weinen.“

Es ist die Selbstbezogenheit eines alten Mannes, der jahrzehntelang darum gekämpft hat, sich ein wenig Status und Besitz zu erarbeiten, bis sein Körper zu müde für fast alles wurde und er nur noch schildkrötenartig im Schatten an seinem Esstisch sitzt. Ich mag seinen sturen Stolz. Und selten waren mir die Briten so fremd wie in diesen Tagen.

Vor dem Tod sind alle gleich, das ist auch der Satz, den ich automatisch denke, als ich die Nachricht vom Tod der Queen lese, weil er der Satz ist, den meine alten Verwandten nach dem Tod der Reichen und Berühmten immer sagen. Und wie sie ihn sagen! Ich sehe, wie sie leise aufatmen in solchen Momenten, vor allem, wenn jemand mit gesunden 96 Jahren stirbt. Es ist das Aufatmen von Menschen, die immer in der zweiten, dritten oder vierten Reihe standen, weil es ihn wirklich gibt, diesen Moment, in dem die unvorstellbaren Privilegien eines Einzelnen ihn nicht mehr aus der Schlange mit allen anderen freikaufen können.

Durch das Sterben der Queen wurde aber auch schnell klar: Vor dem Tod sind alle gleich, doch nach dem Tod sind wir es wieder nicht. Über Tage zieht sich das Trauern, eine der längsten Warteschlangen in der Geschichte der Wartschlangen, um der Queen die letzte Ehre zu erweisen, die mediale Dauerpräsenz, die darin gipfelte, das königliche Begräbnis auf ARD und ZDF zu senden, als wollte man selbst für eine Zusammenlegung der beiden plädieren. Tagelang. Abschied von der Queen, die Queen als junge Frau, die Queen als Königin, nichts als Überhöhung – man nannte es Würdigung.

Ich finde kollektives Trauern auf Twitter ohnehin schwierig, die digitale Trauerpalette von „R.I.P. (mit Foto darunter)“ bis hin zu „Mein unvergesslicher Moment mit der Queen … (bestenfalls Foto darunter)“ ist mir peinlich. Nie bin ich mir und sind mir andere fremder, als wenn auf Twitter getrauert wird. Nach dem Tod der Queen aber krochen royale Tiefenschürfer aus den Löchern, sie prahlten mit ihren Titelkenntnissen, korrigierten die Fernsehmoderatorinnen, wenn sie höfische Namen falsch übersetzten, kommentierten stundenlang die stundenlangen Fernsehübertragungen, als ginge sie das alles wirklich etwas an. Freunde des Hofes einigten sich meist schnell auf den Hass gegen Meghan (Herzogin von Sussex, nicht mehr Markle), weil die Queen sie angeblich nicht ertragen habe. Einige Schwarze, die es nicht ertrugen, wie man die Schattenseiten des Commonwealth zurückstellte, wurden als pietätlos gescholten, sie ließen die Queen nicht in Ruhe sterben.

Welch Schande das Scheiben spiegeln, viele der anwesenden Politiker-innen mussten doch ihr Gesicht zeigen.

Müssen sie das wirklich? Wenn es um Pietät geht, wo bleibt sie bei den namenlosen Opfern der Geschichte? Wer erweist deren Familien die letzte Ehre? Warum ist es für viele so unerträglich, wenn Menschen schreien: Ihr trauert um die Privilegiertesten, während täglich Menschen sterben, die euch gleichgültig sind? Nein, so ein Aufschrei sei zu billig, zu plakativ! Als wäre das königliche Protokoll nicht plakativ und als hätten Menschen nicht trotz allem das Recht, die Welt, wie sie ist, von Grund auf infrage zu stellen.

Feuilletonisten schreiben dann schnell mal einen Text über die populistischen Züge der Monarchiekritik. Besserwisserei sei das. Ich frage mich, wie solche Leute sich das 21. Jahrhundert vorstellen und ob es in ihren Augen okay war, dass im letzten Jahrhundert einige Besserwisser es geschafft haben, die absolutistischen Herrscher zu stürzen und der Demokratie den Weg zu ebnen? Ist es nicht ein legitimer Wunsch, dass man im 21. Jahrhundert den nächsten Schritt gehen und auch die konstitutionelle Monarchie beendet sehen möchte? Im aktuellen Geschäftsjahr erhielt das britische Königshaus 86,3 Millionen Pfund – man muss sich das nicht leisten wollen.

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Oben     —       Königin Elizabeth II Beerdigung 19 09 2022-69.jpg

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»Biolabs«-Desinformation

Erstellt von Redaktion am 21. September 2022

So schafften es Putins Lügen bis in den Bundestag

Wer war hier der Mund und wer das Ohr

Eine Kolumne von Christian Stöcker

Russland investiert Hunderte Millionen Dollar, um Politik zu beeinflussen – auch in Europa, auch in Deutschland. Eine aktuelle Fallstudie zu Moskaus Propaganda zeigt: Das ist nur die Spitze des Eisbergs.

»Der Kreml und seine Mittelsleute haben diese Mittel in dem Bemühen zur Verfügung gestellt, andere politische Öffentlichkeiten im Sinne Moskaus zu beeinflussen.«

Das US-Außenministerium in einer Zusammenfassung von Geheimdiensterkenntnissen (2022)

»Diese Leute repräsentieren nicht den Staat. Das ist eine Angelegenheit von Privatpersonen, nicht des Staates.«

Wladimir Putin kommentiert die »Trollfabrik« seines Handlangers Jewgenij Prigoschin bei einer Pressekonferenz mit Donald Trump in Helsinki (2018)

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 21. September 2022

Putin, Queen und AfD: Unanständiger Umgang mit anständige Distanz

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Hasnain Kazim

Russland hat Politiker gekauft, beim Tod der Queen gibt es Grenzen des Sagbaren und die AfD zieht Pimmel-Pfeile zurück. Zeit, über Anstand zu reden.

Ich klinge jetzt wie ein pensionierter Oberstudienrat, aber wir müssen über Anstand reden! Darüber, was sich gehört und was nicht. Gerade in dieser von Unanständigkeiten geprägten Woche gab es dazu mehr als genügend Anlässe. Also, ich bin ja ein Freund des Prinzips, dass Politiker ordentlich bezahlt werden, damit sie frei von persönlichen wirtschaftlichen Interessen Politik machen können. Man könnte meinen, Politiker in westlichen Demokratien bekommen so viel Geld, dass sie sorgenfrei leben können. Dass sie also nicht bestechlich sind.

Nun ist aber die Gier bei Menschen unterschiedlich ausgeprägt, und auch Wladimir Putin weiß das. Aus einem Gutachten der US-Geheimdienste geht hervor, dass der Kreml seit 2014 mindestens 300 Millio­nen Dollar an Politiker in mehreren Staaten bezahlt hat, um sie zu einer russlandfreundlichen Agenda zu treiben. Mit anderen Worten: Putin hat sich Politik in seinem Sinne gekauft. Nun wurden zwar keine Länder genannt, aber sollte Deutschland dazugehören, fielen mir sofort zwei, drei Parteien ein, mindestens. Ich möchte auf jeden Fall alle Namen wissen. Alle. Whistleblower und Informanten, ihr erwieset der Welt einen großen Dienst, wenn ihr …

Bundeskanzler Olaf Scholz hat diese Woche ein Foto von sich an seinem Schreibtisch veröffentlicht. Er habe 90 Minuten mit Putin telefoniert, schreibt er auf Twitter. „Russland muss seine Truppen aus der Ukraine zurückziehen und die Souveränität und territoriale Integrität anerkennen. Anders ist eine diplomatische Lösung nicht vorstellbar.“ Das ist ziemlich anständig. Noch viel anständiger wäre, wenn er auch beim ukrainischen Präsidenten anriefe und ihm die Lieferung schwerer Waffen zusagte.

Anständig auch das britische Königshaus: Zum Staatsbegräbnis von Queen Elizabeth II. am kommenden Montag, was als „größtes Ereignis in Großbritannien seit dem Zweiten Weltkrieg“ angekündigt ist, ist kein Vertreter Russlands eingeladen. Putin ist beleidigt, die Kreml-Sprecherin schäumt, aber so ist das eben: Wer sich unanständig benimmt, ist bei der Party nicht dabei.

Man muss zivilisiert bleiben

Apropos Königin: Natürlich darf man sich über die britische Monarchie lustig machen. Und man darf, nein, muss sie kritisieren ob ihrer Verantwortung für koloniale Verbrechen. Übrigens ist auch meine Familie betroffen: durch die Teilung des indischen Subkontinents, ein Teil der Familie in Indien, der andere in Pakistan, dazwischen eine nahezu unüberwindbare Grenze, und an allem trägt Britannien keine geringe Schuld.

Nach 16 Jahren habe ich genug

Aber ich finde, angesichts des Todes gibt es Grenzen des Sagbaren, die man, will man zivilisiert bleiben, nicht überschreiten sollte. Weil ich eine Professorin kritisiert habe, die der Königin via Twitter kurz vor ihrem Ableben einen qualvollen Tod wünschte, wurde mir von einer kleinen, lauten Gruppe „Rassismus“ und „Misogynie“ vorgeworfen. Weil die Professorin schwarz ist und eine Frau. Oookay. Wie heißt es so schön: Wenn man nur einen Hammer hat, ist jedes Problem ein Nagel.

Unanständig, auf „Wut-Winter“ zu freuen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Ziel: Billiglöhne halten

Erstellt von Redaktion am 18. September 2022

Jobgarantie und/oder BGE?

File:Grundeinkommen statt Existenzangst BGE Berlin 2013.jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Paul Grimm

Oft hört man in Debatten zum bedingungslosen Grundeinkommen, dass letztlich eine Jobgarantie und eine sanktionsfreie Mindestsicherung die sichersten Wege zum gesamtgesellschaftlichen Well-Being seien.

Eine Jobgarantie das bedeutet, dass jede*r einen durchsetzbaren Anspruch auf einen Arbeitsvertrag für eine angemessene Beschäftigung gegenüber einer einzurichtenden Behörde hätte. Oft berufen sich Befürworter*innen diese These auf das sog. Recht auf Arbeit. Die Argumentation mit Grund- und Menschenrechten ist hier jedoch äußerst schwach, da diese historisch als Abwehrrechte gegen den Staat fungieren und einen sehr eingeschränkten Gewährleistungsbereich haben – in Deutschland das sog. Untermaßverbot.1 Der Versuch aus einem bereits existenten Recht auf Arbeit2, das im Wesentlichen einen Schutz vor staatlichen Eingriffen in die Freiheit, die Arbeitskraft zu verkaufen bedeutet, einen Anspruch auf Beschäftigung herzuleiten, scheitert bereits daran, dass eine durch Menschenrechte bis in diesen Detailgrad aufoktroyierte Wirtschaftspolitik nur schwerlich mit demokratischen Grundsätzen, wie sie in Deutschland bspw. in Art. 20 II GG niedergelegt sind, vereinbar sein dürfte. Neben dieser fadenscheinigen und vulgärjuristischen Argumentation möchte ich mich jedoch vor allem mit der gesellschaftspolitischen Bedeutung der Forderung nach einer Jobgarantie beschäftigen.

Zuvorderst, es gibt Bereiche, in denen der Staat mehr investieren muss, um Arbeitsplätze zu schaffen. Dies erkennen wir auch an und fordern im Gleichklang mit unserer Partei ein Zukunftsinvestitionsprogramm, das effektiver wäre als jede entwürdigende Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Wir als LINKE fordern zu Recht 120 Milliarden für den sozialökologischen Umbau in unserem Land. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen wäre selbst bei kompletter Gleichzeitigkeit der Forderungen noch finanzierbar und ergänzt das Investitionsprogramm vorzüglich: Es ermöglicht Umschulungen sowie Teilzeit für Arbeiter*innen und Angestellten und sichert Kaufkraft in Übergangsphasen.

Eine Jobgarantie hingegen bekämpft nur bedingt die Entfremdung in der Arbeitswelt. Denn, dass Jobs staatlich geschaffen werden, löst diese zunächst nicht aus der Logik der Effizienz. Auch besteht die Gefahr – da es sich nunmehr um Jobs handelt, die nur aufgrund einer staatlichen Verpflichtung geschaffen werden – dass die Schaffung dieser Arbeitsplätze mit einem minimalen Aufwand und maximalen Kontrollbedürfnis betrieben wird. Die Produktion vollkommener Bullshitjobs wäre vorprogrammiert. Dies sah auch der Anthropologe David Graeber ähnlich.3 Ihm ist zuzustimmen, denn das nachvollziehbare, demokratische Interesse an Monitoring und genauen Abläufen wäre in diesem Bereich so immens, dass eine Unsumme von völlig unnötigen Verwaltungsjobs entstehen würde, einzig damit ein Teil der Menschen das tun können, was sie ohne das absurde Arbeitsrecht ebenfalls tun würden: Einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft leisten und hierfür Anerkennung erhalten. Menschen, die sich durch Nachbarschaftshilfe, Umweltprojekte oder Nachhilfe einbringen wollen, sollten dies tun können, ohne einem kafkaesken Verwaltungsapparat gegenüberzustehen, dem sie regelmäßig Rechenschaft ablegen müssen. Ein solcher Apparat hätte keinen wirklichen Nutzen und würde jedermann unglücklich machen. Auch leuchtet es nicht ein, warum man Künstler*innen oder Sozialunternehmer*innen, die von sich aus in der Lage sind, gesellschaftlichen Mehrwert zu schaffen, keinen Zuschuss in Form eines BGE zubilligen will, sondern diese viel lieber in staatliche Arbeitsmaßnahmen bringen will – wahrscheinlich aus einem Kontrollwillen, der sicher gehen will, dass diese Menschen auch wirklich arbeiten und klar quantifizierbare Ergebnisse entstehen.

Die Jobgarantie adressiert nicht das entscheidende Problem, dass wir einen Schritt in Richtung einer dauerhaften Entkopplung von Erwerbsarbeit und Einkommen finden müssen. Selbst wenn man – trotz berechtigter Kritik – das BIP zum Maßstab macht, muss man akzeptieren, dass längst nicht jede Tätigkeit, die ggf. auch hochbezahlt ausgeübt wird, das gesamtgesellschaftliche Wirtschaftswachstum vorantreibt, wohingegen viele ehrenamtliche Tätigkeiten, die Stabilität des Staates nachhaltig sichern. Wir brauchen keinen Apparat, der Menschen von ihren Leidenschaften entfremdet und unter den derzeitigen Gegebenheiten wohl auch nichts außer mehr Pendelwegen und mehr Verwaltungsgebäuden schaffen würde.

http://www.archiv-grundeinkommen.de/material/pk/PK-6-finanzierbarL-v.jpg

Eine wichtige Frage adressiert die Jobgarantie jedoch, mit der sich auch Grundeinkommensbefürworter*innen beschäftigen müssen. Wie verhindern wir, dass gesellschaftlich wertvolle Tätigkeiten ins Ehrenamt abgedrängt werden? Nicht erst seit den Fluchtbewegungen aus der Ukraine erleben wir, wie der Staat sich allzu oft auf Ehrenamtler*innen verlässt, die in Eigenregie Aufgaben übernehmen, die eigentlich kollektiv organisiert und finanziert werden müssten. Hier bietet ein emanzipatorisches BGE zwar einen gewissen Schutz vor der Selbstausbeutung, aber das Problem muss strukturell bekämpft werden, bis eine vollständige Entkopplung von Arbeit und Einkommen vollbracht ist.

Eine Schaffung von mehr (sinnvollen) Stellen in Behörden und ein Ausbau der Förderung von zivilgesellschaftlichen Vereinen ist hier sicherlich eine Möglichkeit. Jedoch ist eine Aushandlung darüber, welche Formen von derzeit noch ehrenamtlicher Tätigkeit, vorwiegend hauptamtlich verrichtet werden sollten, notwendig. Dieser Konflikt kann jedoch nicht durch eine anonyme Behörden gelöst werden, denn es handelt sich um eine Frage, das Wesen des Staates im Kern betrifft und nur von direkt gewählten Volksvertreter*innen in in Parlamenten oder ggf. Organen kommunaler Selbstverwaltung beschlossen werden kann und sollte. Hier ergänzen das Grundeinkommen, das eine individuelle Abwägung zwischen Ehrenamt und Erwerbsarbeit ermöglicht und der voranzutreibende gesellschaftliche Abwägungsprozess einander. Das BGE ist somit ein Teil des Lösung. Nichts anderes wurde von Linken Grundeinkommens-Befürworter*innen je behauptet.

Zum Autor: Paul Grimm ist Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen DIE LINKE und Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen in Brandenburg.

1 Der Staat muss nur in Ausnahmefällen tätig werden, um die Grundrechte der Bürger*innen, die durch externe Faktoren (andere Menschen, Katastrophen) bedroht werden zu schützen, steht hierbei ein großer Entscheidungsspielraum zu. Er muss lediglich über dem Untermaß bleiben.

2 Niedergelegt, bspw. in Art. 1 ESC, Art. 6 I ICESCR, Art. 23 AEMR

3 D. Graber, Bullshit Jobs, S. 271

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Oben       —   Mehr als 2.000 Teilnehmer demonstrieren für ein Bedingungsloses Grundeinkommen auf der BGE-Demonstration am 14. September 2013 in Berlin

Basic Income Demonstration in Berlin

Author stanjourdan from Paris, France
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Kolumne-FERNSICHT-Kenia

Erstellt von Redaktion am 17. September 2022

In Kenia regiert jetzt Präsident Ruto, der Dynastien Killer

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Von Joachim Buwembo

Am 13. September bekam Kenia einen neuen Präsidenten. William Ruto wurde als fünfter Präsident der Republik Kenia vereidigt, gut einen Monat nach seinem Wahlsieg. Der bisherige Vizepräsident gewann gleich zweimal – erst an der Wahlurne und dann beim Verfassungsgericht, das die Wahlanfechtung des wichtigsten Gegenkandidaten Raila Odinga abwies.

Ruto war zwar zehn Jahre lang Vizepräsident unter Präsident Uhuru Kenyatta gewesen, aber sein Sieg war ein Sieg über Kenyatta, denn der hatte seinen früheren Erzrivalen Odinga als Wunschnachfolger unterstützt und sich gegen­ Ruto gestellt.

Mit der Amtseinführung des 55-jährigen William Ruto beginnt in Kenia nun eine neue Ära. Weithin im Land steht sein Sieg für den Sieg derjenigen, die es durch harte Arbeit und Geschäftssinn nach oben geschafft haben, über die, die immer schon oben gewesen sind – die „Hustler“, wie im kenianischen Englisch die Aufsteiger aus eigener Kraft genannt werden, über die „Dynastien“.

Uhuru Kenyatta und Raila Odinga sind nämlich die Söhne der ersten Präsidenten und Vizepräsidenten Kenias nach der Unabhängigkeit von Großbritannien 1963, Jomo Kenyatta and Oginga Odinga. Zwischen den beiden Kenyattas hatte Kenia nur zwei andere Präsidenten.

Wie die meisten afrikanischen Staaten ist auch Kenia ein Land, in dem der Präsident sehr leicht Reichtum anhäufen kann. So sind die Familien, die bislang an der Macht gewesen sind, steinreich. William Ruto hingegen, der in eine arme Familie geboren wurde, hat seinen Weg nach oben selbst erarbeitet, ein „Hustler“ eben. Sein Aufstiegskampf ist ein Vorbild für Millionen junge Menschen in Kenia aus unterprivilegierten Verhältnissen. Sie haben ihn in großer Zahl bei der Wahl unterstützt, um die „Dynastien“ zu stürzen. Dass er selbst auch inzwischen steinreich ist, war dabei für ihn kein Nachteil, obwohl seine Gegner versuchten, ihm den Vorwurf der Korruption anzuhängen.

Kenia ist eine von Afrikas größten Volkswirtschaften, und das Pro-Kopf-Einkommen ist mit aktuell 1.550 US-Dollar pro Jahr ansehnlich im afrikanischen Vergleich, doch die Kluft zwischen Arm und Reich bleibt immens. Als die ostafrikanischen Staaten in den frühen 1960er Jahren die Unabhängigkeit erlangten und die Welt in die Blöcke Ost und West geteilt war, lästerte Julius Nyerere, sozialistischer Präsident des pro-östlichen Nachbarn Tansania, über Kenia als eine „man eat man“-Gesellschaft, in der jeder seinen Nächsten übervorteilt. Jomo Kenyatta aus dem kapitalistischen, pro-westlichen Kenia konterte, Tansania sei eine „man eat nothing“-Gesellschaft, in der alle gemeinsam im Elend leben. Diese Charakterisierungen sind auch heute noch weit verbreitet.

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Was kostet Kapitalismus ?

Erstellt von Redaktion am 13. September 2022

Wer kann sich den Kapitalismus überhaupt noch leisten?

Quelle:    Scharf  —  Links

Von  :   Suitbert Cechura

Glaubt man den offiziellen Ansagen, dann können große Teile der Gesellschaft ihren Lebensunterhalt angesichts der Inflation nicht mehr bestreiten, sind also auf staatliche Nothilfe angewiesen.

Kapitalismus heißt hierzulande Marktwirtschaft, gern auch mit dem Zusatz „sozial“, die nach Angabe ihrer Vertreter und Verteidiger für die bestmögliche Versorgung der Menschen mit den benötigten Gütern steht. Zurzeit zeugt diese Wirtschaftsweise allerdings von einer recht mangelhaften Versorgung großer Teile der Bevölkerung, da die lebensnotwendigen Dinge für viele unbezahlbar geworden sind – und es weiterhin noch werden sollen.

Das liegt nicht daran, dass es diese Güter nicht geben würde. Statistiken der Ökonomen zeigen, dass der Reichtum im Lande immer noch – wenn auch nicht mehr sehr stark – wächst, während die Beschäftigtenzahlen Rekordhöhen aufweisen. Und dennoch können viele, die diesen Reichtum mit erarbeitet haben, sich alles Mögliche nicht leisten und sind auf Unterstützung angewiesen.

Da könnten doch bei so manchem Zweifel aufkommen bezüglich der Qualität dieser Wirtschaftsweise, die als alternativlos gilt, obwohl es Alternativen gibt. Sogar der staatstreue Ökoprotest wartet ja seit einiger Zeit mit der – wissenschaftlich beglaubigten – Erkenntnis auf, dass die Menschheit ohne „system change“ auf den Abgrund zutreibt…

Der alternativlose Kapitalismus

Alternativlos ist der Kapitalismus für viele Bürger im Lande in einem ganz praktischen Sinne: Sie stehen vor der Situation, dass alles Geschäftsmittel, also Eigentum von Händlern und Produzenten, ist und sie damit von dem, was sie zum Leben brauchen, ausgeschlossen sind. Die einzige Alternative, die sie haben, besteht darin, sich selber als Arbeitskraft zu verdingen, um an das Geld zu kommen, das sie zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes brauchen.

Ums Geld dreht sich eben alles in dieser wunderbaren Wirtschaftsweise. Alle „müssen es wollen – mit verheerenden Folgen für die Mehrheit“, wie es jüngst in einer Artikelreihe bei Telepolis hieß (https://www.heise.de/tp/features/Inflation-trifft-vor-allem-Geringverdiener-7244536.html).

Die Zwangslage vermögensloser Menschen wird von den meisten gar nicht als solche wahrgenommen, gilt sie doch selbstverständlich als die Normalität – und nicht als Armut. Abhängig sind Menschen in dieser Lage von Arbeitgebern, die ihre Arbeitskraft nutzen wollen, weil sie durch deren Anwendung ihren Reichtum mehren können. Diese Abhängigkeit kommt durchaus einem Gewaltakt gleich, wie jüngst ein Sozialmediziner festhielt:

„Mahatma Gandhi hat einmal gesagt: ´Armut ist die schlimmste Form von Gewalt`. Wir haben das Geld, wir sind ein reiches Land.“ (Gerhard Trabert, SZ, 29.8.22)

Mit dem „Wir“ unterstellt der Experte allerdings eine Gemeinsamkeit in dieser Gesellschaft, die es nicht gibt – schließlich redet er von der existierenden Armut. Wenn sie in einem reichen Land zuhause ist, muss sie sich für jemandem lohnen. Dies ist ja auch die Bedingung, unter der der Einsatz von Arbeitskräften stattfindet.

Der Lohn der Beschäftigten stellt für Arbeitgeber eine Kost dar, die den Gewinn und die Freiheit der Kalkulation mit den Preisen beschränkt. Deshalb orientieren sich die Löhne und Gehälter nicht an dem, was die so Beschäftigten zum Leben brauchen, sondern am Geschäftserfolg. Daher bedarf es auf Seiten der für Lohn Arbeitenden immer einiger Einteilungskünste, um mit dem Geld über die Runden zu kommen. Wenn jetzt staatlicherseits über die Notwendigkeit debattiert wird, Entlastungspakete für Beschäftigte, Rentner, Arbeitslosengeldbezieher, Auszubildende und Familien zu schnüren, dann ist dies die amtliche Bestätigung, dass das Resultat von Lohnarbeit ebenfalls Armut ist.

Die Mehrzahl der Bürger befindet sich in der Marktwirtschaft jedoch in einer doppelten Rolle, als Arbeitnehmer müssen sie billig sein, als König Kunde sollen sie durch Kauf den Produzenten und Händlern dazu verhelfen, das in die Waren investierte Geld mit Gewinn wieder in ihre Kassen fließen zu lassen. Schließlich gehört der von den Arbeitnehmern produzierte Reichtum nicht ihnen selbst, sondern ihren Anwendern, und um an Teile dieses Reichtums zu gelangen, müssen sie die Produkte kaufen.

In dieser Rolle erweisen sie sich oft genug als Versager, da sich ihre beschränkte Zahlungsfähigkeit immer wieder als Schranke geltend macht, wenn es darum geht, den Ansprüchen der Wirtschaft in Form hoher Preise zu genügen. Und so kommt es zu Stockungen im Gang des Geschäfts. Dann droht nicht nur ein bisschen Rezession, sondern dann kommt es unter Umständen zu einer regelrechten Krise des Kapitalismus.

Dass regelmäßige Krisen zum Gang des marktwirtschaftlichen Geschäfts gehören, ist gewusst und drückt sich in der Besprechung des Konjunkturverlaufs als Abfolge von Aufschwung, Boom, Abschwung, Rezession und Krise aus. Dennoch sollen die Krisen immer einer besonderen Situation geschuldet sein. Mal war es der Ölpreis, dann die Spekulation auf die Techno-Konzerne – die dot.com-Blase – oder die nicht zurückgezahlten Hypotheken der kleinen Häusle-Besitzer, die die Finanzkrise hervorgerufen haben sollen; dem folgte Corona – und jetzt ist Putin an allem schuld, obgleich es sich um eine Krise handelt, die sich, wie viele vor ihr in der Geschichte des Kapitalismus, als folgerichtige Etappe im Konjunkturverlauf abzeichnet.

Schließlich ist Gas nicht einfach knapp, sondern teuer, ebenso Strom, Lebensmittel und Mieten. Konsumgüter der gehobenen Sorte bleiben in den Regalen, weil die ins Auge gefassten Käufer sie sich nicht leisten können. Produkte finden zunehmend keine Abnahme und der Markt stockt, weil die gesammelte Kaufkraft zu gering ist – und gleichzeitig zu viel da ist.

Es gibt auf der einen Seite zu viel Geld, das keine lohnende Anwendung findet, und auf der anderen Seite massenhaft Menschen, die sich vieles nicht leisten können. Da gibt es Fabriken, die viele nützliche Dinge herstellen könnten, aber weil sich die Produktion nicht lohnt, stillgelegt werden. Da gibt es viele Menschen, die arbeiten wollen und müssen, aber entlassen werden, weil sie nicht lohnend eingesetzt werden können.

All dies wird nicht bestritten, sondern offiziell angekündigt, wenn von einer drohenden Rezession die Rede ist, die sich dann in den nächsten Monaten verschärfen soll:

„Die deutsche Wirtschaft wächst im zweiten Quartal dieses Jahres überraschend um 0,1 Prozent. Es könnte jedoch die letzte positive Nachricht vor Beginn einer längeren Talfahrt gewesen sein.“ (SZ, 26.8.22)

Obgleich dies alles bekannt und nicht neu ist, halten sich dennoch die immer gleichen Ideologien über die Wirkungsweisen des Marktes und seine positiven Seiten.

Und seine Ideologien

Damit der Markt seine segensreichen Wirkungen für die Menschen entfalten kann, brauchen die Güter nach dieser Vorstellung Preise, die dafür sorgen sollen, dass sie dorthin gelangen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Demnach werden die Güter immer am dringendsten von denen gebraucht, die über Geld verfügen und sich den Kauf leisten können. Menschen mit kleinem Einkommen oder ohne eigene Mittel haben nach dieser Logik offenbar keine Bedürfnisse – oder haben eben keine Bedürfnisse zu haben.

Wer sich das Heizen nicht leisten kann, kann ja auch einen Pullover anziehen, so die Logik. Man muss eben seine Bedürfnisse dem Geldbeutel anpassen und nicht umgekehrt (was jetzt, in Zeiten einer Energiekrise, auch noch als nationaler Dienst verbrämt wird).

Hohe Preise, wie sie zurzeit allenthalben beklagt werden, wie auch niedrige Preise sollen nicht einfach ein Mittel sein, Marktanteile zu erobern und seinen Gewinn zu realisieren, sondern Anreizcharakter haben, also ganz unabhängig von den Akteuren den Markt steuern. Sind die Preise hoch, werden mehr Güter hergestellt und verbilligen die Ware, sind sie billig und nicht so profitabel, wird weniger hergestellt. Aus Sicht der Ökonomen ist der Preis einerseits das Ergebnis der Marktsituation und andrerseits sein Steuerungsmechanismus. Deshalb ist eigentlich jeder Preis angemessen und damit leben wir immer in der besten aller Welten.

Für diejenigen, die nicht zu den Produzenten oder Händlern gehören bilden die Preise jetzt einen Anreiz, Energie zu sparen und sich einzuschränken. Kalt duschen soll ja erfrischend sein und soll auch noch der Umwelt dienen!

Wenn die hohen Preise oder die Inflation beklagt werden, wird meist unterstellt, dass man hier so etwas wie einen selbsttätigen Marktmechanismus vor sich hat, der sich irgendwie von selbst ergibt. So fallen die Erklärungen für die Inflation in der Regel sehr dürftig bzw. zirkulär aus:

„Die Inflation in der Euro-Zone hat sich im August auf dem hohen Niveau weiter beschleunigt und einen Rekordwert erreicht. Gegenüber dem Vorjahresmonat erhöhten sich die Verbraucherpreise um 9,1 Prozent… Getrieben wurde die Teuerung erneut durch den starken Anstieg der Energiepreise. Der Preisauftrieb bei Lebens-und Genussmitteln beschleunigte sich.“ (SZ, 1.9.22)

Interessant: Die Inflation gibt es, weil die Preise für Energie, Mieten und Lebensmittel gestiegen sind. Mit anderen Worten, die Preise steigen, weil sie steigen. Und das gilt hierzulande als ökonomischer Sachverstand! Dabei fallen Preise nicht vom Himmel, sondern werden von Menschen gemacht (https://www.heise.de/tp/features/Inflation-Krieg-Spekulation-6667414.html). Gelegentlich tauchen in den Meldungen dann auch die zuständigen Akteure als Institutionen auf, wenn von Gas-, Strom- oder Nahrungsmittelbörsen die Rede ist:

„Das zeichnet sich an den Terminbörsen ab: Stromkontrakte zur Lieferung im kommenden Januar waren in dieser Woche doppelt so teuer wie noch im Juli und um ein Vielfaches teurer wie im langjährigen Durchschnitt.“ (WAZ, 26.8.22)

An den Börsen handeln Investoren, die sich in großem Umfang die Verfügung über Gas, Öl, Strom oder Schweinbäuche und Getreide sichern, mit viel Geld in der Erwartung, diese Güter in Zukunft mit Gewinn veräußern zu können. Dazu brauchen sie weder Lagerhäuser, Schiffe oder Tanksäulen. Mit dem Kauf sichern sie sich das Zugriffsrecht auf diese Güter, die zum Zeitpunkt des Handels noch nicht einmal produziert sein müssen.

Solche Akteure schließen damit alle anderen von der Verfügung über diese Güter aus und können daher anderen die Preise diktieren. Von der Spekulation an den Börsen ist der Gang des Geschäftes der gesamten Gesellschaft abhängig gemacht.

Der freie Markt und sein Staat

Vor allem liberale Politiker betonen immer wieder, wie wichtig das freie Wirken des Marktes ist und wie sehr staatliche Eingriffe in dieses sensible Gebilde stören. Dabei macht die Diskussion um die Energiepreise gerade deutlich, dass es diesen Markt ohne Staat gar nicht gäbe. Schließlich wurde der Strommarkt durch Beschlüsse der früheren schwarz-gelben Regierung unter Wirtschaftsminister Rexrodt liberalisiert und damit zu einer Geschäftssphäre gemacht, die vorher von halbstaatlichen Monopolisten bestimmt wurde. Nun wird die Neuordnung des Strommarktes gefordert:

„Ursula von der Leyen ist am Montag und Dienstag viel herumgereist – und bei ihren Auftritten verbreitet die Kommissionspräsidentin die Botschaft, dass Brüssel bald etwas gegen die hohen Strompreise tun werde… Daneben müsse die Europäische Union `eine tiefgreifende, strukturelle Reform des Strommarktes machen.`“ (SZ, 31.8.22)

Welche Maßstäbe dort gelten, ist Gegenstand öffentlicher Debatten: „Der Anstieg der Stromnotierungen liegt daran, dass sich an Europas Energiebörsen der Preis an den Kosten des teuersten Kraftwerks orientiert, das zur Deckung der Nachfrage benötigt wird… Zugleich beschert dieser Börsenpreis günstigen Öko-, Atom- und Kohlestromanbietern riesige Gewinne.“ (SZ, 31.8.22)

Dort setzt dann die Diskussion um die „Übergewinnsteuer“ an. Ganz so, als ob diese Gewinne nicht das Ergebnis staatlichen Handels wären, sondern ein Resultat des Marktes, auf das der Staat jetzt reagieren müsse.

Zu den Vorstellungen über den Kapitalismus gehört auch die Ideologie, dass der Gewinn das Ergebnis unternehmerischen Risikos sei. Unternehmen riskieren ihr Geld und werden bei Erfolg belohnt, so der Gedanke. Bei Misserfolg droht ihnen der Untergang. Das mag zwar auf den Bäcker an der Ecke zutreffen, nicht jedoch auf Unternehmen, die als relevant für die nationale Ökonomie angesehen werden, wie das Beispiel von Uniper wieder einmal deutlich macht.

Uniper hat im großen Stil Gas aus Russland bezogen und war daher auch in der Lage, Gas als Großabnehmer billig zu bekommen. Dieses Gas hat Uniper mit Aufschlag an Stadtwerke und Unternehmen weiterverkauft und so sein Geschäft gemacht. Nun bleiben die billigen russischen Gaslieferungen aus und die Rechnung von Uniper geht nicht mehr auf, muss das Unternehmen doch an den Börsen teures Gas einkaufen, um seinen Lieferverpflichtungen gegenüber seinen Kunden nachzukommen. Die anstehende Insolvenz – weil das Geschäft nicht mehr aufgeht – will der Staat aber in Gestalt seines grünen Wirtschaftsministers um jeden Preis verhindern:

„Zu dem insgesamt 15 Milliarden Euro schweren Rettungspaket gehört der Einstieg des Bundes mit 30 Prozent bei dem MDax-Konzern, was die außerordentliche Hauptversammlung aber erst noch beschließen muss.“ (WAZ, 30.8.22)

Hat der Staat doch die Versorgung der Nation vom Gelingen dieses Geschäfts abhängig gemacht. Mit der Gasumlage soll nun das Geschäft wieder profitabel gemacht werden, wofür die Verbraucher in Haftung genommen werden. Damit stellt der Wirtschaftsminister mit den Sorgenfalten auf der Stirn klar, worauf es in dieser Gesellschaft ankommt: Das Geschäft muss gelingen, auch wenn die Versorgung der Bürger darunter leidet, weil die sich den Stoff dieses Geschäfts – in diesem Fall Gas – nicht mehr leisten können.

Gewinner versus Verlierer und ihre Betreuer

Dass die hohen Preise nicht nur Haushalte und Betriebe in Schwierigkeiten bringen, sondern sich für einige direkt lohnen, deren Gewinne enorme Zuwächse aufweisen, wird nicht verschwiegen. So melden nicht nur RWE und Steag hohe Gewinne (vgl. WAZ, 24.8.22).

Selbst wenn es zur Abschöpfung dieser Gewinne durch eine Übergewinnsteuer käme, hätte diese Einnahmen zunächst der Staat. Wofür er diese Mittel einzusetzen gedenkt, bleibt dann ganz den Politikern überlassen. Dringliche Vorhaben von Seiten der Politik gibt es ja genug – von der angestrebten Aufrüstung der Bundeswehr über die Sanierung des Haushaltes hin zur schwarzen Null, der stärkeren Unterstützung der Ukraine oder des deutschen (Automobil-)Standorts zur Bewältigung der energiepolitischer Transformation bis hin, zuletzt, zu den Entlastungsprogrammen für bedürftige Untertanen.

Vorher steht aber mit der Inflation zumindest der Staat als ein großer Gewinner fest, dessen Einnahmen mit steigenden Preisen und Löhnen automatisch anwachsen. Schließlich profitiert er prozentual von jedem Geschäft in Form der Mehrwertsteuer und ebenso von den nominal steigenden Löhnen und Gehältern, auch wenn diese real weniger Kaufkraft darstellen.

Da viele Bürger sich schon jetzt wenig und in Zukunft noch weniger leisten können, gilt ihnen die Anteilnahme aller Seiten. So wird der nächste Winter in den schwärzesten Farben ausgemalt – nicht ohne dem Publikum zu versichern, dass alles getan werde, um die sicher eintretenden Schäden abzumildern. Den Schaden zu beseitigen oder zu beheben, verspricht eigentlich niemand. Von Seiten der Politik wird gleich betont, dass der Staat nicht alle Teuerungen ausgleichen könne.

Mit den Entlastungspaketen soll die Schädigung erträglich gemacht werden für diejenigen, die als besonders Betroffen gelten. Und streng genommen wird ihnen noch nicht einmal das, die Kompensation der Schäden, versprochen, wie es letztens im Magazin der GEW (https://www.gew-ansbach.de/data/2022/08/Bernhardt_Schillo_Auch-das-noch-Putin_verarmt_und_spaltet_uns.pdf) hieß: Kanzler Scholz verspricht ja vor allem Respekt und Anerkennung angesichts der schweren Zeiten – getreu seiner ständig wiederholten Devise „You‘ll never walk alone“. „Walk on through the rain, though your dreams be tossed and blown“ geht’s bekanntlich weiter im Lied. Auf gut Deutsch: Auch wenn alles in die Hose geht – du bist nicht allein!

Und die Härten treffen nicht wenige in dieser Gesellschaft: „Weil die Energiepreise explodieren, dringt die SPD auf ein neues Entlastungspaket. Das Kernanliegen ist, den sozial Schwachen gezielt mit Direktzahlungen zu helfen: Rentnerinnen und Rentner, Alg-I-Empfängern, Studierenden, Auszubildenden. Die Auszahlung der Direktzahlungen orientiert sich offenkundig nach der Energiepauschale, die Arbeitgeber demnächst an die Arbeitnehmerinnen auszahlen.“ (WAZ, 30.8.22)

Mit den Entlastungspaketen wird deutlich, dass der größte Teil der Gesellschaft ohne staatliche Unterstützung die hohen Preise nicht zahlen kann, somit eine Ansammlung von Sozialfällen darstellt. Den Anspruch, die durch die Inflation verursachten Schäden auszugleichen, haben diese Maßnahmen nicht, sie sollen, siehe das Kanzler-Motto, hinnehmbar gemacht werden. Sprich: Die Bürger sollen sich die dauerhafte Schädigung durch leichte Milderungsmaßnahmen abkaufen lassen. Das scheint auch billig zu haben zu sein:

„Erfolgsmodell 9-Euro-Ticket – Mal günstig an die Ostsee, zur Arbeit oder zu Freunden: Das 9-Euro-Ticket hat in den vergangenen drei Monaten bundesweit 52 Millionen Abonnenten in Busse, Regionalzüge, S-Bahnen und U-Bahnen gelockt.“ (WAZ, 30.8.22)

Die königliche Familie Juni 2013.JPG

Die Queen, alle ihre Nachfolger-innen und Politiker-innen.

Offenbar kann ein Großteil der Bevölkerung eine Reise an die Ostsee, zur Arbeit oder zu Freunden nur schwer finanzieren und ist bereit, einiges an Unannehmlichkeiten wie volle und verspätete Züge etc. in Kauf zu nehmen, um auch mal zur Ostsee zu gelangen. Was da als Erfolgsmodell gefeiert wird, ist zudem keine Dauereinrichtung, sondern als begrenzte Maßnahme ein Trostpflaster für all diejenigen, denen die Inflation das Leben schwer macht.

Auch die Interessenvertretung der deutschen Arbeitnehmer in Form des Deutschen Gewerkschaftsbundes und seiner Mitgliedsgewerkschaften betont, dass man zwar einen Ausgleich für die Preissteigerungen anstrebt, wobei die Forderungshöhe bereits signalisiert, dass man bereit sind, auch unterhalb der Inflationsgrenze abzuschließen.

„IG-Metallchef Hofmann hatte im Vorfeld der Forderungsempfehlung immer wieder klargemacht, dass sich die Auswirkungen der hohen Inflation auf die Beschäftigten nicht allein mit Mitteln der Tarifpolitik ausgleichen ließen. Seine Gewerkschaft fordert deshalb von der Bundesregierung neben einem Gaspreisdeckel eine Senkung des Strompreises und für das kommende Jahr ein zusätzliches Entlastungspaket für die Verbraucher.“ (handelsblatt.com/politik/deutschland/tarifpolitik-bei-hoher-inflation-ig-metall-fordert-wohl-hoeste-lohnerhoehung-seit-14-jahren/28439050.html)

Gleich zu Beginn der Metalltarifrunde hat also der oberste Vertreter der IGM, der weltweit größten organisierten Arbeitnehmervertretung mit 2,26 Millionen Mitgliedern, betont, dass es eine Überforderung der Tarifpolitik sei, einen vollständigen Ausgleich zu schaffen. Auch so kann man zum Ausdruck bringen, dass einem als Gewerkschafter das Wohlergehen der Wirtschaft dringlicher ist als ein Schadensausgleich für die eigenen Mitglieder.

Schließlich sehen die Gewerkschaftsvertreter die Abhängigkeit der Arbeitnehmer vom Gang des Geschäftes längst nicht mehr als einen Mangel, der den Lohnarbeitern immer wieder zum Schaden gereicht, sondern als die positive Geschäftsgrundlage, auf der es zu verhandeln gilt.

Somit war das Ergebnis abzusehen: „Weniger Geld für Arbeitnehmer – Reallöhne sinken wegen der Inflation um 3,6 Prozent.“ (SZ, 24.8.22) Dem abzuhelfen, sehen sich die Gewerkschafter nicht gefordert, sondern verweisen auf die Politik, die gerade die schweren Zeiten ankündigt.

Die Opfer der Inflation können sich auch des Beistands der Kirchen sicher sein, die immer schon den Untertanen empfohlen haben, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist. Sie stellen ihren Beistand in traditioneller Form unter Beweis:

(Die EKD-Ratsvorsitzende) „Kurschuss kündigte an, dass die evangelische Kirche im kommenden Winter Wärmeräume und Suppenküchen anbieten werde, sollten mehr Menschen angesichts der gestiegenen Lebenshaltungskosten in eine Notlage geraten.“ (WAZ, 25.8.22)

Sicherlich werden die Armen auch ins Gebet eingeschlossen und auf Gottes Hilfe verwiesen, was ja jedem, der‘s glaubt, den nun wirklich bombensicheren Trost „You‘ll never walk alone“ verschafft.

Auch die Medien begleiten die sich abzeichnende Notlage ihrer Leser und Zuschauerschaft mit praktischen Spartipps, die sie nicht neu erfinden müssen. Schließlich tun sich viele Bürger schon seit Jahren schwer, mit ihrem beschränkten Einkommen über die Runden zu kommen. Und so sind die Lüftungs- und Heizungstipps, die Empfehlungen zum billigen Einkauf oder günstigen Tanken (vgl. WAZ, 25.8.22) schon seit Jahren im Umlauf und bekommen nachgerade etwas Kalauerhaftes. Spitzenreiter dürfte wohl Bild sein mit dem heißen Tipp: Statt im Winter zu heizen in Urlaub fahren!

Gewarnt wird allenthalben vor einem sich abzeichnenden Wutwinter: „`Wutwinter`, `heißer Herbst` – in diesen Wochen wird gerne gemutmaßt, ob wegen der Energiekrise und den Preissteigerungen bald soziale Unruhen drohen.“ (Benedikt Peters, SZ, 24.8.22)

Womit gemeint ist, dass die Bürger anfangen könnten, sich gegen die ständige Verarmung zu wehren und auf die Straße zu gehen: „In diesem August hat im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eine neue Einheit ihre Arbeit aufgenommen. Eine sogenannte Sonderauswertung soll herausfinden, wie heiß der Herbst auf deutschen Straßen nun wirklich werden wird.“ (SZ, 30.8.22)

Dabei wird immer wieder betont, dass Protest und Demonstration in diesem Staat erlaubt sind. Sie müssen sich aber – Achtung! – im Bereich des Erlaubten bewegen, d.h. nicht darauf berechnet sein, irgendwie die Politik zu etwas zwingen zu wollen.

Wenn nun auch die Linkspartei hervorhebt, dass sie bestrebt ist, den möglichen Protest in demokratische Bahnen zu lenken, dann bedeutet dies, dass alles dafür getan werden soll, dass das Vertrauen in die Politik nicht erschüttert wird. Deshalb hat der Verfassungsschutz auch schon einen neuen Handlungsbereich für sich entdeckt: den der Delegitimierung. Was nichts anderes bedeutet, als dass schon jedes Hinterfragen der herrschenden Politik, das deren Anliegen nicht teilt und die Legitimierung mit den bekannten – alternativlosen – Sachzwängen nicht glaubt, so etwas wie einen Straftatbestand darstellt.

So rüstet sich die Nation für einen Winter, der einigen enorme Gewinne bescheren wird, während andere sehen müssen, wie sie ihren Alltag auf die Reihe kriegen. Eins soll in jedem Fall gesichert werden, dass die Betroffenen dies allenfalls mit ein bisschen Volksgemurmel hinnehmen.

Zuerst erschienen bei Telepolis

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Ware ohne Wert

Erstellt von Redaktion am 12. September 2022

Wie das System des Kapitals sich selbst zu einer leeren Hülle degradiert

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

von   ;    Emmerich Nyikos

„Aber ein Gebrauchswert, der nicht das Produkt der Arbeit, kann keinen Wert haben, d.h., er kann nicht als Vergegenständlichung eines gewissen Quantums sozialer Arbeit, als sozialer Ausdruck eines gewissen Quantums Arbeit ausgesprochen werden. Er ist es nicht. Damit der Gebrauchswert als Tauschwert sich darstelle – Ware sei –, muss er das Produkt konkreter Arbeit sein. Nur unter dieser Voraussetzung kann diese konkrete Arbeit ihrerseits wieder dargestellt werden als gesellschaftliche Arbeit, Wert.“ (K. Marx, Theorien über den Mehrwert III, in: MEW 26.3, S. 509)

„In demselben Maße wie die Arbeitszeit – das bloße Quantum Arbeit – durch das Kapital als einzig bestimmendes Element gesetzt wird, in demselben Maße verschwindet die unmittelbare Arbeit und ihre Quantität als das bestimmende Prinzip der Produktion – der Schöpfung von Gebrauchswerten – und wird sowohl quantitativ zu einer geringen Proportion herabgesetzt, wie qualitativ als ein zwar unentbehrliches, aber subalternes Moment gegen die allgemeine wissenschaftliche Arbeit, technologische Anwendung der Naturwissenschaften nach der einen Seite, wie gegen die aus der gesellschaftlichen Gliederung in der Gesamtproduktion hervorgehende allgemeine Produktivkraft – die als Naturgabe der gesellschaftlichen Arbeit (obgleich historisches Produkt) erscheint. Das Kapital arbeitet so an seiner eignen Auflösung als die Produktion beherrschende Form.“ (K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW 42, S. 587f.)

„Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muss aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert (das Maß) des Gebrauchswerts.“ (K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42, S. 601)

1.

Was ist der Wert? Ganz generell kann man sagen: die Tauschfähigkeit der Ware, oder, wenn man so will, das spezifische Gewicht der Ware im Austausch, dasjenige also, was in letzter Konsequenz die Tauschraten der Waren bestimmt.

In einer Gesellschaft, die auf der Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln nicht nur arbeitsteilig, sondern auch privat produziert, kann logischerweise die Verteilung der Produkte nur über den Austausch erfolgen – und dieser macht jene zu Waren. Mit anderen Worten: Der Austausch setzt das Privateigentum an den Produktionsmitteln als seine Basis voraus. Ohne dieses Privateigentum gibt es keinen Austausch und daher auch keinen Warenwert. Das leuchtet unmittelbar ein: Wenn das, was die Bedingung einer Sache ist, allen gehört oder, was auf dasselbe hinausläuft, diese Sache frei verfügbar ist wie die Luft, braucht man nicht zu tauschen und kann man auch gar nicht tauschen (oder eben nur so tun, als ob man austauschen würde). Und dann gibt es keine Waren und auch keinen Wert.

Privateigentum allein genügt aber noch nicht, damit eine Sache zur „Wert-Sache“ wird. Diese Katze, diese Muscheln, die ich am Strand gesammelt habe, dieser Talisman mögen mir gehören, für andere sind diese Objekte indessen völlig belanglos. Jede Ware muss nicht nur über einen spezifischen Gebrauchswert verfügen (was evident ist), sondern auch über einen „Gebrauchswert für andere“, und zugleich muss sie ein Nicht-Gebrauchswert für denjenigen sein, der austauscht oder, was dasselbe ist, diese Ware veräußert. Wenn nicht, würde man offenbar nicht austauschen können, und es gäbe weder Waren noch gäbe es Wert. Gebrauchswerte aber (Objekte, die einen spezifischen Bedarf decken können) entstehen (historisch gesprochen) in den allermeisten Fällen nicht von allein, sie sind eben nicht so wie Beeren am Wegrand, die man nur zu pflücken braucht, um sie konsumieren zu können.

Der Gebrauchswert, der in den Austausch eingeht (d.h. in ein gesellschaftliches Austauschsystem), ist vielmehr Funktion der Arbeit, d.h. der aktiven Manipulation von Objekten im weitesten Sinn (wozu die Produktionsinstrumente auf der einen und die Arbeitsmaterialien, Rohstoffe und Halbfertigprodukte, auf der anderen Seite zählen) im Hinblick auf die Deckung eines bestimmten (gesellschaftlichen) Bedarfs. Um überhaupt austauschen zu können, muss zuvor in irgendeiner Weise Gebrauchswert (in der Form von Produktionsmitteln) in einen neuen Gebrauchswert (sei dieser nun wieder ein Mittel zur Produktion oder ein Konsumtionsgegenstand) transformiert worden sein (was den Transport durchaus miteinschließt), es bedarf des Arbeitsprozesses in seinen diversen Ausprägungen, oder, wie Marx es genannt hat, der konkreten Arbeit.

Austauschbar aber (im Sinne gesellschaftlicher oder funktioneller Austauschbarkeit) sind Dinge nur dann, wenn sie sich in bestimmter Weise als gleich und somit als vergleichbar erweisen. Denn sonst liefe der Austausch (der Stellungswechsel der „Waren“) auf eine gesellschaftlich sinn- und gehaltlose Übung hinaus.

Hier sind zwei Aspekte zu beachten:

1. Da diese Dinge im Austausch offenbar spontan gleichgesetzt werden, so müssen sie in irgendeiner Hinsicht qualitativ gleich oder „gleichwertig“ sein, d.h. über eine gemeinsame Substanz verfügen, und diese kann nur in dem Umstand bestehen, dass sie an der gesamtgesellschaftlichen Arbeitszeit partizipieren, mit anderen Worten: einen aliquoten Teil dieser Gesamtarbeitszeit absorbieren – dessen, was der Gesellschaft „Mühe kostet“. Denn niemand (zumindest in einem Warensystem) wäre so blöd, sich in einem Arbeitsprozess abzumühen und dabei Lebenssubstanz einzubüßen, um dann für diese Anstrengung und diese Verausgabung von Arbeitskraft eine Sache zu bekommen, die nichts „gekostet“ hat. Und eben das, die Partizipation an der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit, macht die Wertqualität der Waren aus, d.h. verleiht ihnen die prinzipielle Fähigkeit zum Austausch – fügt ihnen einen „gesellschaftlichen Gebrauchswert“ hinzu, wie Marx das genannt hat. Denn was nicht an dieser Gesamtarbeitszeit partizipiert, so wie etwa die Luft (die ja auch ein Gebrauchswert und zwar ein sehr nützlicher ist), wird nie und nimmer ausgetauscht werden können – wenn diese Operation gesellschaftlichen Sinn haben soll. Man versuche es mit einem Haustier, mit einer Muschel vom Strand oder mit einem belanglosen Ding, das für den, der es trägt, Glück bringen soll – alles Dinge, die eben keinen „gesellschaftlichen Gebrauchswert“ besitzen.

2. Aber nicht nur bestimmt die abstrakte Arbeit, die Verausgabung von Arbeitskraft als solche, die Arbeitszeit mithin, die prinzipielle Tauschfähigkeit der Waren, sondern sie determiniert auch die Raten, zu denen sie ausgetauscht werden. Die gesellschaftlich zu ihrer Produktion notwendige Arbeitszeit bestimmt die Tauschrelationen der Waren, denn wenn (der Tendenz nach) in Relation zur und auf der Grundlage der (gesellschaftlich notwendigen) Arbeitszeit ausgetauscht wird, wird sich die (gegebene) Warengesamtheit, werden die Warenquanta, die, so wollen wir annehmen, in der adäquaten Proportion hergestellt worden sind, sich gemäß der Bedarfsstruktur verteilen (die selbst wieder in letzter Konsequenz dieser Proportion zugrunde liegt), oder anders gesagt: wird die Distribution in Einklang mit dieser Struktur organisiert und geregelt werden, wenngleich hinter dem Rücken der Akteure und in einem fortwährenden Prozess der Oszillation zwischen Deviation und Adaption (vgl. E. Nyikos, Das Kapital als Prozess, Peter Lang (2010), S. 86ff.).

Es sei hier nur nebenbei bemerkt, dass diese Bedarfsstruktur selbst (das relative Verhältnis der nachgefragten Warenkategorien) sich als völlig irrational herausstellen kann – zu diesen Kategorien mögen auch Werbespots, Drohnen oder sonstige im Prinzip überflüssige Gebrauchswerte zählen –, was der Angemessenheit der Distribution gemäß der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, die in den jeweiligen Waren „dargestellt“ ist, keinerlei Abbruch tut – eine Angemessenheit freilich, die sich, wie gesagt, immer nur post festum bewährt.

Es kann hier nicht näher auf weitere Aspekte der Werttheorie eingegangen werden, da dies in die Details und daher zu weit führen würde. Nur so viel: Der Wert einer Ware wird sichtbar, manifestiert sich in einem bestimmten Quantum des Gebrauchswerts einer anderen Ware, und dieses Quantum ist der Tauschwert der Ware (in dem sich das konkrete Tauschverhältnis ausdrückt), der, in der Geldware, dem allgemeinen Äquivalent, ausgedrückt, zum Preis der Ware wird. In dieser Konstellation wirkt dann der Warenwert gewissermaßen als Attraktor der Preise.

2.

Das Kapitalsystem ist ein zutiefst historisches Gesellschaftssystem, es durchläuft mithin im Laufe der Zeit verschiedene Phasen, die sich eine aus der anderen zwanglos und notwendigerweise ergeben. Es unterliegt sozusagen einer strukturellen Genese. Die Triebfeder dieser Metamorphosen ist dabei der gesellschaftliche Zwang zur Profitmaximierung, der auf die Kapitalentitäten ausgeübt wird und der sich aus dem Konkurrenzcharakter des Systems, also daraus ergibt, dass diese Kapitalentitäten sich als Rivalen (innerhalb einer Branche und zwischen den Branchen) hinsichtlich des Mehrwerts gegenüberstehen, der in der Gesellschaft produziert worden ist.

Diejenige Methode nun, die an vorderster Front diese Profitmaximierung zu realisieren erlaubt, ist die Produktion eines Extramehrwerts durch den Einsatz jeweils produktiverer (effektiverer) Verfahren (von Maschinerie usw.), die, wenn sie in den Sektoren der Lohngüter angewandt werden (wodurch der Wert der gesellschaftlichen Arbeitskraft infolge der Wertminderung der notwendigen Lebensmittel herabgesetzt wird), in der Produktion des relativen Mehrwerts resultieren.

Daraus ergeben sich im zeitlichen Ablauf folgende Modifikationen struktureller Natur:

1. die Differenzierung der Sektoren im Hinblick auf das Gewicht des konstanten Kapitals und damit die Tendenz zur Ausbildung einer uniformen Profitrate mit dem Korollarium der Verwandlung der direkten Preise in Produktionspreise (die dennoch in letzter Konsequenz an den Warenwert gebunden sind);

2. die Konzentration und Zentralisation des Kapitals, die zur Monopolisierung und daher zu Monopolpreisen führt (die sich noch weiter von den Werten entfernen, aber auch in diesem Fall letztendlich an sie gebunden sind);

3. die Automation der Produktion, die nur eine direkte Fortsetzung des beständigen Anhebens des gesellschaftlichen Niveaus der Produktivkräfte infolge technologischer Innovationen ist und sich der Aneignung der Wissenschaft durch das Kapital (weitgehend auf der Basis von Monopolprofiten) schuldet (im speziellen der Kybernetik und der Informationstheorie).

3.

Die Computerisierung und Robotisierung der Produktion, die die letzte Phase des Kapitalsystems eingeleitet haben, machen die Arbeit (verstanden als Produktionstätigkeit im Rahmen des Stoffwechsels mit der Natur) der Tendenz nach überflüssig. Was nun aber würde geschehen, wenn dieser Prozess irgendwann einen hypothetischen Endpunkt erreichte? Was, wenn die gesamte Produktion automatisiert werden würde? Wenn, mit anderen Worten, die Arbeitsprozesse aus der Produktion einmal völlig eliminiert worden sind? Dann lässt sich zeigen (vgl. ebenda, S. 473ff.), dass der Wert jeder Ware sich auf Null reduziert (und natürlich muss das dann auch, wie gleichfalls gezeigt werden kann, für den Wert der Produktionsmittel gelten). Man könnte auch sagen: Die totale Automatisierung der Produktion (die die Selbstreproduktion der Automaten impliziert, die, wie John von Neumann schon vor langer Zeit theoretisch nachweisen konnte, im Prinzip kein Problem ist) führt zur Gebrauchswertproduktion ohne Arbeitsprozesse. Und wo diese fehlen, da gibt es auch keinen Wert, ist die abstrakte Arbeit, die Arbeitszeit, doch, wie wir sahen, dessen Substanz. Der Wert verschwindet ganz einfach aus dem System.

Dieser (absolute) Bedeutungsverlust ist jedoch nur der Höhepunkt eines Prozesses, der schon früh eingesetzt hat und der sich in letzter Konsequenz dem zunehmenden Gewicht des konstanten Kapitals (der „toten Arbeit“) im Laufe des historischen Akkumulationsprozesses schuldet: So ist der Produktionspreis Konsequenz der relativen Bedeutung der Masse des konstanten Kapitals, der Monopolpreis Konsequenz der absoluten Bedeutung der Masse des konstanten Kapitals und der fiktive Preis, derjenige Preis, der in der Luft hängt, weil völlig losgelöst vom Wert (den es ja dann gar nicht mehr gibt), Konsequenz des konstanten Kapitals in seiner Form als fixes Kapital, das keiner Arbeit mehr bedarf, weil die Prozesse automatisch ablaufen können – des konstanten Kapitals mithin, das allein überlebt und in das sich das Gesamtkapital, nachdem das variable Kapital glücklich entsorgt worden ist, komplett und restlos aufgelöst hat – wenn man dann überhaupt noch von „Kapital“ im eigentlichen Sinn sprechen kann, das ja definitionsgemäß ein Produktionsverhältnis: „der sich selbst verwertende Wert“ ist.

4.

Verschwindet der Wert aus dem System, so beruht der produzierte Gebrauchswert exklusiv auf der vergangenen Arbeit in ihrer konkreten Dimension – auf der Arbeit der Toten mithin. Das aber heißt, dass, da die Toten tot sind, die Gebrauchswerte denselben Status besitzen wie das, was gar nicht produziert worden ist. Im Prinzip bedeutet dies: Die Gebrauchswerte sind da, so wie die Luft.

Haufen von Plastikmüll in Thilafushi, 2012 (2).jpg

Rekapitulieren wir: Geht man davon aus, dass die Substanz des Werts die abstrakte Arbeit, also die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist, dass, weiter, die Wertstruktur nur die Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit auf die diversen Warenkategorien reflektiert, d.h. diese Verteilung die relative Tauschfähigkeit der Waren begründet – also die Werte derselben in ihrer quantitativen Dimension –, dann folgt aus der (perspektivischen) Vollautomatisierung der Produktion, die natürlicherweise die Elimination der Arbeit aus dem Produktionsprozess impliziert, dass die Waren ihre Tauschfähigkeit verlieren oder, wenn man so will, gar nicht mehr ausgetauscht werden müssten. Denn was die Fähigkeit verliert, verliert auch die Notwendigkeit: Wenn ein Organismus die Fähigkeit zum Stoffwechsel einbüßt, also tot ist, dann muss er auch nicht mehr Nahrung assimilieren und exkrementieren, obwohl man ihm durchaus noch künstlich Nahrung zuführen könnte. Oder, um eine andere Analogie zu bemühen: Wer die Fähigkeit, Steuern zu zahlen, verliert (weil er bankrott ist), muss keine Steuern mehr zahlen, obwohl er die Steuererklärung nach wie vor ausfüllen kann. Damit fällt aber auch die Grundlage des Warensystems, die private Produktion auf der Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln und damit auch das Privateigentum an den Produktionsmitteln selbst dem Verdikt der Obsoletheit anheim. Denn wenn die Gebrauchswerte da sind so wie die Luft, dann macht es gar keinen Sinn, ja dann ist es in hohem Grade widersinnig, dass privat „produziert“ und damit ausgetauscht wird – was durch das Verschwinden des Werts, der Tauschfähigkeit, sinnfällig wird.

5.

All dies heißt aber nicht, dass das (kapitalistische) Warensystem, seiner Wertgrundlage beraubt, notwendig zusammenbrechen müsste – etwa in einer apokalyptischen Krise. Denn es ist ein Preissystem denkbar – wie etwa von V. K. Dmitriev oder S. J. Pack gezeigt worden ist –, das, auf der Basis der Vollautomatisierung der Produktion (und dem Eigentumsmonopol an den Produktionsmitteln), durchaus eine positive Profitrate zulässt, die überhaupt die mathematische Bedingung eines solchen Preissystems ist. Die Gebrauchswerte verschwinden ja nicht und auch nicht das Surplus (in Gebrauchswertausdrücken), das freilich dann mit dem Nettoprodukt in eins fallen wird. Ein solches (post-modernes) System (die Endphase des Kapitalsystems) muss in keine Krise schlittern (was Turbulenzen und Dysfunktionalitäten, so wie bisher, beileibe nicht ausschließt), es ist nur völlig fiktiv, sinnentleert, grotesk, absurd, kläglich, eine leere Hülle, die jedweder Notwendigkeit entbehrt und reif ist, auf den Abfallhaufen der Geschichte geworfen zu werden.

Post scriptum: Der Umstand, dass das System des Kapitals nicht „zusammenbrechen“ muss, wenn es sich selbst seine Wert-Grundlage entzieht, impliziert, dass der fortschreitende geistige Verfall der bürgerlichen Gesellschaft, der jetzt schon sehr schön am Corona-Wahn ablesbar ist, bis zur Vollendung fortschreiten kann. Diese „Verwilderung des Denkens“ ist freilich nicht zufällig, sondern sie ist direkte Konsequenz der Funktionsweise des Kapitalsystems selbst, insbesondere der obstinaten Fixierung auf die Gegenwart, die in der „Post-Moderne“ endemisch, ja virulent geworden ist. Diese Fixierung ist das Gift, das dabei ist, der Kritik und der Logik den Garaus zu machen. Diesbezüglich sollte man keinen Illusionen erliegen.

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Oben     —    Plastikflasche, die von Brigada do Mar während einer Strandreinigung in Portugal gesammelt wurde

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Kein Abschied aus der Kohle

Erstellt von Redaktion am 9. September 2022

Australien: Klimapolitische Zeitenwende?

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Oben     —    Das Feuer im Orroral Valley (ACT), Januar 2020

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Kolumne-Wir retten die Welt

Erstellt von Redaktion am 9. September 2022

Die CDU verpasst eine großartige Chance

Datei:120613 Doppelleben Artwork.pdf

Eine Kolumne von Bernhard Pötter

Am Anfang ist das Wort. Also: das Wort Gottes. Der 35. Parteitag der CDU am Wochenende in Hannover beginnt wie gewohnt mit einer ökumenischen Andacht. Das Signal: „Christlich“ steht hier für mehr als das Beten vor dem Frühstücksteller mit Schweinskopfsülze. Gern betonen Merz und Co, man stehe zur religiösen Grundüberzeugung und halte die christlichen Traditionen hoch.

Das kann man machen. Zu diesen 2022 Jahren Tradition aber gehören auch vielfältige Instrumente, um mit Verfehlungen der Vergangenheit umzugehen: Anerkennung eines Fehlers, tätige Reue, aufrichtige Beichte. Und zumindest ihren Priestern und Theologen erlegt die katholische Kirche gern mal ein „Bußschweigen“ auf: Wer also aus Sicht von Rom so richtig Mist gebaut hat, der soll erst mal eine ganze Weile die Klappe halten.

Und hier wird es für die CDU interessant. Denn mit dieser ehrwürdigen Tradition könnte der Parteitag in Hannover ja auch beginnen: Mit einem gemeinsamen Bußschweigen zum Thema Energiekrise. Vorher wäre ein Mea Culpa angebracht: Für 16 Jahre verkorkste Energiepolitik, die uns in die Arme des Kriegsverbrechers Gasputin und an den Rand einer Wirtschaftskrise gebracht haben:

Unter Führung der Union (mit SPD und FDP als braven Oberministranten) hat Deutschland eine energiepolitische Todsünde nach der anderen begangen: zu wenige Häuser, die Energie sparen oder mit Ökostrom heizen, zu wenig Wind- und Solaranlagen, nicht genügend Leitungen, die den Strom dahin bringen, wo er gebraucht wird. Dazu kommt: Der jetzt so gescholtene liberalisierte Strommarkt und die Koppelung der Preise an das teuerste Kraftwerk sind unter ihrer Federführung entstanden. Bayern hat sich geweigert, Stromtrassen zu bauen und Windräder zu errichten, aber dass jetzt dort der Blackout droht, ist für die CSU Schuld des grünen Wirtschaftsministers.

Und als wäre das nicht genug der Irrlehren: Gerade, wo in der Ukraine der nächste Super-GAU droht und Frankreichs marode AKWs unsere Energiekrise richtig heißlaufen lassen, trommelt die CSU für die Wiederauferstehung der Atomkraft – aber ein Endlager darf es natürlich in Bayern nicht geben, Kruzifix!

Von frommer Demut ob ihrer Beschränkungen und bußfertiger Reue ist bei den plötzlich zu Energieexperten mutierten Friedrich Merz, Jens Spahn und Alexander Dobrindt nichts zu spüren. Da herrscht Verdrängen und Verschweigen.

Quelle      :      TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —  Plakat „Doppelleben – Der Film“

Verfasser DWolfsperger      /      Quelle    :   Eigene Arbeit      /      Datum    :    1. August 2012

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.

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Unten        —     Церемония открытия газопровода «Северный поток».

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Die Russische Zentralbank

Erstellt von Redaktion am 5. September 2022

Drei Gründe, warum Russland den westlichen Sanktionen standhält

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von :     Alexander Männer

Interventionen der russischen Zentralbank. Russland hat sich angesichts der westlichen Sanktionspolitik allem Anschein nach als widerstandsfähig erwiesen, obwohl zahlreiche Experten dem Land einen schnellen wirtschaftlichen Zusammenbruch voraussagten.

Die britische Zeitung ’The Economist’ hat diesbezüglich drei Faktoren ausgemacht, die unter anderem das Überleben der russischen Wirtschaft inmitten der beispiellosen Beschränkungen erklären sollen.Nur wenige Tage nach dem Beginn der russischen Militärintervention in der Ukraine am 24. Februar haben die USA, Grossbritannien, Kanada, die Mitglieder der Europäischen Union und andere Staaten schwerwiegende Sanktionen gegen Russland eingeführt, die die Wirtschaft dieses Landes isolieren und folglich in den Abgrund stürzen sollten. Zahlreiche Politiker, Wirtschaftswissenschaftler und andere Experten sagten angesichts der beispiellosen Sanktionspolitik des ’kollektiven Westens’ einen schnellen wirtschaftlichen Niedergang Russlands voraus.

Die Analysten der US-Investmentbank JPMorgan etwa prognostizierten im März einen Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal um 35 Prozent gegenüber dem ersten Quartal des Jahres. Zugleich hatte man bei JPMorgan einen Bankrott Russlands nicht ausgeschlosen. Im gleichen Monat hatte eine andere grosse US-Bank, Morgan Stanley, ebenfalls verlautet, dass sie einen Zahlungsausfall Moskaus ’als wahrscheinlichstes Szenario’ betrachte. Auch die Ratingagentur Fitch befand, dass das Risiko ’unmittelbar’ bevorstehe, dass Russland nicht in der Lage sein werde, seine Staatsschulden zurückzuzahlen. Bei dem Handelsblatt ging man zu dem Zeitpunkt sogar davon aus, dass die russische Wirtschaft vor dem schlimmsten Einbruch seit dem Zerfall der Sowjetunion stünde.

Die Experten lagen mit solchen Prognosen allerdings weit daneben – der erwartete Kollaps blieb aus, Russlands Wirtschaft hielt dem Sanktionsdruck stand. In den Monaten April bis Juni ging die Wirtschaftsleistung laut offiziellen Angaben nur um vier Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurück.

Die russische Zentralbank indes geht laut Angaben der Zeitung ’Vedomosti’ davon aus, dass die Wirtschaft des Landes 2022 um vier bis sechs Prozent und 2023 um maximal vier Prozent schrumpfen werde, in den Jahren 2024 und 2025 jedoch um 1,5 bis 2,5 Prozent wachsen werde. Die Inflation, die in diesem Jahr zwischen 12 und 15 Prozent liegen werde, werde im kommenden Jahr zurückgehen und 2024 etwa vier Prozent betragen, heisst es.

Russland trotzt den Sanktionen

Damit ist die Lage für die Russen zwar sehr ernst, aber von einem wirtschaftlichen Niedergang ist Russland dennoch weit entfernt. Tatsächlich geht es der russischen Wirtschaft sogar viel besser, als die optimistischsten Prognosen vorhergesagt hatten, weshalb die meisten Experten, die dem Land einen baldigen Finanzkollaps voraussagten, ihre Einschätzung inzwischen revidiert haben.

Es stellt sich die Frage, wie Moskau angesichts des beispiellosen Sanktionsdrucks des Westens es geschafft hat, das Überleben der eigenen Wirtschaft zu sichern und nicht in einem finanziellen Chaos zu versinken.

Eine Antwort darauf liefert die britische Zeitung ’The Economist’ mit ihrem Artikel ’Why the Russian economy keeps beating expectations’ vom 24. August. Darin werden drei Faktoren erläutert, die die Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft angesichts der Sanktionen bislang gewährleistet haben sollen.

Interventionen der Zentralbank

Als den ersten Faktor bezeichnet ’The Economist’ die kompetenten Massnahmen der russischen Führung, die sehr schnell entsprechende Schritte unternommen hätte, um einen wirtschaftlichen Zusammenbruch zu verhindern. Die Rede ist von Zinserhöhungen, die im Zusammenwirken mit Kapitalkontrollen den russischen Rubel gestärkt haben und dazu beitrugen, die Inflation zu senken. Die russische Zentralbank versuche zudem alles dafür zu tun, um den Anstieg der Verbraucherpreise zu bremsen.

Datei:Ölquelle im Bau in Baschkortostan, Russland.png

Der zweite Faktor hängt mit den zahlreichen Wirtschaftskrisen in der jüngsten Vergangenheit Russlands und der daraus resultierenden Erfahrung der russischen Bevölkerung zusammen. Die aktuelle problematische Situation, die aufgrund der Sanktionspolitik der westlichen Staaten entstanden ist, ist bereits die fünfte Wirtschaftskrise, mit der die Russen in den vergangenen 25 Jahren konfrontiert sind. Inzwischen haben die Menschen es offenbar gelernt, sich an die wirtschaftlichen Herausforderungen und Schwierigkeiten anzupassen, nicht in Panik zu geraten und auch nicht zu rebellieren.

Zudem seien diverse Bereiche der russischen Wirtschaft schon seit geraumer Zeit vom Westen isoliert, so der Artikel. Dies hat unter anderem zur Folge, dass die russische Wirtschaft effektiver auf die jüngsten Sanktionen reagieren konnte.

Als der dritte Faktor gilt der russische Rohstoff-Export. Seit Beginn des Ukraine-Krieges hat Russland fossile Energieträger im Wert von 85 Milliarden US-Dollar in die EU verkauft. Ein aktueller Bericht der Internationalen Energieagentur weise zudem darauf hin, dass die Sanktionen wenig Einfluss auf die russische Ölproduktion gehabt hätten.

Fazit

Der Export von Energieträgern hat in der Tat enorm dazu beigetragen, dass Russland den westlichen Sanktionen trotzen und sich inmitten der aktuellen Wirtschaftskrise relativ gut zurechtfinden konnte. Insbesondere die Höchststände bei den Öl- und Gaspreisen haben dem Land Rekordeinnahmen beschert und dafür gesorgt, dass der Handelsüberschuss in diesem Jahr – trotz Sanktionen – sogar noch weiter steigen wird.

Das Wirtschaftswachstum wird unter anderem davon abhängen, ob es Russland gelingt, den Technologieimport weiter aufrechtzuerhalten. Denn die Russen sind in hohem Masse auf ausländische Ausrüstung und Know-how angewiesen und deshalb brauchen sie neue Handelspartner, die den unterbrochnen Import aus dem Westen ersetzen könnten. Andernfalls besteht die Gefahr, dass das Land mittel- bis langfristig in eine wirtschaftliche Isolation gerät und sich früher oder später in einer schwerwiegenden Rezession wiederfindet.

Quellen:

https://www.jpmorgan.com/insights/research/russia-ukraine-crisis-market-impact#:~:text=J.P.%20Morgan%20Research%20forecasts%20that,contraction%20of%20at%20least%207%25.

https://www.reuters.com/world/europe/jpmorgan-shock-russian-gdp-will-be-akin-1998-crisis-2022-03-03/

https://edition.cnn.com/2022/03/02/investing/default-sanctions-russia/index.html

https://www.bloomberg.com/news/articles/2022-03-07/morgan-stanley-sees-russia-set-for-venezuela-style-debt-default

https://www.bloomberg.com/news/articles/2022-03-07/morgan-stanley-sees-russia-set-for-venezuela-style-debt-default

https://www.handelsblatt.com/politik/international/sanktionsfolgen-russland-steht-vor-der-schlimmsten-wirtschaftskrise-seit-dem-zerfall-der-sowjetunion/28217626.html

https://www.nytimes.com/2022/08/12/business/russia-economy-gdp.html
https://www.vedomosti.ru/economics/articles/2022/08/14/935939-tsb-razvitiya-ekonomiki

https://www.businessinsider.in/stock-market/news/jpmorgan-says-russias-economy-is-doing-much-better-than-expected-and-will-only-shrink-3-5-this-year-despite-western-sanctions/articleshow/92682899.cms

https://www.economist.com/finance-and-economics/2022/08/23/why-the-russian-economy-keeps-beating-expectations

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„Rheinmetall entwaffnen“

Erstellt von Redaktion am 1. September 2022

„Krieg ist eines der profitabelsten Geschäfte“ 

Interview : Lea Fauth

taz: Frau Lenert, Frau Kemper, „Abrüstung“, „weniger Waffen“ – das war einmal breiter gesellschaftlicher Konsens, ist mit dem Ukrainekrieg aber sehr ins Bröckeln gekommen. Viele sagen: Waffen werden zur Verteidigung gebraucht. Ist Ihr antimilitaristischer Kampf für Abrüstung noch zeitgemäß?

Conni Lenert: Es ist zeitgemäß und auch extrem wichtig, gerade in den aktuellen Begebenheiten. Wir haben im Zuge des Ukrainekriegs nochmal offen miteinander diskutiert: Wie gültig sind eigentlich unsere Forderungen? Die richten sich ja gegen Produktion und Export von Rüstung in und aus der Bundesrepublik. Wir denken, das ist weiterhin eine gültige Forderung. Rheinmetall zum Beispiel ist ein global agierendes Unternehmen, das an 139 Staaten Waffen liefert. Es gibt insgesamt 193 Staaten weltweit. Waffen von Rheinmetall werden in Kriegen eingesetzt – und zwar auf beiden Seiten. Krieg ist ein riesiger Sektor, in dem Profit gemacht wird. Dagegen wenden wir uns.

Nina Kemper: Hinzu kommt die Doppelmoral, die von westlichen Regierungen an den Tag gelegt wird. Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg wird jeden Tag aufs Neue verurteilt, während die Türkei dasselbe völlig unkommentiert in den kurdischen Autonomiegebieten tut. Seit April wieder mit massivem Beschuss, teilweise auch mit Giftgas. Man muss sich einfach von der Illusion lösen, dass Kriege aus positiven Gründen geführt werden. Kriege für den Frieden gibt es nicht. „Mehr Waffen“ bedeutet „mehr Tod“ und verlängert jeden Krieg – auch den in der Ukraine.

Was kann man dann den Menschen in der Ukraine konkret raten?

Lenert: Was man tun kann, wenn man angegriffen wird, ist natürlich eine Entscheidung der Einzelnen. Wichtig ist zu unterstreichen: Es geht um die Menschen und nicht um Staaten. Linke sagen gerade oft: „Wir müssen Waffen an die Ukraine liefern“, und dann reden sie plötzlich aus der Perspektive der Bundesrepublik. Gleichzeitig ist das eine schwierige Frage, auf die wir keine zufriedenstellende Antwort haben. Wir verweisen aber darauf, dass wir rausmüssen aus der militärischen Logik insgesamt.

Wie?

Lenert: Frieden innerhalb des kapitalistischen Systems kann es nicht geben. Wenn man innerhalb dieses Systems versucht, die militärische Logik zu durchbrechen, könnte das sein: Druck aufzubauen auf die Regierenden, sodass Verhandlungslösungen überhaupt möglich oder vorstellbar werden.

Kemper: Die sogenannte Zeitenwende, die von Olaf Scholz vermeintlich wegen des Krieges in der Ukraine ausgerufen wurde, die war ja überhaupt keine Zeitenwende. Die ganzen Vorbereitungen auf die Erhöhung des NATO-Beitrags, der Einsatz von bewaffneten Drohnen, Überlegungen zu einer europäischen Armee, usw.: Das alles war sowieso eine Tendenz, und dieser 100-Milliarden-Deal für die Bundeswehr ist eine extreme Beschleunigung dieser Tendenz.

Manchen gibt diese Aufrüstung ein Gefühl von Sicherheit.

Lenert: Als Antifaschistinnen ist es für uns sehr bedrohlich, dass die Bundeswehr, die von einem Rechtsextremismus-Skandal in den nächsten stolpert, so viel Waffen und Ausrüstung bekommt. Auch für die Konzerne geht es da überhaupt nicht – die verpacken das ja immer unter diesen zwei Wörtern – um Sicherheit und Verteidigung. Es geht da ganz klar um Profite. Rheinmetall ist in manchen Fällen nicht erlaubt worden, Waffen und Munition nach Saudi Arabien zu liefern. Das ist ein diktatorisches System, das Krieg im Jemen führt. Was macht Rheinmetall? Es umgeht die Exportbeschränkungen der Bundesregierung über Tochterfirmen auf Sardinien und in Südafrika, um diesen Ländern trotzdem Munition und Waffen liefern zu können. Solche Firmen sind Profiteure von menschlichem Leid. Diese Leute tragen Anzüge und haben ihre Büros am Pariser Platz. Das sind einfach richtige Schweine.

Wie kann denn umgekehrt Ihrer Meinung nach eine Politik der Abrüstung aussehen?

Lenert: Wichtig sind Abkommen zur Abrüstung. Statt den Militäretat auf 2 Prozent des BIP jedes NATO-Landes festzulegen, bringt man ein globales Abkommen auf den Weg, wo die Nationen und Staaten sich verpflichten, den Rüstungsetat um 10 Prozent zu kürzen. Die Verhältnisse bleiben zwar erst mal gleich. Es wird aber insgesamt weniger Rüstung hergestellt.

Ein Protestcamp des Bündnisses läuft bis 4. September in Kassel.

Kemper: Wir müssen grundsätzlich aus dieser militärischen und kapitalistischen Logik herauskommen. Krieg ist eben eines der profitabelsten Geschäfte auf dieser Welt. Gleichzeitig machen Rüstungskonzerne ja nicht nur Profite mit Kriegen, sondern auch mit den Folgen des Krieges. Menschen, die sich auf die Flucht machen nach Europa, werden mit Drohnen und Waffen von Rheinmetall und Co abgewehrt.

… gemeint ist Frontex?

Kemper: Genau, Krieg und Flucht sind ein tödlicher Kreislauf, der durch mehr Waffen immer weiter befeuert wird. Deswegen ist es für uns keine Möglichkeit, dieses staatliche Verlangen nach mehr Aufrüstung in irgendeiner Form zu unterstützen. Gleichzeitig sind wir mit allen Protestierenden und Kriegsgegnern, sowohl in der Ukraine als auch in Russland solidarisch.

Würden Sie auch Menschen in Rojava empfehlen, zu desertieren?

Quelle        :          TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     — Rheinmetall Panther KF51

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Unten    — Vor der Zentrale der Rheinmetall AG, Düsseldorf am 26.10.2012 Kampagene „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“

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USA, Bruder oder böser Wolf

Erstellt von Redaktion am 31. August 2022

Arroganz und Angst sind schlechte Berater

Drei große Soldaten

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

In unserer Zeit des politischen und wirtschaftlichen Chaos fehlt jegliche auf Frieden und Verständigung gerichtete Initiative der USA, die seit 1945 hegemoniale Macht über die Welt zu haben gewohnt sind und sich jetzt in der für sie unfassbaren Situation befinden, ihren Willen nicht mehr wie bisher überall durchsetzen zu können.

Das ist für die Welt eine unerwartete Bedrohung insofern, als sich zu der dummdreisten Arroganz jetzt in den USA Angst vor einem geopolitischen Gegenpol aufkommt. Diese Angst und die gewohnte Arroganz sind jedoch schlechte Berater in einer Zeit, die kluge Führung braucht. Ausgerechnet der chinesische Staatsführer mahnt wiederholt: „Wir müssen die Mentalität des Kalten Krieges aufgeben und friedliche Koexistenz anstreben“, „Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass Konfrontation keine Probleme löst, sondern katastrophale Konsequenzen heraufbeschwört.“

Und das auch noch vor dem Hintergrund, dass China seit der Gründung der Volksrepublik 1949 kein einziges Land zur Durchsetzung eigener Interessen überfallen hat, während die USA mit über 700 Militärbasen weltweit und unzähligen Kriegen der Welt ihren Willen aufzuzwingen suchen. Als waffenstarrende Weltmacht stets gegen einen imaginären, schwächeren Gegner. Und doch sind sie überall gescheitert. Die Pax Americana ist ein Wunschtraum. Und das erkennen nun endlich viele Nationen und verweigert den USA blinde Gefolgschaft. Mit Ausnahme der BRD und des UK.

Nach dem ebenso beispiellosen wie beispielhaften Aufstieg der Volksrepublik China wird diese plötzlich arrogant zum Feind Nr.1 der USA erklärt, nachdem eben diese USA durch profitgeile Fertigungsaufträge ganz erheblich zu diesem Aufstieg beigetragen haben. Pecunia non olet! (Geld stinkt nicht). Diese Arroganz versperrt nun den Blick für jede vernünftige Lösung in der derzeitigen Weltlage. Dass man mit einer Seidenstraße mehr ausgewogene Beziehungen mit anderen Ländern schaffen kann als mit Kriegen, ist den USA völlig fremd und somit gegen ihre Interessen.

Weil man sich aber die eigenen Hände nicht schmutzig machen will, schiebt man andere Organisationen wie NATO oder QUAD (Quartett aus USA, Australien, Indien, Japan) vor, ohne allerdings das Kommando aus der Hand zu geben. Hoch lebe die US-Waffenindustrie! Aber Achtung: an die vielbeschworene „regelbasierte internationale Ordnung“, deren Regeln von den USA bestimmt worden sind, glaubt heute kein Mensch mit Verstand. Und weil dieses Privileg der USA schwindet, beschleicht sie jetzt pure Angst, die sie hinter der unverbindlichen Floskel dadurch kaschiert, dass sie ihre irrwitzigen Handlungen als „Selbstverteidigung“ bezeichnet.

Wann endlich sehen auch unsere Politiker ein, dass es eine friedvolle Welt nur gibt, wenn sich die verschiedenen Kulturen vernünftig verständigen und Wettbewerb als Anregung verstehen. Nach der unsäglichen Ausplünderung großer Teile der Welt in der Kolonialzeit gehört zu der Verständigung aber auch, dass der Wohlhabende dem Armen hilft. Das aber geht nicht mit Arroganz und Angst.

Urheberrecht
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Oben      — Drei große Soldaten

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Zurück zur Planwirtschaft

Erstellt von Redaktion am 29. August 2022

Konzerne können Mitarbeiter motivieren, sei es durch variable Vergütungen oder Karriereleitern

Niemand sollte das jahrelange Versagen der Politik den Konzernen zu Gute schreiben !

Von Oliver Roßmannek

Die zentrale Planung von Großkonzernen ist heute effizienter als in der Vergangenheit. Moderne Informationstechnologien sind mit ein Grund dafür.

Spätestens mit dem Untergang der Sowjetunion 1991 endete die Utopie, dass eine sozialistische Wirtschaftsordnung dauerhaft tragfähig ist. Es war nicht mehr zu leugnen, dass eine Planwirtschaft dermaßen ineffizient und innovationsfeindlich ist, dass sie nur mittels Unterdrückung und autoritärer Regime überleben kann. Wäre es ein Boxkampf, hätte die Marktwirtschaft durch K. o. gewonnen. Folglich waren privates Eigentum und wirtschaftliche Steuerung über Marktpreise die Mittel der Wahl für erfolgreiche Staaten.

Das sozialistische China verwandelte sich unter Deng Xiaoping in den 1990ern schleichend in eine Marktwirtschaft und wurde quasi zum Synonym für Wirtschaftswachstum. Sozialistische Länder ohne marktwirtschaftliche Reformen wie Kuba oder Nordkorea versanken dagegen in wirtschaftlicher Stagnation. Die Geschichte ist damit allerdings nicht zu Ende. Selbst Rocky Balboa verlor seinen ersten Titelkampf, trat aber schließlich erfolgreich zum Re-Match an. Die Planwirtschaft kommt zurück. Und ganz wie Rocky könnte sie am Ende gewinnen.

Wieder ist China Vorreiter, diesmal getrieben von den diktatorischen Allmachtsfantasien des Xi Jinping. Im Geiste Maos initiierte Xi in den letzten Jahren massive Programme, um junge großstädtische Akademiker auf dem Land anzusiedeln. Und noch immer erholt sich die chinesische Tech-Branche von den harten Regulierungsmaßnahmen die Xi in den letzten Monaten auferlegte. Auch wenn das Ergebnis dieses „Großen Sprungs in die Vergangenheit“ noch nicht feststeht und die Reformen selbst innerhalb der kommunistischen Partei umstritten sind, könnte der Kurs Richtung Planwirtschaft langfristig klappen.

Betriebswirtschaftlich lässt sich das damit erklären, dass eine zentrale Planung in großen Konzernen und Organisationen heute weitaus effizienter ist als noch einige Jahrzehnte zuvor. Eine gängige Annahme unter Ökonomen und Managern ist, dass die Performance von Konzernen leidet, wenn zu viele verschiedene Geschäftsbereiche in einem Konzern verwaltet werden. Die steigende Komplexität könne die zentrale Planung in einem Konzernvorstand schnell überfordern, glaubt man. Nicht ohne Grund spaltet der Siemens-Konzern seit 2010 viele Geschäftsbereiche ab. Nun zeigen aktuelle Ergebnisse einer großen wissenschaftlichen Vergleichsstudie, dass diese gängige Annahme immer weniger stimmt. Ergebnisse aus den letzten 50 Jahren indizieren, dass Konzerne mit vielen Geschäftsbereichen immer weniger unter dieser Struktur leiden.

Ein maßgeblicher Treiber dieser Entwicklung sind Fortschritte in den Organisationswissenschaften. So hat sich in vielen Konzernen die Nutzung von internen Märkten durchgesetzt. Mit Simulation einer Marktwirtschaft können einzelne Teile eines Konzerns miteinander Handel treiben und marktübliche Preise nutzen, also wären sie unabhängige Unternehmen. Damit reduziert sich die Komplexität für den zentralen Unternehmensvorstand und die Effizienz von Marktmechanismen kommt dem Konzern zugute.

Ganz ohne Plan und ohne Ziel – schaffen sie es nie!

Ein anderer Treiber ist die verstärkte Anwendung von organisationspsychologischen Erkenntnissen. Traditionell haben Konzerne mit einer relativ geringen Motivation ihrer Mitarbeiter zu kämpfen. Kleine selbstständige Unternehmer sind dagegen höher motiviert, da sie sich abseits von Hierarchien gut selbst verwirklichen können und außerdem für den eigenen Wohlstand arbeiten. Jedoch gelingt es Konzernen immer besser, Mitarbeiter zu motivieren, sei es durch variable Vergütungen, verheißungsvolle Karriereleitern oder eine sinnstiftende Unternehmensvision. Auch kommen immer mehr Happiness Manager zum Einsatz für den Stressabbau der Mitarbeiter und die Steigerung des Engagements.

Große Staatskonzerne müssen nicht zwangsweise innovationshemmend sein. Konzepte wie das sogenannte Intrapreneurship ermöglichen es Mitarbeitern, eigene Produkte und Geschäftsmodelle innerhalb der Konzernstrukturen zu entwickeln. So hat allein die Deutsche Bahn über 75 Intrapreneurship-Teams, die die Digitalisierung der Branche vorantreiben sollen. Andere Staatskonzerne wie Airbus können überhaupt erst so innovativ sein, da sie auf die Finanzmittel und politische Unterstützung von Staaten bauen können. Großflugzeuge sind so kapitalintensiv, dass neue private Investoren kaum in den Markt einsteigen können.

Quelle      :        TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben      —     Bahnhof Saalfeld/Saale.

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Unten      —      Unterzeichnung des Koalitionsvertrags für die 20. Wahlperiode des Deutschen Bundestages am 7. Dezember 2021

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Uno von der Hinterbank

Erstellt von Redaktion am 28. August 2022

Olaf Scholz hätte mal besser Uno spielen sollen

Baraja de UNO.JPG

Manche Kinder spielen „Blinde Kuh“ und lernen trotzdem stets dazu

Von Antje Lang-Lendorff

Olaf Scholz hat kürzlich einen ungewöhnlichen Einblick in sein Privatleben gewährt. Das ging ein bisschen unter im Nachrichtengewimmel von Gasumlage, toten Fischen und Krieg. Beim Tag der offenen Tür im Kanzleramt erzählte er Kindern am vergangenen Wochenende, dass er in der Schule früher gut war.

Seine Hobbys damals? „Ich war jemand, der ziemlich viel gelesen hat.“ So weit, so langweilig. Dann aber fragte ein Junge, ob der Kanzler Uno möge. Scholz wirkte irritiert. „Das ist ein Kartenspiel“, schob der Junge hinterher. Scholz antwortete: „Danke für den Nachsatz, das hätte ich nicht gewusst, also kann ich das auch nicht bewerten.“

Olaf Scholz kennt Uno nicht? Man mag es kaum glauben. Ist das jetzt wieder eine von seinen schwer zu erklärenden Erinnerungslücken? Meint er das ernst?

„Waaaaas?“, fragt auch der Elfjährige, als ich ihm davon erzähle. Für ihn gehört Uno zu seiner Kindheit wie Bolzplatz und Erdbeereis. Und nicht nur für ihn. Uno, diese knallbunte Variante von Mau-Mau, ist seit Jahrzehnten ein Klassiker, bei Kindern wie bei Erwachsenen.

Ziel des Spiels ist es, möglichst zügig alle Karten auf der Hand loszuwerden. Uno ist spaßig, leicht zu erklären und relativ schnell gespielt. Am Küchentisch. In der Kneipe. Auf Schulhöfen. In Zügen und Autos. Auf nassen Handtüchern im Freibad. Könnte man die in Deutschland mit Uno verbrachten Stunden zusammenrechnen, wären das vermutlich viele Millionen, um es in der Sprache des ehemaligen Finanzministers zu sagen. Oder anders ausgedrückt: Uno ist eine der besten Ideen, die je jemand hatte (sie stammt übrigens von einem Friseursalonbesitzer aus Ohio, USA; er hat das Spiel vor über 50 Jahren erfunden).

Wenn Scholz Uno nicht kennt, kann er einem leidtun. Zu Ende gedacht heißt das ja, dass in seinem ganzen Leben nie jemand mit ihm Uno spielen wollte. Ach herrje.

Da hat er echt etwas verpasst. Hätte Olaf Scholz in seiner Kindheit ein paar Bücher weniger gelesen und stattdessen Uno gespielt, er wäre auf das Amt des Bundeskanzlers wohl besser vorbereitet gewesen.

Voller Saal mit leeren Köpfen

Denn Uno ist nicht nur lustig. Es fördert auch kognitive und soziale Fähigkeiten, wie man bei Päd­ago­g*in­nen nachlesen kann. Etwa strategisches Denken: Welche Karte spiele ich wann aus? Und auch das „Durchhaltevermögen“, wie es in einem erziehungswissenschaftlichen Papier der Uni Bielefeld heißt. Das wird Scholz noch brauchen, die SPD liegt in Umfragen inzwischen auf dem dritten Platz hinter CDU und Grünen, Robert Habeck kommt als Person bislang deutlich besser an als er.

Ob Scholz das frustriert? Wenn ja: Uno soll auch den „Umgang mit eigenen Emotionen“ schulen. Okay, seine Gefühle hat Pokerface Scholz üblicherweise gut im Griff. Jedenfalls wirkt es so. Uno ist aber auch lebendig, kommunikativ, vielleicht hätte es ihm geholfen, mehr aus sich heraus zu kommen.

Noch eine Zeitenwende

Die Konzentrationsfähigkeit und eine schnelle Auffassungsgabe werden beim Spielen ebenfalls gefördert. Wenn man nur noch eine Karte auf der Hand hat, muss man geschwind „Uno!“ rufen, bevor der oder die Nächste an der Reihe ist, sonst gibt es Strafkarten. Wer nicht schnell genug schaltet, hat Pech. Uno ist wie Gehirnjogging. Und das hilft nicht nur am Spieletisch, sondern im Zweifel auch bei Problem-Pressekonferenzen mit falschen historischen Vergleichen.

Quelle       :            TAZ-online        >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben     —     Baraja de UNO

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Unten      —         I FNs generalforsamling i hovedkvarteret i New York.

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Scheinriese + Möchtegerne

Erstellt von Redaktion am 28. August 2022

Gegen einen «Scheinriesen» rüstet Europa mit Milliarden auf

Verkriechen sich nicht auch Politiker-innen hinter Schutzzäune um ihren Schwachsinn zu verkaufen?

Quelle      :        INFOsperber CH.

Urs P. Gasche /   

Die russische Armee entpuppe sich als «Scheinriese» und sei «konventionell keine Bedrohung». Das schreibt NZZ-Chef Eric Gujer.

Am 8. Juni 2022 vertrat ich auf Infosperber die Meinung, dass es keinen Grund zum Aufrüsten gebe, denn «der Krieg schwächt Russland». Die Lobbys der Militärs und der Rüstungskonzerne würden die Kriegsbilder ausnutzen, um Gefahren an die Wand zu malen und sich bei den Politikern für ihre Interessen durchzusetzen.

Nicht erst der jetzige Krieg schwächt Russland. Am 27. August kommt NZZ-Chefredaktor Eric Gujer in einem Frontseite-Leitartikel zum Schluss, dass die militärische Stärke Russlands schon vorher massiv überschätzt worden sei: «Westliche Beobachter waren davon ausgegangen, dass die Armee nach postsowjetischem Zerfall umfassend modernisiert worden sei. Welch ein Irrtum.»

Es fehle «an vielem, was den zeitgenössischen High-Tech-Krieg ausmacht», darunter «Präzisionswaffen, multisensorische Aufklärung und genaue Zielerfassung». Die meisten Panzerfahrzeuge würden «auf Entwicklungen aus den siebziger Jahren» basieren und seien «gegen Projektile der ukrainischen Infanterie unzureichend geschützt». Flugzeuge der fünften Generation – wie der amerikanische F-35 – hätten in Russland «die Serienproduktion noch nicht erreicht».

Fazit von Erich Gujer: «Diese Armee ist ein Scheinriese.»

Streitkräfte, «die wie vor achtzig Jahren kämpfen», fährt Gujer fort, «verlieren für jeden halbwegs gerüsteten Gegner viel von ihrer Bedrohlichkeit». Moskaus Armee werde «mit syrischen Milizen fertig – und sonst?». Helmut Schmidt habe die Sowjetunion einmal als «Obervolta mit Atomraketen» bezeichnet. «Drei Jahrzehnte der Reformversuche haben an der Gültigkeit dieses Aphorismus nichts geändert», meint Gujer. Jedenfalls sei Russland «in einem konventionellen Schlagabtausch keine Bedrohung für die Nato».

Es war und ist nicht davon auszugehen, dass Russland westliche Nachbarstaaten militärisch angreift

Die Lobbys der westlichen Militärs und der Rüstungskonzerne behaupten zwar das Gegenteil. Doch der Putin-Clan, Patriarch Kyrill und die Staatsmedien würden es selbst mit allen Propaganda-Tricks kaum schaffen, den Russinnen und Russen weiszumachen, dass auch Polen, die baltischen Staaten oder Finnland zur russischen Identität gehören oder es dort eine Nazi-Regierung zu bekämpfen gebe, welche einen Genozid an Russen verübe.
Was die Schweiz betrifft, ist nicht nachvollziehbar, weshalb Russland dieses Land angreifen sollte. Die Schweiz verfügt über zwei attraktive Werte für andere Staaten: die technologisch hochstehende Industrien und die Nord/Süd-Alpentransversalen. Ein Krieg würde beides zerstören, womit die Schweiz für einen Angreifer wertlos würde.

Die Wächter der Lobbygruppen

Russland ist nicht mehr in der Lage, Teile anderer Nachbarländer militärisch zu annektieren

  • Das russische Militär konnte in sechs langen Kriegsmonaten nicht einmal den ganzen Donbass und die Schwarzmeerküste unter seine Kontrolle bringen. Der Krieg zerstört einen namhaften Teil der russischen Armee. Sie verliert hunderte Kampfflugzeuge und Panzer sowie einen grossen Teil ihres besten Militärpersonals.
    Auf jeden Fall wird das russische Militär nach diesem Krieg noch schwächer sein als vorher. Es wird Jahre dauern, bis die russische Armee auch nur auf dem gleichen Level sein kann wie vor dem Krieg.
    Polen, die baltischen Staaten und bald auch Finnland gehören der Nato an. Die Nato ist Russland schon heute militärisch mit Kampfflugzeugen und logistisch haushoch überlegen.
  • Auch die russische Wirtschaft wird stark geschwächt aus diesem Krieg hervorgehen. Neben den hohen Kriegskosten bekommt Russland die Folgen der drastischen Sanktionen Monat für Monat stärker zu spüren. Die Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung ist bekannt, aber auch diese hat Grenzen. Um einen konventionellen Krieg zu führen, braucht es nicht nur das Militär, sondern auch eine genügend starke Wirtschaft.

Die Fakten sprechen dagegen, dass Russland für Westeuropa und die baltischen Staaten oder für Finnland auf absehbare Zeit eine Gefahr darstellt.

Die atomare Bedrohung

Eine Ausnahme wäre ein Angriff mit taktischen Atomwaffen: «Bei taktischen und operativ-taktischen Nuklearwaffen ist Russland eindeutig überlegen», erklärte Sicherheitsexperte und SVP-Politiker Albert A. Stahel gegenüber Infosperber. Und das sei «nicht zu unterschätzen».

Doch vor solchen atomaren Vernichtungsschlägen können weder Kampfpanzer noch Kampfjets die Bevölkerungen schützen.

Es gibt deshalb keinen ausreichenden Grund, weshalb Deutschland für seine Sicherheit aufrüsten und sich dafür mit 100 Milliarden Euro verschulden muss. Und es gibt keinen überzeugenden Grund, weshalb die Schweiz für sechs Milliarden Franken 36 US-Kampfjets kaufen muss. Drohnen oder Flugabwehrgeräte wären – wenn schon – adäquater.

Alle diese Milliarden werden dringend zum Bewältigen existenzieller Probleme der Menschheit gebraucht.

Dessen ungeachtet werden das Pentagon, die vielen grossen Industriekonzerne, welche auch Waffen herstellen, sowie die von ihnen mitfinanzierten sogenannten Think Tanks und Stiftungen* weiterhin ausgeklügelte Narrative für die Politik und für die Medien verbreiten, wonach Putin-Russland das alte Sowjetreich wiederherstellen möchte und dazu auch tatsächlich in der Lage sei, sofern der Westen nicht massiv aufrüste.

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*Einige Think Tanks und Stiftungen

Sollten sich diese Clans nicht besser in : „Wir Denken und ihr zahlt für euere Dummheit“, umbenannt werden ?“

Einige von ihnen werden vom Pentagon oder der US-Regierung mitfinanziert. Etliche weisen nicht transparent aus, wer die «Spender» oder «Sponsoren» sind.

«National Endowment for Democracy». Sie wurde von Ronald Reagans CIA-Chef Bill Casey gegründet und finanziert u.a. NGOs in über hundert Ländern;
«Brookings Institution» ist laut Economist der prestigeträchtigste US-Think Tank;
«Council on Foreign Relations». Unter den Mitgliedern sind ehemalige US-Aussenminister und CIA-Direktoren.
«Heritage Foundation». Diese politische Forschungsinstitution hat das Motto «Leadership for America» («Führung für Amerika»). Es verfolgt nach eigenen Worten die Förderung «konservativer Politik auf der Grundlage der freien Marktwirtschaft, des minimalen Staats, der individuellen Freiheit, traditioneller amerikanischer Werten und einer starken nationalen Verteidigung».
«Stiftung Mercator» in Deutschland und der Schweiz;
«Victor Pinchuk Foundation» in der Ukraine;
«Quincy Institute for Responsible Statecraft». George Soros und die erzkonservative «Koch Foundation» finanzierten den Start im Jahr 2019.
«Young Leaders Programme von Atlantik-Brücke und Weltwirtschaftsforum». Siehe Dokumentation der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags;
«Atlantik-Brücke». Dieser Verein will die Zusammenarbeit und die Freundschaft zwischen Europa und den USA fördern.
«Atlantic Council». Nach eigenen Angaben: «Der Rat bietet ein wichtiges Forum für die Bewältigung der dramatischen wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die das einundzwanzigste Jahrhundert bestimmen, indem er sein einzigartig einflussreiches Netzwerk globaler Führungskräfte informiert und mobilisiert. Der Atlantic Council – durch die von ihm veröffentlichten Papiere, die von ihm entwickelten Ideen, die von ihm entwickelten zukünftigen Führungskräfte und die von ihm aufgebauten Gemeinschaften – prägt politische Entscheidungen und Strategien zur Schaffung einer freieren, sichereren und wohlhabenderen Welt.»
Laut Wikipedia: «Sein Auftrag ist die Förderung von konstruktiver US-Führung und -Engagement in internationalen Angelegenheiten auf Basis der zentralen Rolle der atlantischen Gemeinschaft bei der Bewältigung der internationalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Bis zu seiner Nominierung 27. Februar 2013 als US-Verteidigungsminister war Chuck Hagel Vorsitzender.»
Bilderberg-Konferenzen. Die meisten Teilnehmer kommen seit jeher aus NATO-Staaten. Seit 1989 nehmen zunehmend Personen aus anderen Ländern an den jährlichen Konferenzen teil. Anmerkung von Wikipedia: «Aufgrund des rechtlich informellen Charakters des Treffens können keine ausführbaren Beschlüsse getroffen werden. Durch die Diskussionen soll ein Konsens über eine gemeinsame Denk- und Handlungslinie erreicht werden.»

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.

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Grafikquellen        :

Oben      —     Das ****s-Hotel Taschenbergpalais in Dresden-Altstadt, mit Absperrungen für die Bilderberg-Konferenz 2016

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Unten     —     Fairfax County PD at the main entrance.

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Die Grenzen des Kapitals:

Erstellt von Redaktion am 23. August 2022

 Extreme Verschuldung und Klimawandel-
Anpassung im Globalen Süden

Quelle        :     Berliner Gazette

Von         :        Tomasz Konicz

Die extreme Verschuldung gerät außer Kontrolle, vor allem in Afrika und im globalen Süden insgesamt, wo Wirtschafts- und Klimakrisen miteinander verwoben sind, sich gegenseitig befeuern und im Zuge dessen erkennbar machen, dass die inneren und äußeren Grenzen des Kapitals erreicht sind, wie Tomasz Konicz in seinem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” argumentiert.

Eigentlich kann sich der Spätkapitalismus keine kostspielige Klimapolitik mehr leisten. Schon gar nicht dort, wo es vor allem darauf ankäme: im globalen Süden.

Die Weltbank warnte Anfang Juni angesichts hoher weltweiter Staatsverschuldung, die im Verlauf der Pandemiebekämpfung sprunghaft anstieg, vor einer schweren Schuldenkrise in Ländern mit „niedrigen und mittleren Einkommen“, ähnlich derjenigen Welle von Staatspleiten und Wirtschaftseinbrüchen, die in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts viele Entwicklungsländer verwüstete. Gegenüber 2019 drohe weiteren 75 Millionen Menschen in der Peripherie des Weltsystems der Absturz in „extreme Armut“, da extreme Schuldenlast, Inflation und ein rasch steigendes Zinsniveau eine Wirtschaftslage zur Folge hätten, die „ähnlich den 1970ern“ sei, hieß es weiter (siehe hierzu auch: „Zurück zur Stagflation?“).

Blackrock und Afrika

Von den 305 Billionen US-Dollar, auf die sich die weltweiten Schuldenberge inzwischen summieren, entfallen rund 100 Billionen auf Schwellenländer inklusive China. Die globale Gesamtverschuldung betrug 2019, am Vorabend der Pandemie, rund 320 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Sie liegt nun, nach einem Spitzenwert von 360 Prozent 2020, bei 350 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Dabei ist ein Großteil des Schuldenwachstums, das vornehmlich durch die Gelddruckerei der Notenbanken ermöglicht wurde, gerade in der Semiperipherie zu verorten. Mehr als 80 Prozent der im letzten Jahr akkumulierten Schulden sind in den Schwellenländern neu aufgenommen worden.

Die Entwicklungs- und Schwellenländer drohen somit unter ihrer Schuldenlast gerade zu dem Zeitpunkt zusammenzubrechen, wo umfassende Investitionen in den Klimaschutz notwendig wären. Geradezu dramatisch entfaltet sich die Wechselwirkung aus ökologischer und ökonomischer Krise auf dem weitgehend wirtschaftlich abgehängten Kontinent, der am wenigsten zur Klimakrise beigetragen hat: im subsaharischen Afrika. Der gesamte afrikanische Kontinent ist nur für vier Prozent der globalen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich, die – historisch betrachtet – zum überwiegenden Teil vom globalen Norden verursacht worden sind. Dennoch wird ein Großteil der ohnehin zu knappen Klimahilfen der Zentren für Afrika in Form von Krediten geleistet, mit denen die Schuldenlast in der Peripherie weiter ansteigt, während Investmentgesellschaften wie Blackrock – mit Investments von mehr 10 Billionen Dollar der weltweit größte Vermögensverwalter – sich weiterhin weigern, einem substanziellen Schuldenerlass zuzustimmen.

Blackrock war auch der größte Gläubiger Sambias, das Ende 2020 den Staatsbankrott erklären musste, nachdem der Vermögensverwalter sich weigerte, einer Aussetzung des Schuldendienstes zuzustimmen. Die Pleite des südafrikanischen Staates, der mit 13 Milliarden Dollar in der Kreide stand, dürfte aber nur den Auftakt der afrikanischen Schuldenkrise bilden. 2015 waren laut Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) acht Staaten im subsaharischen Afrika überschuldet und liefen Gefahr, in den Staatsbankrott zu taumeln. Im März 2022 waren es schon 23 Staaten. Die Wirtschafts- und Einnahmeneinbrüche im Verlauf der Pandemie, das Auslaufen eines Zinsmoratoriums im Dezember 2021, der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 und die Zinswende der US-Notenbank Fed lassen immer mehr afrikanische Staatshaushalte in Schieflage geraten. Zudem sieht sich China, das in den vergangenen Jahren als wichtiger Kreditgeber und Wirtschaftspartner Afrikas agierte, selber mit den Folgen einer gigantischen Immobilienblase und des pandemiebedingten Lockdowns konfrontiert. Die Gesamtverschuldung der Region hat sich von 380,9 Milliarden 2012 auf rund 702,4 Milliarden im Pandemiejahr 2020 nahezu verdoppelt.

Diese Schuldenlast erstickt alle Ansätze, die Folgen der Klimakrise in der Peripherie mit umfassenden Maßnahmepaketen zu mildern, wie Nichtregierungsorganisationen (NGO) im Herbst 2021 warnten. Demnach ist die Summe, die von den 34 ärmsten Staaten der Welt zur Bedienung ihrer Schulden aufgewendet werden muss, um das Fünffache größer als ihre Investitionen in den Klimaschutz. Den Schuldenzahlungen in Höhe von 29,4 Milliarden Dollar stehen Klimaschutzmaßnahmen im Umfang von 5,4 Milliarden entgegen. Jahrelang haben Weltbank und IWF die Entwicklungsländer zur Aufnahme von Krediten bei der Finanzierung von Entwicklungsprojekten ermuntert, doch seien deren Zinsen aufgrund des höheren Risikos um ein Vielfaches höher als in den Industriestaaten, warnte die NGO Jubilee Debt Campaign. Mitunter sind Zinssätze von mehr als zehn Prozent üblich, wobei die Zinswende der Fed diese Finanzierungskosten in der Peripherie noch weiter hochtreiben dürfte.

Kapitalistische Schuldenkrise und Klimakrise

Das Ineinandergreifen von kapitalistischer Schuldenkrise und Klimakrise torpediert nicht nur die Klimapolitik in den besonders gefährdeten Regionen der Peripherie des Weltsystems, die sich kaum noch Klimaschutz leisten können. Zusätzlich belasten die sich in zunehmenden Wetterextremen und Naturkatastrophen manifestierenden Folgen der Klimakrise die Staatshaushalte vieler Staaten aufgrund der damit einhergehenden Kosten – und sie tragen zur Destabilisierung des aufgeblähten globalen Weltfinanzsystems bei. Allein 2021 summierten sich die Kosten der zehn größten Naturkatastrophen auf rund 170 Milliarden Dollar, die – zumindest bei der Instandsetzung der zerstörten Infrastruktur – von den Staatshaushalten gestemmt werden müssten. Die Klimakrise wirkt somit längst als ein weiterer Kostenfaktor in dem überschuldeten spätkapitalistischen Weltsystem. Der Klimawandel beschleunigt somit das Wachstum der globalen Schuldenberge zusätzlich, er trägt somit zur Destabilisierung des Finanzsystems bei.

Diese Kombination aus Schuldenbergen und eskalierender Klimakrise könnte sich zu einem „systemischen Risiko“ für die Weltwirtschaft entwickeln, warnten US-Medien 2021 unter Verweis auf Einschätzungen der Weltbank und des IWF. Untragbare Schulden, Klimawandel und Umweltzerstörung würden demnach einen „Zyklus aus verringerten Einnahmen, steigenden Ausgaben und zunehmenden klimatischen Anfälligkeiten“ verstärken. Evident ist diese Krisenmechanik in der Periphere: Während Entwicklungsländer schon 2019 Kredite von rund 8,1 Billionen gegenüber ausländischen Gläubigern akkumuliert hatten, deren Bedienung 17,4 Prozent ihrer Staatseinnahmen verschlang (eine Verdreifachung der Schuldenlast gegenüber 2011!), ist von den versprochenen Klimahilfen des Nordens, die sich auf 100 Milliarden Dollar summieren sollen, kaum etwas geflossen.

Die verheerende Wechselwirkung aus Überschuldung und Naturkatastrophen wird etwa am Beispiel des südwestafrikanischen Entwicklungslandes Mosambik deutlich, das schon 2019 unter einer hohen Verschuldung litt, als es von zwei Zyklonen verwüstet wurde, die mehr als 1000 Menschen töteten und Schäden von 870 Millionen Dollar verursachten. Die Regierung in Maputo sah sich genötigt, infolge des Extremwetterereignisses weiter Kredite aufzunehmen, um die Schäden zumindest teilweise zu beseitigen. Nun ist Mosambik auf der besagten IWF-Liste der vom Staatsbankrott gefährdeten afrikanischen Länder zu finden. Im vergangenen März warnten bereits die Finanzminister etlicher afrikanischer Staaten, dass „ein beträchtlicher Teil“ ihrer Haushaltsmittel in Reaktion auf Extremwetterereignisse wie Dürren und Überflutungen aufgewendet werden müsse, die „Finanzpuffer“ seien bereits weitgehend erschöpft.

Das Finanzsystem in künftigen sozial-ökologischen Krisen

Doch die Klimakrise dürfte auch das gesamte Weltfinanzsystem zunehmend in Schieflage bringen, da dessen einstmals als solide erachtetes Fundament, der Markt für Staatsanleihen, kaum noch die wachsenden Risiken reflektiert, warnte jüngst die Nachrichtenagentur Bloomberg. Demnach würden institutionelle Investoren zunehmend die Bewertung von Staatsanleihen durch die großen Ratingagenturen hinterfragen, da die plötzlichen Erschütterungen durch Extremwetterereignisse kaum in deren Berechnungen einfließen würden. Die Noten, die Ratingagenturen wie Moody’s Investors Service, S&P Global Ratings, und Fitch Ratings für Anleihen vergeben, sind aber entscheidend für deren Zinsniveau. Je schlechter die Benotung, desto teurer gestaltet sich der Schuldendienst.

Eine umfassende „Einpreisung“ von Klimarisiken würde somit den Schuldendienst verteuern, was die Gefahr von Staatspleiten ansteigen lassen würde. Dies gilt nicht nur für die Peripherie des kapitalistischen Weltsystems, wie Bloomberg ausführte. Auch Länder wie Japan, Mexiko, Südafrika oder Spanien könnten in den kommenden Dekaden durch die Wechselwirkung aus Kreditlast und Klimakrise in die Staatspleite getrieben werden, wenn ihre Bemühungen zur Reduzierung der CO2-Emissionen „zu spät, zu abrupt oder ökonomisch schädigend“ seien. In Schieflage könnten aber auch Staaten wie Russland, Kanada oder Australien geraten, die sehr stark vom Export fossiler Energieträger abhängig sind.

Staatsanleihen, insbesondere in den Zentrumsländern wie USA oder BRD, gelten aber als das Fundament, als der Beton des globalen Finanzkartenhauses. Bei jeder Krise flieht Kapital aus risikoreichen Investments in den „sicheren“ Anleihemarkt. Sollte dieser Anleihemarkt nicht mehr als ein „sicherer Hafen“ angesehen werden können, dann würde dies das gesamte Finanzsystem bei künftigen sozioökologischen Krisenschüben destabilisieren. Der Staatsanleihenmarkt sei „das Auffangnetz“ des Weltfinanzsystems, erklärte ein Analyst gegenüber Bloomberg, „jeder zieht sich dorthin zurück in Zeiten von Turbulenzen und Desastern“.

Diese üblichen Krisenreflexe auf den Finanzmärkten, die durch die gute Bewertung von Staatsanleihen durch Ratingagenturen befördert werden, stimmen aber nicht mehr mit der Realität der Klimakrise überein. Die Ratingagenturen haben schon früher katastrophale Fehleinschätzungen abgegeben, im Vorfeld der Weltfinanzkrise von 2008, als Hypothekenverbriefungen, die während der Immobilienblase in den USA und der EU die Finanzmärkte überfluteten, viel zu gut bewertet wurden. Nun droht ein ähnliches Szenario auf den Anleihemärkten, wo die Risiken der Klimakrise systematisch ausgeblendet werden.

Die Staaten fungieren ohnehin seit dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase 2008 als letztes Aufgebot des an seiner Produktivität erstickenden Spätkapitalismus, der nur noch durch immer neue, kreditfinanzierte Konjunkturprogramme, durch extreme Gelddruckerei seine Agonie prolongieren kann. Diese innere Schranke des Kapitals tritt somit auch auf den Anleihemärkten in direkte Wechselwirkung mit der äußeren Schranke des Kapitals, der Endlichkeit des Planeten Erde und den Grenzen seiner ökologischen Belastbarkeit.

Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette. Die englischsprachige Version des Texts ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf unserer englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de Der Autor dieses Beitrags finanziert seine journalistische Tätigkeit größtenteils durch Spenden. Falls Ihnen dieser Text zusagt, dann können Sie sich gerne daran beteiligen – entweder über Patreon, oder durch direkte Banküberweisung nach Absprache per Mail.

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Oben       —      Ilustração publicada no Diário do Alto Tietê em matéria sobre pessoas devedoras.

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Schlands Energie-Gemeinde

Erstellt von Redaktion am 20. August 2022

Zwischen Reaktor, Gas und Meer

Von Anne Frieda Müller

Lubmin ist klein, aber in aller Munde. Hier enden die Gas-Pipelines. Hier stand mal ein AKW. Und hier soll bald Flüssiggas ankommen.

in dunkelblaues Tor trennt den Lubminer Yachthafen vom Industriehafen. Der 56-jährige Bürgermeister Axel Vogt öffnet es für den grauen Opel von Stefan Barthel. Der parkt direkt hinter dem Baucontainer, in dem Vogt eines seiner Büros unterhält, denn der Bürgermeister leitet auch den Hafen. Die beiden Männer stehen auf Betonboden und präsentieren den Industriehafen. Der gleicht einem Kanal, der in das flache Küstengewässer des Greifswalder Boddens führt.

Dieser Kanal beginnt bei den Lagerhallen um den letzten Reaktor des längst abgeschalteten Atomkraftwerks, das hier bis zur Wende den Strom produzierte. Auf der Uferseite, dort wo die Männer stehen, verlaufen Bahngleise. Auf der anderen Seite liegt ein Schiff. Dort übernachten die Arbeiter der nahen Windparks au hoher See. Hinter dem Schiff schimmern silberne Rohre in der Sonne: Das ist Nord Stream 1, die Gasleitung aus Russland, die derzeit nur zu 20 Prozent ausgelastet ist. Nord Stream 2 befindet sich ein paar hundert Meter hinter den Männern.

An diesem Augustmorgen unterhalten sich Barthel und Vogt über Sport und Energie. Zwischen ihnen liegt ein Altersunterschied von 23 Jahren. Gemeinsam haben sie einige Quadrathlons in der Gegend organisiert. Das sind Triathlons mit zusätzlichem Kanurennen. Das passt gut in die Gegend, denn Lubmin liegt in Mecklenburg-Vorpommern an der Ostsee, am Greifswalder Bodden, zwischen den Inseln Rügen und Usedom. Die Hanse- und Universitätsstadt Greifswald ist eine 30-minütige Autofahrt entfernt. Doch das große Weltinteresse ist auf das Gewässer gerichtet, an dem Barthel und Vogt stehen und reden.

Hier an dem Kanal, am Industriehafen, kommen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Lubmin zusammen. Zu DDR-Zeiten lief in dem Kanal das Kühlwasser des Atomkraftwerks in die Ostsee. Direkt daneben ragen heute die Rohre von Nord Stream 1 und Nord Stream 2 aus der Erde. Sie sind zum Sinnbild geworden für eine verfehlte Energiepolitik, für die gescheiterte Hoffnung, dass Frieden durch Handel zu erreichen ist. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine liegt Nord Stream 2 brach. Und wie lang durch Nord Stream 1 noch russisches Gas fließt, ist mehr als ungewiss.

Seit Kurzem steht fest, dass es in Lubmin trotzdem weitergeht mit dem Gasgeschäft, nur eben nicht mehr mit dem russischen. Zwei Flüssigerdgasterminals sollen hier in der nächsten Zeit entstehen. Eines baut der Bund, das andere ein privater Investor.

Der Bürgermeister setzt auf Wasserstoff

Der parteilose Bürgermeister Axel Vogt sitzt jetzt in dem Baucontainer an einem Besprechungstisch, hinter ihm das Wasser im Hafenbecken. Er glaubt nicht, dass Gas ein zukunftsträchtiges Geschäft für Lubmin wird. „Die Zukunft Lubmins liegt im Wasserstoff“, erklärt Vogt. Hier sei der perfekte Standort, denn mit drei Offshore-Windparks gebe es genug überschüssige erneuerbare Energie, die sich einspeichern lassen könnte.

Die produzierte, aber nicht benutzte Windenergie kann per Elektrolyse in Wasserstoff umgewandelt und gespeichert werden. Bei Bedarf lässt sich dieser Wasserstoff in Energie zurückverwandeln. Wasserstoffstofftechnologie gilt als nachhaltig, aber vor allem als weniger skandalträchtig als der Import von russischem Gas.

Ein politisches Ferkel-Treffen – Putin liefert Gas und die Ferkel die Kohlen

in dunkelblaues Tor trennt den Lubminer Yachthafen vom Industriehafen. Der 56-jährige Bürgermeister Axel Vogt öffnet es für den grauen Opel von Stefan Barthel. Der parkt direkt hinter dem Baucontainer, in dem Vogt eines seiner Büros unterhält, denn der Bürgermeister leitet auch den Hafen. Die beiden Männer stehen auf Betonboden und präsentieren den Industriehafen. Der gleicht einem Kanal, der in das flache Küstengewässer des Greifswalder Boddens führt.

Dieser Kanal beginnt bei den Lagerhallen um den letzten Reaktor des längst abgeschalteten Atomkraftwerks, das hier bis zur Wende den Strom produzierte. Auf der Uferseite, dort wo die Männer stehen, verlaufen Bahngleise. Auf der anderen Seite liegt ein Schiff. Dort übernachten die Arbeiter der nahen Windparks au hoher See. Hinter dem Schiff schimmern silberne Rohre in der Sonne: Das ist Nord Stream 1, die Gasleitung aus Russland, die derzeit nur zu 20 Prozent ausgelastet ist. Nord Stream 2 befindet sich ein paar hundert Meter hinter den Männern.

An diesem Augustmorgen unterhalten sich Barthel und Vogt über Sport und Energie. Zwischen ihnen liegt ein Altersunterschied von 23 Jahren. Gemeinsam haben sie einige Quadrathlons in der Gegend organisiert. Das sind Triathlons mit zusätzlichem Kanurennen. Das passt gut in die Gegend, denn Lubmin liegt in Mecklenburg-Vorpommern an der Ostsee, am Greifswalder Bodden, zwischen den Inseln Rügen und Usedom. Die Hanse- und Universitätsstadt Greifswald ist eine 30-minütige Autofahrt entfernt. Doch das große Weltinteresse ist auf das Gewässer gerichtet, an dem Barthel und Vogt stehen und reden.

Hier an dem Kanal, am Industriehafen, kommen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Lubmin zusammen. Zu DDR-Zeiten lief in dem Kanal das Kühlwasser des Atomkraftwerks in die Ostsee. Direkt daneben ragen heute die Rohre von Nord Stream 1 und Nord Stream 2 aus der Erde. Sie sind zum Sinnbild geworden für eine verfehlte Energiepolitik, für die gescheiterte Hoffnung, dass Frieden durch Handel zu erreichen ist. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine liegt Nord Stream 2 brach. Und wie lang durch Nord Stream 1 noch russisches Gas fließt, ist mehr als ungewiss.

Seit Kurzem steht fest, dass es in Lubmin trotzdem weitergeht mit dem Gasgeschäft, nur eben nicht mehr mit dem russischen. Zwei Flüssigerdgasterminals sollen hier in der nächsten Zeit entstehen. Eines baut der Bund, das andere ein privater Investor.

Der Bürgermeister setzt auf Wasserstoff

Der parteilose Bürgermeister Axel Vogt sitzt jetzt in dem Baucontainer an einem Besprechungstisch, hinter ihm das Wasser im Hafenbecken. Er glaubt nicht, dass Gas ein zukunftsträchtiges Geschäft für Lubmin wird. „Die Zukunft Lubmins liegt im Wasserstoff“, erklärt Vogt. Hier sei der perfekte Standort, denn mit drei Offshore-Windparks gebe es genug überschüssige erneuerbare Energie, die sich einspeichern lassen könnte.

Die produzierte, aber nicht benutzte Windenergie kann per Elektrolyse in Wasserstoff umgewandelt und gespeichert werden. Bei Bedarf lässt sich dieser Wasserstoff in Energie zurückverwandeln. Wasserstoffstofftechnologie gilt als nachhaltig, aber vor allem als weniger skandalträchtig als der Import von russischem Gas.

An Lubmin bestand schon lange internationales Interesse. In Vogts Amtszeit als Bürgermeister zeigte sich das nach dem Reaktorunfall in Fukushima im Jahr 2011, in dessen Folge die Bundesregierung beschloss, aus der Atomenergie auszusteigen. Das AKW in der Kleinstadt ist schon 1990 abgeschaltet worden. Das Zwischenlager ist übrig geblieben. Und das Know-how.

„Die Experten aus Japan, aber auch aus Spanien und Frankreich kamen her, um zu sehen, wie man so ein großes Kernkraftwerk zurückbaut“, erzählt Vogt. Insbesondere die Weiternutzung des Energiestandorts fanden viele spannend. In Lubmin seien viele verschiedene kleine Firmen tätig. Neben dem Energiesektor gibt es noch ein Klärwerk und einen Produzenten für Rapsöl. Der Bürgermeister erklärt: „Wir arbeiten hier granular. Den einen großen Player mit vielen Arbeitsplätzen, den gibt es hier nicht mehr.“ Das Netzwerk am Industriestandort Lubminer Heide funktioniere gut.

Nord Stream und die Lubminer

Was mit Nord Stream dazu kam, was die Bevölkerung und der Bürgermeister von Lubmin bis dato nicht kannten, das waren die Skandale. „Die Leute sind einfach nur noch genervt“, erklärt Vogt die Stimmung im Ort. „Erstens von der politischen Diskussion.“ Nord Stream 1 sei schließlich 2011 fertiggestellt worden und das stolze Projekt der alten Bundesregierung in der Kooperation mit Russland. Für Lubmin hießen das jährlich zwischen 1,5 und 2 Millionen Euro Gewerbesteuereinnahmen.

Der Bürgermeister erklärt, warum die Lubminer nicht mehr über Nord Stream reden wollen: „Zweitens waren sie genervt von dem, was die Amerikaner dort angedroht haben.“ In einem Brief forderten US-amerikanische Abgeordnete 2020 den Baustopp von Nord Stream 2. Sie drohten mit Sanktionen gegen den Hafen Sassnitz-Mukran auf Rügen, nicht weit von Lubmin entfernt. „Und drittens“, führt Vogt die Aufzählung zu Ende, „sind die Anwohner natürlich von der Medienpräsenz genervt.“ Im Ort heißt es, zu Energiefragen solle man den Bürgermeister sprechen. Die Menschen haben keine Lust mehr, man will seine Ruhe haben.

In Lubmin hat man Nord Stream 1 und 2 im letzten Jahrzehnt als technische Projekte zur Energieversorgung betrachtet, als Einnahmequelle und als positive wirtschaftliche Entwicklung für das ganze Bundesland. Umso größer ist der Frust, dass Nord Stream 2 nicht in Betrieb genommen wird. „Wir haben das Projekt Nord Stream 1 schon einmal erfolgreich gesehen, da ist es quasi reibungslos gelaufen“, erklärt Vogt. „Sowohl die Planungen als auch die Genehmigungsverfahren, der Bau, Ablauf und die Inbetriebnahme selbst.“ Und nun, da die Gaslieferung durch Nord Stream 1 immer geringer ausfallen und die Menschen in ganz Deutschland die Höhe der Gasrechnungen im kommenden Winter fürchten, wird immer wieder die Forderung laut, Nord Stream 2 wenigstens vorübergehend in Betrieb zu nehmen, zuletzt vom früheren Bundeskanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder.

Schwimmende Terminals für Lubmin

Das lehnt die Bundesregierung strikt ab. Unabhängig von russischem Gas soll in Zukunft geheizt werden. Als Zwischenlösung auf dem Weg dazu gelten LNG-Flüssiggasterminals. LNG steht für Liquified Natural, das heißt verflüssigtes Erdgas. Diese Form von Erdgas soll aus aller Welt nach Deutschland transportiert werden, um hier genutzt werden zu können. Dafür braucht es Terminals in Hafennähe, in denen das Flüssiggas wieder gasförmig gemacht werden kann. Zwei schwimmende Terminals sollen vor Lubmin gebaut werden, ein staatlich gefördertes und eines durch die Privatfirma ReGas.

Die Terminals selbst können nicht direkt vor Lubmin ankern, der Bodden ist hier zu flach. Mit sogenannten Shuttle-Schiffen könnte das flüssige Gas aber von den Ankerplätzen in der Ostsee in den Industriehafen gebracht werden, um hier verflüssigt zu werden. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland Mecklenburg-Vorpommern (BUND) kritisiert dieses Vorhaben im Greifswalder Bodden: „Es kommt zu einem höheren Schiffsaufkommen und damit zu mehr Unterwasserlärm und Sichtstörungen.“ Insbesondere der Schutz von vulnerablen Vogelarten, die hier brüten, wäre durch den Lärm nicht mehr gewehrleistet.

Die LNG-Terminals sollen in Lubmin entstehen, weil hier die notwendige Infrastruktur zur Verteilung des Gases schon vorhanden ist. Hier gibt es die Pipelines OPAL und EUGAL, die in den Süden abgehen, und NEL in den Westen. Das sind die Leitungen, die eigentlich das russische Gas von Nord Stream nach Deutschland und Europa bringen sollen. Diese Infrastruktur könnte nun für LNG genutzt werden. Diese Gasleitungen sind unabhängig von Gazprom und anderem russischen Einfluss.

Die Pipelines gehören Gascade, einer deutschen Firma mit Sitz in Kassel. Bürgermeister Vogt erklärt, warum das geht: „Jede Anlage besteht aus zwei Betriebsteilen, die technisch, wirtschaftlich und rechtlich voneinander getrennt sind und unabhängig voneinander betrieben werden können.“ Der Bürgermeister nimmt sich ein Blatt mit IHL-Aufdruck, der für „Industriehafen Lubmin“ steht, und zeichnet zwei Vierecke auf. Das kleinere ist Nord Stream, das größere Gascade. Dort, wo sich die beiden Vierecke treffen, malt er einen Kreis auf und betont die Grenze: „Hier ist für die Russen Schluss.“ So erklärt Vogt, warum die Infrastruktur auch ohne Nord Stream genutzt werden kann. Das solle aber nur eine Übergangslösung sein.

Vor allem die nächsten Winter sollen die LNG-Terminals überbrücken helfen. Doch noch ist von den Terminals nichts zu sehen im Industriehafen in Lubmin. Der private Investor ReGas hatte geplant, schon am 1. Dezember 2022 in Betrieb zu gehen. Aber noch ist kein Antrag in der Landeshauptstadt Schwerin für das Projekt eingegangen. Und die Prüfung könnte über das Datum hinaus dauern. Die Firma ist außerdem neu im Energiegeschäft. Die beiden Gesellschafter waren eher für Beratertätigkeiten und Immobilien bekannt.

Wieder einmal steht Lubmin also im Mittelpunkt der Energiefragen Deutschlands. Nord Stream war nicht der erste Energiesektor, der Aufmerksamkeit mit sich brachte, und LNG wird nicht der letzte sein. Wenn man Stefan Barthel zuhört, wird klar: Das ist eine lange Geschichte.

Das stillgelegte Atomkraftwerk

Im Jahr 1967 begann der Bau des Atomkraftwerks, 1974 war es schrittweise fertiggestellt. In diesem Jahr kam auch Stefan Barthel nach Lubmin. Der gebürtige Sachse wuchs in Chemnitz auf, beim Sprechen klingt das „ei“ manchmal eher nach Doppel-e.

Bis 1990 war Stefan Barthel Koordin ator für die Instandhaltung. Um sieben Uhr morgens fing die Normalschicht mit einem Rapport über die Wechselsprechanlage an und endete um 15.30 Uhr mit der Vergabe der Tages- oder Schichtaufgaben. Nach der Wende wurden die aktiven Blöcke eins bis vier des AKWs schrittweise vom Netz genommen. Barthel avancierte bis zu seinem Renteneintritt 2006 zum Abteilungsleiter beim Demontageservice.

Er fährt mit seinem grauen Opel zum Informationszentrum des stillgelegten Atomkraftwerks, zeigt auf die Ecke eines Gebäudes und sagt: „Da wo das Fenster nach außen gekippt ist, da war mein letztes Büro.“ Wenn man ihn fragt, was er vom damaligen Abschalten des AKWs hält, sagt er: „Ich stehe hinter der Entscheidung, dass die Blöcke eins bis vier abgeschaltet wurden. Aber dass die fast fertigen Blöcke fünf und sechs nicht in Betrieb gegangen sind, verstehe ich nicht.“

Quelle        :           TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben      —       Blick nach Ostnordosten über Lubmin, das Kernkraftwerk und Usedom

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Stolz in Westafrika

Erstellt von Redaktion am 18. August 2022

Die Rückgabe kostbarer geraubter Kunst wird eingefordert.

Von Katrin Gänsler

Denkmäler von Helden und Heldinnen, die gegen die Kolonialmächte kämpften, werden enthüllt. Benin und andere Länder entwickeln ein neues Selbst­bewusstsein, das an die Zeit vor der Kolonialisierung anknüpft.

Fast hätte es geklappt. Wäre Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wenige Tage später in Benins Wirtschaftsmetropole Cotonou gereist, hätte er zum 62. Unabhängigkeitstag am 1. August an der Einweihung mehrerer Denkmäler teilnehmen können. Zwei sind ungewöhnlich symbolträchtig und zeigen: Gerade Benin, aber auch weitere Länder in der Region entwickeln ein neues Selbstbewusstsein, das an die Phase vor der Kolonialisierung anknüpft.

Wer nun in Cotonou landet, wird direkt am Flughafen von Bio Guéra begrüßt. Der 1856 geborene Krieger thront auf einem sich aufbäumenden Pferd. Mit einem Reiterstandbild wie das für Kaiser Wilhelm in Düsseldorf oder König Johann in Dresden hat das wenig gemeinsam. Bio Guéra – insgesamt ist die Statue aus Stahl und Gusseisen zehn Meter hoch – ist dynamisch und hat einen entschlossenen Gesichtsausdruck. Seit 1975 gilt er als Nationalheld, hat er doch gegen französische Truppen gekämpft, die nach mehreren Kriegen Ende des 19. Jahrhunderts das einstige Königreich Dahomey – es umfasst heute rund 20 Prozent der Staatsfläche von Benin – zu einem Teil von Französisch-Westafrika machten.

Wie 16 weitere Kolonien in Afrika auch wurde es erst 1960 unabhängig. Mit der Ehrung des Antikolonialismuskämpfers macht Benins Regierung unter Patrice Talon deutlich: Die Verteidigung von Freiheit und Souveränität sei ein „edles Anliegen“. Die Statue stehe für „Mut, Würde und Integrität“.

Eingeweiht ist auch die überlebensgroße, beeindruckende 30 Meter hohe Amazone, die in unmittelbarer Nähe des Hafens und des Präsidentenpalastes steht. Die Stahlkonstruktion mit Bronzeüberzug, die vor zwei Jahren aufgestellt wurde, war seitdem verhüllt. Sie erinnert an Soldatinnen, die auf Fon, der im Süden Benins am meisten gesprochenen Sprache, auch Minons – Mütter – oder Agoodjié genannt wurden. Dahomey-Herrscherin Tassi Hangbé gründete Anfang des 18. Jahrhunderts die weibliche Armee, der zwischenzeitlich bis zu 5.000 Kämpferinnen angehörten. Auch die Kriegerinnen bekämpften zum Schluss die französischen Streitkräfte.

Die Amazone, so betonte Präsident Talon bei der Einweihung, sei das Symbol der „beninischen Frau von heute und morgen“ sowie ein Zeichen des Patriotismus. Diese Faszination hat sogar Hollywood erreicht. Im September kommt der Film „The Woman King“ in die Kinos, der erzählt, wie die Frauen das Königreich Dahomey verteidigt haben.

Zum neuen Selbstbewusstsein trägt auch die Debatte über die Rückgabe der Raubkunst bei. In Cotonou sind zum zweiten Mal 26 Artefakte ausgestellt, die französische Truppen im zweiten Dahomey-Krieg von 1892 bis 1894 raubten und die Frankreich im vergangenen Jahr an Benin zurückgab. Franck Ogou, Direktor der Schule für afrikanisches Kulturerbe (EPA) in der Hauptstadt Porto Novo, wertet das als wichtiges Zeichen: „Wir alle können heute sagen: Afrika gehört zur Weltgeschichte.“ Der Kontinent wurde lange als „geschichtslos“ abgetan.

Meinungen des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Afrika habe „keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen“, haben sich jahrhundertelang gehalten. Die Kunstwerke aus den Palästen des Königreichs Dahomey widerlegen das.

Noch deutlicher machen das die Benin-Bronzen, die aus dem einstigen Königreich Benin, das im heutigen Nigeria liegt, stammen. Jahrelang wurde über die Rückgabe der 3.000 bis 5.000 Kunstgegenstände, die in zahlreichen Museen sowie Universitäten und Sammlungen in Europa und den USA lagern, erfolglos verhandelt. Erst Frankreichs Ankündigung, Kulturgüter zu restituieren, brachte Dynamik in die Gespräche, und mit einem Mal wurde deutlich, welch immenser Wert die 1897 von britischen Truppen geraubten Artefakte haben. Nigeria wird gerade nicht mehr nur als Land wahrgenommen, in dem Terrorgruppen Angriffe verüben und multinationale Ölfirmen für Umweltzerstörung verantwortlich sind, sondern als Heimat extrem wertvoller Bronzen, für die sich die ganze Welt interessiert.

Anders als in Benin kreiert das in Nigeria aber kein neues Selbstverständnis. Das liegt zum einen an der schieren Größe. Nigeria mit seinen 220 Millionen Ein­woh­ne­r*in­nen ist es nie gelungen, eine gemeinsame Identität zu schaffen. Die Bronzen aus Benin City sind für Menschen aus Kano, Maiduguri oder Ibadan weit weg und haben kaum Bezug zur eigenen Geschichte. Zum anderen sind die Alltagsprobleme überwältigend. Jede Woche werden Dutzende Menschen gekidnappt, Terrorgruppen drängen in Richtung Hauptstadt Abuja. Mehr als 90 Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze.

Quelle       :         TAZ-online         >>>>>         weiterlesen 

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Oben     —     Liebig-Sammelbild, 6-teilige Serie „Bilder aus Afrika“ (um 1900) Familienidylle

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Zerstörung in Rekordtempo

Erstellt von Redaktion am 17. August 2022

Willkommen in Ihrer neuen Realität

Wann guckten Politiker-Innen denn Intelligenter aus ihren Palästen ?

Eine Kolumne von Christian Stöcker

Viele Menschen wähnen sich in einer Welt, die längst nicht mehr existiert. Einer stabilen Welt, mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Berechenbar, planbar. Darunter sind leider weite Teile der politischen Elite.

»Wir machen weiter bis zum letzten Mann, jedes Molekül Kohlenwasserstoff wird herausgeholt.«
Abdulaziz bin Salman, der saudische Energieminister im Jahr 2021 

»Wir werden es ausbeuten, wir werden es fördern, wir werden es verkaufen, wir werden es zu Geld machen.«
Didier Budimbu, der Kohlenwasserstoffminister der Demokratischen Republik Kongo im Jahr 2022

Die katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise sind inzwischen so überdeutlich, dass man schon gewaltige Anstrengungen unternehmen muss, um sie weiterhin zu ignorieren oder ihre Ursache zu leugnen (trotzdem wird man das im Forum zu dieser Kolumne wieder beispielhaft beobachten können). Spanien und Portugal vertrocknen, Rhein und Loire führen so wenig Wasser, dass sie mancherorts wie Wüsten- oder Wattlandschaften  aussehen, in weiten Teilen Europas ächzte man wochenlang unter nie dagewesener Hitze. Die Dürre verursacht Brände, gefährdet Ernten und treibt Land- und Forstwirte zur Verzweiflung. Die deutschen Gletscher schmelzen ihrer Vernichtung entgegen.

Erinnern Sie sich noch an die Leute, die Greta Thunberg »hysterisch« fanden?

Und das ist nur die Lage in Europa. In den USA trocknet etwa das gigantische durch den Hoover-Damm geschaffene Wasserreservoir Lake Mead in Nevada aus und legt die Skelette vor Jahrzehnten Ermordeter  frei. Derzeit liegt der Füllstand noch bei 27 Prozent. Im benachbarten Kalifornien brennt wieder einmal der Wald  und zwar bereits seit Wochen. Mehr als 36 Quadratkilometer Baumland sind schon verbrannt.

Auf Sand gebaut, buchstäblich

Anderswo gibt es nicht zu wenig Wasser, sondern zu viel. In Florida etwa kann man schon jetzt viele Häuser kaum noch oder gar nicht mehr versichern  – nicht nur, aber auch wegen der Gefahr durch steigende Meeresspiegel und immer extremere Hurrikane. Insgesamt, stellte die »Union of Concerned Scientists« schon 2018  fest, sind mindestens 300.000 Privathäuser und 18.000 Gewerbeimmobilien in den USA bis 2045 von »permanenter Überflutung« bedroht. Der Gesamtwert der buchstäblich dem Untergang geweihten Gebäude an den Küsten wurde damals auf über 130 Milliarden Dollar geschätzt. Zu erwartende Hurrikanschäden sind da noch nicht mit eingerechnet.

Auch auf der anderen Seite des Globus, in Korea zum Beispiel, gibt es gerade zu viel Wasser. Seoul hat eben die heftigsten Regenfälle seit 115 Jahren erlebt.  Mindestens neun Menschen starben. Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol sagte: »Wir können diese extremen Wetterlagen einfach nicht weiterhin ungewöhnlich nennen.«

»The new normal«? Weit gefehlt

Der Mann hat recht. Was gerade passiert, ist nicht mehr ungewöhnlich. Es ist aber auch nicht »der neue Normalzustand«, wie mancherorts gerade öfter zu lesen oder zu hören ist. Wir haben es mit etwas völlig anderem zu tun.

Vielen Menschen scheint nach wie vor nicht bewusst zu sein, in welch einer klimatisch friedlichen, außergewöhnlich menschenfreundlichen Zeit die menschliche Zivilisation entstanden ist. Und dass diese friedliche, stabile Zeit gerade endet. Verursacht durch uns, die Menschheit. Genauer: verursacht vor allem durch die gegenwärtige und historische Bevölkerung des sogenannten Globalen Nordens im erdgeschichtlich betrachtet wirklich winzigen Zeitraum von gut 200 Jahren. Die einzigen Ereignisse, die sich nur halbwegs mit dem Zerstörungstempo menschlichen Handelns vergleichen lassen, sind Asteroideneinschläge.

So wie der, der die Dinosaurier vor 66 Millionen Jahren ausrottete. Er verursachte das fünfte Massenaussterben der Geschichte. Wir verursachen gerade das sechste. 

Vom Kühlhaus zum Treibhaus in einem Wimpernschlag

Das sogenannte Holozän mit seinem stabilen, berechenbaren, menschen- und zivilisationsfreundlichen Klima begann vor etwas weniger als 12.000 Jahren, am Ende der letzten Eiszeit. Noch immer aber leben wir, auch wenn das die meisten nicht so wahrnehmen, auf einer »Kühlhaus-Erde«, wie der Paläontologe Thomas Halliday das in seinem faszinierenden Buch »Otherlands« nennt, das vom Wandel von Ökosystemen im Lauf der Erdgeschichte handelt.

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 17. August 2022

Gas, Klima und der Kanzler: Scholz walkt in Richtung Winter

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Nina Apin

Die Rhetorik von Kanzler Scholz erinnert an „Der Pate“. Unsere Autorin ist trotzdem wütend: Entlastungspakete sind dringend nötig.

Olaf, du musst mehr Empathie zeigen, müssen seine Berater dem Kanzler vor dem Auftritt bei der Bundespressekonferenz am Donnerstag eingeschärft haben. Schließlich wird es bald, auch wenn das angesichts der Außentemperaturen kaum zu glauben ist, recht kalt werden in Deutschland. Und teuer – zumindest für diejenigen, die nicht zufällig 200.000 Euro in bar für exorbitant steigende Energiekosten zu Hause rumliegen haben, wie SPD-Genosse Johannes Kahrs. Oder über ein sattes Ruhegehalt und beste Drähte nach Moskau verfügen, wie Noch-Genosse Gerhard Schröder. Für alle Nor­mal­bür­ge­r:in­nen ohne Extrapolster hatte Olaf Scholz jedenfalls eine tröstliche Botschaft parat: „You’ll never walk alone!“

Ich weiß nicht, wie es Ihnen ging, aber mir hat diese in hanseatischem Pathos vorgetragene Fußballweisheit (Scholz hat sich bei der Stadionhymne des FC Liverpool bedient, das Original ist eine Broadway-Schmonzette aus den 1950ern) den Blutdruck in die Höhe getrieben. Was, bitte soll das heißen: Du wirst niemals alleine gehen? Der Weg, lieber Olaf (ich duze jetzt einfach mal zurück), den Du, Deine Partei und Deine langjährige „große“ Koalitionspartnerin vor längerer Zeit eingeschlagen habt, der uns in die energiepolitische Abhängigkeit von einem expansionsgierigen Autokraten geführt hat, auf dem willst du mich jetzt freundlich begleiten? Das hat, mit Verlaub, etwas von „Der Pate“: Du machst mir ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann – denn ich hänge ja mit drin: Als Steuerzahlerin, Mieterin und Mutter werde ich sie brauchen, Deine Entlastungspakete.

Was aber nicht heißt, dass ich nicht wütend bin. Wütend auf den FDP-Finanzminister, der heldenhaft die „kalte Progression“ bekämpft, als ob das den vielen etwas helfen würde, die gar nicht erst eine Gehaltserhöhung bekommen, die von der Inflation gefressen wird.

Aber vor allem bin ich wütend auf diese Rhetorik, die schon darauf vorbereitet, dass vor lauter Krisenauffangleistungen wieder zu wenig Geld für Klimaschutz und Mobilitätswende da sein wird. Schließlich müssen wir ja ums Verrecken, trotz Ukraine­krieg und Inflation, die Schuldenbremse einhalten, weil sonst die FDP ihr Gesicht verliert. Dabei müssen wir doch dringend runter von unserem Energieverbrauch, doch ohne politische Lenkung und massive Investitionen wird das nix. Selbst wenn Du, Olaf, der Du bei deinem Auftritt so viel von Paketen und vom Liefern gesprochen hast, dass man sich auf der Pressekonferenz eines Logistikunternehmens wähnte, jeder Bürgerin einen Sparduschkopf zuschicken würdest und einen Nahverkehrsgutschein obendrauf, es würde nicht reichen.

File:Olaf Scholz.jpg

Hier glühten die Augen noch Weinselig für die Warburg Bank ?

Fracking

Ich bin gerade zurück aus Bayern, dem noch schönsten Bundesland der Welt, wo gerade die Isar verlandet und der Pegelstand der Seen gefährlich sinkt. Wo man allerorten die in Beton gegossenen Denkmäler dreier CSU-Verkehrsminister in der Landschaft besichtigen kann: Mächtige Betontrassen, die zur Not auch durch sensibles Moorgebiet getrieben werden, überdimensionierte Umgehungsstraßen. Und kaputtgesparte Regionalbahnnetze, die erst nach einem Unglück mit fünf Toten nach und nach instand gesetzt werden. Was bedeutet: wochen- bis monatelang gesperrte Streckenabschnitte, katastrophaler Schienenersatzverkehr. Was, zusammen mit dem baldigen Auslaufen des 9-Euro-Tickets, dazu führen dürfte, dass sich viele doch wieder lieber ins Auto setzen – wenn schon teuer fahren, dann wenigstens mit funktionierender Infrastruktur.

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Putin Deals unter Freunden

Erstellt von Redaktion am 14. August 2022

Russische Oligarchen in Europa

Frankfurt am Main, Radisson Blu Hotel (ehemals Blauer Himmel) Turm von Süden aus gesehen.

Von Paul Toetzke

Ein Gefährte des russischen Präsidenten Putin macht Geschäfte in Europa. Dabei knüpft er antidemokratische und kremlfreundliche Netzwerke.

Das Radisson Blu Park Royal Palace Hotel befindet sich in bester Lage Wiens, goldfarben schimmert seine Fassade hinter Bäumen, das Schloss Schönbrunn ist wenige Gehminuten entfernt. Ein Penthouse in der obersten Etage kann man für knapp zwei Millionen Euro erwerben.

Wem das 4-Sterne-Hotel gehört, ist unklar. Nicht ungewöhnlich, dass sich Immobilienbesitzer hinter Gesellschaften und Offshorefirmen verstecken, doch in diesem Fall lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Viel deutet darauf hin, dass hinter dem Hotel Wladimir Jakunin steckt, ein einflussreicher russischer Oligarch und Vertrauter Putins, der europaweit prorussische und antidemokratische Initiativen finanziert. Auch der Name des ehemaligen österreichischen Kanzlers Alfred Gusenbauer taucht in diesem Zusammenhang immer wieder auf.

Zum Netzwerk Jakunins und seiner Familie recherchieren wir – ein Verbund aus Jour­na­lis­t*in­nen aus sieben europäischen Ländern und Russland – seit fast zwei Jahren. In dieser Zeit haben wir Registerauszüge geprüft, Hintergrundinterviews geführt, russische Quellen im Exil getroffen und waren zu Gast bei zwielichtigen Veranstaltungen. Daraus entstanden zahlreiche Veröffentlichungen zu fragwürdigen Deals mit hochrangigen europäischen Politikern, über Konten mit Milliarden Dollar an Bestechungsgeldern und Immobilien mit verschleierten Eigentumsverhältnissen. In dieser Recherche widmen wir uns den Hotelgeschäften der Familie Jakunin.

Wladimir Jakunin ist einer der ältesten Weggefährten Putins und bekannt für sein nationalkonservatives Weltbild. Während er seine Familie und sein Vermögen nach Europa verlagert hat, hetzt er im eigenen Land gegen die „Dekadenz des Westens“ und die „globale Finanzoligarchie“. Als ehemaliger Chef der russischen Eisenbahn hat er laut der Recherchegruppe von The Insider nicht nur Geld in Milliardenhöhe vom russischen Staatsbudget abgeführt, er unterhält auch beste Kontakte zu Geschäftsleuten und hochrangigen Politikern im Ausland.

Das Geld des Oligarchen

Der Mann

Wladimir Jakunin arbeitete 22 Jahre beim russischen Geheimdienst KGB und lernte dort den heutigen Präsidenten Putin kennen. In den 1990er-Jahren war Jakunin Diplomat bei den Vereinten Nationen und wechselte dann nach Moskau. 2005 wurde er Präsident der russischen Eisenbahngesellschaft, 2015 trat er zurück. Nach dem Einmarsch russischer Truppen auf die Krim haben die USA Wladimir Jakunin auf ihre Sanktionsliste gesetzt.

Seine Ideologie

Ideologisch gilt Jakunin als konservativer Hardliner. Öffentlich fiel er mit homophoben Äußerungen auf. Unterstützer*innen der österreichischen Dragqueen und Eurovision-Song-Contest-Teilnehmerin Conchita Wurst unterstellte er eine „abnorme Psychologie“. Im Westen sieht er einen „vulgären Ethno-Faschismus“ und warnte vor einer „Politik der Zerstörung sozialer und kultureller Wurzeln“.

Sein Geld

Jakunins Geld fließt zum Teil in antifeministische Organisationen in Europa. Das Europäische Parlamentarische Forum hat im vergangenen Jahr Finanzdaten von 54 Gruppen ausgewertet, die sich in Europa gegen freien Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen, LGBTI-Rechte und Gleichstellungspolitik einsetzen. Ihrem Report zufolge flossen zwischen 2009 und 2018 über 110 Millionen US-Dollar von Organisationen, die mit Jakunin assoziert sind, in antifeministisches Engagement in Europa. Darunter etwa in ein Vernetzungstreffen von Antifeministinnen in Georgien und Anti-Abtreibungs-Aktivismus in Serbien und Weißrussland.

Seine Verbindungen

Auch nach Deutschland pflegte Jakunin Kontakte. Noch 2020 saß er im Vorstand des Deutsch-Russischen Forums, unter anderem mit dem ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck. Mit Platzeck trat Jakunin auch mehrfach öffentlich auf – selbst, nachdem Jakunin von den USA schon sanktioniert war und in Deutschland mit zweifelhaften Auftritten aufgefallen war.

Im Jahr 2016 hat Jakunin zusammen mit Peter W. Schulze, dem ehemaligen Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung, in Berlin das Forschungsinstitut „Dialog der Zivilisationen“ gegründet. Kritiker*innen befürchteten, das Institut würde ein Propagandainstrument für den Kreml werden. Seit Mitte März ist die Website des Instituts offline.

Für den russischen Politologen Alexander Morozov ist Jakunin ein „Pionier der russischen Einflussnahme“, der zum “’Anti-Soros’ werden will – einem Organisator der antiliberalen Politik auf globaler Ebene“.

Kaum ein anderer Oligarch ist so gut vernetzt in Europa wie Jakunin. Er unterhält Stiftungen und Institute in Frankreich, Österreich, der Schweiz, Tschechien und – bis vor Kurzem – auch in Deutschland. Alle haben dasselbe Ziel: pro-russische Allianzen knüpfen und die Politik des Kremls im Ausland salonfähig machen. In all diese Aktivitäten ist auch der Rest der Familie – seine Frau Natalia und die Söhne Andrei und Viktor – eingebunden. Russische Aktivisten und Oppositionelle warnen schon lange davor, dass die Familie auch im Ausland agiert. Mit Hilfe eines Netzwerks aus Treuhändern, Bänkern, Anwälten und Politikern verfügen die Jakunins so über Strukturen, mit denen sie Geld ins Ausland transferieren, Vermögen anhäufen und damit ihre politische Propaganda und die des Kremls vorantreiben.

taz am Wochenende

Einer der einflussreichsten russischen Oligarchen und Weggefährten Putins ist immer noch gut im Ausland vernetzt. Wie er zusammen mit seiner Familie in Europa durch Hotel-Geschäfte Vermögen anhäuft, um pro-russische Akteure zu finanzieren, lesen Sie in der taz am wochenende vom 13./14. August. Außerdem: Zu teuer? Zu billig? Eine Sachkunde zur Psychologie der Preise. Un­d:­ Kann man gleichzeitig ultraorthodoxe Jüdin und Feministin sein? Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Das Bereicherungsprinzip der Familie ist seit den Neunzigerjahren dasselbe: Über die Kontakte von Wladimir Jakunin werden Hotels günstig erworben und nach der Renovierung und dem Rebranding mit Gewinn weiterverkauft. In diesem Zusammenhang spielen auch Wladimir Jakunins Sohn Andrei und seine Beteiligungsgesellschaft VIYM eine wichtige Rolle. Andrei Jakunin lebt mittlerweile als britischer Staatsbürger in London.

Bei den Investments in Europa taucht der Name der Familie meistens nicht auf. Das Geld, das mit großer Sicherheit aus dem Budget der russischen Eisenbahn stammt – und damit von russischen Steuerzahlern –, ist danach „sauber“.

Das Hotelgeschäft in Wien ist ein Paradebeispiel für das korrupte Prinzip der Familie. Dieses Beispiel offenbart aber auch, wie sich russische Oligarchen als saubere Geschäftsleute präsentieren, es zeigt, wie sie trotz westlicher Maßnahmen weiterhin politischen Einfluss nehmen können – und demonstriert die Scheinheiligkeit der europäischen Regierungen, die dieses System jahrelang nicht nur geduldet, sondern gefördert haben und jetzt mit den Konsequenzen konfrontiert sind.

Dabei ist der Westen alles andere als wehrlos. In den USA und Australien ist Wladimir Jakunin seit der Krim-Annexion 2014 – damals war er noch Chef der russischen Eisenbahn – aufgrund seiner Regierungsfunktion und der Nähe zu Präsident Putin sanktioniert. Das bedeutet, dass er einem Visumsverbot unterliegt, sämtliche Vermögenswerte in den USA eingefroren und ihm Geschäfte und Transaktionen in Dollar untersagt sind.

Auch die EU könnte den Einfluss der Familie Jakunin über Sanktionen einschränken. Sanktioniert werden seit 2014 laut der Richtlinie insbesondere Personen oder Institutionen, die in die Gefährdung der territorialen Integrität der Ukraine involviert sind, die von russischen Entscheidungsträgern, die für die Annexion der Krim verantwortlich sind, profitieren, die mit den prorussischen Separatisten im Donbass interagieren, die von der russischen Regierung profitieren oder eine substanzielle Einkommensquelle für die russische Regierung darstellen. Die Liste umfasst 1.212 Russen und 108 Institutionen.

Als wir bei der EU-Kommission nachfragen, warum Wladimir Jakunin nicht auf der Liste steht, teilt man uns mit, man möchte sich nicht zu einzelnen Namen äußern. Dem Schweizer Magazin Republik sagte ein EU-Sprecher: „Wenn jemand nicht auf der Sanktionsliste ist, bedeutet das, dass die EU-Mitgliedsstaaten der Meinung sind, dass es nicht genügend Grund dazu gibt, der Moment nicht der richtige ist oder dass es an Beweisen fehlt, um die Person zu sanktionieren.“

Die Frage ist auch, ob Sanktionen gegen jemanden wie Wladimir Jakunin überhaupt wirksam wären – wenn es um einen ganzen Clan geht

2016, als Jakunin bereits in den USA und Australien sanktioniert war, erhielt er ein Visum und eine Arbeitserlaubnis für Deutschland, um in Berlin den Dialogue of Civilizations zu eröffnen. Einen mittlerweile inaktiven Thinktank, der Experten zufolge „an vorderster Front bei der Verbreitung von Jakunins konservativer und homophober Botschaft im deutschen politischen Establishment“ stand. Damals war schon bekannt, dass Jakunin enge Kontakte zur Rechten pflegt. 2014 trat er etwa beim Kongress „Frieden mit Russland“ des Magazins Compact auf, an dem auch der AfD-Politiker Alexander Gauland teilnahm. Das Magazin stuft das Bundesamt für Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ ein.

Die Frage ist aber auch, ob Sanktionen gegen jemanden wie Wladimir Jakunin überhaupt wirksam wären – wenn es um einen ganzen Clan geht.

In Großbritannien scheint man sich über die Gefahr, die von der Familie Jakunin ausgeht, bewusst zu sein. Im April dieses Jahres wurde Wladimir Jakunin mit 205 weiteren russischen Personen von der britischen Regierung sanktioniert. Er kann seinen Sohn und seine Enkel nicht mehr besuchen, ihm sind Transaktionen in Pfund untersagt und ihm wird der Zugang zu Konten verwehrt. Auch sein Sohn Andrei – dem Gründer von VIYM –, der sich als britischer Staatsbürger lange sicher wähnte, gerät jetzt in den Fokus der Politik.

In der Parlamentsdebatte über neue britische Sanktionen sagte die Labour-Abgeordnete Margaret Hodge, Wladimir Jakunin habe „fast vier Milliarden Dollar an Vermögenswerten und Provisionen von der russischen Eisenbahn abgeführt“, und dass „der größte Teil dieser Vermögenswerte jetzt von seinem in London ansässigen Sohn über einen in Luxemburg registrierten Investmentfonds VIYM verwaltet wird“.

Die Familie schützen

Dabei bemüht sich Jakunin junior schon länger darum, sein Vermögen von den Geschäften seines Vaters zu trennen. Laut einer Recherche des US-Mediums Quartz aus dem Jahr 2017 beauftragte er eine Corporate-Intelligence-Firma in London damit, den Ruf der Familie zu „schützen“, indem sie negative Berichterstattung verhindern sollte und die Suchergebnisse durch selbst erstellte positive Meldungen beeinflusste. Diese Praxis wird auch als „reputation laundering“ bezeichnet und ist nicht unüblich unter russischen Oligarchen und deren Angehörigen.

Andrei Jakunin wies gegenüber Quartz zurück, dass sein Vater Einfluss auf sein Vermögen nimmt. Auch dass seine Firma VIYM die gleichen Initialen trägt wie sein Vater Wladimir Iwanowitsch Jakunin (auf Englisch VIY), sei reiner Zufall. Erklärt, woher sein Vermögen kommt – darunter ein 4,5-Millionen-Pfund-Anwesen in London-Hampstead, wo er mit seiner Familie lebt –, hat Andrei Jakunin nie.

Quelle        :         TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Junk-Food und Fettleibigkeit

Erstellt von Redaktion am 13. August 2022

Mexiko: Nestlé ist mitverantwortlich für Todesursache Nr. 1

Quelle      :        INFOsperber CH.

Timo Kollbrunner, PublicEye /   

Wegen Junk-Food ist jeder Dritte fettleibig und stirbt zu früh. Doch der Konzern wehrte sich gegen Warn-Etiketten.

upg. Drei von vier Mexikanerinnen und Mexikanern sind übergewichtig und jede Dritte und jeder Dritte sogar fettleibig (Body-Mass-Index von 30 und darüber). Diabetes ist in Mexiko längst die Todesursache Nummer 1. Deshalb besteuert die Regierung das weit verbreitete Junk-Food. Seit 2020 warnen schwarze Warnhinweise vor ungesunden Lebensmitteln. Dagegen wehrte sich Nestlé mit allen Mitteln. Die Schweizer Behörden halfen dem Konzern tatkräftig dabei. Das zeigen vertrauliche E-Mails zwischen Nestlé und dem Staatssekretariat für Wirtschaft Seco unter SVP-Bundesrat Guy Parmelin, welche Public Eye Anfang Juli publik machte. Weil grosse Medien nur spärlich darüber berichteten, veröffentlichen wir hier die Recherche von Public Eye.

Wie das Seco nach Nestlés Pfeife tanzte

Mit schwarzen Stoppschildern auf ungesunden Lebensmitteln geht Mexiko gegen die grassierende Fettleibigkeit im Land vor. Doch das Vorhaben stösst auf erbitterten Widerstand der Industriekonzerne und ihrer Sitzstaaten. An vorderster Front: Nestlé und die Schweiz. Dokumente und Mailwechsel belegen, wie willfährig sich das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) vom Nahrungsmittelgiganten aus Vevey einspannen liess, um gegen Mexikos Gesundheitspolitik zu agitieren. Gemäss exklusiven Marktdaten, die sich Public Eye beschafft hat, stand ein Geschäft von über einer Milliarde Franken auf dem Spiel. Dieses Lobbying der Schweiz für die Geschäftsinteressen von Nestlé ist kein Einzelfall. In Mexiko begann es im November 2019.

Offensichtlich enerviert schreibt am Morgen des 25. Novembers 2019, einem Montag, eine Person in Mexiko, die beim Schweizerischen Aussendepartement EDA angestellt ist, eine Mail ans Staatssekretariat für Wirtschaft, das Seco. Im CC: sieben weitere Mitarbeitende der beiden Abteilungen. Sie sei vor «etwas über 15 Tagen» auf «dieses Problem der Lebensmittelkennzeichnung» aufmerksam gemacht worden, schreibt die Person. Man habe daraufhin vereinbart, dass der Konzern sich an die Schweizerisch-Mexikanische Handelskammer SwissCham Mexico wenden und «um Unterstützung der Schweiz und der Kammer» bitten würde. Denn schliesslich betreffe diese neue Regulierung nicht nur Nestlé, sondern etwa auch Lindt, Ricola oder Emmi. Nestlé habe es aber offensichtlich vorgezogen, «direkt zum Seco zu gehen, und das allein in eigener Sache».

Und dann, in Fettschrift:

«Eine offizielle Intervention müsste daher meiner Meinung nach im Namen aller betroffenen Schweizer Unternehmen und in enger Zusammenarbeit mit der SwissCham, deren Mitglieder sie sind, erfolgen – und nicht allein für Nestlé.»

Dass der Konzern seine Interessen verteidige, sei klar, «aber Nestlé hat einen privilegierten Zugang zu den Behörden» und der Konzern habe es «nicht für angebracht gehalten, sein Insiderwissen (…) zu teilen. Ich bin mir nicht sicher, ob die anderen betroffenen Schweizer Unternehmen überhaupt wissen, welche Probleme sie mit den neuen Warnhinweisen erwarten.»

Fünf Stunden später: ein zweites Mail derselben Person an die gleiche Empfängerliste. Sie habe in der Zwischenzeit Kontakt gehabt zu einem Verantwortlichen bei Nestlé. Dieser habe ihr «die Ernsthaftigkeit des Problems und die Dringlichkeit einer Intervention bestätigt, weshalb sich Nestlé direkt ans Seco gewandt und um Unterstützung der offiziellen Schweiz gebeten hat». Man habe Nestlé nun darum gebeten, die SwissCham zu kontaktieren, damit diese ein «dringendes Treffen» einberufe, an dem der Konzern seine «Insiderinformationen» teilen solle, damit man eine «gemeinsame Strategie gegenüber den mexikanischen Behörden» erarbeiten könne – «zum Vorteil aller Schweizer Unternehmen».

Ein nationaler Notstand

Worum geht’s? Um einen «nationalen epidemiologischen Notstand». Diesen hatte die mexikanische Regierung im November 2016 ausgerufen – angesichts «des Ausmasses und der Tragweite der Fälle von Übergewicht und Adipositas». Die jüngsten Zahlen dazu stammen aus der nationalen Gesundheitsstudie von 2020. Sie sind erschreckend: Unter den fünf- bis elfjährigen Kindern sind 38 Prozent übergewichtig oder gar fettleibig. Und unter den Mexikaner*innen ab 20 Jahren sind 74 Prozent zu dick. Über ein Drittel der Erwachsenen ist fettleibig. Damit ist Mexiko innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) das «zweitschwerste» Land hinter den USA.

Die aus mexikanischen Akademiker*innen und Aktivist*innen bestehende «Allianz für gesunde Ernährung» sieht die Hauptursache der Übergewicht-Epidemie in einem «beschleunigten Verfall der Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung», der sich einerseits in einem Rückgang des Konsums von Früchten, Gemüse, Getreide und Hülsenfrüchten äussere und andererseits in einer «exponentiellen Zunahme» des Konsums von raffiniertem Mehl, Softdrinks und «allgemein von hoch verarbeiteten Lebensmitteln und Getränken».

«Ultraverarbeitete Lebensmittel», in Englisch «ultra-processed foods», sind industriell hergestellte Produkte, die in der Regel kaum oder gar keine Vollwertkost enthalten: Sie bestehen hauptsächlich aus Substanzen, die aus Lebensmitteln extrahiert werden – Fette, Öle, Stärken, Zucker – und sind oft mit künstlichen Farb- und Aromastoffen oder Stabilisatoren versetzt. Der Zusammenhang zwischen dem Konsum dieser Produkte und Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs ist hinlänglich belegt. 214 Kilogramm dieser «ultra-processed foods» wurden in Mexiko im Jahr 2013 pro Kopf verkauft. Weltweit lagen nur die USA, Kanada und Deutschland vor Mexiko. Hugo López-Gatell, Epidemiologe und beim mexikanischen Gesundheitsministerium für Prävention und Gesundheitsförderung zuständig, sagte vor zwei Jahren an einer Pressekonferenz, im Jahr 2018 sei in Mexiko die Hälfte aller Todesfälle auf Erkrankungen zurückzuführen gewesen, die mit einer schlechten Ernährung zusammenhängen. Auf Anfrage von Public Eye bekräftigt er: «Die Hauptursache der Adipositas-Epidemie in Mexiko ist das Überangebot von ultraverarbeiteten Produkten. Sie machen mittlerweile den grössten Bestandteil der mexikanischen Ernährung aus.»

Fett machende Deregulierung

Als Anfang der unheilvollen Entwicklung hin zu einer immer ungesünderen Ernährung der mexikanischen Bevölkerung wird oft die Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommen Nafta mit den USA und Kanada im Jahr 1994 genannt. Doch gemäss López-Gatell hatte in Mexiko bereits in den 1980ern eine «Transformation hin zum Neoliberalismus, zur Deregulierung und damit auch zu einer Schwächung des Gesundheitsschutzes» eingesetzt. Unter der Prämisse von «Entwicklung, Wohlstand und Wachstum» sei diese «bewusste Deregulierung» bis vor wenigen Jahren konsequent weitergetrieben worden.

2014 unternahm das Land erste Versuche, dieser Bedrohung für die öffentliche Gesundheit entgegenzutreten: Mexiko führte einerseits eine Zuckersteuer auf Süssgetränke ein, andererseits ein obligatorisches Kennzeichnungssystem für Fertigprodukte: Auf deren Verpackung waren fortan der Gehalt von Zucker, Salz, Kalorien und gesättigten Fetten aufgelistet – ergänzt durch eine Angabe, welcher Anteil einer empfohlenen Tageszufuhr damit gedeckt würde. Der Verband der Konsumgüterindustrie ConMexico, in dem Nestlé aktiv mitmischt, hatte jedoch dafür gesorgt, dass die Referenzwerte höchst industriefreundlich bestimmt wurden. Und das nationale Gesundheitsinstitut INSP kam in einer 2016 publizierten Studie zum Schluss, dass sowieso lediglich ein Fünftel der Bevölkerung die Hinweise überhaupt beachtete. Aufgrund der Resultate sprach sich das Institut dafür aus, dass alternative Labels in Betracht gezogen werden sollten, die «von einem breiten Bevölkerungskreis verstanden und genutzt würden».

Das Vorbild Chile

Das Vorbild fand sich gut 6000 Kilometer südöstlich. Chile hatte im Sommer 2012 ein Gesetzesvorhaben verabschiedet, das auf drei Pfeilern fusste.

  1. Schwarze Warnhinweise in der Form eines Stoppschilds mit der Botschaft «Alto en…»: hoher Gehalt an Zucker, Salz, gesättigten Fetten und Kalorien.
  2. Ein Verbot, mit Warnhinweisen versehene Produkte in der Grundschule zu verkaufen.
  3. Vorschriften, die verhindern sollen, dass für diese Produkte an Minderjährige gerichtete Werbung geschaltet wird.

In Anspielung an einen beliebten Schokoladeriegel von Nestlé wurde das Gesetz im Volksmund «Ley del Súper Ocho» getauft. Gemäss Nestlé werden in Chile jede Sekunde drei dieser «Super 8» verzehrt. Nun also sollten all diese ikonischen Riegel und überhaupt ein Grossteil des Nestlé-Sortiments mit schwarzen Warnhinwiesen versehen werden. Das erschien dem Konzern aus Vevey offenbar dermassen bedrohlich, dass er die offizielle Schweiz um Unterstützung bat. Konkret: das Seco, das unter anderem die Aufgabe hat, die «Interessen des Wirtschaftsstandorts Schweiz im Ausland» zu vertreten.

Am 22. März 2013 versandte das Seco aus Bern einen Brief an die chilenischen Behörden. Er findet sich – wie die eingangs zitierten Mails – in Dokumenten, die die Sendung «Temps Présent» des Westschweizer Fernsehens RTS letztes Jahr gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz erhalten hat – und daraufhin erstmals Licht auf das Nestlé-Lobbying gegenüber den Schweizer Behörden warf.

Die Krux mit dem Codex

Adressiert war das Schreiben an die «TBT-Kontaktstelle» Chiles. «TBT» steht für «Technical Barriers to Trade», deutsch: technische Handelshemmnisse. Das 1995 mit der Gründung der Welthandelsorganisation WTO ins Leben gerufene TBT-Abkommen setzt Rahmenbedingungen, die verhindern sollen, «dass technische Vorschriften den Handel negativ und unverhältnismässig beeinträchtigen». In diesem Sinne bat die Schweiz die chilenischen Behörden darum, aufzuzeigen, wie sie zum Schluss gekommen seien, «dass die vorgeschlagene Änderung zum Schutz der menschlichen Gesundheit notwendig ist». Zudem wollte die Schweiz wissen, «ob Chile weniger handelsbeschränkende Massnahmen in Betracht gezogen» habe.

Als Zweites führte die Schweiz den Grundsatz ins Feld, dass für die Erarbeitung neuer Vorschriften auf bestehende internationale Standards abgestellt werden soll. Den Standard bildet in diesem Fall der «Codex Alimentarius»: eine Sammlung von Normen für Lebensmittelsicherheit und -qualität, herausgegeben von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO und der Weltgesundheitsorganisation WHO. Der Codex lege keine Höchstwerte für bestimmte Nährstoffe fest. Deshalb würde man gerne erfahren, was Chile «dazu motiviert hat, ein Etikett mit einer negativen Botschaft («Hoher Gehalt an…») zu wählen», und wie die vorgesehenen Bestimmungen mit den Codex-Leitlinien vereinbar seien.

Nun muss man wissen: Die Frage, ob der Codex Länder tatsächlich daran hindert, eigene Warnsysteme zu entwickeln, wurde auf internationalem Parkett eingehend behandelt. Die Pan American Health Organization PAHO, der Amerika-Ableger der WHO, kommt in einem 2020 veröffentlichten Bericht zum Schluss: keineswegs. Die Diskussion und Entwicklung jedes Codex-Textes basiere auf den Erfahrungen einzelner Länder. «Das heisst, der Codex erwartet von den Mitgliedsländern, dass sie aktiv werden.» Länder hätten das Recht, Massnahmen zu ergreifen, um «die öffentliche Gesundheit zu schützen und die Lebensmittel- und Ernährungssicherheit ihrer Bevölkerung zu gewährleisten» ­– und könnten dabei auch «über die Codex-Leitlinien hinausgehen».

Und selbst die Schweiz, die im Komitee des Codex vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV vertreten wird, stellte sich dort im Herbst 2021 auf den Standpunkt, es sollte den Ländern «auf der Grundlage ihres nationalen Kontextes und Erkenntnissen, was bei den Verbrauchern am besten ankommt, freistehen», sich für das eine oder andere Kennzeichnungssystem zu entscheiden.

Fruchtlose Einflussnahmen

Drei Monate nach dem Versenden des Briefes intervenierte das Seco im Sommer 2013 erstmals auch an einem Treffen des TBT-Komitees. Dieses versammelt sich drei Mal jährlich in Genf, um «spezifische Handelsprobleme» zu besprechen. Man habe «einige Bedenken» bezüglich des Entwurfs und fordere Chile zudem auf, den «freiwilligen Ansatz bezüglich der Angabe von Nährwertgrenzwerten auf Produkten zu prüfen», der in der Schweiz angewandt werde.

In derselben Sitzung deponierte die Schweiz ihre Bedenken zu einem weiteren Gesetzesentwurf: dem «Gesetz für gesunde Ernährung» aus Peru, das ebenso wie das chilenische Pendant schwarze Warnhinweise vorsah. Ein Jahr später, im Juni 2014, nahm die Schweiz an einem TBT-Komitee-Treffen einen weiteren Labeling-Ansatz ins Visier: das Vorhaben von Ecuador, mittels Farbkennzeichnung anzugeben, ob ein verpacktes Lebensmittel einen hohen, mittleren oder tiefen Gehalt eines bestimmten Inhaltsstoffes aufweist. Das System würde bestimmte Produkte «in unfairer Weise diskriminieren» und sei nicht geeignet, den Konsument*innen «fundierte Informationen zu vermitteln», monierte die Schweiz und argumentierte zudem erneut damit, dass der Codex keine Nährstoffschwellenwerte festlege.

Doch es half nichts. 2014 beschlossen die Mitgliedstaaten der PAHO einstimmig einen Fünfjahresplan zur Verhinderung von Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen. Ein festgelegtes Ziel darin: die Entwicklung und Umsetzung von Normen für Warnhinweise auf der Vorderseite von Verpackungen, die es ermöglichen, «Produkte mit hohem Energiegehalt und wenig Nährstoffen schnell und einfach zu erkennen».

Ende 2014 setzte Ecuador sein Kennzeichnungssystem in Kraft. Und in Chile schickte sich nach der (erneuten) Wahl von Michelle Bachelet die neu geformte sozialistische Regierung an, gegen massiven Widerstand der Industrie und insbesondere des von Nestlé und fünf weiteren Firmen ins Leben gerufenen Interessensverbands AB Chile eine griffige Verordnung auf den Weg zu bringen.

Trotz der wiederholten Interventionen der Schweiz, der EU, der USA und weiterer Länder auf WTO-Ebene, trotz aller Bemühungen der Industrie, die Gesetzgebung zu behindern: Im Juni 2016 trat das «Ley del Súper Ocho» in Chile in Kraft.

Pablo Devoto, CEO von Nestlé Chile, beklagte im April 2017 in einem Interview, die Warnhinweise klärten die Verbraucher*innen nicht auf, sondern machten ihnen lediglich Angst. «Als Land», sagte er dann, so als wäre er chilenischer Präsident, «müssen wir von der Alarmierung zur Aufklärung kommen». Bei Nestlé habe man nicht den Eindruck, dass sich durch die Verordnung die Konsumgewohnheiten «definitiv und radikal» geändert hätten. Wissenschaftliche Studien kommen zu anderen Schlüssen. Ein von drei Universitäten durchgeführtes Monitoring zeigte im Juni 2019, dass der Verkauf von mit Warnhinweisen versehenen Produkten deutlich zurückgegangen war: bei gezuckerten Getränken um 25 Prozent, bei Frühstückscerealien gar um 36 Prozent.

Auch in Peru zeitigten die Lobby-Bemühungen – angeführt vom Industrieverband Sociedad Nacional de Industrías, bei dem Nestlé Mitglied ist – nicht die gewünschte Wirkung. Im Sommer 2019 setzte auch Peru sein «Gesetz für gesunde Ernährung» in Kraft – inklusive obligatorischer, achteckiger Warnhinweise nach dem Vorbild Chiles.

Etwa zur selben Zeit spricht sich auch in Mexiko der Gesundheitsausschuss der Abgeordnetenkammer für «einfach verständliche», «wahrheitsgemässe» und «sichtbare» Warnhinweise auf der Vorderseite von verpackten Lebensmitteln aus. Die «Norma Oficial Mexicana 051», kurz NOM-051, ist geboren. Sie sieht fünf schwarze Stoppschilder vor, mit dem Schriftzug «Exceso», also «Übermass» – an gesättigten Fetten, Kalorien, an Salz, an Transfetten, an Zucker. Zudem soll – nach dem Vorbild Chiles – verboten werden, für mit Warnhinweisen versehene Produkte mit Comic-Figuren, Spielzeugen oder Berühmtheiten zu werben.

Für Nestlé geht’s nun ans Eingemachte: Während der Konzern in Chile und Peru je rund eine halbe Milliarde Schweizerfranken Umsatz pro Jahr erzielt, waren es in Mexiko im Jahr 2019 fast drei Milliarden Franken.

Was auf dem Spiel stand

Um uns eine Vorstellung davon machen zu können, was für Nestlé auf dem Spiel stand, haben wir uns beim renommierten Marktforschungsinstitut Euromonitor Marktdaten besorgt. Sie zeigen, welcher Umsatz im Jahr 2019 in Mexiko im Einzelhandel mit welchen Marken und Produkten von Nestlé erzielt worden ist. Zwar wissen wir nicht exakt, welcher Bruchteil des Umsatzes als Gewinn für den Einzelhandel abfiel. Doch die Zahlen erlauben es uns, zumindest eine Schätzung anzustellen, wie gross das Nestlé-Geschäft mit Produkten war, die einen Stempel erhalten sollten – und schliesslich auch erhielten. Denn, so viel vorneweg: Die NOM-051 trat im Oktober 2020 tatsächlich in Kraft.

Mit Nestlé-Produkten aus den Kategorien «Schokolade und Confiserie» (rund 270 Millionen Franken), Eiscrème (rund 150 Millionen) und «Getränke in Pulverform» (rund 140 Millionen) sind demnach 2019 im mexikanischen Einzelhandel über eine halbe Milliarde Schweizerfranken Umsatz erzielt worden. Jedem einzelnen Produkt aus diesen Kategorien drohte mindestens ein Warnhinweis.

Hinzu kommen mehrere Milchproduktmarken, von denen heute sämtliche Artikel mit Warnhinweisen versehen sind: Mit ihnen wurden 2019 im Einzelhandel rund 270 weitere Millionen umgesetzt. Und schliesslich müssen noch jene Produkte von Marken wie Nescafé, Maggi oder aus dem Cornflakes-Sortiment hinzugerechnet werden, die mit Warnhinweisen versehen sind. Gemäss unseren Berechnungen kommen wir für Produkte dieser Marken noch einmal auf rund 340 Millionen Franken. Heisst in der Summe: Der Einzelhandel-Verkaufswert von Nestlé-Produkten, denen ein oder mehrere Warnhinweise «drohten», belief sich im Jahr 2019 in Mexiko auf über eine Milliarde Franken. Nestlé teilt auf Anfrage mit: «Weniger als 30 Prozent der Produkte, die wir in Mexiko verkaufen, sind mit Warnhinweisen versehen. Wir konzentrieren uns weiterhin darauf, unser Angebot an schmackhaften und gesunden Produkten zu erweitern.»

Die Schweiz interveniert

Darum also geht’s, als am 15. November 2019 ein Nestlé-Mitarbeiter (oder eine Mitarbeiterin, wegen der Anonymisierung in den E-Mails wissen wir das nicht) eine Mail an eine Person beim Seco schreibt. Es sei «eine grosse Freude» gewesen, sich letzte Woche in Vevey wiederzusehen, steht im Mail. Wie besprochen finde sich im Anhang der Mail «eine Zusammenfassung und Kernaussagen zu den beiden dringenden Problemen, mit denen wir in Mexiko zu tun haben». Das erste Problem: Verbote von Einweg-Plastiksäcken respektive -flaschen, gegen die sich Nestlé letztlich vergeblich wehrte. Das zweite Problem: natürlich, die NOM-051. «Wir würden uns über Ihre Hilfe und Ihre Empfehlungen für unsere Lobbyarbeit freuen», steht im Schreiben.

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«Wir würden uns über Ihre Hilfe und Ihre Empfehlungen für unsere Lobbyarbeit freuen» © PublicEye

Beim Seco nimmt man die Angelegenheit offenbar ernst. Gerade einmal 17 Minuten dauert es, bis die Antwortmail auf dem Nestlé-Server eingeht. Der oder die Seco-Mitarbeitende schreibt: «Vielen Dank dafür». Man erwäge, nächste Woche zu intervenieren. Und dann: «Darf ich Sie fragen, an wen in Mexiko sich die in Erwägung gezogene Intervention richten muss, da Sie diese Entwicklungen genauer verfolgt haben als wir.» Bevor man interveniere, werde man sich wieder mit Nestlé in Verbindung setzen und darüber informieren, «was wir zu wem in Mexiko sagen werden».

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Das Seco stellt für nächste Woche eine Intervention in Aussicht. © Public Eye

«Unnötige Ängste»

Schauen wir uns jetzt erst den Inhalt dieses Memorandums an, das Nestlé dem Seco geschickt hat. Die von Mexiko vorgesehene Norm sei «viel restriktiver» als das chilenische Gesetz, weil es die achteckigen Warnhinweise mit einem restriktiveren Nährwertprofil verbinde. Zudem sehe der Vorschlag grössere Einschränkungen für die Bewerbung und den Verkauf «gelabelter» Produkte vor. Nestlé unterstütze Kennzeichnungssysteme, die darauf abzielten, den Konsument*innen mit «praktischen, relevanten und rasch verständlichen Nährwertinformationen» zu helfen, «gesündere Ernährungsentscheidungen» zu treffen. Die mexikanische Norm werde diesem Ziel jedoch nicht gerecht.

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«Wir würden uns freuen, wenn Sie uns bei unseren Lobbying-Bemühungen unterstützen würden», schreibt Nestlé im Memorandum für das Seco. © PublicEye

Denn abgesehen von dem «zu radikalen und restriktiven» Nährwertprofil, das für die Bestimmung der Schwellenwerte benutzt wird, sollten Warnhinweise, wie sie Mexiko vorsehe, grundsätzlich «vermieden» werden. Denn diese seien weder im Codex vorgesehen noch mit internationalen Standards kompatibel und könnten bei den Konsument*innen leicht «unnötige Ängste» wecken. Und das Verbot, gelabelte Produkte mit Comicfiguren oder Spielsachen zu bewerben, verstosse gegen mexikanisches wie internationales Recht des geistigen Eigentums.

In den Tagen, bevor die Mail aus Vevey ans Seco verschickt wird, ist Nestlé auch in Mexiko selbst in die Offensive gegangen. Am 5. November hat der Konzern seine Stellungnahme zur Regulierung eingereicht, in der er prognostiziert, die vorgesehenen Warnhinweise würden «nicht die beabsichtigte Wirkung haben». Die Bevölkerung werde «weiterhin ungesunde Produkte konsumieren, obwohl sie sich deren gesundheitlicher Auswirkungen bewusst ist». Das tatsächliche Problem seien «nicht die Informationen, die der Konsument zu den Produkten erhalte», sondern «der Konsument selbst, der nicht genügend gebildet ist». Deshalb brauche es nicht Warnhinweise, sondern Informationskampagnen.

Eine Woche später wendet sich Nestlé mit einem Schreiben, das die Konsument*innenorganisation «El Poder del Consumidor» öffentlich macht, an seine Zulieferer.

Nestlé bittet sie, gegenüber den mexikanischen Behörden ihre «Besorgnis» über den Norm-Entwurf kundzutun, der vorsehe, dass gewisse Fertigprodukte als «schädlich für die Gesundheit» eingestuft würden, «mit dem Ziel, die Mexikaner von deren Konsum abzubringen». Eine Intervention der Zulieferer sei «unabdingbar», um zu verhindern, dass «zu einem Zeitpunkt, in dem die nationalen Wirtschaftsaussichten herausfordernd sind», Arbeitsplätze zerstört würden.

Alejandro Calvillo, Direktor von El Poder del Consumidor, bezeichnet diese Aufforderung an die Zulieferer auf Anfrage als «einen Versuch, die Entwicklung der Norm zu bremsen». Nestlé sei einer jener Konzerne gewesen, die sich am vehementesten gegen die neue Norm gestellt hätten.

Am 25. November 2019 verschickt die Kontaktperson beim Seco das «Memorandum, das uns Nestlé (…) übermittelt hat», an neun Kolleg*innen – verbunden mit der Bitte um eine «erste Einschätzung». Am selben Tag folgt der eingangs zitierte Mailwechsel mit der EDA-Abteilung in Mexiko, die bis dahin offensichtlich nicht involviert war und sich über den Alleingang Nestlés echauffiert. Beim Seco zeigt man sich davon wenig beeindruckt.

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Am 25. November 2019: SECO-interne Bitte um eine «erste Einschätzung zum Memorandum» © PublicEye
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Am 26. November 2019 kommt die Einschätzung: «Tatsächlich fehlt eine wissenschaftliche Begründung» für die Grenzwerte im neuen mexikanischen Kennzeichnungssystem. © PublicEye

Die zuständige Person kommt in ihrer Analyse, die sie tags darauf abteilungsintern in die Runde schickt, zu folgenden Schlüssen: Tatsächlich fehle für die von Mexiko festgelegten Schwellenwerte «eine wissenschaftliche Begründung». Diesen Punkt sollte man aufnehmen, wird geraten. Zudem könne die Schweiz auf den Codex-Standard verweisen, «ähnlich wie anlässlich der Intervention im TBT im Zusammenhang mit Chile», sowie auf «eigene Erfahrungen» mit der Einführung eines Labels «auf einer freiwilligen Basis und unter Einbezug der relevanten Stakeholder».

Kehrtwende an der Ampel

Dieser letzte Punkt wird tags darauf erneut aufgenommen. Eine Person schreibt in die Runde: «Für die weitere Bearbeitung dieser Anfrage ist wichtig zu bedenken, dass wichtige Lebensmittelhersteller und -importeure, darunter auch Nestlé (Schweiz), angekündigt haben, das vereinfachte Nährwertkennzeichnungssystem ‹Nutri-Score› in der Schweiz einzuführen.» Dieser Ansatz unterscheide sich vom mexikanischen insbesondere darin, dass es «sich hierbei um eine freiwillige Massnahme handelt».

Tatsächlich erklärte Nestle im Juni 2019, man unterstütze «den Nutri-Score als bevorzugtes Nährwertkennzeichnungssystem für Lebensmittel und Getränke in Kontinentaleuropa». Dies sei ein «Bekenntnis zu guter Ernährung und einer informierten Essenswahl». Es war eine Kehrtwende: Jahrelang hatte Nestlé zuvor – zuweilen im Verbund mit weiteren Konzernen – versucht, die Lebensmittelampel erst zu verhindern, dann zu verwässern und zu verzögern.

Was also veranlasste nun den Konzern, dessen Management 2021 intern selbst einräumte, dass über 60 Prozent seiner Produkte ungesund sind, sich für ein Ampelsystem einzusetzen? Die französische Ernährungswissenschaftlerin Mélissa Mialon sagt auf Anfrage: «Die Einführung von Warnhinweisen in Lateinamerika ist wohl einer der Hauptgründe für Nestlés Umschwenken beim Nutri-Score.» Denn im Vergleich zu schwarzen Warnhinweisen hat die Ampel für Nestlé eindeutige Vorteile: Erst einmal sieht eine farbenfrohe Skala deutlich schmucker aus als schwarze Stoppschilder. Wichtiger noch: Während das in Mexiko und Chile angewandte System ein Übermass eines gewissen Stoffes «brandmarkt», können beim Nutri-Score negative mit positiven Nährwerteigenschaften wettgemacht werden.

Heisst: Muss ein Hersteller beim «südamerikanischen» System den Zucker-, Salz- oder Fettgehalt reduzieren, damit er um ein schwarzes Stoppschild auf der Verpackung herumkommt, kann der Nutri-Score durch eine Zugabe von positiv bewerteten Nährstoffen wie Ballaststoffe oder Proteine in den grünen Bereich gedrückt werden. Was das zur Folge hat, lässt sich schön anhand eines der bekanntesten Nestlé-Produkte darstellen: Nesquik.

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Nesquik, wie es Nestlé in der Schweiz verkauft, würde in Mexiko mit Warnhinweisen versehen. © PublicEye

In Mexiko würde die in der Schweiz verkaufte Nesquik-Rezeptur mit drei Warnhinweisen versehen: «Exceso» (Übermass) an Kalorien, Zucker und Salz. Zudem dürfte das Produkt nicht mit dem Nesquik-Hasen beworben werden. In Mexiko hat Nestlé mittlerweile zuckerärmere Nesquik-Rezepturen auf den Markt gebracht.

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Nesquik in der Schweiz: mit zweitbestem Nutri-Score ausgezeichnet © Public Eye

Doch in der Schweiz erhält Nesquik den hellgrünen Nutri-Score B. Denn die Berechnungsweise des Nutri-Scores berücksichtigt erstens sowohl negative wie auch positive Nährwerteigenschaften und bewertet zweitens nicht das Produkt in seiner ursprünglichen Form, sondern wie es schlussendlich eingenommen wird (hier: Pulver + Milch), wobei drittens die Bewertung auf einer von Nestlé selbst bestimmten Rezeptur basiert: Diese mischt sehr wenig Pulver mit viel fettarmer Milch, deren positive Nährwerte die Bewertung in den grünen Bereich heben. Auch der Hase darf bleiben.

Die PAHO, von der wir es schon hatten, verglich Ende 2020 die schwarzen Warnhinweise mit fünf weiteren Labelling-Systemen, unter anderem mit «zusammenfassenden Systemen» wie dem Nutri-Score. Sie kam zum unmissverständlichen Schluss:

«Eindeutige Warnungen auf der Vorderseite der Verpackung von Lebensmitteln, die zu viel Fett, Zucker und Natrium enthalten, sind der beste Weg, um Menschen dabei zu helfen, die ungesundesten Einkäufe zu vermeiden.»

Wenn wie beim Nutri-Score positive und negative Eigenschaften eines Produktes miteinander verrechnet würden, werde «der Zweck (der Kennzeichnung) verfälscht, die Wirkung abgeschwächt und die Verwirrung unter den Konsumenten vergrössert».

Im Schreiben, welches das Seco schliesslich am 9. Dezember 2019 an die mexikanischen Behörden verschickt, erinnert die Schweiz dennoch daran, dass sich in der Schweiz «grosse Lebensmittelhersteller – und -importeure» bereit erklärt hätten, auf «rein freiwilliger Basis» den Nutri-Score einzuführen. Man möchte Mexiko «höflich fragen», ob auch «weniger handelseinschränkende Massnahmen» in Betracht gezogen worden seien. Ansonsten repetiert das Schreiben im Wesentlichen die Punkte, die Nestlé per Memorandum übermittelt hat: Man sei besonders interessiert zu erfahren, auf welcher Grundlage die Schwellenwerte für die Warnhinweise festgelegt worden seien. Warum Mexiko negative Warnhinweise einführen wolle, obwohl diese im Codex nicht vorgesehen seien und Konsument*innen glauben machen könnten, bestimmte Lebensmittel sollten «gänzlich vermieden werden, obwohl sie Teil einer ausgewogenen Ernährung sein können».

Mexiko bleibt standhaft

Anfang 2020 reicht die Schweiz gemeinsam mit der EU, den USA und weiteren Ländern beim TBT-Komitee einen «Specific Trade Concern» ein – eine Meldung, dass man bei der von Mexiko vorgesehenen Gesetzgebung «spezifische Handelsprobleme» sehe. Im Februar 2020 interveniert der Seco-Mitarbeiter am TBT-Treffen an der Seite der EU und der USA, wiederholt die im Schreiben geäusserten Bedenken.

Kurz sieht es so aus, als hätte der geballte Widerstand gegen das mexikanische Vorhaben tatsächlich Erfolg: Aufgrund der Beschwerde eines Industrieverbandes suspendiert ein mexikanisches Gericht Ende Februar das Inkrafttreten der neuen Norm. Doch nur wenige Tage später wird der Entscheid von der nächsthöheren Instanz schon wieder kassiert. «Leider ist unser Stand, dass die NOM Ende März/Anfang April veröffentlicht werden könnte, ohne grosse Änderungen gegenüber dem Entwurf, den wir gesehen haben», schreibt die Nestlé-Person am 12. März ans Seco, nachdem sie sich noch einmal artig für die «wertvolle Hilfe in dieser wichtigen Angelegenheit» bedankt hat.

Am 27. März wird die NOM-051 im mexikanischen Amtsblatt publiziert, ohne dass an den Bestimmungen noch etwas geändert worden wäre. Am 3. April meldet sich das Seco noch einmal bei Nestlé. Man habe von «US-Quellen» erfahren, dass gemäss der dortigen Industrie das Inkrafttreten der Norm wegen «Covid-19 und der derzeit hohen Nachfrage nach Lebensmitteln» verschoben werden sollte. «Teilt Nestlé diese Einschätzung/Besorgnis?». Offenbar schon. Am nächsten TBT-Treffen vom Mai fordert die Schweiz die mexikanischen Behörden jedenfalls «mit einer gewissen Dringlichkeit» auf, das Inkrafttreten der Änderungen «auf einen späteren Zeitpunkt» zu verschieben. Die USA und die EU werden konkreter: Sie fordern einen Aufschub von zwei Jahren.

«Die umfassendste Regelung weltweit»

Doch die mexikanischen Behörden bleiben hart: Am 1. Oktober 2020 tritt die NOM-051 in Kraft. Die PAHO bezeichnet die Norm als «die fortschrittlichste und umfassendste Regelung weltweit». Dass die Schweiz das Land am nächsten TBT-Meeting von Ende Oktober noch einmal auffordert, die Norm zu «überprüfen, um eine angemessene Versorgung des mexikanischen Marktes mit Lebensmitteln und Getränken insbesondere während der COVID-19-Pandemie sicherzustellen», ändert nichts mehr daran. Offenbar beginnen die Lebensmittelkonzerne aufgrund der neuen Gesetzgebung rasch damit, die Rezepturen ihrer Produkte anzupassen. Und die mexikanischen Behörden scheinen demonstrieren zu wollen, dass sie es mit der Umsetzung der neuen Norm ernst meinen: Im April ziehen sie über 10’000 Produkte von 80 Marken aus dem Verkehr, die nicht korrekt beschriftet sind – darunter zwei Sorten Cornflakes von Nestlé.

Die Reaktionen

Nestlé beantwortet die konkreten Fragen von Public Eye (etwa bezüglich der «Zusammenarbeit» mit dem Seco, zur Entwicklung des Umsatzes seit Einführung der Warnhinweise oder zur Kehrtwende in Sachen Nutri-Score) nicht einzeln, sondern lediglich mit einem summarischen Statement. Es sei Nestlé «ein Anliegen, die Menschen bei einer ausgewogenen Ernährung zu unterstützen», teilt Christoph Meier, «Global Head of Corporate Media Relations», mit. Man sei aber der Meinung, dass die «besondere Form der Kennzeichnung mit Warnhinweisen», wie sie Chile und Mexiko implementiert haben, «nicht dabei hilft, gesündere Optionen in einer bestimmten Produktkategorie zu wählen». Beim Nutri-Score dagegen hätten Auswertungen in Europa gezeigt, dass dieser «den Konsumenten hilft, gut informierte Entscheidungen zur Ernährung zu treffen». Aber: «Wir pflegen einen transparenten und konstruktiven Austausch mit Behörden und Stakeholdern und halten uns selbstverständlich streng an die Kennzeichnungsvorschriften in beiden Ländern.»

Das Staatssekretariat für Wirtschaft nimmt relativ ausführlich Stellung, weicht in Bezug auf gewisse Aspekte aber auffallend aus. Auf die Frage, ob die Interventionen in Mexiko und Chile auf Bitte von Nestlé hin erfolgten, schreibt das Staatssekretariat, es werde «in der Regel durch die interessierten Anspruchsgruppen und Wirtschaftsteilnehmer auf WTO-Notifikationen anderer WTO-Mitglieder aufmerksam gemacht.» Diese Anliegen würden daraufhin jeweils überprüft, und nur bei «begründeten Zweifeln und Fragen» werde «ein schriftlicher Kommentar oder eine Intervention im TBT-Komitee zusammen mit den anderen WTO-Mitgliedern angestrebt».

Ob es üblich sei, dass sich das Seco von privaten Akteuren bezüglich des geeigneten Adressaten einer Intervention beraten lässt? «Die Schweiz verfügt über entsprechende Vertretungen im Ausland, um die bilateralen Beziehungen zu pflegen und in Kontakt mit Vertretern unserer Partnerländer zu treten.»

Ob die Intervention des Seco gegenüber Mexiko mit dem EDA und/oder dem BLV abgesprochen gewesen sei? «Im WTO TBT Komitee wird die Position der Schweiz vertreten, welche gegebenenfalls mit den jeweiligen zuständigen Ämtern abgestimmt wird.» Die verschiedenen Bundesstellen arbeiteten «eng zusammen und koordinieren ihre Bemühungen».

Zwischen der Position der Schweiz im Rahmen des Codex (gemäss der es den Ländern freistehen sollte, welches Kennzeichnungssystem sie wählen) und der Schweizer Position im WTO TBT-Komitee schliesslich besteht laut Seco «kein Widerspruch».

Fortsetzung folgt bestimmt

2021 hat auch Uruguay ein Gesetz mit Warnhinweisen implementiert. Brasilien und Kolumbien haben entsprechende Gesetze verabschiedet, in Kanada schlägt das Gesundheitsministerium ein solches vor, und zuletzt wurde im März 2022 in Argentinien das «Gesetz zur Förderung einer gesunden Ernährung» publiziert – inklusive schwarzer, achteckiger Warnhinweise.

In der Schweiz sagte derweil die abtretende Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch im Mai an einer Diskussionsrunde ganz unumwunden: «Eine Hauptaufgabe meiner letzten elf Jahre als Seco-Direktorin war es, mehr Regulierung abzuwehren.»

Hugo López-Gatell, der Experte aus dem mexikanischen Gesundheitsministerium, sagt dazu:

«Unsere Regierung hat sich vorgenommen, die politische Macht von der wirtschaftlichen Macht zu trennen. Wenn Länder wie die Schweiz die Interessen ihrer Konzerne verteidigen wollen, sollen sie das im Rahmen ihrer nationalen Gesetze oder in internationalen Gremien tun. Aber wir werden niemals zulassen, dass ein anderes Land oder ein ausländischer Konzern uns unsere Gesundheitspolitik diktiert.»

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Mitarbeit bei den Recherchen: Laurent Gaberell

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Grafikquellen        :

Oben      — Karneval, Mainz, Februar 2020

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Hauptsache Nebenkosten

Erstellt von Redaktion am 12. August 2022

Sozial gerecht wäre, die Be­sit­ze­r-in­nen zur Kasse zu bitten.

Sitz der Deutsche Wohnen in Berlin-Wilmersdorf

Von Thomas Gesterkamp

Der Wert von Immobilien steigt, doch für die höhere Grundsteuer sollen Mie­te­r-in­nen aufkommen. Für Vermögende ist das sprichwörtliche „Betongold“ immer noch eine sehr lukrative Form der Geldanlage.

Wer Grund und Boden besitzt, gehört in der Regel zu den Wohlhabenden im Lande. Nach Finanzkrise und Euroturbulenzen sind die Immobilienpreise durch die Decke gegangen. Diese Gewinne steuerlich stärker abzuschöpfen, ist sinnvoll. In vielen Nachbarländern zählt die Grundsteuer zu den wichtigsten Einnahmequellen der Kommunen. Die deutsche Regelung enthält hingegen einen Makel, über den kaum berichtet wird. Der frühere Finanzminister und heutige Kanzler Olaf Scholz ließ nämlich bei der Reform 2019 zu, dass Ver­mie­te­r:in­nen die Abgabe wie bisher zu hundert Prozent auf die Miete abwälzen können.

Das dürfte, gemeinsam mit den Preissprüngen bei Strom und Gas, zu neuen sozialen Schieflagen führen. Die Neubewertung der Finanzbehörden orientiert sich demnächst am sogenannten Bodenrichtwert. Dieser zeigt an, wie attraktiv der Standort einer Immobilie ist. In bürgerlich geprägten Wohngebieten und in den zentral gelegenen Vierteln liegt er besonders hoch, an der urbanen Peripherie und im ländlichen Raum meist niedriger. Viele, die in der Innenstadt zur Miete wohnen, werden daher künftig mehr Grundsteuer zahlen müssen – obwohl das Wohnen durch Spekulantentum, Inflation und Energiekrise schon teuer genug ist. Die einst bagatellisierend als „Nebenkosten“ bezeichneten Zusatzlasten sind nicht länger nebensächlich. Sie werden zur zweiten Miete.

In den Metropolen, aber auch in manchen Universitätsstädten oder touristisch attraktiven Gegenden verschlingen neu bezogene Zwei- oder Dreizimmerwohnungen die Hälfte des Monatseinkommens auch von Menschen, die eine relativ gut bezahlte Stelle haben. Wenn zu einer Kaltmiete im vierstelligen Bereich noch mehrere hundert Euro für Gas, Strom, Wasser, Grundsteuer, Müllabfuhr und Straßenreinigung hinzukommen, werden schnell die Belastungsgrenzen erreicht. Nicht nur gering Verdienende, auch Familien mit mehreren Kindern und entsprechendem Platzbedarf müssen dann umziehen – in die weniger beliebten Trabantenstädte, oder gleich in strukturschwache Regionen.

Anders als an den Tankstellen, wo die Preissprünge auf großen Tafeln am Straßenrand sichtbar sind, wirkt beim Wohnen ein psychologischer Verzögerungseffekt. Denn abgerechnet wird meist mit Verzug. Eine Aufstellung der Nebenkosten erhalten viele Betroffene erst im Folgejahr. Die Energieversorger erheben zwar Abschläge, die schockierend hohe Nachzahlung aber wird frühestens nach dem Heizen im Winter fällig. Die Finanzbehörden fangen zwar jetzt an, die Grundsteuer neu zu bestimmen, auf Basis der veränderten Sätze eingefordert wird sie jedoch erst ab 2025.

Hauptverwaltung von Vonovia in Bochum (2018)

Drastische Erhöhungen bei den Kosten für Basisbedürfnisse sind stets ein Warnsignal an die Politik. Das gilt sogar für Diktaturen, und umso mehr für Demokratien, die auf die Loyalität der Regierten stärker angewiesen sind. Die Historie erzählt von Brotaufständen, von Revolten gegen Getreidemangel oder in neueren Zeiten von militanten Protesten allein aufgrund hoher Spritpreise.

Das Problem steigender Mieten schlummert im Vergleich dazu eher im Verborgenen – schon deshalb, weil nicht alle, auch nicht alle Einkommensschwachen, in gleichem Maße betroffen sind. Wer zum Beispiel relativ günstig in der Provinz lebt und nicht mit Gas, sondern vorrangig mit einem alten Kaminofen heizt, spürt die neue Belastung weniger als andere.

Die Mietpreise steigen seit mehr als zehn Jahren überdurchschnittlich. Viele können sich nicht mehr leisten, dort zu leben, wo sie arbeiten, vor allem nicht in den teuren Großstädten. Wer zu wenig verdient, weicht auf günstigere Orte aus. Doch auch im Umland der Ballungsräume sind die Preise gestiegen, zudem rauben längere Anfahrtswege Zeit und Kraft, von der zusätzlichen Belastung für die Umwelt ganz zu schweigen.

Quelle          :         TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Sitz der Deutsche Wohnen in Berlin-Wilmersdorf

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USA sanktioniert Kuba

Erstellt von Redaktion am 12. August 2022

Charterflüge und Kreuzfahrten verboten, Zahlungen erschwert

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von     :    Red. /   

Präsident Trump verschärfte die Sanktionen gegen Kuba massiv. Präsident Biden hält an den völkerrechtswidrigen Massnahmen fest.

upg. Ein Autorenkollektiv hat ein dokumentiertes Dossier über die umfassenden, völkerrechtswidrigen US-Sanktionen gegen Kuba veröffentlicht: «Schweizer Banken gegen Cuba – Chronik eines amtlich beglaubigten Skandals». Weil große Medien dem Thema wenig Platz einräumen, veröffentlicht Infosperber zwei Teile aus den einleitenden Kapiteln. Im ersten Teil ging es um die Verweigerung von Banken, Spenden auf Konten von Kuba-Hilfsorganisationen gutzuschreiben.

Die Wirtschaftsblockade beherrscht alles

(Franco Cavalli) Es ist völlig unmöglich, über Kuba zu diskutieren, ohne die Wirtschaftsblockade zu thematisieren, mit der die USA seit mehr als 60 Jahren die Errungenschaften der kubanischen Revolution zu erwürgen versuchen. Dieser unerbittliche Wirtschaftskrieg, der jährlich von der UN-Generalversammlung fast einstimmig verurteilt wird, hat der karibischen Insel Schäden in der Höhe von Hunderten von Milliarden verursacht. Geschichtlich sind diese völkerrechtswidrigen Massnahmen wegen ihrer Dauer und Härte einmalig. Das einzige einigermassen ähnliche Beispiel geht zurück auf den Beginn des 19. Jahrhunderts, als Frankreich Haiti mit einer harten Wirtschaftsblockade wegen seiner Unabhängigkeitserklärung bestrafte, wodurch das vorher ziemlich blühende Land in das Armenhaus verwandelt wurde, das wir noch heute kennen.

Die Vorgeschichte der Blockade gegen Kuba zeigt, dass überhaupt keine ideellen Gründe, sondern nur harte ausbeuterische Wirtschaftsinteressen die entscheidende Rolle spielten. Nachdem die bärtigen Revolutionäre im Mai 1959 die absolut notwendige Landreform ausgerufen hatten, wobei natürlich die Interessen einiger wohlhabender amerikanischer Landbesitzer berührt wurden, rief im Oktober 1959 Präsident Eisenhower die ersten wirtschaftlichen Strafmassnahmen gegen Kuba aus (ohne jegliche Aussprache mit dem Kongress!). Es wurde damals bereits ausdrücklich erwähnt, dass alle Optionen auf dem Tisch seien, sollte sich Havannas Regierung nicht bessern.

Im Juni 1960 verstaatlichte die Revolutionsregierung amerikanische Raffinerien, nachdem sich diese geweigert hatten, Öl aus der Sowjetunion zu verarbeiten. Wenige Monate später wurden die wichtigsten Industriezweige, darunter viele amerikanische Besitzungen, ebenfalls verstaatlicht. Daraufhin verschärfte Washington die Vergeltungsmassnahmen derart, dass man bereits von einer weitgehenden Wirtschaftsblockade sprechen konnte, obwohl diese auf Gesetzesebene erst zwei Jahre später vom US-Kongress verankert wurde.

Weltweit durchgesetzte Wirtschaftsblockade ab 1996

Anfang der 1990er-Jahre, infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion, verlor die karibische Insel fast die Hälfte ihres Sozialproduktes. Wegen dieser Wirtschaftskatastrophe war man in Washington überzeugt, dass die Regierung in Havanna bald gestürzt würde. Als dies nicht eintrat, versuchte man es 1996 mit der Helms-Burton Act. Zum ersten Mal massten sich die USA offiziell das Recht an, die Wirtschaftsblockade auch ausserhalb der USA, also exterritorial, durchzusetzen. Das bedeutete, dass jede Person respektive jedes Unternehmen, die oder das sich irgendwo auf der Welt erlauben würde, mit Kuba Geschäfte zu tätigen, mit harten finanziellen Strafmassnahmen seitens der USA rechnen musste. Bezeichnenderweise wurde dieses Gesetz ausgerufen, als Kuba dabei war, die Wirtschaftskrise des Periodo especial zu überwinden.

Beim Ausbruch der Covid-Pandemie versuchte Präsident Donald Trump mit einer zusätzlichen Verschärfung der Helms-Burton Act Kuba im wahrsten Sinne des Wortes auszuhungern. Zum ersten Mal wurden beispielsweise nicht nur Produzenten, sondern auch Transportunternehmen, die Waren nach Kuba bringen wollten, mit enormen Bussen bedroht. Und zum ersten Mal wurde sogar den in den USA lebenden KubanerInnen verboten, ihren Verwandten auf der Insel Geld zukommen zu lassen.

Diese unglaubliche Verhärtung der Wirtschaftsblockade und das pandemie-bedingte Ausbleiben des Tourismus erklären zum grössten Teil die jetzige schwierige Wirtschaftslage in Kuba. Aber nachdem Havanna es zustande brachte, praktisch die ganze eigene Bevölkerung mit wirksamen Impfstoffen, die in Kuba selbst entwickelt wurden, zu immunisieren, sieht es so aus, als ob auch diesmal die Hoffnung Washingtons zum Albtraum der US-Politik werden könnte. In der Tat konnte Kuba am 15. November 2021, weil die Pandemie momentan unter Kontrolle ist, seine Tore für den internationalen Tourismus wieder öffnen.

Trump erlaubt Klagen gegen jahrzehntealte Enteignungen

(Raffaele Malinverni) Der schlimmste Teil der Helms-Burton Act ist Teil III. Er erlaubt US-Bürgern und auch Personen, die zum Zeitpunkt der Enteignung noch nicht US-Bürger waren, deren Besitz aber auf Kuba enteignet worden war, sowie Personen und Unternehmen, die Geschäftsbeziehungen eingehen wollen, die diese Güter betreffen, in den USA gegen die Enteignungen zu klagen (Sektion 301.5). Dieser Teil III wollte Investoren ausländischer Firmen auf Kuba abschrecken. Doch die ACT III haben die Präsidenten Clinton, G. W. Bush und Obama nie in Kraft gesetzt, weil er den Interessen von US-Firmen zuwiderlief.

Präsident Trump hingegen setzte die Act III im Jahr 2019 in Kraft. Die Biden-Administration hat die Anwendung des Act III ebenso wenig rückgängig gemacht wie die weiteren 243 von Donald Trump eigenmächtig erlassenen Verschärfungen.

Diese sehen u. a. folgende Massnahmen vor:

  • Verbot von regulären und Charterflügen nach Kuba (Ausnahme: Havanna);
  • Verbot von Kreuzfahrten nach Kuba;
  • Verhinderung von Zahlungen nach Kuba via die kubanischen Gesellschaften Fincimex und American International Services (die Hauptzahlungskanäle nach Kuba);
  • Verbot, Güter nach Kuba zu exportieren, die mehr als 10 Prozent US-Komponenten enthalten;
  • Verbot in die USA kubanischen Rum und Tabakwaren zu importieren;
  • Kubas finanzielle Bank-Operationen wurden untersagt;
  • Rund 230 US-Firmen wurden schwere Restriktionen im Handel mit Kuba auferlegt;
  • Restriktionen für Firmen, die mit Treibstoffen handeln, die für Kuba bestimmt sind.

Schliesslich hat Präsident Trump am 11. Januar 2020, neun Tage vor Ende seiner Amtszeit, Kuba wieder auf die Liste von Ländern gesetzt, welche den Terrorismus sponsern sollen. Seit Jahren gibt es keine Anhaltspunkte mehr dafür, dass Kuba im Ausland illegal Aufständische unterstützt.

Der kumulierte Schaden für Kuba infolge der Blockaden wurde auf über 130 Milliarden US-Dollar geschätzt, allein von April 2019 bis März 2020 auf 2,4 Milliarden («The Guardian», 03. 02. 2022).

Gegen internationales Recht

Stolze neunundzwanzig Mal (29×) hat die UN-Generalversammlung die US-Wirtschaftsblockade verurteilt und deren Aufhebung gefordert. Seit die Schweiz 2002 Mitglied der UNO wurde, stimmt sie ebenfalls regelmässig gegen die Blockade ab. Zudem sollen 57 Prozent der US-Bürger für die Aufhebung sein und nur 29 Prozent dagegen («The Guardian», 03. 02. 2022).

Kanada und die EU haben in einer gemeinsamen Erklärung festgehalten, dass die extraterritoriale Anwendung der unilateralen US-Sanktionen von Act III durch die USA internationalem Recht widersprechen. Die EU hat im Februar 2022 durch ihre Kommissarin für Finanzdienstleistungen Mairead McGuinness die vollständige Aktivierung der Helms-Burton Act «bedauert» und als Verstoss gegen internationales Recht bezeichnet. Die Aktivierung von Titel III des Helms-Burton-Gesetzes stelle auch einen Bruch der von Washington in den Abkommen zwischen der EU und den USA von 1997 und 1998 eingegangenen Verpflichtungen dar.

Zur Erinnerung, Kuba hat noch nie gegen ein anderes Land Krieg geführt oder sonst eine militärische Aggression verübt. Und dennoch wird das Land mit denselben drastischen Sanktionen belegt wie Russland derzeit im Ukraine-Konflikt. Und dies seit 60 Jahren.

Für die Schweizer Banken ist das offenbar belanglos. Sie konzentrieren sich lieber auf die Behinderung von legalen Geschäften wie etwa den innerschweizerischen Zahlungsverkehr.

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Grafikquellen        :

Oben      —     In der Nähe des Piers.

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 Unten     —     Raúl Castro und Barack Obama, März 2016

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Neue Grüne Handelspolitik

Erstellt von Redaktion am 10. August 2022

Das Ende der globalen Solidarität?

von Sven Hilbig

Anfang Juni konnte die re:publica, die alljährliche Konferenz zu Netzkultur und -politik in Berlin, mit hohem Besuch aufwarten: Erstmals sprach ein Bundeskanzler auf der Konferenz. Und nur wenige Stunden vor Olaf Scholz‘ Auftritt hielt auf gleicher Bühne der Minister für Digitales, Volker Wissing, seine erste programmatische Rede zur Digitalpolitik. Beide betonten die Freiheit im Netz, die es zu schützen gelte, sowie die zunehmende Gefahr des Missbrauchs durch China, Russland und andere autoritäre Staaten. Auch auf der re:publica war die „Zeitenwende“ also allgegenwärtig.

Programmatisch überraschend war das dennoch nicht: Bereits zu Jahresbeginn hatte die Bundesregierung ihr Programm zur deutschen G 7-Präsidentschaft vorgestellt. Dieses betont die Bedeutung demokratischer Prinzipien und universeller Menschenrechte im digitalen Raum. Ziel der Ampelkoalition sei es, sich bei der Festlegung von Standards und Normen stärker im Rahmen der G 7 zu koordinieren und eine globale digitale Ordnung zu entwickeln.

Doch wer den Anspruch erhebt, eine globale Ordnung für die digitale Sphäre zu entwickeln, sollte jenseits der Belange der G 7 auch die Probleme adressieren, die für die Mehrheit der Weltbevölkerung besonders relevant sind: die digitale Kluft, die Macht der Oligopole sowie die umfassende Ausspähung ihrer Kund*innen (Data-Mining).

3,6 Milliarden Menschen verfügen über keinen Internetanschluss, von denen die meisten in Entwicklungs- und Schwellenländern leben. Zugleich hat die Konzentration von Daten, Macht und Profit bei wenigen Digitalkonzernen – zuletzt aufgrund des pandemiebedingten Digitalisierungsschubs – immer weiter zugenommen. Über die Hälfte der Marktanteile der Plattform-Ökonomie entfallen auf die Big Five des Silicon Valley: Google (Alphabet), Amazon, Facebook (Meta Platforms), Apple und Microsoft. Unternehmen aus Afrika und Lateinamerika kommen zusammen auf weniger als zwei Prozent. Gleichzeitig leidet weltweit keine Region so stark unter Data-Mining, fehlendem Rechtsschutz und digitaler Ausbeutung wie der Globale Süden. Nur knapp die Hälfte der afrikanischen Staaten verfügt über ein Datenschutzgesetz. Beim Verbraucherschutz und der Cybersicherheit bestehen ebenfalls erhebliche rechtliche Defizite[1] – ganz zu schweigen von wettbewerbsrechtlichen Regeln zur Verbesserung der wirtschaftlichen Teilhabe an der Daten-Ökonomie.

Wenn der Bundeskanzler in seiner Rede auf der re:publica also fordert, Europa müsse bei der Digitalisierung souveräner und damit unabhängiger vom Silicon Valley werden, dann blieb dabei offen, was dies für den Globalen Süden bedeutet: Haben nicht auch die Menschen in Indien, Uganda und Ecuador ein Anrecht auf digitale Souveränität? Und entscheiden nun sieben Regierungen darüber, welche Standards und Normen als Grundlage einer globalen Ordnung dienen? Doch damit nicht genug. Denn Scholz‘ Top-down-Ansatz bei der Digitalsierung steht geradezu exemplarisch für die grundsätzlichen handelspolitischen Ziele der Ampelkoalition, die globale Solidarität weitgehend vermissen lassen.

»Europa First« – auch in der Handelspolitik

Nur wenige Wochen vor der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO), die vom 12. bis 17. Juni 2022 in Genf stattfand, präsentierten Wirtschaftsminister Robert Habeck und die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katharina Dröge, in der „tageszeitung“ ihre Vorstellungen über die Neugestaltung der europäischen Handelsagenda. Profit soll demnach nicht länger der bestimmende Faktor dafür sein, welche Waren von A nach B transportiert werden. Stattdessen sollen künftig Nachhaltigkeit und Fairness die Fahrtrichtung vorgeben. Europa müsse aus den strukturellen Fehlern der Vergangenheit lernen, so die Forderung, und sich bei Handelsabkommen für mehr Transparenz und die Partizipation der europäischen Zivilgesellschaft und des Europaparlaments sowie für eine grundlegende Reform des Investitionsschutzsystems (ISDS) einsetzen.

Die kurz darauf veröffentlichte „Handelsagenda der Ampelkoalition“ deckt sich weitgehend mit den Vorstellungen der Grünen. Damit ist ihre Kritik am Freihandel erfreulicherweise zur offiziellen Politik der Bundesregierung geronnen. Doch die Vorschläge der Grünen bereiten zugleich einiges Unbehagen. Denn interessant ist nicht nur, was gesagt wird, sondern auch, was nicht gesagt wird – mit anderen Worten: welche Interessen adressiert werden und welche nicht.

Denn während in der vorgestellten Handelsagenda viel von Deutschland und Europa die Rede ist, finden die Anliegen der Gesellschaften des Globalen Südens abermals keine Beachtung; Entwicklungsländer werden nur zweimal erwähnt. Aber globale Handelsregeln, die deren Interessen nicht respektieren, können nicht fair sein. Kurzum: Das Papier passt gut in den gegenwärtigen Zeitgeist: „Europa First!“

Wir wollen unsere Atompilze wiederhaben ! Welche politische Aussagen wurden von der Politik nicht gebrochen ?

Ebendiese Form der EU-Handelspolitik steht seit langem in der Kritik. Bemängelt werden sowohl das Agieren der EU bei WTO-Verhandlungen als auch die Ausgestaltung der bilateralen Abkommen. Gerade diese Abkommen führen dazu, dass in Afrika, Südamerika und Südostasien regelmäßig einheimische Produzent*innen, vom kleinbäuerlichen Familienbetrieb bis zum mittelständischen Unternehmen, verdrängt werden. Die Folgen sind der Verlust von Arbeitsplätzen und damit Armut und Hunger.

Die WTO erlaubt der EU auch weiterhin, mit Milliarden Euro ihre Landwirtschaft zu subventionieren. Zugleich wird Indien nur in Ausnahmefällen das Recht eingeräumt, von Bäuer*innen Weizen aufzukaufen, um ihn in Armutsprogrammen zu verteilen. Die asymmetrischen Machtpositionen erlauben es der EU somit, Verträge zum Nachteil der Ökonomien der Entwicklungsländer durchzusetzen. In einem multilateralen Handelssystem, in dem Entscheidungen einstimmig fallen müssen, könnten die Entwicklungsländer ihre Interessen hingegen weitaus besser vertreten, da sie eine gemeinsame Verhandlungsmacht aufbauen könnten.

Tatsächlich fordert Wirtschaftsminister Habeck von der EU ein noch „mutigeres“, zur Not auch unilaterales Voranschreiten in der Handelspolitik, vorzugsweise im transatlantischen Bündnis. Dieser Ansatz ist nicht neu. Bereits die am Ende gescheiterten Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) sollten den USA und der EU als Blaupause für die Handelspolitik des 21. Jahrhunderts dienen. Originär an Habecks Vorschlag ist lediglich, dass sich die Grünen ihn zu eigen machen. Der Versuch, außerhalb der WTO globale Standards zu setzen, hat dabei eine geopolitische Stoßrichtung: gegen China.

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Oben      —     Wahlkampfhöhepunkt Düsseldorf, 2021.09.24

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Vom Soll und Haben

Erstellt von Redaktion am 10. August 2022

Wachstum dank tieferer Steuern – ein untaugliches Rezept

HP-15C mit numerischer Integration, Nullstellen- und Matrizenberechnung

Quelle      :        INFOsperber CH.

Daniela Gschweng /   

Wirtschaftslobbys behaupten, weniger Steuern für Unternehmen bringe Wachstum. Eine neue Meta-Studie widerlegt dies erneut.

Unternehmen, die weniger Steuern zahlen müssen, investierten entsprechend mehr. Das wiederum kurble das Wirtschaftswachstum an, was dann Arbeitsplätze schaffe. Das wird zumindest immer wieder behauptet, auch jetzt wieder im britischen Duell um die Führung der Konservativen Partei.

Zwei Forscher haben dazu Daten aus bisherigen Studien verglichen und kommen zu dem Schluss, dass Steuersenkungen das Wachstum nicht fördern, oder höchstens geringfügig.

«Nach dem ungewichteten Durchschnitt aller Schätzungen in unserem Datensatz würde eine Senkung des Körperschaftssteuersatzes um 10 Prozentpunkte die jährlichen BIP-Wachstumsraten um etwa 0,2 Prozentpunkte erhöhen», schreiben sie.

Ausnahmen nur in Einzelfällen

Ganz neu ist das nicht, die in der Fachzeitschrift «European Economic Review» veröffentlichte Arbeit sei jedoch der erste umfassende Überblick über die bestehende Literatur, schreiben die Ökonomen Sebastian Gechert und  Philipp Heimberger. Für die Metastudie werteten sie 441 Schätzungen aus 42 Arbeiten aus, die das Bruttoinlandsprodukt BIP mit der Steuer verglichen.

Gechert Heimberger Wachstum vs Steuer
Gleitender 5-Jahres-Durchschnitt der gesetzlichen Körperschaftssteuersätze von 176 Ländern und der realen BIP-Wachstumsraten 1982 bis 2019. © Gechert, Heimberger, Taxfoundation, Weltbank

Grundsätzlich seien die Unternehmenssteuern in den letzten Jahrzehnten weltweit gesunken, während das BIP schwankte. Es sei nicht in jedem Fall so, dass Steuersenkungen mit gar keiner Veränderung des BIP in Verbindung gebracht werden. Die Varianz der Ergebnisse sei jedoch gross, es könne im Einzelfall sein, dass Steuersenkungen das Wachstum ankurbeln oder sogar bremsen.

Dieses Bild spiegle den Stand der aktuellen Literatur, in der sowohl positive, negative wie auch neutrale Auswirkungen von Steuersenkungen auf das Wachstum diskutiert würden. Verwiesen würde dabei auch auf andere Faktoren wie Wettbewerb, Arbeitskräfteangebot, Forschung oder die Zusammensetzung des Staatshaushalts. Was dafür spricht, dass es keinen eindeutigen Bezug zwischen Unternehmenssteuern und Wirtschaftswachstum gibt.

Präzision und Datenquelle beeinflussen das Ergebnis

Auch die Art der verwendeten Daten unterzogen die Autoren einer kritischen Betrachtung. Studien, die mit effektiven Durchschnittssteuersätzen rechneten, fänden häufiger wachstumsfördernde Auswirkungen von tieferen Unternehmenssteuern.

Im Vergleich zum Rest der Literatur, die effektive Grenzsteuersätze, Körperschaftssteueranteile am BIP oder gesetzliche Steuersätze verwendet, seien sie eher Ausreisser und das Ergebnis sei nicht so robust. Je kürzer der betrachtete Zeitraum sei, desto kleiner sei zudem die beobachtete Wirkung auf das Wachstum.

Wenn Hausmeister Grün sehen und Rot rechnen – reist immer der Lobbyist!

Publiziert wird eher, was einen Wachstumseffekt feststellt

Dazu fanden sie Hinweise, dass Studien, die Steuersenkungen wachstumsfördernde Auswirkungen attestierten, öfter veröffentlicht wurden. Demnach sei es etwa 2,7 bis 3-mal wahrscheinlicher, eine Arbeit zu veröffentlichen, die eine positive Auswirkung von Unternehmenssteuersenkungen auf das Wachstum zeigt, als ein signifikant negatives Ergebnis.

Ein solcher «Publication Selection Bias» kann verschiedene Gründe haben. Generell bevorzugen Publikationen und auch Autoren und Autorinnen beispielsweise Resultate, die eine hohe statistische Signifikanz aufweisen. Oder solche, die mit früheren Arbeiten oder theoretischen Modellen übereinstimmen – also dem, was sie erwarten.

Ziehe man dieses Über-Reporting ab, bleibe kaum ein positiver Effekt übrig, oder, in den Worten der Autoren: «Nach Korrektur dieser Verzerrung können wir die Hypothese nicht zurückweisen, dass der Effekt von Unternehmenssteuern auf das Wachstum gleich Null ist.»

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Oben      —   HP-15C mit numerischer Integration, Nullstellen- und Matrizenberechnung

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Unten     —       Christian Lindner, Politiker (FDP), auf einer Wahlkampfveranstaltung. Titel des Werks: Christian Lindner (FDP), 2021

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Braun bis ins Mark

Erstellt von Redaktion am 7. August 2022

Braune Erben in Deutschland

Datei:Bundesarchiv Bild 102-02306A, Berlin, Hitler und Goebbels am Grab Horst Wessels.jpg

Von Julia Hubernagel

Wie in der Nazizeit reich gewordene Unternehmerdynastien bis heute Deutschlands Politik und Wirtschaft beeinflussen, erzählt David de Jong in „Braunes Erbe“ anschaulich nach. Die Industriellen sind mit schwerwiegenden Kriegsverbrechen reihenweise ungestraft davongekommen.

Zukunft braucht Herkunft.“ Diesen Satz ließ 2019 die Ferry-Porsche-Stiftung verlauten, als sie ihren Willen bekundete, Deutschlands erste Professur für Unternehmensgeschichte zu finanzieren. Dabei klingt aber noch eine andere Botschaft mit: Ohne Herkunft besteht in Deutschland nur bedingt Hoffnung auf wirtschaftlichen Erfolg.

Dass diese Herkunft meist in der dicken braunen Erde der NS-Zeit wurzelt, lässt sich noch heute an der Rangliste der reichsten Deutschen ablesen. Jenen Unternehmerdynastien, die besonders von der nationalsozialistischen Herrschaft profitiert haben, hat David de Jong in seinem Buch „Braunes Erbe“ nachgespürt. Nur einige der Industriemagnaten waren dabei glühende Nationalsozialisten, befindet der niederländische Journalist. Die meisten waren einfach kühl kalkulierende, skrupellose Opportunisten.

Während Anton Piëch so etwa aus Überzeugung gleich zweimal in die NSDAP, zuerst in die österreichische Schwesterpartei, und die SS eintrat, hatten er und sein Schwiegervater Ferdinand Porsche kein Problem damit, ihr Automobilkonstruktionsbüro 1931 zusammen mit dem jüdischen Kaufmann Adolf Rosen­berger zu gründen. Sieben Jahre später konnten sie ihn als „Nichtarier“ allerdings günstig loswerden, um mit der Produktion des „Volkswagens“ ihren Milliardenreichtum zu begründen.

Der Großindustrielle Günther Quandt, dessen Nachfahren heute BMW kontrollieren, war kein National­­sozialist der ersten Stunde. Persönlich war er mit den Nazis jedoch enger verbunden als jeder andere Unternehmer, war seine Ex-Frau doch die First Lady des Dritten Reichs, Magda Goebbels. Die wiederum, auch das ein interessantes Detail, ließ sich von niemand anderem als Prinz August Wilhelm davon überzeugen, in die NSDAP einzutreten. Der Kaisersohn ist im Jahr 2022 wieder Gegenstand eines Gerichtsprozesses: Geklärt werden soll, ob der Hohenzollern-Clan dem Aufstieg der Nationalsozialisten „erheblichen Vorschub“ geleistet hat. Wie in „Braunes Erbe“ die Kennenlerngeschichte der beiden Goebbels, belegt durch Tagebuchpassagen des Propagandaministers, nacherzählt wird, sorgt für erheblichen Unterhaltungswert im Buch.

Dem Autor merkt man ein wohliges Grausen an, das er beim Wühlen im braunen Klatsch empfunden haben muss: So bringen Magda und Joseph Goebbels ihre Eheprobleme stets vor ihren Mediator Adolf Hitler, der, zwar eigentlich in Magda verliebt, die Ehe zur Staatsangelegenheit erklärt und eine Scheidung untersagt. Magdas Sohn aus erster Ehe, Harald Quandt, lieben Goebbels wie Hitler „abgöttisch“, ist er mit seinen blonden Haaren und blauen Augen doch dem arischen Erscheinungsbild so nahe, wie die beiden Männer davon entfernt sind. Sein Bruder Herbert Quandt sollte mit dem Geld des Vaters nach dem Krieg BMW retten und seine Kinder Susanne Klatten und Stefan Quandt zum reichsten Geschwisterpaar Deutschlands machen.

Günther Quandts Reichtum lag in Textilfirmen, in der Waffen- und Batterieproduktion begründet. In seinen Fabriken schufteten Zwangsarbeiter:innen, zudem konnte er sich einige seiner Firmen nur sichern, weil sie unter jüdischer Aufsicht standen und so günstig zur Arisierung, sprich Enteignung, angeboten wurden.

Einer, der sich ebenfalls auf Enteignungen verstand, war August Baron von Finck. Seine Merck Finck & Co, die heute noch unter selbem Namen operiert, stieg während der NS-Zeit zur erfolgreichsten Privatbank auf, auch wegen der Arisierung der Bank J. Dreyfus sowie der S. M. v. Rothschild, die er für knapp 6 Millionen Reichsmark „übernahm“, wie es heute auf der Wikipedia-Seite der „Merck Finck“ verharmlosend heißt. Der eigentliche Wert lag bei 48 Millionen Reichsmark und selbst den vergleichsweise kleinen Betrag zahlte von Finck, indem er die Privatkonten der Rothschilds plünderte. Das verdiente Geld legte der Von-Finck-Clan auch nach dem Krieg wohlüberlegt an, wie de Jong nachweist: Sohn August von Finck junior, dessen Ehefrau 2022 auf der Forbes-Liste den 14. Platz belegt, spendete zeitlebens Geld an rechtsextreme Politiker, auch wird stark vermutet, dass er die AfD in ihrer Gründungsphase unterstützt hat.

Dass einer der umtriebigsten NS-Unternehmer seinen Reichtum nie verlor, verwundert nicht, wurde er im Rahmen seines Entnazifizierungsprozesses doch lediglich als Mitläufer klassifiziert. Zudem habe er sich in der Rothschild-Angelegenheit „so vorbildlich verhalten, dass jedes Wort darüber zu viel wäre“. Womöglich spielte die Erpressung des homosexuellen Richters bei dem Urteil eine Rolle.

Doch zu Erpressungen mussten die meisten angeklagten Industriellen nicht mal greifen. Mit Beginn des Kalten Kriegs ging es den Alliierten, allen voran den USA, weniger darum, Nazis ins Gefängnis zu bringen, als eine kapitalistische Gesellschaft als Bollwerk gegen den Kommunismus aufzubauen. Zudem übergaben sie NS-Verbrecher und NS-Sympathisantinnen nach den Nürnberger Prozessen vermehrt an westdeutsche Gerichte und Richter, die verständlicherweise nicht alle daran interessiert waren, ihre Gesinnungsgenossen wegzusperren.

Vergleichsweise hart bestraft wurde lediglich Friedrich Flick. Als Kriegsverbrecher zu sieben Jahren Haft verurteilt, kam der Stahl- und Rüstungsmagnat schon 1950 frühzeitig wegen guter Führung frei. Sein Flick-Konzern sorgte in den 80er-Jahren für den bis dato größten Politskandal um Spendengelder an konservative Politiker. Verurteilt worden war er 1947 unter anderem wegen der unmenschlichen Bedingungen, unter denen seine Zwangs­ar­bei­te­r:in­nen arbeiteten. Seine Lager, fand de Jong heraus, gehörten zu den schlimmsten.

Schwedische Nazi-Rechte garantiert

In der Aufarbeitungsarbeit der Bundesrepublik nahmen die NS-Zwangsarbeiter lange Zeit wenig Raum ein. 2013 eröffnete in dem deutschlandweit einzigen Doku­mentations­zentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin die erste Ausstellung. Dessen Leiterin, Christine Glauning, sagte einmal dem Deutschlandfunk, es habe im Reichsgebiet etwa 30.000 Zwangsarbeiterlager gegeben. Für Aufruhr sorgte 2019 die Kekserbin Verena Bahlsen, die öffentlich und medial maximal ungeschickt erklärte, „wir“ hätten „die Zwangsarbeiter genauso bezahlt wie die Deutschen und sie gut behandelt“.

Nun ist es wohl unrealistisch, von Firmenchefs zu erwarten, Zwangs­ar­bei­te­r:in­nen abzulehnen und eine Pleite wegen fehlender Arbeitskräfte zu riskieren, wenn ihnen der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung noch nicht Grund genug gewesen war, die Stimme zu erheben. Gerade Rüstungsfirmen dürften daran wenig Interesse gehabt haben. Doch gab es erhebliche Unterschiede in der Behandlung der Zwangsarbeiter:innen; ein oder zwei Stücke Brot aus Sägemehl täglich konnten bei den unterernährten Ar­beits­skla­v:in­nen ebenso einen Unterschied machen wie der Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung.

Quelle      :          TAZ-online       >>>>>        weiterlesen

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Oben     —        Berlin, Hitler und Goebbels am Grab Horst Wessels   (Wikidata-Suche (Cirrus-Suche) Wikidata-Abfrage (SPARQL)  Erstellen Sie ein neues Wikidata-Item basierend auf dieser Datei)

Namensnennung: Bundesarchiv, Bild 102-02306A / CC-BY-SA 3.0
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Unten        —        Schwedische Nazi-Rechte garantiert

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KOLUMNE * ERNSTHAFT ?

Erstellt von Redaktion am 7. August 2022

Eine Schulddebatte? Bitte schön

Von Ulrike Winkelmann

Wir hatten diese Woche kein Warmwasser. Grund war ein spät entdeckter Rohrbruch, durch den die Gastherme kaputtging. Ärgerlich – aber nun denn, auch ein kleiner Testlauf für den Winter, dachte ich. Wie man sich halt die Dinge immer so schön- beziehungsweise warm redet.

Oder, um den damaligen Chef des Energieunternehmens Wintershall, Rainer Seele, zu zitieren: „Wir produzieren gemeinsam, wir investieren gemeinsam, und wir lernen gemeinsam.“ Er sprach von Gazprom, und zwar 2014, als Russland gerade die Krim besetzte. Die EU überlegte, welche Sanktionen sie gegen Russland verhängen würde, was Seele verhindern wollte. Denn bei der BASF-Tochter Wintershall war man just dabei, seine Öl- und Gasgeschäfte noch enger mit Gazprom zu verschränken.

Der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hatte Verständnis und fand auch, dass Gas und Öl bei den Sanktionen keine Rolle spielen sollten. Wenig später unterschrieb Gabriel eine staatliche Milliardenbürgschaft, damit Wintershall den mittlerweile berühmt gewordenen Gasspeicher in Rehden, den größten Europas, mit Gazprom gegen Gasfelder in Sibirien tauschen konnte.

So hat es vor wenigen Tagen das Fernsehmagazin „Monitor“ noch einmal wunderbar herausgearbeitet, samt Bild von Gabriels handschriftlichem Vermerk „Ich unterstütze den Antrag“. Aktuell verdient Wintershall – das heute als Wintershall Dea immer noch zu rund drei Vierteln BASF gehört, den Rest hat ein russischer Oligarch – sehr gut mit westsibirischem Gas. Denn, Sie erinnern sich, Gas wird derzeit ausgesprochen teuer verkauft.

Wenn Sie all dies längst wissen, entschuldigen Sie bitte. Mir erschien es zuletzt so, als sprächen wir zu wenig darüber, wie und von wem wir in diese ganze krasse Lage gebracht wurden.

Ulrike Winkelmann - Zukunft des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks (34715387826).jpg

Es reicht halt nicht zu sagen: „Klar ging es da um wirtschaftliche Interessen, ist doch immer so, aber wir haben ja alle profitiert“ – und dann twittern alle weiter ganz aufgeregt über irgendeine unwichtige Einlassung von Sahra Wagenknecht. Es haben eben nicht alle profitiert. Es geht immer um kurzfristige und langfristige Gewinne – oder eben auch Verluste, und siehe da, Stand heute ist beides wieder einmal höchst ungleich verteilt. Außerdem sind Schuldfragen in der Wirtschaftspolitik wichtig. Alles aufs „System“ zu schieben, hilft niemandem außer den AktionärInnen von BASF.

Ich halte es für spektakulär, dass BASF-Chef Martin Brudermüller es wagt, sich seit Kriegsbeginn in Gasdingen als Schutzpatron der deutschen Volkswirtschaft aufzuspielen, nachdem BASF und Wintershall erkennbar die Treiber hinter dem Wahnsinnskonzept waren, die deutsche Energieversorgung von Wladimir Putin abhängig zu machen.

Quelle        :      TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Protest mit einer versuchten Blockade und anschließenden Demonstration im Rahmen der Aktion WintershallMustFall gegen den Gaskonzern Wintershall Dea vor dessen Büro in Berlin am 11. Dezember 2020.

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Energie aus Marokko ?

Erstellt von Redaktion am 5. August 2022

Grün muss souverän sein

Français : Mohammed VI avec George W. Bush. Englisch: Mohammed VI zusammen mit George W. Bush.

Waren nicht die Könige und Kaiser dieser Erde Hauptverantwortlich am Sklaventum, und derer Haltung beteiligt? 

Von Jonas Junack

Marokko verspricht sich vom Export klimaneutraler Energieträger nach Europa Wohlstand. Dabei darf das Land nicht zur Energiekolonie werden.

Die Ära des Kolonialismus ist vorbei!“, rief der marokkanische König Mohammed VI. in seiner Eröffnungsrede der UN-Klimakonferenz 2016 in Marrakesch. Hintergrund der königlichen Euphorie waren die sogenannten Freiheitsenergien, wie Christian Lindner klimaneutrale Energiequellen Jahre später taufen sollte. Der marokkanische König nahm den Begriff schon damals wörtlich. Basis der neuen Unabhängigkeit Marokkos sollte seine Rolle als Top-Exporteur von erneuerbaren Energien werden. Vor allem für Europa.

Schon früh hatten der Monarch und seine Berater erkannt, dass der Wüstenstaat mit seinen hohen Windstärken und den zahlreichen Sonnenstunden ideale Voraussetzungen zur regenerativen Energiegewinnung bietet. Bereits 2009 hatten sie mit der nationalen Energiestrategie die Ära der Erneuerbaren eingeläutet. Mit Blick auf den Meereszugang, die Nähe zum europäischen Kontinent und Löhne in den relevanten Bereichen Transport, Dienstleistungen und Baugewerbe zwischen 360 und 570 Euro im Monat wird klar, weshalb heute auch Deutschland und die EU im Maghrebstaat einen günstigen Energieproduzenten erkennen.

Im Jahr 2020 gipfelte schließlich die Vorfreude des marokkanischen Königs auf eine Zukunft als grüne Energiemacht. Die Bundesregierung und das marokkanische Königshaus beschlossen die „deutsch-marokkanische Kooperation zur Produktion von grünem Wasserstoff“. Bis zu 2 Milliarden Euro will Deutschland im Zuge seiner nationalen Wasserstoffstrategie investieren, um im Gegenzug große Mengen grünen Wasserstoffs aus seinen Partnerstaaten zu importieren. Dieser stellt als Speichermedium und Energieträger ein wichtiges Standbein der EU-Klimaneutralitätsziele für das Jahr 2050 dar. In der Herstellung werden jedoch große Mengen an Solar- oder Windenergie und Wasser benötigt. Zwar wackelte die Energiekooperation der beiden Staaten bereits, weil sich die Bundesregierung kritisch zur marokkanischen Besetzung der Westsahara positionierte, doch die deutschen Bedenken scheinen im Zuge der Energiekrise in den Hintergrund gerückt zu sein.

Es hat etwas Zynisches, dass Sonne und Wind, also eben jene Kräfte, die Marokko als Produktionsstandort für Europas Erneuerbare attraktiv machen, am Rande der Sahara immer häufiger für Wassermangel und Dürreperioden sorgen. Franziska Fabritius von dem Ableger der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rabat verweist darauf, dass schon heute Marokkaner nunmehr unbewohnbare Landstriche verlassen müssen. Damit trotz des Trinkwassermangels genug Süßwasser für die Wasserstoffproduktion zur Verfügung steht, entstehen nun Entsalzungsanlagen entlang der Mittelmeerküste. Das Fraunhofer Institut kritisiert jedoch, dass diese „neben einem hohen Energieaufwand und CO2-Emissionen auch große Mengen an Rückständen“ entstehen lassen.

Auch die Sozialwissenschaftlerin Simone Claar hat Bedenken. An der Universität Kassel forscht sie zu der Frage, wie die „klimapolitische Kluft zwischen Nord- und Südakteuren überwunden werden kann“. Sie treibt die Sorge um, dass Marokko zu einer Energiekolonie Europas wird. Wie Bauke Baumann, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Rabat, erklärt, kritisieren auch marokkanische Zivilorganisationen die staatliche Energiepolitik, weil Megakraftwerke ohne Einbeziehung der lokalen Bevölkerung geplant würden, vor Ort kaum Jobs schafften und große Flächen Land unbenutzbar machten.

Die Befürchtung, dass ein Transfer von Wissen und Technologie ausbleibt und sich die Abhängigkeit Marokkos von den Industrienationen des Globalen Nordens nicht etwa verringert, sondern gar wächst, ist nicht aus der Luft gegriffen. Obwohl das marokkanische Energieministerium als Betreiber immer noch nahezu Monopolist am marokkanischen Energiemarkt ist, stammen Infrastruktur und Technologie fast ausschließlich aus dem Ausland. So zeigt eine Zielmarktanalyse der Deutschen Industrie- und Handelskammer aus dem Jahr 2018, dass acht von zwölf marokkanischen Windparks mit Technik von deutschen Unternehmen wie Enercon, Siemens und seinen Tochterfirmen betrieben werden. Kein einziger von einem marokkanischen Unternehmen.

Quelle          :            TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben     —   Mohammed VI. avec George W. Bush.Englisch: Mohammed VI. zusammen mit George W. Bush.

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Die USA als Weltkriegsrisiko

Erstellt von Redaktion am 3. August 2022

«Die Taiwan-Politik der USA erhöht das Risiko eines Weltkriegs»

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von     :      Urs P. Gasche  /   Nancy Pelosis Besuch in Taiwan hat die weltpolitischen Spannungen verschärft. Politologie-Professor Peter Beinart warnt davor.

Die USA machten bisher im Stillen Schritte, die Beziehungen zu Taiwan zu «normalisieren». Nun ist es mit der Reise von Nancy Pelosi, der Vorsitzenden des US-Repräsentantenhauses, zum Inselstaat zu einem öffentlichen Eclat gekommen. Bereits im letzten Sommer löschten die Demokraten die Bezeichnung «Ein-China» von ihrer Plattform, im Januar war ein Vertreter Taiwans zum ersten Mal zu einer Inauguration eines US-Präsidenten eingeladen. Im April kündigte die Administration von Joe Biden an, die jahrzehntealten Beschränkungen der Kontakte zwischen der US-Administration und der taiwanesischen Regierung zu lockern.

«Diese Politik erhöht das Risiko eines katastrophalen Krieges», sagt Peter Beinart, Professor der politischen Wissenschaften von der City University in New York. In der «New York Times» forderte er jüngst Biden auf, Taiwan weiterhin militärisch zu unterstützen, jedoch an der jahrzehntelangen «Ein-China-Doktrin» festzuhalten. Diese «Fiktion» habe sich bewährt und den beiden Grossmächten USA und China erlaubt, ihr Gesicht zu wahren. Die «Ein-China-Politik» trage in einer der gefährlichsten Regionen der Welt seit Jahrzehnten dazu bei, Frieden zu bewahren.

Die Ein-China-Fiktion

Die Ein-China-Politik, eine Prämisse und Fiktion, die im Kalten Krieg entstanden ist, geht davon aus, dass es nur ein China gibt. Alle Staaten, die mit der Volksrepublik China diplomatische Beziehungen aufnehmen möchten, müssen dies anerkennen und dürfen deshalb nicht gleichzeitig mit Taiwan diplomatische Beziehungen aufnehmen.

Diese Politik ist deshalb Fiktion, weil es sehr wohl noch die Republik China gibt. Sie umfasst Taiwan und einige Inseln. Doch diese unabhängige Republik wird nur von ganz wenigen Ländern auf der Welt anerkannt. «Indem die USA ihre Beziehungen zu Taiwan nicht offiziell gestalten, kann China daran festhalten, dass eine friedliche Wiedervereinigung möglich ist. Und es gibt China einen Grund, nicht militärisch zu intervenieren», sagt Beinart.

China hat auf Pelosis Besuch mit Manövern im Umkreis von Taiwan reagiert. Eine militärische Intervention ist laut Beinart mehr als eine theoretische Möglichkeit, denn in China besagt seit 2005 ein Gesetz, dass eine Unabhängigkeitserklärung von Taiwan ein Kriegsgrund wäre. Offiziell sagen die USA nicht, wie sie im Fall eines Einmarsches der Volksrepublik in Taiwan reagieren würden. Es gibt Rufe nach formelleren Zusicherungen.

Genau das kritisiert Beinart. Seine Kernaussage: 

«Unabhängig davon, ob die USA offiziell versprechen, Taiwan zu verteidigen: Es ist äusserst leichtsinnig zu glauben, dass die USA Beijing provozieren können, indem sie die Ein-China-Politik rückgängig machen und gleichzeitig drohen, ein Eingreifen Chinas militärisch zu verhindern.»

Peter Beinart in der New York Times

Leichtsinniges Abweichen von der Ein-China-Politik

Leichtsinnig wäre das Abweichen von der «Ein-China-Politik» deshalb, weil jede glaubwürde Abschreckung sowohl der Macht wie des Willens bedarf. Und bei beiden gebe es Fragezeichen.

  • Das chinesische Festland ist 180 Kilometer von Taiwan entfernt, während Honolulu 8000 Kilomenter entfernt ist. US-Flugzeugträger sind vom nahen Festland aus relativ leicht angreifbar.
  • Während die Volksrepublik im Rahmen der sino-amerikanischen Beziehungen Taiwan klar als Problem Nummer eins betrachtet, mag das Washingtoner Establishment zwar einen Kriegseintritt der USA an der Seite Taiwans befürworten, im Land selbst ist aber eine weitverbreitete Skepsis zu spüren.

An der Ein-China-Politik festhalten bedeute nicht, Taiwan fallenzulassen. Das Land ist ein demokratisches Lehrbeispiel und die Beziehungen zum Westen allgemein und zu den USA im Besonderen sind eng. Doch als kleines Land im Schatten einer Supermacht verfüge Taiwan nur über einen geringen aussenpolitischen Spielraum. «Die USA würden Mexiko auch nie erlauben, eine Militärallianz mit Peking einzugehen», illustriert Beinart den Sachverhalt.

Der beste Weg, in Taiwan Frieden zu bewahren, ist, den Status quo nicht zu verändern. Wir hatten 73 Jahre Frieden, in dem beide Seiten gewisse Ambivalenzen zustimmten. Lassen wir diese Ambivalenzen in Ruhe!

Politologie-Professor Kishore Mahbubani, National University of Singapur. Ehemaliger singapurischer Botschafter in den USA und bei der Uno. Quelle: NZZ am Sonntag, 29.5.2022

Taiwan diente mit Hilfe der USA als Rückzugsort

Die «Ein-China-Politik» hat eine Geschichte. Im Jahr 1682 hatte die von den Mandschuren gegründete Qing-Dynastie die Insel Taiwan zum ersten Mal unter die Kontrolle des Festlandes gebracht. 1912 wurde in China eine Republik ausgerufen. Nachdem 1949 die Kommunisten unter der Führung von Mao Zedong nach der japanischen Besetzung China einigten und unter ihre Gewalt brachten, zog sich Chiang Kai-Shek mit seinen Anhängern und der Hilfe der USA nach Taiwan zurück.

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Seither stellte sich die Volksrepublik stets auf den Standpunkt, dass Taiwan als abtrünnige Provinz zu China gehöre, und versucht, die Ein-China-Politik international durchzusetzen.

Immer mehr Staaten – die Schweiz schon 1950 – brachen die offiziellen Beziehungen zu Taiwan ab und anerkannten die Volksrepublik. 1971 ging die chinesische UNO-Mitgliedschaft von der Republik China (Taiwan) an die Volksrepublik über. 1979 brachen die USA ihre diplomatischen Beziehungen mit Taiwan ab und nahmen offizielle Beziehungen zur Volksrepublik auf.

Doch in der Praxis wird der taiwanesische Pass allgemein anerkannt, Wirtschafts- und Kulturbüros von Taiwan arbeiten in aller Welt wie Botschaften und stellen die internationale Vernetzung sicher. Die militärische Zusammenarbeit mit den USA ist eng.

Die Ein-China-Politik ist somit eine Fiktion, ein diplomatisches «So-tun-als-ob». Aber diese Fiktion sei sehr wirkungsvoll, sagt Beinart. Sie habe Taiwan Frieden, individuelle Freiheit und Prosperität gebracht. China andererseits könne an der Vorstellung festhalten, dass Taiwan ein Teil Chinas sei. Würde der Westen Taiwan offiziell als unabhängiges Land anerkennen, wäre dies für Beijing ein Kriegsgrund.

Anmerkung: Das ist die aktualisierte Version eines Beitrags vom 3.7.22

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Mitarbeit: Daniel Funk

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Oben      —   Offizielles Foto von Simon Liu / Büro des Präsidenten Bild aus dem offiziellen Flickr-Stream des Präsidenten von Taiwan

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Junk-Food in Mexiko

Erstellt von Redaktion am 2. August 2022

Wie das SECO nach Nestlés Pfeife tanzte

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von       :      Public Eye

Gegen Warnhinweise auf Junk-Food in Mexiko. Mit schwarzen Stoppschildern auf ungesunden Lebensmitteln geht Mexiko gegen die grassierende Fettleibigkeit im Land vor.

Doch das Vorhaben stösst auf erbitterten Widerstand der Industriekonzerne und ihrer Sitzstaaten. An vorderster Front: Nestlé und die Schweiz. Dokumente und Mailwechsel belegen, wie willfährig sich das Staatssekretariat für Wirtschaft vom Nahrungsmittelgiganten aus Vevey einspannen liess, um gegen Mexikos Gesundheitspolitik zu agitieren. Gemäss exklusiven Marktdaten, die sich Public Eye beschafft hat, ging es um ein Geschäft von über einer Milliarde Franken. Unsere Recherche zeigt auch: Das Vorgehen der Schweiz gegenüber Mexiko ist kein Einzelfall.

Kaum ist das Wochenende vorbei, fängt der Stress schon wieder an. Offenbar enerviert schreibt am Morgen des 25. Novembers 2019, einem Montag, eine in Mexiko beim Schweizerischen Aussendepartement EDA angestellte Person eine Mail an jemandem beim Staatssekretariat für Wirtschaft, dem SECO. Im CC: sieben weitere Mitarbeitende der beiden Abteilungen. Sie sei vor «etwas über 15 Tagen» auf «dieses Problem der Lebensmittelkennzeichnung» aufmerksam gemacht worden, schreibt die Person. Man habe daraufhin vereinbart, dass der Konzern sich an die Schweiz-Mexikanische Handelskammer SwissCham Mexico wenden und «um Unterstützung der Schweiz und der Kammer» bitten würde. Denn schliesslich betreffe diese neue Regulierung nicht nur Nestlé, sondern etwa auch Lindt, Ricola oder Emmi. Nestlé habe es aber offensichtlich vorgezogen, «direkt zum SECO zu gehen, und das allein in eigener Sache». Und dann, in Fettschrift:

«Eine offizielle Intervention müsste daher meiner Meinung nach im Namen aller betroffenen Schweizer Unternehmen und in enger Zusammenarbeit mit der SwissCham, deren Mitglieder sie sind, erfolgen – und nicht allein für Nestlé.»

Dass der Konzern seine Interessen verteidige, sei klar, «aber Nestlé hat einen privilegierten Zugang zu den Behörden» und der Konzern habe es «nicht für angebracht gehalten, sein Insiderwissen (…) zu teilen. Ich bin mir nicht sicher, ob die anderen betroffenen Schweizer Unternehmen überhaupt wissen, welche Probleme sie mit den neuen Warnhinweisen erwarten.»

Fünf Stunden später: ein zweites Mail derselben Person an die gleiche Empfängerliste. Sie habe in der Zwischenzeit Kontakt gehabt zu einem Verantwortlichen bei Nestlé. Dieser habe ihr «die Ernsthaftigkeit des Problems und die Dringlichkeit einer Intervention bestätigt, weshalb sich Nestlé direkt ans SECO gewandt und um Unterstützung der offiziellen Schweiz gebeten hat». Man habe Nestlé nun darum gebeten, die SwissCham zu kontaktieren, damit diese ein «dringendes Treffen» einberufe, an dem der Konzern seine «Insiderinformationen» teilen solle, damit man eine «gemeinsame Strategie gegenüber den mexikanischen Behörden» erarbeiten könne – «zum Vorteil aller Schweizer Unternehmen».

Ein nationaler Notstand

Worum geht’s? Um einen «nationalen epidemiologischen Notstand». Diesen hatte die mexikanische Regierung im November 2016 ausgerufen – angesichts «des Ausmasses und der Tragweite der Fälle von Übergewicht und Adipositas». Die jüngsten Zahlen dazu stammen aus der nationalen Gesundheitsstudie von 2020. Sie sind erschreckend: Unter den fünf- bis elfjährigen Kindern sind 38 Prozent übergewichtig oder gar fettleibig. Und unter den Mexikaner*innen ab 20 Jahren sind 74 Prozent zu dick. Über ein Drittel der Erwachsenen ist fettleibig. Damit ist Mexiko innerhalb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) das «zweitschwerste» Land hinter den USA.

Die aus mexikanischen Akademiker*innen und Aktivist*innen bestehende «Allianz für gesunde Ernährung» sieht die Hauptursache der Übergewicht-Epidemie in einem «beschleunigten Verfall der Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung», der sich einerseits in einem Rückgang des Konsums von Früchten, Gemüse, Getreide und Hülsenfrüchten äussere und andererseits in einer «exponentiellen Zunahme» des Konsums von raffiniertem Mehl, Softdrinks und «allgemein von hoch verarbeiteten Lebensmitteln und Getränken». «Ultraverarbeitete Lebensmittel», in Englisch «ultra-processed foods», sind industriell hergestellte Produkte, die in der Regel kaum oder gar keine Vollwertkost enthalten: Sie bestehen hauptsächlich aus Substanzen, die aus Lebensmitteln extrahiert werden – Fette, Öle, Stärken, Zucker – und sind oft mit künstlichen Farb- und Aromastoffen oder Stabilisatoren versetzt.

Der Zusammenhang zwischen dem Konsum dieser Produkte und Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs ist hinlänglich belegt. 214 Kilogramm dieser «ultra-processed foods» wurden in Mexiko im Jahr 2013 pro Kopf verkauft. Weltweit lagen nur die USA, Kanada und Deutschland vor Mexiko.

Dr. Hugo López-Gatell, Epidemiologe und beim mexikanischen Gesundheitsministerium für Prävention und Gesundheitsförderung zuständig, sagte vor zwei Jahren an einer Pressekonferenz, im Jahr 2018 sei in Mexiko die Hälfte aller Todesfälle auf Erkrankungen zurückzuführen gewesen, die mit einer schlechten Ernährung zusammenhängen. Auf Anfrage von Public Eye bekräftigt er: «Die Hauptursache der Adipositas-Epidemie in Mexiko ist das Überangebot von ultraverarbeiteten Produkten. Sie machen mittlerweile den grössten Bestandteil der mexikanischen Ernährung aus.»

Fett machende Deregulierung

Als Anfang der unheilvollen Entwicklung hin zu einer immer ungesünderen Ernährung der mexikanischen Bevölkerung wird oft die Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA mit den USA und Kanada im Jahr 1994 genannt. Doch gemäss López-Gatell hatte in Mexiko bereits in den 1980ern eine «Transformation hin zum Neoliberalismus, zur Deregulierung und damit auch zu einer Schwächung des Gesundheitsschutzes» eingesetzt. Unter der Prämisse von «Entwicklung, Wohlstand und Wachstum» sei diese «bewusste Deregulierung» bis vor wenigen Jahren konsequent weitergetrieben worden.

2014 unternahm das Land erste Versuche, dieser Bedrohung für die öffentliche Gesundheit entgegenzutreten: Mexiko führte einerseits eine Zuckersteuer auf Süssgetränke ein, andererseits ein obligatorisches Kennzeichnungssystem für Fertigprodukte: Auf deren Verpackung waren fortan der Gehalt von Zucker, Salz, Kalorien und gesättigten Fetten aufgelistet – ergänzt durch eine Angabe, welcher Anteil einer empfohlenen Tageszufuhr damit gedeckt würde. Der Verband der Konsumgüterindustrie ConMexico, in dem Nestlé aktiv mitmischt, hatte jedoch dafür gesorgt, dass die Referenzwerte höchst industriefreundlich bestimmt wurden. Und das nationale Gesundheitsinstitut INSP kam in einer 2016 publizierten Studie zum Schluss, dass sowieso lediglich ein Fünftel der Bevölkerung die Hinweise überhaupt beachtete. Aufgrund der Resultate sprach sich das Institut dafür aus, dass alternative Labels in Betracht gezogen werden sollten, die «von einem breiten Bevölkerungskreis verstanden und genutzt würden».

Das Vorbild Chile

Das Vorbild fand sich gut 6000 Kilometer südöstlich. Chile hatte im Sommer 2012 ein Gesetzesvorhaben verabschiedet, das auf drei Pfeilern fusste. Erstens schwarze Warnhinweise in der Form eines Stoppschilds mit der Botschaft «Alto en…»: hoher Gehalt von Zucker, Salz, gesättigten Fetten und Kalorien. Zweitens ein Verbot, mit Warnhinweisen versehene Produkte in der Grundschule zu verkaufen. Und drittens Vorschriften, die verhindern sollen, dass für diese Produkte an Minderjährige gerichtete Werbung geschaltet wird.

In Anspielung an einen beliebten Schokoladeriegel von Nestlé wurde das Gesetz im Volksmund «Ley del Súper Ocho» getauft. Gemäss Nestlé werden in Chile jede Sekunde drei dieser «Super 8» verzehrt. Nun also sollten all diese ikonischen Riegel und überhaupt ein Grossteil des Nestlé-Sortiments mit schwarzen Warnhinwiesen versehen werden. Das erschien dem Konzern aus Vevey offenbar dermassen bedrohlich, dass er die offizielle Schweiz um Unterstützung bat. Konkret: Das SECO, das unter anderem die Aufgabe hat, die «Interessen des Wirtschaftsstandorts Schweiz im Ausland» zu vertreten.

Am 22. März 2013 versandte das SECO aus Bern einen Brief an die chilenischen Behörden. Er findet sich – wie die eingangs zitierten Mails – in Dokumenten, die die Sendung «Temps Présent» des Westschweizer Fernsehens RTS letztes Jahr gestützt auf das Öffentlichkeit erhalten hat – und daraufhin erstmals Licht auf das Nestlé-Lobbying gegenüber den Schweizer Behörden warf.

Die Krux mit dem Codex

Adressiert ist das Schreiben an die «TBT-Kontaktstelle» Chiles. «TBT» steht für «Technical Barriers to Trade», deutsch: technische Handelshemmnisse. Das 1995 mit der Gründung der Welthandelsorganisation WTO ins Leben gerufene TBT-Abkommen setzt Rahmenbedingungen, die verhindern sollen, «dass technische Vorschriften den Handel negativ und unverhältnismässig beeinträchtigen». In diesem Sinne bittet die Schweiz die chilenischen Behörden darum, aufzuzeigen, wie sie zum Schluss gekommen seien, «dass die vorgeschlagene Änderung zum Schutz der menschlichen Gesundheit notwendig ist». Zudem möchte die Schweiz wissen, «ob Chile weniger handelsbeschränkende Massnahmen in Betracht gezogen» habe.

Als zweites führt die Schweiz den Grundsatz ins Feld, dass für die Erarbeitung neuer Vorschriften auf bestehende internationale Standards abgestellt werden soll. Den Standard bildet in diesem Fall der «Codex Alimentarius»: eine Sammlung von Normen für Lebensmittelsicherheit und -qualität, herausgegeben von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO und der Weltgesundheitsorganisation WHO. Der Codex lege keine Höchstwerte für bestimmte Nährstoffe fest. Deshalb würde man gerne erfahren, was Chile «dazu motiviert hat, ein Etikett mit einer negativen Botschaft («Hoher Gehalt von…») zu wählen», und wie die vorgesehenen Bestimmungen mit den Codex-Leitlinien vereinbar seien.

Nun muss man wissen: Die Frage, ob der Codex Länder tatsächlich daran hindert, eigene Warnsysteme zu entwickeln, wurde auf internationalem Parkett eingehend behandelt. Die Pan American Health Organization PAHO, der Amerika-Ableger der WHO, kommt in einem 2020 veröffentlichten Bericht zum Schluss: keineswegs. Die Diskussion und Entwicklung jedes Codex-Textes basiere auf den Erfahrungen einzelner Länder. «Das heisst, der Codex erwartet von den Mitgliedsländern, dass sie aktiv werden.» Länder hätten das Recht, Massnahmen zu ergreifen, um «die öffentliche Gesundheit zu schützen und die Lebensmittel- und Ernährungssicherheit ihrer Bevölkerung zu gewährleisten» ­– und könnten dabei auch «über die Codex-Leitlinien hinausgehen».

Und selbst die Schweiz, die im Komitee des Codex’ vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV vertreten wird, stellte sich dort im Herbst 2021 auf den Standpunkt, es sollte den Ländern «auf der Grundlage ihres nationalen Kontextes und Erkenntnissen, was bei den Verbrauchern am besten ankommt, freistehen», sich für das eine oder andere Kennzeichnungssystem zu entscheiden.

Fruchtlose Einflussnahmen

Drei Monate nach dem Versenden des Briefes interveniert das SECO im Sommer 2013 erstmals auch an einem Treffen des TBT-Komitees. Dieses versammelt sich drei Mal jährlich in Genf, um «spezifische Handelsprobleme» zu besprechen. Man habe «einige Bedenken» bezüglich des Entwurfs und fordere Chile zudem auf, den «freiwilligen Ansatz bezüglich der Angabe von Nährwertgrenzwerten auf Produkten zu prüfen», der in der Schweiz angewandt werde. In derselben Sitzung deponiert die Schweiz ihre Bedenken zu einem weiteren Gesetzesentwurf: dem «Gesetz für gesunde Ernährung» aus Peru, das ebenso wie das chilenische Pendant schwarze Warnhinweise vorsieht.

Ein Jahr später, im Juni 2014, nimmt die Schweiz an einem TBT-Komitee-Treffen einen weiteren Labelling-Ansatz ins Visier: das Vorhaben von Ecuador, mittels Farbkennzeichnung anzugeben, ob ein verpacktes Lebensmittel einen hohen, mittleren oder tiefen Gehalt eines bestimmten Inhaltsstoffes aufweist. Das System würde bestimmte Produkte «in unfairer Weise diskriminieren» und sei nicht geeignet, den Konsument*innen «fundierte Informationen zu vermitteln», moniert die Schweiz, und argumentiert zudem erneut damit, dass der Codex keine Nährstoffschwellenwerte festlege.

Doch es hilft nichts. 2014 bringen die Mitgliedstaaten der PAHO einstimmig einen Fünfjahresplan zur Verhinderung von Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen auf den Plan. Ein festgelegtes Ziel darin: die Entwicklung und Umsetzung von Normen für Warnhinweise auf der Vordersite von Verpackungen, die es ermöglichen, «Produkte mit hohem Energiegehalt und wenig Nährstoffen schnell und einfach zu erkennen». Ende 2014 setzt Ecuador sein Kennzeichnungssystem in Kraft. Und in Chile schickt sich nach der (erneuten) Wahl von Michelle Bachelet die neu geformte, sozialistische Regierung an, gegen massiven Widerstand der Industrie und insbesondere des von Nestlé und fünf weiteren Firmen ins Leben gerufenen Interessensverbands AB Chile eine griffige Verordnung auf den Weg zu bringen. Trotz der wiederholten Interventionen der Schweiz, der EU, der USA und weiterer Länder auf WTO-Ebene, trotz aller Bemühungen der Industrie, die Gesetzgebung zu behindern: Im Juni 2016 tritt das «Ley del Súper Ocho» in Chile in Kraft.

Pablo Devoto, CEO von Nestlé Chile, beklagt im April 2017 in einem Interview, die Warnhinweise klärten die Verbraucher*innen nicht auf, sondern machten ihnen lediglich Angst. «Als Land», sagt er dann, so als wäre er chilenischer Präsident, «müssen wir von der Alarmierung zur Aufklärung kommen». Bei Nestlé habe man nicht den Eindruck, dass sich durch die Verordnung die Konsumgewohnheiten «definitiv und radikal» geändert hätten. Wissenschaftliche Studien kommen zu anderen Schlüssen. Ein von drei Universitäten durchgeführtes Monitoring zeigt im Juni 2019, dass der Verkauf von mit Warnhinweisen versehenen Produkten deutlich zurückgegangen ist: bei gezuckerten Getränken um 25 Prozent, bei Frühstückscerealien gar um 36 Prozent.

Auch in Peru zeitigen die Lobby-Bemühungen – angeführt vom Industrieverband Sociedad Nacional de Industrías, bei dem Nestlé Mitglied ist – nicht die gewünschte Wirkung. Im Sommer 2019 setzt auch Peru sein «Gesetz für gesunde Ernährung» in Kraft – inklusive obligatorischer, achteckiger Warnhinweise nach dem Vorbild Chiles. Und etwa zur selben Zeit spricht sich auch in Mexiko der Gesundheitsausschuss der Abgeordnetenkammer für «einfach verständliche», «wahrheitsgemässe» und «sichtbare» Warnhinweise auf der Vorderseite von verpackten Lebensmitteln aus.

Die «Norma Oficial Mexicana 051», kurz NOM-051, ist geboren. Sie sieht fünf schwarze Stoppschilder vor, mit dem Schriftzug «Exceso», also «Übermass» – an gesättigten Fetten, Kalorien, an Salz, an Transfetten, an Zucker. Zudem soll – nach dem Vorbild Chiles – verboten werden, für mit Warnhinweisen versehene Produkte mit Comic-Figuren, Spielzeugen oder Berühmtheiten zu werben. Für Nestlé gehts nun ans Eingemachte: Während der Konzern in Chile und Peru je rund eine halbe Milliarde Schweizerfranken Umsatz pro Jahr erzielt, waren es in Mexiko im Jahr 2019 fast drei Milliarden Franken.

Was auf dem Spiel stand

Um uns eine Vorstellung davon machen zu können, was für Nestlé auf dem Spiel stand, haben wir uns beim renommierten Marktforschungsinstitut Euromonitor Marktdaten besorgt. Sie zeigen, welcher Umsatz im Jahr 2019 in Mexiko im Einzelhandel mit welchen Marken und Produkten von Nestlé erzielt worden ist. Zwar wissen wir nicht exakt, welcher Bruchteil des Umsatzes als Gewinn für den Einzelhandel abfiel. Doch die Zahlen erlauben es uns, zumindest eine Schätzung anzustellen, wie gross das Nestlé-Geschäft mit Produkten war, die einen Stempel erhalten sollten – und schliesslich auch erhielten. Denn, so viel vorneweg: Die NOM-051 trat im Oktober 2020 tatsächlich in Kraft.

Mit Nestlé-Produkten aus den Kategorien «Schokolade und Confiserie» (rund 270 Millionen Franken), Eiscreme (rund 150 Millionen) und «Getränke in Pulverform» (rund 140 Millionen) sind demnach 2019 im mexikanischen Einzelhandel über eine halbe Milliarde Schweizerfranken Umsatz erzielt worden. Jedem einzelnen Produkt aus diesen Kategorien drohte mindestens ein Warnhinweis.

Hinzu kommen mehrere Milchproduktmarken, von denen heute sämtliche Artikel mit Warnhinweisen versehen sind: Mit ihnen wurden 2019 im Einzelhandel rund 270 weitere Millionen umgesetzt. Und schliesslich müssen noch jene Produkte von Marken wie Nescafé, Maggi oder aus dem Cornflakes-Sortiment hinzugerechnet werden, die mit Warnhinweisen versehen sind. Gemäss unseren Berechnungen kommen wir für Produkte dieser Marken noch einmal auf rund 340 Millionen Franken. Heisst in der Summe: Der Einzelhandel-Verkaufswert von Nestlé-Produkten, denen ein oder mehrere Warnhinweise «drohten», belief sich im Jahr 2019 in Mexiko auf über eine Milliarde Franken. Nestlé teilt auf Anfrage mit: «Weniger als 30 % der Produkte, die wir in Mexiko verkaufen, sind mit Warnhinweisen versehen. Wir konzentrieren uns weiterhin darauf, unser Angebot an schmackhaften und gesunden Produkten zu erweitern.»

Die Schweiz interveniert

Darum also geht’s, als am 15. November 2019 ein Nestlé-Mitarbeiter (oder eine Mitarbeiterin, wegen der Anonymisierung in den Emails wissen wir das nicht) eine Mail an eine Person beim SECO schreibt. Es sei «eine grosse Freude» gewesen, sich letzte Woche in Vevey wiederzusehen, steht im Mail. Wie besprochen finde sich im Anhang der Mail «eine Zusammenfassung und Kernaussagen zu den beiden dringenden Problemen, mit denen wir in Mexiko zu tun haben». Das erste Problem: Verbote von Einweg-Plastiksäcken respektive -flaschen, gegen die sich Nestlé letztlich vergeblich wehrte. Das zweite Problem: natürlich, die NOM-051. «Wir würden uns über Ihre Hilfe und Ihre Empfehlungen für unsere Lobbyarbeit freuen», steht im Schreiben.

Beim SECO nimmt man die Angelegenheit offenbar ernst. Gerade einmal 17 Minuten dauert es, bis die Antwortmail auf dem Nestlé-Server eingeht. Der oder die SECO-Mitarbeitende schreibt: «Vielen Dank dafür». Man erwäge, nächste Woche zu intervenieren. Und dann: «Darf ich Sie fragen, an wen in Mexiko sich die in Erwägung gezogene Intervention richten muss, da Sie diese Entwicklungen genauer verfolgt haben als wir.» Bevor man interveniere, werde man sich wieder mit Nestlé in Verbindung setzen und darüber informieren, «was wir zu wem in Mexiko sagen werden».

«Unnötige Ängste»

Schauen wir uns jetzt erst den Inhalt dieses Memorandums an, das Nestlé dem SECO geschickt hat. Die von Mexiko vorgesehene Norm sei «viel restriktiver» als das chilenische Gesetz, weil es die achteckigen Warnhinweise mit einem restriktiveren Nährwertprofil verbinde. Zudem sehe der Vorschlag grössere Einschränkungen für die Bewerbung und den Verkauf «gelabelter» Produkte vor. Nestlé unterstütze Kennzeichnungssysteme, die darauf abzielten, den Konsument*innen mit «praktischen, relevanten und rasch verständlichen Nährwertinformationen» zu helfen, «gesündere Ernährungsentscheidungen» zu treffen. Die mexikanische Norm werde diesem Ziel jedoch nicht gerecht.

Denn abgesehen von dem «zu radikalen und restriktiven» Nährwertprofil, das für die Bestimmung der Schwellenwerte benutzt werden, sollten Warnhinweise, wie sie Mexiko vorsehe, grundsätzlich «vermieden» werden. Denn diese seien weder im Codex vorgesehen noch mit internationalen Standards kompatibel und könnten bei den Konsument*innen leicht «unnötige Ängste» wecken. Und das Verbot, gelabelte Produkte mit Comicfiguren oder Spielsachen zu bewerben, verstosse gegen mexikanisches wie internationales Recht des geistigen Eigentums. In den Tagen, bevor die Mail aus Vevey ans SECO verschickt wird, ist Nestlé auch in Mexiko selbst in die Offensive gegangen. Am 5. November hat der Konzern seine Stellungnahme zur Regulierung eingereicht, in der er prognostiziert, die vorgesehenen Warnhinweise würden «nicht die beabsichtigte Wirkung haben». Die Bevölkerung werde «weiterhin ungesunde Produkte konsumieren, obwohl sie sich deren gesundheitlicher Auswirkungen bewusst ist». Das tatsächliche Problem seien «nicht die Informationen, die der Konsument zu den Produkten erhalte», sondern «der Konsument selbst, der nicht genügend gebildet ist». Deshalb brauche es nicht Warnhinweise, sondern Informationskampagnen. Eine Woche später wendet sich Nestlé mit einem Schreiben, das die Konsument*innenorganisation «El Poder del Consumidor» öffentlich macht, an seine Zulieferer. Man bitte sie, gegenüber den mexikanischen Behörden ihre «Besorgnis» über den Norm-Entwurf kundzutun, der vorsehe, dass gewisse Fertigprodukte als «schädlich für die Gesundheit» eingestuft würden, «mit dem Ziel, die Mexikaner von deren Konsum abzubringen». Eine Intervention der Zulieferer sei «unabdingbar», um zu verhindern, dass «zu einem Zeitpunkt, in dem die nationalen Wirtschaftsaussichten herausfordernd sind», Arbeitsplätze zerstört würden. Alejandro Calvillo, Direktor von El Poder del Consumidor, bezeichnet diese Aufforderung an die Zulieferer auf Anfrage als «ein Versuch, die Entwicklung der Norm zu bremsen». Nestlé sei einer jener Konzerne gewesen, die sich am vehementesten gegen die neue Norm gestellt hätten. Die zuständige Person kommt in ihrer Analyse, die sie tags darauf abteilungsintern in die Runde schickt, zu folgenden Schlüssen: Tatsächlich fehle für die von Mexiko festgelegten Schwellenwerte «eine wissenschaftliche Begründung». Diesen Punkt sollte man aufnehmen, wird geraten. Zudem könne die Schweiz auf den Codex-Standard verweisen, «ähnlich wie anlässlich der Intervention im TBT im Zusammenhang mit Chile», sowie auf «eigene Erfahrungen» mit der Einführung eines Labels «auf einer freiwilligen Basis und unter Einbezug der relevanten Stakeholder». Kehrtwende an der Ampel Dieser letzte Punkt wird tags darauf erneut aufgenommen. Eine Person schreibt in die Runde: «Für die weitere Bearbeitung dieser Anfrage ist wichtig zu bedenken, dass wichtige Lebensmittelhersteller und -importeure, darunter auch Nestlé (Schweiz), angekündigt haben, das vereinfachte Nährwertkennzeichnungssystem ‹Nutri-Score› in der Schweiz einzuführen.» Dieser Ansatz unterscheide sich vom mexikanischen insbesondere darin, dass es «sich hierbei um eine freiwillige Massnahme handelt». Tatsächlich hatte Nestle im Juni 2019 erklärt, man unterstütze «den Nutri-Score als bevorzugtes Nährwertkennzeichnungssystem für Lebensmittel und Getränke in Kontinentaleuropa». Dies sei ein «Bekenntnis zu guter Ernährung und einer informierten Essenswahl». Es war eine Kehrtwende: Jahrelang hatte Nestlé zuvor – zuweilen im Verbund mit weiteren Konzernen – versucht, die Lebensmittelampel erst zu verhindern, dann zu verwässern und zu verzögern.

Was also veranlasste nun den Konzern, dessen Management 2021 intern selbst einräumte, dass über 60 Prozent seiner Produkte ungesund sind, sich für ein Ampelsystem einzusetzen? Die französische Ernährungswissenschaftlerin Mélissa Mialon sagt auf Anfrage: «Die Einführung von Warnhinweisen in Lateinamerika ist wohl einer der Hauptgründe für Nestlés Umschwenken beim Nutri-Score.» Denn im Vergleich zu schwarzen Warnhinweisen hat die Ampel für Nestlé eindeutige Vorteile: Erst einmal sieht eine farbenfrohe Skala deutlich schmucker aus als schwarze Stoppschilder.

Wichtiger noch: Während das in Mexiko und Chile angewandte System ein Übermass eines gewissen Stoffes «brandmarkt», können beim Nutri-Score negative mit positiven Nährwerteigenschaften wettgemacht werden. Heisst: Muss ein Hersteller beim «südamerikanischen» System den Zucker-, Salz- oder Fettgehalt reduzieren, damit er um ein schwarzes Stoppschild auf der Verpackung herumkommt, kann der Nutri-Score durch eine Zugabe von positiv bewerteten Nährstoffen wie Ballaststoffe oder Proteine in den grünen Bereich gedrückt werden.

Die PAHO, von der wir es schon hatten, verglich Ende 2020 die schwarzen Warnhinweise mit fünf weiteren Labelling-Systemen, unter anderem mit «Zusammenfassenden Systemen» wie dem Nutri-Score. Sie kam zum unmissverständlichen Schluss: «Eindeutige Warnungen auf der Vorderseite der Verpackung von Lebensmitteln, die zu viel Fett, Zucker und Natrium enthalten, sind der beste Weg, um Menschen dabei zu helfen, die ungesundesten Einkäufe zu vermeiden.» Wenn wie beim Nutri-Score positive und negative Eigenschaften eines Produktes miteinander verrechnet würden, werde «der Zweck (der Kennzeichnung) verfälscht, die Wirkung abgeschwächt und die Verwirrung unter den Konsumenten vergrössert».

Im Schreiben, welches das SECO schliesslich am 9. Dezember 2019 an die mexikanischen Behörden verschickt, erinnert die Schweiz dennoch daran, dass sich in der Schweiz «grosse Lebensmittelhersteller – und importeure» bereit erklärt hätten, auf «rein freiwilliger Basis» den Nutri-Score einzuführen. Man möchte Mexiko «höflich fragen», ob auch «weniger handelseinschränkende Massnahmen» in Betracht gezogen worden seien. Ansonsten repetiert das Schreiben im Wesentlichen die Punkte, die Nestlé per Memorandum übermittelt hat: Man sei besonders interessiert zu erfahren, auf welcher Grundlage die Schwellenwerte für die Warnhinweise festgelegt worden seien. Warum Mexiko negative Warnhinweise einführen wolle, obwohl diese im Codex nicht vorgesehen seien und Konsument*innen Glauben machen könnten, bestimmte Lebensmittel sollten «gänzlich vermieden werden, obwohl sie Teil einer ausgewogenen Ernährung sein können».

Mexiko bleibt standhaft

Anfang 2020 reicht die Schweiz gemeinsam mit der EU, den USA und weiteren Ländern beim TBT-Komitee einen «Specific Trade Concern» ein – eine Meldung, dass man bei der von Mexiko vorgesehenen Gesetzgebung «spezifische Handelsprobleme» sehe. Im Februar 2020 interveniert der SECO-Mitarbeiter am TBT-Treffen an der Seite der EU und der USA, wiederholt die im Schreiben geäusserten Bedenken. Und kurz sieht es so aus, als hätte der geballte Widerstand gegen das mexikanische Vorhaben tatsächlich Erfolg: Aufgrund der Beschwerde eines Industrieverbandes suspendiert ein mexikanisches Gericht Ende Februar das Inkrafttreten der neuen Norm.

Doch nur wenige Tage später wird der Entscheid von der nächsthöheren Instanz schon wieder kassiert. «Leider ist unser Stand, dass die NOM Ende März/Anfang April veröffentlicht werden könnte, ohne grosse Änderungen gegenüber dem Entwurf, den wir gesehen haben», schreibt die Nestlé-Person am 12. März ans SECO, nachdem sie sich noch einmal artig für die «wertvolle Hilfe in dieser wichtigen Angelegenheit» bedankt hat.

Am 27. März wird die NOM-051 im mexikanischen Amtsblatt publiziert, ohne dass an den Bestimmungen noch etwas geändert worden wäre. Am 03. April meldet sich das SECO noch einmal bei Nestlé. Man habe von «US-Quellen» erfahren, dass gemäss der dortigen Industrie das Inkrafttreten der Norm wegen «Covid-19 und der derzeit hohen Nachfrage nach Lebensmitteln» verschoben werden sollte. «Teilt Nestlé diese Einschätzung/Besorgnis?». Offenbar schon. Am nächsten TBT-Treffen vom Mai fordert die Schweiz die mexikanischen Behörden jedenfalls «mit einer gewissen Dringlichkeit» auf, das Inkrafttreten der Änderungen «auf einen späteren Zeitpunkt» zu verschieben. Die USA und die EU werden konkreter: Sie fordern einen Aufschub von zwei Jahren.

Doch wie Sie schon wissen: Am 1. Oktober 2020 tritt die NOM-051 in Kraft. Die PAHO bezeichnet die Norm als «die fortschrittlichste und umfassendste Regelung weltweit». Dass die Schweiz das Land am nächsten TBT-Meeting von Ende Oktober noch einmal auffordert, die Norm zu «überprüfen, um eine angemessene Versorgung des mexikanischen Marktes mit Lebensmitteln und Getränken insbesondere während der COVID-19-Pandemie sicherzustellen», ändert nichts mehr daran. Offenbar beginnen die Lebensmittelkonzerne aufgrund der neuen Gesetzgebung rasch damit, die Rezepturen ihrer Produkte anzupassen. Und die mexikanischen Behörden scheinen demonstrieren zu wollen, dass sie es mit der Umsetzung der neuen Norm ernst meinen: Im April ziehen sie über 10 000 Produkte von 80 Marken aus dem Verkehr, die nicht korrekt beschriftet sind – darunter zwei Sorten Cornflakes von Nestlé.

Die Reaktionen

Nestlé beantwortet die konkreten Fragen von Public Eye (etwa bezüglich der «Zusammenarbeit» mit dem SECO, zur Entwicklung des Umsatzes seit Einführung der Warnhinweise oder zur Kehrtwende in Sachen Nutri-Score) nicht einzeln, sondern mit einem summarischen Statement. Es sei Nestlé «ein Anliegen, die Menschen bei einer ausgewogenen Ernährung zu unterstützen», teilt Christoph Meier, «Global Head of Corporate Media Relations», mit. Man sei aber der Meinung, dass die «besondere Form der Kennzeichnung mit Warnhinweisen», wie sie Chile und Mexiko implementiert haben, «nicht dabei hilft, gesündere Optionen in einer bestimmten Produktkategorie zu wählen».

Beim Nutri-Score dagegen hätten Auswertungen in Europa gezeigt, dass dieser «den Konsumenten hilft, gut informierte Entscheidungen zur Ernährung zu treffen». Aber: «Wir pflegen einen transparenten und konstruktiven Austausch mit Behörden und Stakeholdern und halten uns selbstverständlich streng an die Kennzeichnungsvorschriften in beiden Ländern.»

Das Staatssekretariat für Wirtschaft nimmt relativ ausführlich Stellung, weicht in Bezug auf gewisse Aspekte aber auch auffallend aus. Auf die Frage, ob die Interventionen in Mexiko und Chile auf Bitte von Nestlé hin erfolgten, schreibt das Staatssekretariat, es werde «in der Regel durch die interessierte Anspruchsgruppen und Wirtschaftsteilnehmer auf WTO-Notifikationen anderer WTO-Mitglieder aufmerksam gemacht.» Diese Anliegen würden daraufhin jeweils überprüft, und nur bei «begründeten Zweifeln und Fragen» werde «ein schriftlicher Kommentar oder eine Intervention im TBT-Komitee zusammen mit den anderen WTO-Mitgliedern angestrebt».

Ob es üblich ist, dass sich das SECO von privaten Akteuren bezüglich des geeigneten Adressaten einer Intervention beraten lässt? «Die Schweiz verfügt über entsprechende Vertretungen im Ausland, um die bilateralen Beziehungen zu pflegen und in Kontakt mit Vertretern unserer Partnerländer zu treten.» Ob die Intervention des SECO gegenüber Mexiko mit dem EDA und/oder dem BLV abgesprochen gewesen sei? «Im WTO TBT Komitee wird die Position der Schweiz vertreten, welche gegebenenfalls mit den jeweiligen zuständigen Ämtern abgestimmt wird.» Die verschiedenen Bundesstellen arbeiteten «eng zusammen und koordinieren ihre Bemühungen». Zwischen der Position der Schweiz im Rahmen des Codex (gemäss der es den Ländern freistehen sollte, welches Kennzeichnungssystem sie wählen) und der Schweizer Position im WTO TBT-Komitee schliesslich besteht laut SECO «kein Widerspruch». Fortsetzung folgt bestimmt

2021 hat auch Uruguay ein Gesetz mit Warnhinweisen implementiert. Brasilien und Kolumbien haben entsprechende Gesetze verabschiedet, in Kanada schlägt das Gesundheitsministerium ein solches vor, und zuletzt wurde im März 2022 in Argentinien das «Gesetz zur Förderung einer gesunden Ernährung» publiziert – inklusive schwarzer, achteckiger Warnhinweise.

In der Schweiz sagte derweil die abtretende Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch im Mai an einer Diskussionsrunde ganz unumwunden: «Eine Hauptaufgabe meiner letzten elf Jahre als SECO-Direktorin war es, mehr Regulierung abzuwehren.» Dr. Hugo López-Gatell, der Experte aus dem mexikanischen Gesundheitsministerium, sagt dazu:

«Unsere Regierung hat sich vorgenommen, die politische Macht von der wirtschaftlichen Macht zu trennen. Wenn Länder wie die Schweiz die Interessen ihrer Konzerne verteidigen wollen, sollen sie das im Rahmen ihrer nationalen Gesetze oder in internationalen Gremien tun. Aber wir werden niemals zulassen, dass ein anderes Land oder ein ausländischer Konzern uns unsere Gesundheitspolitik diktiert.»

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Grafikquellen          :

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Sanktionen gegen Russland

Erstellt von Redaktion am 30. Juli 2022

Armes Land mit Atomwaffen

Putins willigste Helfer-In ?

Von  :   Ulrike Herrmann

Der Westen wird den Wirtschaftskrieg gegen den Kreml gewinnen, aber nicht sofort. Er darf sich nur nicht von russischer Propaganda blenden lassen.

Russland dreht den Gashahn ab, was Wirtschaftsminister Habeck vorwurfsvoll kommentierte: „Russland nutzt seine Macht, um uns zu erpressen.“ Das stimmt. Allerdings gilt diese Analyse auch umgekehrt. Die EU versucht ebenfalls, Russland ökonomisch maximal zu schaden, und hat daher drakonische Sanktionen verhängt. Der militärische Konflikt in der Ukraine ist auch ein Wirtschaftskrieg. Die Frage ist: Kann er überhaupt gewonnen werden? Und wenn ja, wer wird siegen?

Auf den ersten Blick wirkt es, als würde Russland die westlichen Sanktionen bestens über­stehen. Der Rubel hat zu einem sensationellen Höhenflug angesetzt; seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine hat er gegenüber dem Dollar um 20 Prozent zugelegt. Stell dir vor, es ist Krieg – und du wirst reicher.

Der Rubel wertet auf, weil Russland gigantische Exportüberschüsse einfährt – was ebenfalls dem Krieg zu verdanken ist. Energie wird weltweit knapp, sodass die Preise für Öl und Gas steigen. Russland exportiert zwar weniger Energie, weil es selbst den Gashahn abdreht – aber in der Summe hat es bisher für sein Öl und Gas fast doppelt so viel kassiert wie vor dem Krieg. Die russischen Devisenbestände könnten bis Jahresende um etwa 285 Milliarden Dollar steigen, schätzt der Finanzdienstleister Bloomberg.

Russland schwimmt also in ausländischem Geld. Aber wieder einmal zeigt sich, dass Devisen allein nicht viel nutzen. Denn die westlichen Sanktionen verhindern, dass die Russen munter auf den Weltmärkten einkaufen können. Gelegentlich dürfte es ihnen zwar gelingen, die begehrte Hochtechnologie über Drittstaaten und Mittelsmänner trotzdem zu erwerben. Doch diese Camouflage-Aktionen sind selten und teuer.

Klar ist jedenfalls, dass die Russen eine Art „Zwangssparen“ praktizieren. Sie bunkern enorme Devisenmengen, weil sie im westlichen Ausland nicht viel kaufen können. So bleiben auch genug Dollar übrig, um auf den Finanzmärkten den Rubelkurs zu pflegen und den Eindruck zu erwecken, als würde die russische Wirtschaft geradezu bersten vor Kraft. Das wirkt im Westen. Die Süddeutsche Zeitung titelte über Putins Russland: „Überraschend starke Kriegswirtschaft“.

Russland baut jedoch nur eine hübsche Fassade auf, denn die ökonomische Lage ist desaströs. Der Westen kann zufrieden sein: Seine Sanktionen sind eine extrem scharfe Waffe.

Selbst die russische Zentralbank gibt zu, dass es abwärtsgeht. In ihrer Juli-Prognose rechnet sie jetzt offiziell damit, dass die russische Wirtschaft in diesem Jahr um 4 bis 6 Prozent schrumpfen wird. Minus 6 Prozent mögen relativ harmlos klingen, allerdings ist der russischen Zentralbank nicht zu trauen. Seit Kriegsbeginn besteht ihre Rolle darin, verfehlten Optimismus zu verbreiten. In Russland ist aus dem Wirtschaftskrieg längst auch ein Informationskrieg geworden.

Jedenfalls lesen sich die Presseerklärungen der Zentralbank, als wären sie in einem Paralleluniversum entstanden. Putins Krieg in der Ukraine wird mit keinem einzigen Wort erwähnt, noch nicht einmal der erlaubte Begriff „Spezialoperation“ fällt. Stattdessen inszeniert die Zentralbank den Anschein makroökonomischer Normalität, indem sie von „Inflationserwartungen“ und „gedämpfter Konsumnachfrage“ schwadroniert. Der verbrecherische Angriff auf das Nachbarland wird in die harmlose Floskel gekleidet, dass „das externe Umfeld der russischen Wirtschaft weiterhin herausfordernd bleibt“.

Nun ist es keine Überraschung, dass eine Diktatur ihre eigenen Statistiken frisiert. Bemerkenswert ist jedoch, dass der Westen die russischen Einschätzungen einfach übernimmt. So wartete der Internationale Währungsfonds (IWF) am Dienstag ebenfalls mit der Prognose auf, dass die russische Wirtschaft in diesem Jahr nur um ganze 6 Prozent schrumpfen würde.

Der IWF hat allerdings mit dem Problem zu kämpfen, dass die russische Statistikbehörde seit Mai keinerlei belastbare Daten mehr veröffentlicht. So wird über Exporte und Importe eisern geschwiegen, damit der Westen nicht erkennen kann, ob die Sanktionen unterlaufen werden. Auch Zahlen zur einheimischen Produktion fehlen jetzt völlig, denn die letzten Erhebungen waren niederschmetternd. Im April 2022 wurden im Vergleich zum Vorjahr 85,4 Prozent weniger Autos hergestellt, bei Waschmaschinen waren es minus 59 Prozent, bei Fahrstühlen minus 48 Prozent und bei Kühlschränken minus 46 Prozent.

Putin kann nicht verhindern, dass der Kollaps der Handelsbeziehungen auch im Westen Datenspuren hinterlässt

Zur Not lässt es sich zwar auch ohne eine neue Waschmaschine leben, aber diese Zahlen illus­trieren das fundamentale Problem: Durch die Sanktionen sind 62 Prozent aller russischen Importe nicht mehr möglich, wie die US-amerikanische Denkfabrik Carnegie errechnet hat. Diese westlichen Vorprodukte werden aber benötigt, damit die russische Industrie überhaupt produzieren kann. Vor allem die Hochtechnologie fehlt nun.

Russland bemüht sich zwar, die Wucht der Sanktionen zu verheimlichen – aber Putin kann nicht verhindern, dass der Kollaps der Handelsbeziehungen auch im Westen Datenspuren hinterlässt. So meldete etwa das Statistische Bundesamt kürzlich, dass im Mai die deutschen Exporte nach Russland im Vergleich zum Vorjahr um 50,9 Prozent gesunken sind. Bei Autoteilen betrug das Minus sogar 96,2 Prozent.

Markant: Wie diese Exportdaten auch ausweisen, stiegen die deutschen Ausfuhren an Arzneien stark an – um satte 42,2 Prozent. Medizinische Produkte sind, schon aus humanitären Gründen, von Sanktionen ausgenommen. Aber es waren nicht etwa Impfstoffe, die zu Coronazeiten nach Russland gingen. Vakzine wurden überhaupt nicht gehandelt. Also lässt sich vermuten, dass die zusätzlichen Arzneimittel vor allem für die russischen Truppen in der Ukraine benötigt werden.

Putin versucht zwar geheim zu halten, wie viele seiner Soldaten inzwischen verwundet sind, sodass nur Schätzungen kursieren. Aus dem US-­Kongress war kürzlich zu hören, dass schon 75.000 der Kreml-Streitkräfte entweder tot oder verletzt sein sollen. Das mag übertrieben sein. Aber auch eine scheinbar harmlose Datenquelle wie die deutsche Exportstatistik legt nahe, dass die russischen Verluste erheblich sind.

Doch zurück zum Wirtschaftskrieg: Der Westen traut seinen eigenen Sanktionen nicht, weil sich hartnäckig die Sorge hält, dass Russland die Handelshemmnisse einfach umgehen könnte, indem es etwa in China einkauft. Doch dieser Ausweg ist ebenfalls versperrt. In diesem Jahr sind die chinesischen Exporte nach Russland um etwa 38 Prozent gefallen, wie den Zolldaten aus Peking zu entnehmen ist. Ein Grund ist ganz banal: Etwa die Hälfte aller Ausfuhren nach Russland wurde bisher von westlichen Konzernen produziert, die in China ansässig sind – und die sich nun an die Vorgaben ihrer Mutterkonzerne halten. Aber selbst rein chinesische Firmen wie etwa Huawei liefern jetzt weniger nach Russland, weil sie ihre weltweiten Absatzmärkte nicht gefährden wollen. Die South China Morning Post schrieb ganz offen, dass die Konzerne „sich davor hüten, in Kollision mit den westlichen Sanktionen zu geraten“.

Quelle          :         TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Zeremonie zur Eröffnung des Benzins Nord Stream. Unter anderem Angela Merkel und Dmitri Medwedew

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 27. Juli 2022

Olaf, lass doch Schatten regnen

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Lukas Wallraff

Unser Autor sitzt wegen Corona in häuslicher Isolation und muss bei Weltenbrand, Krieg und Energiekrise zusehen. Und das bei der Hitzewelle.

Jetzt kam schon wieder was dazwischen. Auf dem Weg zu den guten Taten, die ich mir seit Silvester vorgenommen hatte und mit denen ich in dieser Woche endlich prahlen wollte, wurde ich von Corona aufgehalten. Zack, positiv, nach zweieinhalb Jahren konnte ich nicht mehr ausweichen und musste zu Hause bleiben, wodurch mein einziger, aber wichtiger Beitrag zur deutschen Verteidigungsbereitschaft entfiel: die Hütung des taz-Tores.

Mehr Opferwillen kann niemand verlangen, als die Fuß­bal­le­r*in­nen dieser Zeitung in jedem Spiel vorleben. Schnitte sich davon jeder eine Scheibe ab, müsste uns weder vor dem nächsten Hitzeschock noch vor dem Gasstopp bange sein. Die taz-Panter überstanden das heiße Kellerderby gegen Radio Eins auch ohne mich gewohnt sieglos.

Was konnte ich jetzt noch Gutes tun, bei 39 Grad im Schatten, beschränkt auf wenige Quadratmeter im Hotoffice? Im ersten Lockdown war das sinnlose Herumsitzen und Nichtstun ja noch toll. Faule Stubenhocker wurden plötzlich als rücksichtsvolle Helden gefeiert. Bravo, schon zwanzig Stunden auf dem Sofa vor der Glotze, Chapeau! Heute fühlt sich tatenlos herumzuschwitzen nicht mehr wirklich gut an. Krieg und Klimakrise sind zu offensichtlich, um unbeschwert zu dösen. Irgendetwas sollte man doch tun, um den Weltenbrand zu löschen. Ich kann nur zu den verreisten Nachbarn gehen und Blumen gießen. Immerhin.

Das mit der Isolation hat bei mir auf jeden Fall besser hingehauen als bei Wladimir Putin. Während ich als braver Panter im weichen Gang geschmeidig starker Schritte durch die eigene Wohnung gehe, mich nur im allerkleinsten Kreise drehe und nicht einmal die eigene Verwandtschaft sehe, reist der Kreml-Killer seelenruhig von einem kriminellen Kumpel zum anderen Ölkunden, trifft die Brics- und demnächst auch die G20-Staatenlenker, ach, und hier noch einen kleinen Schwenker zum feinen Nato-Mitglied Erdoğan.

Den Boykott Putins hatte sich der Westen irgendwie anders vorgestellt. Doch der russische Angriffskrieg in der Ukraine scheint dem Rest der Welt leider genauso egal zu sein, wie dem Westen viele Kriege vorher egal gewesen sind, die eigenen inbegriffen. Von den parallel immer noch laufenden und tolerierten Kriegen wie im Jemen und in Kurdistan mal ganz zu schweigen. Da hilft das schlechte Gewissen, das jetzt auch mich beschleicht, nicht viel.

Wenigstens, und da werde ich nun doch ein bisschen neidisch, haben die westlichen Staatenlenker viel Gesellschaft. Während mir nach einer Woche Quarantäne längst so ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt, lernen Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Robert Habeck und Ursula von der Leyen laufend neue Freunde kennen. Nach dem sympathischen Emir von Katar und dem netten Ägypter Sisi in dieser Woche nun den „zuverlässigen und vertrauenswürdigen“ Alleinherrscher von Aserbaidschan, wie ihn von der Leyen nennt. Kein Russe zu sein, reicht inzwischen aus, um von der EU gelobt, geherzt und mit Geld überschüttet zu werden. Jetzt erschließt sich auch der Sinn der guten Kontakte korrupter CDU-Politiker nach Baku.

Quelle       :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Deutsche Waffenlieferungen

Erstellt von Redaktion am 24. Juli 2022

Zwischen Skylla und Charybdis

Gepard 1a2 im Überblick.jpg

Von Helmut W. Ganser

Die Gefahr einer nuklearen Katastrophe muss auf Distanz gehalten werden. Es geht um ein verantwortungsbewusstes Navigieren in einer Dilemma-Situation.

Ein Ende der russischen Aggression in der Ukraine ist auch nach fünf Kriegsmonaten nicht absehbar. Putins Armee kommt im Abnutzungsgefecht im Donbass nur langsam und unter Inkaufnahme erheblicher Verluste an Menschen und Material voran. Die ukrainischen Streitkräfte sind sogar in der Lage, lokale Gegenangriffe zu führen, wo die russischen Truppen zur Verteidigung übergegangen sind.

Sie bekämpfen mit Himars-Raketen aus US-Produktion Waffenlager und Nachschubwege in der Tiefe des von Russland besetzten ukrainischen Territoriums. Das Gravitationszentrum der militärischen Hilfsleistungen für die Ukraine liegt eindeutig in Washington. Aufklärungsdaten in Echtzeit, Waffenlieferungen und Waffenausbildung sowie logistische Unterstützungsmaßnahmen der Vereinigten Staaten tragen entscheidend zur ukrainischen Verteidigung bei.

Die im Verhältnis zu den USA weit geringeren Unterstützungsmaßnahmen der europäischen Staaten sind nur im Verbund mit den amerikanischen Hilfsleistungen wirksam. Die ukrainische Führung entscheidet damit zwar formal souverän über ihre Kriegsziele und darüber, ob und wann sie zu Verhandlungen mit Moskau bereit ist. Sie ist jedoch von den amerikanischen Unterstützungsleistungen abhängig, die den Handlungsspielraum des ukrainischen Präsidenten Selenski praktisch einrahmen. Auf der Hinterbühne des Geschehens wirkt die geopolitische Ebene des Konflikts, das machtpolitische Ringen zwischen Moskau und Washington.

Völkerrechtlich gesehen hat die Ukraine eindeutig das Recht, die von Russland besetzten und annektierten Gebiete, einschließlich der Krim, zurückzufordern oder zurückzuerobern. Grundlage dafür ist das „naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ im Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Die Ukraine wird einer territorialen Lösung mit Abtrennung der besetzten Gebiete nicht zustimmen, und keine ernst zu nehmende Regierung der Welt dürfte in der überschaubaren Zukunft das von Russland eroberte ukrainische Territorium als zur Russischen Föderation gehörig oder als quasi-autonomes Staatengebilde anerkennen.

Der Kreml ist nicht bereit, zu verhandeln

Auf einem ganz anderen Blatt stehen die tatsächlichen Möglichkeiten der Ukraine, ihre territoriale Integrität in näherer Zukunft wiederherzustellen. Politiker und Experten, die etwa in deutschen Talkshows, manchmal in salonbellizistischer Manier, über eine militärische Rückeroberung der durch Russland seit dem 24. Februar besetzten Gebiete reden und dafür massive Waffenlieferungen fordern, sollten sich einige Realitäten vor Augen führen.

Über den aktuellen Umfang und den Zustand der ukrainischen Streitkräfte ist zwar wenig bekannt. Die Ukraine müsste jedoch für eine große Gegenoffensive eine etwa dreifache Überlegenheit über die russischen Truppen aufbauen. Vermutlich müssten schwere Waffen wie Kampfpanzer, Schützenpanzer, Rohr- und Raketenartillerie in insgesamt vierstelliger Stückzahl und eine hohe Zahl infanteristischer Kämpfer in Stellung gebracht werden.

Denn im Gegenangriffsszenario würden nunmehr die russischen Streitkräfte in ausgebauten Stellungen in Städten und Ortschaften kämpfen und die Vorteile des militärischen Verteidigers in bebauten Räumen in Anspruch nehmen. Die bisherigen Trümmerlandschaften würden noch einmal durch das Inferno artilleristischer Feuerwalzen umgegraben. Es wäre in der Tat mit noch weit größeren ukrainischen Verlusten und unendlichem Leid verbunden.

Zugleich hat es aber auch wenig Sinn, die Ukraine und den Westen zu einem Waffenstillstand aufzufordern und den Krieg durch Verhandlungen mit Moskau zu beenden. Dafür fehlt es schlicht an den notwendigen Voraussetzungen. Allein der Kreml ist bis auf Weiteres in keiner Weise bereit, zu verhandeln und die Kampfhandlungen einzustellen.

Helmut Ganser 2010.jpg

Die westlichen Regierungen müssen überdies bei allen Waffenlieferungen das Risiko der räumlichen Ausweitung und Eskalation des Konflikts im Auge behalten. Dieses Risiko ist real, denn im oft zitierten „Nebel des Krieges“ (Clausewitz) können Kämpfe auch ungeplant außer Kontrolle geraten und eskalieren, etwa durch Raketen, die durch Systemfehler auf Nato-Gebiet einschlagen. Inzwischen ist erkennbar, dass Washington bemüht ist, den Umfang der Waffenlieferungen so zu bemessen, dass vermutete rote Linien im Kreml nicht überschritten werden.

Eine stabile Koexistenz mit Russland liegt im europäischen Interesse

Die USA zielen offenbar darauf, die Verteidigung der ukrainischen Armee im Osten und Süden des Landes zu stabilisieren, quasi „to keep them in the fight“. Kiew soll eine möglichst starke Ausgangsposition für spätere Verhandlungen verschafft werden. Präsident Biden hat dies in seinem Beitrag in der New York Times von Ende Mai unter der Überschrift „What America will and will not do in Ukraine“ klar signalisiert. Das ist keine Siegrhetorik.

Biden dürfte dabei auch einkalkulieren, dass mit der Art und Weise des Vorgehens der USA gegen den russischen Krieg in der Ukraine Weichenstellungen für die künftigen strategischen Beziehungen mit Moskau vorgenommen werden. Das ist ein Punkt, der in der einseitig auf Waffentransfers fokussierten deutschen Debatte weitgehend ausgeblendet wird. Strategische Stabilität in den Abschreckungsbeziehungen mit Russland bleibt für die USA Staatsraison. Die Nato und Russland rutschen absehbar in eine anhaltende Konfrontation, die gravierender sein wird, als dies zum Höhepunkt des Kalten Krieges war.

Moskau dürfte künftig auf Atomwaffen setzen

Es ist anzunehmen, dass Moskau angesichts der erheblichen Verstärkung der Nato-Kräfte an der Ostflanke und mit Blick auf seine durch den Krieg auf Jahre geschwächte Armee künftig noch stärker auf seine zahlreichen taktischen Atomwaffen setzen wird. Wenngleich mit der derzeitigen Kreml-Führung kein Vertrauen mehr aufgebaut werden kann, liegt es im deutschen und europäischen Interesse, eine hinreichend stabile Koexistenz mit Russland zu wahren, die nicht nur auf Abschreckung, sondern auch auf eine zumindest rudimentäre Rüstungskontrolle setzt. Das kürzlich beim Nato-Gipfel in Madrid verabschiedete neue Strategische Konzept der Allianz hält dafür die Türen offen.

Quelle         :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Flugabwehrpanzer Gepard 1A2

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Deutscher Nährboden

Erstellt von Redaktion am 21. Juli 2022

Schon vor der Shoah haben die Deutschen die ideologische Grundlage für den Nahostkonflikt geschaffen. 

Massengrab im KZ Bergen-Belsen - Fritz Klein - IWM BU4260.jpg

Von Ulrike Klausmann

Eine Antwort auf Charlotte Wiedemann. Der Großmufti von Jerusalem konnte über deutsche Sender seine antijüdischen Ansprachen verbreiten.

In ihrem Debattenbeitrag „Schuld und Nakba“ (taz vom 13. Juli) fordert taz-Autorin Charlotte Wiedemann, „im Land der Shoah über den is­rae­lisch-palästinensischen Konflikt mit Bedacht und Achtsamkeit zu sprechen“. Doch diese habe ich in ihrem Text vermisst. Wiede­mann beklagt einen Mangel an Empathie für das Leid, das die israelische Politik den PalästinenserInnen angetan hat und antut. Gibt es diesen Mangel in der deutschen Öffentlichkeit? Erhebungen der interdisziplinären Antisemitismusforschung belegen das Gegenteil: Sowohl im Internet als auch in unseren Qualitätsmedien geht die Berichterstattung zum Nahostkonflikt überwiegend auf die palästinensische Perspektive ein.

Mein Eindruck ist, dass sich allmählich zumindest die Qualitätsmedien um eine ausgewogenere Berichterstattung bemühen. Deshalb von einem „Bannkreis“ zu sprechen „um alles, worin der Begriff ‚Palästina‘ vorkommt“, erscheint übertrieben. Mit Recht verlangt Wiedemann im Zusammenhang mit diesem Thema „Genauigkeit, historische Redlichkeit und selbstkritische Betrachtung des Eigenen“. Doch wo ist die Genauigkeit, wo ist die historische Redlichkeit, wenn sie schreibt: „Beginnen wir mit dem Jahr 1948. Für Israel die siegreiche Gründung des neuen Staates, für Palästinenser der traumatische Verlust von Heimat, Kultur Existenz.“

Eine solche Verkürzung erweckt den Eindruck: Kaum war der israelische Staat gegründet, vertrieben die Juden die Araber aus ihren Dörfern. Dabei gab es schon vor der Staatsgründung Israels im britischen Mandatsgebiet Palästina Konflikte zwischen Arabern und Juden. Sie verschärften sich, als immer mehr Jüdinnen und Juden einwanderten, um den Pogromen in Osteuropa und dem wachsenden Antisemitismus in ganz Europa zu entkommen. Es gab auch Angriffe und Massaker von arabischer Seite.

Immer wieder begegnet mir im privaten, aber leider auch im beruflichen Umfeld die Erzählung: Den Konflikt zwischen Arabern und Juden im Nahen Osten gibt es erst seit der Staatsgründung Israels. Doch wenn man den Blick auf die arabischen Nachbarländer erweitert, fällt auf, dass es dort schon in den 1930er und den frühen 1940er Jahren Hass, Hetze und Pogrome gegen Jüdinnen und Juden gab. Beim Farhud, einem blutigen Pogrom in Bagdad im Jahr 1941, ermordeten arabische Nationalisten über hundert Juden; es gab Hunderte Verletzte. 1947 starben über 70 Juden in Aleppo, auch im Libanon und anderen arabischen Ländern kam es zu Verfolgungen und Übergriffen. Zu den Ursachen gehörte der wachsende arabische Nationalismus, aber auch die judenfeindliche Propaganda der Nationalsozialisten.

Diese hatten einen Radiosender eigens für ihre Propaganda im Nahen Osten eingerichtet. Von 1939 bis 1945 sendete Deutschlandsender Zeesen über Kurzwelle jeden Abend bis nach Indien auf Arabisch, Persisch und Türkisch. Lesungen aus dem Koran und antijüdische Hetze wurden mit arabischer Musik aufgelockert; die Sendungen erfreuten sich großer Beliebtheit. Die rund 80-köpfige Orientredaktion verbreitete antijüdische Stellen aus dem Koran und lud sie mit Stereotypen und Verschwörungsmythen des europäischen Antisemitismus auf. Im persischen Programm wurde Hitler zum 12. Imam hochstilisiert; der Sender rief zum Dschihad gegen die Juden auf.

Israel-Kritik nicht erlaubt

„NAZI-onale Deutsch-Demokratische  Staatsräson“

Auch der Großmufti von Jerusalem konnte über deutsche Radiosender seine antijüdischen Ansprachen verbreiten. Amin al-Husseini arbeitete seit 1937 mit dem NS-Regime zusammen. Die sechsjährige Hetze der Nationalsozialisten über den Kurzwellensender mit ihrem Export antisemitischer Verschwörungsmythen in den Nahen Osten leistete ihren Beitrag zum Judenhass in den arabischen Ländern, der bis heute nachwirkt.

Der Teilungsplan der UN-Generalversammlung von 1947, nach dem das Land in einen jüdischen und einen arabischen Staat geteilt werden sollte, wurde von den arabischen Staaten und der politischen Vertretung der Palästinenser abgelehnt. Einen Tag nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung erklärten Ägypten, Saudi Arabien, Libanon, Transjordanien, Irak und Syrien dem gerade erst proklamierten demokratischen Staat der Juden den Krieg. Während dieses Kriegs kam es zu den Vertreibungen der PalästinenserInnen, zur Nakba. Etwa 700.000 Menschen verloren ihre Heimat, ein Teil blieb in Israel.

Was viele nicht wissen: Auch Jüdinnen und Juden wurden vertrieben – aus den arabischen Ländern. Seit 1948 verließen an die 850.000 Juden ihre Heimat im Jemen, im Irak, in Marokko und anderen arabischen Staaten. Israel hatte 520.000 dieser jüdischen Flüchtlinge aufgenommen und mehr oder weniger in ihre Gesellschaft integriert. Die Palästinenser, die in arabische Nachbarländer flohen, wurden dort nicht integriert. Viele leben dort bis heute mit eingeschränkten Rechten in Flüchtlingslagern.

Quelle      :          TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Die Befreiung des KZ Bergen-belsen, April 1945 Dr. Fritz Klein, der Lagerarzt, steht in einem Massengrab in Belsen. Klein, der in Österreich-Ungarn geboren wurde, war ein frühes Mitglied der NSDAP und trat 1943 in die SS ein. Ab Dezember 1943 arbeitete er ein Jahr lang in Auschwitz-Birkenau, wo er bei der Auswahl der Häftlinge half, die in die Gaskammern geschickt werden sollten. Nach einer kurzen Zeit in Neungamme zog Klein im Januar 1945 nach Belsen. Klein wurde daraufhin wegen zweifacher Kriegsverbrechen verurteilt und im Dezember 1945 hingerichtet.

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Die Politik sieht nur die USA

Erstellt von Redaktion am 18. Juli 2022

Die Seidenstraße ist eine uralte Erfolgsgeschichte

Quelle:    Scharf  —  Links

Von  : Georg Korfmacher, München

Die Seidenstraße ist ohne Zweifel eine Erfolgsgeschichte der Menschheit. Sie ist Zeugnis dafür, dass die verschiedensten Politik- und Wirtschaftssystem in Frieden miteinander kooperieren können. Sie unterlag selbstverständlich dem Wandel der Zeiten.

In ihrer heutigen Ausgestaltung zeigt sie z.B. mit ihrem Endpunkt in Duisburg, dass Kooperation für alle Beteiligten gewinnbringend und damit förderlich ist. Über die Seidenstraße fand mehr noch als Seide Wissen, Technik und Kultur den Weg von China in das Abendland, ebenso wie umgekehrt. Neben der Seide kam z.B. auch die ‚Goldene Regel‘ zu uns. Lang bevor sie in der Bibel (Mt.7,12) als christliche Weisheit niedergeschrieben wurde, hatte Konfuzius sie in der noch heute gängigen Form formuliert und verbreitet. Sie gilt bis heute als ethischer Maßstab weltweit.

Auch der Buchdruck, das Schießpulver, das Papier und Porzellan kamen über die Seidenstraße zu uns. Dabei ist die Seidenstraße keine chinesische „Erfindung“. Ihr Ursprung geht auf die Persische Königsstraße unter Dareios I. zurück, wurde dann durch den in Zentralasien wirkenden Hellenismus weiterentwickelt, bis sie dann zur Zeit der Han-Dynastie (200 v.u.Z.) an das Wegesystem in China entlang der Großen Mauer Anschluss fand. Ein Verkehrsverbindung oder Reisestraße im heutigen Sinne war die Seidenstraße nie. Waren und Wissen gelangten von Karawanserei zu Karawanserei abschnittsweise von China zu uns und umgekehrt.

So darf es nicht verwundern, dass China heute die Idee der Seidenstraße wieder mit der Belt-and-Road-Initaitive (BRI), bei uns eher als ‚Neue Seidenstraße‘ bekannt, aufgegriffen hat, um sein heutiges Potential weltweit zu vernetzen und die dafür nötige Infrastruktur zu fördern. Die BRI wurde 2013 von der Chinesischen Regierung verabschiedet und gilt als Leitstrategie von Xi Jinping. Ihr haben sich bisher 146 Länder angeschlossen. Und wie damals ist die BRI heute nicht nur eine gigantische Infrastruktur zu Lande und zu Wasser für den Güteraustausch, sondern auch ein weltweites Netzwerk für Forschung, Wissen Transfer und Bildung. Und das alles ohne Militär und kriegerische Manipulation.

Warum, fragt man sich, schließt sich der Westen diesem Vorbild nicht an, sondern versucht vielmehr, die BRI als Machtgelüste Chinas zu diffamieren. Wahrscheinlich weil eine friedliche Denke nicht zum gewinngeilen US-Turbokapitalismus passt. Bei der BRI kann man nämlich nicht gleich abkassieren, sondern muss erst einmal investieren. Sie spielt sich zudem derzeit überwiegend in Entwicklungsländern ab, wo sich Erfolge erst langfristig einstellen. Und der ist durchaus nicht immer garantiert, wie einige Fälle schon gezeigt haben, wenn BRI-Partner sich total übernommen und nur an den Erfolg und nicht an die davor liegenden Verpflichtungen gedacht haben.

Gleichwohl ist BRI ein Erfolgsrezept, wie z.B. in Duisburg und Piräus bei uns in Europa eindrucksvoll vorgeführt. Als das Ruhrgebiet dramatisch abbaute, stieg China ein und entwickelt Duisburg kooperativ mit zum größten Binnenhafen Europas. Als Griechenland in den größten Schwierigkeiten steckte, stieg China ein und entwickelte Piräus kooperativ zum heute erfolgreichen, größten Mittelmeerhafen. Warum nur kooperiert man mit China bei einer solchen Erfolgsgeschichte nicht? Es geht schließlich und langfristig um das Wohl und die Zukunft unserer Welt in Kooperation! Die Zeiten US-zentrierter Hegemonie sind vorbei. Endgültig!

Urheberrecht
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Oben     —   Das Netz der antiken Seidenstraße und daran angeschlossene Handelsrouten

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Peak Soil und das Klima

Erstellt von Redaktion am 17. Juli 2022

Warum uns die Klimakrise dazu drängt, die Politik des Raums neu zu erfinden

Quelle        :     Berliner Gazette

Von      :   Ela Kagel

Die durch die Pandemie COVID-19 ausgelöste Krisenwelle hat zusammen mit den steigenden Mieten auf dem Immobilienmarkt zu einem raschen Anstieg der Zahl der Obdachlosen geführt, die mit extremen Wetterbedingungen wie Hitzewellen konfrontiert sind. Höchste Zeit, über die Boden- und Wohnungsfrage nachzudenken, wie Ela Kagel in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” am Beispiel Berlins argumentiert.

Wenn wir uns die neuere Geschichte Berlins erzählen, dann geht es im Kern immer um den fortschreitenden Fraß von Freiflächen. Da, wo das „kreative Berlin“ einst entstand, in den Brachen, den Ruinen, im Niemandsland zwischen Ost und West, konkurrieren heute innerstädtische Investitionsprojekte wie die Wasserstadt Mitte oder Mediaspree um die Aufmerksamkeit der Besserverdienenden.

Im Jahr 2006 begann das Künstlerkollektiv KUNSTrePUBLIK eine fünf Hektar große, verlassene Brachfläche zwischen Mitte und Kreuzberg als “Skulpturenpark Berlin_Zentrum” für legendäre Kunstprojekte und öffentliche Aktionen zu nutzen. Vier Jahre hielt sich das Projekt, bis Verkäufe an Investoren und umfangreiche Baumaßnahmen eine weitere Nutzung unmöglich machten.

Etwa zehn Jahre später, 2021, kehrte das Kuratorenteam mit dem Projekt “RE:TURN” in den ehemaligen Skulpturenpark, der heute vollständig bebaut ist, zurück. Im Gedächtnis bleibt die letzte unbebaute Parzelle des Areals, grotesk klein, ein Schlauchgrundstück in einer Schlucht von angrenzenden Neubauten. Das Gras stand hoch auf dem Grundstück, ein paar Bäume spendeten Schatten und es gab eine improvisierte Bar. Dort wurden die Gäste nostalgisch angesichts der Tatsache, dass auch hier, auf kleinster Fläche, schon bald die Bagger anrücken würden. Der nächste Millionen-schwere Investor-Traum hatte das Grundstück bereits vereinnahmt.

Ethik des Bodens

In seiner berühmten Essay-Sammlung “A Sand County Almanac” (1949) beschreibt der Ökologe Aldo Leopold eine Ethik des Bodens, die er folgendermaßen zusammenfasst: „Eine Sache ist richtig, wenn sie dazu beiträgt, die Integrität, Stabilität und Schönheit der biotischen Gemeinschaft zu erhalten. Es ist falsch, wenn es zum Gegenteil tendiert.“ (Im Original: „A thing is right when it tends to preserve the integrity, stability, and beauty of the biotic community. It is wrong when it tends otherwise.“) Leopold ruft dazu auf, das Land, auf dem wir leben, als Gemeinschaftsprojekt zu sehen, was es zu schützen und zu erhalten gilt. So gedacht, soll das Projekt zum Ausgangspunkt einer Pflegebeziehung zwischen Mensch und Land werden.

Die Art und Weise, wie wir über Grundbesitz nachdenken, ist jedoch meist ausschließlich ökonomisch geprägt. Die Eigentümer*innen der einzelnen Parzellen des ehemaligen Skulpturenparks haben ja auch nach dieser Logik gehandelt. Niemand von ihnen hat beschlossen, sein Land bewusst als natürlichen Freiraum in der Stadt zu erhalten, stattdessen haben alle an die meistbietenden Immobilieninvestoren verkauft. Würde man sonst nicht für verrückt erklärt? Wer würde auf einem Grundstück in Berlin-Mitte schon Tomaten züchten?

Von politischer Seite wird definitiv nicht genug getan, um die rasant fortschreitende Spekulation mit dem Boden unserer Stadt zu verhindern. Man bemerkt durchaus einen gewissen Aufwind von private-public Partnerschaften, Modellprojekten und einer Rhetorik des guten Willens. Schlussendlich hat die Landespolitik aber kaum Mittel in der Hand, um den „Mietenwahnsinn“ zu stoppen. Somit können wirklich radikale Ansätze, die zu einer langfristigen Umverteilung von Land oder zu einer Entsiegelung des Bodens führen können, politisch nicht umgesetzt werden. Der Druck der Immobilienlobby, die Macht des Geldes und die Verflechtungen von Interessen sind zu groß.

Die Stadt als Gemeinschaftsbesitz

Es gibt ein paar Initiativen in Berlin, denen es auf beeindruckende Art und Weise gelungen ist, die Macht des Geldes herauszufordern und neue Denk-und Handlungsmuster stark zu machen. Eine davon ist Deutsche Wohnen & Co. Enteignen”, eine Bürgerinitiative in Berlin, die einen erfolgreichen Volksentscheid über die Enteignung und Vergesellschaftung privater Wohnungsunternehmen auf den Weg gebracht hat. Das heißt, die Mehrheit der Bürger*innen Berlins haben dafür gestimmt, dass private profitorientierte Immobiliengesellschaften, die mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin besitzen, enteignet und in Gemeinschaftsbesitz überführt werden.

Dass so etwas im Wahl-Sommer 2021 überhaupt möglich war, lag nicht zuletzt daran, dass mitten in der COVID-19-Pandemie die Wohnungskrise einen neuen Höhepunkt erreicht hatte: Die Mieten in Berlin haben sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt, während die Löhne in derselben Zeit nur unwesentlich gestiegen sind. Der Mietendeckel wurde noch vor der Wahl von den einflussreichen Immobiliengesellschaften abmoderiert und vom Verfassungsgericht schließlich gekippt. Das schuf die Basis für einen gesellschaftlichen Dialog, in dem öffentlich über Vergesellschaftung und Enteignung diskutiert worden ist.

Hinzu kommt, dass noch weitere, spannende Projekte in Berlin entstanden sind, die den Grund und Boden der Stadt dauerhaft für die Gemeinschaft sichern wollen: Die Stadtbodenstiftung zum Beispiel sieht sich als „Mit-Mach-Angebot an die Stadtgesellschaft: Projekte initiieren, Nachbarschaften stärken, durch eine breite Mobilisierung von Ressourcen wahrnehmbare Zeichen einer solidarischen Stadtentwicklung setzen.“ Nach dem Vorbild der Community „Land Trusts“ will die Stadtbodenstiftung Land in Berlin kaufen, beziehungsweise als Schenkung oder Erbe annehmen, um den Boden dauerhaft der Immobilienspekulation zu entziehen und eine gemeinwohlorientierte Bewirtschaftung zu sichern.

Auch hier steht die Idee einer Gemeinschaft im Mittelpunkt, deren Regeln und soziale Protokolle gar nicht so einfach zu erlernen beziehungsweise zu definieren sind. Obwohl der städtische Grund und Boden eigentlich allen Bürger*innen gehört, leben die meisten nicht unbedingt in diesem Bewusstsein. Im Gegenteil: Der tägliche Überlebenskampf in einer Stadt, in der sich die Spirale der Gentrifizierung immer weiter dreht, macht nicht nur müde, sondern meist auch einsam. Oft genug fehlt es schlicht an Zeit und Geld für gesellschaftliche Teilhabe. Aktivismus muss man sich zumindest zeitlich auch irgendwie leisten können. So bleibt für viele der Traum vom Gemeinschaftsbesitz eine mindestens ebenso große Utopie, wie der Erwerb eines Privatgrundstücks.

Darin liegt eine wichtige Botschaft für alle Community-Projekte, ob es sich nun um alternatives Wohnen handelt, um Gemeinschaftsgärten oder Freiflächen für Kinder und Jugendliche: Wenn es nicht gelingt, diejenigen mitzudenken und mitzufinanzieren, die gesellschaftlich marginalisiert sind, werden diese Projekte auch nicht nachhaltig wirken können. Der Schlüssel liegt in der Entwicklung von solidarischen Prinzipien, die in die DNA dieser Projekte eingebaut werden. Etwa so, wie Stadtbodenstiftung es für sich postuliert: „Über den Boden zur solidarischen Stadt“.

Hunger nach Boden

“Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.” So steht es im Grundgesetz. Gleichzeitig schützt das Grundrecht aber auch die Grundlagen der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung und der freien Marktwirtschaft. Wenn wir uns den unstillbaren Hunger nach Boden in einer Stadt wie Berlin anschauen sehen wir den Interessenkonflikt in dieser gesetzlichen Regelung. Hinzu kommen noch weitere interessante Details, etwa die Tatsache, dass man in Deutschland problemlos 3.000 Wohnungen besitzen und dabei aber vollständig anonym bleiben kann.

Christian Trautvetter leitet das Projekt “Wem gehört die Stadt?” der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In der Publikation “Wem die Stadt gehört geht uns alle was an” beschreibt er, wie Schluss gemacht werden könnte mit anonymem Immobilieneigentum. Es ist faszinierend, nachzulesen, wie einfach es doch wäre, die im Grundgesetz verankerte soziale Verantwortung des Immobilienbesitzes einzufordern, wenn nur alle beteiligten Stellen wollten. Zum Vergleich: In unseren europäischen Nachbarländern sind die Grundbücher öffentlich einsehbar.

Schaut man sich das in Artikel 11 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) verbriefte “Recht auf Wohnen” einmal genauer an, wird deutlich, dass die Vorstellungen von angemessenem Wohnraum weit über das hinausgehen, was heute für viele Menschen Realität ist. Da ist beispielsweise die Rede von “diskriminierungsfreiem Zugang zum Wohnraum” und “kultureller Angemessenheit”. Bei der Lektüre dieses Artikels wird schnell klar, dass wir heutzutage den einst selbst gesetzten Standards gewaltig hinterherhinken.

Wohnungskrise trifft Klimakatastrophe

Die Diskussion um Standards bekommt angesichts der Klimakrise eine neue Dimension: Wer wird denn noch in eine Stadt investieren wollen, die im Sommer vor Hitze kocht? Wo großflächig versiegelte Betonflächen und dichte Bebauung jede Abkühlung verhindern?

Die apokalyptischen Szenarien sind bereits heute spürbare Realität wie Tomasz Konicz zeigt. Es ist kaum anzunehmen, dass sich hier etwas von selbst verbessern wird. Schon heute sind nicht einmal mehr die Hälfte aller Stadtbäume in Berlin „gesund“, wie der Straßenbaum-Zustandsbericht von 2020 eindringlich aufzeigt. Und die Entwicklung ist dramatisch: Während im Jahre 2015 insgesamt rund 52 % der untersuchten Bäume als nicht geschädigt eingestuft wurden, sind es für 2020 nur noch rund 44 %.

Während einerseits die städtischen Ökosysteme die Belastungsgrenze erreicht haben, werden täglich neue Baustellen eröffnet und neue Flächen versiegelt. Und das, obwohl spätestens nach dem UNO Climate Report vom April diesen Jahres allen klar sein müsste, dass wir “jetzt oder nie” gegensteuern müssen.

Der Boden ist nicht nur Lebensgrundlage und Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen. Der Boden, auf dem wir leben, ist der Grund, auf dem wir unsre Gemeinschaft aufbauen: unsere Wohnräume, unsere Infrastrukturen, unsere sozialen Beziehungen. Seit 23 Jahren ist das Bodenschutzgesetz der BRD in Kraft, das die Funktionen des Bodens nachhaltig sichern und wiederherstellen soll. Noch scheint von diesem Gesetz keine spürbare Wirkung auszugehen, obwohl dies doch so dringend notwendig wäre.

Das von Öko-Aktivist*innen entwickelte Konzept „Peak Soil“ beschreibt auf der Basis wissenschaftlicher Fakten die Tatsache, dass die Menschheit mittlerweile den Scheitelpunkt der Ausbeutung des Bodens auf der Welt überschritten hat. Es fällt schwer, diesen Artikel mit einer solchen Feststellung zu beenden. Was kann man dazu noch schreiben? An wen soll man eigentlich Mahnungen richten oder Forderungen stellen, außer an sich selbst?

Gehen wir doch nochmal zurück an den Anfang dieses Textes, wo von den damaligen Besitzer*innen der Parzellen im Skulpturenpark die Rede ist. Damals, vor gerade mal zehn Jahren, schien der Verkauf der Flächen die einzige zwingende Logik für alle zu sein. Ich frage mich: Wie wäre es heute? Gesetzt den unwahrscheinlichen Fall, es gäbe heutzutage noch Privatmenschen, die über größere Flächen unbebauten Landes im Berliner Stadtzentrum verfügten, und die gerade jetzt, im historisch heißen Monat Juli 2022, bemerkten, wie essentiell so eine Frischluftschneise in der Stadt heute ist.

Würden sie auch heute noch meistbietend verkaufen oder das Land als Refugium bewusst zurückhalten, im Wissen darum, dass der Wert der künftigen Stadt möglicherweise nicht mehr auf Basis ihres Betongolds, sondern ihrer Naturflächen gemessen wird?

Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englischsprachige Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de

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Wie die Fliege im Netz:

Erstellt von Redaktion am 17. Juli 2022

Europa und die russische Atomindustrie

Von Dagmar Röhrlich

Inzwischen weiß jeder, wie abhängig Deutschland und Europa von russischem Gas sind – oder auch von russischem Öl oder russischer Kohle. Doch bei Uran denkt kaum jemand über die Herkunft nach. Das allerdings ist ein gravierender Fehler. Denn die Europäische Union bezieht rund 40 Prozent ihres Kernbrennstoffs von Russland und dem eng mit ihm verbündeten Kasachstan, wie Analysen der Nuclear Free Future Foundation und des Bundes für Naturschutz Deutschland sowie des österreichischen Umweltbundesamts darlegen.[1] Obwohl Russland selbst in der Liste der größten Produzenten von Rohuran nur unter „ferner liefen“ auftaucht, kontrolliert es neben den eigenen Minen auch rund ein Fünftel der – weltweit größten – kasachischen Uranproduktion, was das Land auf Platz zwei der Liste katapultiert, stellen die Autoren einer Studie des Columbia University Center on Global Energy Policy fest.[2] Europa, so zeigt sich, ist bei der Atomenergie stark auf Russland und dessen engste Verbündete angewiesen.

„Wir sind bei den Kernkraftwerken und bei der Nukleartechnologie eigentlich noch stärker abhängig von Russland als bei Gas oder bei Öl“, urteilt Anke Herold, wissenschaftliche Geschäftsführerin des Öko-Instituts.[3] Das ist auch der Grund, weshalb dieser Sektor bei den EU-Sanktionen gegen Russlands Energiewirtschaft ausgenommen wurde. „Das Ausmaß der Abhängigkeit zeigt sich darin, dass es fünf Tage nach Beginn der Invasion eine Sondergenehmigung für ein russisches Flugzeug gab, das Atombrennstoff in die Slowakei brachte“, erklärt der in Paris ansässige unabhängige Energie- und Atompolitikanalyst Mycle Schneider.[4] Und so fehlte die Atomsparte selbst im sechsten Sanktionspaket – obwohl das Europaparlament in seiner Resolution zu Sanktionsforderungen eindeutig den Atomsektor mit eingeschlossen hat und trotz eines Vorstoßes des deutschen EU-Botschafters, der allerdings nur von Österreich unterstützt wurde.[5]

Es geht dabei nicht nur um Rohuran, das sich relativ leicht aus anderen Lieferländern beziehen ließe. Viel gravierender ist, dass Russland auch bei der Aufbereitung und Anreicherung von Uran und der Fertigung von Brennelementen führend ist – und hinzu kommen etliche andere Verflechtungen und Abhängigkeiten. So hat niemand mehr Reaktoren errichtet: Von den insgesamt 439 Kernkraftreaktoren, die bei Abschluss der Columbia-Studie in Betrieb waren, stammen 80 aus russischer Produktion, 38 davon liefen in Russland selbst und 42 in anderen Ländern. Allein in der Ukraine gibt es aus Sowjetzeiten noch 15 russische WWER-Anlagen.[6] Solche Reaktoren liefern auch Strom in Indien, Armenien, Bulgarien, der Tschechischen Republik, Finnland, Ungarn und der Slowakei. Und dann sind da vor allem die geplanten oder noch im Bau befindlichen Anlagen in Bangladesch und Indien, in Ungarn, der Slowakei, der Türkei, China, dem Iran und Ägypten.[7] Mit 18 Projekten realisierte Russland vor der Invasion in die Ukraine mehr als ein Drittel aller Neubauten weltweit. Man ist führend beim Bau von AKW in Schwellen- und Entwicklungsländern und der größte Nuklearlieferant für China.[8]

Die Übermacht des Staatskonzerns Rosatom

Es ist ein dichtes Netzwerk, das da über die vergangenen Jahre entstanden ist. Im Zentrum steht der russische Staatskonzern Rosatom, der im internationalen Uran- und Nukleargeschäft eine Spitzenposition innehat. Er ist 2007 vom damaligen und heutigen Präsidenten Wladimir Putin per Gesetz gegründet worden. Derzeit gehören ihm mehr als 350 Unternehmen an, einige sind im Bereich erneuerbarer Energien, die meisten aber im zivilen und militärischen Nuklearsektor tätig: vom Uranbergbau über die Brennstoffproduktion bis hin zu Bau und Betrieb von Kernkraftwerken ist alles vertreten.

Die Abhängigkeit des zivilen europäischen Nuklearsektors ist vielleicht bei den 18 Sowjetreaktoren, die in der EU laufen, am augenfälligsten. Bulgarien, die Slowakei, die Tschechische Republik und Ungarn betreiben zusammen 16 Reaktoren russischer Bauart mit entsprechendem Bedarf für Brennelemente“, erklärt Mycle Schneider. In der Stromerzeugung jener Länder spielen diese Anlagen eine dominierende Rolle. Dazu kommen noch zwei WWER-Anlagen in Finnland. Insgesamt stehen diese AKW für zehn Prozent der europäischen Bruttostromkapazität.[9]

Zwar hat die US-amerikanische Westinghouse Electric Company für modernere Anlagen vom Typ WWER-1000 eine Lösung gefunden, so dass im April dieses Jahres der tschechische Energieversorger CˇEZ mit dem US-Unternehmen und dem französischen Nuklearkonzern Framatome einen langfristigen Liefervertrag über Kernbrennstoffe für diese Kraftwerke am Standort Temelín unterzeichnete. Dort waren die neuen Brennelemente seit 2018 getestet und ihr Einsatz von der Atomaufsicht genehmigt worden.[10] Doch bei den 16 älteren Anlagen vom Typ WWER-440 hängen die Betreiber von Lieferungen der Rosatom-Tochter TWEL ab. Das gilt für die vier Reaktorblöcke im tschechischen Dukovany, vier weitere im slowakischen Bohunice und Mochovce, vier im ungarischen Paks, für den Reaktor im slowenischen Krško, zwei Blöcke im bulgarischen Kosloduj und die beiden im finnischen Loviisa. Die Euratom-Versorgungsagentur ESA beurteilt diese Abhängigkeit schon seit langem kritisch und sieht darin eine „signifikante Verwundbarkeit“.[11]

Die Brennelemente sind jedoch nur ein Glied in der Kette. Selbst wenn bei Westinghouse die derzeit laufenden Entwicklungen für die alten WWER-440-Anlagen erfolgreich abgeschlossen und alle Lieferverträge mit TWEL ausgelaufen sein werden, bedeutet das nicht, dass Russland seine zentrale Position verlöre. Denn die Betreiber der WWER-Kraftwerke müssen bei Instandhaltung, Materialprüfung oder Ersatzteilen mit dem Rosatom-Firmenkonglomerat kooperieren. Ersatzteile anderer Unternehmen können schon deshalb nicht eingebaut werden, weil atomrechtliche Genehmigungsverfahren Jahre dauern. Und dann sind da noch Haftungsfragen, die sich bei Störungen stellen, sobald westliche Firmen Arbeiten in den Reaktoren sowjetischer Bauart übernehmen. Mehr noch: „Rosatom hat sich in der Vergangenheit immer bemüht, Komplettpakete anzubieten“, so Anke Herold vom Öko-Institut. „So betreibt der Konzern Kernkraftwerke in der Slowakei. Da ist die Abhängigkeit natürlich deutlich größer, als wenn man ‚nur‘ die Brennelemente aus Russland bezieht.“

Einfluss bis tief in den westeuropäischen Nuklearsektor

Doch Russlands Einfluss reicht auch tief in den westeuropäischen Nuklearsektor hinein. Frankreich unterhält enge Beziehungen mit russischen Nuklearkonzernen. Das französische Unternehmen Areva beispielsweise kooperiert für die Produktion von Brennelementen für westeuropäische Anlagen mit dem russischen Konzern TWEL. Drei westeuropäische Reaktoren sollen mit Brennelementen aus dieser Zusammenarbeit versorgt werden.[12] Noch im Dezember 2021 hat zudem Framatome ein strategisches Kooperationsabkommen mit Rosatom unterzeichnet.[13] Es liegt derzeit allerdings auf Eis. Auch beim Neubau gibt es intensive Verflechtungen zwischen Rosatom und Unternehmen aus Frankreich, Deutschland, Tschechien oder Ungarn, etwa bei den Projekten Akkuyu in der Türkei, El Daaba in Ägypten oder auch Leningrad II in Russland.[14]

Wohl nur zufällig gescheitert ist der Plan von Framatome und TWEL, in einem Gemeinschaftsunternehmen im niedersächsischen Lingen Brennelemente zu produzieren. Die EU-Kommission hatte dem Kaufvertrag für die Brennelementefabrik bereits zugestimmt. Auch das Bundeskartellamt hatte den Einstieg der Russen genehmigt, doch dann lag dieser beim Wirtschaftsministerium, ohne dass entschieden wurde. Mit Kriegsbeginn zog Rosatom den Antrag zurück.

Quelle      :          Blätter-online        >>>>>         weiterlesen

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Oben         —   Der russische Präsident Wladimir Putin trifft sich mit Rosatom-CEO Alexey Likhachev.

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Die Geschmeidigen mit 40

Erstellt von Redaktion am 16. Juli 2022

„Was Frau Baerbock aufwärmt, ist sehr konservativ“

Das Interview mit Nora Bossong führte Peter Unfried.

Die Schriftstellerin Nora Bossong über die Generation der 40-Jährigen – Christian Lindner, Annalena Baerbock – und ihren gehetzten Versuch, alles nebeneinander hinzukriegen.

taz am wochenende: Sie haben früher an linke Utopien geglaubt, heute nicht mehr. Was hat Sie umdenken lassen, Frau Bossong?

Nora Bossong: Ich stand mal einem aktivistischen Künstler nah, der für seine Utopien gefeiert wird. Diese Zeit hat mich extrem ernüchtert. Natürlich ist es schwierig, von einem narzisstischen Utopievermarkter auf Utopien als solche zu schließen. Aber ich habe selten so viel Zynismus und Ausnutzung anderer erlebt wie in dieser Zeit, als ich da hinter die Kulissen blickte.

In unseren linksliberalen Milieus galt das realitätsferne Feiern von Utopien bis eben noch als ein Zeichen von moralischer Exzellenz. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ist ein Bruch unserer Zeit. Welche Utopien sollten gerade die 40-Jährigen schleunigst vergessen, über die Sie ein Buch geschrieben haben?

Grundsätzlich glaube ich eher, dass man sehr früh verzagt ist, was die Umsetzung von Wandel angeht. Dass man zu schnell klein beigegeben hat, zu angepasst war, also nicht genügend rebelliert hat gegen die Älteren, oder die, die am „Weiter so“ interessiert waren.

Wie kommt das?

Es hat vor allem auch an einem Mangel an Fantasie gelegen. Das ist mir gestern durch den Kopf gegangen, als ich mal wieder „Die Enden der Parabel“ von Thomas Pynchon las, bei dem die Fantasie wirklich überbordend ist. Das Buch hat eine unfassbare Vorstellungskraft. Ein einziger LSD-Rausch! Die Literatur von heute hat im Vergleich dazu den Fantasie-Überschuss eingehegt. Wenn man das auf die Politik überträgt, dann ist man vielleicht auch hier versucht, eine glatte Oberfläche zu schaffen.

In Ihrem Buch „Die Geschmeidigen“ analysieren Sie, dass jene 40-Jährigen, die jetzt in der ersten Reihe stehen oder dahin drängen, einerseits kompromissbereiter und fantasieloser daherkommen als klassische 68er- und Boomer-Politiker, sich andererseits aber für die Größten halten. Ich denke da sofort an Christian Lindner, Jahrgang 1979, und Annalena Baerbock, Jahrgang 1980.

Juni 2021

Also, was diese Jüngeren in der Regierung auf jeden Fall nicht auszeichnet, ist ein Übermaß an Demut. Sie sind nicht mehr superjung, aber für eine politische Spitzenposition schon sehr jung, und sie glauben, dass sie die Dinge viel besser können als die Leute, die noch vor ihnen und altersmäßig über ihnen stehen. Das ist natürlich eine gewisse Anmaßung, aber im Auftritt viel sanfter, als es die 68er waren. Die haben sich überhaupt nicht angepasst, sondern den offenen Zwist mit der Nazigeneration vor sich eröffnet. Die Klimajugend hat jetzt wieder ähnliche Narrative, auch von der Wortwahl her. Ich saß neulich auf diesem Podium mit Olaf Scholz, bei dem Luisa Neubauer einen Nazivergleich des Kanzlers herauszuhören meinte. Das scheint mir viel über Neubauer zu sagen, weil sie gar keine andere Zeit als Vergleichsmöglichkeit in Erwägung zu ziehen scheint.

Mit welcher Zeit hat Scholz denn Ihrer Deutung nach die schwarzgekleideten Aktivisten verglichen?

Ich glaube, er hat die 70er gemeint, also die Linksradikalen, die dann ja auch zur Zersplitterung der Linken geführt haben. Jedenfalls agieren die in den 80ern Geborenen anders als die Klimajugend. Natürlich sind sie alle unterschiedlich, aber es eint sie ein gewisser Pragmatismus und dass sie auf eine leisere und scheinbar angepasste Art und Weise das Zepter zu übernehmen versuchen. Da wird keine Palastrevolte angezettelt; es ist eher so ein Wegnicken der Älteren.

Teile dieser Alterskohorte sind international ausgebildet, haben liberale und solvente Eltern, die sie gefördert haben, und bekamen den Eindruck vermittelt, dass die ganze Welt ihnen offensteht.

Ja, aber sie haben auch ein gehetztes Leben, weil sie in einer Spirale der Übererfüllung von unterschiedlichen Anforderungen sind. Da ist ja Anne Spiegel …

… die kurzzeitige Familienministerin der Grünen, Jahrgang 1980 …

… ein, in Anführungszeichen, gutes Beispiel. Eine Politikerin, die versucht hat, familiär wie beruflich Dinge überzuerfüllen, Großfamilie und diverse Spitzenpositionen in der Politik, in einer Phase ihres Lebens, in der alles so auf Kante genäht ist, dass es nur funktionieren kann, wenn nicht irgendein Schicksalsschlag dazwischenkommt.

Dann kam der Schlaganfall ihres Mannes.

Es hätte auch irgendwas anderes sein können. Vielleicht ist es ja das, was man als die Utopie der 40-Jährigen bezeichnen könnte: Die Übererfüllung von allen Möglichkeiten, die uns das Leben bietet. Das Problem ist, dass man in diesem Modus der Übererfüllung nicht mehr sagen kann: Ich schaffe das alles jetzt nicht mehr. Denn dann müsste man sich das Scheitern dieser Utopie eingestehen.

Man muss als um 1980 geborene neue Mittelschicht verstehen, dass man alle Möglichkeiten hat, aber nicht alle gleichzeitig haben kann?

Ich glaube nicht, dass man alle Möglichkeiten hat. Man sollte vielleicht besser verstehen, dass eine Möglichkeit sich nur realisieren lässt zuungunsten anderer Möglichkeiten. Die 40-Jährigen sind eine Generation, die politisch sehr kompromissfähig ist, aber überhaupt nicht, was die eigene Selbstverwirklichung angeht.

Da gilt der Verzicht appellativ und das Gerede von „Weniger ist mehr“ gerade bei den Grünen überhaupt nicht.

Es soll immer alles gehen, und das Mittel ist Optimierung. Genau dadurch macht die Generation sich aber das Leben auch extrem schwer.

Also entweder Spitzenpolitiker oder Spitzeneltern?

Nach dem Rücktritt von Anne Spiegel flammte kurz in den sozialen Medien eine Diskussion über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf. Ich finde es gut und wichtig, darüber zu reden. Nur weiß ich nicht, ob man das unbedingt anhand von politischem Spitzenpersonal diskutieren sollte oder vielleicht besser anhand der Pflegerin mit zwei Nebenjobs? Als Annalena Baerbock im Wahlkampf sinngemäß sagte, wenn sie Kanzlerin sei, werde es Momente geben, in denen sie bei ihren Kindern sein werde und nicht im Kanzleramt; das hat nicht dazu geführt, dass ich unbedingt gewillt war, sie zu wählen.

Nein? Einigen Leuten ging das Herz auf.

Ich dachte, es ist natürlich total schön, dass sie bei ihren Kindern sein will, aber wenn es hart auf hart kommt, hätte ich gern die Kanzlerin im Amt. Letztlich sagt der Satz vor allem etwas darüber, wie leicht Frauen in Deutschland als Rabenmütter abgestempelt werden. Dem wollte sie, glaube ich, zuvorkommen.

Sie gehören zu den wenigen linksliberalen Frauen, die die Außenministerin nicht als Rollenmodell einer emanzipatorischen Politikerin feiern. Im Tagesspiegel haben Sie ihr eine „reaktionäre“ identitätspolitische Zuspitzung auf das eigene Erleben als Frau und Mutter attestiert, weil sie eine Aufforderung zum „Härtetest“ mit täglichem Wodkatrinken von Russlands Außenminister mit den Worten ablehnte: „Ich habe zwei Kinder geboren.“

Die Argumentation ist, als ob ich sagen würde: Ich habe Geburtswehen überstanden, deswegen bin ich eine gute Schriftstellerin. Oder deswegen bin ich top in Sicherheitspolitik.

Wenn Kinderkriegen ein Kriterium politischer Qualifikation sei, sagten Sie, „dann wäre ja Magda Goebbels eine ganz starke Politikerin gewesen“. Was Annalena Baerbocks Verteidiger sehr empörte, weil sie mit dem Satz irrelevante Männlichkeitsgesten entlarvt habe. Wie sehen Sie das inzwischen?

Sie hat unpassende Männlichkeitsgesten ja nur durch ebenso unpassende Weiblichkeitsgesten ersetzt. Das Biologische kommt da in einem Maße wieder in einen politischen Kontext rein, in dem es wirklich nichts zu suchen hat. Es freut mich für Frau Baerbock, dass sie zwei Kinder hat. Punkt. Aber das ist keine Qualifikation für ihr Amt als Außenministerin, genauso wenig wie es eine Disqualifikation von Angela Merkel war, dass sie keine Kinder hat, wie das anfangs aus reaktionären Kreisen gegen sie angeführt wurde. Was Frau Baerbock hier wieder aufwärmt, ist genau das Gleiche. Sie tut nur so, als wäre es progressiv, weil sie von links zu kommen scheint. Aber es ist sehr, sehr konservativ.

Wen fanden Sie denn bei Ihren Treffen mit den Spitzenpolitikern dieser Generation am interessantesten, sei es nun positiv oder negativ?

Sehr gut klar kam ich mit Katja Kipping, die Spitzenpolitikerin war, aber eben nicht mehr an der Spitze der Linkspartei steht. Bei ihr hat mir die Ernsthaftigkeit in der Auseinandersetzung sehr imponiert, ihre nicht aufgesetzte Normalität und intellektuelle Neugier. Kipping war auch die einzige Politikerin, die mir Fragen gestellt hat, anstatt nur meine Fragen zu beantworten.

Was ist mit unserem Finanzminister? Er könnte doch ein Role Model sein für 40-Jährige, die auf verdrucksten Sozialdemokratismus und grünes Gouvernantentum allergisch reagieren – und erst Recht auf Lindner-Hass?

Christian Lindner kenne ich, seit er FDP-Generalsekretär war. Also, ich hasse ihn nicht. Aber mir fällt schon auf, dass er sehr viel Hass auf sich zieht, stärker als andere Politiker in gleichrangigen Positionen. Was ihn wiederum eint, beispielsweise auch mit Baerbock, ist eine bestimmte Art der Performance, die sich etwa auf dem Viererselfie mit Wissing und Habeck kurz nach der Wahl zeigt. Selbstvermarktung, Selbstbewusstsein, und, wie die FAZ schrieb: Strategie hat Ideologie abgelöst – und die Kellner den Koch.

Emmanuel Macron, Jahrgang 1977, gefällt Ihnen besser als Lindner?

Literarische Bildung hat für Macron einen Stellenwert. Ich glaube, das wird in der deutschen Politik von fast allen unterschätzt. Und dann sind sie überrascht, wie toll Habeck reden kann.

Sie zitieren in Ihrem Buch einen pompösen Satz von Christian Lindner. Er sagt über seine Generation: „Was manchen möglicherweise fehlt, das ist die charakterliche Härte, wie sie die Generation der Kriegsteilnehmer besaß.“

Der Satz wurde bei der Autorisierung noch ein bisschen zugespitzt. Gerhart Baum …

… sozialliberaler FDP-Grande und Lindners Nemesis …

… war ja bei meiner Buchpremiere. Danach sagte er: „Na ja, die Härte, die hat er ja, der Lindner. Und den Krieg jetzt auch.“

Die „ausgestellte Authentizität meiner Generation“, schreiben Sie, „verhindert wirkliche Tiefe“. Was meinen Sie damit?

Wenn Andreas Scheuer oder Dorothee Bär oder wegen mir auch Christian Lindner uns über soziale Medien mitnehmen, um ihnen am Sonntagnachmittag zuzugucken, wie sie Fahrrad fahren oder angeln, dann tun sie so, als ließen sie uns ganz nah ran. Aber es ist natürlich eine vollkommen kontrollierte Oberflächendarstellung.

Ist das denn bei Vizekanzler Robert Habeck anders?

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —      deutscher Schriftsteller de:Nora Bossong beim Erlanger Poetenfest 2015

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Verordnungen für Bürger?

Erstellt von Redaktion am 13. Juli 2022

Gasnotstand und verordnete Solidarität

Ein Versagen von sich Selbsternannten und bezahlten Nieten!

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      :  Walter Gröh

Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit drohen.  Ab November wird es ernst: Dann wird unser monatlicher Gasverbrauch wieder 2,5 mal so hoch wie jetzt im Sommer [1] und sehr teuer sein.

Der Deutschlandfunk stimmte uns – regierungsnah und pragmatisch – auf die kommenden Härten ein mit seiner Sendung „Mangelware Gas – Deutschland im Energie-Notstand“ [2]Da erfuhr man:

  • Gasverbrauch reduzieren ginge kurzfristig, also für diesen Winter, nur auf zwei Arten 1. Heiztemperaturen senken und
    2. industrielle Produktion zurückfahren.
  • Und der Winter 2023/2024 verspreche (durch Gasknappheit) noch schlimmer zu werden.
  • Und wer wie viel bekommt, sich also wie viel leisten kann, das müsse der Preis entscheiden.

Und Bundeskanzler Scholz warnt: „Wenn plötzlich die Heizrechnung um ein paar hundert Euro steigt – das ist sozialer Sprengstoff.“

Warum das alles?

Da Russland einen „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ (was Kriege, die Staaten beginnen, immer sind) führt, müsse man den Aggressor …

a) bestrafen,
b) von seinen Geldquellen abschneiden, von den Einnahmen aus den Exporten von Kohle, Öl, Gas, Uran,
c) durch einen Handelskrieg zwingen, vielleicht irgendwann mit dem Krieg aufzuhören, wenn er keine Devisen mehr hat.

Oder sollte die Ruinierung der russischen Wirtschaft durch den Handelskrieg gar nicht ein Mittel für Frieden sein, sondern das imperialistische Ziel dieser Politik?

Dumm nur …

a) dass Russland jetzt ungefähr genauso viel einnimmt (oder sogar mehr) als in früheren Jahren: mit geringeren Exportmengen, aber in die Höhe getriebenen Preisen. Der Erdgaspreis betrug auf dem Weltmarkt
– im Juli 2022 8,7 – 5,5 Dollar / MMBTU,
– 2010 – 2021 im Schnitt 3 Dollar. [3]
Andere Rohstoffe verkauft Russland zu Schleuderpreisen.

b) dass Russland, der zweitgrösste Waffenexporteur der Welt, „keine Waffen vom Weltmarkt braucht. [Die Russen] produzieren sie selber. Also sogar wenn sie keine Energieträger mehr verkaufen und keine Dollars mehr einnehmen würden, können sie genauso viele Waffen produzieren wie mit hohen Exporterlösen.“ [4a]

c) dass zwar einige Länder wie Polen, Finnland und die baltischen Staaten ihre russischen Importe seit Kriegsbeginn reduziert haben, aber andere wie China, Indien und EU-Mitglied Frankreich ihre Einkäufe erhöhten und China (mit 12,6 Milliarden Euro in den ersten 100 Tagen des Kriegs), Deutschland (12,1 Mrd. €) und Italien (7,8 Mrd. €) nach wie vor die grössten Importeure russischer Energieträger sind. [5]

d) dass durch einen Totalausfall russischer Gaslieferungen die deutsche Wirtschaftsleistung in den Wintermonaten um einen zweistelligen Prozentwert abstürzen könne, wie der Deutsche Industrie- und Handelskammertag warnt.

Die vom Bund bereitgestellten 15 Milliarden Euro könnten nicht ausreichen, um Gas einzukaufen, um die gesetzlichen Speicherziele für den Oktober und den November zu erreichen, warnt die Bundesnetzagentur. Und Gas-Grossimporteure wie Uniper werden wohl durch Staatshilfen, also letztlich von der Gesellschaft, gerettet werden.

Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit drohen hochzuschnellen, viele drohen weiter zu verarmen, der soziale Frieden, der heute noch so friedlich ist, wäre bedroht.

Möglicherweise schaden also die Handelsboykotte uns Bürgern mehr als dem russischen Aggressor. Daraus ziehen manche den merkwürdigen Schluss, die Bundesregierung sollte den Wirtschaftskrieg intensivieren und „sehr viel schärfere Massnahmen“ anordnen wie einen „Rückzug der westlichen Konzerne aus dem russischen Markt: keine Produktion mehr in Russland, kein Export mehr dorthin. Das dürfte die industrieschwache russische Wirtschaft stark treffen“.

Das ISW München schränkt aber selbst ein, dass das die russische Wirtschaft „auf Dauer als Juniorpartner und Rohstofflieferant an China binden“ würde. [4b]

Was folgt daraus?

Mit Waffenlieferungen und dem Handelsboykott wurde Deutschland Kriegspartei. Die Rhetorik ist klar: Scholz zeigt (ein bisschen) „Solidarität mit der Ukraine – so lange wie es notwendig ist.“

Doch unklar ist das Kriegsziel, und wie „lange es(?) notwendig ist“, und welchen Menschen das nützt. Klar sind ansonsten nur zwei Sachen:

  • dass Deutschland sich damit fest zur sogenannten „Wertegemeinschaft“ unter der Führung der USA bekennt
  • und dass das bei uns vielen teuer zu stehen kommen wird.

Liebe Anhänger der Grünen, die Ihr zu 58 % für einen sofortigen Einfuhrstopp von russischem Erdgas und Öl seid [6]: Ist es Euch das wert, für Habecks & Baerbocks „werteorientierte Aussenpolitik“ diese sozialen Kosten und diese Militarisierung der Politik mitzutragen?

Wenn es nur darum gehen würde, einen „Waffenstillstand jetzt“ zu erreichen, könnte man den gleichnamigen Appell [7] ernsthaft diskutieren. Hier schlagen Augstein, Kluge, Precht, Welzer, Yogeshwar, Zeh u.v.a. vor:

Datei:GasanlandestationKnock retuschiert.jpg

„Der Westen muss sich nach Kräften bemühen, auf die Regierungen Russlands und der Ukraine einzuwirken, die Kampfhandlungen auszusetzen. Wirtschaftliche Sanktionen und militärische Unterstützung müssen in eine politische Strategie eingebunden werden, die auf schrittweise Deeskalation bis hin zum Erreichen einer Waffenruhe gerichtet ist.“[8]

Ist das weltfremd? Auch nicht mehr als der sinnlose Handelsboykott.

Aber die politische Klasse ignoriert diesen Appell weitgehend oder lehnt ihn ohne Argumente ab:.„Grüne reagieren ungehalten auf [den] neuen offenen Brief deutscher Prominenter“. Der Grüne Co-Parteivorsitzender Omid Nouripour:

„Dieser Aufruf stammt von Menschen, die bequem auf der Couch sitzend, wohl angesichts der verstörenden Bilder aus der Ukraine die Geduld verloren haben.“

Doch „Wer Menschenleben schützen will, muss jetzt der Ukraine beistehen.“ [9]

Und „beistehen“ heisst sie kämpfen lassen, und „Dialog und Härte“ (Baerbock) gegenüber Russland und China zeigen. Doch das Problem so einer „werteorientierten Aussenpolitik besteht darin, dass sie im Endeffekt dialogunfähig ist, weil sie politische Interessengegensätze in die Sphäre der Moral verschiebt. Interessengegensätze sind prinzipiell lösbar. Moralische Gegensätze zwischen Gut und Böse sind es nicht.“ [11]

Dagegen ist ein „Waffenstillstand jetzt“ populärer, als in der veröffentlichten Meinung dargestellt: 35 % der Mitte Mai repräsentativ befragten Europäer:innen sind für einen schnellen Friedensschluss, auch wenn das Zugeständnisse der Ukraine voraussetzt. Am stärksten wird diese Forderung in Italien (52 Prozent) und Deutschland (49 Prozent) vertreten. [10]

Wenn es im Winter in unseren Wohnungen kalt wird, kann man das Problem vielleicht mit der Methode Ceausescu lösen. So weit, so verfahren.

Walter Gröh

Fussnoten:

[1] www.bdew.de/service/daten-und-grafiken/monatlicher-erdgasverbrauch-deutschland/

[2] www.deutschlandfunk.de/zur-diskussion-100.html

[3] www.finanzen.net/rohstoffe/erdgas-preis-natural-gas / www.boerse.de/rohstoffe/Erdgaspreis/XD0002745517

[4] www.isw-muenchen.de/2022/07/russland-bestrafen-durch-ein-energie-embargo-keine-gute-idee/

[5] www.zdf.de/nachrichten/politik/oel-gas-export-ukraine-krieg-russland-100.html

[6] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1297309/umfrage/umfrage-zu-einem-importstopp-von-russischen-rohstoffen-nach-parteien/ einen sofortigen Einfuhrstopp russischer Energieträger wollen: SPD-FDP-CDU: 42 %, AfD: 10 %

[7] Appell „Waffenstillstand jetzt!“: www.heise.de/tp/featur?es/Krieg-in-der-Ukraine-Waffenstillstand-jetzt-7158785.html www.zeit.de/2022/27/ukraine-krieg-frieden-waffenstillstand / Ähnlich der Friedensplan des italienischen Aussenministers Luigi Di Maio mit seinen vier Schritten: www.heise.de/tp/features/Russlands-Krieg-gegen-die-Ukraine-Vier-Schritte-nur-zum-Frieden-7132665.html?seite=all [8] www.heise.de/tp/features/Krieg-in-der-Ukraine-Waffenstillstand-jetzt-7158785.html

[9] https://rp-online.de/politik/deutschland/ukraine-krieg-gruene-reagieren-ungehalten-auf-neuen-offenen-brief_aid-72386101 (am 4.7.2022)

[10] https://ecfr.eu/publication/peace-versus-justice-the-coming-european-split-over-the-war-in-ukraine/#the-divided-west-germany-versus-italy

[11] https://jacobin.de/artikel/die-neue-aussenpolitik-ist-selbstgerecht-annalena-baerbock-china-russland-wertegeleitete-aussenpolitik/

Anhang: Bemerkungen zum Krieg

„War on Terror“ = „Krieg gegen den Terror“: der USA seit 11.9.2001

„War on Drugs“ = „Krieg gegen Drogen“: US-Drogenpolitik seit US-Präsident Richard Nixon, 1972

„War on Poverty“ = „Krieg gegen Armut“, US-Präsident Lyndon B. Johnson, 1964

“Frieden ist nicht alles ist. Aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Willy Brandt

„Ich mahne unablässig zum Frieden; dieser, auch ein ungerechter, ist besser als der gerechteste Krieg.“ – Cicero, Ad Atticum, VII, XIV, 3

„Nicht, wer zuerst die Waffen ergreift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt.“ – Niccolò Machiavelli, Florentiner Geschichten, VII

„Terrorismus ist der Krieg der Armen und der Krieg ist der Terrorismus der Reichen.“ – Peter Ustinov, Achtung! Vorurteile, 2003

„Wir sind der Auffassung, dass Kriege nur dann und nur so lange geführt werden können, als die arbeitende Volksmasse sie entweder begeistert mitmacht, weil sie sie für eine gerechte und notwendige Sache hält, oder wenigstens duldend erträgt. Wenn hingegen die grosse Mehrheit des werktätigen Volkes zu der Überzeugung gelangt – und in ihr diese Überzeugung, dieses Bewusstsein zu wecken ist gerade die Aufgabe, die wir Sozialdemokraten uns stellen –, wenn, sage ich, die Mehrheit des Volkes zu der Überzeugung gelangt, dass Kriege eine barbarische, tief unsittliche, reaktionäre und volksfeindliche Erscheinung sind, dann sind die Kriege unmöglich geworden – und mag zunächst der Soldat noch den Befehlen der Obrigkeit Gehorsam leisten!“ – Rosa Luxemburg, Verteidigungsrede am 20. Februar 1914 vor der 2. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt (Main).

„Wie man den Krieg führt, das weiss jedermann; wie man den Frieden führt, das weiss kein Mensch. Ihr habt stehende Heere für den Krieg, die jährlich viele Milliarden kosten. Wo habt ihr eure stehenden Heere für den Frieden, die keinen einzigen Para kosten, sondern Millionen einbringen würden?“ – Karl May, Ardistan und Dschinnistan I, 1909, S. 17

„Friede den Hütten! Krieg den Pallästen!“ – Georg Büchner, Der Hessische Landbote, Erste Botschaft. Darmstadt, Juli 1834. Ich bringe den Krieg. Nicht zwischen Volk und Volk: ich habe kein Wort, um meine Verachtung für die fluchwürdige Interessen-Politik europäischer Dynastien auszudrücken, welche aus der Aufreizung zur Selbstsucht Selbst[üb]erhebung der Völker gegen einander ein Prinzip und beinahe eine Pflicht macht.“ – Friedrich Nietzsche, Nachlass, KSA 13: 25

„der Terrorismus ist ein Krieg der Armen und der Krieg ist der Terrorismus der Reichen. Der Krieg ist kein Mittel im Kampf gegen den Terrorismus.“ – Peter Ustinov britischer Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur 1921 – 2004, 22. April 2003 https://www.welt.de/print-welt/article689952/Der-Krieg-ist-der-Terrorismus-der-Reichen.html

„Ich hab den Krieg verhindern wollen.“ – Georg Elser, deutscher Widerstandskämpfer und Hitler-Attentäter *1903, hingerichtet am 9. April 1945 im KZ Dachau, abgedruckt auf deutscher Sonderbriefmarke zum 100. Geburtstag von Georg Elser aus dem Jahr 2003.

„Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Charta der Vereinten Nationen, Kapitel 1, Artikel 2 Absatz 4, von 26. Juni 1945

Der „Krieg der Geknechteten gegen ihre Unterdrücker ist der einzig rechtmässige Krieg in der Geschichte…“ – Karl Marx- , Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, 358.,

„In dem Masse, wie die Ausbeutung des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Ausbeutung einer Nation durch die andere aufgehoben. – Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindselige Stellung der Nationen gegeneinander. Karl Marx, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 479.

„Der internationale Aggressions- und Eroberungskrieg stellt sich nur oberflächlich als Krieg zwischen Staaten dar. Seinem Wesen nach sei er ein Krieg zwischen den herrschenden Klassen verschiedener Staaten, um den Herrschaftsbereich auszudehnen, sei es gegenüber den unterdrückten Klassen zur Verhinderung revolutio0närer Erhebungen oder als nationaler Befreiungskrieg unterdrückter Völker und Klassen gegen die herrschenden Klassen.“ Rezeption von Marx’ und Engels Sicht des Krieges, https://www.lunapark21.net/inhalt-heft-58-weltumordnungen/

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Unten      —      Norsea Gas Terminal (NGT) – Gasanlandestation an der Knock in Emden. Sie empfängt norwegisches Nordseegas und damit einen wesentlichen Teil des deutschen Erdgasimports.

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Namensnennung: Frisia Orientalis

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Eine Chance verpasst –

Erstellt von Redaktion am 12. Juli 2022

Verbrauch fossiler Rohstoffe so hoch wie nie

Quelle      :        INFOsperber CH.

Daniela Gschweng /   

Die grüne Revolution nach Covid-19 blieb aus. Aber es gibt Hoffnung – eine wichtige Rolle dabei spielen Städte.

Nach den ersten Lockdowns versprachen Politiker weltweit, die Covid-Krise zu nutzen, um grüne Technologien nach vorne zu bringen. Das Ergebnis ist ernüchternd. Zwei Jahre später ist klar: «Build Back Better» ist gescheitert. Aber nicht überall.

Das resümiert die Organisation REN21 (Renewable Energy Policy Network for the 21st Century), der mehr als 80 nationale und internationale Organisationen, Industrieverbände, Regierungen, Nichtregierungsorganisationen und Hochschulen angehören, in ihrem Jahresbericht.

Oder eher: in einem kleinen Buch zum Stand der Dinge bei nachhaltigen Energien. Die Arbeit, an der mehr als 650 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mitgewirkt haben, umfasst neben Datenauswertungen und internationaler Expertise viele Fallbeispiele und ist mehr als 300 Seiten lang.

Die guten Neuigkeiten in Kürze:

  • Der Ausbau regenerativer Energiequellen wächst schnell. Noch nie gab es so viel Erneuerbare wie 2021.
  • Mehr als 10 Prozent des weltweiten Strombedarfs werden durch Solar- und Windkraft abgedeckt.
  • Im vergangenen Jahr wurden 366 Milliarden Dollar in erneuerbare Energien investiert, so viel wie nie zuvor.
  • Auch steigende Preise konnten das grüne Wachstum bisher nicht abbremsen.
  • Wind- und Wasserkraft, Geothermie und Bioenergien spielen eine wachsende Rolle in der öffentlichen Diskussion.
  • Nicht zuletzt aufgrund der russischen Invasion in die Ukraine streben viele Länder verstärkt nach Unabhängigkeit von Kohle, Öl und Gas.

Die schlechten Neuigkeiten:

  • Wir verbrauchen mehr fossile Rohstoffe als jemals zuvor.
  • Seit zehn Jahren stagniert der Anteil Erneuerbarer am Endenergieverbrauch weltweit.
  • «Build Back Better» ist fehlgeschlagen. Der 2021 global wieder steigende Energiebedarf wurde vor allem mit fossilen Rohstoffen aufgefangen, was zwei Milliarden Tonnen CO2-Emissionen (6 Prozent) zusätzlich bedeutete.
  • Öl und Gas dominieren weiter. Neben Fortschritten bei der Stromerzeugung hinkt vor allem der Transport- und Mobilitätssektor hinterher.
  • In fossile Rohstoffe wird weitaus mehr investiert als in Erneuerbare. 2020 wurden weltweit Subventionen von 5900 Milliarden Dollar dafür ausgegeben. Das entspricht 7 Prozent des globalen Bruttosinlandsprodukts (BIP).
  • Die Pariser Klimaziele zu erreichen, wird so schwierig bis unmöglich.

Viele Regierungen wünschen sich derzeit, sie hätten mehr zur Förderung Erneuerbarer getan. «Wir geben weltweit 11 Millionen Dollar pro Minute für die Subventionierung fossiler Brennstoffe aus», zitiert die «BBC» die REN21-Vorsitzende Rana Adib. Obwohl erneuerbare Energien wirtschaftlich durchaus eine Alternative zu fossilen Brennstoffen seien, sei der Markt nicht fair.

Städte treiben die Nachhaltigkeit voran. Zum Beispiel Belgrad. Und Amsterdam und Le Havre und Durban und Essen.

Aber es gibt Hoffnung. In der serbischen Hauptstadt Belgrad zum Beispiel. Die Stadt, in der rund 1,7 Millionen Menschen leben, plante im vergangenen Jahr 5,2 Milliarden Euro ein, um bis 2030 die Luftqualität zu verbessern und CO2-Emissionen zu reduzieren. Mit dem Geld will Belgrad unter anderem Zug- und Tramlinien ausweiten. 1,2 Milliarden Euro sollen helfen, öffentliche und private Fahrzeuge, Busse und Taxis zu elektrifizieren und den Fuss- und Veloverkehr zu fördern. Drei Milliarden Euro sind eingeplant, um Gebäude besser zu isolieren und Heizungsnetze zu verbessern. Die Gasversorgung soll in Zukunft vermehrt aus Erneuerbaren bestehen, die lokal produziert werden. Windparks, Müllverbrennung und Biogas sollen insgesamt rund 170 Megawatt an Strom und Wärme liefern.

Städte sind besonders von der Klimakrise betroffen

Weitere Positivbeispiele sind Helsinki, Durban, Le Havre und Essen. Die Stadt, stellt REN21 fest, ist einer der wichtigsten Akteure der Zukunft, um damit nur eines von sieben Kapiteln herauszugreifen. Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt in Städten. Städte können nachhaltige Entwicklung massgeblich vorantreiben. Wenn es schlecht läuft, könnten sie aber auch zu Katastrophenschauplätzen der Klimakrise werden.

Viele Auswirkungen der Klimakrise wie Luftverschmutzung, Überschwemmungen oder Hitze kommen in Städten zusammen. Dazu müssen sie sich besonders mit Armut und Ungleichheit auseinandersetzen. Etwa eine Milliarde Menschen lebt in städtischen Slums oder in Elendsquartieren an den Rändern grosser Städte.

Der urbane Bedarf an Heizung, Kühlung und Transport wächst ständig, vor allem in Afrika und Asien. Drei Viertel des globalen Endenergieverbrauchs und ein entsprechender Anteil der CO2-Emissionen entfällt auf Städte.

Viele Nachhaltigkeitsprojekte wegen Covid-19 zurückgestellt

Die Lebensqualität der ärmeren Einwohner zu verbessern und dabei nachhaltig zu wirtschaften, ist für viele Städte ein wichtiges Ziel. REN21 führt mehrere Beispiele auf, darunter ein Projekt in Houston, Texas, in dem 5000 einkommensschwache Haushalte neu mit Solarenergie versorgt wurden.

Leider hätten viele Städte Nachhaltigkeitsprojekte während der Pandemie verschoben, schreiben die Autorinnen und Autoren. Während die Steuereinnahmen schrumpften, hatte die Bekämpfung von Covid-19 höhere Priorität, das gelte von Thailand bis Michigan.

Die Stimme der Städte

Änderungen in urbanen Zentren betreffen viele Menschen. 1500 Städte weltweit haben ein nachhaltiges Entwicklungskonzept oder entsprechende politische Ziele. Fast ein Drittel (30 Prozent) der städtischen Bevölkerung lebt in einer davon. 920 Städte in 73 Ländern haben laut REN21 Zielvorgaben für die Nutzung erneuerbarer Energien in wenigstens einem Bereich, 1100 Städte haben angekündigt, dass sie ihre Emissionen auf null reduzieren wollen. Ein umfassendes Nachhaltigkeitskonzept, das Bereiche wie Bau und Transport nicht getrennt voneinander behandelt, haben aber nur wenige.

Städte, finden die Autorinnen und Autoren des «Städte»-Kapitels, sollten dringend mehr gehört werden. Wenn sie genügend Ressourcen haben und nicht durch nationale Gesetze eingeschränkt sind, können sie viel bewirken. Vieles hänge allerdings davon ab, wie viel Spielraum eine Stadt hat. In der globalen Klimadiskussion würden die Städte nur zögerlich abgebildet.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Oben      —    Solarpark Vollerso op dat Gelänn von de fröhere Raketenstellung

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Es rumpelt überall !!

Erstellt von Redaktion am 4. Juli 2022

Desolate Lage der Deutschen Bahn

Nun sind wir wieder dort, wo versagende Politiker ihr Gnadenbrot fressen – fraßen

Von Arno Luik

Die Deutsche Bahn ist heute in viel schlechterem Zustand als vor 20 Jahren. Es müsste massiv investiert werden – an anderen Stellen als geplant.

Nach über 15 Jahren habe ich meine Bahncard abbestellt. Ich mag nicht mehr Zug fahren in Deutschland, obwohl ich gerne Zug fahre – dort, wo Profis am Werk sind. Zum Beispiel in der Schweiz, in Österreich oder in den Niederlanden. Gerade als das 9-Euro-Ticket eingeführt wurde, sperrte die Bahn meine Heimatstrecke für gut zwei Wochen. Ein Lokführer sagte zu mir: „Wer dieses Billigangebot erfunden hat, der hat gezeigt, wie es um die Bahn steht: Sie ist am Ende. Dieses Ticket ist Werbung für das Auto.“

Das mag polemisch klingen. Aber anders als der Grüne Anton Hofreiter, der glaubt, dass dieses Ticket „den Leuten den Nahverkehr schmackhaft“ macht, ist doch sehr wahrscheinlich, dass der Ärger überwiegt. In den Metropolen zeigt dieses Angebot, wie die Verantwortlichen seit Jahrzehnten hätten agieren können, wäre es ihnen ernst gewesen mit dem Ziel, mehr Verkehr auf der Schiene und mehr Güter. Dem Klima zuliebe.

In Windeseile schafft es Kanzler Olaf Scholz, 100 Milliarden Euro für eine Aufrüstung ohnegleichen freizugeben. Mit dem gleichen Willen könnte er dafür sorgen, dass die Bahn – sie ist ja zu 100 Prozent im Staatsbesitz – sofort das tut, was den Zugverkehr nachhaltig attraktiv machen würde: ein übersichtliches, günstiges und vor allem familienfreundliches Tarifsystem zu schaffen und diese irren Schnäppchen-, Sonder-, Spar-, Superspartarife zu entsorgen.

Musste nicht der ehemalige Chef des Kanzleramt Ronald Po-falla seine Platz im Berliner -Amt räumen um die vorgegebene Geschwindigkeit von Merkel einzuhalten? 

Die Bahn dazu verpflichten, wieder menschenfreundliche Bahnhöfe zu bauen, das Klassensystem in den großen Bahnhöfen abzuschaffen, wo die Privilegierten ihre Lounges haben, der Plebs aber auf schäbige, zugige, verdreckte Wartebänke verbannt wird. Aber halt, hat vor ein paar Tagen nicht der pfälzische Minister für Weinbau a. D. und jetzige Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) gemeinsam mit Bahn-Chef Richard Lutz erklärt, dass nun alles besser werde?

Dass diese Bahn „unerlässlich auch für die Klimaziele der Regierung“ sei? Nur: Was Wissing da sagte, das sagten schon sämtliche Bahnchefs und Verkehrsminister vor ihm. Stattdessen kamen Zugverspätungen, überfüllte Züge, alte Ersatzzüge, Züge, die einfach nicht fahren und trotzdem in keiner Verspätungsstatistik stehen. Bahninterner Spott: „Der einzige Zug, der in Deutschland pünktlich losfährt, ist der Rosenmontagszug.“

Geschäfte in 140 Ländern

Ich habe auch keine Lust mehr, mit meiner Bahncard einem Konzern einen Vorschuss zu gewähren, der systematisch zig Milliarden Steuergelder verbrennt und unökologisch agiert. Und der, anstatt sich um die Kundschaft daheim zu kümmern, alles Mögliche in aller Welt unternimmt: Malawi, Curaçao, Mongolei, Moldawien, Kirgisien – viele Seiten könnte man hier mit Ländernamen füllen, die vielleicht nicht einmal Leuten im Berliner Bahnhochhaus bekannt sind.

In 140 Ländern ist die Deutsche Bahn AG mit Bussen, Flugzeugen, Schiffen, Lkws, Krankenwagen, Elektroautos unterwegs. Mit rund 800 Gesellschaften, Firmen und Firmenbeteiligungen agiert sie rund um den Globus. Für wen? Wozu? Diese Deutsche Bahn AG ist seit 20 Jahren, seit dem unheilvollen Agieren des damaligen Bahnchefs Hartmut Mehdorn, keine Deutsche Bahn mehr. Sie ist nur noch ein Anhängsel in einem Reich, über dem die Sonne nie untergeht.

Wer in Katar das Streckennetz ausbaut, in Dubai mit Lufttaxis experimentiert, wer Biogasbusse in Dänemark fahren lässt, wer Marktführer im Schiffsverkehr zwischen China und den USA ist und einer der größten Luftfrachtunternehmer der Welt – hat der noch Lust und Zeit, Züge von Itzelberg nach Mergelstetten zu organisieren? Kümmert der sich gern um marode Brücken, die im ganzen Land die ICEs zum Langsamfahren zwingen? Nein. Und deshalb rumpelt es überall.

Gut die Hälfte des DB-Konzernumsatzes stammt heute aus Auslandsgeschäften. Viel Geld wird da bewegt, der Gewinn aber ist gering. Mehr als 10 Milliarden Euro gingen für diese Auslands­einsätze drauf, Investitionen, die sich nicht amortisieren. Investitionen, gegen die sich, manchmal, Menschen wehren. Ganz aktuell: In Mexiko beteiligt sich der Staatskonzern an dem gigantischen Bahnprojekt „Tren Maya“, einer Trasse von über 1.500 Kilometern – auch quer durch Regenwälder.

Dort lebende Nachfahren der Maya kämpfen gegen den Bau, sie fürchten, dass der Zug das sensible Ökosystem gefährdet, ihre Lebensgrundlagen zerstört und sie dazu zwingt, ihre Heimat zu verlassen. Das ist dieselbe Bahn, die sich hierzulande als Zeichen der Umweltliebe grüne Streifen auf die ICEs klebt.

Mit 35 Milliarden Euro verschuldet

Dieses Bahnversagen ist natürlich ein Staatsversagen. Schuldig sind die Köpfe im Kanzleramt und ihre Verkehrsminister. Sie ließen es zu, dass der größte deutsche Staatskonzern ein Staat im Staat wurde. Und zu einer Geldvernichtungsmaschine: Mit 35 Milliarden Euro ist die Bahn AG derzeit in den Miesen, faktisch also pleite. Sogar dem Verkehrsminister ist jetzt klar: „So wie es ist, kann es nicht bleiben.“ Sagt er. Aber: Wird es besser? Wird es endlich gut mit dieser Bahn?

Die meisten der aktuellen Verheißungen sind ohne Bezug zur Realität. Seit 1994, seit der staatlich organisierte Zerfall mit jener Bahnreform begann, die als Ziel Börsengang und Privatisierung hatte, wurde gespart an Menschen, Material, Reparaturen, Investitionen. Heute fehlt es an allem: an Gleisen, an Lokomotiven, an Zügen, an Personal. Und an Know-how.

Abgestellt und nie wieder abgeholt?

Wie hoffnungslos die Lage ist, zeigt sich an einer Zahl: Um auf den Standard der Schweiz zu kommen, müsste das Bahnnetz augenblicklich um 25.000 Kilometer erweitert werden – ein Ding der Unmöglichkeit. Wo früher Gleise und Rangierbahnhöfe waren, stehen heute Einkaufszentren, Büro- und Wohngebäude. Oder gar nichts, aber irgendetwas Unschönes wird schon noch kommen.

25.000 Brücken hat die Bahn, im Durchschnitt sind sie knapp 75 Jahre alt, 12.000 sind schon über 100 Jahre im Einsatz. Viele von ihnen wurden so wenig gepflegt, dass man sie abreißen und komplett erneuern muss – mindestens 2.000 Bauwerke. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind über 100 Städte vom Fernverkehrsnetz abgehängt worden, Mittel- und Großstädte wie etwa Chemnitz, Heilbronn, Bremerhaven.

100 Städte abgehängt

Für 17 Millionen Menschen wurde durch dieses Abkoppeln das Bahnfahren erschwert und unattraktiv. Wie soll das bloß klappen – etwa das Versprechen, dass viele Städte bald im Halbstundentakt angefahren werden? Die wolkigen Worte der Verantwortlichen sind schön, die Zahlen sind es nicht: Hatte die Bahn 1994 über 130.000 Weichen und Kreuzungen, sind es heute um die 70.000. Aber jede rausgerissene Weiche heißt: weniger Überhol- und Ausweichmöglichkeiten. Heißt: Verspätungen.

Heißt: Frust bei den Kunden. Betrug die Netzlänge 1994 noch über 40.000 Kilometer, sind es heute bloß noch rund 33.000 Kilometer. Diesen Raubbau spüren die Wartenden an den Bahnsteigen, die Gestrandeten im Nirgendwo, die Verspäteten im ICE, vor dem ein Güterzug schleicht. Wie soll das also gehen – runter mit den Waren von den Lastwagen, rauf auf die Schiene?

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Oben     —     Karikatur von Gerhard Mester zum Thema Energiespeicher und Konkurrenzbedingungen Erneuerbarer Energien.

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Register soll Daten schaffen

Erstellt von Redaktion am 4. Juli 2022

Von den Ungereimtheiten des Sachverständigengutachtens zu den  Corona-Lockdown-Maßnahmen

Von Johannes Kreis

Impfregister soll Daten schaffen – wie man während der Impfkampagne merkt, ob die Maßnahme was taugt

zu der lauwarmen Wissenschaft, wie sie im Gutachten der Sachverständigenrates zu den Grundrechtseinschränkungen und anderen Corona-Lockdown-Maßnahmen zum Ausdruck kommt, möchten wir einige Anmerkungen machen,

Dem Grundtenor des Gutachtens nach steht man 2,5 Jahre in der Krise weiterhin vor einem großen Datenproblem. Das erstaunt den Leser, denn das war den zahlreichen Talkshowauftritten von Karl LauterbachFrank Ulrich MontgomeryMelanie BrinkmannViola Priesemann oder Michael Meyer-Hermann so nicht zu entnehmen.

Der allgemeine Trend in der Wissenschaft ist wohl, dass es entweder keine Studien gibt (nach 2,5 Jahren), so dass man nichts sagen kann, oder, die Studien widersprechen sich, so dass man wieder am Fliegenfänger der Empfehlungen von Fachgesellschaften hängt, die entscheiden, welche Studien sie berücksichtigen und welche nicht.

Zu den fehlenden Daten heißt es gleich am Anfang, vgl. ebenda (Seite 8),

Ferner fehlte eine ausreichende und stringente begleitende Datenerhebung, die notwendig gewesen wäre, um die Evaluierung einzelner Maßnahmen oder Maßnahmenpakete zu ermöglichen. Mit dieser Einschränkung musste die Evaluationskommission und müssen wir als Gesellschaft umgehen. Außerdem ist festzuhalten, dass die Evaluationskommission für eine umfassende Evaluierung dieser Fragestellung weder personell ausgestattet war, noch einen ausreichend langen Evaluationszeitraum zur Verfügung hatte.“

Auch die Daten der Krankenkassen zur Krankheitslast wurden nicht genutzt. Vgl. ebenda (Seite 27),

„Selbst die Gesetzlichen Krankenkassen haben ihre enormen Datenbestände bislang offenbar erfolglos für eine datenschutzgerechte Analyse angeboten, zum Beispiel bei der Verknüpfung von Impf- mit Gesundheitsdaten, die mit einem relativ geringen Aufwand zu verwirklichen wäre.“

Das klingt etwas merkwürdig, denn vorliegende Berichte der Krankenkassen wurden auch von den „Sachverständigen“ nicht genutzt. Was in dem Gutachten fehlt, ist der Hinweis, dass die Krankenkassen schon in 2020, also vor jeder Impfung von einem niedrigen Krankenstand berichteten, und dies auch öffentlich kundgetan haben.

Der Krankenstand in Deutschland, wie ihn übereinstimmend alle Krankenkassen berichten, war in 2020 und 2021 niedriger als normal, in 2022 ist er historisch niedrig.

Krankenstand insgesamt gesunken – Insgesamt betrachtet, liefert der Gesundheitsreport jedoch keine Hinweise auf eine grundsätzliche Verschlechterung der Gesundheit von Erwerbspersonen durch die Coronapandemie. Mit einem Krankenstand von 4,14 Prozent lag das Jahr 2020 sogar unter den Werten der Vorjahre (2019 4,22 Prozent; 2018 4,25 Prozent).“

Covid-19-Diagnosen spielen eine untergeordnete Rolle – Die Krankschreibungen aufgrund der Diagnose Covid-19 spielen eine eher untergeordnete Rolle im Vergleich zu den anderen Erkrankungen. Nur 0,06 Fehltage gingen in Schleswig-Holstein im ersten Halbjahr 2021 auf das Konto von COVID-19-Diagnosen.“

„Der Krankenstand der bei der Techniker Krankenkasse (TK) versicherten Erwerbspersonen war 2021 mit 3,97 Prozent so niedrig wie seit acht Jahren nicht mehr. Das ist nochmal ein deutlicher Rückgang im Vergleich zum ersten Coronajahr 2020 mit einem Krankenstand von 4,13 Prozent. Vor acht Jahren (2013) befand sich der Krankenstand mit 4,02 Prozent das letzte Mal auf so niedrigem Niveau.“

„Die Techniker Krankenkasse (TK) verzeichnet in Bayern weiter rückläufige Daten zum Krankenstand. Dieser sank im Jahr 2021 auf 3,5 Prozent, 0,1 Punkte weniger als im Vorjahr. Die krankheitsbedingten Fehlzeiten je Erwerbstägigen reduzierten sich im gleichen Zeitraum um 0,4 auf nur noch 12,6 Tage. Das ist der niedrigste Stand seit 2013.

Clinicians in Intensive Care Unit.jpg

Bei den Fehlzeiten wegen Atemwegserkrankungen wie grippale Infekte gab es 2021 sogar einen Rückgang um rund ein Viertel (minus 24,7 Prozent).“

Die niedrige Zahl an Arbeitsunfähigkeitsschreibungen bei Atemwegserkrankungen bestätigt auch die BARMER Ersatzkasse. In der Graphik sieht man, dass sich die COVID-19 Diagnosen aus den sonstigen Atemwegsinfektionen speisen.

„Der Krankenstand ist in Sachsen im letzten Jahr erneut gesunken. Er betrug bei der Techniker Krankenkasse (TK) in Sachsen versicherten Erwerbspersonen 4,15 Prozent und liegt leicht unter dem Wert von 4,2 Prozent im Jahr 2020.“

Was das Sachverständigengutachten zu den Krankenhausstatistiken sagt, ist schlicht falsch, vgl. Sachverständigengutachten (Seite 71),

„Um die Effektivität des Pandemiemanagements in Deutschland genau beurteilen zu können,  bräuchte es repräsentative Zufallsstichproben, Sentinelstichproben, aussagekräftige Statistiken zur Krankenhausbelegung und ähnliches. Methodisch müsste man systematisch mit Kontrollgruppen und Kontrollzeitpunkten arbeiten. Da diese nicht vorliegen, werden Aussagen über die Wirksamkeit von Maßnahmen, die über bloße Deskription oder Modellierung hinausgehen, erschwert.“

Zu der Krankenhausauslastung gibt es massenhaft Daten. Die Bettenauslastung in den Krankenhäusern war und ist historisch niedrig, auch schon in 2020, also vor jeder Impfung, vgl.

Die Mitglieder des Beirats betonten, dass die Pandemie zu keinem Zeitpunkt die stationäre Versorgung an ihre Grenzen gebracht hat.“

Wie das Statistische Landesamt weiter mitteilt, verringerte sich die Zahl der 2020 in den nordrhein-westfälischen Krankenhäusern behandelten Krankheiten des Atmungssystems ebenfalls gegenüber 2019 um 20,1 Prozent.“

„Im gesamten Jahr 2020 wurden insgesamt 13,8% weniger Patienten im Krankenhaus behandelt als 2019. In den ersten 26 Kalenderwochen des Jahres 2021 blieb die Fallzahl 20,1% hinter dem Vergleichszeitraum 2019 zurück. Auch die Gesamtzahl der SARI-Fälle, Intensivfälle und Beatmungsfälle blieb im Untersuchungszeitraum unter den Zahlen aus 2019.“

Inzwischen bestätigt auch der Deutsche Bundestag die niedrige Bettenauslastung. Wo haben die ihre Daten her?

„Soweit eine Verringerung der Planbettenzahl Voraussetzung für die Förderung von Maßnahmen zur Anpassung von Patientenzimmern an die besonderen Behandlungserfordernisse einer Pandemie ist, ist darauf hinzuweisen, dass  die Bettenauslastung seit Beginn der Corona-Pandemie spürbar zurückgegangen ist.“

Und dann kommt in dem Sachverständigengutachten der Hammer, zu Impfungen kann man gar nichts sagen, sondern man verweist auf die STIKO, vgl. Sachverständigengutachten (Seite 72),

Die Wirksamkeit der Impfung als Maßnahme zur Bekämpfung des SARS-CoV-2 kann aus Gründen der Komplexität nicht behandelt werde, dies schließt auch die einrichtungsbezogene Impfpflicht (§ 20a IfSG) mit ein. Es müssten nicht nur die Anzahl der Impfungen, die Altersgruppen und mögliche Gegenanzeigen bzw. Vorerkrankungen betrachtet werden, sondern auch die verschiedenen Impfstoffe sowie die möglichen Kombinationen der verschiedenen Impfstoffe in jeglicher möglichen Variation miteinander verglichen werden. Diese Komplexität in der Beurteilung der Immunität in der Bevölkerung wird auch weiter zunehmen“

Fast zeitgleich tritt Dänemark von seiner Impfempfehlung für Kinder zurück. Konnten die Sachverständigen die Telefonnummer des dänischen Gesundheitsministeriums nicht finden?

Dänemark tritt von seiner Impfempfehlung für Kinder zurück – mit dem heutigen Wissen würde die Gesundheitsbehörde nicht mehr dazu raten, Kinder zwischen fünf und elf zu impfen, sagte der Direktor Sören Bröström vor wenigen Tagen.“

Wie kann es sein, dass sich die Einschätzungen in zwei benachbarten Ländern so unterscheiden? Einmal gibt es eine klare Aussage, das andere Mal weiß man es nicht so genau. Es ist doch dieselbe Wissenschaft? Oder weiß man es auch in Deutschland genauer, will es aber nicht sagen?

Zu der Wirksamkeit und dem Nutzen-Risiko-Profil von Impfungen kann man nichts sagen. Das geht erst, wenn man ein Impfregister eingeführt hat. Erst dann sind „sichere“ Bewertungen möglich, vgl. Sachverständigengutachten (Seite 10),

„Um Impfeffektivität und -nebenwirkungen sicher bewerten zu können, ist ein datengesichertes bundesweites Vorgehen etwa durch die Einführung einer elektronischen Patientenakte, eines nationalen Impfregisters oder einer Registrierung, Auswertung und gezielten Ansprache der Versicherten durch ihre jeweilige Krankenkasse notwendig.“

Was heißt das in der Praxis? Die Ärzte und die Pharmaindustrie fangen, nach vorläufiger und bedingter Freigabe der Substanzen, auf Basis von Tierexperimenten, schon mal mit dem Impfen an, und nach einige Millionen Impfungen kann man dann im Impfregister nachschauen, wie das Nutzen-Risiko-Verhältnis ist?

Diese Anmerkung, sowie eine weitere Anmerkung zum Impfregister zeigen, wo die Reise bei den Krankenkassen hingehen wird, nämlich zur „gezielten Ansprache der Versicherten“, vgl. Sachverständigengutachten (Seite 50)

„Ein datengesichertes bundesweites Vorgehen ist zwingend notwendig so etwa durch die Einführung eines nationalen Impfregisters, eine Registrierung, Auswertung und gezielte Ansprache der Versicherten durch ihre jeweilige Krankenkasse oder die elektronische Patientenakte.“

Da ist es bis zu Malus-Regeln und Strafen für Ungeimpfte nicht mehr weit. Der Datenschutz wird europaweit aufgeweicht und es kommt der gläserne Mensch, natürlich alles nur zu seinem eigenen Schutz, vgl. Sachverständigengutachten (Seite 47/48),

Im Rahmen der Digitalisierung des Gesundheitswesens sollten Regelungen zum Datenschutz, soweit im Gesundheitsdatenraum möglich, modifiziert werden. Der Datenschutz muss von Anfang an mitgedacht werden, um die sichere Nutzung von Gesundheitsdaten für eine gute Versorgung und Forschung zu ermöglichen. Nur so kann den Patientinnen und Patienten bestmöglich geholfen werden. Diese Bestrebungen werden auch europäisch gedacht. Die Schaffung eines europäischen Gesundheitsdatenraums, den die europäische Kommission bis 2025 anstrebt, soll einen effizienten Austausch und direkten Zugriff auf unterschiedliche Gesundheitsdaten in der Versorgung und Forschung ermöglichen.“

Europäischer Gesundheitsraum, ja, aber nur solange wie die Daten genehm sind. Sonst vergessen wir das benachbarte Ausland, wie Dänemark, Schweden oder die Niederlande schnell wieder.

Ein weiterer Punkt: Wenn also die „Wirksamkeit der Impfung als Maßnahme zur Bekämpfung des SARS-CoV-2“ aufgrund der Komplexität nicht beurteilt werden kann, dann stellt sich die Anschlußfrage, was die 2G/3G Zugangsbeschränkungen gebracht haben, die ja auf der unbekannten Wirksamkeit der Impfungen aufbauen? Dazu heißt es im Sachverständigengutachten, vgl. Seite 88/89,

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„Zu berücksichtigen ist, dass 2G/3G allein bezüglich der Wirksamkeit kaum evaluiert werden kann, da diese Maßnahme nicht isoliert, sondern in der Regel – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – in Kombination mit Masken und Abstand genutzt wurde. Aufgrund der defizitären Datenlage zur Wirksamkeit der 2G/3G-Regeln hinsichtlich der Reduktion der Infektionszahlen und der Hospitalisierungsrate kann keine klare wissenschaftliche Aussage zur Wirksamkeit – vor allem über den Zeitraum von 3 Monaten hinaus – getroffen werden.“

Es wirkt seltsam, dass selbst die gesetzlich beauftragten „Sachverständigen“ nichts Genaues sagen können, sondern auf Mutmaßungen angewiesen sind. Worauf haben sich denn die „Experten“ in den zahlreichen Talkshows in den letzten 2,5 Jahren bezogen?

Gleichzeitig aber will man „Ängste und Zweifel“ abmildern, siehe nachfolgend. Wie soll das gehen, außer dass dazu angehalten wird, Zweifel gar nicht erst publik werden zu lassen? Vgl. Sachverständigengutachten (Seite 65),

„Unsicherheiten vermitteln und Kontroversen aushalten – Der offene Umgang mit wissenschaftlichen Risiken und Unsicherheiten sollte stärker in den Vordergrund rücken. Das beinhaltet auch, dass Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger die mit den Risiken verbundenen Ängste und Zweifel der Bevölkerung ernst nehmen und wenn möglich abmildern.“

Zweifel und Ängste der Bevölkerung ernstnehmen, ja, aber, wenn möglich, „abmildern“? Auf Basis von was denn? Es gibt doch angeblich keine vernünftigen Daten. Reflektiert das auch auf die strafbar schleppende Erfassung von mitunter tödlichen Impfnebenwirkungen? Verstehen die „Sachverständigen“ das unter „abmildern“: wir haben keine Daten?

Auch die Kritik an dem Konstrukt der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (§ 5 Abs. 1 IfSG) in diesem lauwarmen Gutachten der „Sachverständigen“ muß man wohl mit Vorsicht lesen. Dazu heißt es, vgl. Sachverständigengutachten (Seite 141),

Zudem kann sie [die epidemischen Lage von nationaler Tragweite] zu der falschen Annahme verleiten, eine Pandemie lasse sich nicht mit den bewährten Mitteln des demokratischen Verfassungsstaates bewältigen. Sie ist verzichtbar, wenn hinreichend konkrete Parlamentsgesetze verabschiedet werden. Sollte an der Konstruktion des Feststellungsbeschlusses gleichwohl festgehalten werden, müssten sachspezifische Verfassungsänderungen in Betracht bezogen werden.“

Hier eine kleine Kompilation, wie es Menschen ergangen ist, die, z.B. durch Spaziergänge, gegen die wissenschaftlich nicht zu evaluierenden Maßnahmen protestiert haben, und deren Protest mit den „bewährten Mitteln des demokratischen Verfassungsstaates bewältigt“ wurden,

So staatsdelegitimierend, wie sich die deutsche Polizei im Einsatz gegen friedliche Spaziergänger verhalten hat, wird sie wohl demnächst vom Verfassungsschutz beobachtet werden müssen. Siehe dazu auch die Aussagen des ehemaligen UN-Sonderberichterstatters für Folter, Nils Melzer,

Es entsteht der Eindruck, dass es, mit „Impfregister“, der „gezielten Ansprache durch die Krankenkassen“, dem „Europäischem Gesundheitsraum“ (europäisch heißt in der Regel, dass es keinerlei Kontrolle gibt) und den „bewährten Mitteln des demokratischen Verfassungsstaates“ um eine Verstetigung des Katastrophenmodus geht. Wir bleiben permanent in diesem Ausnahmezustand, wir nennen es nur anders.

So heißt es dann auch, vgl. Sachverständigengutachten (Seite 66),

„Für die nächste Pandemie bereit sein –  Nach der Krise ist vor der Krise: Das erfordert eine gezielte Vorbereitung auf die nächste mögliche Pandemie.“

Kommen wir zu den Masken. Diese sind vor allem Symbol, denn die Wirksamkeit von Masken „in der täglichen Praxis“ ist nicht abschließend geklärt. Dazu heißt es auf Seite 99,

„Neben der allgemeinen und im Labor bestätigten Wirksamkeit von Masken ist nicht abschließend geklärt, wie groß der Schutzeffekt von Masken in der täglichen Praxis sind, denn randomisierte, klinische Studien zur Wirksamkeit von Masken fehlen. Es ist zu beachten, dass das Tragen von Masken auch einen psychologischen Effekt hat, da durch Masken im Alltag allgegenwärtig auf die potentielle Gefahr des Virus hingewiesen wird. Die Maske ist daher zum immer sichtbaren Symbol der Infektionsprophylaxe und stiftete damit Vigilanz bei den Menschen. Die daraus resultierenden Effekte können nicht gemessen werden.“

Es ist den „Sachverständigen“, trotz einer angeführten, katastrophalen Datenlage, wohl sehr wichtig auch weiterhin eine allgegenwärtige Gefahr zu suggerieren, um ja nicht aus dem Panikmodus herauszukommen. Das steht in deutlichem Gegensatz zu dem, was andere Länder machen, z.B. England, Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland oder die Schweiz.

Hier eine Studie aus 2020 in Dänemark, die ebenfalls keine Schutzwirkung von Masken erkennen kann,

“A total of 3030 participants were randomly assigned to the recommendation to wear masks, and 2994 were assigned to control; 4862 completed the study. Infection with SARS-CoV-2 occurred in 42 participants recommended masks (1.8%) and 53 control participants (2.1%).

Die wenigen Studien, die es zu der schädigenden Wirkung von Masken gibt, haben die Sachverständigen wohl nicht gefunden,

  • Walach et al., “Carbon dioxide rises beyond acceptable safety levels in children under nose and mouth covering: Results of an experimental measurement study in healthy children”, Environ Res. 2022 Sep; 212: 113564 (online 2022 May 28), https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9142210/

Das Brownstone-Institute hat mehr als 150 Studien zu der Unwirksamkeit von Masken und den Schäden durch Masken zusammengetragen. Auch diese hat der Sachverständigenrat wohl nicht gefunden,

Erneut entsteht der Eindruck, dass es bei dem Sachverständigengutachten nicht um die „wissenschaftliche Evaluierung“ der Corona-Lockdown-Panik-Maßnahmen geht, sondern um deren Verstetigung. Dazu benötigt man die Maske als Symbol.

Interessanterweise heißt es zu den Meldezahlen zu positiven COVID-19 Tests („Inzidenz“ genannt), dass diese alleine nicht zur Ableitung von Maßnahmen taugen, obwohl dies im Gesetz so angenommen wird. Vgl. Sachverständigengutachten (Seite 48),

„Die Inzidenz (ohne Dunkelziffer) oder andere isolierte Werte reichen für sich genommen nicht aus, um das Infektionsgeschehen und dessen Entwicklung angemessen zu beschreiben, Maßnahmen abzuleiten und die kritische Ressource Klinikkapazität zu schonen.“

Allerdings fehlt der Hinweis darauf, dass die weitaus überwiegende Mehrzahl der positiv Getesteten in den Krankenhäusern gar nicht gegen COVID-19 therapiert werden,

„Frankfurt: 90 Prozent nicht wegen Corona in Klinik – In Frankfurt stellt man außerdem fest: Bei der deutlichen Mehrheit der derzeitigen Krankenhauseinweisungen ist nicht Corona die Ursache. „Es kommen kaum noch Menschen wegen einer Covid-19-Erkrankung in unsere Kliniken, sondern sie kommen wegen anderer Probleme. Es wird dann mehr oder weniger zufällig auch eine Covid-Erkrankung im Aufnahme-Abstrich diagnostiziert“, erklärt Vehreschild.

Sie schätzt den Anteil dieser Patientinnen und Patienten auf 90 Prozent, sowohl auf den Intensiv- als auch auf den Normalstationen. Die Patientinnen und Patienten hätten in diesen Fällen kaum oder keine Symptome.

Dasselbe berichten die Helios-Kliniken,

Inzidenz-D.jpg

Die Eliten als stellvertretende Stellvertreter der Politiker während der Beratungen ?

Die Strategie der deutschen Eliten wird wohl auch weiterhin in Vernebelung bestehen. Es gibt heute schon mehr als genug Daten. Allein, die Wissenschaft will sie nicht nutzen. Wer seine Hoffnungen auf ein, vielleicht sogar europäisches, Impfregister, setzt, wird enttäuscht werden. Man vergißt dabei, dass es zum einen von der Definition abhängt, wer als geimpft gilt. Das wird in naher Zukunft die 4-fach Impfung oder 3-fach Impfung plus genesen sein. Und, zum anderen, wir sehen schon heute beim PEI wie (strafbar) zögerlich die deutsche Ärzteschaft bei der Erfassung von Impfnebenwirkungen ist. Die Daten werden davon abhängen, was man als Nebenwirkung zuläßt. Abgesehen von der hirnrissigen Idee, das Nutzen-Risiko-Profil von medizinischen Interventionen erst retroperspektiv, d.h. im Nachhinein, durch ein Register bestimmen zu wollen. Dann können wir uns Zulassungsverfahren in Zukunft ganz schenken.

Dass es um eine Verstetigung des Panik-Modus geht, zeigen auch die Empfehlungen für die Zukunft, die eine Ausweitung der COVID-19 Sondervorschriften auf andere Erreger anmahnen, vgl. Sachverständigengutachten (Seite 145),

„Bei einer Reform des IfSG müssen Regelungsstrukturen geschaffen werden, die nicht nur auf COVID-19 zugeschnitten sind, sondern verschiedene Arten von Krankheitserregern mit ihren unterschiedlichen Übertragungswegen erfassen können.“

„In beiden Fällen empfiehlt es sich, über Verordnungsermächtigungen für die Bundesregierung oder das Bundesgesundheitsministerium eine Anpassung an den jeweiligen Erreger zu ermöglichen. In der Ermächtigung könnten die zulässigen Kriterien vorgegeben werden, die dann in der Verordnung konkretisiert und bei Bedarf im Verlauf der Epidemie angepasst würden.“

Die Maßnahmen kann man nicht bewerten, aber man weitet sie schon mal auf andere Erreger aus? Das wirkt auf Nicht-Sachverständige dumm.

Dazu empfiehlt die deutsche Sachverständigen-Elite allen Ernstes eine Verordnungsermächtigung, so dass die einzelne Verordnung dann jeder parlamentarischen Kontrolle entzogen ist. Das verstehen Deutschlands Vorzeige-Juristen wie Huster, Kießling & Co. unter „bewährten Mitteln des demokratischen Verfassungsstaates“.

Unterm Strich ist festzuhalten, dass dieses Sachverständigengutachten zahlreiche Ungereimtheiten enthält. Es wirkt nicht wie ein unabhängiges Gutachten von Sachverständigen, das die Arbeit der Bundesregierung objektiv und unabhängig bewertet, wie der Titel suggeriert, sondern es ist vielmehr  eine Auftragsarbeit der Bundesregierung, die sich bescheinigen läßt, dass man es nicht besser hätte machen können.

Die Sachverständigen haben sich als nützlich und brauchbar erwiesen. Die Wissenschaft versteckt sich hinter mutmaßlich fehlenden Daten oder zu großer Komplexität, die eine Beurteilung nicht zuließe. Die allgemeine Unsicherheit in der Bevölkerung ist und bleibt Programm, ganz im Sinne der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts („Entscheiden unter Unsicherheiten“).

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Grafikquellen      :

Oben     —   Eine grafische Darstellung von Lock-down während Covid-19

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2.) von Oben    —     Clinicians in Intensive Care Unit

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Leyens Intransparenz

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2022

Von der Leyens Chats zu Impfstoff-Deal bleiben geheim

Politische Maßstäbe – Betrogen heißt dort nicht Verschoben !

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von  

Hat Pfizer die EU beim Milliardendeal für Covid-Impfstoffe über den Tisch gezogen? Die Antwort könnten Chats von Kommissionspräsidentin Von der Leyen liefern. Aber die EU will sie nicht herausgeben. Kritiker:innen sehen das Recht auf Zugang zu Informationen in Gefahr.

Die EU-Kommission will die Chats von Ursula von der Leyen mit Pfizer-Konzernchef Albert Bourla weiter geheim halten. Von der Leyen fädelte im Frühjahr 2021 in Nachrichten und Anrufen mit Bourla einen Milliardendeal über Covid-Impfstoffe ein – doch die Nachrichten fielen nicht unter das Informationsfreiheitsgesetz der EU, argumentiert die Kommission.

An dem Deal der EU mit Pfizer gibt es erhebliche Kritik. Bis heute hat die Kommission nur geschwärzte Versionen der Kaufverträge vorgelegt. Der Preis der Impfstoffe und wichtige Vertragsbedingungen bleiben geheim. Allerdings weckt ein Bericht der Financial Times Zweifel daran, ob die EU bei dem Kauf nicht über den Tisch gezogen wurde. Laut der Zeitung, die Teile der Verträge einsehen konnte, zahlte die EU anfangs pro Dosis 15,50 Euro, nach dem Deal stiegen die Kosten jedoch auf 19,50 Euro pro Dosis.

Für 3 Euro hergestellt, für 19,50 Euro verkauft

Die People’s Vaccine Alliance, ein Bündnis humanitärer Organisationen, rechnet unter Verweis auf eine Untersuchung des Imperial College London vor, dass eine einzelne Dosis des Impfstoffs für weniger als drei Euro hergestellt werden könne. Dieser Rechnung zufolge könnte Von der Leyens Deal dem Pharmakonzern Pfizer einen Überschuss von rund 31 Milliarden Euro verschafft haben. Die NGO Public Citizen, die ungeschwärzte Impfstoffverträge von Pfizer in mehreren Ländern einsehen konnte, erklärte gegenüber der Washington Post, dass das Unternehmen seine Verhandlungsmacht als einer der wenigen Hersteller eines wirksamen Covid-Impfstoffs ausnutze, um „Risiken zu verlagern und Gewinne zu maximieren“. In den eingesehenen Verträgen werden „die Interessen von Pfizer konsequent über die Erfordernisse der öffentlichen Gesundheit gestellt“.

Nachdem die New York Times über den direkten Draht zwischen Von der Leyen und Bourla berichtete, stellte netzpolitik.org einen Antrag auf Herausgabe der Chats. Doch die Kommission weigerte sich, den Antrag überhaupt zu prüfen. Denn Nachrichten über SMS, WhatsApp und andere Messenger seien „kurzlebig“ und daher keine Dokumente im Sinne der EU-Verordnung über den Dokumentenzugang.

Abgeordneter wittert „fadenscheinigen Begründungen“

Die Pauschalablehnung unserer Anfrage nach den Nachrichten zwischen Von der Leyen und Bourla sei ein klares Fehlverhalten der EU-Kommission, urteilte die EU-Ombudsfrau Emily O’Reilly auf unsere Beschwerde hin. Auch Abgeordnete und NGOs äußerten sich empört über die Intransparenz der Kommission. „Das, was auf dem Telefon von Frau von der Leyen passiert, ist Politik“, sagte auch der grüne EU-Politiker Daniel Freund. „Es kann nicht sein, dass Journalistinnen und Journalisten fadenscheinige Begründungen bekommen und abgewimmelt werden. […] Und es kann nicht sein, dass der Zugang zu zentralen Dokumenten schon wieder dadurch verhindert wird, dass Ursula von der Leyen SMS löscht.“

Doch der Kritik zum Trotz will die Kommission die Nachrichten weiter geheim halten. In einer am heutigen Mittwoch veröffentlichten Antwort an Ombudsfrau O’Reilly schreibt die EU-Behörde, dass sie „kurzlebige“ Dokumente wie SMS und Messenger-Nachrichten gar nicht erst aufbewahre und daher auch keinen Zugang dazu erteilen könne. Sie reagiert nicht auf die Aufforderung der Ombudsfrau, den Antrag von netzpolitik.org neuerlich zu prüfen und tatsächlich inhaltlich zu bewerten, ob sie die Chats herausgeben kann oder nicht.

Recht auf Zugang zu Informationen „ernsthaft untergraben“

Hingegen kündigt die EU-Kommission an, gemeinsam mit anderen EU-Institutionen neue Richtlinien für den internen Umgang mit SMS und Messengernachrichten auszuarbeiten. Die Kommission verweist auf eine Empfehlung des Rates der EU an seine Mitarbeiter:innen, solche Nachrichten nur für „kurzlebige Chats über öffentliche oder nicht-sensible Inhalte“ zu nutzen. Dies könne Ausgangspunkt für eine gemeinsame Direktive aller EU-Institution sein. Damit will die Kommission wohl eine Argumentationsgrundlage schaffen, um auch künftig keine Chats archivieren zu müssen.

Abschluss der Tagung des Europäischen Rates - 51988360799.jpg

Expert:innen aus der Zivilgesellschaft fürchten, dass die Kommission durch ihre Haltung eine riesige Gesetzeslücke beim Zugang zu Dokumenten schaffe. „Wenn wir nicht einmal nach Textnachrichten fragen dürfen, wie sollen wir dann wissen, ob es sich wirklich um flüchtige Angelegenheiten oder um wichtige Entscheidungen handelt?“, fragt Helen Darbishire, Leiterin der Informationsfreiheitsorganisation Access Info.

Die Realität sei, dass ein großer Teil der Regierungsgeschäfte in Europa und weltweit über verschiedene Kommunikationsmittel abgewickelt werde, darunter SMS, WhatsApp und andere Messaging-Plattformen. „Das Recht auf Zugang zu Informationen wird ernsthaft untergraben, wenn wir nicht auf diese zugreifen können“.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen      :

Oben     —     A partir de segunda-feira (2) haverá postos exclusivos de vacinação para esse público, além de gestantes e puérperas. Confira a lista. Foto Geovana Albuquerque / Agência Saúde

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Unser brutaler Egalismus

Erstellt von Redaktion am 28. Juni 2022

Verantwortung des Globalen Nordens

Von Tino Pfaff

Die G7-Staaten stehen für die Aufrechterhaltung einer Dekadenz, die sich als legitimer Wohlstandsanspruch tarnt.

Die Staaten der „großen Sieben“, sind Ursache essentieller Problemstellungen auf dem Planeten. Sie sind für einen Großteil der aktuellen und den Großteil der historischen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Sie und gewalttätige Konzerne sind die historischen Hauptakteure der ökologischen Zerstörung im globalen Maßstab. Sie sind die Urhebenden und Nutznießenden rassistischer, patriarchaler Unterdrückung, kolonialer Ausbeutung und kultureller Zerstörungen, die bis heute andauern.

Ihre Aufgabe ist die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsform und dies setzt voraus, dass diese Strukturen weiter existieren. Schließlich ist es der kapitalistischen Ideologie immanent, ein Außen zu definieren und dieses auszubeuten.

Die aktuelle Zusammenkunft dieser historischen Täterstaaten in Elmau gleicht einem Treffen von weißen alten Männern, die über Geschlechtergerechtigkeit, Abschaffung von Ungerechtigkeit und das Ende kapitalistischer Selbstzerstörung verhandeln wollen.

Die wohl größte Bremse, wenn es darum geht, globale Problemstellungen zu bewältigen, sind jene, die für die Lösungsfindung Abstriche bei sich selbst machen müssen. Dazu kommt, dass die Regierenden der G7 sich per Wahl dazu verpflichtet haben, das Wohl der Gesellschaft stets im Sinne zu haben.

Wenn auch zu unterstellen ist, dass mit dem „Wohl der Gesellschaft“ mehrheitlich die Befriedigung von Konzerninteressen und die Wegbereitung weiteren Wirtschaftswachstums gemeint ist, zählt dies dennoch als Prämisse. So wird es niemals möglich sein, dass diese „Großen“, deren Existenz auf dem Leid Anderer beruht, antreten, um zerstörerische Verhältnisse aufzulösen.

Die G7, abgeschottet in einem riesigen Schloss, als ein separates Klassentreffen der coolsten Rich-Kids, werden nie dazu imstande sein, die klimatischen, ökologischen und sozialen Katastrophen der Weltgemeinschaft zu lösen.

Es ist kein Verzicht, die Maschinerie der Zerstörung zu stoppen, sondern eine Reparation.

Wofür sie antreten, mögen sie sich auch anders darstellen, ist die Aufrechterhaltung der Dekadenz, getarnt als legitime Wohlstandsansprüche und durchgesetzt mittels eines bedingungslosen Egalismus.

Die Absurdität der Verzichtsdebatte

Während naturbedingte Katastrophen mittlerweile auch in Regionen des Globalen Nordens über die Menschen hereinbrechen, verbleiben öffentliche Diskurse im gewohnten Tenor. Die mediale Öffentlichkeit ist voll von ahistorischen Verzichtsdebatten. Sie skizzieren Situationen, in denen es einzig darum geht, etwas aus dem eigenen Besitz abzugeben und dafür nichts oder nur wenig zurückzubekommen. Doch das ist falsch.

Der Wohlstand in Deutschland ist erbaut aus geraubten Ressourcen. Gesellschaften in Regionen des Globalen Südens wurden und werden Ressourcen geraubt, um im eigenen Land davon zu profitieren. Was bleibt, sind zerstörte Ökosysteme und Naturkatastrophen. Leid, Armut, Krankheit und Tod sind für viele der Bessergestellten in Deutschland vernachlässigbare Nebenprodukte.

Doch es ist kein Verzicht, die Maschinerie der Zerstörung zu stoppen. Wenn es also darum geht, auf individueller Ebene oder auf wirtschaftlicher Ebene Veränderungen vorzunehmen, dann ist die Debatte des Verzichts nicht nur historisch, sondern auch moralisch fehlgeleitet.

Indem Menschen langsamer fahren, in einer Stadt ohne eigenes Auto leben, in Urlaub nicht mit dem Flugzeug fliegen, oder indem sinnlose Produktionsketten abgestellt, öffentliche Infrastruktur vergesellschaftet oder Konzerne zur Rechenschaft gezogen werden, ist dies kein Verzicht. Es ist der Beginn einer Reparation, die unverzichtbar für das Fortbestehen menschlicher Zivilisationen ist.

Vom ersten Tag an des seit über 500 Jahren andauernden westlichen Kolonialismus ist es überfällig, das zurückzugeben, was den Gesellschaften, Staaten und Konzernen des Globalen Nordens nie gehört hat.

Dies trifft aktuell ganz besonders auf das stark beschleunigte und von Völlerei geprägte Leben der Ober- und Mittelschicht in Deutschland zu. Was viele Menschen in Ländern des Globalen Nordens führen, ist ein Leben auf Pump: Gegenüber zukünftigen Generationen, ganz besonders aber gegenüber Menschen in Regionen des Globalen Südens.

Vieles lässt sich mittlerweile nicht mehr zurückzahlen, da es unwiederbringlich verloren ist. Ein Grund mehr, alles dafür zu tun, die noch verblieben Lebensgrundlagen auf dem Planeten zu erhalten. Statt des Redens über Verzicht braucht es eine historisch begründete Gerechtigkeitsdebatte. Statt etwas abzugeben, geht es darum, etwas zurückzugeben. Etwas, das uns nie gehört hat.

Tagtäglich gelebte Selbstzerstörung

Quelle       :         TAZ-online         >>>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Fotoquelle: Scan/DL – TAZ , Autorin: Marian Kamensky aus 2015

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Unten     —      Karikatur

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Schulden im Klimawandel

Erstellt von Redaktion am 27. Juni 2022

Von der inneren und äußeren Schranke des Kapitals:

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Wie Wirtschafts- und Klimakrise im globalen Süden ineinandergreifen und sich wechselseitig hochschaukeln.

Was das alles wieder kostet! Eigentlich kann sich der Spätkapitalismus keine kostspielige Klimapolitik mehr leisten. Schon gar nicht dort, wo es vor allem darauf ankäme: im globalen Süden.

Die Weltbank warnte Anfang Juni angesichts hoher weltweiter Staatsverschuldung, die im Verlauf der Pandemiebekämpfung sprunghaft anstieg, vor einer schweren Schuldenkrise in Ländern mit „niedrigen und mittleren Einkommen“, ähnlich derjenigen Welle von Staatspleiten und Wirtschaftseinbrüchen, die in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts viele Entwicklungsländer verwüstete.1 Gegenüber 2019 drohe weiteren 75 Millionen Menschen in der Peripherie des Weltsystems der Absturz in „extreme Armut“, da extreme Schuldenlast, Inflation und ein rasch steigendes Zinsniveau eine Wirtschaftslage zur Folge hätten, die „ähnlich den 1970ern“ sei, hieß es weiter (siehe hierzu auch: „Zurück zur Stagflation?“).2

Von den 305 Billionen US-Dollar, auf die sich die weltweiten Schuldenberge inzwischen summieren,3 entfallen rund 100 Billionen auf Schwellenländer inklusive China.4 Die globale Gesamtverschuldung betrug 2019, am Vorabend der Pandemie, rund 320 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Sie liegt nun, nach einem Spitzenwert von 360 Prozent 2020, bei 350 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Dabei ist ein Großteil des Schuldenwachstums, das vornehmlich durch die Gelddruckerei der Notenbanken ermöglicht wurde, gerade in der Semiperipherie zu verorten. Mehr als 80 Prozent der im letzten Jahr akkumulierten Schulden sind in den Schwellenländern neu aufgenommen worden.

Die Entwicklungs- und Schwellenländer drohen somit unter ihrer Schuldenlast gerade zu dem Zeitpunkt zusammenzubrechen, wo umfassende Investitionen in den Klimaschutz notwendig wären. Geradezu dramatisch entfaltet sich die Wechselwirkung aus ökologischer und ökonomischer Krise auf dem weitgehend wirtschaftlich abgehängten Kontinent, der am wenigsten zur Klimakrise beigetragen hat: im subsaharischen Afrika.5 Der gesamte afrikanische Kontinent ist nur für vier Prozent der globalen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich, die – historisch betrachtet – zum überwiegenden Teil vom globalen Norden verursacht worden sind. Dennoch wird ein Großteil der ohnehin zu knappen Klimahilfen der Zentren für Afrika in Form von Krediten geleistet, mit denen die Schuldenlast in der Peripherie weiter ansteigt, während Investmentgesellschaften wie Blackrock – mit Investments von mehr 10 Billionen Dollar der weltweit größte Vermögensverwalter – sich weiterhin weigern, einem substanziellen Schuldenerlass zuzustimmen.

Blackrock war auch der größte Gläubiger Sambias, das Ende 2020 den Staatsbankrott erklären musste, nachdem der Vermögensverwalter sich weigerte, einer Aussetzung des Schuldendienstes zuzustimmen. Die Pleite des südafrikanischen Staates, der mit 13 Milliarden Dollar in der Kreide stand, dürfte aber nur den Auftakt der afrikanischen Schuldenkrise bilden. 2015 waren laut Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) acht Staaten im subsaharischen Afrika überschuldet und liefen Gefahr, in den Staatsbankrott zu taumeln. Im März 2022 waren es schon 23 Staaten. Die Wirtschafts- und Einnahmeneinbrüche im Verlauf der Pandemie, das Auslaufen eines Zinsmoratoriums im Dezember 2021, der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 und die Zinswende der US-Notenbank Fed lassen immer mehr afrikanische Staatshaushalte in Schieflage geraten.6 Zudem sieht sich China, das in den vergangenen Jahren als wichtiger Kreditgeber und Wirtschaftspartner Afrikas agierte, selber mit den Folgen einer gigantischen Immobilienblase und des pandemiebedingten Lockdowns konfrontiert. Die Gesamtverschuldung der Region hat sich von 380,9 Milliarden 2012 auf rund 702,4 Milliarden im Pandemiejahr 2020 nahezu verdoppelt.7

Diese Schuldenlast erstickt alle Ansätze, die Folgen der Klimakrise in der Peripherie mit umfassenden Maßnahmepaketen zu mildern, wie Nichtregierungsorganisationen (NGO)8 im Herbst 2021 warnten.9 Demnach ist die Summe, die von den 34 ärmsten Staaten der Welt zur Bedienung ihrer Schulden aufgewendet werden muss, um das Fünffache größer als ihre Investitionen in den Klimaschutz. Den Schuldenzahlungen in Höhe von 29,4 Milliarden Dollar stehen Klimaschutzmaßnahmen im Umfang von 5,4 Milliarden entgegen. Jahrelang haben Weltbank und IWF die Entwicklungsländer zur Aufnahme von Krediten bei der Finanzierung von Entwicklungsprojekten ermuntert, doch seien deren Zinsen aufgrund des höheren Risikos um ein Vielfaches höher als in den Industriestaaten, warnte die NGO Jubilee Debt Campaign. Mitunter sind Zinssätze von mehr als zehn Prozent üblich, wobei die Zinswende der Fed diese Finanzierungskosten in der Peripherie noch weiter hochtreiben dürfte.

Das Ineinandergreifen von kapitalistischer Schuldenkrise und Klimakrise torpediert nicht nur die Klimapolitik in den besonders gefährdeten Regionen der Peripherie des Weltsystems, die sich kaum noch Klimaschutz leisten können. Zusätzlich belasten die sich in zunehmenden Wetterextremen und Naturkatastrophen manifestierenden Folgen der Klimakrise die Staatshaushalte vieler Staaten aufgrund der damit einhergehenden Kosten – und sie tragen zur Destabilisierung des aufgeblähten globalen Weltfinanzsystems bei. Allein 2021 summierten sich die Kosten der zehn größten Naturkatastrophen auf rund 170 Milliarden Dollar, die – zumindest bei der Instandsetzung der zerstörten Infrastruktur – von den Staatshaushalten gestemmt werden müssten. Die Klimakrise wirkt somit längst als ein weiterer Kostenfaktor in dem überschuldeten spätkapitalistischen Weltsystem. Der Klimawandel beschleunigt somit das Wachstum der globalen Schuldenberge zusätzlich, er trägt somit zur Destabilisierung des Finanzsystems bei.

Diese Kombination aus Schuldenbergen und eskalierender Klimakrise könnte sich zu einem „systemischen Risiko“ für die Weltwirtschaft entwickeln, warnten US-Medien 2021 unter Verweis auf Einschätzungen der Weltbank und des IWF.10 Untragbare Schulden, Klimawandel und Umweltzerstörung würden demnach einen „Zyklus aus verringerten Einnahmen, steigenden Ausgaben und zunehmenden klimatischen Anfälligkeiten“ verstärken. Evident ist diese Krisenmechanik in der Periphere: Während Entwicklungsländer schon 2019 Kredite von rund 8,1 Billionen gegenüber ausländischen Gläubigern akkumuliert hatten, deren Bedienung 17,4 Prozent ihrer Staatseinnahmen verschlang (eine Verdreifachung der Schuldenlast gegenüber 2011!), ist von den versprochenen Klimahilfen des Nordens, die sich auf 100 Milliarden Dollar summieren sollen, kaum etwas geflossen.11

Die verheerende Wechselwirkung aus Überschuldung und Naturkatastrophen wird etwa am Beispiel des südwestafrikanischen Entwicklungslandes Mosambik deutlich, das schon 2019 unter einer hohen Verschuldung litt,12 als es von zwei Zyklonen verwüstet wurde, die mehr als 1000 Menschen töteten und Schäden von 870 Millionen Dollar verursachten. Die Regierung in Maputo sah sich genötigt, infolge des Extremwetterereignisses weiter Kredite aufzunehmen, um die Schäden zumindest teilweise zu beseitigen. Nun ist Mosambik auf der besagten IWF-Liste der vom Staatsbankrott gefährdeten afrikanischen Länder zu finden. Im vergangenen März warnten bereits die Finanzminister etlicher afrikanischer Staaten, dass „ein beträchtlicher Teil“ ihrer Haushaltsmittel in Reaktion auf Extremwetterereignisse wie Dürren und Überflutungen aufgewendet werden müsse, die „Finanzpuffer“ seien bereits weitgehend erschöpft.13

Doch die Klimakrise dürfte auch das gesamte Weltfinanzsystem zunehmend in Schieflage bringen, da dessen einstmals als solide erachtetes Fundament, der Markt für Staatsanleihen, kaum noch die wachsenden Risiken reflektiert, warnte jüngst die Nachrichtenagentur Bloomberg.14 Demnach würden institutionelle Investoren zunehmend die Bewertung von Staatsanleihen durch die großen Ratingagenturen hinterfragen, da die plötzlichen Erschütterungen durch Extremwetterereignisse kaum in deren Berechnungen einfließen würden. Die Noten, die Ratingagenturen wie Moody’s Investors Service, S&P Global Ratings, und Fitch Ratings für Anleihen vergeben, sind aber entscheidend für deren Zinsniveau. Je schlechter die Benotung, desto teurer gestaltet sich der Schuldendienst.

Eine umfassende „Einpreisung“ von Klimarisiken würde somit den Schuldendienst verteuern, was die Gefahr von Staatspleiten ansteigen lassen würde. Dies gilt nicht nur für die Peripherie des kapitalistischen Weltsystems, wie Bloomberg ausführte. Auch Länder wie Japan, Mexiko, Südafrika oder Spanien könnten in den kommenden Dekaden durch die Wechselwirkung aus Kreditlast und Klimakrise in die Staatspleite getrieben werden, wenn ihre Bemühungen zur Reduzierung der CO2-Emissionen „zu spät, zu abrupt oder ökonomisch schädigend“ seien. In Schieflage könnten aber auch Staaten wie Russland, Kanada oder Australien geraten, die sehr stark vom Export fossiler Energieträger abhängig sind.

Scrooge-Romney.jpg

Staatsanleihen, insbesondere in den Zentrumsländern wie USA oder BRD, gelten aber als das Fundament, als der Beton des globalen Finanzkartenhauses. Bei jeder Krise flieht Kapital aus risikoreichen Investments in den „sicheren“ Anleihemarkt. Sollte dieser Anleihemarkt nicht mehr als ein „sicherer Hafen“ angesehen werden können, dann würde dies das gesamte Finanzsystem bei künftigen sozioökologischen Krisenschüben destabilisieren. Der Staatsanleihenmarkt sei „das Auffangnetz“ des Weltfinanzsystems, erklärte ein Analyst gegenüber Bloomberg, „jeder zieht sich dorthin zurück in Zeiten von Turbulenzen und Desastern“.

Diese üblichen Krisenreflexe auf den Finanzmärkten, die durch die gute Bewertung von Staatsanleihen durch Ratingagenturen befördert werden, stimmen aber nicht mehr mit der Realität der Klimakrise überein. Die Ratingagenturen haben schon früher katastrophale Fehleinschätzungen abgegeben, im Vorfeld der Weltfinanzkrise von 2008, als Hypothekenverbriefungen, die während der Immobilienblase in den USA und der EU die Finanzmärkte überfluteten, viel zu gut bewertet wurden. Nun droht ein ähnliches Szenario auf den Anleihemärkten, wo die Risiken der Klimakrise systematisch ausgeblendet werden.

Die Staaten fungieren ohnehin seit dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase 2008 als letztes Aufgebot des an seiner Produktivität erstickenden Spätkapitalismus, der nur noch durch immer neue, kreditfinanzierte Konjunkturprogramme, durch extreme Gelddruckerei seine Agonie prolongieren kann. Diese innere Schranke des Kapitals15 tritt somit auch auf den Anleihemärkten in direkte Wechselwirkung mit der äußeren Schranke des Kapitals,16 der Endlichkeit des Planeten Erde und den Grenzen seiner ökologischen Belastbarkeit.

https://www.patreon.com/user?u=57464083

1 https://www.ft.com/content/6f379a95-21e0-4d25-ba09-c91b1432c584

2 https://www.untergrund-blättle.ch/wirtschaft/theorie/stagflation-inflationsrate-6794.html

3 https://www.faz.net/aktuell/finanzen/schulden-in-der-welt-so-hoch-wie-nie-sorgen-um-steigende-zinsen-18044279.html

4 https://www.reuters.com/markets/europe/emerging-markets-drive-global-debt-record-303-trillion-iif-2022-02-23/

5 https://www.ft.com/content/51ecbfa3-c3c4-4a58-8372-980ff751f1fa

6 https://www.economist.com/middle-east-and-africa/2022/04/30/debt-repayment-costs-are-rising-fast-for-many-african-countries

7 https://theconversation.com/debt-distress-in-africa-biggest-problems-and-ways-forward-182716

8 https://jubileedebt.org.uk/wp-content/uploads/2021/10/Lower-income-countries-spending-on-adaptation_10.21.pdf

9 https://www.theguardian.com/environment/2021/oct/27/poorer-countries-spend-five-times-more-on-debt-than-climate-crisis-report

10 https://www.nytimes.com/2021/04/07/climate/debt-climate-change.html

11 https://www.nature.com/articles/d41586-021-02846-3

12 https://www.reuters.com/article/us-mozambique-debt-creditors-factbox/factbox-mozambique-debt-crisis-what-does-the-country-owe-and-to-whom-idUSKCN1VU1WE

13 https://www.nytimes.com/2021/04/07/climate/debt-climate-change.html

14 https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-09-23/climate-change-risk-looms-for-government-debt

15 https://www.akweb.de/ausgaben/642/kapitalismus-und-klimakatastrophe-zu-effizient-fuer-diese-welt/

16 https://www.konicz.info/?p=4684

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Grafikquellen      :

Oben     —       Graffiti „Destroy Capitalism!“ auf einer Fabrikmauer

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G7 – Gipfel in Elmau

Erstellt von Redaktion am 26. Juni 2022

Im Westen was Neues

Datei:Fencing off Carbis Bay railway station for G7, June 2021.jpg

Wer rollte denn den stinkenden Käse vom Bahnhof ?

Von Dominic Johnson

Afghanistan, Afrikas Sahelzone und die Ukraine haben die Selbstsicherheit des Westens untergraben – und ihn als Akteur neu zusammengeschweißt.

Als sich die Führer der sieben größten westlichen Industrienationen Mitte Juni 2021 im englischen Seebad Carbis Bay trafen, herrschte eitel Sonnenschein. Es war der erste G7-Gipfel seit Corona, dank der neu entwickelten Impfstoffe sah man sich bereits am Ende der Pandemie. Es war der erste G7-Gipfel seit fünf Jahren ohne Donald Trump, der Westen trat endlich mal wieder vereint und gut gelaunt auf. „The West Is Back“, proklamierten Zeitungskommentare.

First Lady Jill Biden spielte vor den Kameras auf dem weißen Sandstrand mit Boris Johnsons neuestem Baby Wilfred, die New York Times jubelte über die „Rückkehr zur Diplomatie von Angesicht zu Angesicht“, Emmanuel Macron lobte die „Rückkehr zu traditionelleren Arbeitsweisen“, und sogar Angela Merkel rang sich beim Gruppenfoto ein halbes Lächeln ab. Bei der Abschlusspressekonferenz versprach Gastgeber Boris Johnson Impfstoff für alle und eine neue Welt nach Covid-19: „Wir alle müssen die Welt besser wieder aufbauen in einer Weise, die für alle unsere Menschen und die Menschen der ganzen Welt funktioniert.“

Zwei Monate später fiel Afghanistan an die Taliban, und das neue westliche Selbstbewusstsein war wieder dahin.

Wenn sich die Führer der sieben größten westlichen Industrienationen in dieser letzten Juniwoche 2022 im deutschen Bergressort Elmau treffen, stehen die Zeichen eher auf Sturm – nicht zwischen den Teilnehmern, sondern in der Welt. Statt weißer Strände vor blauem Meer gibt es steile Berge vor Gewitterwolken. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mit seinen globalen Folgen überlagert alles.

Der Fokus hat sich von Aufbau auf Abwehr verlagert. In seiner Regierungserklärung zum G7-Gipfel vor dem Bundestag am Mittwoch – und zum EU-Gipfel davor und dem Nato-Gipfel danach – sprach Gastgeber Olaf Scholz zunächst von den Ruinen von Irpin in der Ukraine und äußerte schließlich die Erwartung, „dass die Demokratien der Welt zusammenstehen im Kampf gegen Putins Imperialismus, aber eben genauso im Kampf gegen Hunger und Armut, gegen Gesundheitskrisen und den Klimawandel“. Lauter Gegner. Aber wofür ist man eigentlich?

Banale deutsche Worte

Der Westen rückt zusammen – das war 2021 die Botschaft von G7, und das wird auch die Botschaft in diesem Jahr sein. Aber eine positive Botschaft, wie sie Boris Johnson beim letzten Gipfel zumindest zu formulieren versuchte, hat Olaf Scholz 2022 bisher nicht.

Denn die Vorzeichen haben sich fundamental verändert. Was das Debakel von Afghanistan für die USA und Großbritannien war, ist der russische Ukrainekrieg für Deutschland: der Zusammenbruch eines zentralen Elements des außenpolitischen Selbstverständnisses. Für die USA und Großbritannien war das die Gewissheit, dass militärisches Engagement die Welt verbessern kann.

Für Deutschland ist es die Überzeugung, dass Zusammenarbeit mit Russland Frieden und Sicherheit in Europa schafft. Ein drittes, ähnlich gelagertes Debakel hat Frankreich dieses Jahr mit dem Scheitern seines Antiterrorkrieges in Afrikas Sahelzone und dem faktischen Rauswurf aus Mali erlebt: Mit Afrikas Abkehr von Frankreich zerfällt die wichtigste Säule des französischen Großmachtanspruchs.

Unsicherheit statt Selbstsicherheit also – aber vordergründig merkt man das nicht. Betont wird Kontinuität. Alle G7-Gipfelteilnehmer 2022 waren 2021 schon dabei – außer dem Gastgeber, Olaf Scholz. Die fünf „großen Ziele“ der deutschen G7-Präsidentschaft 2022 sind von grandioser Banalität: „Starke Allianzen für einen nachhaltigen Planeten“, „Weichenstellungen für wirtschaftliche Stabilität und Transformation“, „starke Vorsorge für ein gesundes Leben“, „nachhaltige Investitionen in eine bessere Zukunft“, „gemeinsamer Einsatz für ein starkes Miteinander“, alles unter der zeitlosen Losung „Fortschritt für eine gerechte Welt“.

Weltregierung? Das ist ein Missverständnis

Ist denn sonst nichts los? „Natürlich befasst sich der G7-Gipfel auch mit den globalen Folgen des Krieges in der Ukraine“, ergänzt die Website der deutschen G7-Präsidentschaft lakonisch. Ein Gipfel der Worthülsen – mit dieser Aussicht geben sich die meisten Kritiker nicht zufrieden. Sie fordern konkretes Handeln, und zwar vehement. „Hätten die G7 die für 2022 zugesagten Impfstoffspenden bereits 2021 geliefert, könnten fast 600.000 Menschen noch am Leben sein, die an Covid-19 gestorben sind“, schimpft Oxfam in einer Mitteilung an diesem Freitag und rechnet vor, dass kein G7-Staat seine Impfstoffzusagen vom Gipfel 2021 auch nur annähernd erfüllt habe – Spitzenreiter sei Japan mit allerdings nur 64 Prozent, Schlusslicht Kanada mit 30.

Mit Geld – kaufen wir uns die Welt !

Die Entwicklungsorganisation „One“ weist darauf hin, dass die globale Lebenserwartung derzeit sinkt – zum ersten Mal seit den 1950er Jahren – und ruft die G7-Staaten dazu auf, „ärmere Länder finanziell zu unterstützen“. Das International Rescue Committee, ein Hilfswerk aus den USA, mahnt an: „Die G7-Staaten müssen sicherstellen, dass das Jahr 2022 eine ‚Zeitenwende‘ in den Bemühungen um den Schutz von Zi­vi­lis­t*in­nen in Konflikten und die Unterstützung beim Zugang zu der von ihnen benötigten Hilfe in Konfliktgebieten auf der ganzen Welt markiert.“ Deutschland solle sich als G7-Gastgeber und Verfechter der multilateralen, regelbasierten Ordnung dafür einsetzen, die Verpflichtung zum humanitären Völkerrecht in den Mittelpunkt des G7-Gipfels zu stellen.der G7 ist ein Missverständnis

Aus der Ära multilateraler Kooperation im 21. Jahrhundert ist eine multipolare Konfrontation geworden

Diese Erklärungen internationaler Nichtregierungsorganisationen zum G7-Gipfel stammen aus dem Zeitraum von nur einer Stunde am Freitagmorgen. All diesen und unzähligen weiteren Forderungskatalogen ist gemein, dass sie auf einem Missverständnis fußen: die G7 als potenzielle Weltregierung, die sich nur etwas mehr anstrengen müsse, und alle Probleme der Erde wären gelöst. Sollte noch irgendjemand an diesen Mythos geglaubt haben: Die großen Sicherheitskrisen – Afghanistan, Sahel, Ukraine – haben ihn endgültig zerschlagen.

Quelle         :       TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Zaun um den Bahnhof Carbis Bay in Vorbereitung auf den G7-Gipfel, Carbis Bay, Cornwall im Juni 2021

Verfasser Gazamp          /     Quelle    :  Eigene Arbeit       /    Datum     :  4. Juni 2021, 10:13:48

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International Lizenz.

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Unten    —       Fotoquelle: Scan/DL – TAZ , Autorin: Marian Kamensky aus 2015

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Ford im Saarland

Erstellt von Redaktion am 23. Juni 2022

Mal klug, mal weniger klug.

Von Wolfgang Gerecht, 23.06.2022

Wenn der NOCH-Vorsitzende der Partei DIE „LINKE“ aus dem Saarland meint, die SPD-lerin, Frau Rehlinger, beratschlagen zu müssen, dann ist er sprichwörtlich „auf dem Holzweg“. Niemand wird einen Gesetz-Entwurf im Bundesrat für eine „Übergewinnsteuer“ einbringen.

Auch die Entscheidung von Ford gegen seine Standorte im Saarland, zugunsten derer im spanischen Valencia wird in Fach-Artikeln informativ und deutlich dargestellt.

So sagt der Ford-Europachef Rowley, dass „man“ nun eine „Task Force“ gründe und mit den „Arbeitnehmervertretern und der saarländischen Landesregierung“ das weitere Vorgehen besprechen werde. Der dreimal größere Standort Köln soll mit Milliardeninvestitionen gestärkt werden. „Am saarländischen Standort läuft die Fertigung des Verbrennermotor-Modells Focus
im Jahr 2025 aus“.

Das ganze Politiker – Geschwurbel dient doch nur dazu, die allgemeine Öffentlichkeit, die örtlichen Politik-Vertreter, die betroffenen Arbeitnehmer zu verwirren und im Unklaren zu lassen.

Das Frau Spaniol einmal langjährige Abgeordnete im Saarländischen Landtag war, das hilft den betroffenen Arbeitnehmern (und ihren Familien) in Saarlouis, Dillingen und Umgebung herzlich wenig.

Auch die „bahnbrechende“ Erkenntnis des MdB´s und der Ex-MdL, „dass „großen“ Konzernen ihr Profit wichtiger ist als das Interesse der Beschäftigten und ganzer Regionen“ hilft den Betroffenen genau so wenig wie den Arbeitnehmern des Saarlandes an der Tankstelle.

Solche Aussagen hören sich doch eher nach Kindergarten und ABC-Schüler an, als nach ernsthaften Informationen für Betroffene und politisch interessierten Bürger Innen.

Mit solchen seichten und nichtssagenden Politik -“Aussagen“ wird DIE „LINKE“ keinen „Blumentopf“ mehr künftig gewinnen.

Die Abwanderung von der Politik in das Nichtwähler-Lager ist letztlich reine Notwehr der Betroffenen und wird ja auch immer öfters und in immer größerem Umfange wahrgenommen.

Eine klare Gesellschafts- und Klassen-Analyse m ü s s t e die Grundlage eines aktualisierten Grundsatz-Programms einer „wirklichen“ bzw. „echten“ LINKEN sein.

Eine solche Analyse wird man weder von dem (neuen) Partei-Vorstand noch von der mit riesigen staatlichen Steuergeldern „gepämperten“ Rosa-Luxemburg-Stiftung, deren künftiger Vorsitzende ja der Saarländer Bierbaum wird, erstellt werden.

Die beiden Bundes-Vorsitzenden der Partei und der gesamte Partei-Vorstand hatten ja sogar eine Analyse der Wahl-Niederlage bei der BTW vom 26.09.2021 abgelehnt.

Datei:Ford Werk Saarlouis.jpg

Ohne eine klare und eindeutige Grundhaltung, ohne eine klare und eindeutige Kommunikation und ohne eine klare und eindeutig politische Handlungen wird es mit einer LINKEN Partei in Deutschland nichts werden.

Bezug und verwendete Quellen:

https://www.focus.de/finanzen/news/hiobsbotschaft-fuer-4600-mitarbeiter-ford-werk-in-saarlouis-baut-ab-2025-keine-autos-mehr_id_107983641.html
https://dielinkesaar.de/index.php?id=nb&id2=1654776365-140605 („Übergewinnsteuer“)
https://dielinkesaar.de/index.php?id=nb&id2=1655898820-135340 (Ford-Standort-Schließungen im Saarland)

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Grafikquellen      :

Oben     —    Das Ford-Hochhaus (Aufnahme 2008)

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Hitzetod in der Klimakrise

Erstellt von Redaktion am 22. Juni 2022

Die politisch geförderte  Hitze-Welle fordert weltweit viele Todesopfer

Woodbury Feuer, 2019.jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Die kapitalistische Klimakrise fordert bereits massenhaft Todesopfer unter armen und gefährdeten Bevölkerungsschichten – nicht nur im globalen Süden.

Die Klimakrise fordert längst massenhaft Todesopfer. Auch dieses Jahr dürften abermals Hunderte Obdachlose der buchstäblich mörderischen Hitze zum Opfer fallen, die alljährlich weite Teile der Vereinigten Staaten heimsucht.1 Letztes Jahr wurden US-weit rund 1500 Todesfälle registriert, die einen direkten Zusammenhang mit den Hitzewellen aufweisen, die insbesondere im Süden und Westen des Landes immer neue Rekordwerte erreichen. Rund die Hälfte dieser Hitzetoten war obdachlos. Es sind somit gerade die ärmsten der Armen, die zuerst der sich voll entfaltenden Klimakrise zum Opfer fallen.

Doch eigentlich weiß niemand so genau, wie viele Obdachlose alljährlich in der Hitze umkommen, da viele Fälle einfach nicht registriert werden. Alljährlich werden während der zunehmenden Hitzewellen Tote in Zeltlagern oder vor Suppenküchen gefunden, die nicht immer als Opfer der Witterungsverhältnisse Eingang in die Statistiken finden. Besonders gefährdet sind pauperisierte Menschen in Städten wie Phoenix, im westlichen Wüstenstaat Arizona, wo die Temperaturen inzwischen mehr als 45 Grad Celsius erreichen können. Es sei im Sommer ziemlich schwer, einen kühlen Platz zu finden, ohne gleich von der Polizei vertrieben zu werden, klagte ein Obdachloser gegenüber der Nachrichtenagentur AP.

In den Zelten auf den Bürgersteigen oder auf brüllend heißen Parkplätzen, in denen Obdachlose in Los Angeles und Phoenix zu überleben versuchen, wird die Hitze sehr schnell lebensbedrohlich. Die zunehmenden Hitzephasen führen in den USA inzwischen zu mehr Todesopfern als Hurrikane, Überflutungen und Tornados zusammengenommen. Allein im südwestlichen Bundesstaat Arizona, dessen Hauptstadt Phoenix als eine der hitzeanfälligsten Großstädte der USA gilt,2 wurden 2021 offiziell 339 Hitzetote erfasst, von denen 130 obdachlos waren. In der Glücksspielmetropole Las Vegas bringen sich viele wohnungslose Menschen buchstäblich im Untergrund in Sicherheit – sie hausen in Abwasserkanälen, die etwas Schutz vor der mörderischen Hitze bieten.

Die ökonomische und die ökologische Krise des Kapitals greifen längst ineinander. Der pandemiebedingte Krisenschub3 samt den steigenden Mieten auf dem überhitzten US-Immobilienmarkt hat zu einer raschen Zunahme der Zahl der Obdachlosen geführt,4 die inzwischen mehr als eine halbe Million Menschen5 umfasst – und die sich extremen Witterungsbedingungen ausgesetzt sehen. Mit immer neuen Hitzerekorden nimmt somit auch die Zahl der Hitzetoten in den Vereinigten Staaten zu: zwischen 2018 und 2021 um 56 Prozent.6 Die Wahrscheinlichkeit, dem Hitzetod zu erliegen, ist für einen Obdachlosen um den Faktor 200 höher als bei Mietern oder Wohnungsinhabern.

Das kapitalistische System ist aufgrund des Verwertungszwangs des Kapitals, der sich volkswirtschaftlich als das allseits fetischisierte „Wirtschaftswachstum“ manifestiert, außerstande, die Verschwendung von Rohstoffen und die Verbrennung fossiler Energieträger zu begrenzen, was sich ganz konkret in alljährlich global steigenden CO2-Emissionen manifestiert.7 Folglich laboriert die Politik selbst in Reaktion auf das aufkommende Phänomen des Hitzetodes nur an dessen Symptomen, anstatt die Ursache der Klimakrise, die durch den Wachstumszwang des Kapitals verursachte Verbrennung der ökologischen Lebensgrundlagen der Menschheit, zu bekämpfen.

In den Vereinigten Staaten werden in gefährdeten Regionen inzwischen „Kühlräume“ für Obdachlose aufgebaut, während Freiwillige deren Zeltlager mit Wasser versorgen. Dabei weitet sich das Problem der Phasen lebensbedrohlicher Hitze zunehmend aus. Städte und Regionen, die bislang kaum davon betroffen waren – wie Boston, Portland oder Seattle – sehen sich nun gezwungen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um das Überleben insbesondere der pauperisierten Stadtbewohner in extremem Witterungsverhältnissen zu ermöglichen. New York etwa veröffentlichte Mitte Juni einen Bericht über 370 hitzebedingte Todesfälle im vergangenen Jahr, der eine steigende Zahl heißer Tage in den vergangenen Jahren konstatierte (bei gleichbleibender Zahl sehr heißer Tage).8

Neben diesen direkten Todesfällen führen längere Hitzeperioden auch mittelbar zu einer höheren Sterberate, da Kranke mit Herz- und Kreislaufproblemen eher in solchen extremen Witterungsverhältnissen ihrem Leiden erliegen.9 Besonders betroffen sich zudem ältere Menschen über 50 und Übergewichtige, was insbesondere in der Vereinigten Staaten überproportional oft für die pauperisierten Bevölkerungsschichten zutrifft, die sich eine gesunde Ernährung schlicht nicht leisten können.10 Der berüchtigte Hitzesommer 2003 in Europa hat so zu insgesamt 70 000 Todesfällen geführt.11 Derzeit bemühen sich die Behörden in Frankreich aufgrund der sehr früh einsetzenden Hitzeperiode um die Einrichtung ähnlicher „Kühlräume“, wie sie in den USA üblich sind.12

Indiens Arbeiter und Arme am Rande der Überlebensfähigkeit

Von solchen Maßnahmen wie Kühlräumen können die Obdachlosen und arbeitenden Armen Indiens oder Pakistans nur träumen. Eine verheerende, historisch beispiellose Hitzewelle hat den indischen Subkontinent in diesem Frühjahr heimgesucht, bei der bereits die Grenzen der Überlebensfähigkeit der betroffenen Menschen erreicht wurden.13 Die Temperaturen erreichten in etlichen besonders schwer getroffenen Regionen bis zu 45 Grad Celsius im März und 49 Grad Celsius im April.14 Über die Zahl der Hitzetoten gibt es in der Region aufgrund mangelnder Erfassung keine zuverlässigen Zahlen, doch gehen Schätzungen von Tausenden Opfern aus.

Bauarbeiter in der südindischen Stadt Chennai berichteten gegenüber Medien, dass die Verrichtung ihrer Arbeit in der Hitze nahezu unmöglich sei.15 Ein Arbeiter, der in 12-Stunden-Schichten Stahlrahmen herstellt, klagte über Temperaturen von 38 Grad Celsius im vergangenen März, die weit über dem üblichen Temperaturniveau von rund 32 Grad lagen. Er sei nicht mehr in der Lage gewesen, die die Metallrahmen zu montieren, ohne sich die Finger zu verbrennen, so der Arbeiter, der über Schwindelgefühle klagte. Etliche Bauarbeiterinnen seien unter der Hitze zusammengebrochen. Er könne es sich nicht leisten, zu pausieren oder in seiner Konzentration nachzulassen, klagte der interviewte Bauarbeiter, da es inzwischen „Maschinen gibt, die meine Arbeit machen können“. Dieser Sommer habe die Grenzen seiner Ausdauer getestet.

Das Schwellenland Indien, das ein hohes jährliches Wirtschaftswachstum zwecks Aufrechterhaltung sozialer Stabilität anstrebt, ist zugleich einer der größten Konsumenten von Steinkohle – und der Bedarf an dem klimaschädlichen Energieträger steigt gerade in den Hitzephasen steil an, wenn all jene Betriebe und Bürger, die sich Klimaanlagen leisten können, den Energiebedarf ansteigen lassen. Die ökologische Unhaltbarkeit kapitalistischen „Entwicklung“ tritt gerade in solchen Hitzephasen krass zutage: Das Wirtschaftswachstum, auf das Lohnabhängige im Kapitalismus angewiesen sind, da sie nur dann überleben können, wenn ihre Arbeitskraft vom Kapital in der Warenproduktion zwecks Profitmaximierung verwertet wird, entzieht ihnen zugleich die ökologischen Lebensgrundlagen.

Tatsächlich ist die Hitze in Indien bereits nicht nur für gesundheitlich angeschlagene Menschen oder arbeitende Arme – etwa auf dem Bau – lebensbedrohlich. Die zunehmenden Extremwetterereignisse drohen ganze Landstriche unbewohnbar zu machen, da der menschliche Körper in der manifesten Klimakrise auf dem indischen Subkontinent an die Grenze seiner Funktionsfähigkeit rückt. Die sogenannte Kühlgrenztemperatur bildet dabei den zentralen Wert,16 der die Grenze der Bewohnbarkeit einer von häufigen Hitzewellen heimgesuchten Region markiert. Dabei gilt: Eine Kühlgrenztemperatur, die bei einer Luftfeuchtigkeit von 100 Prozent rund 35 Grad Celsius beträgt, bildet die Grenze, nach deren Überschreiten es dem menschlichen Körper nicht mehr möglich ist, durch Schwitzen die eigene Temperatur zu regulieren – es folgt nach wenigen Stunden bei 35 Grad und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit der Hitzetod.

Dabei gilt: Je niedriger die Luftfeuchtigkeit, desto höher die Kühlgrenztemperatur. Bei hoher Luftfeuchtigkeit, etwa in den Tropen, sind das somit niedrigere Temperaturen, als etwa in einer Wüstenregion. Für den indischen Subkontinent, der vom besonders warmen Indischen Ozean mit Feuchtigkeit versorgt wird, ergeben sich bereits dramatische Annäherungen an diese biologische Grenze der Bewohnbarkeit, warnten indische Medien unter Bezugnahme auf entsprechende Studien Anfang Juni.17

Insbesondere in den feuchten Küstenregionen Indiens erreicht die Kühlgrenztemperatur bereits des Öfteren 32 Grad Celsius, was die normale Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers über längere Zeiträume beeinträchtigen kann. Vier der sechs größten Städte Indiens, in denen dutzende Millionen Menschen leben, haben ebenfalls diese Grenze in den vergangenen Jahren zumindest einmal überschritten, darunter auch die Hauptstadt Neu-Delhi. In der ostindischen Küstenstadt Kalkutta, in deren Einzugsgebiet mehr als 14 Millionen Menschen leben, wird die Kühlgrenztemperatur von 32 Grad Celsius inzwischen nahezu jährlich übertroffen.18 Es ist somit absehbar, dass Teile Indiens in den kommenden Dekaden tatsächlich unbewohnbar werden.

Da die Klimaanlagen für die meisten armen Bürger aufgrund des gegebenen „Reichtumsgefälles“ Indiens einen unerreichbaren „Luxus“ darstellen, drohe künftig „Millionen von Indern der Tod aufgrund hitzebedingter Probleme“, warnten indische Medien.19 Sollte es der Regierung nicht gelingen, „kostengünstige Wege“ zur Versorgung der Bevölkerung mit Klimaanlagen oder Kühlzonen zu finden, würde die 1,7 Milliarden betragende Bevölkerung bald massenhaft sterben. Deswegen stelle „ein Ende des Klimawandels die einzige Lösung“ dar.

https://www.patreon.com/user?u=57464083

1 https://www.yahoo.com/news/sweltering-streets-hundreds-homeless-die-141542065.html

2 https://kyma.com/news/2022/06/20/hundreds-of-homeless-die-in-extreme-heat/

3 https://lowerclassmag.com/2020/03/26/coronakrise-der-kommende-absturz/

4 https://www.youtube.com/watch?v=KUpIEDqbVyk

5 https://policyadvice.net/insurance/insights/homelessness-statistics/

6 https://www.valuepenguin.com/heat-related-deaths-study

7 https://www.mandelbaum.at/buch.php?id=962

8 https://www1.nyc.gov/site/doh/about/press/pr2022/heat-related-mortality-report.page

9 https://www.upi.com/Health_News/2022/06/20/extreme-heat-heart-dangers/6291655731120/

10 http://www.konicz.info/?p=2544

11 https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1631069107003770

12 https://www.politico.eu/article/western-europe-tries-to-limit-heat-wave-death-toll/

13 https://insideclimatenews.org/news/07052022/heatwave-india-pakistan-deaths-health-risks/

14 https://www.thequint.com/fit/heat-humidity-wet-bulb-temperature-india-summer-heatwave-deaths-cases#read-more

15 https://www.wired.com/story/india-deadly-combination-heat-humidity/

16 https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%BChlgrenztemperatur

17 https://www.thequint.com/fit/heat-humidity-wet-bulb-temperature-india-summer-heatwave-deaths-cases#read-more

18 https://www.economist.com/graphic-detail/2022/05/13/heat-and-humidity-are-putting-millions-of-indians-in-peril

19 https://www.thequint.com/fit/heat-humidity-wet-bulb-temperature-india-summer-heatwave-deaths-cases#read-more

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Oben     —   Tonto National Monument während der Feuerarbeiten

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Von der FED zur EZB

Erstellt von Redaktion am 12. Juni 2022

Fed und EZB in geldpolitischer Sackgasse

Datei:Flagge der United States Federal Reserve.svg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Ein kurzer Hintergrund zu den Aporien bürgerlicher Krisenpolitik beim Übergang der Weltwirtschaft von der Pandemie- zur Kriegskrise.

Von der Pandemie in den Krieg – die Weltwirtschaft kommt offensichtlich nicht mehr zur Ruhe. Die Tagesschau sieht auf ihrer Internetpräsenz die Weltwirtschaft gar von „multiplen Krisen“ bedroht.1 Doch wenn es um den ökonomischen Fallout der rasch voranschreitenden Erosion des kapitalistischen Weltsystems geht, dann stellt sich inzwischen die Frage, ob es überhaupt noch Sinn macht, von einer pandemie- oder kriegsbedingten Wirtschaftskrise zu sprechen, oder ob es nicht konsequenter wäre, endlich die aufeinander folgenden ökonomischen Erschütterungen als Etappen ein und desselben systemischen Krisenprozesses zu begreifen.

Die Weltbank jedenfalls musste in ihrer jüngsten Einschätzung zur Weltkonjunktur ihre frühere Wachstumsprognose deutlich nach unten revidieren.2 Demnach soll die Weltwirtschaft in diesem Jahr nur noch um 2,9 Prozent wachsen, während die Weltbank im Januar noch von 4,1 Prozent ausging. Dies würde nahezu einer Halbierung der globalen Konjunkturdynamik gleichkommen, da diese 2021 aufgrund der gigantischen, schuldenfinanzierten Konjunkturmaßnahmen vieler Staaten satte 5,7 Prozent erreichte. Für viele Entwicklungs- und Schwellenländer, die soziale Stabilität nur bei hohen Wachstumsraten erzielen können, ist diese Konjunkturbremsung bereits gefährlich – gerade vor dem Hintergrund der explodierenden Lebensmittelpreise. Überdies warnte die Weltbank aufgrund des rasch zunehmenden Preisauftriebs vor dem zunehmenden Risiko einer längeren Stagflationsperiode, ähnlich der Krisenphase in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als konjunkturelle Stagnation mit einer mitunter zweistelligen Inflation einherging (Siehe hierzu auch: „Zurück zur Stagflation?“).3

Die OECD vollzog ähnliche Korrekturen, laut denen die Weltwirtschaftsleistung heuer nur um drei Prozent wachsen soll.4 Ende 2021 ging man noch von 4,5 Prozent aus. Für 2023 prognostiziert der Zusammenschluss von 38 Industriestaaten ein Wirtschaftswachstum von 2,8 anstatt der zuvor angenommen 3,2 Prozent – wenn kein neuer Krisenschub dazwischenkommt, versteht sich. Mit der konjunkturellen Verlangsamung im kommenden Jahr soll laut OECD auch ein Abebben der Inflationswelle einhergehen, die von 8,5 Prozent in diesem Jahr auf 6,0 Prozent 2023 zurückgehen soll.

Die massiven Revisionen, die binnen eines halben Jahres von OECD und Weltbank vorgenommen werden mussten, illustrieren nicht nur die Vergeblichkeit von Wirtschaftsprognosen in der manifesten Systemkrise, in die der Spätkapitalismus eintritt, sie lassen auch einen sich immer deutlicher abzeichnenden Zusammenhang zwischen Inflation und Wirtschaftswachstum erkennen. Spätestens seit dem Ausbruch der Pandemie, auf den die Politik mit massiver Gelddruckerei reagierte, insbesondere um staatliche Konjunkturmaßnahmen in den USA und der EU zu finanzieren, hat sich die zunehmende Teuerungsdynamik festgesetzt. Diese ist nicht nur auf den Krieg – es ist keine reine „Putin-Inflation“ – und die gestörten globalen Lieferketten zurückzuführen, sondern auch auf die expansive Geldpolitik der Notenbanken.5

Geldflut und Inflation

Dieser Zusammenhang zwischen der großen pandemiebedingten Geldflut und der globalen Inflation wurde zuletzt etwa vor dem Finanzkomitee des US-Senats diskutiert, dem sich die Finanzministerin der Biden-Administration, Janet Yellen, Anfang Juni stellen musste.6 Die Vorwürfe der republikanischen Opposition, laut denen das Weiße Haus die Inflation und das „Überhitzen“ der Wirtschaft durch sein 1,9 Billionen Dollar umfassendes Konjunkturprogramm ausgelöst habe, sind in mehrfacher Hinsicht unredlich: Zum einen hat Donald Trump ähnlich kostspielige Stützungsmaßnahmen aufgelegt, die aber vor allem Steuererleichterungen für Reiche und Konzerne beinhalteten, während bei Biden – allen Kürzungen zum Trotz – doch einige Erleichterungen für die Mittelklasse und einkommensschwache Schichten durchgesetzt werden konnten. Und gerade dieser Umstand, wonach etwa Sozialzuschüsse für Kinder als „Inflationstreiber“ identifiziert werden, ist dem Weißen Haus nun zum Vorwurf gemacht worden.

Ein Blick auf das vergangene Jahr hilft, die Perspektive geradezurücken: Die an Fahrt gewinnende Inflation, die inzwischen mehr als acht Prozentpunkte erreicht, ging mit einem Wachstum des Bruttoinlandsproduktes BIP von 5,4 Prozent einher – der höchste Wert seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts.7 Diese Expansion, bei der die US-Notenbank faktisch mit frisch gedrucktem Geld die Schulden aufkaufte, die von der US-Regierung zwecks Konjunkturbelebung aufgenommen worden sind, erfolgte in Reaktion auf den ungeheuren Wirtschaftseinbruch nach Ausbruch der Pandemie, die das US-BIP 2020 um 3,4 Prozent kontrahieren ließ. Es ließe sich somit im Umkehrschluss fragen, wie wohl die US-Wirtschaft jetzt aussähe, hätte Washington auf diese Konjunkturprogramme verzichtet.

Die US-Konjunkturpolitik hat faktisch eine Depression abgewendet, wenn auch nur um den Preis, den vor allem Lohnabhängige nun an der Supermarktkasse zu entrichten haben: um den Preis der Inflation. Aufkäufe von Bonds und Schuldentiteln durch Notenbanken hat es auch in vergangenen Krisenphasen, etwa nach dem Platzen der Immobilienblase 2007/08 gegeben, doch sind einerseits die Dimensionen dieser „quantitativen Lockerungen“ diesmal ein Vielfaches größer als damals,8 und andrerseits scheint die Finanzialisierung des Kapitals an ihre Grenzen zu stoßen, da die vorherigen Phasen expansiver Geldpolitik zu einer Inflation der Finanzmarktpreise auf den aufgeblähten Finanzmärkten führten – und so zum Aufstieg neuer Spekulationsblasen beitrugen.

Die Gelddruckerei der Notenbanken stellt – neben der kollabierenden Globalisierung und der voll einsetzenden Klimakrise – somit einen der drei wichtigsten Faktoren dar, die zur gegenwärtigen Teuerungswelle beitragen (siehe auch „Dreierlei Inflation“).9 Inzwischen hat die Fed die Leitzinsen auf 0,75 bis ein Prozent angehoben, um diese Teuerung in den Griff zu bekommen – trotz einer Kontraktion des US-BIP im ersten Quartal dieses Jahres um 1,5 Prozent.10

In den USA macht die rechte Opposition die Biden-Administration und ihre ohnehin verkümmerten Ansätze von Sozialpolitik11 für die Teuerung verantwortlich, in Europa steht die EZB im Zentrum der vornehmlich deutschen Kritik. Die Auseinandersetzungen um den geldpolitischen Kurs werden in der EU von den unterschiedlichen Interessen der südlichen Peripherie und des deutschen Zentrums überlagert.12 In Berlin nimmt der Unmut über die ultralockere Geldpolitik der EZB zu, während der Süden der Eurozone, der seit der Euroeinführung unter den Handelsüberschüssen Deutschlands leidet, auf die Nullzinsen und die EZB-Anleiheaufkäufe angewiesen ist, um Konjunkturmaßnahmen zu finanzieren und die hohe Schuldenlast weiter tragfähig zu halten. In Italien beträgt die Staatsverschuldung inzwischen mehr als 130 Prozent des BIP. Es gibt folglich einen guten Indikator für das Krisenpotenzial in der Eurozone: es ist der sogenannte „Spread“, die Zinsdifferenz zwischen deutschen und italienischen Staatsanleihen,13 die bei einem jeden in der EU drohenden Krisenschub ansteigt, da Kapital in einem solchen Fall in „sichere Häfen“, wie die BRD oder die USA, flieht. Dieser Spread ist gerade auf das höchste Niveau seit dem Ausbruch der Pandemie geklettert.

Deswegen geht die europäische Notenbank bei ihren Leitzinserhöhungen viel zögerlicher vor als die Fed – eine neue Eurokrise, bei der steigende Zinsen die Schuldenberge im Süden der Währungsunion kollabieren lassen könnten, soll auf jeden Fall verhindert werden.14 Im „Deutschen Europa“15 zeichnet sich folglich – zwei Jahrzehnte nach dessen Gründung und eine Dekade nach der ersten Eurokrise – abermals die geldpolitische Sackgasse ab, die den Währungsraum zu sprengen droht: Die EZB müsste eigentlich die Zinsen rasch und deutlich anheben, um die Inflation einzudämmen, die inzwischen bei mehr als acht Prozent liegt.16 Doch zugleich müssten die „Währungshüter“ die Zinsen niedrig halten, um eine neue Schuldenkrise im Süden zu verhindern. Italien, dessen Staatsschuldenquote 134 Prozent des BIP beträgt, ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone.

Die Krisenfalle der Geldpolitik

Nochmals: Die Europäische Zentralbank könnte einerseits die Inflation durch rasche und deutliche Zinserhöhungen bekämpfen, doch würde sie dabei eine Schuldenkrise in Südeuropa und faktisch den Zerfall ihres Währungsraums riskieren. Die EZB könnte andrerseits auch weiterhin der Konjunkturpolitik Priorität einräumen, die Zinsen niedrig halten, um eine neue Eurokrise zu verhindern. Dies würde aber der Inflation weiteren Auftrieb verschaffen, sodass die Gefahr bestünde, dass die Eurozone dem Vorbild der Türkei folgt,17 wo „Zinskritiker“ Erdogan immer wieder trotz des rasanten Preisauftriebs im Land die Leitzinsen senken lässt – und die Inflation in der Türkei inzwischen auf stattliche 73 Prozent getrieben hat.

Logo Europäische Zentralbank.svg

Die politische Klasse kann systemimmanent entweder die Option weiterer Verschuldung bis zur Hyperinflation wählen, oder den Weg harter Sparprogramme einschlagen, die in Rezession mitsamt einsetzender Deflationsspirale führen, wie es der Schäublesche Sparsadismus während der Eurokrise am Beispiel Griechenlands vorexerzierte. Die bürgerliche Geldpolitik müsste in der kapitalistischen Dauerkrise faktisch die Zinsen zugleich senken und erhöhen, was nur Ausdruck der Aporie kapitalistischer Krisenpolitik ist, einer Sackgasse, in der sich die kapitalistische „Verwaltung“ der Systemkrise am Ende des neoliberalen Zeitalters befindet.18

Diese Krisenfalle19 gilt nicht nur für den Euroraum, sie ist in allen kapitalistischen Zentrumsländern wirksam, die deren Zuschnappen bislang durch die Expansion der Finanzsphäre, durch permanent ansteigende Schuldenberge und immer neue Finanzmarktblasen hinausschieben konnten.20 Ein Blick auf die langfristige Entwicklung der Leitzinsen zeigt diesen Selbstwiderspruch der Geldpolitik, der sich mit jedem Schub des historischen Krisenprozesses21 immer weiter entfaltete. Sowohl EZB22 wie auch die Fed23 haben in der historischen Tendenz seit den 80er-Jahren ihre Leitzinsen immer weiter abgesenkt, wobei die großen Finanzkrisenschübe des 21. Jahrhunderts als auslösende Momente einer jeden Niedrig- oder Nullzinsphase fungierten. Die Leitzinsen im Euroraum, die mitunter im negativen Bereich sind, lagen bei Einführung des Euro bei mehr als drei Prozent. Nach dem Platzen der Dot-Com-Blase (2000), der Immobilienblase (2007) und nach Ausbruch der Eurokrise sind sie immer weiter abgesenkt worden. Seit 2014 herrscht in der Eurozone faktisch eine Nullzinspolitik, die mit immer stärkerer Gelddruckerei einhergeht.

Ähnlich verhält es sich mit der Fed, die nach Ausbruch der Immobilienkrise 2007 eine sehr expansive Geldpolitik betrieb und hierdurch maßgeblich zur Ausformung der gigantischen Liquiditätsblase beitrug, die im Pandemieverlauf mühsam mit weiteren Billionenspritzen stabilisiert werden musste.24 Die Verwerfungen auf den aufgeblähten Finanzmärkten, die schon vor dem Kriegsausbruch einsetzten, deuten gerade darauf hin, dass diese Finanzialisierung des Kapitalismus kaum noch aufrechterhalten werden kann. Das immer weiter aufgetürmte globale Finanzkartenhaus droht zusammenzubrechen. Im Kern handelte es sich hierbei um eine Verschuldungsdynamik, die die Schuldenlast des an seiner Produktivität erstickenden Weltsystems auf 351 Prozent der Weltwirtschaftsleistung25 hievte.

Sollte es der kapitalistischen Krisenverwaltung nicht mehr gelingen, in Reaktion auf die gegenwärtigen „multiplen Krisen“ – wie besagte deutsche Leitmedien die kapitalistische Systemkrise inzwischen bezeichnen – eine neue Blasenbildung auf den Weltfinanzmärkten zu initiieren, dann steht unausweichlich ein gigantischer Entwertungsschub an. Dabei würden nicht nur viele „Finanzmarktwaren“ entwertet werden, die in der Finanzsphäre in vielfältigster Form – als Aktien oder Derivate – zirkulieren, sondern auch der Finanzmarktschrott, der in den Bilanzen der Notenbanken akkumuliert wurde (zumeist handelt es sich hierbei um Staatspapiere und Hypotheken- oder Kreditverbriefungen).

http://scharf-links.de/?id=Der Finanzmarktkollaps, etwa in Form einer europäischen Schuldenkrise, würde auf die „reale“ Wirtschaft übergreifen, die ja von der Kreditvergabe und der in der Finanzsphäre generierten kreditfinanzierten Nachfrage im höchsten Ausmaß abhängig ist. Dies würde die Entwertung von Produktionskapazitäten in Gestalt von Firmenpleiten, von Ressourcen, die nicht mehr verkäuflich sind, und von der Ware Arbeitskraft, die plötzlich überflüssig wird, nach sich ziehen. Und erst hier finden sich noch „Gestaltungsspielräume“ für die bürgerliche Krisenpolitik: Diese kann, wie oben geschildert, die Form bestimmen, die dieser Entwertungsprozess nehmen wird. Entweder kann die Geldpolitik dem Beispiel Erdogans folgen und in Richtung Hyperinflation marschieren, oder man orientiert sich an Schäuble, um durch Sparsadismus den Weg der Deflation zu beschreiten.

Für eine progressive, emanzipatorische Linke gibt es aber nur noch eine Perspektive, will sie ihrem Begriff gemäß noch in der Krise agieren: die Perspektive des Systemtransformation.

https://www.patreon.com/user?u=57464083

1 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/iwf-weltbank-fruehjahrstagung-konjunkturprognose-101.html

2 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/weltbank-konjunktur-103.html

3 https://www.konicz.info/?p=4616

4 https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/weltwirtschaft-oecd-senkt-wachstumsprognose-deutlich-sieht-begrenztes-stagflationsrisiko-a-1cc0db29-8efa-451b-86ca-82bf9db06355

5 http://www.konicz.info/?p=4389

6 https://www.nytimes.com/2022/06/07/us/politics/inflation-yellen.html

7 https://tradingeconomics.com/united-states/full-year-gdp-growth

8 https://lowerclassmag.com/2021/04/13/oekonomie-im-zuckerrausch-weltfinanzsystem-in-einer-gigantischen-liquiditaetsblase/

9 http://www.konicz.info/?p=4389

10 https://www.handelsblatt.com/finanzen/geldpolitik/beige-book-fed-us-wirtschaft-moderat-gewachsen-inflation-und-zinsen-machen-sich-aber-bemerkbar/28393622.html

11 http://www.konicz.info/?p=4591

12 https://www.heise.de/tp/features/Der-Aufstieg-des-deutschen-Europa-3370752.html

13 https://www.ft.com/content/2869a8f3-bf59-437f-a795-4a3fbdc35cd4

14 https://www.zeit.de/wirtschaft/2022-06/ezb-leitzins-inflation-notenbank-wende

15 https://www.heise.de/tp/features/Der-Zerfall-des-deutschen-Europa-3370918.html

16 https://www.spiegel.de/wirtschaft/statistisches-bundesamt-inflation-im-mai-erreicht-7-9-prozent-a-1ee957d1-5a15-463e-a58c-a6f423225cc5

17 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/tuerkei-leitzins-erdogan-101.html

18 http://www.konicz.info/?p=4892

19 https://www.heise.de/tp/features/Politik-in-der-Krisenfalle-3390890.html

20 https://www.untergrund-blättle.ch/wirtschaft/theorie/stagflation-inflationsrate-6794.html

21 https://lowerclassmag.com/2020/04/27/corona-krisengespenster-kehren-zurueck/

22 https://www.ft.com/content/2869a8f3-bf59-437f-a795-4a3fbdc35cd4

23 https://tradingeconomics.com/united-states/interest-rate

24 https://lowerclassmag.com/2021/04/13/oekonomie-im-zuckerrausch-weltfinanzsystem-in-einer-gigantischen-liquiditaetsblase/

25 https://www.reuters.com/markets/europe/emerging-markets-drive-global-debt-record-303-trillion-iif-2022-02-23/

Urheberrecht
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Oben     —    Flagge des Federal Reserve Systems der Vereinigten Staaten

Verfasser     :   FOX 52          /       Quelle     :    http://www.tmealf.com/      /      Datum     :    9. Juni 1987

Gemeinfreiheit
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Unten      —         Logo der Europäischen Zentralbank (EZB).

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Steuern auf Krisengewinne

Erstellt von Redaktion am 11. Juni 2022

Die pathologische Inflation der Profite

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Eine Kolumne von Thomas Fricke

Ob Wohnungsunternehmen oder Ölkonzerne – zurzeit scheint für Unternehmen jeder Anlass recht, beim Preisetreiben mitzumachen und so die eigenen Gewinnmargen zu erhöhen. Höchste Zeit, das abzuwehren.

Seit fast täglich neue Meldungen über hohe Inflationsraten kommen, scheint sich ein Trend festzusetzen: Wer irgendwie kann, macht mit beim Preiseerhöhen. Da kündigt ein Wohnungsunternehmen an, die Mieten jetzt mal anheben zu müssen – wegen der Inflation. Was eine merkwürdige Umkehrung der Wirkungskette ist. Und die Ölkonzerne nutzen die Umrechnungsphase des Tankrabatts, um die ohnehin schon hohen Preise noch mal anzuheben. Damit die Inflation bloß nicht zu sehr nachlässt.

Klar: Wenn alle das machen, steht man nicht als so böse da, wenn man mitmacht.

Was für Mieter und Verbraucher bitter ist, ist auch ökonomisch ein heikles Phänomen dieser Krisen- und Kriegszeit. Wenn etliche Unternehmen die Notlage ausnutzen, um gerade solche Produkte zu verteuern, die nicht so schnell zu ersetzen sind, droht ein fataler Absturz in die wirtschaftliche Krise.

Nach alt-orthodoxer Lehrbuchformel galt und gilt in Sachen Inflation als höchster Gefährdungsgrad eigentlich ja, dass es zur viel zitierten Lohn-Preis-Spirale kommt  – und die Inflation sich so verselbständigt. Wobei die Spiralen-Warnung nach konservativer Lesart vor allem dahin ging, dass bloß Arbeitnehmer und Gewerkschafter jetzt nicht auf die Idee kommen, einen Ausgleich für höhere Preise zu fordern. Sodass die Preise dann eben auch immer weiter steigen müssen – als gäbe es dafür einen Automatismus; und als gehe das Drama von Lieschen Müller aus.

Wie sich derzeit aber zeigt, tragen zur besagten Lohn-Preis-Spirale bisher gar nicht die Löhne bei, sondern eher die Preise, die ja nicht vom Himmel fallen, sondern von Unternehmen gesetzt werden – aus ökonomisch guten oder weniger guten Gründen.

Das macht politisch einen großen und ebenso heiklen Unterschied. Weil die jüngsten Bekundungen von Wohnungsunternehmen und Ölkonzernen womöglich nur die Fortsetzung eines Trends sind, bei dem etliche Firmen die kritische Mischung aus Pandemie-Nachwirkungen, Krieg und generellem Inflationsambiente nutzen, um die eigenen Verkaufspreise anzuheben. Zur Verbesserung der eigenen Bilanz.

Die Gewinne springen nach oben

Was schon seit Monaten auffällt, ist, dass die Preise gerade in jenen Fällen besonders stark steigen, wo Unternehmen von der Krise profitieren – etwa dort, wo für Verbraucher angesichts der Lieferengpässe infolge der Lockdowns die Alternativen fehlen; und die Menschen keine Möglichkeit haben, auf billigere Anbieter umzusteigen. Beispiel Pauschalreisen. Oder Benzin. Oder bald vielleicht Mieten.

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Zufall oder nicht: Im zweiten Halbjahr 2021 haben die Unternehmen in den USA mit fast 15 Prozent Gewinnquote nach Steuern so viel Profit gemacht wie seit Anfang der Fünfzigerjahre nicht. Nach Berechnungen des Economic Policy Institutes ist mehr als die Hälfte des Anstiegs der Preise in den USA auf eine Ausweitung der Profite in den Unternehmen zurückzuführen. Heißt: Hätten die Firmen ihre Gewinne nicht ausgeweitet, wäre die Inflation rein rechnerisch nicht einmal halb so hoch ausgefallen. Ein Drittel des Preisanstiegs lässt sich darüber hinaus durch höhere Kosten jenseits der Lohnzahlungen erklären, etwa die viel zitierten Energiekosten – und nur knapp acht Prozent durch gestiegene Gehälter.

Ähnliches gilt offenbar für die Wirtschaft diesseits des Atlantiks. Nach Schätzungen der Europäischen Zentralbank (EZB) kam auch im Euroraum der größte Beitrag zur Inflation Ende 2021 vom Hochschnellen der Unternehmensprofite. Den kleinsten Beitrag machten die Lohnkosten je produzierter Einheit aus.

Und auch die Dax-Konzerne in Deutschland haben trotz aller Krisen in den vergangenen Monaten auffällig viel Gewinn gemacht – und dabei neue Rekorde eingefahren. Irre.

Der Markt funktioniert nicht

Für die Ökonomin Isabella Weber von der University of Massachusetts Amherst lässt sich all das nur dadurch erklären, dass eben doch eine Menge Unternehmen die Krise genutzt haben, um in der Not die Preise noch stärker anzuheben, als es steigende Kosten allein gerechtfertigt hätten – und dass daraufhin, anders als in Normalzeiten und gängigen Standardmodellen der Ökonomie vorgesehen, die Nachfrage mangels Alternative nicht sank beziehungsweise sinken konnte. Sonst hätten die Gewinne nicht ebenso atemberaubend hochschießen können. Die Inflation der Profite.

Quelle         :         Spiegel-online        >>>>>          weiterlesen

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Oben       —      Comedyserie Hausmeister Krause

Verfasser     :  Unbekannter Autor      /       Quelle       :        selbst vektorisiert     /       Datum    :   Unbekanntes Datum

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Unten       —    Brigitte Matrosen beim großen Umzug der Höllenzunft Kirchzarten am Fasnachts-Sonntag 2018.

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100.000 Unterschriften:

Erstellt von Redaktion am 10. Juni 2022

Von der Leyen soll Chats mit Pfizer-Chef offenlegen

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von  

Einen Deal über 1,8 Milliarden Dosen Impfstoff fädelte EU-Kommissionschefin von der Leyen persönlich in Anrufen und Chatnachrichten mit dem Konzernchef von Pfizer ein. Eine Petition fordert nun, dass die Kommission die Chats herausgeben soll.

Eine Petition mit bereits mehr als 100.000 Unterschriften fordert EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen dazu auf, ihre Chat-Absprachen mit Pfizer-Chef Albert Bourla über den Kauf von 1,8 Milliarden Dosen Impfstoff offenzulegen. Initiiert wurde die Unterschriftensammlung von der Kampagnenorganisation SumOfUS, die sich unter anderem für die Kontrolle von Konzernmacht einsetzt.

Den bislang größten Impfstoffdeal der EU fädelten von der Leyen und Bourla im Frühjahr 2021 in Anrufen und Nachrichten ein, wie sie damals der New York Times erzählten. Doch auf eine Informationsfreiheitsanfrage von netzpolitik.org weigert sich die EU-Kommission, die Chats offenzulegen. Nachrichten über SMS oder Messenger wie WhatsApp seien keine Dokumente und fielen daher nicht unter das Transparenzgesetz der Europäische Union, behauptet die Kommission.

Das hält EU-Ombudsfrau Emily O’Reilly für eine falsche Rechtseinschätzung. In einer offiziellen Empfehlung bat sie die Kommission im Januar, unseren Antrag erneut zu prüfen. O’Reilly verweist auf den Text der EU-Verordnung und die EU-Grundrechtecharta. In beiden heißt es, der Recht aus Dokumentenzugang bestehe „unabhängig von der Form der für diese Dokumente verwendeten Träger“.

Zahlte die EU 31 Milliarden Euro zu viel?

Auch aus dem EU-Parlament gibt es lautstarke Forderungen nach Zugang zu den Chats. „Die Europäische Kommission hat mit Pfizer Verträge im Wert von mehreren Milliarden Euro abgeschlossen […] Wir haben das Recht zu erfahren, was der Kommissionspräsident mit dem CEO von Pfizer besprochen hat“, sagte etwa die niederländische Abgeordnete Kathleen Van Brempt bei einer Debatte über das Thema im EU-Parlament.

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An dem Deal der EU mit Pfizer, den von der Leyen und Bourla einfädelten, gibt es erhebliche Kritik. Während die EU für die ersten Lieferungen pro Dosis 15,50 Euro bezahlte, stiegen die Kosten nach dem persönlichen Kontakt zwischen von der Leyen und dem Konzernchef auf 19,50 Euro pro Dosis, wie die Financial Times nach Einsicht in Teile der Verträge berichtete. Die EU könnte Pfizer rund 31 Milliarden Euro zu viel bezahlt haben, glaubt die People’s Vaccine Alliance, ein Bündnis humanitärer Organisationen. Sie verweist auf eine Untersuchung des Imperial College London, nach der eine einzelne Dosis des Impfstoffs für weniger als drei Euro hergestellt werden könne – die Differenz wäre ein immenser Profit für die Pharmafirma.

Bis 30. Juni hat die EU-Kommission Zeit, auf die Empfehlungen der Ombudsfrau zu reagieren. Mit ihrer Antwort müsse die EU-Behörde endlich Licht ins Dunkel des Impfstoffkaufes zu bringen, fordert die Kampagnenorganisation SumOfUs. Ihre Petition kann hier unterschrieben werden.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben     —    Bei der Debatte über den EU-Gipfel in der vergangenen Woche mit den Präsidenten Michel und von der Leyen und dem EU-Außenbeauftragten Borrell zeigten die Abgeordneten gemeinsam Solidarität und gaben der Ukraine mehr Hilfe.

Europäisches Parlament – https://www.flickr.com/photos/36612355@N08/51988360799/

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Der Westen und Putin

Erstellt von Redaktion am 8. Juni 2022

Zum Teufel mit den vielbeschworenen westlichen Werten

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Geschenke aus der Ukraine : Blockflöten für den Westen und das Toilettenpapier für Putin

Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Bei jeder passenden und noch mehr unpassenden Gelegenheit berufen sich Politiker der westlichen Welt auf errungene Freiheiten und Werte der Demokratie, die Anrufung Gottes um Hilfe nicht zu vergessen. Aber um welche Werte geht es denn da eigentlich, um welche Demokratie und um welche Freiheiten? Ein schärferer Blick hinter die Kulissen lässt vermuten, dass es vielmehr um Macht und Geld geht. Die USA führen uns das beispielhaft vor.

Verwundert fragt man sich, was insbesondere in dem USA seit den Amtszeiten von Trump und Biden vor sich geht, ohne das Warum zu hinterfragen. Nach den desaströsen Kriegen der USA in der ganzen Welt seit den 50-er Jahren und dem notwendigen aber auch peinlichen Rückzug aus Afghanistan erfährt die Militärmacht USA zwar einen merklichen Muskelschwund, versucht aber gleichzeitig ihre gehabte hegemoniale Führungsrolle als die demokratische Kraft in der Welt neu zu artikulieren.

Unter Demokratie versteht man in unserem Kulturkreis und in der Politik im Wesentlichen die Herrschaft des Volkes bei Gleichheit und Freiheit aller Bürger eines Staates. Und diese Demokratie reklamiert der US-Präsident wohl wissend, dass in seinem Land eher nicht-repräsentative Minderheiten die Sache des Volkes bestimmen. Wie das? Das hängt – weitgehend übersehen – mit dem Wahlsystem in den USA zusammen. In den sog. Primaries (Vorwahlen) werden die Wunschkandidaten der Parteien nominiert. An ihnen nahmen 2020 aber nur etwa 10% der US-Wähler teil mit der Folge, dass effektiv nur 23 von 235 Mio. Wählerinnen und Wählern 83% der Kongress-Sitze bestimmten. Andere Kandidaten hatten bei der eigentlichen Wahl kaum eine Chance, sich durchzusetzen. Das hat mit Demokratie nichts zu tun! Das Problem ist umso eklatanter, als die Vorwahlen extrem interessengesteuert sind, überwiegend von Macht und Geld. Das Ergebnis sehen wir alle Tage bei der Beschlussunfähigkeit und somit Lösung von dringenden Anliegen.

Das allein ist neben anderen Missständen wie Rassismus, menschenverachtendes Sozialsystem, täglichem Mord und Totschlag Grund genug, die Demokratie nach US-Vorbild schlicht zu vergessen. Unverständlich also, dass und warum sich unsere Politiker immer wieder die Werte westlicher Demokratie berufen.

Bei uns regiert nach wie vor Geld die Welt! Die starke Polarisierung in den USA z.B. bei Wohlstand und Bildung ist geeignet, unserer Demokratie den Todesstoß zu versetzen, wenn wir blind und tumb den Wertevorstellungen der USA folgen. Unsere moderne Demokratie ist mit liberté, égalité und fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) in Europa entstanden und ist an sich für alle Länder dieser Erde eine Wunschvorstellung. Sie um- und durchzusetzen fällt uns allerdings immer wieder schwer.

Hohle Worte wie „regelbasierte Ordnung“ helfen uns überhaupt nicht weiter, zumal diese Ordnung nirgends festgeschrieben ist, nicht einmal in der UNO. Also, zum Teufel mit den vielbeschworenen westlichen Werten. Sagen wir klar, stellen wir echt demokratisch zur Wahl und vor allem tun wir auch, was wir sagen. Beethovens 9. Symphonie, letzter Satz, ist zur Europahymne geworden. Die verstehen und singen begeistert viele Menschen auf der Welt. Das ist glaubwürdiger als hohles politisches Geschwätz.

Urheberrecht
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Oben     —     Souvenirs der Ukraine

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Skandal um Nachhaltigkeit

Erstellt von Redaktion am 6. Juni 2022

Wie wir den Kollaps herbeiwirtschaften

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Wir sollten der Politik keine Entschuldigungen für ihr Versagen bieten, denn sie bekommen trotzdem ihr Gehalt.

Eine Kolumne von Christian Stöcker

Haben Sie mitbekommen, dass diese Woche gleich zwei gewaltige Umweltskandale in den Nachrichten waren? Oder dass die Uno mittlerweile offen vor einem »globalen Kollaps« warnt? Nein? Das hat seine Gründe.

»Die Erde, die einst so groß schien, muss als so klein erkannt werden, wie sie ist. Wir leben in einem geschlossenen System, wir sind absolut abhängig von der Erde und voneinander, sowohl, was unsere eigenen Leben betrifft als auch für die nachfolgender Generationen.«
Aus der von 2200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichneten Menton-Botschaft von 1972 

Man kann der Menschheit eigentlich nicht vorwerfen, dass sie nicht begriffen hätte, was sie sich selbst und ihrem einzigen Planeten antut. Im Gegenteil. Wir wissen seit mehr als fünfzig Jahren, dass unsere Art, den Planeten zu zerwirtschaften, für die Menschheit nicht langfristig überlebbar ist. Dabei spielte die Klimakrise in der oben zitierten Erklärung von Menton (ein Ort in Frankreich), die im Zusammenhang mit der ersten Uno-Nachhaltigkeitskonferenz der Geschichte vor 50 Jahren veröffentlicht wurde, noch gar keine Rolle.

Darin geht es trotzdem um diverse Probleme, die heute noch drängender, existenzieller sind als damals: Umweltzerstörung, Ressourcenverbrauch, Bevölkerungswachstum und Hunger, Krieg. Die zwei apokalyptischen Reiter der Gegenwart, die permanent zunehmende Erhitzung von Atmosphäre und Ozeanen und das sechste Massenaussterben der Erdgeschichte, hatten die Unterzeichnenden damals noch nicht so klar vor Augen wie wir heute – aber natürlich sind beide direkte Auswirkungen der gleichen menschlichen Misswirtschaft.

Das Bruttoinlandsprodukt ist ein miserables Maß

Bei der genannten Uno-Nachhaltigkeitskonferenz wurde damals, 1972, einiges erreicht : Zum Beispiel wurde die Uno-Umweltorganisation Unep gegründet, die später wiederum eine Rolle bei der Gründung des Weltklimarats IPCC spielte und maßgeblich am Kampf gegen das Ozonloch beteiligt war – ein schönes, Hoffnung machendes Beispiel für die Effektivität realer globaler Kooperation. Außerdem wurden erstmals konkrete Nachhaltigkeitsziele etwa für Biodiversität und gegen Wüstenbildung ins Werk gesetzt.

Bei einer Jubiläumskonferenz diese Woche in Stockholm  sagte Uno-Generalsekretär António Guterres, wir müssten endlich unseren »sinnlosen und selbstmörderischen Krieg gegen die Natur beenden«.

Unglücklicherweise ist die Lage der Menschheit fünfzig Jahre später nämlich nicht besser, sondern weit schlechter als damals. Die Warnungen des im selben Jahr erschienenen Club-of-Rome-Reports »Die Grenzen des Wachstums« verhallten, zumindest auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene, weitgehend ungehört. Bis heute streben praktisch alle Nationen auf dem Planeten Erde ein mindestens prozentual konstantes und damit exponentielles, ständig beschleunigtes Wirtschaftswachstum an – gemessen an dem für menschliches Wohlergehen reichlich ungeeigneten Maß »Bruttoinlandsprodukt«. Dass dies kein gutes Maß für eine gute Zukunft ist, hat man sogar bei der Industrieländerorganisation OECD längst erkannt , die einst zur Steigerung des Wirtschaftswachstums gegründet wurde.

Zwei schön-schreckliche Beispiele
Noch mehr auf Wachstum bedacht sind die Unternehmen, die dieses blinde, längst als Irrweg erkannte, völlig undifferenzierte Wirtschaftswachstum tragen. Zwei schön-schreckliche Beispiele lieferte die Nachrichtenlage der vergangenen Tage.

Der gigantische Rohstoffkonzern Glencore, der unter anderem mit Öl handelt, einigte sich mit einem US-Gericht auf einen Vergleich: Glencore wird mehr als eine Milliarde Dollar bezahlen, weil seine Manager in Afrika Millionen von Dollar an Schmiergeldzahlungen verteilt haben, um sich Ölförderrechte zu sichern. Außerdem soll der Konzern Ölpreise manipuliert haben. In Großbritannien und Brasilien stehen weitere Strafen an. Insgesamt hat der Konzern dafür vorsorglich 1,5 Milliarden Dollar beiseitegelegt .

So machen die Konzerne, die den Planeten zugrunde richten, das oft: Sie brechen so lange Gesetze, wie sie damit durchkommen, und wenn es nicht mehr geht, dann kaufen sie sich frei. Um die 1,5 Milliarden Dollar ins Verhältnis zu setzen: Glencore hat seinen Anteilseignern gerade vier Milliarden Dollar als Dividende ausgeschüttet . Der Profit des Konzerns lag 2021 bei über 21 Milliarden Dollar.

Uno-Generalsekretär sieht »Sucht nach fossilen Brennstoffen«

Die zweite Nachricht aus der zurückliegenden Woche, die erstaunlich wenig Wellen geschlagen hat, ist eine große Razzia bei der Fondsgesellschaft DWS , die mehrheitlich der Deutschen Bank gehört. Der Vorwurf lautet, dass man dort das doch immer noch recht harmlos klingende »Greenwashing« betrieben habe: Als nachhaltig deklarierte Investitionsvehikel seien in Wahrheit keineswegs nachhaltig. Dafür, dass an den Vorwürfen etwas dran ist, sprechen zwei Tatsachen: Der erste Hinweis, der zu der Razzia führte, kam von der ehemaligen Nachhaltigkeitsbeauftragten der DWS selbst . Und der Chef der Fondsgesellschaft musste unmittelbar nach der Razzia gehen.

Das alles geschieht vor dem Hintergrund, dass wir mit der Erschließung neuer Ölvorkommen und anderen klimaschädlichen Investitionen dringend aufhören müssten, und zwar sofort. Uno-Generalsekretär António Guterres hat vor ein paar Wochen erst gesagt, die Welt müsse ihre »Sucht nach fossilen Brennstoffen« beenden , Investoren müssten aufhören, entsprechende Projekte zu finanzieren.

Quelle      :         Spiegel-online         >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Cartoon: „Technischer Fortschritt“: Kohlendioxidentfernung (Schlagworte: CO2, Energie, Technologie, Klima)

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Unten     —       Christian Stöcker (2017)

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Kämpfen in Ketten

Erstellt von Redaktion am 4. Juni 2022

Marx’ Klassenkampf hat sich in den der Arbeiter untereinander verwandelt

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Von Jan Schroeder

Das Prinzip des Handels beförderte weltweit Freiheit und Gleichheit und Frieden. Doch wenn Arbeit nur der Produktivitätssteigerung dient, befördert das Kriege.

Es sollte beunruhigen, wie leichtfertig gegenwärtig das Versprechen „Wandel durch Handel“ verworfen wird. Mit dem Prinzip Handel war schließlich einmal aller Glaube an die Moderne, an Fortschritt und Aufklärung verbunden. „Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt“, schrieb Immanuel Kant in seinem Traktat „Zum ewigen Frieden“. Krieg repräsentiert für ihn die Kontinuität mit der Barbarei der Vorzeit.

Zur Erinnerung: Von der Neolithischen Revolution vor etwa 10.000 Jahren bis zur Neuzeit galt Krieg als ehrenwerte Beschäftigung und war eher die Regel als die Ausnahme. Reich war in der alten Welt derjenige, dem viel fruchtbares Land und die dazugehörige Anzahl an Sklaven oder Leibeigenen gehörten. Weil die Produktivität der Sklavenarbeit in der gegebenen Ordnung kaum variabel war, konnte nur wohlhabender werden, wer Land eroberte und fremde Völker versklavte. Erst mit der sich in den Städten ausbreitenden bürgerlichen Gesellschaft setzte sich ein neues, friedfertiges Prinzip in der Welt durch: Reichtum durch rationale Teilung der Arbeit zwischen freiwillig kooperierenden Bürgern. In Folge stieg die Produktivität unabhängig vom Besitz fruchtbarer Böden. Im späten 16. Jahrhundert war das kleine, auf Handel und Manufakturwesen beruhende Holland der reichste Staat der Welt, danach das die Handelsrouten der Weltmeere beherrschende England. Was der vormoderne Mensch nur durch Krieg und auf Kosten anderer erreichen konnte, bekommt der moderne Mensch nur in Arbeitsteilung mit der Weltgesellschaft, durch Handel und – so zumindest die liberale Idee – zugunsten aller.

Während Kant sich mit seinem Zeitgenossen Adam Smith darin einig war, dass ewiger Frieden durch eine Vertiefung des Prinzips der freien Arbeit realisierbar wäre, bemerkte einige Jahrzehnte nach ihm Karl Marx, dass genau dieses Prinzip selbstwidersprüchlich geworden war und statt ewigem Frieden immer neue Konflikte wahrscheinlich und langfristig sogar unvermeidbar macht. Seine Forderung nach „Rücksichtslose(r) Kritik alles Bestehenden“ wurde im Westen weitestgehend verdrängt und im ehemaligen Ostblock zu einer Rechtfertigungsideologie verfälscht. Für Marx hing von der Klärung des Selbstwiderspruchs der Arbeit ab, ob die Versprechen der Moderne eingelöst würden oder aller zivilisatorischer Fortschritt auch den Schritt in eine neue Form von Barbarei bedeuten würde.

Konservative Denker hingegen bleiben bis heute eine wirkliche Erklärung dafür schuldig, warum das moderne Prinzip Handel nie das vormoderne Prinzip Krieg verdrängt hat. Sie neigen zu pessimistischen Feststellungen: Die menschliche Natur sei zu egoistisch, Nationalismus stärker als die kosmopolitische Kooperation in Adam Smiths „handelstreibender Gesellschaft“.

Worin besteht jedoch andererseits der von Marx bemerkte Selbstwiderspruch, der immer neue Kriege bedingt? Aufklärer wie Kant und Adam Smith gingen vor der Industriellen Revolution davon aus, dass das Wachstum des Kapitals zu einer größeren Nachfrage nach Arbeit führt, da diese, neben zu vernachlässigenden Werkzeugen und kleinen Maschinen, der einzige Produktionsfaktor war, in den Kapitalisten im 18. Jahrhundert investieren konnten. Sie gingen daher von einer harmonischen Aufwärtsspirale aus: Mit der Größe des Kapitals sollten die Löhne steigen, „Wandel durch Handel“ – hier im marxistischen Zusammenhang gebraucht – sollte den „Weltbürgerlichen Zustand“ einleiten. In diesem Sinn befasst sich Adam Smiths politische Ökonomie ebenso wie Marx’ Kritik derselben nicht mit Wirtschaft im engen Sinn, sondern mit allen sozialen Beziehungen, die in der universellen Tauschgesellschaft erstmals eine Totalität, ein voneinander abhängiges Ganzes, bilden.

Harold S Delay - Red Nails II.jpg

Unter Barbaren

Diese Totalität signalisierte schon aus Sicht der Aufklärung nicht weniger als eine fundamentale Umwandlung der bisherigen menschlichen Natur. Statt „in sich“ zu leben, den eigenen Instinkten nach, wie der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau bemerkte, lebt der moderne Mensch „außer sich“, muss seine natürlichen Reflexe und Instinkte überwinden, um auf sozial akzeptierte Weise und in effizienter Kooperation seine Bedürfnisse zu befriedigen. Wie schwierig die Überwindung der ersten fast noch tierischen Natur des Menschen gewesen sein muss, belegt noch heute jede Kindererziehung. Kant bemerkte diese Veränderbarkeit auch in der Geschichte der Menschheit vom „Edlen Wilden“ bis hin zum zivilisierten Menschen, der sich durch das Mittel der Vergesellschaftung eine zweite Natur schuf, die er durch die Art der gesellschaftlichen Einrichtung fortlaufend entwickelt.

So bedingt die moderne „handelstreibende Gesellschaft“ objektiv, dass wir uns subjektiv zumindest prinzipiell als freie und gleiche Vertragspartner anerkennen, wohingegen die verschiedenen Völker, Kasten und Stände der Vormoderne sich eher wie unterschiedliche Arten einer Gattung entgegengetreten sind. Eine Kritik an Rassismus und Sexismus beispielsweise bemüht – unabhängig davon, ob das den Beteiligten bewusst ist – das ureigene liberale Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft vom gerechten Tausch mit gleichen Rechten: das „Sollen“ wird gegen das „Sein“ dieser Gesellschaft mobilisiert, wie Kant sagen würde. Zuvor wäre dergleichen Kritik undenkbar gewesen, da hier die Ungleichheit der Menschen, etwa mit der Unterscheidung zwischen jenen mit blauem und rotem Blut oder zwischen den Barbaren und der eigenen Gruppe, grundlegend war.

Quelle         :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Karl Marx, Der Prophet

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Unten     —   Illustration einer Szene in Robert E. Howards „Red Nails“: Dieses Bild wurde erstmals auf S. 205 von Weird Tales (August/September 1936, Bd. 28, Nr. 2) veröffentlicht.

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Deutsche Rechtskultur

Erstellt von Redaktion am 4. Juni 2022

Distanz, wenn ich bitten darf!

Gerhard Schröder Deutscher Oligarch.jpg

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Die Ukrainekrise hat eine neue Folge der Serie »Ich distanziere mich…« begründet. Hier sind die Grenzen fließend, und das Recht hat einen schweren Stand.

Distanz als solche

Der Mensch, wenn er schlau ist, distanziert sich im Laufe seines Lebens von allerlei Eigenem und Fremdem: das Kind von der Mama, der Jüngling von der ersten Liebe, Robert Lewandowski vom FCB und alle zusammen von der ungesunden Ernährung. Dies sind die – na ja – leichteren, jedenfalls allgemein üblichen Distanzierungen, die wehtun, aber wegen ihrer Ubiquität kein mitleiderregendes Opferimage aufkommen lassen.

Etwas schwieriger wird es mit den Distanzierungen von sich selbst. Nicht jedem geht das so sensationell daneben wie einst Herrn Hans Filbinger, und nicht jeder hat so viel Chuzpe wie einst Albert Speer. Beide Fälle sind den heutigen Distanzierungsgenerationen so geläufig und bedeutend wie die Distanzierung Georges Dantons von Maximilien de Robbespierre und sollen daher hier nicht vertieft werden.

Die ab 1945 einsetzende Distanzierung von 95 Prozent der Deutschen von sich selbst und den eigenen Kriegs- wie Lebenszielen sowie die begeisterte Solidarisierung, ja Identifizierung mit den siegreichen Opfern der eigenen Verbrechen war dann allerdings dermaßen ekelerregend verlogen, dass der nachfolgenden Generation, zu welcher auch der Kolumnist zählt, fast nichts anderes übrigblieb, als sich davon zu distanzieren. Wir wollen insoweit nur beispielhaft aus der am 22. April 1945 in allen evangelischen Kirchen Weimars verlesenen Erklärung des Herrn Superintendenten K. zitieren: »So dürfen wir vor Gott bekennen, dass wir keinerlei Mitschuld an diesen Gräueln haben« (Quelle: Spiegel, 23.02.2018). Das bezog sich auf die am 16. April 1945 stattgefundene »Zwangsbesichtigung« des KZ Buchenwald durch etwa 1000 Bürger Weimars auf Befehl der örtlichen US-Militäradministration. Die armen deutschen Irrtumsopfer sollen den GIs vorwurfsvoll zugerufen haben: »Warum tut Ihr uns das auch noch an?« Es wurde Ihnen nämlich übel beim Anblick und Geruch ihrer Opfer. Die Argumentationsfigur zeigt Nervenstärke und politisches Talent. Sie ist überdies flexibel wiederverwendbar.

Wir, ihr. Ich doch nicht!

Die nächste große Distanzierungsvorstellung betraf dann schon die Anschlussgeneration selbst: Gelernt ist gelernt! Jedes Mal, wenn heute eine Person gehobener Altersklasse und würdigen Amts das Wort »Rechtsstaat« besonders emphatisch ausspricht, denkt der erfahrene Berufsjugendliche zunächst einmal, was damit wohl gemeint sein könnte. Ein nicht unerheblicher Teil derjenigen, denen der Rechtsstaat und seine ewigen Werte heute flott über die Lippen gehen, hätte ja eine solche Begriffsbildung früher als einen glatten Verrat an der wissenschaftlich bewiesenen Weltverlaufsformel angesehen. Die korrekte Bezeichnung lautete bis 1980 »Der bürgerliche Staat«, und das war eine äußerst verwerfliche Angelegenheit (siehe Marx, »Der 18. Brumaire«, Lenin, »Was tun?«, Trotzki, »Die russische Revolution, Bd.I«). Während der frühe Punk in Brilon noch ohne Führerschein Moped fuhr, waren andere schon unterwegs in Kronstadt und Shanghai, wenn auch vorerst nur per »Zentralorgan«.

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Es gibt keinen berechtigten Grund, aus welchem die Vordenker der neuen Moralität sich so dermaßen wohlig ins Gutmeinen spreizen sollten, wie sie es tun.

Damals, in Heidelberg (KBW), Hamburg (KB Nord), Berlin (?) und überhaupt (KPD, KPD/ML/AO), waren Analysten des »bürgerlichen Staats« unter vorbildlich gebügelten Fahnen von Mao Zedong, Enver Hoxha und, für die ganz Harten, Josef Stalin tätig; ihnen folgten Pol Pot und Erich Honecker. Und wenn auf der Sponti-Vollversammlung in der Uni Frankfurt einer schrie, dass das Proletariat demnächst allen Schmierfinken der bürgerlichen Lügenpresse den Hals abschneiden werde, jubelte das Publikum, bevor es bei »Mama Lina« in Bockenheim zur Pasta acht Äppelwoi vertilgte. »Batschkapp« ging auch, Goethestraße aber nicht.

Das klingt heute rührend, war allerdings keinesfalls so gemeint. Die Parolen sind präsent: Fünf Millionen Opfer des »Langen Marsches«? Kein Problem! 10 Millionen massakrierte »Kulaken«? Super! Ausmerzung der bürgerlichen Klasse? Weltgeschichtlich zwingend erforderlich! Für einen »fortschrittlichen Menschen«, der stets Proletarier ehrenhalber war und sich von seinen Liebsten »Avantgarde« nennen ließ, war die vergangene, gegenwärtige und vor allem zukünftige Liquidierung von hundert Millionen Klassenfeinden allenfalls ein logistisches, aber ganz gewiss kein »Werte«-Problem.

Es nahte einerseits der biografisch schwer vermeidbare Eintritt ins Berufsleben, andererseits ein leicht spürbares Anziehen des »repressiven bürgerlichen Staats« im Nachgang zum »Deutschen Herbst«, einer distanzierungsmäßig exzessiv ausgeschlachteten Ereignisgesamtheit mit – was sonst – romantischem Namen. Wer zuvor, Parteiprogramme aller Art zur Hand, den Helden von der Putztruppe und den Irren von der antiimperialistischen Weltkriegsfront noch »Richtiges Ziel – Falsche Form« nachgerufen hatte, zeigte sich nun begeistert vom Grundgesetz, rief zum Weltfrieden sowie zur handgemachten Strickware auf und hatte alles angeblich schon immer so gemeint.

Das kennt man, das schätzt man! Die Südamerikaexperten, denen 1973 zum Stadion von Santiago de Chile nur einfiel, dass Späne fallen, wo gehobelt wird, hatten ja ganz bestimmt auch nur gemeint, dass der Rechtsstaat aufpassen solle, damit nicht etwa in der Aufregung der Lkw-Unternehmer ein Unrecht geschehe. Eine Distanzierung von »agent orange« war ja sevesomäßig durchaus vernünftig, obgleich die Orks jener frühen Jahre, vom großen Freund »Gooks« genannt, unfair spielten und es wirklich verdient hatten. Vietnam war also ein Hochamt des Nichtdistanzierens: Die einen distanzierten sich nicht vom imperialistischen Napalm, die anderen nicht von antiimperialistischen Fallgruben mit angespitzten Pfählen. Und umgekehrt.

Die Distanzierungen vom ganz kleinen Buchhalter-Vaterland der Arbeiterklasse ab 1989 wollen wir hier aussparen; sie sind ein spezielles Kapitel, einschließlich ihres Bodensatzes von »Werte«-orientiert blühendem Leben. Da hätten wir eine Menge Vorschläge, was aber dahinstehen kann.

Distanzierungslücken

Jedenfalls verlieren sich die Spuren der Täter des Herzens und der fleißigen Gehilfen der Tat ja dann doch eher nicht im Niedriglohnsektor, sondern in der Work-life-Balance und den Kreisen der schwer geplagten, aber immerhin vom Rechtsstaat alimentierten Besserverdiener. »Vordenker«, Oberpredigerin, Think-Tank-Berater oder Uni-Dekanin sind schöne Distanzierungskarrieren, auch »Gesundheitsministerin« oder »Ministerpräsident«. Um vom ZK des KBW in den Planungsstab des Auswärtigen Amts zu kommen, muss man vermutlich ebenso viel Distanzierungskunst aufwenden wie von der Rundfunkabteilung des NS-Außenministeriums ins Bundeskanzleramt. Läuft doch!

Das ist ja nun alles schon ein bisschen Neueste Geschichte, und außerdem ist es, wie man als distanzierungserfahrener alter Mann weiß, wirklich zeitlos menschlich. Zu dieser Erfahrung gehört freilich auch die Erkenntnis, dass die Konvertiten meist die wüstesten Verfolger der Ketzer sind, und dass von ihnen die eigene Bekehrung durchweg als vollendet und die Distanzierung von der eigenen Vergangenheit als abgeschlossene Petitesse angesehen werden. Umso gnadenloser sind die Anforderungen an »Selbstkritik«, Unterwerfungserklärungen und Treueschwüre der jeweils anderen. Die Formen der »Selbstkritik«, die in »Avantgarde«-Organisationen der Siebzigerjahre praktiziert wurden, standen, glaubhaften Erzählungen von Entkommenen nach, den großen Vorbildern nicht nach.

Das ist verständlich, aber nicht unbedingt richtig. Es stimmt auch nicht, dass, wer die »Säuberungs«-Exzesse fremder Staaten und Potentaten von fern beklatscht hat, kein Problem mit der Moral habe: Wer einst geschrieben hat, die Eliminierung von konterrevolutionären Elementen oder die Liquidierung von ein paar hunderttausend Verrätern sei bedauerlich, aber notwendig, hat allemal mehr Schuld als irgendein Geigengenie, befand sich damit außerdem auf dem Argumentationsniveau von Herrn Wolodomyr Putin anno 2022. Es gibt also keinen berechtigten Grund, aus welchem die Vordenker der neuen Moralität sich so dermaßen wohlig ins Gutmeinen spreizen sollten, wie sie es tun, außer dass sie halt ihre eigene Geschichte nicht kennen möchten.

Distanzwaffen

Es geht mir, Auge in Auge mit Experten für weitreichende Raketenwerferinnen, heute nicht ums Handeln oder Planen der Zukunft, sondern um die Vorstellung von den Anforderungen, welche der zitierte Rechtsstaat an das Distanzieren seiner Bürger von sich selbst stellen darf.

Herr Schröder zum Beispiel, Bundeskanzler a.D., hat sich ein bisschen, aber nach Ansicht vieler nicht »richtig« distanziert; und so recht weiß man gar nicht, von was. Allerdings ist ja die erste Frage: Muss er das? Steht das irgendwo? Haben die Bundestagsfraktion einer politischen Partei oder deren Vereinsvorstand, geschweige denn »Moderatoren« und Kommentatoren, die dem Verräter durch Unterlassen noch kürzlich um die Füßchen schleimten, einen Rechtsanspruch darauf, dass sich biografisch aus dem Tritt geratene Staatsproletarier im Rentenalter von etwas distanzieren, für das sie früher von erheblichen Teilen der Bevölkerung bejubelt wurden? Wenn ja: Von wem und gegen wen wird ein solcher Anspruch erhoben oder durchgesetzt?

Quelle       :       Spiegel-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Altbundeskanzler Gerhard Schröder als Öl- und Gasoligarch der russischen Unternehmen Gazprom und Rosneft.

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Unten      —        Thomas Fischer auf der re:publica 2016
Ot – Eigenes Werk
Thomas Fischer (Jurist)
CC-BY-SA 4.0
File:Thomas Fischer-Jurist-rebuliva16.JPG
Erstellt: 4. Mai 2016

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China will BRICS erweitern

Erstellt von Redaktion am 4. Juni 2022

Wie realistisch ist eine BRICS-Erweiterung?

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :    Alexander Männer

Im Vorfeld des kommenden Gipfeltreffens der Vereinigung BRICS im Sommer hat die chinesische Führung dafür plädiert, die aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika bestehende Staatengruppe zu erweitern.

Neben mehreren Ländern wird Argentinien in der Presse bereits als künftiges BRICS-Mitglied gehandelt. Experten zufolge scheint eine Aufnahme des südamerikanischen Landes aber vor allem das Anliegen Pekings zu sein.Die internationale Vereinigung BRICS, bestehend aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, gilt derzeit als eine der bedeutendsten multilateralen Strukturen auf der internationalen Bühne. Diese fünf Staaten weisen gemeinsam mehr als drei Milliarden Einwohner bzw. 42 Prozent der Erdbevölkerung auf und machen etwa 26 Prozent der weltweiten Landmasse aus. Ausserdem produzieren sie insgesamt mehr als ein Viertel der Weltwirtschaft und betreiben etwa 20 Prozent des globalen Handels.Angesichts dessen stellt eine Zusammenarbeit mit BRICS auf politischer sowie wirtschafts- und handelstechnischer Ebene für viele internationale Akteure eine immense Bedeutung dar. Viele Staaten haben bereits ein Interesse um eine Aufnahme in diese Gruppe bekundet.So hatten Medien 2017 darüber berichtet, dass Ägypten, Guinea, Mexiko, Tadschikistan und Thailand der Vereinigung beitreten könnten. 2018 hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Rande des BRICS-Summits in Johannesburg dazu aufgerufen, die Türkei in den Staatenblock aufzunehmen. Allerdings ist dieser Aufruf nicht erhört worden.

In diesem Zusammenhang hat die Pekinger Führung im Vorfeld des 14. Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs der BRICS-Länder, das am 24. Juni in der chinesischen Hauptstadt abgehalten werden soll, einen Vorstoss unternommen und sich für eine Erweiterung der Staatengruppe ausgesprochen. Bei der BRICS-Aussenministerkonferenz am 19. Mai 2022 unterbreitete Chinas Aussenamtschef Wang I seinen Kollegen laut einer offiziellen chinesischen Erklärung den Vorschlag, einen Prozess der Erweiterung von BRICS einzuleiten, Standards und Erweiterungsverfahren zu untersuchen und einen entsprechenden Konsens zu erreichen.

Wang I zufolge soll diese Initiative dazu beitragen, die Offenheit und Inklusivität der BRICS zu demonstrieren, die Erwartungen der Entwicklungsländer zu erfüllen, die Präsenz und den Einfluss der Vereinigung zu erhöhen und einen grösseren Beitrag zur Erhaltung des Friedens und der Entwicklung auf der ganzen Welt zu leisten.

Die BRICS-Aussenminister haben in einer gemeinsamen Abschlusserklärung mitgeteilt, dass sie die Initiative Chinas unterstützen. Darin betonten sie zudem die Notwendigkeit, Richtlinien, Standards, Kriterien und Verfahren für diesen Prozess klar zu benennen.

Insofern lautet jetzt die Frage: Welche Staaten kommen nun als potentielle BRICS-Mitglieder in Betracht?

Mögliche Aufnahmekandidaten

Um den Aufbau der Beziehungen der BRICS zu anderen Ländern zu fördern, wurde 2017 ein eigens dafür entwickeltes Format eingeführt – das „BRICS Plus”. Dank diesem Verfahren haben andere Staaten die Möglichkeit, als Beobachter an bestimmten BRICS-Treffen teilzunehmen. In dieser Woche etwa fand so ein Treffen statt, an dem Ägypten, Indonesien, Kasachstan, Nigeria, die Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien, Senegal und Thailand teilnahmen.

Mit Vietnam und Bangladesh sind von der russischen Abgeordneten und Mitglied des Duma-Ausschusses für internationale Angelegenheiten Svetlana Zhurova zwei weitere potentielle Kandidaten ins Spiel gebracht worden. In Bezug auf die chinesische Initiative zur BRICS-Erweiterung sagte die Politikerin gegenüber russischen Medien, dass die Erweiterung der Staatengruppe vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Ereignisse in der asiatischen Region aktuell wie nie sei. Vietnam und Bangladesch könnten daher neue BRICS-Mitglieder werden, meint Zhurova.

Sehr deutlich hingegen äusserten die Argentinier den Wunsch, BRICS beizutreten. Der argentinische Präsident Alberto Fernandez hatte nach Angaben der indischen Zeitung The Tribune bereits Anfang dieses Jahres erklärt, dass sein Land der Gruppe beitreten wolle.

Der argentinische Aussenminister Santiago Cafiero, der an der kürzlichen BRICS-Aussenministerkonferenz teilnahm, sagte nach der Veranstaltung, Buenos Aires sei es wichtig, „eine engere Abstimmung mit den BRICS-Ländern” zu gewährleisten. „Deshalb schätzen wir diesen Aufruf zur Erweiterung der BRICS und wir sind bereit, weiterhin Brücken zwischen Argentinien und den BRICS-Ländern zu bauen”, so der Minister.

Diese Zuversicht der Argentinier resultiert womöglich daraus, dass der chinesische Präsident Xi Jinping, der in diesem Jahr den BRICS-Vorsitz innehat, eine persönliche Einladung an argentinische Führung zum vergangenen Treffen der BRICS-Aussenamtschefs und zum BRICS-Gipfel zugeschickt hatte. Diese Geste der Chinesen könnte womöglich als Schritt in Richtung eines „offiziellen Beitritts” in die Gruppe verstanden worden sein.

Wie realistisch ist eine BRICS-Erweiterung?

Inwiefern BRICS in naher Zukunft neue Länder aufnehmen könnten, ist derzeit ungewiss. Wie die russische Zeitung Iswestija unter Verweis auf eine nicht genannte Quelle berichtet, soll die Frage bezüglich einer BRICS-Erweiterung (sowie der Aufnahme Argentiniens – Red.) derzeit üerhaupt nicht im Raum stehen und es gebe auch keinen entsprechenden Prozess in diesem Zusammenhang.

Datei:BRICS.svg

Dass es keine Voraussetzungen für eine Erweiterung der BRICS geben soll, stellte auch die Geschäftsführende Direktorin des Russischen Nationalen Komitees für BRICS-Forschung, Viktoria Panova, gegenuber Iswestija fest. „In Wirklichkeit fördert China nicht zum ersten Mal die Bildung des Clubs der BRICS-Freunde. Aber ich würde die Frage der Erweiterung vorsichtig angehen. Für BRICS ist es wichtig, konkrete Lösungen voranzutreiben und konkrete Ergebnisse zu erzielen, und das ist wichtiger als gedankenlos zu expandieren. Argentinien agiere daher eher als wichtiger Partner, der nach der Auffassung Chinas zum engeren Kreis gehöre, aber die Frage nach einer Erweiterung dieses Formats stehe derzeit nicht zur Debatte”, so die Expertin.

Panova betont, dass es nicht darum gehe, dass irgendeine Seite gegen die Mitgliedschaft Argentiniens sein soll, sondern um den Einwand gegen die Erweiterung der Staatengruppe als solche.

Eine ähnliche Ansicht vertritt auch Niall Duggan, ein Experte für öffentliche Verwaltung und Politik an der University College Cork in Irland. Ihm zufolge versucht China durch die Aufnahme neuer Mitglieder den Einfluss anderer BRICS-Staaten, insbesondere Russlands und Indiens, zu verringern. Argentinien eigne sich hervorragend dafür, so Duggan, da das südamerikanische Land in diversen Bereichen gegenwärtig sehr stark von der Volksrepublik abhängig sei, so dass es ein zuverlässiger Freund Chinas innerhalb der BRICS sein werde.

Ob andere BRICS-Mitglieder die Aufnahme Argentinien angesichts dessen vorbehaltlos akzeptieren werden, ist fraglich. Zumal Indien sich bereits aus dem besagten Grund, dass China viel mehr Einfluss durch eine BRICS-Erweiterung bekommen könnte, sich schon einmal gegen die Aufnahme neuer Länder in die Vereinigung ausgesprochen hat.

Quellen:

https://www.silkroadbriefing.com/news/2017/09/08/brics-summit-xiamen-getting-egypt-mexico-guinea-tajikistan-thailand-obor/

https://www.aa.com.tr/en/africa/turkey-aims-to-enhance-cooperation-with-brics-erdogan/

https://news.cgtn.com/news/2022-05-20/China-welcomes-more-countries-to-join-BRICS-Plus-Wang-Yi-1abPx6v2SlO/index.html

https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/zxxx_662805/202205/t20220520_10690403.html

https://brics-plus.com/

https://www.silkroadbriefing.com/news/2022/05/23/foreign-ministers-hold-brics-plus-expansion-discussions/

https://news.ru/vlast/my-vsegda-derzhali-ruku-na-pulse-zhurova-pro-rasshirenie-briks/

https://www.tribuneindia.com/news/nation/china-for-expansion-of-five-nation-brics-396573

https://www.batimes.com.ar/news/economy/with-key-backers-onboard-argentina-moves-closer-to-joining-brics-group.phtml

https://iz.ru/1337296/nataliia-portiakova/prokhodite-mimo-stanet-li-argentina-novym-chlenom-briks

https://ngoc.blogtuan.info/2022/05/24/expert-reviewer-on-brics-expansion-prospects/

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben     —          BRICS-Treffen in Brasilien, Juni 2019.

Verfasser Palácio do Planalto       /        Quelle    : https://www.flickr.com/photos/palaciodoplanalto/48142656762/

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 2.0 Generic Lizenz.

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Unten       —              BRICS – Brazil, Russia, India, Volksrepublik China, South Afrika.

Verfasser Cflm001 (Diskussion)        /      Datum    :    2006-11-25, 2009-04-23 (aktuell)

Quelle       —    Eigene Arbeit Diese Datei wurde abgeleitet von: BRICS.png
von Benutzer:João Felipe C.S Freigegeben unter {{PD-self}}

Ich, der Urheberrechtsinhaber dieses Werkes, gebe dieses Werk in die Gemeinfreiheit frei. Dies gilt weltweit.

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Von der NATO zur Türkei

Erstellt von Redaktion am 31. Mai 2022

Die Kurden, Skandinavien und die NATO

Kurdisch bewohntes Gebiet von der CIA (1992) Box-Einschub entfernt.jpg

Wird nicht jeder Staatstyrann-In versuchen,  seine vermeintlichen Stärken gnadenlos auszuspielen? In der Politik gibt es keine Anderen! Da sind und bleiben die Trüffel-Schweine unter sich! Demokratie – gilt nur, solange es den Patriarchen-Innen recht ist und die von ihnen geschriebenen Gesetze artig befolgt werden

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von       :       Amalia van Gent /   

Erdogan setzt NATO unter Druck: Als Preis für die Norderweiterung sollen die Kurden auf dem Altar der Geopolitik geopfert werden.

Ist die Türkei noch ein verlässlicher Partner der westlichen Allianz? Oder fungiert sie eher als ein verkapptes trojanisches Pferd Russlands innerhalb der NATO? Diese Fragen spalten die westliche Welt, seit die Türkei Mitte Mai dem NATO-Beitritt von Schweden und Finnland mit ihrem Veto einen Riegel vorgeschoben hat. Dabei stellte der Beschluss beider skandinavischer Länder, ihre jahrzehntelange Neutralität aufzugeben, eine der dramatischsten Veränderungen in der Sicherheitspolitik Europas dar. Die Allianz habe «den legitimen Sicherheitsbedenken Ankaras mit konkreten Schritten» Rechnung zu tragen, begründete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan einer verblüfften NATO-Runde sein Veto. Unmissverständlich stellte er klar: Wollten die Beitrittskandidaten ihren Beitritt «erwirken», müssten sie zuvor eine Liste von Ankaras Forderungen erfüllen.

Auslieferungen von Dissidenten

Diese Liste beinhaltet eine Freigabe von Waffenexporten in die Türkei. Finnland, Schweden und andere europäische Länder hatten 2019 ein Waffenembargo gegen die Türkei verhängt, weil die türkische Armee in den kurdischen Nordosten Syriens einmarschiert war, kurdische Städte und Dörfer zerstörte, abertausende Zivilisten in die Flucht trieb und damit krass gegen das Völkerrecht verstiess.

Zu den Forderungen der Türkei gehört ferner die Auslieferung «von 28 Terrorismusverdächtigen aus Schweden und 12 aus Finnland». Es gebe «keine rechtliche oder juristische Grundlage», diese nicht auszuliefern, fügte eine Woche später der einflussreiche Pressesprecher des Präsidenten, Ibrahim Kalin, hinzu.

In der regierungsnahen türkischen Presse kursieren inzwischen die Namen von acht Personen, auf deren unbedingte Auslieferung Ankara besteht: Ragip Zarakolu gehört dazu. Als linksliberaler Verleger trat Zarakolu seit den 1980er Jahren für eine Versöhnung der Türkei mit ihren armenischen und griechischen Nachbarn auf und setzte sich für die Rechte der Kurden ein. Zarakolu sass mehrmals im Gefängnis, mal, weil er die Weigerung der offiziellen Türkei anprangerte, die Identität ihrer rund 15 Millionen zählenden kurdischen Minderheit anzuerkennen, dann wieder, weil sein Verlag Bücher mit angeblich unliebsamen Inhalten veröffentlichte. Mit «terroristischen Handlungen» wurde Zarakolu aber bis heute nie in Verbindung gebracht.

Ausgeliefert werden soll ferner der Journalist Bülent Kenes. Als Chefredaktor leitete dieser zeitweise die Zeitung Zaman des Predigers Fethullah Gülen. Gülen und Erdogan teilten sich um die Jahrtausendwende die Macht über die Bewegung des politischen Islam in der Türkei, doch Ende 2013 kam es zwischen den beiden zum grossen Bruch. Nach dem gescheiterten Staatsstreich im Sommer 2016 beschuldigte Erdogan seinen ehemaligen Weggefährten, den Putschversuch mit Anhängern seiner Gülen-Bewegung geplant und durchgeführt zu haben. Fortan wanderten Fethullah-Anhänger zu Abertausenden ins Gefängnis – oft mit willkürlichen Begründungen –, weitere wurden im grossen Stil enteignet. Bülent Kenes gelang die Flucht nach Schweden.

Cengiz Candar, ein renommierter Nahost-Experte und einflussreicher türkischer Journalist, der ebenfalls im Exil in Schweden lebt, ermahnt die Regierung seiner neuen Heimat, sie dürfe den Forderungen Ankaras nicht nachgeben. Dissidente auszuliefern, käme einer Aushöhlung des Rechtsstaats in Schweden gleich, schrieb er auf der Internetplattform Al Monitor. Würde man Erdogans Forderungen nachgeben, wäre dies, als ob die NATO beabsichtigte, «einem Autokraten die Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur und die Zukunft der westlichen Demokratie zu überlassen».

Spaltung in der NATO

Ist die Türkei überhaupt NATO-konform? Diese Frage hat das vom Krieg in der Ukraine verunsicherte Bündnis in zwei Lager gespalten. Eine Gruppe um den NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg will «Verständnis» für die Einwände der Türkei zeigen: «Kein anderer NATO-Verbündete hat mehr terroristische Angriffe erlitten als die Türkei und kein anderer NATO-Verbündete nimmt mehr Flüchtlinge auf als die Türkei», betonte er letzten Mittwoch in Spanien. Jens Stoltenberg trat in unterschiedlichen Konflikten oft wie ein Botschafter der Türkei auf: Dass die türkische Armee dreimal völkerrechtswidrig in den Norden Syriens einmarschiert ist und Teile des Nachbarlandes annektiert hat, übersah er gerne. Er schwieg auch eisern, als die türkische Luftwaffe den Nordirak grossflächig bombardierte. Die Türkei sei schon aufgrund ihrer geostrategischen Lage ein «wichtiger NATO-Verbündeter», wiederholt er bei jeder Gelegenheit. Stoltenberg soll Finnland und Schweden ermutigt haben, Ankara entgegenzukommen. Für eine «Einigung» der NATO-Kandidaten und der Türkei soll sich auch der US-Aussenminister Antony Blinken ausgesprochen haben.

NATO OTAN Landschaftslogo.svg

In der Brüsseler NATO-Zentrale sind die Stimmen der «Nein-Sager» ebenso laut: Die türkische Regierung halte alle 29 NATO-Mitglieder und die zwei Kandidaten in Geiselhaft, empörte sich etwa Stefanie Babst, eine ehemals hochrangige Beraterin der NATO. «Ich halte es persönlich für absolut inakzeptabel.» Allgemein teilt man in Brüssel die Meinung, dass die Ukraine-Krise Erdogan einen neuen Spielraum für «Basar-Verhandlungen» verschafft habe, und dass er diesen Spielraum auch grosszügig ausnütze. Auch hier warnt man vor einer Aushöhlung der bislang unangefochtenen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit von Schweden und Finnland.

Die Türkei sei zwar Mitglied der NATO, aber unter Präsident Erdogan bekenne sie sich nicht mehr zu den Werten, die diesem grossen Bündnis zugrunde liegen, stand in einem Meinungsartikel im Wall Street Journal vom 18. Mai. Der Artikel schloss mit dem Vorschlag: «Vielleicht ist es an der Zeit, ein Verfahren für den Ausschluss eines Mitgliedstaates einzuführen.»

Neue «Operation» in Nordsyrien

Der türkische Präsident brüstet sich gerne damit, auf dem internationalen Parkett hoch zu pokern. So kündigte er Anfang Woche eine neue «Operation» im kurdischen Nordosten Syriens an. Ziel sei es, «eine 30 Kilometer tiefe Sicherheitszone entlang der südlichen Grenze zu schaffen», erklärte er nach einer Kabinettssitzung – und löste damit in Washington, in Brüssel und in Stockholm neue Schockwellen aus. Erdogan benutze «Schweden und Finnland als Vorwand, um Joe Biden herauszufordern», urteilte Yavuz Baydar, Chefredaktor der Internetplattform Ahval. Auch die Ankündigung der neuen Operation in Syrien soll nach Ansicht von Baydar vor allem Biden treffen.

Die Beziehung der zwei mächtigen Männer ist tatsächlich schwierig. Erdogans enger Freund in Washington war Donald Trump. Wie kein anderer ausländischer Politiker nahm Erdogan sich das Recht heraus, Trump regelmässig anzurufen, um sich mit ihm auszutauschen. Entsprechend problematisch entwickelte sich die Beziehung des türkischen Präsidenten zu Joe Biden. Biden hat Erdogan nie nach Washington eingeladen oder in Ankara besucht. Und Biden machte auch nie einen Hehl daraus, dass er Erdogan für einen Autokraten hält. Erdogan seinerseits wirft Biden vor, im syrischen Nordosten die «Terroristen» der kurdischen Milizeinheiten der YPG zu unterstützen und damit die Sicherheit der Türkei zu gefährden.

Die USA und Schweden pflegen seit 2015 in der Tat gute Beziehungen zur YPG. Die Regierungen in Washington und Stockholm haben nicht vergessen, dass es vor allem Frauen und Männer der YPG waren, die den Kampf gegen die IS-Terrormiliz geführt und gewonnen haben. Sie hegen Sympathien gegenüber dieser Partei, die in ihren politischen Strukturen eine Frauenquote von 40 Prozent eingeführt hat – für den Nahen Osten ein absolutes Novum.

Im Gegensatz zu den USA betrachtet Ankara die YPG jedoch als Terrorgruppe und fordert ihre Alliierten auf, die syrische YPG wie auch die kurdische Arbeiterpartei PKK zu verbieten. Die PKK, die in der Türkei seit 1984 einen bewaffneten Kampf für eine Autonomie der kurdischen Minderheit des Landes führt, wird in den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft. Am späten Donnerstagabend hat der mächtige Sicherheitsrat der Türkei grünes Licht für die «neue Operation» in Syrien gegeben.

Zur Verhandlungsmasse verkommen

Es sei eine Tatsache, dass «unser Volk einmal mehr in seiner Geschichte zur Verhandlungsmasse verkommt», kommentierte bitter die kurdische Selbstverwaltung Nordostsyriens (Rojava). «Die Türkei spricht von einer Sicherheitszone, die das Leben von Millionen von Menschen gefährdet und eine humanitäre Katastrophe verursachen könnte», erklärte Ilham Ahmed, Rojavas de-facto Aussenministerin, gegenüber der Internetplattform Al Monitor. Erdogan spreche von einer 30 Kilometer tiefen Sicherheitszone entlang der gemeinsamen Grenze. Abgesehen von den grossen kurdischen Städten Kamisli, Kobani und Manbij befinden sich in dieser Zone auch Gefängnisse, in denen Tausende von IS-Mitgliedern festgehalten werden. Ilham Ahmed sprach von eine «Katastrophe für die internationale Sicherheit», sollten diese Gefängnisse angegriffen werden.

James Jeffrey, ehemaliger US-Botschafter in der Türkei und oberster Syrien-Beauftragter der Trump-Regierung, warnte vor der Gefahr einer «unkontrollierten Eskalation»: «Um eine 30 Kilometer tiefe Zone zu schaffen, müssten die türkischen Truppen Gebiete einnehmen, in denen sich russische Streitkräfte befinden», also Krieg mit den Russen führen – ein Horrorszenario.

Die Kurden in Nordostsyrien und der Türkei bereiten sich jedenfalls auf den neuen Krieg vor. Sie sind sich darin einig, dass die Türkei einen radikalen demografischen Wandel im Grenzgebiet anstrebe: Die Kurdinnen und Kurden werden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, und werden durch syrische Flüchtlinge aus der Türkei ersetzt, lautet ihre Schussfolgerung. Von einer «ethnischen Säuberung» spricht auch Damaskus.

«Es nützt nichts, wenn westliche Länder die Türkei in Sachen Demokratie belehren oder die Türkei sich über die westliche Heuchelei beschwert», kommentiert Cihan Tugal, Professor für Soziologie an der Universität von Kalifornien, in einem Gastbeitrag für die New York Times am Donnerstag. «Sie stecken alle unter einer Decke. Was auch immer mit der Erweiterung des Bündnisses geschieht – ob die Kurden auf dem Altar der geopolitischen Zweckmässigkeit geopfert werden oder nicht – dies sollte ein Moment der Klarheit sein. In einer Welt des Kriegs hat kein Land ein Monopol auf Gewalt.»

Eine der grössten Tragödien unserer Zeit ist, dass man nicht alles daran gesetzt hat, um den drohenden Krieg in der Ukraine zu verhindern. Wird derselbe Fehler auch an der syrisch-türkischen Grenze wiederholt?

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Grafikquellen          :

Oben     —      Kurdisch bewohntes Gebiet, von CIA (1992) Ελληνικά: Περιοχές κατοικούμενες από Κούρδους κατά τη CIA (1992)

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2.) von Oben      —           NATO/OTAN-Logo. Quelle konvertiert von Imalipusram

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Von Demagogen+Investoren

Erstellt von Redaktion am 31. Mai 2022

Wodurch werden wir die erschöpften Träume von Demagogen und Investoren ersetzen?

Deutscher Bundestag

Eine Versammlung welche immer noch glaubt, ihr Volk führen zu können ?

Quelle        :     Berliner Gazette

Von    :     Sanja Bojanić

Der Übergang zu einer besseren Welt erfordert grundlegende Veränderungen: wirtschaftlich, politisch, technologisch und erkenntnistheoretisch. Aber er erfordert auch neue Träume, die Klimagerechtigkeit zu einer Selbstverständlichkeit machen, wie die Forscher Sanja Bojanic und Marko Luka Zubcic in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” argumentieren, indem sie den Ausverkauf der Kvarner-Bucht in Kroatien entschlüsseln.

Rijeka ist eine Stadt in der Kvarner-Bucht, einer relativ sauberen und artenreichen Bucht zwischen Istrien und der Gespanschaft Primorje Gorski Kotar in Kroatien. Rijeka ist eine Stadt mit reicher Geschichte. Im 19. und 20. Jahrhundert war sie Teil mehrerer Staaten und kurzzeitig auch ein unabhängiger Staat. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Rijeka ein lebhaftes Industrie-, Handels- und Technologiezentrum und Heimat einer ethnisch und religiös vielfältigen Bevölkerung. Sie war das Versuchsfeld für die ersten Experimente des italienischen Faschismus. Zu Zeiten Jugoslawiens war sie ein bedeutender Hafen mit wachsender Industrie und pulsierendem kulturellen Leben. Und dann, als Kroatien unabhängig wurde, wurde sie zu einer weiteren kleinen Stadt, einer Randstadt in einem Randstaat.

Und doch konnte Rijeka seine Träume von Größe nicht loslassen. Vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten wurde Rijeka zu einer Stadt, die zu sehr in ihre eigene Mythologie einer einzigartigen und großartigen Stadt an der Schwelle zum Erwachsenwerden investierte. Dieser Mythos wird weitgehend durch die ungebrochene Kontinuität der Herrschaft einer Mitte-Links-Stadtregierung in einem überwiegend rechtsgerichteten Kroatien und durch die damit einhergehende allgemein sozialliberale Kultur der Bürger gestützt. Für seine Bürger fühlt sich Rijeka wie eine offene europäische Kosmopolis an, sieht aber aus wie eine schmutzige, verlassene, postindustrielle, schrumpfende Stadt am Meer.

Diese Diskrepanz wirkt sich auf viele Entscheidungen der Stadtverwaltung aus und führt in der Regel zu einer unglücklichen Politik. Das jüngste Beispiel dafür war der Titel “Kulturhauptstadt Europas” mit einem Programm, das fast ausschließlich auf eine extravagante, überkomplizierte und überholte Vision setzte, die wenig mit dem tatsächlichen kulturellen Leben und den Bedürfnissen der Stadt zu tun hatte und für deren Umsetzung die Stadt schlecht gerüstet war. Der Titel führte vorhersehbar zu einer zunehmenden Gentrifizierung und einem Exodus vieler ausgebeuteter und ausgebrannter Künstler und Kulturschaffender, die entscheidend dazu beigetragen hatten, die ECoC vor dem völligen Untergang zu bewahren.

Die Sehnsucht nach dem großen Leben

Die derzeitige Fortsetzung von Rijekas Suche nach Größe wird zum ökologischen Kollaps der Kvarner-Bucht führen. Der Plan sieht vor, die Küstenlinie des Stadtzentrums an einen österreichischen Unternehmer zu verkaufen, um dort einen Yachthafen zu bauen. Die Idee wird von den Entscheidungsträgern, den Tourismusfachleuten und vor allem von den Bürgern von Rijeka einhellig befürwortet. Jede abweichende Meinung wird ungläubig zurückgewiesen – warum sollte jemand Rijeka daran hindern wollen, wieder großartig zu werden? Genauer gesagt, lautet eine beliebte Antwort auf die Ablehnung, die Stadt an private Unternehmen zu verschenken: “Was gibt es zu verlieren? Der Versuch eines Ortsverbands einer links-grünen Partei, die Stadtverwaltung unter Druck zu setzen, damit sie ihre Entscheidung aufgrund eines dubiosen Vertrags mit einem Unternehmer überdenkt oder ändert, wurde sowohl von den Beamten als auch von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert.

Es gibt nur eine mögliche Zukunft: diejenige, in der das Yachtgeschäft die Bucht vorhersehbar zerstört. Wir, die wir heute in Rijeka leben, sind die letzte Generation, die die Kvarner-Bucht als einen Ort des vielfältigen Lebens, der Schönheit und der Freizeit erlebt. Was folgt, ist ein Jahrzehnt des leichten Geldes für den Tourismus, der das Meer verschmutzen und die Tierwelt dezimieren wird, um dann Rijeka auf der Suche nach einer neuen naiven kleinen Stadt zu verlassen, die verzweifelt versucht, wie eine Großstadt auszusehen. Die Geschichte ist offensichtlich und wohlbekannt. Und zum jetzigen Zeitpunkt kann man nichts dagegen tun.

BlackRock hq51 jeh.JPG

Wir schreiben dies, weil es einen wichtigen Aspekt der Politik der Klimakrise verdeutlicht. Trotz jahrelanger Medienpräsenz haben ökologische Erwägungen nur selten, wenn überhaupt, die populäre Vorstellung eines Investors mit einer großen Vision, die einem Ort Wachstum und Glanz beschert, verdrängt. In Rijeka wird diese Vorstellung von dem Wunsch der Bürger genährt, dass die Stadt so aussieht, wie sie sich anfühlt: Sie träumen davon, dass Rijeka eine wohlhabende kosmopolitische europäische Stadt wird, koste es, was es wolle. Rijeka ist zugegebenermaßen keine besonders schlechte Stadt, um darin zu leben – es gibt sauberes Wasser, saubere Luft, anständiges Essen, und es ist ziemlich sicher -, aber diese Dinge fühlen sich für die Bürger und Entscheidungsträger nicht ausreichend an. Nur ein kleiner Vorgeschmack auf das Leben in der Großstadt wird es wert sein, ihre Gewässer und Böden zu vergiften.

Der Übergang braucht neue Träume

Daraus können viele Lehren gezogen werden. Einige sind einfach nur defätistisch. Aber eine könnte auf einen unterentwickelten und daher wohl chancenreichen Aspekt der (linken) Politik der Klimakrise hinweisen: Der Übergang braucht neue Träume. Die linke Politik der Klimakrise neigt dazu, die Albträume zu beleuchten und intensiv und mit ganzem Herzen an bestimmten, besonders relevanten Lösungen zu arbeiten. Das ist zweifellos bewundernswert und wichtig. Aber es führt nie zu einem neuen, gewohnheitsmäßigen politischen Denken der Bürger, das sich aus Träumen darüber speist, wie das Leben besser wird, und manchmal auch, wie die Städte größer werden.

Es ist falsch, Träume als bloße Schwelgerei und Sentimentalität abzutun. Sie sind eine Heuristik und ein Rahmen, um sich in der Komplexität zurechtzufinden, ein Werkzeug, mit dem sich Meinungen und Aufmerksamkeit gut organisieren lassen. Ohne neue Träume haben die Menschen nur die alten verzweifelten Träume, an die sie sich klammern können, wenn sie Entscheidungen treffen oder das unterstützen müssen, was ihrer Meinung nach die Zukunft verbessern wird. Und die Menschen brauchen das Gefühl, dass die Zukunft besser sein wird: Sie sind überarbeitet und unterbezahlt, oder sie sind jung und wollen sich vorstellen, dass ihr Leben interessant und wertvoll sein kann, oder sie haben Kinder und Enkelkinder und wollen sich vorstellen, dass sie in einer besseren Stadt leben. Ihr zuverlässiges Engagement an kritischen Punkten des politischen Prozesses wird immer davon abhängen, was ihnen das Gefühl gibt, dass die Zukunft gut sein kann.

Um dieses Bedürfnis zu befriedigen, haben sie nur noch die übrig gebliebenen Teile erschöpfter Träume privater Investoren: Yachten, Touristen und Freizeitzentren im Stil der Nullerjahre, die die derzeitigen Parkplätze entlang der Innenstadtküste ersetzen. Oder, in anderen Zusammenhängen, die ebenso erschöpften Träume von einem Messias, der die Stimme der “Kernland”-Bevölkerung sein wird und ihre gemeinschaftlichen Bindungen, Gruppensolidarität und Traditionen wiederherstellt.

Der richtige – gerechte und umfassende – Übergang erfordert mehrere grundlegende Veränderungen: wirtschaftliche, politische, technologische und epistemische. Aber er erfordert auch neue Träume, die einige Entscheidungen offensichtlich machen und den Widerstand dagegen unglaubwürdig und albern erscheinen lassen. Neue Träume, die Klimagerechtigkeit so selbstverständlich machen, wie es für die Bürger von Rijeka heute ist, die Kvarner-Bucht zu opfern.

Anm.d.Red.: Sanja Bojanić hat diesen Text gemeinsam mit Marko-Luka Zubčić verfasst – als Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette. Die englische Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website: https://after-extractivism.berlinergazette.de

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Grafikquellen     :

Oben       —     In Demokratien sind Parlamente wichtige Orte der politischen Entscheidungsfindung – hier der Deutsche Bundestag (2020)

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Unten      —       Blick von der East 51st Street nach Norden am HQ-Eingang von en:BlackRock

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 31. Mai 2022

Mangelwirtschaft und Inflation: Der Preis ist nicht für alle gleich

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Durch die Woche mit Nina Apin

Krise? Klingt so, als säßen wir alle im selben Boot. Egal ob Babymilchmangel in den USA oder teure Gurken in Deutschland – es war nie falscher als jetzt.

Neulich im Eisladen habe ich es zum ersten Mal gesagt: „Aber jeder nur eine Kugel!“ Zuvor hatte ich ungläubig das Preisschild über der Kühltheke angestarrt: 1,60 Euro pro ­Kugel, Karamellsauce 20 Cent extra. Eins-sechzig? Da hört selbst bei der Lieblings-Eisdiele der Spaß auf. Die Kinder nickten und beobachteten mich vorsichtig: Würde ich wieder laut fluchen wie zuvor an der Gemüsetheke im Supermarkt? 2,50, in Worten zwei-fünfzig für die Biogurke?

Und schon wieder kein Sonnenblumenöl und kein Mehl im Regal, auch nicht das allerbilligste, wenn es das denn gäbe! Nein, diesmal hatte ich mich im Griff. Daran, dass alles teurer wird und manches nicht immer verfügbar ist, hat man sich ja schon fast gewöhnt. Inflation plus pandemiegeschwächte Lieferketten plus tobender Krieg plus saftig steigende Energiepreise. Das gibt dann halt Mondpreis-Gurken und schlechte Laune im Eisladen.

Aber wenigstens die eine Kugel pro Person ist bei uns noch locker drin, wohingegen es Menschen gibt, für die schon der Kauf einer Wassermelone über der Geldbeutelgrenze liegt, wie die vielen Twitter-Posts unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen offengelegt haben. Na ja, das sei halt der Preis „der vielen Krisen“ unserer Zeit, war diese Woche vielerorts zu lesen.

Krisen, das klingt so schicksalhaft, als säßen wir im selben Boot. Was aber nie falscher war als jetzt. Denn manche zahlen schon lange den Preis dafür, dass den anderen gestiegene Preise nichts ausmachen. Schon meine Situation (ich fluche, greife aber doch zur ungespritzten Biogurke, weil meine Kinder die gern mit Schale essen) unterscheidet sich sehr von jener der Userin namens LuffyLumen, die keine Wassermelone kaufen kann.

Sich stapelnde Be­rufs­pend­le­r:in­nen

Menschen, die Geld aus den staatlichen Sicherungssystemen beziehen, werden jetzt „entlastet“ durch eine Einmalzahlung von 200 Euro, auch einen Kinderbonus soll es geben. Irgendwann im Juli wird ausgezahlt – wann genau, hat die Regierung vergessen zu sagen. Dabei wäre es für diejenigen, die jetzt schon jeden Cent umdrehen müssen, für die ­Ferienplanung einigermaßen wichtig, das zu wissen.

Zwei Aktivisten mit einem Plakat, das die steigenden Energiepreise, die Gewinne von Shell und die globalen Durchschnittstemperaturen hervorhebt.jpg

Wohingegen ein Studienfreund, der jetzt eine gutgehende Agentur hat, mehrere Ferienhäuser und Aktien, seine ganze Familie mit 9-Euro-Tickets eingedeckt hat – weil Zugfahrten durch Deutschland für ihn, der sich sonst per teurer Klimaschleuder durch die Republik bewegt, mal eine neue Erfahrung ist: auf Tuchfühlung mit den Berufspendler:innen, die sich mangels Alternative seit Jahr und Tag in den Öffentlichen stapeln.

Meine Prognose: Er wird es nicht lange durchhalten, aber die paar mal neun Euro sofort wieder vergessen haben. Ich wage noch eine Prognose: „LuffyLumen“ wird sich nicht gleich auf das im Vorverkauf freigeschaltete 9-Euro-Ticket gestürzt haben. Denn wozu ein Ticket kaufen, das Ausflüge „ins Grüne“ verspricht, wenn fraglich ist, ob man sich den Eintritt fürs Schwimmbad oder auch nur die Melone fürs Picknick am See leisten kann?

Babymilch aus Ramstein

Quelle       :         TAZ-online          >>>>>     weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben        —             Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Afrobeat -Scholz‘ Afrikareise

Erstellt von Redaktion am 30. Mai 2022

Die toten Babys von Senegal

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Von Dominik Johnson

Deutschland will Erdgas aus Senegal. Dort kollabiert das Gesundheitswesen. Über das Dilemma eines Präsidenten, die richtigen Prioritäten zu setzen.

Gegen 21 Uhr am Abend des 26. Mai brach im Krankenhaus von Ti­va­oua­ne in Senegal ein Feuer aus. Ein Kurzschluss verursachte eine Explosion, die einen Brand auslöste, der sich über die Klimaanlage ausbreitete. Die erst vor einem halben Jahr eröffnete Säuglingsstation ging in Flammen auf, elf Babys verbrannten. Während das Entsetzen in Senegal um sich griff, brach Präsident Macky Sall eine Auslandsreise ab, entließ seinen Gesundheitsminister und verfügte drei Tage Staatstrauer.

Solche Dramen häufen sich in Senegals öffentlichem Gesundheitswesen. Am 25. Mai wurden drei Hebammen zu sechs Monaten Haft auf Bewährung wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt, nachdem sie im April im Krankenhaus von Louga eine Schwangere hatten sterben lassen. Die werdende Mutter war mit Wehen ins Krankenhaus gegangen und hatte um einen Kaiserschnitt gebettelt; das Personal erklärte ihr, sie sei nicht dran; sie wartete 20 Stunden vergeblich, bis sie starb. Ebenfalls am 25. Mai wurde in Kaolack eine Pflegerin dem Richter vorgeführt, die einem Vater einen Karton mit seiner angeblich tot geborenen Tochter überreicht hatte – im Karton fand er ein lebendes Baby, das kurz darauf starb.

Erst nach dem jüngsten Drama reagiert der Präsident entschlossen. Tivaouane ist ein Wallfahrtsort der Tidjane-Bruderschaft, einer der beiden mächtigen islamischen Sufi-Bruderschaften, die den Islam im Senegal prägen. Tidjane-Führer haben empört auf den Vorfall im Krankenhaus reagiert. Kein senegalesischer Politiker kann es sich leisten, die Bruderschaften zu verprellen.

Denn Senegal ist die stabilste Mehrparteiendemokratie Westafrikas, und die öffentliche Debatte zählt hier mehr als anderswo. Aber die senegalesische politische Elite hält sich auch für die klügste des Kontinents, sie liebt wortgewaltige Zukunftsankündigungen und überlässt die Sorgen der Gegenwart den Imamen. Wenn grundlegende Dinge wie etwa eine sorgenfreie Kindsgeburt in ­staatlicher Obhut nicht gewährleistet sind, wendet sich das ganz schnell gegen die Regierenden.

Parlamentswahl könnte wegweisend für Präsidentschaftswahl sein

In Senegal stehen am 31. Juli Parlamentswahlen an. Präsident Macky Sall muss um seine Mehrheit zittern: Bei den letzten Wahlen 2017 holte sein Wahlbündnis Benno Bokk Yakaar (In Hoffnung vereint) nicht einmal 50 Prozent der Stimmen, wenngleich es dank des Wahlsystems mit 125 von 165 Sitzen klar dominierte. Der Präsident, der sich 2012 nur mithilfe von Massenprotesten gegen seinen am Amt klebenden Vorgänger ­Abdoulaye Wade durchsetzen konnte, ist längst selbst Zielscheibe einer aufsässigen Jugend, die kreative neue Formen des Protests erfindet und die etablierte Elite vor sich hertreibt. Ein Oppositionssieg bei der Parlamentswahl 2023 wäre ein Signal für die Präsidentschaftswahl 2024.

Wie praktisch für Macky Sall, dass ihm in diesen turbulenten Zeiten Deutschland Wahlkampfhilfe leistet. Die Bundesregierung hat Senegal zum G7-Gipfel im Juni eingeladen, weil Sall gerade den Vorsitz der Afrikanischen Union innehat, und ihm damit die globale Bühne geöffnet. Bundeskanzler Olaf Scholz besuchte Senegal am 22. Mai als erstes Zielland seiner ersten Afrika-Dienstreise und betonte die Bedeutung der „Partnerschaft“ mit Senegal, die „immer wichtiger“ werde. Dann kündigte er Zusammenarbeit bei der Erdgasförderung an.

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Senegals politische Beobachter wissen genau, dass solche Ankündigungen kein Akt deutscher Selbstlosigkeit sind. Afrika, so die Analyse, muss jetzt offenbar Europa helfen, sich aus der Energieabhängigkeit von Russland zu lösen: mit Erdgas aus dem Meeresboden.

Das hat zwar den Schönheitsfehler, dass Senegal nur wenig Erdgas hat, die Förderung frühestens Ende 2023 beginnt und über die Details Streit mit den Nachbarn herrscht. Doch afrikanische Präsidenten lieben es, wenn europäische Länder an ihre Tür klopfen und Öl und Gas wollen – vor allem solches, das es noch gar nicht gibt. Das ist ein Freibrief für den Machterhalt.

Von Tschad bis Uganda haben in den vergangenen Jahrzehnten Herrscher unter Verweis darauf, dass sie dank ihrer guten internationalen Kontakte ihrem Land demnächst Öl- und Gasreichtum bescheren werden, ihre Zeit an der Staatsspitze erheblich verlängert. Immer steht das Paradies kurz bevor, also nach der nächsten Wahl. Demokratische Machtwechsel in Ländern, die vom Öl- und Gasexport leben, sind äußerst selten. Nigeria, der größte Ölförderer südlich der Sahara, ist die Ausnahme, aber nur dank seiner föderalen Struktur, die allen politischen Lagern Zugang zu den Futtertrögen bewahrt.

Quelle      :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —     Nationale N2 – route de Saint-Louis – dans le centre de Tivaouane

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Eine neue Weltordnung

Erstellt von Redaktion am 28. Mai 2022

Zwischen Völkerstrafrecht und Recht haben

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Eine Kolumne von Thomas Fischer

In Davos, einem netten Ort in einem neutralen Staat, sprachen der »Nato-Chef«, der Bundes-Kriegswirtschaftsminister und ein paar Oligarchen des Westens über die zukünftige Aufteilung der Welt. Wir sind betroffen.

Wirtschaftsschnack

Wir Deutsche hatten einmal einen Bundeskanzler, der mächtig stolz darauf war, zum Durchregieren keinen Professor aus Heidelberg, sondern nur »Glotze und Bild« zu benötigen. Das wurde ihm von sensiblen Professoren in den Deutungszentren der Republik übel genommen und in der Geschichtswissenschaft unter »Flasche Bier« abgelegt. Heutzutage, im Jahrhundert der mimisch-visuell grübelnden Regierungskunst eines Friedrich M. und eines Robert H., geht so etwas natürlich nicht mehr: Hier wird die Absatzhöhe der Geparden Ministerin vom eleganten Finanzminister persönlich gemessen.

Wie Sie wissen, sehr geehrte Leser, hat in dieser Woche der Bundeswirtschaftsminister »eine neue Weltordnung« gefordert . Darunter macht man es nicht in Davos, schon gar nicht, wenn man der »beliebteste« deutsche Nichtbundeskanzler ist und Frau von der Leyen vom Podium raunte: »Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen«, was wahrscheinlich eher eine untertänige Bitte an den Göttervater »Biden« war als ein Befehl an den genannten Staat, allerdings in beiden Fällen wenig mit der drohenden Hungersnot unter deutschen Rentnern oder den Affenpocken zu tun hat.

Anschließend, so vdL, benötigt man dort (UKR) einen Rechtsstaat, eine unabhängige Justiz, eine etwas weniger korrupte Staatsverwaltung, eine auf fünf Billionen Dollar Kredit gestützte neue Volkswirtschaft sowie die Entmachtung aller »Oligarchen«. Große Pläne also für blühende Landschaften! Herr Jens Stoltenberg, der in Davos die Industrie- und Handelskammer des Westens vertrat, ergänzte noch, »grundsätzlich« spreche nichts gegen den Handel mit China. Da waren wir sehr erleichtert, schon weil wir seit zwei Monaten auf ein paar LED-Glühbirnen warten. Eine Videobotschaft des amerikanischen Präsidenten mit ergriffenem Dank an die Partner und Glückwünschen an die amerikanische Ölindustrie, der die Cancelung von NS2 ein paar Billionen Dollar pro Jahr einbringen wird, wurde, soweit ich weiß, nicht eingespielt. Man muss sich auch einmal still freuen können.

Neuigkeiten!

Wie Sie ebenfalls wissen, hat in der vergangenen Woche eine geheime Quelle eines Wissenschaftlers diesem und er wiederum einem garantiert neutralen Investigativ Netzwerk mitgeteilt, dass in China, dem Land am Ende der bewohnten Welt, eine hohe Zahl von Uiguren, Menschen anderen Aussehens, anderer Traditionen und anderer Religion als die Mehrheiten der Han-Chinesen, Ukrainer und Deutschen, entgegen der Annahme der Bundesregierung nicht in Integrationszentren und Betreuungseinrichtungen gehalten werden, in denen es nicht immer ganz lupenrein zugeht. Tatsächlich, so hat die Bundesaußenministerin erstmals erfahren, werden dort Hunderttausende von Menschen mit brutalen, jeder Rechtsstaatlichkeit spottenden, menschenrechtswidrigen Methoden »umerzogen« und zu »richtigen« Chinesen gemacht, was nach Ansicht der Verantwortlichen am besten dadurch zu erreichen ist, dass man jedes geringste Zeichen einer eigenständigen Kultur, einschließlich Sprache und Religion, mit härtesten Strafen ahndet.

Die Bundesaußenministerin »zeigte sich«, wie man erfuhr, ob dieser Nachricht »tief entsetzt«, einmal mehr fassungslos und zudem empört; sie hat deshalb, wie man las, »von Peking transparente Aufklärung gefordert«. Da wird sich Peking sehr gefürchtet haben. Es hat derzeit etwa 22 Millionen Einwohner, also so viel wie NRW, Berlin und Hamburg zusammen. Es funktionierte schon als Hauptstadt, als der Westen noch 200 Jahre auf die Geburt Homers warten musste.

Die derzeitige Bundesministerin des Äußeren hat ihr Amt seit 8. Dezember 2021 inne. Seither sitzt sie mindestens einmal pro Tag für mindestens eine Stunde in einer »Lagebesprechung«, in der ihr von den Abteilungen des Ministeriums die von eigenen und befreundeten Geheimdiensten in großer Menge zusammengetragenen Informationen und Bewertungen der Ereignisse in der Welt da draußen (Zuständigkeitsbereich) vorgetragen und erklärt werden. Außerdem finden pro Tag weitere zehn Termine statt, bei denen Informationen im Speziellen vertieft werden.

Es darf also jedenfalls ausgeschlossen werden, dass die Ministerin davon, dass in den Umerziehungslagern der chinesischen Provinz Xinjiang seit Jahren gefoltert, vergewaltigt, genötigt wird und dass diese Maßnahmen sich gezielt gegen die ethnische Minderheit der Uiguren richten, deren Kultur und Eigenständigkeit (Identität) nach dem Willen der chinesischen Regierung vollständig ausgelöscht werden sollen, erst kürzlich aus der Zeitung erfahren hat. Dagegen spricht auch, dass Frau Ministerin Anfang Dezember mitteilen ließ, sie habe gesagt, dass sie »einen härteren Kurs gegenüber China« ankündige. Sie brachte »ein Importverbot für Produkte aus der chinesischen Region Xinjiang ins Spiel« und schloss auch einen Boykott der Olympischen Winterspiele nicht aus. Nun gut: Dass man dem chinesischen Volk und der deutschen Wintersportindustrie nicht zumuten konnte, auf deutsche Bobfahrer zu verzichten, haben wir durch den tapferen Rausschmiss der russischen Behindertensportler moralisch wieder ausgeglichen. Über das Importverbot können wir ja reden, sobald wir mit Russland abgerechnet haben.

Aber jedenfalls ist die Behauptung, die Außenministerin sei über die Enthüllungen der vergangenen Woche »tief betroffen« und schockiert, bestenfalls ein sehr kleiner Teil der Wahrheit. Verlautbarungen des Auswärtigen Amts darüber, wie sich die Ministerin »gezeigt habe«, sind nämlich keine Bulletins über den emotionalen Zustand von Frau Annalena B., sondern Erklärungen der Bundesregierung über das Wissen und Wollen des Staats. Und diesem Staat ist seit vielen Jahren sehr genau bekannt, wer die Uiguren sind und was ihnen geschieht. Im Januar, als Frau B. erstmals mit Herrn Wang Yi, dem Außenminister, sprach, hieß das Thema »die Fortentwicklung der bilateralen Beziehungen« (AA, 20.01.2022). Ich vermute, da ging’s eher um lebendige Chips als um tote Kinder.

Völker und Recht

Da die Ministerin bekanntlich vom Völkerrecht her kommt, ist ihr möglicherweise § 6 Abs. 1 des Deutschen Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) bekannt geworden, der lautet:

»Wer in der Absicht, eine (…) religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören,

1) ein Mitglied der Gruppe tötet,

2) einem Mitglied der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden (…) zufügt,

3) die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen

4) Maßregeln verhängt, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen,

5) ein Kind der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt,

wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.«

Und § 1 des VStGB stellt klar:

»Dieses Gesetz gilt für (…) Taten nach § 6 (…) auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist.«

Zuständig für die Verfolgung solcher Taten ist, der Mehrheit der Bundesbürger geläufig, der Generalbundesanwalt (GBA), der im Moment Beweismittel sammelt und Ermittlungen durchführt, um die zahlreichen russischen und vielleicht vereinzelt auch ukrainischen Täter zu verfolgen, die seit Februar 2022 mutmaßlich Taten nach §§ 6 bis 12 VStGB begangen haben. Das ist auch gut so, denn schließlich gilt auch für den GBA § 152 Abs. 1 StPO:

»(Die Staatsanwaltschaft) ist … verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.«

Ob solche Anhaltspunkte gegeben sind, ist in einem »Vorprüfungsverfahren« herauszufinden. Das sollte hier – bezogen auf den Völkermord an den Uiguren – kein Problem sein. China, das wie die Ukraine das Römische Statut zum Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) nicht unterzeichnet hat, möchte die Taten vermutlich in den nächsten 500 Jahren nicht verfolgen. Ein paar Planstellen könnte man beim GBA also durchaus schon mal vorhalten!

Nah und fern

Quelle       :         Spiegel-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Davos, Graubünden

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Wolken aus Zement:

Erstellt von Redaktion am 22. Mai 2022

“Smarte” Infrastrukturen als Geister des grünen Kapitalismus

15. Oktober... bereit für Madagaskar. - Flickr - belgische Schokolade.jpg

Quelle        :     Berliner Gazette

Von     :     Christoph Marischka

Ein Streifzug durch Technologieparks in Deutschland offenbart: Wie die Wolken am Himmel befinden sich die urbanen Infrastrukturen der sogenannten „Cloud“ in ständiger Transformation. Anders jedoch als die Wolken am Himmel hinterlassen sie jedoch eine immobile Materialität: versiegelte Flächen und Beton, sowie ein undurchschaubares Geflecht an privaten Besitzverhältnissen, wie der Autor und Aktivist Christoph Marischka in seinem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” zu denken gibt.

Die Wolken am Himmel wirken auf uns schwerelos, fluide oder gar immateriell, wobei wir wissen, dass dies nicht wahr ist: Sie bestehen aus riesigen Mengen Wasser und bergen Differenziale in teilweise katastrophischem Ausmaß. Davon unbenommen gilt auch die digitale „Cloud“ irgendwie als immateriell oder zumindest lightweight und energiesparend. Diese Assoziation erscheint als Voraussetzung, dass Digitalisierung und Informationalisierung kontrafaktisch, aber teilweise erfolgreich, als nachhaltig beworben werden. Ein Unfall des Wissens, von dem ein Set von Akteur*innen – auch mit rein finanziellen Interessen – profitiert.

Die hier beschriebenen und verallgemeinerten Beobachtungen gehen auf umherschweifende Besichtigungen zurück – insbesondere von Rechenzentren und Technologieparks in Westdeutschland, darunter Stuttgart, Frankfurt/Offenbach, Bochum, Paderborn und Hannover Ende 2021/Anfang 2022 sowie den unmittelbaren Auseinandersetzungen um das „Cyber Valley“ in und v.a. um Tübingen in den drei vorangegangenen Jahren.

Das materielle Zentrum

Wir wissen eigentlich, dass die „Cloud“ aus Rohstoffen gebaut ist und diese fortwährend verbraucht. Sie gilt als „kritische Infrastruktur“ und wird mit öffentlichen Mitteln gesichert, während sie private Gewinne produziert. Ihre materielle Realisierung geht einher mit massiven Verschiebungen des Eigentums und einer dieselbewölkten Logistik von Erde und Zement.

So wird Zement offensichtlich gebraucht, um die Rechen- und Datenzentren selbst zu bauen – die zunehmend als Orte der städtischen wie ländlichen Gentrification und Verdrängung in Erscheinung treten. Sie benötigen Flächen und zumindest eine gewisse Nähe zu logistischen, administrativen und/oder finanziellen Knotenpunkten, sogenannten Hubs. Sie basieren auf einer kontinuierlichen Stromversorgung, die nicht nur unternehmerisch, sondern zunehmend für die öffentlichen Infrastrukturen kritisch ist. Die Rechen- und Datenzentren speisen sich gerne aus lokalen, regenerativen Energiequellen und fördern diese, erfordern aber auch eine nationale Absicherung der Stromversorgung mit Gas oder Atomkraftwerken sowie eine Versorgung der Notstromaggregate mit Diesel.

Wo auch immer diese Rechen- und Datenzentren gebaut werden, wird der Asphalt von verschiedenen Richtungen aufgerissen, werden Kabel verlegt und wieder begraben. Und andersherum: Wo auch immer neue Autobahnen oder Zugverbindungen gebaut werden, werden auch Breitbandverbindungen verlegt. Neue Knotenpunkte entstehen jenseits der alten Städte. Diese Städte expandieren und investieren. Sie investieren in neue Kraftwerke, Straßen, Fahrradwege und Jogging-Strecken, welche den Raum zwischen landwirtschaftlich genutzten Flächen, Technologieparks und gleichzeitig entstandenen Wohngebieten erschließen und restrukturieren.

Das unmittelbare Vorfeld

Was die Wolken im Himmel tatsächlich mit ihren imaginierten Entsprechungen am Boden gemein haben ist deren Fluidität – die schiere Unmöglichkeit, ihre sich beständig ändernden Grenzen zu definieren.

Während uns die Rechen- und Datenzentren zunächst als räumlich klar von der Umwelt abgegrenzte und eingezäunte Territorien mit wenig, diskretem Personal und somit als praktisch autark erscheinen, erfordern sie doch anhalte Wartung, Schutz und Versorgung mit Betriebsstoffen. Obgleich davon vieles automatisiert ist, braucht es Menschen, die den Zugang, den Wareneingang und die Müllentsorgung kontrollieren; Dienstleister, die Rasen mähen, Insekten bekämpfen, die Flure sauber halten, Nahrung und Betriebsstoffe liefern und mehr oder wenig kontinuierlich Hardware austauschen.

Die Unternehmen, welche für den Unterhalt und die Verwaltung der Rechen- und Datenzentren zuständig sind, befinden sich meist in deren – mehr oder weniger unmittelbaren – Nähe. Manchmal bilden sie auch räumlich das unmittelbare Vorfeld der Rechenzentren in sehr einfachen Bürogebäuden diesseits des Stacheldrahtes und der gut gesicherten Zugänge zum Rechenzentrum selbst.

Diese Vorhöfe der Rechenzentren bestehen aus einem typischen Mix an Unternehmen, zumindest was ihre Präsenz auf Schildern an der Einfahrt und den Parkplätzen angeht. Ein oder zwei von ihnen wurden konkret als Betreiber des jeweiligen Rechenzentrums gegründet, drei bis fünf international tätige Unternehmen wie Bosch, Siemens, Atos und Spie sind für einzelne, aber für Außenstehende schwer abzugrenzende Aspekte des Betriebs zuständig und eine vergleichbare Anzahl namenloser lokaler Unternehmen für die Sicherheit, das Personalwesen oder was auch immer. Manchmal gibt es dann auch noch Schilder oder zumindest einzelne Parkplätze, welche die Präsenz eines der bekannten Weltunternehmen wie Microsoft oder google proklamieren, die auch in der Verwaltung von Daten und Datenzentren aktiv sind. Die Geschäftsbeziehungen und Besitzverhältnisse zwischen diesen Konzernen, welche die „Cloud“ letztlich konstituieren, sind wie die inneren Strukturen der Wolken am Himmel allenfalls zu erahnen – und in ständiger Transformation begriffen.

In anderen Fällen bilden diese Vorhöfe den Kern eines nahe gelegenen Technologie-Parks, der meist erst kurz zuvor am Rande der alten Städte auf der grünen Wiese errichtet wurde und Anlass war zum Ausbau bestehender Verkehrs-Infrastrukturen aus öffentlichen Mitteln. Auch hier finden sich meist ein kleineres Kraftwerk und neue Wind- oder Solarfelder in der Umgebung. Wie schon bei älteren Gewerbegebieten, ging auch deren Errichtung mit der Privatisierung und Umverteilung von Land, der Zerstörung von Ökosystemen und Baumaßnahmen einher. Wie auch die älteren Gewerbegebiete ist ihr Bau eine treibende Kraft bei der Ausdehnung des Urbanen, der Versiegelung von Flächen und der Transformation der vorherrschenden oder auch nur möglichen Formen der Einkommensgenerierung.

Die unterstellte Präferenz der vermeintlich jungen und gut bezahlten Arbeitskräfte im Tech-Sektor für lokal und biologisch angebaute Produkte steht jedenfalls zumindest in einem Spannungsverhältnis zum Raum und den Chancen, die ihre modernen Fabriken dem Anbau von Lebensmitteln lassen. Vielleicht sind aber auch diese Vorlieben ein Mythos, denn um die Mittagszeit werden die Technologieparks durch Schwärme von Fahrzeugen geflutet, welche Fast-Food aller Art in die Büros liefern. Bäckereien und Restaurants gibt es dort nämlich nur selten und wenige, von Bioläden ganz zu schweigen. Obwohl meist gut an den öffentlichen Nahverkehr angebunden, scheinen zu jedem Technologiepark auch größere Parkhäuser zu gehören.

Wolkenstädte

Vor Ort erwecken diese Orte oft einen ganz anderen Eindruck als ihre Internetauftritte in der Cloud, wo sie modern, dynamisch, prosperierend und bevölkert dargestellt werden. Sozusagen in der ersten Reihe, nahe den Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs, finden sich tatsächlich oft einigermaßen repräsentative Gebäude, auf denen Fahnen neben dem Haupteingängen, die Logos von bekannten Firmen tragen – die gar nicht wirklich präsent sind. Die Cafeterien im Eingangsbereich sind meist verwaist, und stattdessen neben der ungenutzten Theke einfache Snack-Automaten aufgestellt. Selbst der Empfang ist oft schon verlassen oder mit schlecht bezahltem und billig uniformiertem Personal irgendeiner Sicherheitsfirma besetzt.

Oft stehen in diesen Gebäuden ganze Etagen leer oder werden von überregional tätigen Dienstleistern ausgestattet und tage- bis monateweise untervermietet. Die dauerhaftesten Mieter dieser Gebäude sind oft jene öffentlich geförderten Unternehmen, welche für das Management und die Promotion des jeweiligen Standorts selbst zuständig sind oder im Auftrag irgendwelcher lokalen Netzwerke aus öffentlicher Gewerbeförderung und Gewerbeverbänden die vor Ort zugleich präsente und absente (fluide?) Startup-Szene unterstützen sollen.

Nochmal anders sieht es in der zweiten und der dritten Reihe dieser High-Tech-Gewerbegebiete aus, wo die minderwertige Bausubstanz der schnell errichteten Gebäude sofort auffällt, obwohl sie meist noch recht neu sind. Die Briefkästen offenbaren eine große Zahl von Firmen, deren Präsenz eher übergangsweisen Charakter hat. Oft gibt es Briefkästen von Anwalts-Kanzleien oder Steuerberatungen, auf denen gleich ein Dutzend Unternehmen durch teilweise von Hand beschriftete Aufkleber genannt sind.

Das Vermächtnis der „Cloud“

Angesichts der Ausmaße dieser Technologie-“Parks“ und der „Ökosysteme“, die sie hervorbringen sollen, kann es trotzdem sein, dass dort jeweils tausende Menschen in hunderten verschiedenen Firmen arbeiten, von denen vielleicht etwa die Hälfte tatsächlich so viel mit IT zu tun haben, wie das Standort-Marketing behauptet. Diese Unternehmen entwickeln die Dienstleistungen und Technologien zur Verarbeitung von Daten, wie sie die Cloud einerseits möglich macht und andererseits erfordert. Ein großer Teil basiert auf den Erwartungen zukünftiger Profite durch die weitere Digitalisierung und „smarte“ Städte.

Von den meisten wird man niemals etwas hören und viele von ihnen werden in dem explizit „disruptiven“ Umfeld auch nicht lange existieren. Manche werden von größeren Playern eingekauft werden – was dann weniger das Personal oder den Standort, als die Patente einschließt. Einzelne werden vielleicht – zwischendurch – Erfolg haben und wachsen. Sie können dann die leer stehenden Flure und Büros in den Nachbargebäuden mieten. Aber wachsende Unternehmen wollen kaufen und bauen, und sie werden dabei von der Politik unterstützt, die ihre „Leuchttürme“ und “Champions“ in der Stadt bzw. Region behalten will.

Dies erklärt zumindest in Teilen die Tendenz dieser „Ökosysteme“, sich räumlich auszudehnen, während in anderen Ecken der Zerfall längst eingesetzt hat. Wie die Wolken am Himmel befinden sie sich in ständiger Transformation; ihre Auflösung ist absehbar. Anders als die Wolken am Himmel werden sie eine immobile Materialität hinterlassen, versiegelte Flächen und Beton, sowie ein undurchschaubares Geflecht an privaten Besitzverhältnissen. Wie die Parkhäuser im Herzen dieser Ökosysteme, so sind sie selbst nur zu verstehen durch eine politisch forcierte Umverteilung und Inwertsetzung von Fläche – und die billige Verfügbarkeit von Zement. Und wenn die nächste Disruption ein Netzwerk ohne Knoten, Sondermüll der Urbanisierung hinterlässt, wird sie womöglich trotzdem eine Erfolgsgeschichte sein: Move fast and break things – Let‘s go to Mars.

Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englische Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de

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Wirtschaftsverflechtungen

Erstellt von Redaktion am 21. Mai 2022

Neue europäische Handelsagenda

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Von Robert Habeck und Katherina Dröge

Die Handelsbeziehungen waren von Profit getrieben. Die Globalisierung muss fairer und nachhaltiger werden. Ein Gastbeitrag.

Es herrscht Krieg in Europa. Die Coronapandemie ist nicht vorbei, die Klimakrise spitzt sich zu. Auch die Welt des internationalen Handels ist ins Stocken geraten, was die deutsche Wirtschaft zu spüren bekommt. Die Auswirkungen von gerissenen Lieferketten machen sich bemerkbar. Hohe Energie- und Lebensmittelpreise sind eine Last. Und wie sich Erderhitzung und Krieg verbinden, sehen wir gerade in Indien.

Die indische Regierung, die die Versorgungslücke schließen wollte, die der russische Angriffskrieg auf die Ukraine gerissen hat, verbietet die Ausfuhr von Weizen, weil eine extreme Hitzewelle die Ernteerträge des Landes bedroht. Die verschiedenen Krisen türmen sich auf ungute Weise aufeinander, teilweise verschränken sie sich. Wir leben in Erwartung weiterer Disruptionen und sehnen uns umso mehr nach der Normalität zurück.

Doch eine Rückkehr zu dem, was uns als solche galt, wird es nicht geben. Wir sind gefordert, uns politisch zu überlegen, welche Normalität wir schaffen wollen. Es war keine intakte, sichere Welt, in die Pandemie und Krieg einbrachen. Wir haben uns nur eingeredet, dass wir in einer Zeit leben, in der alle Probleme gelöst sind. Und dass wir die, die kommen, mit Technik und Geld, über Märkte und Warenströme lösen können. Dass Politik da nur stört.

Das war der Glaubenssatz der Globalisierung der letzten Jahrzehnte. Er erweist sich nun, da Pandemie und Krieg die Probleme ins grelle Scheinwerferlicht gestellt haben, als blind und bequem. Wir sind verletzbar und abhängig. Unsere politische Handlungsfreiheit ist eingeschränkt. Weil uns strukturelle Fehler der Vergangenheit zu abhängig von Gasimporten aus Russland gemacht haben, können wir noch kein vollständiges Gas­embargo umsetzen.

Es war nicht alles gut vor dem Krieg

Beim Export sind wir stark auf einzelne Absatzmärkte angewiesen. Und die Just-in-time-Produktion, die die Lagerungskosten zu vermeiden sucht, funktioniert nicht, wenn es in der Logistik hakt. Der Grund für Verletzlichkeit und Abhängigkeit ist strukturell. Wie bei den meisten großen Problemen hat dies einen mindestens nachvollziehbaren Grund – Kostensenkung. Die Expansion des Außenhandels der letzten Jahrzehnte war stark preisgetrieben.

Es galt die von der Politik durch zahlreiche Deregulierungen unterstützte Devise: Je billiger, desto besser. Davon hat Deutschland als Exportland profitiert. Vergessen hat man bei dieser preis- und wachstumsorientierten Hyperglobalisierung aber die Versorgungssicherheit und das altehrwürdige kaufmännische Prinzip der Diversifizierung, der Risikovorsorge und Vorsicht.

Vielmehr hat man gehofft, eine ökonomische Verflechtung mit autoritären Regimen wie Russland oder China werde dort einen Wandel zu mehr Demokratie, mehr Bürgerrechten, mehr Freiheit auslösen. Spätestens seit der russischen Invasion in die Ukraine wissen wir: Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Auch die Entwicklung Chinas zeigt, dass allein mehr Handel nicht zwangsläufig zu mehr Demokratie führt. So weit die deutsche Perspektive.

Vielerorts entstand neuer Wohlstand

Aber das Prinzip der Kostensenkung hat in anderen Regionen der Welt weitaus größere Schäden angerichtet. Abholzung von WäldernAusbeutung von seltenen Rohstoffen, unsägliche Arbeitsbedingungen Finanzkrisen und soziale Ungleichheit sind Kosten, mit denen unser Wachstum von anderen bezahlt wurde. Man kann dabei nicht verschweigen, dass andernorts auch neuer Wohlstand entstanden ist. Weniger Menschen als früher leben in Armut und Hunger, mehr Menschen haben Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung. Auch mehr Mädchen.

Einige der früher so genannten Entwicklungsländer sind zu ökonomischen Großmächten geworden, haben eine eigene Mittelschicht. Sie definieren ihre geopolitischen Interessen. Und hinterfragen, warum sie ihre Märkte nicht vor einer Politik schützen sollen, die sie eher benachteiligt. Diese einander bedingenden Entwicklungen – die nationale wie die globale – zeigen, dass die Globalisierung, wie wir sie kannten, an ihr Ende gekommen ist.

Aber es wäre die falsch, jetzt der De-Globalisierung das Wort zu reden. Das hieße BrexitDonald Trump und Rückzug, Abschottung, Nationalismen und Zollkriege. Der Traum von Autarkie wäre ein Albtraum. Autarkie wäre für Deutschland auch gar nicht erreichbar. Gerade bei der sozialökologischen Transformation werden wir weiterhin auf internationalen Handel und Arbeitsteilung angewiesen sein.

Die politische Aufgabe besteht darin, an der Idee einer gemeinsam geteilten Welt festzuhalten, aber ihre wirtschaftlichen Beziehungen gleichberechtigter zu organisieren. Wir müssen die Globalisierung besser, fairer und nachhaltiger machen. Dazu brauchen wir eine neue europäische Handelsagenda.

Autarkie ist Illusion

Es gilt, die politischen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich der deutsche und europäische Außenhandel breiter aufstellen kann: raus aus der Abhängigkeit von einem Land und hin zu mehr und besserer Zusammenarbeit mit anderen Ländern. Folgende Punkte sollten die Handelsagenda leiten:

1. Der strukturell beste Rahmen für Handelspolitik ist ein multilateraler nach gemeinsamen Welthandelsregeln. Diese werden durch die Welthandelsorganisation WTO gesetzt, und der größte Teil des deutschen Außenhandels findet im Rahmen der WTO-Regeln statt. Aber die WTO-Regeln müssen reformiert werden. Ob das gelingt, steht jedoch in den Sternen – China und andere verweigern sich jeder Reform. Dennoch gilt: Wir Multilateralisten wollen weiter an der Reform arbeiten.

2. Ob und wann eine WTO-Reform gelingt, ist nicht absehbar. Deshalb sind faire bilaterale Handelsabkommen nötig. Das gilt umso mehr, als wir in der neuen geopolitischen Lage gehalten sind, Bündnisse einzugehen. Wir brauchen Abkommen, um unsere Handelsbeziehungen auf mehrere Schultern zu stellen und unsere Nachhaltigkeitsstrategien effektiv zu verfolgen. Absatzmärkte müssen sich diversifizieren, Importe – Energie, Wasserstoff – ebenso.

Mit US-Präsident Joe Biden etwa gibt es die Chance auf eine neue transatlantische Partnerschaft für faire Handelsbeziehungen und Klimaschutz. Die Zeit drängt: Wir stehen in Europa in systemischer Konkurrenz zu China, und China schafft Fakten. Mit dem multilateralen Freihandelsabkommen RCEP wurde Anfang des Jahres die größte Freihandelszone der Welt gegründet – aber ohne dass Klimaschutz, Sozialstandards oder Menschenrechte eine Rolle spielen.

WTO-Regeln reformieren

Quelle          :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Die neue Rücksichtslosigkeit

Erstellt von Redaktion am 19. Mai 2022

Was die private Form verdeckt: die Vergesellschaftung der Produktion

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Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von Peter Klein

„Das Einzige, worauf sich die Linke und die Rechte einigen können, ist, dass mehr Jobs etwas Gutes sind. Daher gibt es wenig Anreize, irgendeine Maßnahme zu setzen, die Jobs abschafft.“

(David Rolfe Graeber)

„Schuster bleib bei deinem Leisten. Kümmere dich nicht um Dinge, die dich nichts angehen und von denen du nichts verstehst.“ Laut Marx (im „Kapital“ lateinisch: „ne sutor ultra crepidam!“, MEW 23, S. 512) ist das die Maxime, die in der vormodernen Welt der zünftigen Handwerker und kleinen Kaufleute das Leben der Menschen regierte. Der Kreis der Tätigkeiten, meist innerhalb der Stadtmauern verbleibend, war eng, geradezu zwerghaft verglichen mit dem Aktionsradius des modernen Menschen, aber er umfasste unter Einschluss der Hochzeitsbräuche und der Sitzordnung in der Kirche einen ganzen Lebenszusammenhang. Das Bedürfnis, ihn zu überschreiten oder gar zu sprengen, war dementsprechend gering entwickelt. Die Allgemeinheit, die sich jenseits davon befand, war nicht etwa „die Gesellschaft“ oder „der Staat“, sondern tatsächlich „das Jenseits“. Es waren die Dinge, die allen sterblichen Wesen gemeinsam sind und die seinerzeit in der Hand Gottes lagen: die Sorge um das tägliche Brot, die Angst vor Hunger, Krankheit und frühem Tod. Weshalb der Priester ein unverzichtbarer Bestandteil der über den Alltag hinausweisenden intellektuellen Bemühungen war. Und mit dem Landleben, das Marx mit dem Attribut „idiotisch“ verzierte, verhielt es sich nicht anders.

Diese Beschränktheit ist gleichsam der Abstoßungspunkt, von dem aus Marx im Kapitel „Maschinerie und große Industrie“ (Kapital I, MEW 23, S. 391 ff.) einen vorsichtigen Blick auf die in den modernen Produktionsmitteln liegenden Möglichkeiten wirft. In der bereits am Markterfolg ausgerichteten Manufaktur des 17. und 18. Jahrhunderts war die Produktion noch eine Sache der handwerklichen Arbeit und Geschicklichkeit gewesen, sie war aber schon fabrikmäßig organisiert: Der Arbeitsprozess wurde in eine Reihe von Teiloperationen zerlegt, sodass der einzelne, einer solchen Operation zugeteilte Arbeiter immer die gleichen Handgriffe auszuführen hatte. Die Beschränktheit, die beim mittelalterlichen Handwerker eine Vielfalt von Tätigkeiten umfasste, hatte sich hier also – bei Steigerung der Produktion im Ganzen – zur Einseitigkeit weiterentwickelt.

Der nächste Schritt, die von der Dampfkraft angetriebene Maschine, machte dann auch noch mit dieser Art von Geschicklichkeit Schluss. Das als technisches Erfordernis auftretende Kapital bestimmte von nun an ganz allein den Rhythmus, das Tempo und die Logik der Produktion. Fähigkeiten, Kenntnisse, Geschicklichkeit – nichts davon blieb in der Verfügung des Arbeiters. Die Maschinerie wollte nur noch gefüttert und bedient werden. Jedes Kind konnte das leisten. Der frühe Industrialismus, in allen Erziehungs- und Ausbildungsfragen genügsam, hieß denn auch die von ihren Eltern preiswert und in großer Zahl angebotenen Kinder in der Fabrik willkommen. Und es dauerte einige Zeit, bis die freiheitlich gesinnten Unternehmer, die vor allem von Steuern frei sein wollten, zu der Einsicht gelangten, dass ein bisschen friedfertig stimmende Allgemeinbildung, den Unterschichten in vorsichtiger Dosierung verabreicht, für die bürgerliche Gesellschaft als ganze durchaus nützlich sein konnte – auch wenn dergleichen unmittelbar für die Produktion nicht „gebraucht“ wurde, zunächst jedenfalls nicht.

Marx theoretische Rücksichtslosigkeit

Vom Elend des frühen Fabriksystems, von den unwissenden, verwahrlosten und kurzlebigen Kümmergestalten, die es hervorbrachte, ist bei Marx’ Blick in die Zukunft allerdings nicht die Rede. Er schaut durch die Empirie seiner Zeit gewissermaßen hindurch, verhält sich in theoretischer Hinsicht, indem er sich den Möglichkeiten zuwendet, die in den modernen Produktivkräften liegen, sozusagen rücksichtslos gegen sie. Mit dem Übergang zur großen Industrie und ihren „self-acting“ Maschinen gewinnt die Produktion unmittelbar gesellschaftlichen Charakter. Vom Schulwesen bis zu den Forschungseinrichtungen, vom Kommunikations- und Transportsystem bis zum Gesundheitswesen entsteht ein einziges Aggregat von untereinander vernetzten Funktionselementen, das der eigentlichen Produktion immer schon vorausgesetzt ist. Und auch die Produktion selbst mit ihren Roh-, Vor-, Halb- und Fertigprodukten ist ein solches System (Stichwort: Lieferketten), dessen Bestandteile untereinander zusammenhängen und aufeinander angewiesen sind. Die ausschließlich und spezifisch auf ein bestimmtes Produkt bezogenen Tätigkeiten, auf die also das Attribut „privat“ im empirisch-realen Sinne vielleicht noch passen würde, werden mit der Ausbildung dieses Systems, das alle Wissenschaften in seinen Dienst nimmt, marginal. „Die technologische Anwendung der Naturwissenschaft“ zum einen, die „gesellschaftliche Gliederung in der Gesamtproduktion“ zum andern: die Gesellschaft als ganze ist das entscheidende Agens der Produktion. Der einzelne Arbeiter, seine Verausgabung von „Muskel, Nerv und Hirn“, wird in seiner Bedeutung für die Produktion zurückgedrängt, als eigene Produktivkraft ist er schließlich zu vernachlässigen. Die staatskapitalistischen Länder des sogenannten sozialistischen Lagers, die an dieser Entwicklung logischerweise teilhatten (wenn auch nicht ganz so exzessiv und erfolgreich wie die westliche Konkurrenz), hielten trotzdem an der Ideologie der „Arbeitermacht“, die sie angeblich darstellten, fest. Sie büßten diesen Starrsinn mit dem Verlust jeder Glaubwürdigkeit, schließlich mit ihrem Verschwinden. Der Widerspruch ist treffend dargestellt in Erich Loests Roman „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“.

Marx jedenfalls sah schon zu seiner Zeit, dass mit den modernen Produktivkräften die Negation der kapitalistischen Lohnarbeit heranreift, die, lediglich in Zeiteinheiten gemessen, einzig dem Geld zuliebe verrichtet wird, gleichgültig gegen die Frage nach ihrem stofflichen Sinn oder Nutzen. Dadurch, dass die Kenntnis der Naturgesetze sich allgemein verbreitet und zum Bestandteil des gesellschaftlichen Bildungskanons wird, dass die Grundelemente der technischen Verfahren in den verschiedenen Zweigen der Produktion einander angleichen, dass die Produktion also nicht mehr ausschließlich eine Sache der Erfahrung ist, die sich ein geheimniskrämerischer Meister über viele Berufsjahre hinweg mühsam angeeignet hat, auf diese Weise wird es dem Arbeiter leicht gemacht, von einer Branche in die andere zu wechseln. Er folgt dabei den Vorgaben des Marktes, es folgt daraus aber auch eine geistige Beweglichkeit, die dafür sorgt, dass er das System, zu dem sich der Kapitalismus entwickelt, als ganzes in den Blick bekommt. Mindestens aber wird er sich, wenn es um Fragen von allgemeinem Belang geht, nicht mehr so ohne weiteres als die bloße Manövriermasse eines autokratischen Regimes verwenden lassen. Wo dies noch geschieht, wie gegenwärtig in Russland, ist es ein Zeichen der Rückständigkeit und des Mangels an kapitalistischer Entwicklung. Marx illustriert diesen Trend zur geistigen Beweglichkeit, indem er einen aus San Franzisko zurückgekehrten französischen Arbeiter zitiert: „Ich hätte nie geglaubt, dass ich fähig wäre, alle die Gewerbe auszuüben, die ich in Kalifornien betrieben habe. Ich war fest überzeugt, dass ich außer zur Buchdruckerei zu nichts gut sei … Da das Geschäft der Minenarbeit sich nicht einträglich genug auswies, verließ ich es und zog in die Stadt, wo ich der Reihe nach Typograph, Dachdecker, Bleigießer usw. wurde. Infolge dieser Erfahrung, zu allen Arbeiten tauglich zu sein, fühle ich mich weniger als Molluske und mehr als Mensch.“ (MEW 23, S. 511 f.)

Natürlich ist dieser „Mensch“ erst noch der Mensch als Ware-Geld-Individuum. Aber dieses markiert nicht das Ende der Geschichte. Schon in den „Grundrissen“ denkt Marx im Zusammenhang mit dem modernen Maschinenwesen einen Schritt weiter: „Die Arbeit erscheint nicht mehr so sehr als in den Produktionsprozess eingeschlossen, als sich der Mensch vielmehr als Wächter und Regulator zum Produktionsprozess selbst verhält“, heißt es dort. Der Mensch „tritt neben den Produktionsprozess, statt sein Hauptagent zu sein“ (Grundrisse, S. 592 f.). Und es versteht sich, dass dieser „Mensch“ dem vom Kapital ausgeübten Verwertungszwang nicht mehr unterworfen ist. Das, was er an sich ist, gesellschaftliches Individuum, ist er für sich geworden. Zumindest darf man, die heutige Situation vor Augen, unterstellen, dass er auf dem Weg dorthin schon sehr weit vorangekommen ist. In den Ländern des globalen Westens sind es kaum noch zwanzig Prozent seiner Zeit, die er für die Produktion wirklicher Dinge verwendet. Und es könnte, wenn er die Produktion unter dem Aspekt ihres materiellen Nutzens betriebe, weitaus weniger sein. Die Verschiebung der Arbeit in den Dienstleistungssektor kaschiert nur, was in Sachen Arbeitslosigkeit tatsächlich möglich wäre. In seinem Buch „Bullshit Jobs“ kommt der Anthropologe David Graeber zu dem Ergebnis, dass gut ein Drittel der dort in den letzten hundert Jahren entstandenen Jobs, vor allem Bürojobs sind gemeint, keinen Beitrag „zur Welt“ leisten, nicht einmal zur kapitalistischen Welt (Interview in: Der Standard, 31.12.2018).

Politisierung und Privatisierung

Der moderne Mensch verfügt über die Zeit, über das Wissen und über die aus allen Ecken der Welt herbeigeschafften Informationen, die es ihm möglich machen über den Tellerrand des Privatstandpunktes hinauszuschauen. Oder besser: die es ihm unmöglich machen, sich auf diesem zum vereinzelten Individuum zusammengeschrumpften Standpunkt wohl und heimisch zu fühlen. „Heraus aus der Unmittelbarkeit, heraus aus der privaten Beschränktheit!“, so lautet die von den modernen Produktivkräften ausgegebene Direktive.

Wurde es der politischen Laienspielschar nicht immer schon zu einfach gemacht über ihre Wähler-Innen zu Verfügen ?

Im 19. Jahrhundert war dies natürlich zunächst einmal das Heraus aus jener mit rechtlich-politischen Elementen versetzten und daher „unreinen“ Erscheinungsform von Privatheit, die für die „Privatsphäre“ der vormodernen Zeiten kennzeichnend war. Das Heraus also aus jener Dienstbarkeit und Bedientenhaftigkeit, die das Verhältnis der Unterschichten zu den qua Geburt und Besitz privilegierten Ständen bestimmte. Nachdem es in der theoretischen Sphäre bereits vollzogen worden war, nämlich mit dem von Kant formulierten Gebot, die (gegenüber der Erfahrungswelt verselbständigte) Kategorie der Allgemeinheit zum leitenden Gesichtspunkt aller Moral und allen Rechts zu machen, wurde dieses Heraus zunehmend zu einer Sache der gesellschaftlichen Praxis. Die Alternative zur persönlichen Abhängigkeit und Folgsamkeit war die Herrschaft der unpersönlich zu denkenden Prinzipien des Menschenrechts, in Kants Diktion: des allgemeinen Gesetzes. Die Masse der Bevölkerung schien, da sie eigentumslos war, zur Allgemeinheit der Gesetzesform, die für ihr Gelten nichts als praktische Vernunft (das ist die Fähigkeit, sich eines eigenen Willens bewusst zu sein) voraussetzte, eine besondere Nähe und Neigung zu besitzen.

Allerdings existieren die Massen empirisch-konkret, man kann mit ihnen nicht so theoretisch feinsinnig verfahren wie mit einer theoretischen Kategorie. Die von Kant getroffene Unterscheidung zwischen der a priori geltenden Kategorie, die bei „vernünftigen Wesen“ moralische Gefühle auszulösen vermag, und den handgreiflichen Bedürfnissen empirisch-realer Menschen spielte in der praktischen Bewegung denn auch keine Rolle. Die Politisierung des „Volkes“ stand an (überwiegend als „Nationalisierung der Massen“ abgelaufen, wie der Titel des bekannten Buches von George L. Mosse lautet), und bei diesem Geschäft waren lange theoretische Erörterungen nicht hilfreich. Als Volksfreund schaute man umso leichter über den Kant’schen (und Hegel’schen) „Idealismus“ hinweg, als man selbst natürlich auf dem vermeintlich festen Boden des „Materialismus“ stand. Die staatliche Allgemeinheit, für den liberalen Bourgeois immer noch das absolutistische Monster von einst, war jedenfalls dazu auserkoren, Freund und Trost der Armen und Entrechteten zu sein. Der dem Allgemeinwohl wahrhaft dienende Staat musste zur Bastion der „Massen“ werden, die der politisierende Alltagsverstand kurzerhand mit der „Allgemeinheit“ in eins setzte. Der empirische „Volkswille“, der meint, die bürgerliche Metaphysik, in deren Namen er auftritt, mit beliebigem Inhalt füllen zu können, je nach Stimmung und Bedürfnis des Augenblicks: der Weg in die moderne rechtsstaatliche Demokratie war mit jeder Menge populistischer Illusionen gepflastert. (Zur Kategorie des „politischen Willens“ siehe den lesenswerten Artikel von Meinhard Creydt: „Glanz und Elend des Politisierens“, Streifzüge Nr. 75.)

Diese Epoche, in der die Politik den Menschen noch innige Glaubenserlebnisse verschaffen konnte und die entsprechenden Kreuzzüge viele Millionen von Opfern forderten, haben wir, in den Zeiten des überreif gewordenen Kapitalismus lebend, im wesentlichen hinter uns. Was wir dagegen nicht hinter uns haben, das sind die ideologischen und politischen Frontstellungen, die als Relikte aus jener Zeit immer noch in unseren Köpfen herumspuken. In dem vollkommen durchstaatlichten System der modernen Gesellschaft, in dem der Staat – John Locke würde sich im Grabe umdrehen – auch noch für den „Schutz der Privatsphäre“ verantwortlich zeichnet, wird nach wie vor zwischen „öffentlich“ und „privat“ unterschieden, zwischen Privateigentum und Staatseigentum – als würde sich die kapitalistische Geldbewegung um dieses juristische Detail scheren. Nach wie vor wird zwischen „linker“ und „rechter“ Politik unterschieden, nach wie vor werden „die Politiker“ für alle möglichen Entwicklungen und Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht, nach wie vor wird nach ihrem moralisch guten „politischen Willen“ gefragt und ob sie ihn „glaubwürdig“ vertreten. Sie sind ja die Treuhänder jener „allgemeinen Angelegenheiten“, die von den Bürgern – allzu sehr in Anspruch genommen von den Problemen, die das Leben in der Vereinzelung mit sich bringt – angeblich nicht selbst wahrgenommen werden können. Obwohl diese Bürger unverzichtbare Bestandteile des weltumspannenden kapitalistischen Systems geworden sind, das ganz und gar auf ihrem beflissenen, am Geld ausgerichteten Funktionieren beruht, verhalten sie sich dazu wie zu etwas, das ihnen äußerlich ist, für das nicht sie selbst, sondern jemand anderes zuständig ist – eben „die Politik“.

Das Heraus aus den persönlichen Abhängigkeits- und Treueverhältnissen war offensichtlich das Hinein in die Abstraktion. Der moderne Mensch, der sich in der ganzen Welt herumtreibt, der mit Produkten umgeht, deren Komponenten aus x verschiedenen Ländern stammen, ist durch Recht und Gewohnheit auf den Standpunkt der Privatperson fixiert. Ein Standpunkt, der angesichts der Wirklichkeit, von der er abstrahiert, freilich zur bloßen Formalität geworden ist. Die private Form umschließt das moderne Individuum viel enger, als es jene Privatsphäre tat, über die der Bourgeois des 19. Jahrhunderts verfügte, dessen Mägde, Knechte und Bedienstete selbst noch ein Bestandteil davon waren. Sie ist, reduziert auf den Punkt des vereinzelten Individuums, aber auch viel unglaubwürdiger geworden. Zum einen gibt es die Neigung, seine höchstprivaten Vorlieben, sei es beim Sex, sei es beim Essen, an die Öffentlichkeit von Tausenden von „Freunden“ zu tragen, zum andern wird der öffentlichen Sphäre (Sanitäter, Polizisten, Zugbegleiter, Politiker) mit überaus privaten Verhaltensweisen das Funktionieren schwergemacht. Wo ist die Grenze? Die Penetranz, mit der uns die öffentlichen Gewalten einschließlich der Internet-Konzerne versichern, wie sehr ihnen der Schutz der Privatsphäre, d.i. die Trennung der Menschen voneinander, am Herzen liegt, spricht für sich. Wie stets, wenn sich eine gesellschaftliche Institution historisch erledigt hat, kommt sie noch einmal groß heraus als Beteuerung und Behauptung. Don Quijote, der Ritter von der traurigen Gestalt, reitet heute auf der Privatsphäre herum.

Die zeitgemäße Rücksichtslosigkeit

Marx konnte von dem Erfolg der privaten Form, den ausgerechnet der expandierende Kapitalismus mit sich bringen sollte, natürlich nichts wissen. Zu seiner Zeit hatte das „Zeitalter der Massen“ gerade erst begonnen. Dass es sich zu einer eigenen Epoche – nicht etwa der Überwindung, sondern ganz im Gegenteil der weltweiten Herstellung und Durchsetzung des Kapitalismus auswachsen und dabei lauter kleine Bürger ausbrüten würde, war wohl von niemandem vorauszusehen. Allein schon der Umfang des Kapitels über den „Arbeitstag“ (MEW 23, S. 245–320) zeigt, welche sozialen Probleme für die damalige Linke im Vordergrund standen. 50 Jahre Streit und Kämpfe, nur um überhaupt irgendwelche Grenzen des Arbeitstages gesetzlich festgelegt zu bekommen und die Abarbeitung kleiner Kinder zu beschränken! Ein anderes Beispiel ist der Aufstand der Pariser Arbeiter im Juni 1848. Er war von der Schließung der Nationalwerkstätten provoziert worden: Mehrere Tausend Tote waren die Strafe für diese Unbotmäßigkeit, die sich die Arbeiter im Namen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zuschulden kommen ließen, die ihnen einen Franc pro Tag eingebracht hatte. Das (von dem General Cavaignac angeordnete) Gemetzel zeuge, so Marx, „von der Wahrheit, dass die geringste Verbesserung seiner (des Proletariats) Lage eine Utopie bleibt innerhalb der bürgerlichen Republik, eine Utopie, die zum Verbrechen wird, sobald sie sich verwirklichen will“ (MEW 7, S 33).

Was man sich im 19. Jahrhundert gewiss nicht vorstellen konnte, war ein gesellschaftlicher Zustand, in dem alle Menschen einschließlich der „Lohnsklav:innen“ rechtlich und politisch vollkommen gleichgestellte Bürger sein würden: eben jene Gesellschaft des demokratischen Kapitalismus, die es im Anschluss an die Weltkriegsepoche des 20. Jahrhunderts tatsächlich fertiggebracht hat, die totale Herrschaft der kapitalistischen Verwertungszwänge als die Vollendung der „offenen“ oder „freien Gesellschaft“ auszurufen. Das politische und ideologische Getöse, das die Geburt dieser „freien Gesellschaft“ begleitete, klang den nachfolgenden zwei oder drei Generationen noch lange in den Ohren, so laut, dass sie den Grundton, der die ganze Zeit über gespielt wurde, die Vergesellschaftung der Produktion, glatt überhörten. Nur noch die immergleiche Melodie von „Demokratie“ und „Antifaschismus“ wurde gedudelt.

Marx dagegen war von diesem Lärm unbelastet. In diesem Sinne war er theoretisch im Vorteil. Er musste sich notgedrungen auf das Wesen der Sache konzentrieren, auf die vom Kapitalismus vorangetriebene Vergesellschaftung der Produktion, die mit dem lediglich am abstrakten Geld-Reichtum interessierten Privatstandpunkt, für den es sich immer nur darum handelt, das in die jeweils „eigene“ Produktion investierte Kapital zu vermehren, auf Dauer gesehen unvereinbar ist. Dass diese „Dauer“ von einer kämpfenden Partei, als die Marx sich ja verstand und verstehen musste, zu einem eigenen Thema gemacht wird, darf man nicht erwarten. Sie wird ja von der Aktivität und Kampfkraft dieser Partei maßgeblich mitbestimmt. Engels stellt in einem seiner letzten Briefe fest, dass „die kapitalistische Produktion“ noch längst nicht „überall vollständig durchgeführt“ ist. Und er fährt fort: „Das existiert noch nicht einmal in England und wird nie existieren, so weit lassen wir’s nicht kommen“ (Engels an Conrad Schmidt, 12.3.1895, MEW 39, S. 432).

Inzwischen wurde die Lohnarbeit, zu Marx’ Zeiten eine Art Stigma der unterständischen Schichten, nicht etwa nur integriert in die sich ewig „modernisierende“ bürgerliche Gesellschaft, sie ist sogar zur zentralen politischen, sozialen und mentalen Kategorie aufgestiegen (Stichwort: Arbeitsplätze), an deren Wohlergehen das gesamte kapitalistische System Anteil nimmt. Im gleichen Zuge, in dem das Privatkapital seine stoffliche Grundlage verlor: voneinander getrennt operierende Produktionseinheiten, die einander erst in ihren Produkten begegnen, auf dem Markt, verbreitete sich die Form der Privatheit: alle Menschen rückten – nicht zuletzt dank der Bemühungen linker Politik – in den Status des Ware-Geld-Individuums ein, das sich zu sich selbst, zu seiner eigenen empirischen Existenz und Leiblichkeit als zu seinem (verkäuflichen) Privateigentum verhält. Der Prozess der Vergesellschaftung der Produktion wurde also konterkariert durch die gesellschaftliche Form, die für diesen Prozess die motivgebende Ebene zur Verfügung stellte: das private Leistungs- und Erfolgsstreben. Da sich der betreffende Standpunkt rein praktisch herstellte, einfach dadurch, dass ein jegliches Bedürfnis an die Form des Kaufens und Verkaufens verwiesen wurde, ist es um das Bewusstsein von dieser Entwicklung natürlich schlecht bestellt. Das moderne Individuum, das dabei entstand, ist in sich nicht reflektiert, von seinem historischen Gewordensein weiß es nichts. Es mag die kapitalistischen Zumutungen in äußerst schmerzhafter Weise erleiden, da es sie aber verinnerlicht hat, ist es zunächst mal das eigene empirische, den „Anforderungen“ niemals genügende Selbst, mit dem es zu hadern pflegt. In dem Film „Wunderschön“ (2022) wird dieses Thema wieder einmal durchgespielt.

Und wenn es sich doch einmal dazu aufrafft, über den Tellerrand des Privatstandpunktes hinauszudenken, trifft das auf Leistung gebürstete Ware-Geld-Ich also gleich auf die ihm gegenüberstehende Abstraktion, auf die „allgemeinen Angelegenheiten“ in Form der Politik. Dieser bleibt bei der ganzen auf Dynamik und Perspektive angelegten Wesensart des kapitalistischen Systems gar nichts anderes übrig, als in der Pose des Gestaltens und Richtungweisens aufzutreten. Obwohl die Politik längst keine Visionen mehr anzubieten hat – glücklicherweise, muss man sagen –, begegnen uns die aus der Vergangenheit überlieferten Sprechblasen und Ideologeme auch heute noch. Man kennt den längst nicht mehr erbittert, sondern eher routiniert geführten Richtungsstreit bis zum Überdruss: ob die „Zukunft“ (sie läuft immer auf „Wachstum“ hinaus, auch mit „grüner“ Regierungsbeteiligung) besser bei der „individuellen Freiheit“ und „Leistungsbereitschaft“ aufgehoben sei oder bei der „staatlichen Fürsorge“ und „Vorsorge“. Brauchen wir „mehr Markt“ oder „mehr staatliche Umverteilung“? Müssen die Steuern rauf oder runter? Und fahren wir nicht am besten, wenn wir von alledem die „Mitte“ wählen?

So wenig glaubhaft die auf der öffentlichen Bühne gelegentlich noch vorgeführten Leidenschaften sind – das Spektakel ist aufdringlich genug. Wie abgetakelte Wracks, die in einem flachen Meer namens „Komplexität“ vor sich hindümpeln, verstellen uns die ideologisch-politischen Restbestände aus jener Epoche, in der das System wirklich noch expandierte und die Gesellschaft durchstaatlicht wurde, den Blick auf die Realität des erreichten Vergesellschaftungsgrades. Sie verstellen uns den Blick auf das „andere Ufer“, könnte man im Bild bleibend sagen, wo das gesellschaftliche Individuum längst schon vorhanden ist und in einigen Exemplaren auch schon anfängt, sich als solches zu verstehen und zu betragen. Was uns daran hindert, das wirklich zu sein, was wir an sich schon sind, ist die private Form, in die wir durch Gewohnheit und Institutionen gebannt sind. Gegen sie hat sich die neue Rücksichtslosigkeit zu wenden. Jene „abgetakelten Wracks“ der bürgerlichen Prinzipien und Abstraktionen, die uns die Sicht auf die Realität versperren, sind als solche also kenntlich zu machen und beiseite zu räumen. Erst „dahinter“ kommt der kapitalistische Widerspruch zum Vorschein, wie Marx ihn, vom Zeitalter der Massen noch unbelastet, formuliert hat und wie er heute zur Auflösung drängt: als Widerspruch zwischen den gesellschaftlichen Produktivkräften und den dazu nicht mehr passenden Produktionsverhältnissen.

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„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Der NATO-oliv-Habeck

Erstellt von Redaktion am 15. Mai 2022

NATO-oliv-Habeck wird Deutschland ruinieren

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Politiker waren nie anders: Im Wahlkampf Flott – als Minister ein Flopp

Quelle      :      Ständige Publikumskonferenz der öffentlichen Medien e.V.

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Der untauglichste Wirtschaftsminister aller Zeiten erweist sich nur als „nützlicher Idiot“ der USA – und treibt Deutschland in die Armut

Ich will Sie nicht vergackeiern“ schleimt Robert Habeck vor hundert Raffinerie-Arbeitern im brandenburgischen Schwedt. Beflissen berichtet die Tagesschau [1], wie der Grüne Minister für Wirtschaft und Umweltschutz hier einen auf ehrliche Haut macht. Selbstverständlich – wir leben schließlich in einer Informationsdiktatur – schweigt sich die wichtigste TV-Nachrichtensendung der Republik jedoch darüber aus, dass Habeck im Auftrag des „Paten“ in Washington das Gegenteil von dem tut, was er sagt: Er verkauft seine Zuhörer für dumm. Er drängt die deutsche Wirtschaft in den Abgrund. Von charakterlosen Journalisten hochgejubelt, besticht der „Superminister“ leider nur mit fachlicher Ahnungslosigkeit und großer Klappe. Ein anonym gebliebener Parteifreund: „Er hält sich für Gottes Geschenk an die Menschheit“[2] Ja dann …! Dann ist unser reicher und mächtiger Wohlfahrtsstaat wohl bald beim Teufel.

Der ehemalige Schweizer Geheimdienstoffizier und NATO-Berater Jacques Baud erachtet regierende Politiker vom Schlage des Habeck als ein in Kriegszeiten schwerwiegendes Problem des “Wertewestens”:

„… ich glaube, an dem Beispiel der Ukrainekrise sieht man, dass die europäische Führungsebene nicht besser ist als das, was wir in den USA haben. Wahrscheinlich eher noch schlimmer … dass wir Leute haben, die ohne jede Grundlage Entscheidungen treffen, und das ist extrem gefährlich.“ [3]

Tagesschau-Journalismus und Ehrgefühl schließen sich mittlerweile aus. Die ARD-aktuell-Redakteure bringen Gossen-Propaganda. Andere Blickrichtungen aufs Weltgeschehen als die Washington und Berlin genehmen werden nicht geduldet. Daher unser Begriff „Informationsdiktatur“. Nicht Experten wie Baud kommen zu Wort, auch kein Willy Wimmer (CDU), vormals Staatssekretär im Kabinett Kohl:

„Erreicht wurde zugunsten der USA eine Reduzierung des EU-Potentials als Konkurrenz, vor allem bei Deutschland, das verarmen wird.“ [4]

Auch die Altersweisheit eines Klaus von Dohnanyi schafft es nicht in die Tagesschau-Nachrichten:

„Für Kriege gibt es immer Geld … Alles begann Ende Dezember 2013 mit dem Besuch der US-Außenpolitikerin Victoria Nuland auf dem Maidan in Kiew. Damit drohte der Ukraine das Schicksal von Jugoslawien, Irak, Libyen, Syrien, Afghanistan: blutige Machtergreifung, Zerstörung, Krieg.“ [5]

Jederzeit hingegen finden faschistoide Russenhasser und Kriegshetzer wie der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk mediale Aufmerksamkeit, eine Knallcharge, die wegen ihrer gülletriefenden Beschimpfung deutscher Politiker [6] längst hätte heimgeschickt werden müssen. Die Tagesschau wittert Gemeinsamkeiten und hält ihm eilends das Mikrophon hin. In der verworrenen Gedankenwelt dieser Marktschreier wird gegen alle Erfahrung und Vernunft argumentiert und gehandelt. Die andere Seite, die Vladimir Putins oder Gerhard Schröders, sind zu entmenschlichen und zu beseitigen. Weil „Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf“. Ein Naturgesetz? Wo steht das geschrieben? In den Programmrichtlinien der öffentlich-rechtlichen-Rundfunkanstalten jedenfalls nicht.

Ethikfreie Gesinnungstäter

Habeck, Baerbock, Strack-Zimmermann und Kanzler Scholz liefern sich einen Wettstreit um die dümmste und gefährlichste politische Aufwartung. Sie versuchen, Deutschland im Auftrag Washingtons zumindest ökonomisch Selbstmord begehen zu lassen. Dem Marionetten-Regime in Kiew Waffen zur Verlängerung des Krieges liefern ist o.k., Öl und Gas aus Russland kaufen ist nicht o.k. Nach diesem neudeutschen Glaubenssatz gelten weder ukrainische Menschenleben etwas noch die vitalen Interessen der deutschen Bevölkerung. [7] Von der friedenspolitischen Tradition, keine Rüstungsgüter in Spannungsgebiete zu liefern, schon gar nicht an Kriegsparteien, haben wir uns zu verabschieden. Habeck und Konsorten wollen es so. Das „Geschenk Gottes an die Menschheit“ sagt unverblümt, was seine ethikfreie Sache ist:

„Mit den Waffen, die auch ich, Robert Habeck, in die Ukraine geschickt habe, werden also höchstwahrscheinlich Menschen getötet. Die Entscheidung war trotzdem, gemessen an den Alternativen, notwendig.“ [8]

Seit Kindesbeinen haben wir gelernt, dass Konflikte nicht mit Schlägereien gelöst werden. Habeck aber behauptet, Töten sei „notwendig“. Der Gedanke, dass es sich bei den meisten Getöteten um „befreundete“ und längst erschöpfte ukrainischen Soldaten handelt [9], bewegt ihn offenbar nicht. Parole: Weitersterben! Und wie es ohne Gas und Öl aus Russland in Deutschland weitergehen soll, muss er uns auch nicht verraten, wo er doch selbst keinen blassen Schimmer davon hat. [10]

Habeck, der NATO-oliv-Grüne, zeigt sich immerhin leidensfähig: Er meint, nicht ins Gehör, sondern in  eine rückwärtige, weiter südlich gelegene Körperöffnung seines amerikanischen Kriegsherrn hineinkriechen zu müssen. Tief! Tiefer! Das kommentiert er bei einem USA-Besuch so:

„… Je stärker Deutschland dient, umso größer ist seine Rolle“. [11]

Und wenn der Dienst in servilen Kriegsdienst entartet, dann findet Habeck das eben alternativlos. Mitte März hatte er noch erklärt:

„Wir können nicht in einen Krieg mit Russland ziehen. Wir können keinen Dritten Weltkrieg riskieren.“ [12]

Anfang Mai dann seine verbale Volte:

„Ich habe keine Angst vor einem Dritten Weltkrieg“. [13]

Wir glauben ihm. Angst vor dem Weltkrieg wäre ein Nachweis von Intelligenz und Empathie. Man möchte auf den Einwurf seines Parteigenossen Fischer zurückgreifen: „Mit Verlaub, Sie sind ein …“. Habeck ist ein unappetitlicher Aufschneider, unfähig, durchdachte und verantwortungsbewusste Entscheidungen in angespannten Krisenzeiten zu fällen. Der dritte Weltkrieg – Schlachtfeld Mitteleuropa – wäre eine Menschheitskatastrophe. Sogar US-amerikanische Experten warnen in ihren Analysen des Ukraine-Konflikts:

„USA und NATO haben … in großem Maße dazu beigetragen, eine Krise auszulösen … die zum Dritten Weltkrieg führen könnte. Das wäre das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Und wenn die Menschen nicht anfangen, sich auch der Diplomatie zu bedienen, werden wir in den Dritten Weltkrieg stolpern … [14]

Habeck und seine Grünen-Entourage propagieren statt Frieden die Eskalation der Gewalt, gegen die Interessen breiter Teile der Bevölkerung.

Fatale Fehlbesetzung

Habeck, der waffenschiebende US-Lakai, ist auch als „Superminister“ fatal. Er wollte partout das Doppelamt eines Wirtschafts- und Klimaschutz-Ministers – und hat sich übernommen. Maulheldentum, fehlende ökonomische Kompetenz, Mangel an selbstkritischem Bewusstsein plus Vetterleswirtschaft prägen seinen Regierungsstil. Kaum im Amt, versorgte er zum Beispiel seine Kumpel mit lukrativen Pöstchen. Typisch dafür: die Schwippschwager-Affäre „Graichen/Kellner“. [15]

Kurz vor der Bundestagswahl 2021 sagte Habeck zur ungewöhnlichen Inflationsrate von damals immerhin schon 4,1 Prozent:

„Die Preissteigerungen liegen im Rahmen des Erwartbaren.“ [16]

Als soziale Gegenmaßnahme versprach Habeck eine „sofortige“ Erhöhung des Mindestlohnes und eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze mit einem Sofortzuschlag von 100 Euro. [17] Das war vor der Wahl. Nach der Wahl reichte es nur noch für eine mickrige Mindestlohn-Erhöhung um 1,25 auf 12 Euro, jedoch erst ab Oktober 2022; die Hartz IV Regelsätze dagegen bleiben unverändert.

Die Ärmsten der Gesellschaft leiden aber am meisten unter der Inflation. Die beträgt durchschnittlich bereits 7,5 Prozent, bei Lebensmitteln 8,6 Prozent und bei Energie sogar 35,3 Prozent. [18] Sozialhilfe-Empfänger sollen zwar eine Einmalzahlung von 200 Euro bekommen, allerdings erst am 1. Juli. Aufs Jahr gerechnet sind das monatlich nur rund 17 Euro. Damit lässt sich nicht einmal die Hälfte der Preissteigerungen für Lebensmittel auffangen, der Preisauftrieb geht aber weiter. Schon jetzt muss der Sozialhilfebezieher mit 5 Euro täglich für drei Mahlzeiten auskommen.[19]

Dazu schweigt der werte Wirtschaftsminister Habeck. Es macht halt mehr Spaß, im gepanzerten First-Class-Dienstwagen zu Aufschneider-Partys zu gondeln, als sich um Bedürftige zu kümmern. [20]

„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren (und) Schaden von ihm wenden … werde“.

Auch Habeck hat zu diesem Spruch die Hand gehoben. Der Amtseid hat allerdings nur deklamatorischen Wert. Ihn zu brechen ist nicht strafbar. [21]

Die EU hat bisher 770 Sanktionen über Russland verfügt, die USA mehr als 1000. [22] Für einen erklecklichen Teil hat auch Habeck gestimmt. Als Folge dieses Sanktionsregimes werden wir gigantische volkswirtschaftliche Schäden hinnehmen müssen. Habeck stört das nicht:

„Es ist viel Mühe darauf verwendet worden, die Sanktionen so zu formatieren, dass sie möglichst scharf in Russland wirkten und möglichst wenig die deutsche Wirtschaft treffen … ein gewisser Schaden wird natürlich immer bleiben“  [23][24]

tönte er am 23. Februar. Zweieinhalb Monate später sehen wir, was aus den großmäuligen Ansagen geworden ist. Russland zeigt sich von den Sanktionen unbeeindruckt, der Rubel hat an Wert gewonnen. Die russische Wirtschaft wird nicht „ruiniert“ (Baerbock), sie wird vielmehr zielstrebig konvertiert und auf eine Zukunft außerhalb des schrumpfenden Einflussbereichs der USA ausgerichtet. Hingegen ist mehr als ein Drittel der ukrainischen Infrastruktur bereits zerstört (Brücken, Eisenbahnlinien, Straßen, Tanklager); der Wiederaufbau des Staates wird mindestens 600 Milliarden Euro kosten. Nicht die ukrainischen Oligarchen werden diese Unsumme aufbringen, sondern die EU soll/will dafür einstehen [25], konkret: hauptsächlich der deutsche Steuerzahler. Geht das in die Köpfe?

Massenflucht und Folgekosten

Der grüne Doppelminister Habeck lag mit seiner Einschätzung von Anbeginn daneben: Es bleibt nicht nur bei einem „gewissen Schaden für uns“, sondern wir steuern auf eine Katastrophe zu. In der Ukraine haben bereits fast ein Drittel der Erwerbstätigen ihre Arbeitsplätze verloren. [26] Fünf Millionen Ukrainer sind schon geflüchtet, 600 000 nach Deutschland. Die Zahlen werden steigen. Und sie steigen, je länger sich der Krieg dank der westlichen Waffenlieferungen und Milliardengeschenke noch hinzieht.

Eine Schätzung der Kosten für die Grundversorgung aller geflüchteten Ukrainer beläuft sich auf 30 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Für Deutschland werden circa 3 Milliarden Euro erwartet. Die Bundesländer rechnen allerdings bereits mit 10 Milliarden Euro. [27], [28] Das Ende ist damit noch längst nicht erreicht. Wegen des Bruchs einiger Lieferketten und des Wegfalls wichtiger Rohstoffe aus Russland sowie wegen der drastischen Kostensteigerungen für Energie werden Stützungsmaßnahmen unumgänglich: mindestens 100 Milliarden Euro, wenn nicht reihenweise Unternehmen pleite und hunderttausende Arbeitsplätze verloren gehen sollen.

Was fällt dem fürs wirtschaftliche Wohlergehen zuständigen Superminister Habeck dazu ein? Dieses:

„Wir werden uns aber natürlich selbst schaden. Das ist ja völlig klar. Der Sinn von Sanktionen ist, dass eine Gesellschaft, in diesem Fall die europäische Gesellschaft, Lasten trägt. Die Wirtschaft, die Verbraucher, die Konsumenten. Alle werden einen Beitrag leisten müssen. [29]

„Ja da legst di nieder und stehst nimmer auf“, sagt der Bayer. Das kommt davon, wenn man Grüne wählt und zu Ministern macht. Schauen wir mal, was Habeck zu den Sanktionsfolgen noch zu sagen wusste:

„Richtig ist selbstverständlich, dass höhere Verbraucherpreise und gerade auch höhere Preise an der Zapfsäule die Menschen sehr unterschiedlich belasten. Menschen, die weniger Geld haben, werden proportional stärker belastet, es sei denn, man gleicht das politisch aus.“ [30]

Tja. Es sei denn. Es war bloß bisher nicht. Die Kraftstoff-Preise sind um weitere 70 Prozent gestiegen. Für „politischen Ausgleich“ zu sorgen hatten Herr Minister leider noch keine Zeit. Zu regeln wären im Schnitt 700 Euro Mehrkosten pro Haushalt. [31] Vorgesehen ist zwar eine einmalige Energiekosten-Hilfe von 300 Euro für Arbeitnehmer, die soll aber versteuert werden. Leer ausgehen werden die Rentner, obwohl sie mehrheitlich – Stichwort „Altersarmut“ – eine Energiekosten-Unterstützung besonders dringend bräuchten. Bomben und Panzer für die Ukraine haben demgegenüber Vorrang. Man kann halt nicht alles auf einmal finanzieren.

Viele Mitmenschen heizen ihre Wohnungen noch mit Öl und sind überhaupt nicht in der Lage, von jetzt auf gleich auf Wärmepumpe umzustellen. Für einen 4-Personen-Haushalt und bescheidene 2000 Liter Ölverbrauch entstehen jährlich schon jetzt weitere Mehrkosten von 2000 Euro, Tendenz rasant steigend. Kommt das von Habeck und Baerbock unterstützte Ölembargo der EU gegen Russland tatsächlich zustande, dann werden die Preise geradezu explodieren.

Dabei ist es erst wenige Wochen her, dass Habeck die Idee mit dem Ölembargo noch überhaupt nicht witzig fand. Sein Durchblick reichte allerdings nicht weit. Der EU-Boykott von russischem Öl könne bewirken,

„dass die europäische Wirtschaft wankt, richtig eine schwere Rezession erleidet, und wir damit die anderen Sanktionen gar nicht mehr durchhalten können.“ [32]

Schwere soziale Schäden einer Rezession? Egal. Aber wegen „richtig schwerer Rezession“ die Sanktionspolitik gegen Russland nicht mehr durchhalten können, das geht gar nicht. Ist der Mann noch bei Trost?

Seine Besorgnis, die EU würde nach einem Schuss ins eigene Knie Russland nicht mehr richtig trietzen können, hat Habeck inzwischen überwunden. Auch er ist jetzt für den EU-Ölboykott. Und das, obwohl er weiß, dass trotz der drastischen Verteuerung des Öls der Gaspreis weiter daran gekoppelt bleibt, sich Gas also ebenfalls exorbitant verteuert und dann Matthäi am Letzten ist. Und obwohl er wissen müsste, dass Russland aufgrund des EU-Boykotts zwar etwas weniger Öl exportieren wird, dafür aber höhere Preise verlangen kann. Russland dürfte laut dem US-Informationsdienstleister Bloomberg schon jetzt sogar Rekordeinnahmen mit seinen reduzierten Energieexporten erzielen. [33] Ein echtes „Win-Win“ für Moskau, wie der gebildete Ostfriese sagt. Das russische Öl ist nicht per EU-Boykott aus dem Markt zu werfen:

„Es ist unmöglich, die Herkunft von Rohöl, einschließlich des russischen, zu identifizieren, wenn es anderswo raffiniert und als ein Produkt aus diesem Land weiterverkauft wird“,

sagte Shell-Chef Ben van Beurden. [34] Träumt der Grüne Habeck also nur den Traum seiner Parteifreunde weiter [35], mittels einschneidender Verteuerung des Ölpreises den CO2-Ausstoß zugunsten des Klimaschutzes zu verringern? Träumt er das unter der Daunendecke „Freiheit für die Ukraine“?

Mach ´nen Diener, Robert

„Bückling für Deutschland“ machen, das kann er. Im Golf-Scheichtum Katar suchte Habeck nach teurem Flüssiggas als Ersatz für das wesentlich billigere und ökologisch bessere „Russengas“ aus der Pipeline. Vor dem Emir Al Thani, einem Sklavenhalter und Menschenrechtsverächter der Extraklasse, machte er einen so tiefen Diener, dass sein Kopf fast auf Ebene des Hinterns lag. Der Videoclip mit dieser Szene ist eine arge Peinlichkeit. Doch auf die ARD-aktuell war Verlass: Sie zeigte nicht die originalen Zappelbilder, sondern nur eine überarbeite Version, in der  Habeck dem allmächtigen Herrscher noch aufs Kinn sieht und nicht schon auf die Füße. [36],[37]

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Politiker haben immer nur genommen und das Helfen anderen überlassen!

Aus der „Energiepartnerschaft“ zwischen Katar und Deutschland wird wahrscheinlich aber nichts, der gewünschte Vertragsabschluss droht zu platzen. [38] Habeck kann seinen Tunnelblick weiterhin auf das Null-Gas/Null-Öl/Null-Kohle-Ziel richten. Bis es erreicht ist, will er die deutsche Energielücke mit dem teureren, schmutzigeren und kalorienärmeren Fracking-Gas aus USA füllen lassen:

„Alle Schritte, die wir gehen, verlangen eine enorme gemeinsame Kraftanstrengung aller Akteure und sie bedeuten auch Kosten, die sowohl die Wirtschaft wie auch die Verbraucher spüren. Aber sie sind notwendig, wenn wir nicht länger von Russland erpressbar sein wollen.“

Das freut den Ami. Denn für den wollen wir gerne erpressbar sein. Der importierte im April eine Extraportion russisches Öl [39] und freut sich darüber, wie stumpfsinnig die Berliner Polit-Mollusken ihm trotzdem parieren und selber Sanktionsdisziplin wahren.

Russland ist jetzt auch auf den Geschmack gekommen, sanktioniert nun seinerseits deutsche Gasversorger und schickt kein Gas mehr durch Polen nach Deutschland. [40] Wir brauchen füglich neue Gaslieferverträge, und die werden garantiert noch teurer als alle bisherigen. Durchhalteminister Habeck hat´s geschnallt: „Damit diese Preise erbracht werden können, braucht es finanzielle Garantien, und die werden wir geben.“

Schön schön. Bloß, dass man Gas mit Geld bezahlt und nicht mit Garantien. Neuerdings in Rubel, weil die Russen nicht noch einmal ihre Auslandskonten beklauen lassen wollen. Habeck-Minister gibt es in Moskau nämlich nicht. Solche Typen sitzen dort höchstens in der Poststelle.

Quellen:  

[1] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/raffinerie-schwedt-habeck-101.html

[2] https://www.focus.de/politik/deutschland/biografin-erklaert-methode-habeck-fuer-seinen-gegner-mag-es-sich-wie-noetigung-anfuehlen_id_24293361.html

[3] https://www.nachdenkseiten.de/?p=83221

[4] https://seniora.org/politik-wirtschaft/dringend-was-ist-um-die-ukraine-los-ergebnisse-des-kuestenfunks

[5] https://twitter.com/i/status/1521334491494686722

[6] https://www.heise.de/tp/features/Arschloch-Leberwurst-Putin-Versteher-Die-Top-Ten-der-Andrij-Melnyk-Attacken-7081189.html

[7] https://qpress.de/2022/05/11/putin-kann-der-eu-bei-russland-sanktionen-helfen/

[8] https://www.rnd.de/politik/waffen-fuer-ukraine-habeck-kritisiert-promis-fuer-brief-an-kanzler-scholz-2C2SR2M5TVC7BO6BG7OYQSTVYQ.html

[9] https://www.digitaljournal.com/world/ukraine-seeks-to-stall-relentless-russian-onslaught-in-donbas/article

[10] https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/519291/Gefaehrlicher-Blindflug-Habeck-hat-keinen-Plan-wie-es-nach-einem-OEl-Embargo-weitergehen-soll

[11] https://www.focus.de/politik/deutschland/besuch-in-den-usa-habeck-sieht-deutschland-in-einer-dienenden-fuehrungsrolle_id_61552626.html

[12] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/habeck-lemke-101.html

[13] https://www.presseportal.de/pm/9377/5212964

[14] https://scheerpost.com/2022/03/25/ted-postol-what-you-really-need-to-know-about-the-threat-of-nuclear-war/

[15] https://taz.de/Wirtschafts–und-Klimaministerium/!5822657/

[16] https://www.sueddeutsche.de/politik/inflation-parteien-bundestagswahlkampf-1.5340364

[17] https://www.derwesten.de/politik/hartz-4-satz-erhoehung-2022-robert-habeck-regelsatz-inflation-id234306787.html

[18] https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Preise/Verbraucherpreisindex/_inhalt.html

[19] https://www.kreiszeitung.de/politik/gesund-leben-mit-hartz-4-iv-bezieher-empfaenger-allgii-viel-rat-und-wenig-hilfe-aus-der-spd-91499903.html

[20] https://www.handelsblatt.com/unternehmen/flottenmanagement/bundesregierung-das-sind-die-neuen-und-alten-dienstwagen-der-minister/28066820.html

[21] https://www.bundestag.de/resource/blob/824992/ecff38ec4faf0149accb69f4720878cd/WD-7-142-20-pdf-data.pdf

[22] https://de.statista.com/themen/9109/sanktionen-gegen-russland/#topicHeader__wrapper

[23] https://www.wallstreet-online.de/nachricht/15092545-habeck-rechnet-folgen-sanktionen-deutschland

[24] https://freier-einblick.de/2022/02/24/habeck-sanktionen-gegen-russland-werden-auch-deutschland-treffen/

[25] https://www.tagesschau.de/inland/von-der-leyen-417.html

[26] https://www.n-tv.de/ticker/Nach-Berechnungen-der-UNO-fast-ein-Drittel-aller-Arbeitsplaetze-in-der-Ukraine-verloren-article23324650.html

[27] https://www.cgdev.org/article/new-analysis-hosting-ukrainian-refugees-could-cost-nations-around-world-estimated-30-billion

[28] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ukraine-krieg-streit-um-fluechtlingskosten-die-ministerpraesidenten-sind-auf-180-/28235334.html

[29] https://sciencefiles.org/2022/05/03/habecks-haerten-sanktionen-zur-schaedigung-der-eigenen-wirtschaft-bettelarm-aber-gluecklich/

[30] https://www.rnd.de/politik/benzinpreis-robert-habeck-wirft-kritikern-unehrlichkeit-vor-P36WHXITHNHYLNI4UZ3DV7POLU.html

[31] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/73902/umfrage/pkw-kraftstoffverbrauch-der-privaten-haushalte-in-deutschland/

[32] https://www.boerse-frankfurt.de/nachrichten/05d4a804-363d-4744-83c7-cf7622aec3ee

[33] https://krass-und-konkret.de/politik-wirtschaft/usa-importieren-mehr-russisches-oel-und-heben-sanktionen-fuer-russische-duengemittel-auf/

[34] https://www.businessinsider.de/wirtschaft/shell-chef-sagt-es-gaebe-kein-system-um-russisches-oel-zurueckzuverfolgen-das-in-anderen-laendern-raffiniert-wurde-a/

[35] https://www.freethewords.com/2022/05/04/gruene-juchzen-benzinpreis-von-drei-euro-rueckt-in-greifbare-naehe/

[36] https://www.wochenblick.at/politik/ard-bildmanipulation-minister-habeck-ploetzlich-auf-augenhoehe-mit-katar-scheich/

[37] https://aktuelle-nachrichten.app/ard-bildmanipulation-minister-habeck-ploetzlich-auf-augenhoehe-mit-katar-scheich/

[38] https://www.tichyseinblick.de/meinungen/habeck-de-industrialisierung-schreitet-voran/

[39] https://krass-und-konkret.de/politik-wirtschaft/usa-importieren-mehr-russisches-oel-und-heben-sanktionen-fuer-russische-duengemittel-auf/

[40] https://www.n-tv.de/wirtschaft/der_boersen_tag/Neue-Vertraege-fuer-Gazprom-Germania-Toechter-kein-Gas-mehr-ueber-Jamal-article23327854.html

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

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Oben     —   Wahlkampf Landtagswahl NRW 2022 von Bündnis 90/Die Grünen auf dem Heumarkt in Köln. Zu Gast waren Robert Habeck (Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz) und Spitzenkandidatin Mona Neubaur

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Energie-Peripherie?

Erstellt von Redaktion am 12. Mai 2022

Vom kapitalistischen zum fürsorgenden Wirtschaften im Hier und Jetzt

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Tesla – Grünheide  Berlin

Quelle        :     Berliner Gazette

Von     :    Andrea Vetter

An den Rändern der Metropolen entstehen die häufig unbeachteten Energiezentralen dieser Welt, um die stromfressenden wachsenden Städte mit ihrem Lebenssaft zu versorgen. Doch auch Alternativen und gelebte Gegenentwürfe werden dort im wahrsten Sinne des Wortes kultiviert, wie Aktivistin und Autorin Andrea Vetter in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” am Beispiel einer fürsorgenden Wirtschaft in der ehemaligen DDR zeigt.

Etwa 30 Kilometer entfernt von dem ostbrandenburgischen Dorf, in dem ich lebe, ist nun die neue „Gigafactory“ des Elektroautoherstellers Tesla in Betrieb. Dort rollen tonnenschwere elektrobetriebene Geländewagen vom Band. Gebaut wurde die Fabrik, ohne dass alle Genehmigungen vorlagen, noch immer sind Klagen anhängig, doch die Produktion im vollen Gange. Einen Monat nach dem Start kam es zum ersten Störfall. Eine Chemikalie lief aus. Die Fabrik befindet sich in einem Wasserschutzgebiet, das durch den Klimawandel immer trockener wird. Die bittere Ironie der Geschichte: Bevor der Bau der Fabrik überhaupt ein Thema war, riet die Wasserbehörde davon ab, dort aus Umweltgründen Kleingewerbe anzusiedeln.

In meinen Nachbardorf soll ein großer Berg mit Aushub, der beim Bau der Fabrik entstand, aufgeschüttet werden. Ein Landwirt hat ein Stück Fläche dafür verkauft. Das deutsche Recht, das auf das römische Eigentumsrecht zurückgeht, besagt, dass ein Mensch mit einem Stück Land, das ihm gehört, machen kann, was er will: das Land bewirtschaften, das Land brachliegen lassen, das Land zerstören, es mit Beton versiegeln. Was immer er im Rahmen des gesetzlich Zugelassenen möchte.

Auf hunderten Hektar rund um mein Dorf soll demnächst der größte Agro-Photovoltaik-Park Deutschlands entstehen. Ein Investor hat Land gekauft und Land gepachtet und wird dieses nun mit Photovoltaik-Anlagen vollstellen. Eine engagierte Gemeinderätin hat immerhin durchgesetzt, dass die PV-Module so gebaut werden müssen, dass darunter eine landwirtschaftliche Nutzung möglich sein muss.

Abriss für das Wachstum

In meinem Dorf gibt es keine energiezehrenden Industriebetriebe mehr, alles wurde nach dem Mauerfall im Jahr 1989 abgewickelt. Deindustrialisierung und Privatisierung standen an der Tagesordnung. Die letzte größere ortsansässige Firma beschäftigt sich – passenderweise – mit Abriss und Recyclingarbeiten. Die Entwicklungspläne für die Region – viel Papier, in einem „partizipativen Prozess“ unter Bürgerbeteiligung erarbeitet – haben seit Jahrzehnten immer dasselbe Ziel: Wirtschaftswachstum. Innovation. Ansiedlung von Betrieben. Intensivierung der Landwirtschaft.

Im Sommer regnet es hier manchmal zwei Monate lang keinen einzigen Tropfen. Ich weiß nicht, welche Bäume ich guten Gewissens in unserem Garten noch pflanzen kann, welche hier in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren werden leben können. Die Klimakrise ist nicht weit weg, sondern genau hier. Die ressourcenhungrige Energiewende ist nicht weit weg, sondern genau hier. Das Wachstumsparadigma ist nicht weit weg, sondern genau hier. Hier, und an so vielen anderen Orten weltweit, die an den Rändern der Metropolen entstehen, um die energiefressenden wachsenden Städte mit ihrem Lebenssaft zu versorgen und dabei selbst zu einer ausbeutbaren Energie-Peripherie werden – oder es schon längst sind.

Ausgebeutet wird das Land, das einer „natürlichen“ oder „juristischen“ Person gehört, die damit tun kann, was sie will. Das Land ist tot und versiegelt, trocknet aus oder wird mit Pestiziden vollgepumpt. Ausgebeutet wird der Mensch, der acht oder zehn Stunden täglich in der Fabrik steht und einer monotonen, auszehrenden Arbeit an roboterisierten Fließbändern nachgeht. Häufig nehmen Arbeiter*innen dafür lange Wege in Kauf – im Fall der Gigafactory bei Berlin etwa kommen viele der arbeitenden Menschen aus Polen. Ein anderer Preis, den sie zahlen müssen: Unter der Woche sind die weit weg von ihren sonstigen Beziehungsnetzen. Doch das ist längst nicht alles: Ausgebeutet wird auch der Mensch, der dann zuhause die Wäsche der Person wäscht, die in der Fabrik steht, der sich zurückgelassen um die Kinder, um den Garten, um den Haushalt kümmert.

Gegen die dreifache Ausbeutung

Natürlich können und müssen wir uns dafür einsetzen, dass sich die Rahmenbedingungen dieser dreifachen Ausbeutung ändern – und mein tiefer Respekt gehört allen Menschen, die dies manchmal unter existentieller Gefahr tun oder getan haben. Was kann konkret getan werden? Schärfere Umweltvorgaben durchsetzen, um zu verhindern, dass Fabriken in Wasserschutzgebiete gesetzt werden; tariflich geregelte Arbeitszeiten und Sonntagszuschläge einführen, die die Zeit begrenzen, die Menschen in der fensterlosen Fabrik verbringen und das Geld erhöhen, das dafür nach Hause fließen kann; ein Recht auf einen Kita-Platz für einjährige Kinder erkämpfen, das dafür sorgt, dass Sorgearbeit bezahlt wird, weil sie dann nicht unentgeltlich in der Kleinfamilie erbracht werden muss.

Doch die Verbesserung dieser juristischen Rahmenbedingungen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ausbeutung selbst bestehen bleibt, dass das Leben – unser Leben – in eingezwängten Bahnen dahinfließt, nur weil lebensfeindliche juristische Konstrukte und tradierte normierte Vorstellungen suggerieren, es sei unabänderlich, dass Land Privatbesitz (von lateinisch privare, „rauben“) sein könne, dass die eigene Lebenszeit als „Arbeitszeit“ an einem Markt handelbar sei, dass eine Person mit Gebärmutter selbstverständlich putzen, kochen und sich um Kinder kümmern solle.

Solar-Sharing-Kraftwerk in Inashiki, Ibaraki 04.jpg

Wenn wir schon in krisenhaften Zeiten leben, und so offensichtlich alte Selbstverständlichkeiten brüchig werden, dann ist es auch an der Zeit, uns nicht mit den Brotkrumen zufrieden zu geben. Dann ist es an der Zeit, das offenkundig Naheliegende für jeden einzelnen Menschen zu fordern: die Souveränität über das eigene Leben, eine „Revolution für das Leben“ (Eva von Redecker, 2020), eine „Care Revolution“ (Gabriele Winker, 2015). Doch was hieße eine Revolution für das Lebendige, für das Sorgende?

Revolution für das Lebendige

Lebendigkeit wird durch fürsorgende Hinwendung aufrechterhalten. Ein Garten braucht Wasser und einen Menschen, der gießt; ein Kind oder ein kranker oder ein alter Mensch braucht Pflege und Begleitung; alle brauchen angebautes und zubereitetes Essen; unsere Kleidung, ebenso wie ein Haus oder ein Fahrzeug brauchen beständige Achtsamkeit und Reparatur, um nicht kaputtzugehen und zu zerfallen. „Wirtschaften“ bezeichnet die menschlichen Tätigkeiten, die das Leben und die dafür notwendigen Dinge nähren und aufrechterhalten.

Alles andere ist nicht Wirtschaft (im Sinn des Oikos, des Haushaltes, der Wortwurzel der Begriffe „Ökonomie“ wie auch „Ökologie“), sondern systematische Ausbeutung: Extraktivismus.

Anzuerkennen, dass Fürsorge das Zentrum allen Wirtschaftens ist (Ina Praetorius, 2015), würde eine Abkehr vom Wachstumsparadigma bedeuten, eine Abkehr von der Idee, dass mehr Arbeitsplätze, mehr Industriebetriebe, eine zunehmende Monetarisierung aller Lebensbereiche besser für alle Menschen seien (Schmelzer/Vansintjan/Vetter, 2022); einen Ausstieg aus der Steigerungslogik auf allen Ebenen – der materiellen, der juristischen, der soziokulturellen, der mentalen Strukturen; ein Ende von linearem Fortschritt und Ausbeutung. Fürsorge ist nicht linear, sondern zyklisch: Sie muss immer wieder, jeden Tag neu, erbracht werden, sie ist niemals fertig, sie ist immer notwendig, sie ist nicht immer angenehm, oft auch ziemlich anstrengend – aber immer sinnvoll.

Die Fabrik in Gemeinschaftsbesitz überführen

Was hieße ein lebendigkeitsförderndes, fürsorgendes Wirtschaften für unser Dorf in Ostbrandenburg und für die 30 Kilometer entfernte Fabrik? Klar wäre zunächst: die Fabrik kann unmöglich im Besitz einer einzelnen Person – ob „natürlich“ oder „juristisch“ – sein, die gegen mehr oder weniger Entlohnung andere Menschen „einstellt“, dort die Geschäfte zu managen, die Maschinen zu warten oder die Toiletten zu putzen. In einem fürsorgenden Wirtschaften können und müssen Menschen ihre Lebenszeit nicht verkaufen. Sie können nur beschließen, einen Teil ihrer Schaffenskraft verbindlich einer Sache zu widmen, die sie für sinnvoll halten, etwa die Produktion von Elektrofahrzeugen, um das menschliche Bedürfnis nach Mobilität zu befriedigen.

Die Fabrik würde also enteignet und in Gemeinschaftsbesitz – beispielsweise in eine Genossenschaft oder eine nicht-handelbare Aktiengesellschaft – überführt. Jeder Mensch, der dort tätig ist, erhielte automatisch einen Anteil. Gemeinsam würden die Menschen immer wieder neu beschließen, was und wie sie dort produzieren wollen. Selbstverständlich könnten das nicht alleine die dort Arbeitenden bestimmen. Jene aus den umliegenden Dörfern hätten ebenfalls ein Mitspracherecht. Darüber hinaus würden die Bäume, die Sträucher und die anderen nicht-menschlichen Lebewesen durch einen Stewart, bzw. eine Fürsprecherin, vertreten und so eine Stimme erhalten.

Die Folgen? Beispielsweise könnten die in der Fabrik Tätigen nicht einfach auf einem „Weltmarkt“ beliebige Dinge, wie Lithium oder Stahl, einkaufen, sondern müssten bei den Produzierenden an anderen Orten der Welt anfragen, ob und zu welchen Bedingungen sie bereit sind, ihre Ressourcen und Güter zu teilen. Vielleicht käme dabei heraus, dass es nicht genügend Lithium für Batterien oder Stahl für neue Karosserien gibt, um sehr viele neue Fahrzeuge zu bauen. Womöglich käme jemand auf die Idee, die Hälfte der gigantischen Hallenflächen stattdessen als Umbau- und Reparaturwerkstatt zu nutzen, wo etwa in alte, fossil betriebene Autos neue elektrisch betriebene Motoren hineingebaut oder aus zwei alten Fahrzeugen ein neues zusammengesetzt werden könnte.

In einer fürsorgenden Wirtschaft

Vielleicht würden auch völlig andere Fahrzeuge gebaut, etwa gar keine Autos für den Individualverkehr, sondern Fahrräder aller Art (Lastenfahrräder, Fahrradbusse, etc.), Straßenbahnen, Elektrobusse, Traktoren. Ziemlich schnell – wenn Menschen freiwillig ihr Tun für eine sinnvolle Sachen einsetzen, anstatt ihre Arbeitszeit zu verkaufen – würde die Fabrik ihren abgeschlossenen Charakter einer reinen Herstellungsstätte verlieren. Menschen würden anfangen, Musik-Proberäume einzurichten, um zwischen dem Schweißen eine Runde zu jammen; sie würden die Mensen gemeinsam betreiben, und miteinander kochen, vor jeder Kantine wüchsen in Hochbeeten frische Küchenkräuter.

Berlin, Mitte, Invalidenstrasse, Bundesministerium fuer Wirtschaft und Technologie 01.jpg

Das Hauptgebäude des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie in der Invalidenstraße 47-48 in Berlin-Mitte

Immer wenn jemand Geburtstag hätte – und das käme oft vor –, gäbe es kunstvoll gefertigte Sahnetorten. Kinder spielten hinter den Parkplätzen, Hühner wuselten über den Vorplatz, der langsam wieder grün würde und in dem der Löwenzahn den Asphalt sprengte. Menschen würden sich in einer Halle an Nähmaschinen zusammensetzen, um die Arbeitskleidung auszubessern. Leute würden sich ein Café einrichten, in dem es sich zusammensitzen und philosophieren ließe, und viele Räume bekämen Sofas für die vielen notwendigen Besprechungen.

In einer derart fürsorgenden Wirtschaft wäre das Leben nicht parzelliert in feinsäuberlich abgetrennte Bereiche – wie Landwirtschaft, Kultur, Politik oder Bildung –, sondern würde das Ganze des Lebens umfassen. Jede Tätigkeit wäre zugleich auch eine künstlerische, eine bildende, eine politische, eine nährende.

Mehr als ein Traum?

Ist diese Vorstellung mehr als ein Traum? Ist sie auch erreichbar? Das weiß vermutlich niemand mit Sicherheit; ebensowenig wie jemand mit Sicherheit vorhersagen kann, ob und wie lange die jetzige, kapitalistisch verfasste „Wirtschaft“ weitermachen kann wie bisher. Doch so träumerisch die Vorstellung von einer fürsorgenden Wirtschaft anmuten mag, sie ist doch eine nicht weniger mögliche und nicht weniger wahrscheinliche Zukunft wie die Vorstellung, dass in 30 Jahren noch immer eine dank ungebrochener globaler Lieferketten und funktionierender Märkte weitergeführte kapitalistische Produktion von Elektroautos existieren wird.

Damit wir uns eine solche „konviviale“ (der Lebendigkeit dienende) Fabrik vorstellen können, ist es jedoch entscheidend, diese Wirklichkeit vorauszulieben – und zwar dort, wo dies einfacher möglich ist als in einer heute existierenden, im Eigentum von Aktionär*innen stehenden Fabrik.

In dem kleinen ostbrandenburgischen Dorf, in dem ich lebe, besitzen wir gemeinsam als Verein ein großes Gelände – eine ehemalige Berufsschule mit Internat mit über 60 Zimmern, Feldsteinscheune, Lagerhallen und einer alten Schnapsbrennerei. Diesen Ort wollen wir zu einem Kulturquartier umnutzen. Wir sind hier zusammen tätig, freiwillig – dort wo es Sinn ergibt. Wir treffen gemeinsame Entscheidungen, wir wirtschaften zusammen, so gut es unsere diversen Lagen und unsere inneren Muster eben erlauben. Wir schaffen Raum für Menschen „on the move“, wir bekommen einen Teil unseres Essens von der zwei Dörfer weiter gelegenen Solidarischen Landwirtschaft. Wir retten unverkäufliche Pflanzen von einem Baumarkt in der Nähe und verschenken sie an Menschen aus der Umgebung. Wir scheitern oft an uns selbst, an Ansprüchen von außen oder an den uns umgebenden juristischen Strukturen.

Aber wir wissen und fühlen es täglich: Eine andere Welt ist möglich, und sie ist schon im Entstehen. „Transition justice“ kann es nicht halb geben. Sie ist kein Kompromiss mit dem Kapital und der Bürokratie. Sie ist eine ganze, volle Gerechtigkeit, die den Menschen die Souveränität zurückgibt, sich selbstbestimmt und achtsam um sich selbst und um einander, um ihre Beziehungsnetzwerke, um ihre Orte und um die Lebensgrundlagen der kommenden Generationen zu kümmern.

Anm.d.Red: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englischsprachige Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de.

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Oben       —   Gelände der zukünftigen Fabrik von Tesla in Grünheide, am rechten Bildrand der Berliner Ring, hinten das Gewerbegebiet Freienbrink

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Andere Kriege auf der Erde

Erstellt von Redaktion am 9. Mai 2022

Nicht vergessen: Auch hier wird getötet

Վահան Գյուղի զոհված ազատամարտիկների հիշատակին կառուցված հուշահամալիրը.jpg

Von der Freitag – Redaktion

Seit dem Angriff Wladimir Putins auf die Ukraine wird das Sterben durch Waffengewalt plötzlich Teil unseres Alltags. Krieg herrscht aber nicht nur in der Ukraine. Auch andernorts lassen Regierungen andere Staaten angreifen.

Chance für Armenien

Von  :  Nikita Gerasimov

Bizarr: Der Ukraine-Krieg führt dazu, dass der Südkaukasus praktisch die einzige Region der Welt ist, in der sich die Interessen des Westens und Russlands decken. Beide wollen Frieden. Der aserbaidschanisch-armenische Konflikt um Bergkarabach hat in den vergangenen Wochen eine völlig neue Dynamik bekommen.

Weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit eskalierte Ende März zunächst die Lage in der Region östlich der Türkei und südlich von Russland, nachdem aserbaidschanische Truppen Stellungen der selbst erklärten Republik Arzach beschossen und mehrere Kilometer tief in das Zuständigkeitsgebiet der russischen Friedenstruppen einrückten. Daraufhin folgten zähe Vermittlungen, um aserbaidschanische Einheiten zum Abzug zu bewegen. Anfang April konnten die beteiligten Seiten jedoch überraschend einen wichtigen Schritt zur Beilegung des Konfliktes initiieren: Unter der Vermittlung der EU starteten sie erstmals seit Jahren vielversprechende Friedensverhandlungen.

Der Ukraine-Krieg entfaltet auf die Friedensgespräche dabei eine sehr ambivalente Wirkung. Einerseits unterstützt Russland die Friedensgespräche, weil es sich einen weiteren Konflikt an seinen Grenzen derzeit schlichtweg nicht leisten kann. Zahlreiche Ressourcen und Armeekapazitäten sind in der „Militäroperation“ gebunden, wie Moskau die Kampfhandlungen auf dem ukrainischen Territorium betitelt.

Die Europäische Union, die finanziell durch Sanktionen und militärisch durch massive Waffenlieferungen im Ukraine-Konflikt mitinvolviert ist, betrachtet es ähnlich und will mit allen Mitteln einen weiteren Großkonflikt auf dem europäischen Kontinent, womöglich noch mit der Beteiligung des NATO-Landes-Türkei (siehe Texte zu Kurdistan und Syrien), vermeiden. Und Armenien selbst braucht erfolgreiche Friedensverhandlungen, um sich gegen neue türkische und aserbaidschanische Provokationen abzusichern.

Andererseits bringt der Ukraine-Krieg für Aserbaidschan eine viel bessere Verhandlungsposition mit sich. Baku signalisierte zwar Bereitschaft für die Friedensverhandlungen und legte einen Friedensplan vor. Zugleich sehen sich Aserbaidschan und die Türkei klar in der Position des Stärkeren, um Bedingungen für den angestrebten Friedensvertrag zu diktieren und mit Konsequenzen im Falle eines Scheiterns zu drohen. Beide wissen, dass Russland unter der Last des Ukraine-Konfliktes kaum Kapazitäten für ein intensives Eingreifen im Südkaukasus hat, während Armenien alleine dem Baku-Ankara-Bündnis hoffnungslos unterlegen ist.

Dementsprechend harsch sind die Stellungnahmen aus Aserbaidschan. So erklärte der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew am 22. April, dass Armenien mit den aktuell laufenden Friedensverhandlungen „die letzte Chance“ bekommen habe. Armenien müsse den fünf aserbaidschanischen Grundpositionen ausnahmslos zustimmen, darunter der Anerkennung der territorialen Integrität sowie dem Verzicht auf jegliche Territorialansprüche – dies würde für Jerewan de facto einen Verzicht auf das von Armenien kontrollierte Bergkarabach bedeuten. Ohne die Anerkennung seiner Grundpositionen werde Baku die Friedensverhandlungen nicht weiter verfolgen und womöglich sogar die Territorialverläufe Armeniens als solches nicht mehr anerkennen. „Das ist die einzige Möglichkeit für Armenien, und vielleicht auch ihre letzte Chance. Wenn sie das ablehnen, werden wir die territoriale Integrität Armeniens nicht anerkennen“, drohte Alijew.

Es war einmal: Syrien

Von      :    Michael Lüders

Seit 2011 herrscht in Syrien Krieg. In der hiesigen Wahrnehmung sind dafür Präsident Baschar al-Assad und seine russischen wie iranischen Verbündeten verantwortlich. Doch haben auch die USA und die EU sowie die Golfstaaten und die Türkei in Syrien einen Stellvertreterkrieg geführt, um Assad zu stürzen und Russland und den Iran zu schwächen. Radikale Islamisten dienten dabei als Hilfstruppen, die mit Waffen und Geld versorgt wurden, vornehmlich über die Türkei. Scharfe Wirtschaftssanktionen aus Washington und Brüssel stellen inzwischen fast jeden Handel mit Damaskus jenseits begrenzter humanitärer Hilfsmaßnahmen unter Strafe.

Baschar al-Assad in Russland (2015-10-21) 09.jpg

In Syrien laufen mehrere Konflikte parallel. Am gefährlichsten ist die Lage in der Region Idlib im Nordwesten, entlang der türkischen Grenze. Dort leben drei Millionen syrische Binnenflüchtlinge unter erbärmlichsten Bedingungen, meist in Zeltstädten. Idlib steht unter der nominellen Kontrolle der Dschihadisten-Miliz „Hai’at Tahrir asch-Scham“ (Bewegung zur Befreiung Syriens), hervorgegangen aus dem syrischen Ableger von al-Qaida. Seit März 2020 herrscht nominell eine Waffenruhe in Idlib. Damaskus wie Moskau würden die Dschihadisten gerne militärisch ausschalten, was Ankara bislang aber verhindert.

Den Nordosten Syriens kontrollieren verschiedene kurdische Gruppierungen (siehe Text zu Kurdistan), die nur deswegen nicht von der Türkei angegriffen werden, weil sie enge Verbündete der USA sind. Das Assad-Regime kontrolliert etwa drei Viertel des Landes, mit Ausnahme der Grenzgebiete im Norden und jener im Osten, entlang der irakischen Grenze. Dort herrschen die USA, die alle Erdöl- und Erdgasquellen Syriens besetzt haben und sie völkerrechtswidrig ausbeuten– und der IS, der Kurden wie auch Assads Truppen bekämpft. Hinzu kommt ein Schattenkrieg Israels gegen den Iran auf syrischem Boden.

Eine Friedenslösung ist nicht in Sicht. Der Westen besteht auf einem Regimewechsel, der aber liegt in weiter Ferne. Ebenso das Ende der mörderischen Sanktionen. Die lange vom Ausland unterstützte Opposition ist zerstritten und bedeutungslos. Unterdessen fehlt jedem zweiten Syrer der gesicherte Zugang zu Lebensmitteln und Medikamenten.

Dauerkrieg: Kurdistan

Von    :    Anita Starosta

Während alle Welt auf Wladimir Putins Angriffskrieg in der Ukraine blickt, startete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine Invasion im Nordirak: Mit der Operation „Klauen-Verschluss“ griff die türkische Armee in der Nacht zum 18. April Einheiten der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in den nordirakischen Bergen an. Die Bevölkerung musste sich vor den massiven Angriffen aus der Luft in Sicherheit bringen. So gewohnt die Nachricht des Kampfs gegen Kurd:innen auch sein mag, sie bleibt völkerrechtlich ein Delikt. In der Vergangenheit schätzte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags die türkischen Angriffe im Nordirak als völkerrechtwidrig ein, da das Selbstverteidigungsrecht der Türkei nicht gegeben sei. Es käme kaum noch zu Angriffen durch die PKK, die ein solches Vorgehen rechtfertigen könnten. In dem Papier wird auch diskutiert, ob eine Verletzung der irakischen territorialen Souveränität vorliegt, da die Regierung in Bagdad den türkischen Militäroperationen nicht zustimmte – Erdoğans Partner ist der Regierungspräsident der nordirakischen Autonomieregion Kurdistan, Masrur Barzani. Die irakische Seite gibt sich entzürnt über die Angriffe, bringt sich aber gleichzeitig in Stellung, um das seit Jahren umkämpfte Kernland der Jesiden – Shengal – unter eigene Kontrolle zu bringen.

In Nordostsyrien, dem kurdischen Rojava, stellt sich die völkerrechtliche Frage in ähnlicher Weise. Türkische Angriffe wie die anschließende Besetzung des kurdischen Gebiets Afrin (Operation „Olivenzweig“ im Frühjahr 2018) und des Grenzgebiets zwischen Serêkaniyê und Girê Spî (Operation „Friedenquelle“ im Herbst 2019) beschreibt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags als völkerrechtswidrig. Auch die vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs diskutierte Gefahr eines NATO-Bündnisfalls spielt in der Betrachtung eine Rolle: Der Wissenschaftliche Dienst kam allerdings zu dem Schluss, dass ein Bündnisfall selbst dann nicht gegeben ist, sollte Syrien die türkischen Truppen bis auf türkisches Gebiet zurückdrängen.

12. September 2016 Aufbau der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung in Van nach PKK-Angriff mit Bombenauto.jpg

In Syrien und im Irak lebt die Zivilbevölkerung unterdessen mit den Folgen der türkischen Angriffe. Hunderttausende flohen 2019 aus Nordsyrien ins Landesinnere und verließen ihre Häuser, nachdem der Aggressor ankündigte, den gesamten Grenzstreifen zu einer türkisch kontrollierten „Sicherheitszone“ zu machen. Bis heute halten sich türkische Söldner mit ihren Familien in den damals erkämpften Gebieten auf, besetzen die Häuser der Vertriebenen. Türkische Infrastruktur – ob Zahlungsmittel oder Bildungssystem – hat sich etabliert. Die Zivilbevölkerung in der Region Hasakeh leidet unter der Wasserkappung. Seit Monaten kommt es zudem regelmäßig zu Drohnenangriffen und Beschuss auf grenznahe Städte. Allein dieses Jahr gab es in Nordostsyrien 34 Drohnenangriffe, bei denen 29 Personen verletzt und neun getötet wurden. Letztes Jahr waren es 89 Drohnenangriffe. Ziele waren dabei vor allem militärische und politische Personen der demokratischen Selbstverwaltung. Es kommt jedoch immer wieder auch zu zivilen Opfern. Im Zuge der aktuellen türkischen Offensive im Nordirak hat das türkische Militär Beschuss und Drohneneinsätze in Nordostsyrien nochmals intensiviert.

Die internationale Gemeinschaft lässt Erdoğan gewähren – seine Druckmittel sind immer noch bedeutend: Flüchtlingsdeal, Rüstungsexporte und ökonomische Beziehungen. Hinzu kommt jetzt seine Rolle als vermeintlicher Mittler im Ukraine-Krieg. Die NATO-Partner üben sich in lautem Schweigen zu der Militäroperation in Kurdistan-Irak und den anhaltenden Angriffen in Nordostsyrien.

Ohne Hegemonie: Mali

Quelle        :       Der Freitag-online          >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben       —      Denkmal der Freiheitskämpfer des Dorfes Vahan Armenien

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2.) von Oben     —     Рабочий визит в Россию Президента Сирии Башара Асада. Встреча с Президентом России Владимиром Путиным

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Unten      —      12. September 2016 Aufbau der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung in Van nach PKK-Angriff mit Bombenanschlag

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China und der Westen

Erstellt von Redaktion am 7. Mai 2022

Warum China dem Westen jetzt Kopfschmerzen bereitet

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Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Nicht überraschend ist es, dass die kapitalgetriebene US-Wirtschaft – und in deren Schlepptau die unsere – erst dann reagiert, wenn Zeit eben kein Geld mehr ist. Nach einem schier blinden Hals-über-Kopf-Engagement in China beginnen die verantwortlichen Experten erst jetzt darüber nachzudenken, was sie eigentlich von Anfang an hätten tun müssen.

Schlimmer noch: in ihrer Profitgier hat die westliche Wirtschaftselite völlig verschlafen, dass die Weltordnung sich mit dem stetigen Aufstieg von China zu einer der größten Weltwirtschaften in gerade mal vier Dekaden radikal geändert hat. Die derzeitigen Agitationen westlicher Politiker zeugen eher von einer endlosen Ratlosigkeit, das Schweigen der Wirtschaft – außer ihr Jammern – bestätigt nur die Kurzsichtigkeit des von ihr betriebenen Wirtschaftssystems. Nun fühlen sich die USA genötigt, eine neue Einstellung gegenüber der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt zu finden. Auch deutsche Unternehmen wachen endlich augenreibend auf und suchen tastend nach einem Plan B für ihr Chinageschäft.

Die notwendige, neue Denke bereitet insofern Kopfschmerzen, als man dabei zunächst über die selbst gemachten Fehler nachdenken muss, um daraus vielleicht doch zu lernen, wie man es zukünftig besser machen könnte. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die USA im Niedergang ihrer hegemonialen Ambitionen und Machtgebahren befinden und sich daher umso mehr an alte Machtpositionen klammern. Um dies zu rechtfertigen, wirft man China kurzerhand und plump gleiche Machtgelüste vor, wohl wissend oder wissen müssend, dass China die Welt außerhalb seiner Grenzen nur durch Handel und nie durch Krieg oder Säbelrasseln erobert hat. Darüber hat man ganz offenbar noch nie nachgedacht und hat jetzt Schmerzen bei dem Gedanken, dass das vielleicht doch der nachhaltigere Weg im globalen Miteinander sein könnte. Und dann auch noch die chinesische Denke, sich mehr auf den sozialen Nutzen der Wirtschaft als auf deren Rentabilität zu konzentrieren. Das scheint westlichen Entscheidern so neu, dass man sich ob ihrer Bildung nur wundern kann.

Diese Kopfschmerzen drohen zu einer langfristigen Migraine zu werden, wenn man an die langen Schatten westlicher Marktfundamentalismen denkt. Da fällt jeder Wandel schwer, weil man stets vorrangig an den eigenen Nutzen denkt und die Interessen der „Vertragnehmer“ zu beherrschen sucht. Das aber ist langfristig eine Sackgasse. Und zu den zunächst eher wirtschaftlichen Problemen und Fehlentscheidungen kommt jetzt auch noch das Zerbrechen der bisher ach so vertrauten Weltordnung mit ihren „regelbasierten“ Energie-, Produktions-, Vertriebs- und Finanzsystemen infolge des kriegerischen Einfalls von Russland in die Ukraine. Von einer global denkenden Wirtschaft werden wir sicherlich nicht mehr lassen können, weil wir nolens volens unsere Welt nur global z.B. durch den Klimawandel und die Rohstoffnutzung bringen können. Aber oh je, da muss man schon wieder mehr sozial als kapitalistisch denken und liebgewonnene und einstudierte Maxime schlicht vergessen. Bei dieser Fülle von überlebenswichtigen, neuen Denkansätzen mit dazu noch einer gleichberechtigten Führungsrolle von China ist ein Ende der Kopfschmerzen schwer abzusehen.

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Oben     —       Montage verschiedener Shanghai-Bilder

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Das Lieferkettengesetz

Erstellt von Redaktion am 5. Mai 2022

Wenn Lieferketten zu Fußfesseln werden

Elektronische Fußfessel in Kalifornien, USA

Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Wie jubelte unsere Wirtschaft im Westen, als vor 40 Jahren China langsam die Tore öffnete und eben jene Drecksarbeiten auch noch billig erledigte, die man im eigenen Land nicht haben wollte oder die mit unbequemen gesetzlichen Auflagen verbunden waren. Mit der Zeit entdeckte man dann dort noch das Marktpotential und verlagerte Produktionen und Vertriebe in das „Reich der Mitte“ mit dem Ziel der eigenen Gewinnmaximierung. Um die Vorgänge und Entwicklungen in China kümmerte man sich wenig, wenn überhaupt, solange das Geld in der eigenen Kasse klingelte.

Aus der ursprünglich vernünftigen japanischen Idee der Just-in-time-Anlieferung entwickelten insbesondere die USA internationale Lieferketten, die prompt den Rost-Belt im eigenen Land vergrößerten und das Land in von der eigenen Großindustrie kontrollierte Abhängigkeiten führte. Obwohl dies eigentlich den Planungsregeln eines ordentlichen Kaufmanns widersprach, schlossen sich unsere Unternehmen der Idee der globalen Lieferketten an, weil es in der westlichen Welt nur noch um Preis und Gewinn ging. So begab man sich sehenden Auges auch hier in Abhängigkeiten aller Art, von den Rohstoffen über Produkte und Vorprodukte bis hin zu Lebensmitteln, Medikamenten und Medizinprodukten.

Und dann kam Corona und wirbelte die weltweit praktizierten Wirtschaftspraktiken tüchtig durcheinander bzw. legte ihre Absurdität offen. Es fehlte plötzlich an den einfachsten Produkten, und angesehene Politiker scheuten sich nicht, sich z.B. durch Beziehungseinkäufe von Masken auch noch unsittlich zu bereichern. Durch das weltweit unterschiedliche Corona-Geschehen kommt es jetzt auch noch zu der abstrusen Situation, dass die „Werkstatt der Welt“ durch Corona und entsprechende Gesundheitsmaßnahmen dort ins Stottern geraten ist mit der Folge, dass die Wirtschaft bei uns durch Lieferausfälle ins Mark getroffen wird.

Jetzt endlich plant die EU ein Lieferkettengesetz, um das globale Liefersystem nachhaltiger und weniger anfällig bei Unwägbarkeiten zu machen. Das kann aber nur gelingen, wenn man auch das „Reich der Mitte“ respektvoll einbezieht, zumal China mit dem Seidenstraßenprojekt seit jahrzehnten vormacht, wie man gerade zwischen China und Europa sinnvoll Waren und Initiativen austauschen kann, ohne Krieg und Sanktionen. Dagegen ist die vom Westen einseitige und im Wesentlichen kapitalgetriebene, globale Lieferkettenpolitik gescheitert, weil man sich blind und geldgierig auf eine einzige Lieferquelle konzentriert hat. In dieser Situation der sich aufdrängenden Veränderungen kann es nicht darum gehen, die selbst gewählte Lieferquelle für global begründete Störungen veranwortlich zu machen oder dafür gar zu sanktionieren. Nein, wir müssen im Westen wieder sinnvoll jene Verantwortungen übernehmen, die unsere Wirtschaft begründeten und stark gemacht haben. Wer jetzt noch immer nicht einsieht, dass die bisher praktizierten Lieferketten zu bedrohlichen Fußfesseln mutiert sind und dabei nicht die eigene Verantwortlichkeit sieht oder sie gar verleugnet, ist für eine verantwortliche Rolle in Politk und Wirtschaft nicht qualifiziert. Wir befinden uns tatsächlich in einer Zeitenwende und sind alle gefordert, uns aktiv für ein Gelingen einzubringen.

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Oben     —     Elektronische Fußfessel in Kalifornien, USA

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Ein Imperialistischer Krieg

Erstellt von Redaktion am 3. Mai 2022

in der Ukraine und multipolarer Weltmarkt –
Vom Corona-Notstand in den Kriegsnotstand

Последствия удара ракеты по Голосеевскому району киева (6).jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Iwan Nikolajew

  1. Prolog

Der Ukraine-Krieg markiert das Ende des neoliberalen Weltmarktes, die sogenannte „Globalisierung“ und gleichzeitig ist er der erste Krieg des multipolaren Weltmarktes. Es ist nicht der einzige oder der letzte imperialistische Krieg des multipolaren Weltmarktes, sondern nur der Beginn einer Reihe von imperialistischen Kriegen.

  1. Die „neue Normalität“ des imperialistischen Krieges

Der multipolare Weltmarkt ist die „neue Normalität“ und mit ihm ist auch der imperialistische Krieg ein Moment dieser „neuen Normalität“. Einen multipolaren Weltmarkt ohne imperialistischen Krieg gibt es nicht; ebenso wird die multipolare Weltordnung durch den imperialistischen Krieg geordnet. Eine Rückkehr zur alten Normalität des neoliberalen Weltmarktes, zur neoliberalen Weltordnung, welche durch den US-Imperialismus garantiert wurde, ist nicht mehr möglich. Der Point of no return ist erreicht. Es kann nur vorwärtsgehen, aber rückwärts nimmer. Der 22. Februar 2022 mit der Anerkennung der beiden Donbassrepubliken durch den russischen Imperialismus ist die Stunde 0. Es gibt eine Zeit vor der Stunde 0 und eine Zeit nach der Stunde 0. Aber ein Zurück hinter die 0 ist unmöglich.

Der Wirtschaftskrieg ist die Keimzelle des imperialistischen Krieges und der Wirtschaftskrieg ist im multipolaren Weltmarkt die zentrale Form der Weltmarktkonkurrenz. Die imperialistische Konkurrenz verdoppelt sich in ökonomische und politische Konkurrenz. Der bürgerliche Klassenstaat agiert im multipolaren Weltmarkt offener, als zur Zeit des neoliberalen Akkumulationsmodells. Während im neoliberalen Weltmarkt das Wertgesetz unmittelbar die bürgerliche Gesellschaft regulierte und der bürgerliche Staat, der ebenfalls ein mittelbares Produkt des Wertgesetzes und damit des Klassenkampfes ist, nur mittelbar in die Ökonomie intervenierte, dann, wenn eine Notfallsituation auftrat. Wurde diese Notfallsituation überwunden zog sich der bürgerliche Staat wieder hinter die Linie des unmittelbaren Wertgesetzes zurück. Hingegen sind bürgerlicher Staat und Wertgesetz im multipolaren Akkumulationsregime gleichwertig und agieren gleichzeitig auf einer Linie. Die stumme Gewalt des Wertgesetzes und die eiserne Faust des bürgerlichen Staates marschieren nun gemeinsam gegen die Arbeiterklasse. Diese eiserne Faust des bürgerlichen Staates bahnt dem Wertgesetz eine Gasse und das Wertgesetz atomisiert schon strukturell den proletarischen Widerstand. Vermittels Wertgesetz und eiserner Faust des bürgerlichen Staates soll das Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse abgesenkt werden. Das Kapital benötigt für seine Existenz und Reproduktion kein „parlamentarisch-demokratisches“ Klassenregime; dieses steht bei Großen Krisen schnell zur politischen Disposition. Eben dieses „parlamentarisch-demokratische“ Klassenregime der Bourgeoisie ist ein Produkt des Klassenkampfes der Arbeiterklasse, es wurde von der Arbeiterklasse gegen das Kapital erkämpf, stellt eine proletarische Eroberung im Kapitalismus dar und behindert die eiserne Faust des bürgerlichen Staates. Das Kapital versucht erst einmal, den bürgerlichen Staat vom proletarischen Einfluß zu befreien, d.h. die eiserne Faust des bürgerlichen Staates muß sich erst einmal selbst befreien. Die Selbstbefreiung des bürgerlichen Staates ist eine Selbstbefreiung der Bourgeoisie vom politischen Enfluß der Arbeiterklasse und damit eine politische Säuberung des bürgerlichen Staates und der bürgerlichen Gesellschaft von den Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus. Die Zerstörung der Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus eröffnet dem Kapital den Weg zur qualitativen Absenkung des gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsniveaus über eine Deflationspolitik. Eine radikale Deflationspolitik ist nur möglich, wenn die Arbeiterklasse politisch aus dem bürgerlichen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt gesäubert ist. Die Bourgeoisie greift auf den bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) zurück und ersetzt die parlamentarisch-demokratische Form des bürgerlichen Staates durch den bürgerlichen Ausnahmestaat, solange, bis ein neues Klassengleichgewicht gefunden wurde, welches wieder die Aktivierung des parlamentarisch-demokratischen bürgerlichen Klassenregimes erlaubt.

Die gegenwärtige Entwicklungsphase der Großen Krise mit ihrer politischen Eskalation läßt das Kapital in den bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) flüchten. Es kommt derzeit zum offenen Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes und zum naturwüchsigen Durchbruch des multipolaren Weltmarktes und damit der multipolaren Weltordnung. Diese multipolare Weltordnung wird mit Blut geschrieben, ebenso der multipolare Weltmarkt. Das gegenwärtige Dämmerlicht zwischen dem untergehenden neoliberalen Weltmarkt und dem aufgehenden multipolaren Weltmarkt ist reich an Gefahren und kann geradewegs in den Dritten Weltkrieg führen. Durch die Große Krise ist die Akkumulation zerrüttet und die Kettenglieder der imperialistischen Kette stehen deshalb nicht auf festem Grund, sondern befinden sich unter einem beträchtlichen aktuellen und potentiellen großen inneren Druck. Durch den Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes ist das Gleichgewicht innerhalb der imperialistischen Kette gestört und die Widersprüche innerhalb der imperialistischen Kette spitzen sich zu und führen an den Rand eines Dritten Weltkrieges. Die Eskalation der imperialistischen Widersprüche in dieser Schärfe zeigt auf, daß der US-Imperialismus seine Hegemonie in der imperialistischen Kette eingebüßt hat. Hätte der US-Imperialismus noch die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette inne, gäbe es keinen erbitterten imperialistischen Machtkampf zwischen dem US-Imperialismus und dem russischen Imperialismus, der sich noch auf das kapitalistische China stützt, welches den höchsten Punkt innerhalb der Stufenleiter der Peripherie erkämpft hat. Dieser innerimperialistische Machtkampf zeigt das Ende der US-Hegemonie an, wie auch die Herausbildung einer multipolaren Weltordnung als Durchgangsstadium zu einem neuen Hegemon. Der Ukraine-Krieg ist ein imperialistischer Krieg, dessen zentrale Mächte der US-Imperialismus und der russische Imperialismus sind. Die Ukraine ist nur das Schlachtfeld für diesen innerimperialistischen Konflikt. Es ist kein russisch-ukrainischer Krieg, denn der ukrainische Staat wird zentral vom US-Imperialismus geführt, welcher auch den Oberbefehl über das ukrainische Militär hat und dieses ausrüstet und ausbildet. Die letzte Entscheidungsmacht hat immer der US-Imperialismus inne und somit ist die Ukraine kein souveräner Staat, sondern nur eine Verhandlungsmasse innerhalb der imperialistischen Kette.

Es sind die Entwertungstendenzen des Kapitals, welche ein Resultat der durchschnittlichen Bewegung des Kapitals im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate sind, die den US-Imperialismus vom Thron des Hegemons innerhalb der imperialistischen Kette stürzen und eine Neuausrichtung der imperialistischen Kette erzwingen. Da der US-Imperialismus in der Mehrwertproduktion geschwächt ist, das fiktive Kapital dort die Mehrwertproduktion behindert, kann sich der US-Imperialismus gegen die Krisentendenzen nicht behaupten und fällt hinter seinen imperialistischen Weltmarktkonkurrenten zurück. Mit einer konzentrierten politischen Aktion vermittels imperialistischer Krieg kann der US-Imperialismus höchstens die Entwertung seines Kapitals und seiner Degradierung aus der Funktion des Hegemons leicht verzögern, aber nicht verhindern. Der US-Imperialismus muß sich einen neuen Platz in der multipolar organisierten imperialistischen Kette erkämpfen und sich einer Re-Industrialisierung unterziehen oder als Imperialismus untergehen. Ein erneuter Krisenschub der Akkumulation im Herbst 2019, der auch zu einem Einbruch im Repromarkt führte und knapp abgewendet werden konnte, wie auch die Revolten des Jahres 2019, kündigten das formale Ende der US-Hegemonie an. Der internationale Wirtschaftskrieg hatte schon von 2017 bis 2019 den neoliberalen Weltmarkt gelähmt, da die Stützpfeiler des neoliberalen Weltmarktes, der US-Imperialismus und China, in einen Wirtschaftskrieg verwickelt waren, welchen der US-Imperialismus begann, um so den Aufstieg Chinas in den Bereich der kompliziert zusammengesetzten Arbeit zu verhindern. Seit 2017 nahmen die Spannungen im neoliberalen Weltmarkt beständig zu und ebenso damit die Aufrüstung. Es lag schon 2019 ein qualitativer Bruch und eine dramatische Eskalation der Weltlage in der Luft.

Der qualitative Bruch im neoliberalen Weltmarkt setzte dann im Jahr 2020 mit der „Corona-Krise“ ein. Durch den höchstwahrscheinlichen Austritt des SARS-Corona-Virus aus einem Hochsicherheitslabor, absichtlich oder unabsichtlich, verbreitete sich das SARS-Corona-Virus. Das kapitalistische Staatensystem reagierte naturwüchsig darauf mit militärischen Mitteln, was zeigt, daß jeder kapitalistische Staat von einem Angriff mit biologischen Waffen ausgeht. Statt mit zivilen Mitteln die Ausbreitung des SARS-Corona-Virus zu begegnen, wurde sofort die politische Entscheidung getroffen, die Ausbreitung des SARS-Corona-Virus als Pandemie zu kategorisieren und militärisch gegen diese SARS-Corona-Pandemie vorzugehen. Eine internationale Kooperation bei der Bekämpfung der SARS-Corona-Pandemie wurde niemals in Betracht gezogen; d.h. die internationalen Verhältnisse waren schon Anfang 2020 gänzlich zerrüttet. Jeder bürgerliche Staat sieht in dem anderen bürgerlichen Staat einen Konkurrenten, gar einen Feind. Durch das Fehlen einer internationalen Kooperation konnte sich die SARS-Corona-Pandemie erfolgreich verbreiten. Im nationalen Alleingang läßt sich die SARS-Corona-Pandemie nicht bekämpfen. Der bürgerliche Staat greift auf den Ausnahmezustand, auf den Notstand, zurück. Nicht wegen der Gefahr der SARS-Corona-Pandemie, sondern weil der bürgerliche Staat die Gefahr im Weltmarktkonkurrenten sieht. Die Ausbreitung des SARS-Corona- Virus, läßt sich mit zivilen Maßnahmen, die international koordiniert werden, gut bekämpfen. Gibt es jedoch keine internationale Koordinierung der zivilen Maßnahmen gegen das die SARS-Corona-Pandemie, landet man notwendig im Notstand. So machte das Auftreten der SARS-Corona-Pandemie nur die konkreten tiefen Gräben und Widersprüche des kapitalistischen Weltsystems offenbar und hebt diese Widersprüche gleichzeitig noch auf eine höhere Stufenleiter. In der Corona-Krise zerriss der neoliberale Weltmarktzusammenhang und das jeweilige nationale Kapital näherte sich schnell einer Kriegswirtschaft an, setzte auf einmal statt auf Globalisierung nun auf Autarkie. Die erste Phase der De-Globalisierung war die „Corona-Krise“; die „Ukraine-Krise“ ist nur die zweite Phase dieser Entwicklung und geht rascher voran. Während die „Corona-Krise“ langsam abrollt, rollt die „Ukraine-Krise“ schnell ab, die Lage entwickelt sich sehr dynamisch. Der Abriss der Lieferketten zwingt das Kapital zur Rücklagerung der Mehrwertproduktion aus der Peripherie in die Metropolen zurück und damit auch in die EU. Doch der imperialistische Ukraine-Krieg und mit ihm im Gefolge der antirussische Wirtschaftskrieg, stellt auch die Rücklagerung der Mehrwertproduktion in die Metropolen und die EU in Frage. Da sich Polen und Bulgarien weigern, ihre Gaslieferungen in Rubel zu begleichen, stellt Rußland die Belieferung mit Gas ein. Davon ist auch deutsches Kapital in Polen und in Bulgarien betroffen, davon sich auch die Lieferketten des deutschen Kapitals betroffen. Es reicht also nicht, die Mehrwertproduktion aus der Peripherie in die Peripherie der EU zu verlagern. Letztlich steigt der Druck auf das deutsche Kapital, sogar eine Rücklagerung nach Deutschland zu veranlassen und/oder die Peripherie, vor allem in Osteuropa, unter deutsche Kontrolle zu bringen. Da stößt dann der deutsche Imperialismus mit dem US-Imperialismus zusammen, der ebenfalls Osteuropa (das neue Europa) für sich beansprucht. Diese osteuropäischen Staaten sollen einen Cordon sanitaire zwischen dem deutschen und dem russischen Imperialismus begründen. Gegenwärtig weicht der deutsche Imperialismus vor dem US-Imperialismus zurück und überläßt dem US-Imperialismus die Führung Osteuropas und die osteuropäischen Staaten erscheinen nur als antirussische Antreiber des deutschen Imperialismus. Real ist es der US-Imperialismus, welcher einen deutsch-russischen Gegensatz produziert. Die „Ukraine-Krise“ ist nur die Fortsetzung der „Corona-Krise“ und damit die Fortsetzung der De-Globalisierung mit anderen Mitteln, eine globale Entglobalisierung. Jedoch radikalisiert die Ukraine-Krise den „Corona-Notstand“ objektiv weiter, auch wenn gleichzeitig mit dem Ukraine-Krieg der „Corona-Notstand“ gelockert wurde, denn dieser „Corona-Notstand“ wird nicht aufgehoben, sondern eben nur temporär gelockert, damit er später wieder fester angezogen werden kann, aufgehoben wird er nicht. Lockern, um danach die Schlinge fest zuzuziehen. Die „Lockerungen des „Corona-Notstandes“ werden wieder tendenziell durch die Regelungen des Ukraine-Krieges kompensiert. Im Einzelhandel treten Versorgungsengpässe für Speiseöl und Mehl, wie auch an anderen Waren auf, und eben diese Waren werden tendenziell einer Rationierung unterzogen. Am Horizont zieht eine potentielle „Energiekrise“ auf und der „Corona-Notstand“ entwickelt sich potentiell zum „Energienotstand“ weiter.

Da Rußland bei seinem Krieg in der Ukraine auch den lateinischen Buchstaben Z benutzt und dieser auch in Rußland jetzt als patriotisches Zeichen dient, macht in Deutschland der bürgerliche Staat Jagd auf diesen Buchstaben. Für den deutschen Imperialismus ist dies „Feindpropaganda“ des „äußeren und inneren Feindes“ und tangiert die „nationalen Interessen“ des deutschen Imperialismus. Diese Jagd auf den Buchstaben Z schließt an den „Corona-Notstand“ an und geht über diesen hinaus. Darin zeigt sich, die sich fortsetzende relative Verselbständigung der Exekutive, die sich fortsetzende relative Verselbständigung der repressiven Staatsapparate gegenüber den zivilen Staatsapparaten des bürgerlichen Staates. Dieser Zensurakt gegen den konkret nicht zurechenbaren Buchstaben Z wird offen verkündet und es regt sich kein nennenswerter Widerspruch gegen diese Zensur-Politik. Die eiserne Faust des bürgerlichen Staates ist immer deutlicher zu spüren. Erst steht der Buchstabe Z im Mittelpunkt des Interesses der repressiven Staatsapparate des bürgerlichen Staates, demnächst dann wohl Hammer und Sichel, Roter Stern etc. und nicht nur die Symbole, dann die Organisationen auch, die der bürgerliche Staat diesen Symbolen zuordnet, was ebenfalls die Individuen zentral betrifft. Der bürgerliche Staat agiert immer deutlicher im „übergesetzlichen Notstand.“ Repression wird nicht mehr versteckt, sondern offen ausgelebt. Der „Corona-Notstand“ war zu Beginn ebenfalls ein „übergesetzlicher Notstand“ und wurde später im Infektionsschutzgesetz codifiziert und verstetigt. In der „Ukraine-Krise“ beginnt der bürgerliche Staat wieder langsam in den „Zustand des übergesetzlichen Notstandes“ abzugleiten. Der „Corona-Notstand“ gibt das Muster für alle anderen Notstände ab; der „Corona-Notstand“ war die Generalprobe für zukünftige Ausnahmezustände.

Gleichzeitig mit den Tendenzen zum „übergesetzlichen Notstand“ droht nun die Aktivierung der Notstandsgesetze weiterzugehen. Die vom US-Imperialismus inszenierten Terroranschläge am 11. September 2001 führten im Oktober 2001 zu einem einstimmig gefaßten NATO-Beschluß, den Spannungszustand auszurufen. Dieser NATO-Beschluß kann nur einstimmig aufgehoben werden, sonst bleibt er in Kraft. Die Aufhebung des Spannungszustandes ist also nur theoretisch möglich, aber nicht praktisch. Dieser Spannungszustand führte automatisch zur Aktivierung der ersten Stufe der Notstandsgesetze. Die erste Stufe der Notstandsgesetze bezieht sich auf die „Wirtschaftssicherstellungsgesetze“, d.h. auf Autorisierung der Planung einer Kriegswirtschaft. Mit der Aktivierung der Sicherstellungsgesetze hat der bürgerliche Staat das Recht und die Pflicht Planungen für eine Kriegswirtschaft voranzutreiben. Erst im Verteidigungsfall gelten alle Notstandsgesetze. Gerade in dieser Phase, wo der deutsche Imperialismus durch seine aggressive Politik gegenüber dem russischen Imperialismus seine Energieversorgung bzw. die Rohstoffversorgung im allgemeinen riskiert, wird die Planung einer Rationierung im Sinne einer Kriegswirtschaft über die „Sicherstellungsgesetze“ vorangetrieben. Diese Planungen fallen natürlich unter dem Begriff des „Staatsgeheimnisses“.

Implizit ist auch deutlich, daß, wenn der deutsche Imperialismus sich nicht mit dem russischen Imperialismus über die Währungseinheit des Öls und des Erdgases einigen kann, ob nun in Euro, US-Dollar oder Rubel fakturiert werden soll, dann wird der russische Imperialismus nicht diese strategischen Rohstoffe liefern und die Akkumulation des deutschen Kapitals wird zumindest zeitweise deutlich Einbrechen. Unter diesen Umständen ist es auch möglich, daß der deutsche Imperialismus zusammen mit dem NATO-Pakt den Krieg wagt, was dann der Beginn des Dritten Weltkrieges wäre. Eine gefährliche Situation entsteht, weil der deutsche Imperialismus sich weigert, sich deutlich gegenüber dem russischen Imperialismus zu erklären und verhindert so eine gedeihliche Zusammenarbeit. Im Gegenteil, der deutsche Imperialismus ist einer der zentralen Akteure, die den Ukraine-Krieg noch durch den antirussischen Wirtschaftskrieg forcieren. Der deutsche Imperialismus agiert derzeit widersprüchlich und ist nicht berechenbar. Deutlich ist nur, daß der russische Imperialismus als „äußerer Feind“ angesehen wird und jede Opposition gegen den transatlantischen anti-russischen Wirtschaftskrieg in Deutschland ebenfalls als „innerer Feind“ eingestuft wird, der angeblich eine enge Verbindung mit dem „äußeren Feind“ unterhält. Deshalb auch die Zensur bei dem Buchstaben Z. Eine innere Proteststimmung in Deutschland könnte den Buchstaben Z aus der russischen Propaganda-Kampagne adaptieren und in Deutschland verbreiten. Dies Szenario möchte der deutsche Imperialismus verhindern.

Eine gefährliche Zeit ist es, da der deutsche Imperialismus sich in die Ecke gedrängt sieht, der russische Imperialismus hält angeblich potentiell die deutschen Rohstofflieferungen und auch die Energielieferungen zurück und gleichzeitig bildet sich eine große Massenunzufriedenheit heraus. Die deutsche Bourgeoisie fürchtet einen Kontrollverlust nach innen und nach außen, denn es besteht auch in Deutschland die Gefahr von Revolten, wenn es zu Versorgungsengpässen und ansteigender Arbeitslosigkeit kommt. Die „Sicherstellungsgesetze“ der Wirtschaft zielen auf eine Rationierung ab, d.h. auf eine tendenzielle Gleichverteilung des Mangels ab und sind der erste Schritt in den offenen Notstand. Um die Rationierung zu realisieren, ist es dann auch notwendig, offen oder verdeckt den Repressionsapparaten des bürgerlichen Staates per Notstandsbefugnisse einen größeren Freiraum zu gewähren. Wer sich gegen die Rationierung positioniert, wird vom bürgerlichen Staat in Notstandsform als „innerer Feind“ behandelt, welcher mit dem „äußeren Feind“ in Verbindung steht. Umso mehr sich die Weltkrise, welche eine kapitalistische Systemkrise ist, zuspitzt, desto mehr flüchtet sich der deutsche Imperialismus in den Notstand. Wird nicht ausreichend Gas vom russischen Imperialismus geliefert, werden zuerst die Betriebe abgeschaltet und die privaten Haushalte weiter beliefert. Das Kapital kann seinen Energiebedarf reduzieren, wenn die Verwaltung in das „Home-Office verlegt wird. Auch hier stellt die „Corona-Krise“ bereits eingeübte gesellschaftliche Muster zur Verfügung. Mit der „Corona-Krise“ und dem „Corona-Notstand“ wurde die Rationierung und die Exekution der „Sicherstellungsgesetze“ schon tendenziell eingeübt. Auf diese gesellschaftliche passive Akzeptanz der Massen baut der bürgerliche Staat auch jetzt im Fall der „Ukraine-Krise“. Der tendenzielle Rückgriff auf den „Corona-Notstand“, der ein niedrigschwelliger Notstand war, erleichtert es, diesen „Corona-Notstand“ zu einem Notstand in anderer Form auszubauen, denn das Prinzip des Notstands wurde durch die Gewalt des bürgerlichen Staates von den Massen in der „Corona-Krise“ passiv akzeptiert. Diese passive Akzeptanz des Notstandes durch die Massen ist prekär, weil sie vom bürgerlichen Staat aufgezwungen wurde und unterschwellig ist eine Massenunzufriedenheit vorhanden. Die Massen haben nicht freiwillig in der „Corona-Krise“ Verzicht geübt, sondern wurden dazu vom bürgerlichen Staat gezwungen; sie versuchen jederzeit diesen Verzicht abzuwerfen und nur die eiserne Faust des bürgerlichen Staates im Ausnahmezustand verhindert eine offene Rebellion gegen den aufgezwungenen Verzicht. Umso tiefer die Krise ist, desto härter der aufgezwungene Verzicht, desto härter die eiserne Faust des bürgerlichen Staates. Eine Politik der Rationierung schafft in den Massen großen Unmut. Je tiefer und breiter die Rationierungspolitik betrieben wird, desto größer Unmut, umso härter muß der bürgerliche Staat reagieren, auch präventiv, wenn er diese Rationierungspolitik realisieren will.

Notstand heißt konkret „Freund/Feindbestimmung. Im Notstand gibt es keine Unentschiedenheit, keine Indifferenz, da gibt es keine Opposition, sondern nur den „Freund“ oder den „Feind“. Da gibt es nur „Sieg“ oder „Niederlage“, aber es gibt kein „Kompromiß“, da gibt es keine „Partnerschaft“, sondern nur „Freundschaft“ oder „Feindschaft“. Der Notstandsblick des Kapitals auf die Arbeiterklasse ist entscheidend und nicht so sehr das objektive gegenwärtige Verhalten der Arbeiterklasse, sondern das potentielle Verhalten der Arbeiterklasse durch den Notstandsblick des bürgerlichen Staates in Notstandform. So wird dann auch das bisherige problemlose Verhalten der Arbeiterklasse im neoliberalen Akkumulationsregime jetzt zum Problem, wo das neoliberale Akkumulationsregime in sich zusammengebrochen ist und der multipolare Weltmarkt seinen Aufstieg erlebt. Das Kapital benötigt nun eine nationalliberal zu- und abgerichtete Arbeiterklasse, welche für den multipolaren Weltmarkt kompatibel ist und wird über den Notstand, beginnend mit dem Corona-Notstand, umerzogen und dabei das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse qualitativ abgesenkt. Bei der „Freund/Feind-Kennung“ ist der „Freund“ derjenige, welcher den Verzicht der Arbeiterklasse befürwortet und auch hinter dem Notstand steht. Der „Feind“ hingegen ist derjenige, welcher den Verzicht der Arbeiterklasse ablehnt, wie auch den Notstand, d.h. der Feind ist derjenige, welcher auch die parlamentarisch-demokratische Form des bürgerlichen Staates gegen den bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) verteidigt. Auch bürgerliche Demokraten geraten dann ins Visier des Notstandsstaates. Der Notstandsstaat richtet sich nicht nur gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung, sondern auch gegen den organisierten Reformismus oder kleinbürgerliche Strömungen, welche die Nähe zur Arbeiterklasse suchen. Auch diese nichtrevolutionären Strömungen aus der Arbeiterklasse oder dem Kleinbürgertum werden vom Notstandsstaat als „Feind“ geführt. Ein „Feind“ ist jeder, der sich dem neuen nationalliberalen und multipolaren Weltmarkt nicht unterwirft oder unterwerfen kann. Die Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft umfaßt nur „freundlich“ eingestellte Lohnarbeiter, während die als „Feind“ gekennzeichneten Lohnarbeiter aus den Reihen der Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft ausgestoßen werden. Eine Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft ist immer eine Leistungsgemeinschaft. Wer nichts „leistet“, wer nicht Ausbeutungsmaterial für das Kapital ist, gehört nicht zur Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft, d.h. auch, wer objektiv nicht mehr als Ausbeutungsmasse für das Kapital eingesetzt werden kann, weil die Ware Arbeitskraft bereits für das Kapital vernutzt wurde, wird aus der Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft ausgestoßen. Dies betrifft konkret dauerhaft Erkrankte, Behinderte etc. Ihnen droht der Ausschluß aus der Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft und damit in letzter Konsequenz die Euthanasie, deren Weg durch das Bundesverfassungsgericht im Dezember 2021 geebnet wurde, als es unter dem Tarnbegriff Triage eine demokratisch-soziale Euthanasie ermöglichte. Der „Feind“ der Volksgemeinschaft/formierten Gesellschaft behindert die Akkumulation von Kapital, stellt eine „überflüssige“ Bevölkerung dar, welche reduziert werden muß. Das Kapital will auf diese „Überschußbevölkerung“ verzichten. Dem gesellschaftlichen und politischen „Feind“ droht eine Sonderbehandlung, auch in der Rationierung. In letzter Konsequenz reproduziert sich auch in einer Rationierungspolitik die „Freund/Feind-Kennung.

Der „Feind“ gefährdet die „nationale Sicherheit“ des bürgerlichen Staates, der bürgerlichen Gesellschaft, entweder passiv durch seine unproduktive Existenz für das Kapital, indem dieser „passive Feind“ die Akkumulation des Kapitals behindert, oder aktiv, indem der „Feind“ offensiv und politisch die kapitalistische Produktionsweise in Frage stellt. Diese Subversiven sind für das Kapital der Hauptfeind. Der „passive Feind“ kann ohne großen Widerstand dezimiert werden, während der „aktive Feind“ potentiell erfolgreich Widerstand leistet. Das Zentrum der Repression des bürgerlichen Staates wird auf den „aktiven Feind“ gelegt. Ein „aktiver Feind“ muß nicht konkret aktiv sein, sondern es reicht schon aus, nur ein potentiell „aktiver Feind“ zu sein, d.h. wenn der bürgerliche Staat, wenn das Kapital, eine Person als „Sicherheitsrisiko“ einstuft. Dann gilt das Verdikt „politisch unzuverlässig“ und es droht in letzter Konsequenz das Berufsverbot. Ein „Sicherheitsrisiko“ ist ein versteckter Feind. Die Zahl der „offenen“ Feinde ist leichter zu bestimmen als die Zahl der „versteckten“ Feinde. Ein „Staatsfeind“ beginnt da, wo auch nur ein wenig deutlich von der veröffentlichten Meinung des Kapitals abgewichen wird. Schon jetzt sind Überwachungsstaat und die Überwachungsgesellschaft real und diese Überwachungs- und Kontrolldispositive werden weiter ausgebaut und immer mehr präventiv eingesetzt, um schon im Ansatz jeden proletarischen Widerstand zu zerschlagen. Um ein „Sicherheitsrisiko“ aufzudecken veranlassen der bürgerliche Staat und das individuelle Kapitalkommando formelle oder informelle „Sicherheitsüberprüfungen“ der aktiven Arbeiterarmee und auch der industriellen Reservearmee. Es drohen dann Entlassungen, Versetzungen und Berufsverbot, wenn Lohnarbeiter auf diesen Schwarzen-Listen des Kapitals oder des bürgerlichen Staates verzeichnet sind. Diese Schwarzen Listen der Bourgeoisie sind eine Gemeinschaftsarbeit zwischen dem bürgerlichen Staat und dem individuellen Kapitalkommando durch Datenaustausch. Es gilt, die widerständigen proletarischen Kerne aus den Betrieben und Staatsapparaten herauszusäubern, vor allem aus den Kernbelegschaften. Tendenziell fallen „Betriebssicherheit“ und „Staatssicherheit“ zusammen, ebenso das „Betriebs- und Geschäftsgeheimnis“ mit dem „Staatsgeheimnis“. Der autoritäre Sicherheitsstaat ist eine tendenzielle Verschmelzung von privaten Sicherheitsapparaturen mit den administrativen Sicherheitsapparaturen des bürgerlichen Staates. Es setzt eine innere Militarisierung der bürgerlichen Gesellschaft ein. Befehl und Gehorsam bekommen wieder ihren alten und traditionellen Stellenwert in der bürgerlichen Gesellschaft zurück. Äußerungen von Kritik oder Fragen zu bestimmten Themenkomplexen, die als „Tabuthemen“ ausgewiesen werden, fallen unter die Repression. Die vielfältigen Formen der Zensur halten tief in den proletarischen Klassenalltag Einzug mit dem Zweck der Optimierung der Selbstzensur, der Schere im Kopf. Es darf nicht mehr nicht-konform gehandelt werden, sondern es darf auch nicht nicht-konform gedacht werden. Ein zunehmend militarisierter Alltag soll akzeptiert und verinnerlicht werden, bis er zum Instinkt wird.

Konkret wird dies bei der Jagd des bürgerlichen Staates auf den Buchstaben Z. Das russische Militär kennzeichnet seine großen Waffen im Ukraine-Krieg mit verschiedenen lateinischen Buchstaben. Z, V, O etc. Dies hat militärische Gründe. Der russische bürgerliche Staat begann dann den Buchstaben Z zu politisieren und in ein politisches Symbol für die patriotische Zustimmung zum Ukraine-Krieg in Rußland umzufunktionieren. Dieses Symbol Z taucht auch in Deutschland ein wenig auf und versetzt die deutsche Bourgeoisie in Panik. Das deutsche Kapital sieht in dem Buchstaben Z ein Symbol für die Zustimmung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und will dieses Zeichen unter Strafe stellen. Doch der Buchstabe Z ist nur ein abstraktes Zeichen und damit mehrdeutig. Es kann die Unterstützung für den russischen Krieg in der Ukraine gemeint sein, es kann aber auch was ganz anderes gemeint sein, z.B. der Roman- und Filmheld Zorro. Da wird sich dann die bürgerliche Klassenjustiz blamieren, wenn sie noch eine parlamentarisch-demokratische Klassenjustiz ist. Gilt ein Sonderrecht, wird im Sinne des bürgerlichen Notstandsstaates abgeurteilt. Die Staatsräson ist konkret der übergesetzliche Notstand des Kapitals, ist der offen oder nicht offen erklärte Ausnahmezustand. Wer über die Staatsräson entscheidet, ist der eigentliche Souverän oder wie es Carl Schmitt sinngemäß niederschrieb: „Souverän ist der, welcher über den Ausnahmezustand entscheidet. Im Ausnahmezustand, gar auf seiner höchsten Stufe, dem Kriegsrecht, gilt dann das Standrecht. Dort ist praktisch die Beweispflicht umgekehrt. Doch auch in der parlamentarisch-demokratischen Form der bürgerlichen Klassenjustiz gibt es den Paragraphen 129 a-Bildung einer terroristischen Vereinigung-mit dem jedes außerparlamentarische Handeln belangt werden kann, gibt es die Staatsschutzkammer der BRD-Klassenjustiz, welche ohne weiteres im Sinne der herrschenden Klasse der BRD über das Zeichen Z befinden wird. Die Jagd des BRD-Staates auf den lateinischen Buchstaben Z zeigt die Verunsicherung des deutschen Imperialismus auf und seine Angst, daß der Buchstabe Z in Deutschland eine andere politische Bedeutung bekommen könnte, der Buchstabe Z als Zeichen des Protestes gegen die aggressive und repressive Deflationspolitik des deutschen Kapitals; ein Protest gegen eine politische Schock-Politik, welche bewußt die Energiezufuhr des deutschen Kapitals aufs Spiel setzt und bewußt einen ökonomischen Zusammenbruch riskiert, damit die deutsche Bourgeoisie wieder ihren historischen „Sonderweg“ beschreiten kann. Es gibt Tendenzen im deutschen Kapital, die nun auf einen radikalen Bruch in der Zusammensetzung des deutschen Kapitals und in der Zusammensetzung der Arbeiterklasse abzielen, nachdem der neoliberale Weltmarkt zusammengebrochen ist, denn an diesem war das deutsche Kapital und die Arbeiterklasse ausgerichtet. Der multipolare Weltmarkt zerbricht den neoliberalen Status quo und der deutsche Imperialismus könnte sich neuformieren und versuchen, sich im multipolaren Weltmarkt an die Spitze zu setzten, indem er über eine Schock-Politik eine radikale Neuzusammensetzung von Kapital und Arbeiterklasse durchsetzt. Diese Schock-Politik würde die EU und auch die Euro-Zone zerstören, wie auch den NATO-Pakt, welche dann durch ein deutsches Mitteleuropakonzept ersetzt werden könnte. Dies wäre dann der Großangriff auf die Arbeiterklasse. Die Schuld an dieser Entwicklung könnte der deutsche Imperialismus eben dem russischen Imperialismus anlasten, welcher vom deutschen Kapital zum „äußeren Feind“ aufgebaut wurde. Das deutsche Kapital würde sich öffentlich die Hände in Unschuld waschen und die Schock-Politik als alternativlos bezeichnen. Eine Schock-Politik würde Folgen zeitigen, wie man nach dem Zusammenbruch der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten Osteuropas beobachten konnte, eine gewaltige absolute Verelendung der Arbeiterklasse, gesichert durch den Notstandsstaat.

Diese Schock-Politik ist deshalb eine realistische Alternative für den deutschen Imperialismus, weil mit dem Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes auch die Welt von Jalta und Potsdam zusammengebrochen ist. Der 22. Februar 2022 markiert konkret nicht nur das Ende des neoliberalen Weltmarktes und der neoliberalen, US-gestützten Weltordnung, sondern auch das Ende von Jalta und Potsdam. Ein Epochenbruch. Der multipolare Weltmarkt und die multipolare Weltordnung ähneln eher der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von 1900-1945, die Zeit der beiden imperialistischen Weltkriege, als dem Kapitalismus der „Nachkriegszeit“ von 1945-1989 und erst Recht der neoliberalen Epoche des Kapitalismus von 1989 bis 2022. Auch die neoliberale Epoche des Kapitalismus von 1989 bis 2022 baute auf Jalta und Potsdam auf, daran änderte der Zusammenbruch des bürokratisch entarteten Arbeiterstaates Sowjetunion auch nichts. Aber mit dem Jahr 2022 verschwindet auch der Pfeiler der Teheran-Jalta-, Potsdam Abkommen und damit die „Nachkriegsordnung“ Die jetzige multipolare Weltordnung ab dem Jahr 2022 ist tendenziell eine „Vorkriegsordnung“. Diese post-Teheran-Jalta-Potsdam „Vorkriegsordnung“ ist die materielle Basis für die Möglichkeit einer Schock-Politik des deutschen Imperialismus, welche objektiv auf den „deutschen Sonderweg“ von 1871 bis 1945 führt und zielt. Der Bruch in der Akkumulationsweise kann den deutschen Imperialismus zum Bruch mit seinen transatlantischen Bindungen veranlassen; der Bruch mit Rußland als ersten Schritt zum Bruch mit dem US-Imperialismus und der transatlantischen Orientierung überhaupt. So kann der Bruch des deutschen Imperialismus mit dem russischen Imperialismus auch dazu führen, daß der deutsche Imperialismus mittelfristig seine transatlantischen US-Fesseln abwirft und wieder auf die traditionelle Ost-West Schaukelpolitik zurückgreift. Konkret heißt dies dann Mitteleuropa, bzw. Kerneuropa statt EU und Eurozone oder NATO-Pakt. Der vom US-Imperialismus organisierte transatlantische Wirtschaftskrieg gegen den russischen Imperialismus ist ein qualitativer Bruch und fällt mit dem qualitativen Bruch des neoliberalen Akkumulationsregimes tendenziell zusammen und diese Politik des US-Imperialismus ist nicht risikolos, denn es ist offen, ob der deutsche Imperialismus seine transatlantischen Bindungen beibehält oder ob die Krisenlasten und die Revolten den deutschen Imperialismus dazu zwingen, die Flucht nach vorn, aus den transatlantischen Bindungen hinein in den „deutschen Sonderweg“ zu wagen. In den bürgerlichen Medien wird immer mehr eine qualitative Aufrüstung gefordert, auch mit deutschen Atomwaffen, denn die USA, Frankreich und Britannien mit ihren Atomwaffen gelten als unsicher. Die Konsequenz einer Schock-Politik des deutschen Kapitals wäre die deutsche Atombewaffnung, welche sich objektiv gegen Rußland, die USA, Frankreich und Britannien richten würde. Hingegen der russische Imperialismus bezieht sich nun offen auf Eurasien, d.h. auch, daß für den russischen Imperialismus Europa von Lissabon bis Wladiwostock reicht und damit Westeuropa und auch Mitteleuropa ein Teil Eurasiens ist. Dies impliziert eben den Ausschluß der USA aus Europa. Während der US-Imperialismus und seine Verbündeten versuchen den russischen Imperialismus aus Europa auszuschließen, versucht der russische Imperialismus und China über das Konzept Eurasien den US-Imperialismus aus Europa auszuschließen. Der deutsche Imperialismus marschiert dabei im Moment mit im transatlantischen Fahrwasser des US-Imperialismus, behält sich aber vor, die transatlantische Konzeption oder die eurasische Konzeption mit einer deutschen Mitteleuropa-Konzeption zu bereichern. Mitteleuropa, bzw. Kerneuropa als „neutraler“ Schiedsrichter und Angelpunkt zwischen transatlantischen und eurasischen Bestrebungen. Noch ist alles im Fluß, die multipolare imperialistische Konfrontation ist erst in den Anfangsstadien. Der US-Imperialismus spricht in erster Linie für sich, für sein „nationales Interesse“ und nicht für die transatlantischen Metropolen überhaupt. Auch der deutsche Imperialismus hält sich derzeit an den US-Imperialismus, aber aus eigenen „nationalen Interessen“. Zu keinem Zeitpunkt hat der deutsche Imperialismus den russischen Imperialismus als gleichrangig akzeptiert, d.h. der russische Imperialismus wurde in seinen Handlungsmöglichkeiten wieder einmal vom deutschen Imperialismus unterschätzt. Für den deutschen Imperialismus war der russische Imperialismus nur ein austauschbarer Rohstofflieferant. Nun muß der deutsche Imperialismus sich der Tatsache stellen, daß die Rohstoffe aus dem Bereich des russischen Imperialismus nicht ohne weiteres substituiert werden können und der Versuch der Substitution dieser Rohstoffe die inflationären Tendenzen antreibt. Erst nach dieser imperialistischen Konfrontation in der „Ukraine-Krise“, wird der deutsche Imperialismus den russischen Imperialismus als ebenbürtig ansehen. Im Moment gehen die Interessen des US-Imperialismus und des deutschen Imperialismus in der „Ukraine-Frage“ zusammen, doch auf Dauer werden sich auch hier die Interessen trennen und zu einem deutsch-US-amerikanischen Gegensatz werden.

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Mit dem „Ukraine-Krieg“ sieht sich plötzlich die deutsche Bourgeoisie in der Position der Schwäche wieder. Die Ausdehnung des NATO-Paktes und EU nach Osten ist gebrochen. Deshalb strebt der deutsche Imperialismus einen qualitativen Bruch mit dem russischen Imperialismus an, indem eine dauerhafte Abkehr von russischen Rohstoffen versucht wird, eine antirussische Autarkie. Diese antirussische Autarkie kann nur tendenziell erfolgreich sein, denn der Machtbereich des russischen Imperialismus ist weltweit gegeben und nicht auf Rußland beschränkt, z.B. gewinnt der russische Imperialismus und auch China in Afrika an Einfluß. Jedoch geht immer auch eine tendenzielle antirussische Autarkie auf Kosten des Reproduktionsniveaus der Arbeiterklasse. Die Kosten der De-Globalisierung werden der Arbeiterklasse aufgebürdet. Mit dieser Politik der De-Globalisierung versucht sich der deutsche Imperialismus an die Spitze dieser Entwicklung zu setzten, während bisher der deutsche Imperialismus ein eifriger Verteidiger des neoliberalen Status quo war. Der deutsche Imperialismus eskaliert den Konflikt mit dem russischen Imperialismus zentral aus imperialistischen Eigeninteresse, aus „nationalem“ Interesse, d.h. der deutsche Imperialismus ist kein Vasall des US-Imperialismus, sondern derzeit in der Ukraine-Krise laufen die Interessen des US-Imperialismus und des deutschen Imperialismus parallel. Da der deutsche Imperialismus bei einem plötzlichen Zusammenbruch des Weltmarktes und der Weltordnung und einem Sturz ins Chaos sehr gefährdet ist, akzeptiert der deutsche Imperialismus auch die Vorherrschaft des US-Imperialismus, denn bis jetzt kann nur dieser dem russischen Imperialismus und China militärisch die Stirn bieten. Umso mehr der deutsche Imperialismus aufrüstet, desto weniger benötigt der deutsche Imperialismus den Schutz des US-Imperialismus. Doch bis dahin vergeht Zeit. Bis dahin wird der US-Imperialismus noch benötigt. Es sind die eigenen imperialistischen Interessen des deutschen Imperialismus gegen den russischen Imperialismus und gleichzeitig gegen die Arbeiterklasse, welche eine hohe relativ verselbständigte Eskalationsdynamik hervorbringen. Es dehnen sich die Waffenlieferungen des deutschen Imperialismus und der anderen transatlantischen Metropolen immer weiter aus, verselbständigen sich und drohen objektiv damit diese transatlantischen Metropolen, wie auch den deutschen Imperialismus, zur Kriegspartei zu transformieren und so in einen Krieg mit dem russischen Imperialismus zu treiben. Gleichzeitig nehmen die Krisentendenzen in der EU zu und der französische Imperialismus ist nicht mehr bereit, sich ohne weiteres unter dem deutschen Imperialismus zu unterwerfen, was die Spannungen in der Eurozone weiter anfacht. Jeder gegen jeden, alle gegen alle, die alten Bündnisstrukturen beginnen zu zerfallen.

Aus diesem Grunde nimmt sukzessive die Repression in Deutschland immer mehr zu. Die Jagd nach dem Buchstaben Z ist nur ein Symbol und der Auftakt zur großen Treibjagd gegen die „Nichteinverstandenen“. Ohne weiteres wird der deutsche bürgerliche Staat auch jeden anderen Buchstaben jagen und verbieten, bzw. jedes andere Zeichen, welches für eine Kritik an der derzeitigen Deflations-und Notstandspolitik steht. Vor allem deshalb, weil das deutsche Kapital durchaus bereit ist, in der Konfrontation mit dem russischen Imperialismus seine Energiezufuhr, wie auch Rohstoffzufuhr im allgemeinen, aus Spiel zu setzten. Die Verbotspolitik gegenüber den Buchstaben Z ist präventiv und selbst ein Zeichen für die präventive Repression, welche der Arbeiterklasse angedroht wird. Wer den Buchstaben Z veröffentlicht und wenn „nachgewiesen“ werden kann, daß dies als Unterstützung des russischen Angriffskrieges dient, erhält hohe Geldstrafen oder Ersatzweise eine Gefängnisstrafe von drei bis fünf Jahren. Mit dieser Repression und der unklaren und unbestimmten Gesetzeslage soll jeder abgeschreckt werden, gegen die Deflationspolitik des deutschen Imperialismus Widerstand zu leisten. Wenn schon die Verbreitung eines Buchstabens, hier des Buchstabens Z, mit hohen Strafen belegt wird, kann man sich die Strafen für andere Widerstandhandlungen gut vorstellen. Es geht dem bürgerlichen Staat um Abschreckung und zeigt die Angst der Bourgeoisie an, die Kontrolle über die krisenhafte Bewegung der Akkumulation zu verlieren. Die antirussischen Sanktionen zielen vor allem auf die Arbeiterklasse, denn sie wird durch die Repression eingeschüchtert, da auch bei Angehörigen der Lohnarbeiterklasse mit russischer oder belarussischer Staatsangehörigkeit versucht wird, die antirussischen Finanzsanktionen anzuwenden. Diese antirussischen Finanzsanktionen richten sich nicht unbedingt gegen das russische oder belarussiche Kapital, sondern zielen auf die einzelnen Staatsangehörigkeiten im allgemeinen und damit auch auf die Angehörigen der Lohnarbeiterklasse. Je mehr die internationale Lage eskaliert, der transatlantische Wirtschaftskrieg eskaliert, desto mehr eskalieren die antirussischen Sanktionen auch die Repression gegen die Arbeiterklasse in Deutschland. Auch die deutsche Staatsbürgerschaft hilft nicht dabei, denn es wird auch auf die Herkunft und den Verbindungen nach der ehemaligen Sowjetunion abgestellt (der Fall Heckler&Koch, wo Lohnarbeiter wegen ihrer Herkunft aus „Sicherheitsgründen“ an andere Arbeitsplätze versetzt worden sind). Damit existiert schon in Ansätzen eine allgemeine Form von „Sicherheitsüberprüfungen“, welche im Gleichschritt mit der Verschärfung der Weltlage und der kapitalistischen Systemkrise ebenfalls verschärft werden. Zuerst zählt nur die bürokratische Kategorie „Staatsbürgerschaft“ eine Rolle, später dann die Kategorie der „Herkunft“ und „Religion“ etc. Immer mehr bürokratische Kategorien werden zur „Sicherheitsüberprüfung“ herangezogen, deren Ziel es ist, die „politische Loyalität“ zum deutschen Imperialismus im allgemeinen und der „Loyalität“ zum konkreten Kapital zu prüfen. Erst trifft es nur Lohnarbeiter mit anderer Staatsangehörigkeit, später trifft es alle Lohnarbeiter, d.h. auch alle Lohnarbeiter mit deutscher Staatsangehörigkeit. Die Bedrohung durch die Repression des bürgerlichen Staates durchdringt immer mehr Poren der bürgerlichen Gesellschaft.

Das blinde Festhalten am neoliberalen Status quo hat der deutschen Bourgeoisie nichts genutzt. So wurde deutsche imperialistische Bourgeoisie von der historischen Entwicklung überrascht und ist orientierungslos. Das deutsche Kapital hat sich derart in den neoliberalen Weltmarkt eingerichtet, daß es ihm nicht in den Sinn kam, daß auch der neoliberale Weltmarkt endlich ist. Der neoliberale Weltmarkt hatte seit dem Zusammenbruch der Wall Street im September 2008 jede Dynamik verloren und verfaulte. Deshalb hat die deutsche imperialistische Bourgeoisie keinen Plan B für den multipolaren Weltmarkt und muß diesen erst einmal widerwillig akzeptieren, wird jedoch nach einiger Zeit sich auch in diesem einrichten. Kurzfristig jedoch agiert das deutsche Kapital orientierungslos und widersprüchlich. Das einigende Band innerhalb des deutschen Kapitals ist der Rückgriff auf die Repression und auch auf den Notstandsstaat. Im Notstandsstaat können sich alle Fraktionen des deutschen Kapitals wiederfinden, d.h. konkret, daß die Kosten der Krise die Arbeiterklasse tragen soll und notfalls wird dies mit der Repression des Notstandsstaates erzwungen.

Auf Basis eines breiten Konsens innerhalb der herrschenden Klasse könnte auch eine Schock-Politik realisiert werden, welche schlagartig in kurzer Zeit die Akkumulation lahmlegt und eine radikale Deflationspolitik zur Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse die Tore öffnet. Dies wäre konkret dann gegeben, wenn der deutsche Imperialismus sich weigert, seine Energielieferungen aus Rußland in Rubel zu begleichen. In diesem Fall wird kein Gas und kein Öl aus Rußland an Deutschland geliefert und die deutsche Akkumulation bricht zusammen. Energie, hier vor allem Gas, müßte dann rationiert werden, zuerst die Industrie, dann die privaten Haushalte. Es käme notwendig zur einer großen Zunahme der Kurzarbeit mit anschließender Massenarbeitslosigkeit durch Massenentlassungen und gleichzeitig zu einem noch höheren Preisauftrieb in der ersten Phase des gesellschaftlichen Schocks, bevor eine deflationäre Entwicklung einsetzt. Für die Arbeiterklasse bedeutet dies eine große absolute Verelendung und diese tiefe soziale Krise wird gleichzeitig in eine tiefe politische Krise umschlagen, welche die Fundamente des deutschen Imperialismus tief erschüttern kann. Eine riskante Politik des deutschen Kapitals, dennoch wird diese diskutiert. Das deutsche Kapital läßt viel Zeit verstreichen, ob es sich für die Sicherung der strategischen Rohstoffzufuhr entscheidet oder aber zuvor eine Schock-Politik den Vorzug gibt, d.h. das deutsche Kapital ist durchaus bereit für die Exekution einer Schock-Politik, die ein politischer Blitzkrieg gegen die Arbeiterklasse ist. Eine Schock-Politik und der Ausnahmezustand gehen Hand in Hand und dies bedeutet dann die gänzliche Zerstörung aller Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus einschließlich der proletarischen Massenorganisationen, allen voran die Gewerkschaften. Eine Schock-Politik würde auch die relative Tarifautonomie der Gewerkschaften zerstören. In einem „Energienotstand“ fallen tendenziell Notstand und deflationäre Schock-Politik zusammen. Die Drohung mit einem „Energienotstand“ ist selbst schon ein Moment einer Schock-Politik. Entweder die Arbeiterklasse und hier besonders die Gewerkschaften sind bereit „freiwillig“ Konzessionen dem Kapital zu unterbreiten oder es kommt dann zu einer Schock-Politik. Das Kapital und der bürgerliche Staat setzten mit der Drohung eines „Energienotstandes“ die DGB-Bürokratie deutlich unter Druck. Die DGB-Bürokratie soll einen deutlichen Reallohnverlust etc. akzeptieren, wie auch andere Rechte abgeben und dem „ökologisch-autarken“ Umbau des deutschen Imperialismus, der zu Lasten der Arbeiterklasse geht, keinen Widerstand entgegensetzen, ansonsten würde das Kapital auf den „Energienotstand“ zugrückgreifen. Hingegen wird die DGB-Bürokratie alles versuchen, einen „Energienotstand“ durch Kapitulation vor dem Kapital abzuwenden, statt den massenhaften Widerstand gegen den „Energienotstand“ zu organisieren. Das Kapital wird versuchen die DGB-Gewerkschaften als Arbeitsfronten in den bürgerlichen Staat einzubauen. Sollte sich die DGB-Bürokratie dem verweigern, steht die offene Zerschlagung der Gewerkschaften für das Kapital im Raum. Seit dem „Corona-Notstand“ hat sich die deutsche imperialistische Bourgeoisie immer weiter radikalisiert, hat am Notstand einen Gefallen gefunden. Ab dem Zeitpunkt der Exekution des „Corona-Notsandes“ geht der deutsche Imperialismus immer aggressiver im Außenverhältnis und immer repressiver im Innenverhältnis gegen die „Feinde“ vor. Der deutsche Imperialismus kennt keine „Partner“ und keine Opposition mehr, sondern nur noch „Freund“ und „Feind“ und schreckt dann auch vor keiner Schock-Politik zurück. In den bürgerlichen Medien und in den ideologischen Staatsapparaten wird eine ideologische Aufrüstung in Richtung Dritter Weltkrieg betrieben. Die Psychologische Kriegsführung dient der massenpsychologischen Mobilisierung für den Dritten Weltkrieg bzw. für den „Energienotstand“. Dann kann die Schock-Politik zumindest passiv tendenziell verankert und als alternativlos ausgegeben werden. Auch ein „Energienotstand“ bedarf einer gewissen Massenlegitimation. Wenn der deutsche Imperialismus sich den notwendigen Rubelzahlungen für Öl und Gas verweigert, wird Öl und Gas nicht vom russischen Imperialismus geliefert. Bei Einstellung der Öl- und Gaslieferungen wird der „Energienotstand“ ausgerufen und dem russischen Imperialismus die Schuld zugewiesen. Die ideologische Aggression gegen Rußland wird noch einmal gesteigert und auf ein qualitatives höheres Niveau gehoben. Wer sich dann in Deutschland nicht der allgemeinen Rationierung durch den „Energienotstand“ unterwirft, gilt dann sofort als „innerer Feind“ der sein Vaterland zugunsten des äußeren Feindes, Rußland, verrät. Der Haß auf den „äußeren Feind,“ soll die eskalierenden Widersprüche im inneren des deutschen Imperialismus reduzieren und auf den „äußeren Feind“ umlenken, soll die „Nation“ einen. Jedoch steht der Hauptfeind im eigenen Land. Für die Probleme des deutschen Imperialismus ist der deutsche Imperialismus selbst zentral verantwortlich und kann die Verantwortung für seine Taten nicht auf einen „äußeren Feind“ abschieben. Der bürgerliche Staat und das Kapital werden präventiv versuchen, diesen Widerstand auszuschalten und deshalb auch niedrigschwellig jede kleinste Abweichung von der Position der Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft repressiv verfolgen, jede kleinste Abweichung als ein Beweis der Existenz des „inneren Feindes“ sehen.

Die „nationale Sicherheit“ muß gegenüber den „äußeren und inneren Feinden“ verteidigt werden. Jede kleinste Abweichung vom Meinungskorridor der Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft ist ein Angriff auf die „nationale Sicherheit“ bzw. „Staatssicherheit“ und muß scharf verfolgt werden. Der Verzicht, den der bürgerliche Staat in Notstaatsform der Arbeiterklasse auferlegt, hat diese ohne Murren zu akzeptieren. Wer sich dem Verzicht verweigert, wird automatisch zum „Sicherheitsrisiko“ und zum „Gefährder“, denn dann wird die „Staatssicherheit“ schon potentiell bedroht und die „nationale Sicherheit“ ist gefährdet. Je tiefer die Krise, desto härter die Repression. Schon bisher normales Verhalten kann die „nationale Sicherheit“ gefährden. Eine Gefahr für die „Staatssicherheit“ bzw. für das multipolare Akkumulationsregime ist die durchschnittliche Mentalität des neoliberalen Akkumulationsmodells und damit auch die proletarische Mentalität und „Identität“ der Arbeiterklasse, die auch im neoliberalen Akkumulationsregime noch einen kleinen Freiraum hatte. Der proletarische Eigensinn, auch im neoliberalen Akkumulationsregime, ist der Feind des Kapitals und dieser ist auch ein Feind im multipolaren Kapitalismus. Nun mutiert der proletarische Eigensinn aus dem multipolaren Blick des Kapitals als „Bedrohung der nationalen Sicherheit“. Die proletarische „Identität“, die immer eine Identität in der Nicht-Identität ist, muß zur Gänze zerstört werden, indem die Betriebe militarisiert werden. Dann müssen auch die Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus gänzlich geschliffen werden, denn nur dann kann sich ein militarisierter Kapitalismus, militarisierter Imperialismus ausdehnen. Aus diesem Grunde wäre ein Generalangriff des Kapitals vermittels Schock-Politik eine Möglichkeit dieses Problem im Sinne der Ausbeutung zu lösen. Unter dem Label eines „Energienotstands“ wird mit einer Schock-Politik gedroht.

Der multipolare Kapitalismus definiert sich durch die „Freund-Feind“ Erkennung und damit zentral durch die Uniformierung. Uniformierung heißt Gleichschaltung und umgekehrt. Es soll das individuelle und kollektive Verhalten formiert werden, dies ist auch die Aufgabe der ideologischen Staatsapparate des bürgerlichen Staates und der bürgerlichen Medien, welche mit den ideologischen Staatsapparaten enge Fühlung unterhalten. Die formierte Gesellschaft, die Volksgemeinschaft, duldet keine Opposition, sondern kennt nur Freund oder Feind, das Verhalten und auch die Gedanken werden einer Uniformierung unterzogen. In der „Nation“ kommt die Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft zu sich selbst und der bürgerliche Staat, auch und gerade in der Form des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) ist der Repräsentant der „Nation.“ Das Kapital stellt in seiner Politik auf die „Nation“ ab. Die Individuen, wie die gesellschaftlichen Kollektive, besonders die Gewerkschaften, sollen sich der „Nation“ unterwerfen, sie haben keine Rechte gegenüber der „Nation“, sondern nur noch „Pflichten“ gegenüber der „Nation“, d.h. sie werden nur noch geduldet, aber nicht akzeptiert. Jedoch hinter der „Nation“ verbirgt sich die ganz normale kapitalistische Ausbeutung. Die Betonung der „Nation“ soll autoritär die kapitalistische Klassenspaltung vergessen machen und eine Gleichheit suggerieren, die real nicht existiert. Solange die kapitalistische Klassenspaltung existiert, kann es keine soziale und somit politische Gleichheit geben. Die „nationalen Interessen“ des Kapitals verhalten sich antagonistisch zu den Klasseninteressen des Proletariats und damit auch gegenüber der „nationalen Sicherheit“. Die „nationale Sicherheit“ ist die Sicherheit für das Kapital, damit die Ausbeutung garantiert ist. Für das Proletariat ist die „nationale Sicherheit“ eine zentrale Bedrohung, denn sie steht für ein verschärftes Ausbeutungsregime. Will die Arbeiterklasse ihr gesellschaftlich notwendiges Reproduktionsniveau verteidigen, müssen die „nationalen Interessen“ des Kapitals bedroht werden, erst dann wird entlang der Klassenlinien gespalten. Dem Klassenfeind muß die Einheitsfront der Arbeiterklasse entgegengesetzt werden.

Das Kapital stellt die Gewerkschaftsbürokratie, welche die Gewerkschaften beherrscht, vor die Wahl, entweder Einbau in den bürgerlichen Staat, auch in eine der Formen des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) mit einer Tendenz zur Arbeitsfront oder Einstufung als „Feind“, z.B. als Terrororganisation, welche auch offen terroristisch zerschlagen werden kann. Die relative Tarifautonomie der Gewerkschaften, welche in der Agenda 2010 vermittels Hartz IV und Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen erheblich eingeschränkt wurde, wird noch weiter eingeschränkt. Die Gewerkschaften sollen sich immer mehr dem „Wohl der Nation“ und das heißt dem „Staatswohl“ verpflichten, dann dürfen sie materiell weiterhin existieren. Verweigern sich die Gewerkschaften diesem Diktat, wird der bürgerliche Staat in der Form des Notstandsstaates die Gewerkschaften zerstören, wenn nicht die Massen ihre eigene Organisation verteidigen. Die relative Tarifautonomie der Gewerkschaften kann nur durch die Arbeiterklasse, nur durch die Gewerkschaftsbasis selbst, verteidigt werden, denn die Gewerkschaftsbürokratie sorgt sich nur um ihre bürokratische Existenz und ist aus sich selbst heraus bereit zu kapitulieren, wie sie auch vor der Agenda 2010 und Hartz IV kapituliert hat. Jedoch hat diese Kapitulationspolitik der letzten Jahre seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2007/2008 dazu geführt, daß die Gewerkschaften zersetzt wurden; die Entfremdung zwischen der Gewerkschaftsbasis und der Lohnarbeiterklasse auf der einen Seite und der Gewerkschaftsbürokratie auf der anderen Seite, wurde immer größer und beginnt die Gewerkschaften von innen zu zersetzten. Die Kapitulationspolitik hat zur Folge, daß die Massen das Vertrauen in ihre eigene Organisation verlieren und sich von ihr abwenden bzw. passiv bleiben. Die Schwäche der Gewerkschaften nutzt der bürgerliche Staat in Notstandsform aus und treibt die Gewerkschaftsbürokratie immer weiter in die Enge und die Gewerkschaftsbürokratie unterwirft sich immer tiefer dem Diktat des Kapitals. Ein erneuerter Tiefpunkt stellt der Ukraine-Krieg dar, wo die Gewerkschaftsbürokratie der großen deutschen Aufrüstung zujubelt und fest an der Seite des deutschen Imperialismus gegen den russischen Imperialismus als „Feind“ vorgeht. Seit Sommer letzten Jahres sind auch in Deutschland inflationäre Tendenzen zu verzeichnen, aber die DGB-Bürokratie erklärt dafür nicht zuständig und so nehmen die Reallohnverluste zu, nach dem Beginn des Ukraine-Krieges droht eine Inflationsrate von ca. zehn Prozent. Doch die DGB-Bürokratie schweigt, hält sich mit Lohnforderungen zurück. Mit dieser erneuten Kapitulation hofft die DGB-Bürokratie eine Schock-Politik des deutschen Imperialismus zu verhindern, denn diese würde der DGB-Bürokratie, wie den DGB-Gewerkschaften real die materielle Basis für die weitere soziale Existenz den Boden entziehen. Mit der Drohung einer Schock-Politik werden die Gewerkschaften diszipliniert. Auch die DGB-Gewerkschaften marschieren im Gleichschritt der „Nation“ und notfalls auch in den „Energienotstand“ und weiter in den Dritten Weltkrieg, wenn die Arbeiterklasse nicht rechtzeitig dieser Politik in den Arm fällt.

Über eine Strategie der Spannung werden die Massen auf einen abstrakten „Feind“ eingeschworen. Der „‘Feind“ hat viele Gesichter, die sich abwechseln oder gleichzeitig auftreten können. Um dem Feind, konkret das SARS-Corona-Virus oder der russische Präsident Putin, zu begegnen, fordert das Kapital Verzicht von der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse soll „solidarisch“ einen Teil ihres gesellschaftlich-notwendigen Reproduktionsniveaus opfern, um den „Feind“ zu besiegen. Beständig werden die Massen auf „Feind“ und „Opferbereitschaft“ eingeschworen und die DGB-Gewerkschaften erklären sich für nicht zuständig, die schon seit längerem inflationären Tendenzen werden ebenfalls dem Ukraine-Krieg und konkret dem russischen Präsidenten Putin zu Last gelegt. Der Reallohnverlust wird dem „äußeren Feind“ angelastet, aber nicht den Aktionen des deutschen Kapitals. Der „Feind“ mutiert in der Propaganda des deutschen Imperialismus zum Bösen schlechthin und damit wird bewußt auf metaphysisch-moralische Kategorien zurückgegriffen und diese noch auf die Person des russischen Präsidenten Putin projiziert, welche die aggressive Politik des deutschen Imperialismus verschleiern. Es geht nicht mehr um einen imperialistischen Einflußkampf- und Krieg, sondern um einen Kampf von „Gut gegen Böse“ und in so einem Kampf muß man eben Opfer bringen. Die moralische Propaganda des deutschen und transatlantischen Imperialismus setzt auf Kontrolle und Steuerung der Emotionen, nicht aber der Vernunft. Die Propaganda der Strategie der Spannung soll vor allem die Vernunft ausschalten und irrationale politische und ideologische Tendenzen fördern. Diese konkrete Corona-Propaganda der Jahre 2020 bis 2022 des deutschen Notstandsstaates dient als Muster für die Ukraine-Krise mit einem möglichen „Energienotstand“ und auch für weitere potentielle Krisen und Notstände. Über die Strategie der Spannung wird eine Massenangst erzeugt, welche nach dem „starken Staat“ ruft, dient als Massenlegitimation für einen Notstandsstaat. Ohne Feind keinen Notstandsstaat, wobei es gleichgültig ist, ober der „Feind“ der „äußere Feind“ ist oder der „innere Feind“ oder beide zusammen den „Feind“ darstellen. Ohne einen „Feind“ kann auch keine Deflationspolitik umgesetzt werden, denn eine Deflationspolitik bedarf eines Notstandsstaates. „Feind“ heißt auch „Krieg“, wobei es gleichgültig ist, ob Krieg oder Bürgerkrieg oder beides zusammen gemeint ist; aber auf jeden Fall wird damit hochkonzentrierte Repression angekündigt. Der „Feind“ hat nur geringe oder gar keine Rechte, ist weitgehend entrechtet und nicht vollwertig. Es gilt ein „Feindrecht“, welches sich an das Kriegsrecht anlehnt und ist ein Gesinnungsrecht, denn nicht die Tat steht im Vordergrund, sondern die politische Gesinnung bzw. die Weigerung, sich dem Notstandsstaat zu unterwerfen. Die eiserne Faust des bürgerlichen Staates kann ungehemmt jeden Widerstand auch präventiv zerschlagen, wenn ein individuelles und/oder kollektives Subjekt zum „Feind“ erklärt wurde.

In den bürgerlichen Medien wird eine Kriegshysterie und Siegeshysterie erzeugt und steht im Gegensatz zu der tatsächlichen realen Lage. Militärisch hat der russische Imperialismus den Kriegsverlauf im festen Griff und auch im Wirtschaftskrieg müssen die transatlantischen Metropolen deutliche Verluste hinnehmen, auch der deutsche Imperialismus, hier derzeit zentral über die inflationären Tendenzen. Die bürgerlichen Medien fordern immer mehr den „totalen Wirtschaftskrieg“ als Ersatz für den Krieg, aber letztlich auch als Vorstufe zum imperialistischen Großkrieg, wenn der „totale Wirtschaftskrieg“ scheitert. Konsequent werden die Verluste des Wirtschaftskrieges ausgeblendet, aber dennoch wird präventiv auf Opfer und Verluste vorbereitet. Gleichzeitig beginnt in Deutschland und in der EU die Aufrüstung, auch im Bereich der Massenvernichtungswaffen. Die EU bereitet sich auf einen Angriff mit atomaren, biologischen und chemischen Kampfstoffen vor. Erst in der „Ukraine-Krise“ können die Konsequenzen aus der „Corona-Krise“ gezogen werden und erst dann wird implizit der Herkunft des SARS-Corona-Virus aus einem Hochsicherheitslabor zugegeben. Diese ideologische Kriegshysterie hat dazu geführt, daß die Massen so in Angst und Schrecken versetzt worden sind, daß die Jod-Tabletten ausgekauft sind. Jodtabletten wirken gegen radioaktive Verseuchung. Daran kann man ablesen, daß die Strategie der Spannung derzeit in den Massen verfängt. Die Forderungen nach einem Öl-Kohle- und Gasimportstop aus Rußland werden lauter. Diese Forderungen sind real nichts anders als eine Forderung nach einer deflationären Schockpolitik, denn diese Importe können nicht mittelfristig substituiert werden. Mit diesen Forderungen wird eher die Akkumulation kurzfristig desorganisiert und die Massen noch weiter verunsichert. Alternativen in der Energieversorgung werden nicht aufgezeigt. Solange dies nicht geschieht, verbleibt es bei leeren Drohungen. Eine alternative Energiepolitik, wie auch Rohstoff- oder Nahrungsmittelpolitik, ist derzeit nicht konkret erkennbar. Es verbleibt nur Notstand und Rationierung für eine Übergangszeit, bis die Fragen der politischen Planung geklärt sind. Zaghaft meldet sich auch die Gewerkschaftsbürokratie und warnt vor einem antirussischen Energieboykott, denn dieser würde zu einem Zusammenbruch der deutschen Industrie führen und Massenarbeitslosigkeit und Massenelend verursachen. Aber mit diesen zaghaften Warnungen wird die Gewerkschaftsbürokratie überhört. Doch einen Antikriegsprotest zu organisieren wagt die DGB-Bürokratie nicht und im Zweifelsfall wird sie auch einen Energieboykott und den Dritten Weltkrieg mittragen. Die DGB-Bürokratie wird nicht aus sich selbst heraus den Widerstand gegen einen Energieboykott und/oder den imperialistischen Kriegsgefahren organisieren, sondern nur dann, wenn der Massendruck groß genug ist, sie objektiv zum Handeln zu zwingen. Jedoch wurde im Vorfeld der imperialistischen Auseinandersetzung um die Ukraine über den „Corona-Notstand“ die Massen so weit atomisiert, daß derzeit die Tendenzen zum Massenwiderstand gering sind, der Massendruck nicht ausreicht, um die DGB-Bürokratie zur Aktion zu zwingen.

Die Arbeiterklasse und das Kleinbürgertum werden durch den bürgerlichen Staat in Notstandsform (übergesetzlicher Notstand und gesetzlicher Notstand in Form des Infektionsschutzgesetzes) als politische Klassenmacht und damit als Gegenmacht atomisiert. Gleichzeitig wird die Arbeiterklasse und das Kleinbürgertum vom Kapital neuzusammengesetzt, formiert, auch ideologisch formiert, im Sinne einer Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft und somit repressiv durch den bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) gleichgeschaltet, repressiv unter das gesamtgesellschaftliche, wie individuelle Kapitalkommando subsumiert. Die erste Voraussetzung für diesen Prozeß bleibt die Zerschlagung aller bisherigen erkämpften proletarischen Strukturen, proletarischen Eroberungen im Kapitalismus. Erst wenn die Arbeiterklasse desorganisiert ist, kann das Kapital die Arbeiterklasse im Sinne der Ausbeutung neu organisieren; die proletarische Selbstorganisation von unten muß zerschlagen werden, damit die Arbeiterklasse durch das Kapital und den bürgerlichen Staat von oben aus den Kommandozentralen des Kapitalismus heraus als Ausbeutungsmasse organisiert werden kann. Die Strategie der Spannung ist ein zentrales Moment in der Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse und damit die „Freund-Feind“ Kennung im Sinne einer Ideologie der Verschwörung des „inneren Feindes“ mit dem „äußeren Feind“, wobei der „innere Feind“ als Verräter agiert, der dem „äußeren Feind“ die Tore öffnet. Jede ernsthafte Kritik ist ein Akt der „Feindschaft“ und jede autonome Organisierung wird dann zu einem Akt des Terrorismus. Eine autonome Organisierung der Arbeiterklasse ist für das Kapital eine Verschwörung gegen die „Nation“, ein Angriff auf die „nationale Sicherheit,“ ein terroristischer Akt. Zum „Verräter“ an der „Nation“ wird man schon dann, wenn man sich ideologisch oder gar praktisch dem Zugriff des Notstandsstaates entziehen will. Wie weit schon jetzt die ideologische Aufrüstung geht, zeigt der FDP-Politiker Graf Lambsdorff an, der die Friedensbewegung auf den Ostermärschen angreift. Für diesen FDP-Politiker sind die Ostermarschierer politisch wie militärisch die fünfte Kolonne Putins, wenn sie vorschlagen, die Ukraine gewaltfrei zu unterstützten. Die politischen Positionen der Friedensbewegung seien gefährlich. Damit wird die Friedensbewegung zum Feind, zum Verräter, zum Vaterlandsverräter, zum Repressionsfall durch den Notstandsstaat. Die Jagd nach dem Buchstaben Z war der Anfang der „Feindkennung“, konkreter wird die „Feindkennung“ bei den Teilnehmern der Ostermärsche der Friedensbewegung und noch konkreter, wenn man sich der Arbeiterbewegung nähert. Der bürgerliche Staat in Bremen und Niedersachsen hat auf den Ostermärschen auch das Tragen von sowjetischen Fahnen verboten, mit der Begründung der Billigung eines Angriffskrieges, vor dem Hintergrund des Rußland-Ukraine-Krieges. (Quelle: Ukraine: Wenn Konsumenten einen Krieg verhindern wollen, Peter Nowak am 15. April 2022 auf www.telepolis.de). Die rote Fahne, Hammer und Sichel etc. die Fahnen und Symbole der Arbeiterbewegung, können damit ebenfalls gemeint sein. Bis jetzt wird dies nicht umgesetzt, dient aber zur Abschreckung und zeigt auf, wohin der bürgerliche Staat marschiert. Immer deutlicher setzt sich ein Sonderrecht als Notstandsrecht, ein umfassendes System der Zensur baut sich auf und die ideologische Basis stellt die „Totalitarismus Theorie“. Die Arbeiterbewegung und damit auch die nicht mehr existierende Sowjetunion, haben nichts mit dem Rußland-Ukraine-Krieg zu tun, werden aber dennoch für den imperialistischen Krieg zwischen der USA/NATO und Rußland auf dem Boden der Ukraine verantwortlich gemacht. Damit wird die Sowjetunion, die sowjetische Fahne, die rote Fahne und Hammer und Sichel auf eine Stufe mit Nazi-Deutschland und seinem Hakenkreuz gestellt und die Kriegsschuld Hitler- Deutschland am zweiten imperialistischen Weltkrieg relativiert, Arbeiterbewegung und faschistische Bewegung auf eine Stufe gestellt. Die Repression gegen die Arbeiterklasse marschiert weiter. Viele Zeichen der Arbeiterbewegung werden vom bürgerlichen Staat nur geduldet und können jederzeit mit der Begründung der konkreten aktuellen Lage geduldet oder nicht geduldet werden. An den FDJ-Abzeichen der DDR entzünden sich schon seit Jahren die Auseinandersetzungen. Jetzt stehen eben die sowjetischen Fahnen im Vordergrund. Die Bourgeoisie greift das Recht der Arbeiterklasse auf freie Meinungsäußerung frontal an. Schon die Zeichen und Symbole der Arbeiterbewegung sollen eine Bedrohung für die „nationale Sicherheit“ darstellen, wenn die „aktuelle“ Lage es erfordert. Unter dem Vorbehalt der aktuellen Lage kann die Meinungsäußerung des Proletariats geduldet, eingeschränkt oder gar verboten werden. Die „nationale Sicherheit“, die „Staatssicherheit,“ steht an erster Stelle. So heißt es aus der Verfügung des Ordnungsamtes Bremen an den Ostermarsch (Peter Nowack: Ukraine: Wenn Konsumenten einen Krieg verhindern wollen, telepolis, 15. April 2022):

„Angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges der Russischen Föderation auf die Ukraine kann derzeit in der Verwendung bestimmter Symbole in der Öffentlichkeit eine Straftat liegen (Billigung eines Angriffskrieges gemäß § 140 Satz 1 Nr. 2 i.V. m. § 138 Abs.1 Satz 1 Nr. 5 StGB und § 13 Völkerstrafgesetzbuch). In der aktuellen Lage gehören zu diesen Symbolen u.a. das sog. „Georgsband“, die Flagge der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Siegesfahne der Roten Armee. Wir weisen sie eindringlich darauf hin, dass die Verwendung solcher Symbole durch Versammlungsteilnehmer eine strafrechtliche Überprüfung durch Polizei und Staatsanwaltschaft zur Folge haben würde.“

Für Niedersachsen meldet der NDR am 8. April 2022 „Umstrittene Autokorsos: Pistorius richtet Erlass an Polizei, daß die öffentliche Ordnung besser geschützt werden muß.

„Im Fokus stehen dabei neben dem Kriegssymbol „Z“ auch Flaggen der UdSSR oder das Zeigen des Sankt-Georgs-Bandes, da diese im Kontext des Krieges klar als Symbole der territorialen Expansion des russischen Staates zu deuten seien.“

Die Benutzung „staatsfeindlicher“ Symbole auf einer Demonstration kann zur Auflösung derselben führen, d.h. der bürgerliche Staat konstruiert einen Vorwand für die Auflösung von Demonstrationen oder Streiks. Erst werden die Zeichen, Symbole und Fahnen verboten, dann die Aktionen und als letztes die proletarischen Organisationen. Das Verbot von Symbolen, Zeichen und Fahnen der Arbeiterbewegung ist der erste Schritt zur organisatorischen Zerschlagung der proletarischen Massenorganisationen, vor allem der Gewerkschaften. Es ist höchste Zeit, die Einheitsfront zu organisieren, um so den Angriff des bürgerlichen Staates auf die proletarischen Massenorganisationen zurückzuschlagen.

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Wie nahtlos der „Corona-Notstand“ in den „Energienotstand“ bzw. „Gasnotstand“ übergeht zeigt sich, wenn das Kapital nun verkündet, daß der Gasfüllstand der Gasspeicher die neue Inzidenz wird. Im „Corona-Notstand“ entscheidet der statistische Wert der Inzidenz, welche Notstandsmaßnahmen ergriffen werden, dann entscheidet im „Energienotstand“ der Gasfüllstand der Gasspeicher über die konkret zu verhängenden Notstandsmaßnahmen bzw.im Herbst/Winter wird vermittels der Inzidenz über die konkreten Maßnahmen des „Corona-Notstandes“ entschieden und auch gleichzeitig mit dem Gasfüllstand der Gasspeicher über den „Energienotstand“. Es wird dann ein gedoppelter Notstand verhängt bzw. der Notstand muß neu organisiert, vereinheitlicht, werden und der „Feind,“ welche Form er auch immer hat, muß konzentriert angegriffen werden.

Mit dem „Corona-Notstand“ begann es, aber mit dem „Corona-Notstand“ hört es nicht auf. Implizit bezieht der deutsche Imperialismus und auch die anderen EU-Imperialismen sich nicht auf einen „Corona-Notstand“, sondern gleichzeitig und immer deutlicher auf einen Kriegs-Ausnahmezustand, indem dieser „Kriegs-Notstand“ in der Ukraine stillschweigend gebilligt wird. Dort herrscht gar Kriegsrecht. Die linken Oppositionspartien sind verboten, allen voran die stalinistische KP und ihre Nachfolgepartei, es verschwinden viele Oppositionelle spurlos, vom Geheimdienst entführt und/oder von den ukrainischen Faschisten, denn diese pflegen eine enge Zusammenarbeit mit den repressiven Staatsapparaten, wer der Einberufung nicht folgt wird verhaftet, Soldaten, welche sich ergeben droht die Todesstrafe, welche auch im Gefecht sofort exekutiert wird, wie man in Mariupol gesehen hat. Dazu schweigt der deutsche Imperialismus, wie die anderen EU-Metropolen ebenso. Das laute Schweigen ist Zustimmung. Implizit macht damit das deutsche Kapital deutlich, welchen Weg es einschlagen wird, wenn es sich bedroht sieht. Die schweigende Zustimmung zum ukrainischen Kriegsrecht ist mit der EU konform, bzw. das Kriegsrecht, einschließlich Todesstrafe, ist EU-konform. Der EU Vertrag von Lissabon im Dezember 2009 sieht explizit die Todesstrafe unter bestimmten Umständen mit dem EU-Recht und westlichen Werten als vereinbar und vertretbar an. Es gibt in der EU kein generelles Verbot der Todesstrafe. Im Jahr 2009 trat die EU der Europäischen Menschenrechtskonvention bei. In dieser Europäischen Menschenrechtskonvention heißt es im Abschnitt I-Rechte und Freiheiten, Artikel 2-Recht auf Leben:

„Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, außer durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.

„Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um

  1. Jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen,

  2. B.) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern;

  3. Einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen

(Europäische Menschenrechtskonvention von der EU übernommen im Dezember 2009)

Unter Aufruhr oder Aufstand fällt auch der Krieg. Im Krieg, Bürgerkrieg, Aufstand gar Aufruhr, kann sofort eine extralegale Hinrichtung/Tötung vorgenommen werden, auch darf die Todesstrafe verhängt werden. Über dieses EU-Recht wird die Todesstrafe auch in die deutsche Jurisdiktion eingeführt, obwohl die deutsche Verfassung die Todesstrafe verbietet. Die Frage bleibt offen, welches Recht ein höheres Recht ist, das Recht der EU oder das deutsche Recht, vor allem in den Fragen eines Notstandes.

Aber es wird noch deutlicher: Aus Artikel 15-Abweichungen im Notstandsfall:

„(1) Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragsparteien stehen.

(2) Aufgrund des Absatzes 1 darf von Artikel 2 nur bei Todesfällen rechtmäßiger Kriegshandlungen und von Artikel 3, (Verbot der Folter, I.N) Artikel 4 (Absatz 1) (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit, I.N) und Artikel 7 (Keine Strafe ohne Gesetz, I.N) abgewichen werden“

(Europäische Menschenrechtskonvention, von der EU übernommen im Dezember 2009)

Im Kriegsfall, im Bürgerkriegsfall, im Ausnahmezustand, im Notstand verfällt die Europäische Menschenrechtskonvention für diesen unbestimmten Zeitraum. Es gilt immer noch Carl Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand bestimmt“. Der „Ernstfall“ erst gibt den bürgerlichen Staat seine volle Souveränität zurück, dann steht der bürgerliche Staat über allen Rechen und Pflichten und schöpft sein Recht aus der Staatsräson, dem höchsten Recht des bürgerlichen Klassenstaates. Dann heißt es Tabula rasa mit allen Menschenrechten, mit allen Grundrechten, welche von der Arbeiterklasse erkämpft wurden. In diesem Sinn handelt auch der gescheiterte bürgerliche Staat Ukraine „rechtmäßig“ und der Terror des bürgerlichen ukrainischen Staates ist somit ebenso rechtmäßig. Eine Warnung an die Arbeiterklasse, auch der multinationalen deutschen Arbeiterklasse. Indem der deutsche Imperialismus die ukrainische Position unterstützt, spricht er gleichzeitig aus, daß diese Zustände auch in Deutschland gegen die Arbeiterklasse eingeführt werden könnten, wenn die „nationale Sicherheit“ bedroht ist. Wie niedrigschwellig jetzt reagiert wird, zeigt sich bei der Jagd auf den Buchstaben Z oder bei dem Verbot von sowjetische Fahnen bei den Ostermärschen. Der deutsche Imperialismus ist deutlich verunsichert, fühlt sich von den Ereignissen überrascht, mit einem Angriffskrieg des russischen Imperialismus auf den de facto NATO-Staat Ukraine und damit auf den neoliberalen Weltmarkt und der transatlantischen Ordnung, welche vom deutschen Imperialismus unterstützt wird, hat dieser nicht gerechnet. So fühlt sich der deutsche Imperialismus vom russischen Imperialismus und gleichzeitig von der Arbeiterklasse in seiner materiellen Existenz bedroht und beginnt wild um sich zu schlagen.

Der transatlantische Wirtschaftskrieg gegen Rußland ist keine alleinige Frage der Außenpolitik, sondern schlägt sich im Klassenalltag in Deutschland nieder. Damit ist der transatlantische antirussische Wirtschaftskrieg nicht nur ein imperialistischer (Wirtschafts-) Krieg, sondern auch eine Kriegserklärung an die Arbeiterklasse. Die „neue Normalität“ bzw. die „neue Realität“ ist der Notstand, der die materielle Basis für eine Deflationspolitik schafft. Der antirussische transatlantische Wirtschaftskrieg schafft eine „neue Realität“, verhilft objektiv dem multipolaren Weltmarkt zum Durchbruch und damit auch Tendenzen zur Autarkie. Das deutsche Kapital versucht auch die EU dafür zu gewinnen, einen Bruch im Bereich der Energieversorgung zu wagen- weg von den fossilen Energieträgern, hin zu „regenerativen Energieträgern: Doch Windkraft und Solarenergie wird allein nicht die notwenige Energiemenge für den Akkumulationsprozeß bereitstellen können und verbrauchen selbst seltene Metalle, die mehrheitlich außer der Reichweite des deutschen Imperialismus liegen. Bleibt vor allem „Bioenergie“ und damit die Umwandlung von landwirtschaftlichen Produktionsflächen in Flächen zur Rohstoffproduktion und damit auch die Umwandlung von „Natur“ in landwirtschaftlicher Produktionsfläche oder in Flächen für die nachwachsende Rohstoffproduktion. Atomenergie fällt aus, da auch die Atomenergie Rohstoffe benötigt (Uran, Plutonium) und diese ebenfalls nicht in Griffweite des deutschen Imperialismus ausreichend vorkommen. Der deutsch-hegemonierte „Großraum“ soll zumindest bei der Versorgung mit Energierohstoffen tendenziell autark sein. Dies führt tendenziell zu höheren Energiepreisen, für die Arbeiterklasse und für das Kapital. Aus diesem Grunde greift die EU zu einem „grünen Protektionismus“ und setzt ökologische Normen für die Waren, bei denen auch der Energieverbrauch eine Rolle spielt. Waren mit einem hohen Energieverbrauch erhalten Strafsteuern oder werden gar nicht erst auf dem EU-Markt zugelassen. Es findet eine relative Abschottung des imperialistischen EU-Blocks statt. Jedoch kann sich das deutsche Kapital nicht nur in der EU verwerten, kann sich das EU-Kapital nicht nur in der EU verwerten, es bedarf des Weltmarktes und außerhalb der EU, die ein geschützter Markt ist, wird das deutsche Kapital, wird das EU-Kapital, mit erheblichen Nachteilen zu rechnen haben, auch weil andere imperialistische Blöcke sich selbst tendenziell autark abschotten. Es sei denn, daß das deutsche Kapital über die Senkung der gesellschaftlich notwendigen Reproduktion der Arbeiterklasse die höheren Energiekosten kompensieren will, d.h. vor allem die Arbeiterklasse hat dann die höheren Energiepreise für sich selbst und für das Kapital zu tragen. Die Frage für das Kapital ist nur, ob die Arbeiterklasse die höheren Energiekosten inflationär oder deflationär tragen soll, bzw. oder ob erst einmal in eine Kombination von beiden in der Stagflation dazwischengeschaltet wird. Höhere Energiekosten bedeutet auch tendenziell ein allgemein höheres Preisniveau für die Lebensmittel der gesellschaftlichen Reproduktion der Ware Arbeitskraft. Im Klassenkampf wird entschieden, ob das Modell der Autarkie tragbar ist oder nicht. Wenn überhaupt die ökologische Akkumulation tragbar sein sollte, dann bedarf es einer längeren Übergangszeit. Kurzfristig kann Erdöl und Erdgas nicht ersetzt werden, es sei denn, man strebt eine Schock-Politik an. Nach dem Ende der Schockpolitik könnte man dann wieder auf Erdöl und Erdgas in der Akkumulation einsetzten. Eine plötzliche Kappung der Energierohstoffe des deutschen Kapitals gefährdet auf alle Fälle die gesellschaftlich notwendige Reproduktion der Arbeiterklasse. Aber genau diese Position wird im Kapital offen diskutiert, denn am 01. April hat Gazprom den Betrieb von Gazprom Germany eingestellt. Nun müssen die Verträge mit dem Gazprom-Konzern direkt in Rußland ausgehandelt und in Rubel gezahlt werden. Verweigert sich das deutsche Kapital, dann wird die Gaslieferung eingestellt. Dieser Fall wurde am Dienstag, den 12. April im NATO-Konferenzsaal des Bundeskanzleramtes zwischen dem Bundeskanzler und dem Bundesminister für Wirtschaft, wie den Konzernchefs von Allianz, Airbus, BASF, Bosch, Siemens, Mercedes etc., dem Monopolkapital, diskutiert. Der „Ernstfall“ kann jederzeit eintreten. Letztlich steht damit auch der Dritte Weltkrieg im Raum, denn die deutsche Akkumulation wäre existentiell bedroht, wenn die Gaslieferung eingestellt würde. Das ist keine „rein-ökonomische“ Aktion und muß nicht mit „ökonomischen Gegenmaßnahmen“ beantwortet werden. Eine militärische Antwort wäre auch möglich. Die alten NATO-Übungen von Fallex und WINTEX/CIMEX, welche bis 1989 durchgeführt worden sind, sehen bei Blockade des Persischen Golfes (Angriff auf die Ölzufuhr der NATO-Staaten), z.B. durch den Iran, den Angriff auf den Iran vor, was dann in letzter Instanz zum Dritten Weltkrieg führte.

Die Frage nach der Fakturierung von Erdgas oder anderen Rohstoffen in Rubel ist eine zentrale politische Frage und auch implizit eine Frage von Krieg und Frieden, d.h. der Wirtschaftskrieg wächst potentiell organisch in den Krieg, in den Dritten Weltkrieg, über. Auf jeden Fall gelten erst einmal die alten Verträge über die Gasversorgung nicht mehr. Es wird der Rubel akzeptiert werden müssen, wie auch ein höherer Preis. Bis zum 31. März war der Gaspreis für das deutsche Kapital aufgrund langfristiger Verträge niedriger als der Weltmarktpreis, so daß das deutsche Kapital wohlfeiler auf dem Weltmarkt akkumulieren konnte. Dies wird nun wahrscheinlich vorbei sein und das deutsche Kapital wird ohne diesen bisherigen Preis/Kostenvorteil auskommen müssen. Schon ruft das deutsche Kapital nach Energiesubvention durch den bürgerlichen Staat und die Arbeiterklasse soll dies durch Steuern finanzieren. Nicht zu vergessen ist auch, daß gleichzeitig die Arbeiterklasse durch steigende Energiepreise, welche auf alle Warengruppen durchschlagen, ebenfalls die Kosten trägt, ebenso durch absolute Lohnverluste durch Senkung des Lohns bzw. langsames Ansteigen des Lohns im Verhältnis zu der Preisentwicklung. Auf jeden Fall bezahlt die Arbeiterklasse die Energiesubventionen des Kapitals, die versuchte Autarkie in Energiefragen, mit sinkenden Reallöhnen. Die DGB-Bürokratie bleibt sich treu und wird immer fester in das Modell Deutschland (Hegemonie der Weltmarktsektoren über die Binnenmarktsektoren) eingebunden, immer auch die eiserne Faust des bürgerlichen Staates im Nacken, jedoch bis jetzt keine revoltierende Arbeiterklasse.

Autarkie heißt, daß die höheren Kosten der Akkumulation auf die Arbeiterklasse abgewälzt werden, den Preis für die imperialistische Großraumkonkurrenz soll die Arbeiterklasse entrichten, durch Senkung des gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsniveaus. Autarkie ist ein Angriff auf die Arbeiterklasse. Der Klassenkampf entscheidet über das Autarkie-Projekt des Kapitals. Autarkie geht immer auch mit dem Notstand und Notverordnungen einher und wird „von oben“ gefordert. Wer sich der „Autarkie“ verweigert, wird zum „Feind“, wird zur „Bedrohung für die nationale Sicherheit“, denn Autarkie soll der „nationalen Sicherheit“ dienen und damit sollen auch die höheren Kosten, die die Arbeiterklasse zu tragen hat, der „nationalen Sicherheit“ zur Gute kommen. Wer die Kosten für die Autarkie ablehnt, ist ein „Feind für die nationale Sicherheit“. Autarkie und Austerität sind miteinander verwandt. In der imperialistischen Blockkonkurrenz mit ihrer tendenziellen Autarkie wird die Kontrolle über die Rohstoffe von zentraler Bedeutung, denn die Rohstoffe können nicht mehr auf dem deregulierten Markt erworben werden. Ohne Rohstoffe keine Akkumulation von Kapital. Jeder imperialistische Block unter der Hegemonie einer imperialistischen Metropole verlangt nach „Lebensraum“ und trifft auf einen konkurrierenden imperialistischen Block mit derselben Notwendigkeit. Hier kann nur der imperialistische Krieg entscheiden.

Derzeit konzentrieren sich die imperialistischen Widersprüche in der Ukraine. Der Angriff des russischen Imperialismus auf die de facto NATO-Ukraine desorganisierte in der ersten Phase die Ukraine, während der NATO-Pakt versucht, diese ukrainische Desorganisation zu verhindern. Der russische Imperialismus rechnete nicht mit einer wesentlichen Einmischung des transatlantischen NATO-EU-Imperialismus in den Ukraine-Krieg und war überrascht. Dem russischen Imperialismus steht nicht die Ukraine gegenüber, sondern der transatlantische NATO-EU-Imperialismus auf dem Territorium der Ukraine. Damit muß eine russisch-ukrainische Verhandlungslösung scheitern, denn der NATO-Pakt hat den politischen und militärischen Oberbefehl über die Ukraine. Die Politik des russischen Imperialismus muß sich der neuen Lage anpassen und zielt auf eine direktere Konfrontation mit dem transatlantischen NATO-EU-Pakt auf allen Ebenen, politisch, militärisch, ökonomisch. Doch zuvor mußte der bürokratische Widerstand in Rußland selbst überwunden, die kompromisslerische Fraktion der Bourgeoisie ausgeschaltet werden. Die Kriegsführung des russischen Imperialismus muß in der Form des totalen Krieges den totalen Krieg des NATO-Paktes kontern, will sie erfolgreich sein. Dazu bedarf es der Psychologischen Kriegsführung zur psychologischen Mobilmachung. Um die psychologische Massenmobilmachung zu erreichen, wurde der veraltete Raketenkreuzer „Moskwa“ geopfert. Dazu wurde er als Flaggschiff der Schwarzmeerflotte bestimmt und ohne eine militärische Deckung durch andere Kriegsschiffe auf eine unbekannte Mission in Richtung NATO-Rumänien gesendet, wird dabei beschossen und sinkt angeblich durch das schlechte Wetter, obwohl der Wetterdienst kein stürmisches Wetter verzeichnet. Die ganze Aktion ist voller Rätsel, aber der Verlust des Kreuzers „Moskwa“ ist ein Skandal und führt zu einem ansteigenden Druck auf die politische und militärische Führung mit der Forderung, die Konsequenzen zu ziehen und den totalen Krieg einzuleiten. Wenige Tage später beginnt die Phase II des russischen Ukraine-Krieges und nun erst setzt der russische Imperialismus tendenziell seine ganzen militärischen Fähigkeiten ein. Aber vor allem hat sich die politische Konzeption geändert. Nun geht es nicht mehr nur um die Befreiung des Donnbass, sondern um die Befreiung der Südostukraine.

Die NATO-Ukraine kann diesen Krieg gegen den russischen Imperialismus weder militärisch, ökonomisch, noch politisch gewinnen. Jedoch setzt der deutsche Imperialismus, wie der transatlantische Imperialismus überhaupt, auf einen militärischen Sieg der Ukraine und führt deshalb auch einen totalen Wirtschaftskrieg gegen den russischen Imperialismus, hofft auf einen langen Krieg in der Ukraine. Vergißt dabei, daß die Kampfhandlungen nach der ukrainischen Niederlage im Donbass immer weiter westlich wandern werden und nicht unbedingt an der NATO-und EU-Außengrenze enden werden. Ukraine heißt übersetzt Grenzland und ein Grenzland ist ein Niemandsland. Durch Flucht und Vertreibung kann auch das Westukraine-Problem gelöst werden. Mit den Lieferung von veralteten Waffen an die Ukraine kann ein transatlantischer Sieg nicht erkämpft werden, droht aber in eine direkte Konfrontation mit dem russischen Imperialismus auszuarten. Den Tunnelblick auf einen illusorischen Sieg der Ukraine läßt auch den antirussischen Wirtschaftskrieg eskalieren, der in eine Schock-Politik gegen die Arbeiterklasse ausarten könnte. Die Bourgeoisie fordert „Bomben statt Butter“ und damit den materiellen Verzicht der Arbeiterklasse. Aufrüstung und Wegbrechen des russischen und chinesischen bzw. eurasischen Marktes führen zu Massenarbeitslosigkeit und proletarischem Massenelend. Eine proletarische Antwort kreißt um die Frage „Butter statt Bomben“.

Der transatlantische Wirtschaftskrieg gegen den russischen Imperialismus setzt auf einen vollständigen Bruch mit Rußland und danach mit China. Diese Politik wird mittelfristig mit den geplanten Enteignungen russischen Eigentums in Westeuropa und in den USA, welche im Gegenzug zu einer Enteignung transatlantischen und damit auch deutschen Eigentums in Rußland vergolten wird, fortgesetzt. Auch das deutsche Monopolkapital wird seine Fabriken in Rußland verlieren. Die Kosten sollen dann die Arbeiter im Restkonzern tragen bzw. die proletarischen Steuerzahler. Umso mehr sich die imperialistische Eskalationspolitik in Form der imperialistischen Aggression in Richtung Dritter imperialistischer Weltkrieg tendenziell verselbständigt, desto mehr greift der bürgerliche Staat auf die Repression des Notstands zurück. Die gegenseitigen imperialistischen Enteignungen greifen dann auch auf die Kreditbeziehungen über, indem Schuldzahlungen verboten werden, so daß Zahlungsausfälle im zinstragenden und fiktiven Kapital zunehmen und den Finanzmarkt mit seinen Spekulationsblasen an den Rand einer Implosion bringen. Der internationale Bankensektor wird in große Probleme geraten und auch weniger Kredite vergeben, was zu einer Kreditklemme führt. Noch bremst der deutsche Imperialismus bei einem Gasboykott. Doch auch dieses Bremsen gelingt nur, weil der deutsche Imperialismus dafür einen Ölboykott gegen den russischen Imperialismus unterstützt. Dies ist der Preis dafür, daß im Moment ein Gasboykott verhindern werden konnte, für wie lange ist offen. In dieser Frage nimmt der Druck auf den deutschen Imperialismus zu. Polen und Bulgarien weigern sich, ihre Gasrechnung in Rubel zu begleichen. Daraufhin stoppt die russische Gazprom ihre Gaslieferungen an Polen und Bulgarien. Der russische Imperialismus macht auch hier ernst. Ein Warnschuß auch an den deutschen Imperialismus. Währenddessen fordern Polen und Bulgarien auch von Deutschland „Solidarität“ ein, d.h. ebenfalls eine Verweigerung in der Gasrubel-Frage. Aber auch der antirussische Ölboykott wird die Akkumulation des deutschen Imperialismus wie auch der anderen EU-Metropolen weiter negativ tangieren und damit die Arbeiterklasse treffen. Die inneren Spannungen werden weiter ansteigen, wie die Arbeitslosigkeit und die inflationäre Tendenz, nicht nur in der EU, sondern weltweit, vor allem in der Peripherie, wo die Hungerrevolten immer weiter zunehmen werden. Schon jetzt kommt es in der Peripherie zu zahlreichen Hungerrevolten, wie Sudan, Indonesien, Peru, Sri-Lanka etc, destabilisiert die Peripherie, was dann die Rohstoffversorgung der Metropolen negativ beeinträchtigt. Damit ist der Ukraine-Krieg der Auslöser für die gesamte Reorganisation der imperialistischen Kette und des Weltkapitalismus. China geht gegen den US-Imperialismus ebenfalls die politische Offensive und schließt im Südpazifik ein Bündnis mit den Salomonen-Inseln ab. Diese Inselgruppe liegt nördlich von Australien und Neuseeland und stellt nun einen Riegel zwischen den USA und Australien und Neuseeland dar. Der US-Imperialismus, Australien und Neuseeland sind sehr nervös und drohen mit „ernsthaften“ Konsequenzen, sollte China dort Militärstützpunkte erreichten. China versucht seiner Isolierung damit zu begegnen, daß es versucht die USA, Australien und Neuseeland voneinander zu isolieren. Dies zeigt, daß weder Rußland, noch China, noch beide zusammen politisch, militärisch und ökonomisch isoliert werden können. Droht der transatlantische Imperialismus bei seiner Isolierungspolitik gegen den russischen Imperialismus und China zu scheitern, wird er immer direkter gegen Rußland und China vorgehen. In der Ukraine droht dann eine False-Flagg- Operation, unter Umständen mit Massenvernichtungswaffen, um den Vorwand für eine direkte NATO-Intervention in die Ukraine zu schaffen. Es droht vor allem eine polnische Intervention in die Westukraine und damit auf historischem Boden. Dies würde aber zu einer militärischen Konfrontation mit Rußland führen, wenn diese Intervention nicht mit Rußland abgesprochen ist, würde auch zur Intervention Weißrusslands in die Ukraine führen. Dies würde dann aber auch zu objektiven Bündnismöglichkeiten Rußlands mit dem ukrainischen Faschismus führen, denn der ukrainische Faschismus wird keine polnische Oberhoheit in der Westukraine, dem Zentrum des ukrainischen Faschismus, dulden. Währenddessen massieren sich polnische und rumänische Truppen auf rumänischem Gebiet und üben damit einen deutlichen Einfluß auf Moldawien aus, könnten Moldawien die Möglichkeit geben, die seit 1992 von Moldawien abgespaltene und international nicht anerkannte Transistrische Republik zu erobern. Transsistrien hat objektiv eine Riegelstellung inne. Dort sind seit 1992 russische Friedenstruppen stationiert, die den Waffenstillstand zwischen Moldawien und Transistrien überwachen. Es wäre ein rumänisch-moldawisch-polnischer Angriff auf Transsistrien möglich und dies wäre ein Angriff auf Rußland. Das Ziel dieses möglichen NATO-Angriffs geht über Transsistrien hinaus, denn es heißt Odessa, denn Odessa ist der letzte große Meerzugang der NATO-Ukraine und eben das Ziel der russischen Armee im Ukraine-Krieg. In Transsistrien oder vor Odessa könnte die russische Armee mit den NATO-Armeen feindlich aufeinandertreffen. Durch Bombenanschläge von bisher Dritter Seite in Transsistrien wird die politische Spannung bis an den Rand eines Krieges erhöht. Transsistrien ruft den Terror-Notstand aus und Moldawien beruft seinen Sicherheitsrat ein. Derzeit laufen die zentralen Kampfhandlungen im Donbass ab. Je schneller und größer die russischen Erfolge an der Donbassfront, desto mehr droht eine Eskalation des Ukraine-Krieges durch die direkte oder indirekte Intervention von NATO-Staaten in der Westukraine oder über Moldawien in Transsistrien mit Stoßrichtung Odessa. Das russische Militär hat in der ersten Phase des Krieges das ukrainische Militär desorganisiert, den Kessel in Mariupol organisiert, denn Mariupol verbindet den Donbass mit der russischen Krim und den großen Kessel im Donbass vorbereitet. Das russische Militär rückte schneller vor als die deutsche faschistische Wehrmacht während des Blitzkrieges 1940, obwohl die russische Militärdoktrin sich nicht auf einen Blitzkrieg orientiert. In sechs Tagen wurde ein Gebiet in der Größe Britanniens erobert und dies mit unterlegenen Kräften von ca. 200.000 russischen Soldaten gegenüber 600.000 NATO-ukrainischen Soldaten. Ein Angriff erfordert normalerweise eine Überlegenheit von 3:1 um erfolgreich zu sein. In der zweiten Phase wird der Kessel im Donbass geschlossen, in verschiedene Kessel gespalten und vernichtet. Im Donbass-Kessel wie in Mariupol befinden bzw. befanden sich die Elite-Einheiten des ukrainischen Militärs, sie können nicht ersetzt werden. Erst nach der Vernichtung der kampfstärksten Einheiten des ukrainischen NATO-Militärs wird das russische Militär sich in Richtung Westen bewegen, hauptsächlich dann in Richtung Süden mit dem Ziel Odessa, um die Ukraine vom Schwarzen Meer abzuschneiden. Es werden sich im Laufe der Zeit mehrere russisch gestützte Staaten auf dem Boden der Ukraine bilden. Langsam aber sicher und gründlich schafft der russische Imperialismus Fakten gegenüber dem transatlantischen NATO-Imperialismus. Rußland greift auch im Ukraine-Krieg auf seine Syrien-Strategie zurück. Aber vor allem wird auf die russische Militärgeschichte und damit auf die Geographie zurückgegriffen, auf Raum und Zeit, eben diese Raum-Zeit-Achse ist entscheidend. Entscheidende Siege konnten nur auf russischem Territorium errungen werden. Eine Niederlage oder ein Unentschieden im Krieg kam nur dann zustande, wenn der Feind an der Peripherie Rußlands stehen blieb und nicht weiter in den Raum eindrang (Krim-Krieg). Die ukrainischen NATO-Eliten Einheiten sind westukrainisch und sind damit in der Südostukraine isoliert, von der Bevölkerung, von der Logistik. Auch ist so ein Partisanenkrieg keine alternative Strategie in der Kriegsführung. Währenddessen hat das russische Militär eine gewisse Unterstützung aus der Bevölkerung, in der Mehrheit ist die Bevölkerung nicht feinselig, sondern neutral oder apathisch, die Logistik hat kurze Verbindung zur kämpfenden Truppe. Der Vernichtung der ukrainische NATO-Elite-Truppen steht nichts im Wege, denn ein geordneter Rückzug ist durch die Zangenbewegung nicht möglich, wie auch der Ersatz oder Entsatz. Vor dem gleichen Problem steht der NATO-Pakt insgesamt. Chancen für einen kurzweiligen Partisanenkrieg gibt es nur in der Westukraine und hier können die Kampfhandlungen schnell auf Polen und andere NATO-Staaten übergreifen. Für einen siegreichen Krieg ist es zentral den Ort und den Zeitpunkt der Schlacht zu bestimmen und dies ist bisher Rußland gut gelungen. Die Zeit wird zeigen, ob es weiter so bleiben wird. Bisher haben Raum und Zeit dabei geholfen, militärische Fehler des russischen Militärs zu beheben. Und Raum und Zeit spielen für den russischen Imperialismus, der Krieg kann dauern, aber ein siegreiches Ende, wie der Sieg auch aussehen mag, ist sicher. Letztlich kämpft das russische Militär auf Seiten von Raum und Zeit, während das ukrainische NATO-Militär gegen Zeit und Raum kämpfen muß. Die Wahrscheinlichkeit eines Sieges ist sehr hoch, wer Zeit und Raum auf seiner Seite hat.

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Auf diese Weise wird der russische Imperialismus den Stellvertreterkrieg mit dem NATO-Pakt in der Ukraine lösen, denn dieser Ukraine-Krieg ist real ein Rußland-NATO-Krieg und bahnte durch die beständige Osterweiterung des NATO-Paktes sich seit drei Jahrzehnten an. Eine Überraschung ist dieser Krieg nicht. Dieser geopolitische Konflikt fällt mit dem aktuellen Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes im Herbst 2019 im Vorlauf dieses imperialistischen Krieges zusammen. Eben dieser geopolitische Konflikt verwandelt die Ukraine in ein Schlachtfeld des US-Imperialismus und seines NATO-Paktes gegen den russischen Imperialismus und der Maidan findet sein Massengrab zum zweiten Mal seit 2014/2015 im Donbass und später in der ganzen Ukraine. Die imperialistische Machtfrage ist gestellt. Für den russischen Imperialismus geht es um seine Existenz, wie für China auch. Ebenso ist der Ukraine-Krieg eine Existenzfrage für den US-Imperialismus und seines NATO-Paktes, denn ein russisch-chinesisches Bündnis würde das Ende der transatlantischen Weltordnung sein. Rußland greift mit dem Gas-Öl-Rohstoff Rubel den US-Dollar zentral an und der US-Dollar ist der letzte Nagel, an dem das US-Empire hängt. Der US-Imperialismus hat bisher seine Kriege gegen die Staaten geführt (Irak, Libyen), welche versuchten aus dem eisernen Griff des US-Dollar zu entkommen. Eine Niederlage können sich weder die USA, noch Rußland, noch China leisten. Diese Situation eröffnet potentielle Wege in den Dritten Weltkrieg. Ein Kompromiß in der Ukraine-Frage wäre nur ein zeitweiliger Kompromiß. Es kann also nur Sieger und Besiegte geben. Bei einem Kompromiß wird der geopolitische Konflikt zwischen den USA, Rußland und China sich zeitweilig geographisch verlagern, z..B. nach Syrien. Im Moment steht die Ukraine im Rampenlicht des imperialistischen Konflikts und nicht Syrien. Das bis vor einigen Jahren ganz anders. Weder die Syrien- noch die Ukraine-Frage wurden endgültig gelöst. Die Lösung dieser Fragen ist derzeit konkret der imperialistische Krieg, wenn das Proletariat es nicht schafft, dies zu verhindern.

Der US-Imperialismus und sein NATO-Pakt, im Schlepptau die transatlantische EU mit der Dominanzmacht des deutschen Imperialismus, welche zunehmend als eigenständiges Moment mit relativer Autonomie zum US-Imperialismus paralysiert ist, müssen erkennen, daß der Wirtschaftskrieg gegen den russischen Imperialismus in der Rückhand mit China nicht gewonnen werden kann. So tritt der US-Imperialismus die Flucht in den Krieg an, der Wirtschaftskrieg, der schon ein Weltwirtschaftskrieg ist, wächst in den Krieg, in den Dritten Weltkrieg über, wenn es der Arbeiterklasse nicht gelingt, durch Massenaktionen sich dieser Entwicklung zu entziehen. Immer deutlicher spricht der US-Imperialismus vom Sieg auf dem Schlachtfeld, d.h. der Sieg im Wirtschaftskrieg wird schon nach ca. vier Wochen für verloren gegeben. Der US-Imperialismus steht mit dem Rücken zur Wand und er ist bereit jedes Risiko einzugehen, um seinen Abstieg aufzuhalten oder gar umzukehren. Dies schlägt sich konkret im ukrainischen Militär nieder, welches in höherer Wahrscheinlichkeit auf eine direkte oder indirekte US-Kriegsbeteiligung rechnen kann, als in den Jahren 2014/2015. Denn in den Jahren 2014/2015 stand der US-Imperialismus nicht mit dem Rücken zur Wand wie heute im Jahr 2022. Erst im Jahr 2022 bricht der russische Imperialismus das Monopol des Weltgeldes US-Dollar auf und platziert den Rubel als Gas-Öl-Rohstoff-Gold Rubel als direkte Konkurrenz zum US-Dollar. Ebenso der deutsche Imperialismus und die restlichen transatlantischen Metropolen, denn erst jetzt im Jahr 2022 drohen diese Metropolen von ihrem zentralen Importmarkt Rußland durch die Neupositionierung des Rubel und damit auch von ihren strategischen Rohstoffen, abgeschnitten zu werden. Wird die Rubelzahlung verweigert, verlieren sie die Rohstoffimporte aus Rußland, und es bricht die Akkumulationsrate ein und das chinesische Kapital kann mehr Weltmarktanteile erobern. Will der deutsche Imperialismus und der Rest des transatlantischen Imperialismus dennoch diese Rohstoffwaren beziehen, bleibt ihm nur der imperialistische Raubkrieg, in welcher Form auch immer, übrig, denn die Rohstoffmengen können nicht eingespart und/oder von Drittmärkten kommen. Die strategischen Rohstoffe Rußlands sind für die Akkumulation des deutschen Kapitals, für die Akkumulation des US-Kapitals bzw. für die Akkumulation des transatlantischen Imperialismus lebenswichtig. Auch für das deutsche Kapital ist Rußland ein notfalls zu militärisch erobernder Lebensraum für die Akkumulation des deutschen Kapitals. Ohne die russischen Rohstoffe, ohne die russische Infrastruktur in Richtung Eurasien, kann sich das deutsche Kapital, kann sich das US-Kapital, kann sich das transatlantische Kapital, nicht entwickeln und objektiv wird die Akkumulationsrate des russischen und chinesischen Kapitals auf Kosten des transatlantischen Kapitals wachsen. Wegen der Ukraine führt man keinen Dritten Weltkrieg, das war 2014/2015. Jedoch führt man einen Dritten Weltkrieg, wenn man den ökonomischen und politischen Zugriff zu den wohlfeilen und strategischen Rohstoffen verliert, welche für die Akkumulation unerläßlich sind. Es geht in der Ukraine-Frage nicht um die Ukraine, sondern um die Neuaufteilung des Weltmarktes unter den Kettengliedern der imperialistischen Kette. Nun muß der US-Imperialismus alles auf eine Karte setzen und auch einen Dritten Weltkrieg riskieren, wenn er wieder die Hegemonie erringen will und auch der deutsche Imperialismus steht ebenfalls immer weiter an der Wand und auch hier greift der Tunnelblick um sich. Weder der US-Imperialismus noch der deutsche Imperialismus akzeptieren bis jetzt den Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes, verweigern sich der multipolaren Realität. Bei einer direkten oder indirekten US-Intervention in die Ukraine wird der deutsche Imperialismus mindestens mit einem Wirtschaftskrieg hineingezogen bzw. läßt sich hineinziehen. Die NATO als ganzes wird wahrscheinlich eine Intervention in die Ukraine ablehnen, nicht aber einzelne NATO-Staaten mit US-Unterstützung. Bei einer Verschärfung des Wirtschaftskrieges mit Rußland drohen ein Ende der Gaslieferungen aus Rußland und dann eine Kriegswirtschaft und ein Kriegsnotstand. Deshalb versucht der deutsche Imperialismus seine Gasvorräte für den Winter aufzufüllen, denn nur dann kann man überhaupt einen Gaswirtschaftskrieg führen. Auch kann der Wirtschaftskrieg mit einer Strategie der Spannung unterlegt werden, nach innen und außen, über Gladio A und Gladio B. Der unkontrollierte Waffenfluß in die Ukraine und die bewußte militärische und paramilitärische Ausbildung von Faschisten und Islamisten legen Zeugnis von dieser Option ab. Terroranschläge im In- und Ausland sind dabei einkalkuliert.

Verzweifelt versucht der US-Imperialismus ein Käuferkartell gegen Rußland zu organisieren, indem dieser den Staaten droht, die bei Rußland Öl kaufen. Dies führt jedoch eher dazu, daß alle anderen Staaten sich noch mehr für russisches Öl interessieren und bringt auch die OPEC-Staaten gegen den US-Imperialismus auf, hier vor allem die arabischen Golfstaaten, die ebenfalls in großen Mengen Öl und Gas exportieren, denn auch sie könnten beim nächsten Mal von einem Gegenkartell betroffen sein. Damit orientiert sich die OPEC mehr auf Rußland und China, statt auf die USA, was dem Petro-Dollar weiter in die Defensive zwingt. Die US-Drohungen zeigen die Defensive des US-Imperialismus auf, denn ein Hegemon brauch nicht drohen, er arbeitet mit Zuckerbrot und Peitsche, aber nicht nur mit der Peitsche, wie der US-Imperialismus jetzt. Rußland kann jederzeit Enteignungen und/oder ein Öl- und/oder Gasboykott auch mit einem Schuldenboykott begegnen, was schwere Schäden im fiktiven Kapital verursachen würde. Ein allgemeiner Schuldenboykott wäre damit auf der Tagesordnung und der US-Imperialismus könnte dann seinen Gläubigern und damit vor allem China, ebenfalls mit einem Schuldenboykott drohen. Seit Jahrzehnten gibt es diese Planungen in den USA. Dies wäre eine Engeignung des chinesischen Gläubigers als des größten US-Gläubigers und würde die Spannungen zwischen den USA und China drastisch verschärfen. Ein russischer Schuldenboykott würde somit die Tür zu einem allgemeinen Schuldenboykott öffnen und damit zum totalen Chaos auf dem Weltmarkt führen, denn die Grundbedingung des kapitalistischen Warentausches wäre temporär in Frage gestellt, bis eine neue kapitalistische Ordnung aufgerichtet wäre. Die gesellschaftliche Reproduktion des Kapitalismus müßte für die Übergangszeit dann auf einen Kriegskapitalismus umgestellt werden und ein Kriegskapitalismus ist ein Notstandskapitalismus, ist der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus), was konkret für die Arbeiterklasse eine Politik der Rationierung heißt.

Diese Krisentendenzen vermitteln sich mit den Störungen aus der chinesischen Lieferkette, da dort wegen der neuerlichen Ausbreitung der SARS-Corona-Pandemie eine Zero-Covid-Notstandspolitik realisiert und die Produktion drastisch zurückgefahren wird. Vor allem der globale Lieferkettenknotenpunkt Shanghai ist von dem chinesischen „Corona-Notstand“ wieder betroffen. Dort staut sich der Import, wie der Export auf, was weltweit die Lieferketten in noch größere Schwierigkeiten bringt. Der Zentralregierung ist Shanghai schon lange ein Dorn im Auge, da dort schon seit Jahren, also vor der Corona-Pandemie, versucht wird, andere Wege als den Weg der Zentralregierung zu beschreiten. Dies erklärt dann die Härte des „Corona-Notstandes“ in Shanghai, denn Shanghai ist neben Peking die wichtigste Metropole in China. Die immanenten Widersprüche zwischen der Wirtschaftsmetropole Shanghai und der Verwaltungsmetropole Peking sind für den „Corona-Nostand“ in Shanghai bzw. China überhaupt, verantwortlich. An allen Fronten des multipolaren Weltmarktes brechen die Widersprüche auf, immer mehr nehmen die Tendenzen zur Rezession zu. Das fiktive Kapital steht unter großem Druck. Die Verwerfungen des multipolaren Weltmarktes führen zu einer auseinanderlaufenden Geld – und Zinspolitik, auch im transatlantischen Lager. Während die Geldpolitik in den USA gestrafft wird, bleibt sie in der EU und in Japan sehr gedehnt. Dieser Zinsunterschied beginnt langsam das fiktive Kapital zu destabilisieren, vor allem den Yen im Verhältnis zum Dollar. Auch in Japan oder in der EU steht eine Zinsanhebung ins Haus, das trifft dann die Akkumulationsrate und erhöht die rezessiven Tendenzen der Akkumulation, erhöht auch die Gefahr der Implosion der Immobilienblasen, gefährdet die Akkumulation des fiktiven Kapitals sowie des Banken- und Finanzsystems.

Der deutsche Imperialismus macht sich bereit für einen dritten Griff zur Weltmacht und hat seine Parteien dafür formiert. Die Linkspartei ist auch dabei, sich in den Marsch für den dritten Griff zur Weltmacht einzureihen. Nur noch eine Minderheit verweigert sich dem Weltmachtanspruch des deutschen Imperialismus in der Linkspartei. Dieser linke Flügel wird durch eine Cointepro-Aktion bezüglich sexuellen Mißbrauchs weiter in die Defensive gebracht, indem eine der beiden Parteivorsitzenden zurücktritt. Die Linkspartei ist schon länger in der Krise, wäre aber die einzige Partei, die objektiv in der Lage wäre, in Opposition gegen den Kriegskurs des deutschen Imperialismus zu gehen. Aus diesem Grunde muß der deutsche Imperialismus alles daran setzten, daß die Linkspartei auch über Cointelpro-Aktionen der deutschen und transatlantischen Geheimdienste zersetzt wird. Im Sinne des deutschen Imperialismus darf es keine organisierte Opposition gegen den imperialistischen Kriegskurs geben, keine organisierte Opposition gegen eine Politik des Verzichts der Arbeiterklasse, keine organisierte Opposition gegen den Notstandsstaat. Die Opposition wird vom bürgerlichen Staat als „Feind“ angesehen und muß zerstört werden. Innerhalb der deutschen imperialistischen Bourgeoisie wächst der Druck in Richtung Schock-Politik auf den Bundeskanzler. Der Bundeskanzler soll das Problem der gegenwärtigen Regierung sein, denn er verweigert die Lieferung moderner schwerer Waffen in die Ukraine, droht mit einem Veto bei einem EU Boykott der russischen Erdöllieferungen und erst Recht bei einem Boykott gegen russische Gaslieferungen. Deshalb wird innerhalb der Bourgeoisie darüber diskutiert, über ein Mißtrauensvotum im Parlament den Bundeskanzler zu stürzen und damit die SPD als stärkste der Partei in der Regierung. Das Ziel wäre eine neue Regierung, auch unter Einschluß der SPD, wenn diese eine neue und aggressive Politik gegen Rußland und der Arbeiterklasse einschlägt und mitträgt, ansonsten über die CDU, mit Neuwahlen oder ohne Neuwahlen mit dem Versuch der Tolerierung durch die AfD oder gar letztlich durch einen übergesetzlichen oder gar gesetzlichen Notstand mit Notparlament oder ohne Notparlament. Bei dieser Fraktion der Bourgeoisie steht die Schock-Politik im Mittelpunkt, egal in welcher Form sie durchgesetzt wird. Die weitere Entwicklung ist offen. Die Regierung kann sich behaupten oder ab sie wird in irgendeiner Form gestützt oder in die gewünschte Richtung transformiert, auch in Notstandsform. Die Kampfhandlungen des Ukraine-Krieges gefährden ebenfalls die Öl- und Gas-Lieferungen des deutschen Kapitals, denn die Pipelines verlaufen durch die Ukraine bzw. in der Nähe der Ukraine. Eine Öl-Leitung in Rußland in der Nähe der ukrainischen Grenze wurde schon beschädigt. Diese Schäden können von Rußland oder der NATO-Ukraine auch bewußt zugefügt werden, um den deutschen Imperialismus noch tiefer in die Ukraine-Krise hineinzuziehen, bzw. vom deutschen Imperialismus mit selbst organisiert werden, wenn man sich bei einem Öl- und Gasboykott gegen die Arbeiterklasse nicht durchsetzen kann. Nun will der deutsche Imperialismus übereilt ein Öl-Embargo durchsetzen und provoziert damit massive Schäden in der Akkumulation, die das Kapital an die Arbeiterklasse weiterreichen wird. Steigende Arbeitslosigkeit und steigende Preise greifen das Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse an. Der Ölboykott ist nur ein Testfall für den Gasboykott und damit auch ein potentieller Probelauf für eine Schock-Politik. Es hängt von der Arbeiterklasse ab, von der Reaktion ihrer Massenorganisationen auf den Ölboykott, ob eine Schock-Politik für das Kapital eine realistische Alternative wird. Die Gewerkschaftsbürokratie wird letztlich den Ölboykott mittragen. So wie der Ölboykott der erste Schritt in den potentiellen Gasboykott ist, ist der „Corona-Notstand“ nur der erste Schritt in einen potentiellen „Energienotstand“ und einer Schock-Politik. Die EU droht an der Frage der Fakturierung des Gases in Rubel zu zerbrechen. Polen und Bulgarien lehnen es ab, ihre Rechnung in Rubel zu begleichen und erhalten kein Gas mehr. Andere EU-Staaten versuchen ein Kartell zu bilden und für alle EU-Mitglieder einzukaufen. So hat in der Vergangenheit der deutsche Imperialismus auch verdeckt für Polen das russische Gas eingekauft und von Deutschland nach Polen weitergeleitet. Direkt hat Polen von Rußland wenig Gas bezogen, indirekt über Deutschland jedoch schon. Nun möchten die anderen EU-Staaten dieses deutsch-polnische Konzept übernehmen und die EU soll als alleiniger Käufer auftreten. Doch dies lehnt Rußland ab und droht damit, bei Weiterleitung des Gases an ein anderes Land den unmittelbaren Käufer sofort das Gas zu sperren. Damit wird einem Käuferkartell der Boden entzogen und somit kann der Gas-Rubel besser verteidigt werden. Es drohen damit weitere Länder ihre Gaszufuhr zu verlieren, was die Akkumulation schwer schädigt.

Ex-Bundespräsident Gauck geht voran und fordert einen Energieboykott Rußlands, was implizit einen „Energienotstand“ notwendig macht. Einbrüche von ca. sechs Prozent im Sozialprodukt sind wahrscheinlich. Das erkennt der Ex-Bundespräsident auch an. Jedoch ist der Ex-Bundespräsident der Meinung, daß die Massen diesen Verzicht zu akzeptieren haben, bzw. implizit, daß sie dazu gezwungen werden. Die Verluste eines Einbruchs des Sozialprodukts um sechs Prozent lassen sich erst in zehn bis zwanzig Jahren aufholen, wenn sie sich überhaupt aufholen lassen. Diese Politik wäre ein Großangriff auf die Arbeiterklasse, wäre der Beginn einer Schock-Politik, die zu einer großen Verelendung der Arbeiterklasse und zu ihrer totalen Entrechtung führt. Ist die Schock-Politik einmal implantiert, gibt es kein Zurück mehr. Dann ist der point of not return erreicht und die Bourgeoisie radikalisiert sich immer weiter. Ex-Bundespräsident Gauck ist eine zentrale Charaktermaske einer Fraktion des Kapitals, welche eine Schock-Politik präferiert.

Die politischen Aktionen des deutschen Imperialismus bezüglich der Ukraine-Krise lassen sich nicht auf ein Vasallen-Verhältnis des deutschen Imperialismus zum US-Imperialismus reduzieren, sondern formulieren das originäre Eigeninteresse des deutschen Imperialismus gleichzeitig gegenüber dem russischen Imperialismus und dem US-Imperialismus und der imperialistischen Kette überhaupt, denn der Ukraine-Krieg des russischen Imperialismus gefährdet auch signifikant den Einfluß des deutschen Imperialismus in der Ukraine und darüber hinaus, wie er auch die Interessen des US-Imperialismus, des britischen Imperialismus, des französischen Imperialismus negativ tangiert. Die NATO-Koalition ist nur eine Koalition auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, den Zugriff des russischen Imperialismus auf die Ukraine zu verhindern und nur deshalb sind alle transatlantischen Metropolen bereit, einen Wirtschaftskrieg gegen den russischen Imperialismus zu führen und die Kriegsführung der Ukraine durch den NATO-Pakt zu koordinieren. Eine antirussische Koordination also, die von tiefen inneren Widersprüchen durchzogen ist und eine wirkliche Koordination verhindert. Jede Metropole hat ihre eigenen roten Linien, auch der deutsche Imperialismus. Der deutsche Imperialismus akzeptiert nur dann ein Bündnis mit dem russischen Imperialismus, wenn er die Führungsrolle wahrnehmen kann. Eben der Ukraine-Krieg des russischen Imperialismus verhindert jedoch objektiv eine Führungsrolle des deutschen Imperialismus in einem deutsch-russische Bündnis. Auch ohne den Einfluß des US-Imperialismus wird der deutsche Imperialismus sich einem deutsch-russischen Bündnis verweigern und konfrontativ gegen den russischen Imperialismus vorgehen. Ein deutsch-russisches Bündnis ist immer ein imperialistisches Bündnis und kein romantisches Bündnis zur Weltrettung. Dies zeigt sich auch konkret in dem gegenwärtigen Versuch des deutschen Imperialismus, sich die Ernte in der Ukraine anzueignen. Es ist überhaupt fraglich, wie hoch die Ernte ausfällt, denn die Aussaat ist durch die Kampfhandlungen in der Ukraine erheblich gestört und es ist hochwahrscheinlich, daß der russische Imperialismus schneller zum Zuge kommt. Trotzdem verhandelt die Deutsche Bahn mit der ukrainischen Bahn um den Abtransport der ukrainischen Ernte und steht damit in der Tradition des deutschen Imperialismus im ersten und zweiten imperialistischen Weltkrieg, in dem imperialistischen Raubkrieg gegen Rußland und der Sowjetunion, wo die Ukraine, die „Kornkammer,“ dem russischen Imperialismus bzw. der Sowjetunion entrissen werden sollte. In beiden imperialistischen Weltkriegen wurde die Ernte aus der Ukraine nach Deutschland verfrachtet und damit objektiv in der Ukraine eine Hungersnot organisiert. Diese Politik des deutschen Imperialismus ist nicht transatlantisch bestimmt, sondern den eigenen Interessen des deutschen Imperialismus, auch notfalls gegen den transatlantischen US Imperialismus, geschuldet.

Bisher war der US-Imperialismus der Weltpolizist und garantierte eine internationale Ordnung, hatte die Hegemonie inne, weil es ihm gelang, auch die Interessen der anderen Metropolen und auch der Peripherie zu vertreten, d.h. ihre allgemeinen Interessen gegenüber ihren vielfältigen Sonderinteressen, auch wenn der US-Imperialismus dabei selbst seine Ordnung und seine Regeln dabei verletzte. Aus eben diesem Grunde marschiert derzeit der deutsche Imperialismus derzeit mit Gleichschritt mit dem US-Imperialismus, denn er garantiert eine Ordnung, auch für den deutschen Imperialismus, trotz aller Differenzen des deutschen Imperialismus mit dem US-Imperialismus. Nichts fürchtet der deutsche Imperialismus und die anderen transatlantischen Metropolen mehr, als ein Machtvakuum in der imperialistischen Kette. Für die transatlantischen Metropolen ist ein Machtvakuum nichts als Chaos und sie fürchten sich vor dem Chaos. Das Chaos ist eine Bedrohung für die „nationale Sicherheit“ der transatlantischen Metropolen. Aus ihren eigenen allgemeinen Interessen scharen sich derzeit die anderen transatlantischen Metropolen um den US-Imperialismus, hoffen auf die Machtentfaltung ihres „Großen Bruders“ und werden somit in seinen Untergangssog gerissen. Die Politik des deutschen Imperialismus kann nicht auf die Politik des US-Imperialismus reduziert werden. Der Marsch vom „Corona-Notstand“ in den „Kriegsnotstand“ ist vor allem der Weg des deutschen Kapitals. Der Hauptfeind steht im eigenen Land!

  1. Der proletarische Ausweg

-Radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, ansetzend an der alltäglichen Sabotage der Ausbeutung und international organsiert

-Arbeiterkontrolle über die Produktion als ersten Schritt zur proletarischen Doppelherrschaft.-

-Gleitende Lohnskala und gleitende soziale Transferleistungen gegen die Inflation und ebenso gleitende Skala der Arbeitszeit. Je höher die Arbeitslosigkeit, desto geringer die abgeleistete Arbeitszeit, damit die Arbeit auf alle Schultern verteilt wird.

– Der Feind steht im eigenen Land. Verweigerung und Sabotage der Aufrüstung, wie der psychologischen Kriegsführung, welche den Weg zur Aufrüstung freimachen soll. Der Hauptfeind ist das deutsche Kapital. Kampf den deutschen Waffenlieferungen und der Ausbildung des ukrainischen NATO-Militärs. Vorbereitung eines Generalstreiks gegen Krieg und Krise.

-Bildung proletarischer Hundertschaften gegen die Repression des bürgerlichen Staates und seiner neofaschistischen Organisationen.

Iwan Nikolajew Hamburg, im Mai 2022 Maulwurf/RS

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Oben     —   The consequences of a missile strike on Kyiv (6)

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Deutsche Kampfbereitschaft

Erstellt von Redaktion am 1. Mai 2022

Was tun, wenn’s brennt?

Angela Merkel - Αντώνης Σαμαράς.jpg

Mit absoluter Sicherheit nicht für einen Staat die Uniform tragen um mich als Mörder zu verdingen !!

Von Jannes Koch

Klar unterstützen wir die Ukraine! Aber würden wir auch selber zu den Waffen greifen? Wir mogeln uns um die Kriegsfrage herum.

Es sind schmerzhafte Gedanken, sie sind schwer zu ertragen, sie machen mich ratlos. Mein Vater war von 1933 bis 1945 Berufssoldat in Hitlers Wehrmacht, die Russland überfiel. Müssen wir uns heute darauf vor­bereiten gegen Russland Krieg zu führen, frage ich mich, meine Freunde, meine Kinder.

Ich bin 60, habe in den 1980er Jahren den Kriegsdienst verweigert und Zivildienst in einer Umweltinitiative geleistet. Ich bin ein hedonistischer, ironischer Zivilist. Zum letzten Mal geprügelt habe ich mich vor 30 Jahren. Statt Taekwondo zu lernen, tanze ich Tango. Ich habe abgerüstet. Wir haben abgerüstet. Was sind jetzt unsere Antworten auf den russischen Angriff in der Ukraine?

Manche politische Reaktionen sind naheliegend. Wirtschaftliche Sanktionen, Energieembargo, Waffenlieferungen – kann man machen, wird teils schon gemacht. Aber damit halten wir uns den Krieg auf Distanz. Weit im Osten kämpfen die Ukrainer:innen, während hier das alltägliche Leben weitgehend normal weiterläuft. Die wirklich kritischen Punkte schieben wir beiseite, wir mogeln uns um die Kriegsfrage herum.

Was jedoch würde passieren, wenn die russische Regierung den nächsten Schritt täte und beispielsweise die Republik Moldau angriffe? Die Ansage des russischen Generals Rustam Minnekajew, die ganze Südukraine bis nach Transnistrien zu beanspruchen, einen noch immer russisch besetzten Teil Moldawiens, deutet in diese Richtung. Oder die Moskauer Regierung kommt auf die Idee, eine Landverbindung zwischen Belarus und dem isoliert an der Ostsee liegenden Kaliningrad herstellen zu wollen. Das liefe auf einen Angriff auf die Nato-Staaten Polen und Litauen hinaus.

Ein Stoppschild für Putin

Es besteht die Gefahr, dass Wladimir Putins Machtanspruch unsere demokratischen Nachbarländer bedroht und sich so auch näher an uns heranfrisst. Ich aber will mich und das freiheitliche Europa nicht von einem imperialistischen Diktator herumschubsen, erpressen und bedrohen lassen. Europa und die Nato sollten der russischen Regierung jetzt ein Stoppschild hinstellen.

Wer das genauso sieht, muss die Konsequenzen zu Ende denken. Den nächsten Angriff Russlands sollten die EU und Nato mit mehr beantworten als mit Reaktionen aus der Ferne. Das hieße, europäische Truppen, auch Sol­da­t:in­nen der Bundeswehr würden kämpfen und sterben. Selbst die letzte Option stünde zur Diskussion. Zu Beginn des Überfalls auf die Ukraine hat Putin Europa mit Atomwaffen gedroht, wenn wir ihm in die Quere kommen. So frage ich mich: Sollten wir bereit sein, mit Atomwaffen zu antworten, um im Notfall die Selbstbestimmung der westlichen Demokratien zu sichern, oder werden wir beim nächsten Mal erneut aus der Distanz zuschauen?

Und möglicherweise braucht Deutschland auch eigene Atomwaffen, um Europa zusammen mit Frankreich und Großbritannien zu verteidigen. Denn ob die US-Regierung im Rahmen der Nato dazu bereit wäre, ist fraglich, wenn beispielsweise Donald Trump oder ein anderer radikaler Republikaner die nächste Wahl gewinnt.

Solche Erwägungen anzustellen und aufzuschreiben, fällt schwer. Sie widersprechen sehr vielem, was in den vergangenen 70 Jahren in Deutschland normal geworden ist. Wir haben uns an ein Leben ohne von Granaten zerfetzte Körper, ohne frische Kriegsgräber, zerstörte Wohnhäuser, Hunger und Flucht gewöhnt. Jetzt sind wir doch wieder vor Fragen gestellt, die wir eigentlich nicht mehr beantworten wollten.

Der undenkbare Atomkrieg

Mein Vater hat mir viel über seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg erzählt. Er wurde mehrmals verwundet, kam knapp davon. Sein linkes Bein war kürzer als das rechte. Handgranatensplitter steckten in seinem Körper. Ich habe Dutzende Bücher über die Epoche gelesen. Deshalb habe ich einen schemenhaften Eindruck von der Brutalität des Abschlachtens. Ich kenne die Fotos aus den durch US-Atombomben zerstörten Städten Hiroshima und Nagasaki. Trotzdem weiß ich nicht, worüber ich rede, wenn ich nun vom Sofa aus den Atomkrieg erwäge. Ich denke etwas Undenkbares. Ich starre aus dem Fenster in den Berliner Nachthimmel. Und schalte den Laptop aus.

Sei es Atom oder ein Schuss – einmal ist für jeden Schluss, selbst. für politische Brandstifter. Sind es nicht Politiker-Innen welche die Länder wie ihr Eigentum regieren – dann sollten sie dieses auch verteidigen ! 

Neuer Versuch am nächsten Tag. Atomwaffen werden nicht eingesetzt, sondern dienen der Abschreckung. Die Nato-Regierungen in Washington, London und Paris sind bereit, Nuklearraketen loszuschicken, um gerade mit dieser Bereitschaft ihren Einsatz zu verhindern. In dieser Logik wird es nicht zu einem Atomkrieg um Moldawien oder Kaliningrad kommen. Schlage ich mich damit argumentativ in die Büsche? Mag sein.

Was würde ich selbst tun, wenn der konventionelle Krieg zwischen Russland und der Nato stattfindet, über den ich hier nachdenke? Schätzungsweise bin ich fein raus, weil zu alt – die Bundeswehr will mich nicht mehr. Zöge ich ohne Waffenausbildung selbstorganisiert an die Front, schickten die internationalen Brigaden den Opa wohl nach Hause zurück. Aber vielleicht wären meine journalistischen Fähigkeiten gefragt – Propaganda, Nachrichtendienst, Kriegsberichterstattung. Darauf könnte ich mich einlassen.

Selbst kämpfen? Oder besser auswandern?

In Gesprächen mit Freunden und Familie teste ich meine Gedanken. Meine Ex-Frau sagt sofort: Wenn es so kommt, müssen wir damit rechnen, dass unsere Tochter und unser Sohn in die Bundeswehr eingezogen und kämpfen werden. Sie schüttelt den Kopf. Die eigenen Kinder in den Krieg schicken? Oder dafür mitverantwortlich sein? Das ist der grausamste Gedanke. Wer kann dazu Ja sagen? Ich nicht.

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Oben     —   Συνάντηση Σαμαρά Μέρκελ στο Βερολίνο

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Unten     —   Explosion von Upshot-Knothole Badger 1953 auf der Nevada Test Site

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Le Pens Klientel

Erstellt von Redaktion am 27. April 2022

Die Wut von Franzosen

Warum wird von Frankreich etwas erwartet, was von Schland seit Ende des Krieg verschlafen  wurde?

Ein Schlagloch von Jagoda Marinic

Europa hat für die sich öffnende Schere von Arm und Reich keine Lö­sun­gen. Statt Wohnungspreise zu regulieren, hält die EU Spekulanten die Tür auf.

Es gibt keine Entwarnung für Europa. Ja, Macron hat Le Pen besiegt. Die Bilder von seinem Sieg erleichterten viele Europäer, seine hohlen Versprechungen lassen viele jubeln. Er verspricht, Präsident aller zu werden. Na dann. Ich verstehe das tiefe Bedürfnis nach Entwarnung. Es gibt zu viele Krisen derzeit. Man wünscht sich Ruhe an irgendeiner Front. Doch die Krise Europas ist mit der Wahl Macrons nicht vorbei. Im Gegenteil: Er könnte sie weiter befördern, wenn sich an seiner Politik nichts ändert.

Noch besser als die Erleichterung über Macron verstehe ich die Wut jener französischen Wählerinnen, die für Le Pen stimmten. Ja, sie ist Rassistin, doch ihre Strategie, den überforderten Bürgerinnen und Bürgern die Welt wieder kleinzuschrumpfen, ist intellektuell leider gut nachzuvollziehen und strategisch klug. Würde die Linke die Flanke, über die Le Pen kommt, schließen, hätte sie kein so leichtes Spiel.

Warum fragen so viele aus ihren Jugendstilwohnungen heraus empört: Wie kann man nur Le Pen wählen, wo man doch Macron wählen kann? Und mit Macron unser heiliges Europa! Sollte man nicht besser umgekehrt fragen: Wie kann man Macrons innenpolitischem Kurs gegenüber so unkritisch sein, wenn man seine Politik beobachtet? Woher die blinde Liebe zur EU? Arbeitnehmer haben es in Macrons Frankreich schwerer als zuvor. Geringverdienern wurde das Wohngeld gekürzt.

Die Mittelschicht darf mehr Steuern bezahlen, während die Vermögensteuer abgeschafft wurde, weil es ja Kapitalflucht gab. Weite Teile der Politik haben vor den Superreichen kapituliert. Die Bürger lassen sich nun im rechten Kümmerermodus einfangen. Das Problem wird sich nicht lösen, solange die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht. Ohne eine stabile Mittelschicht wird es keine stabilen Demokratien geben. Ohne eine wirklich soziale Marktwirtschaft wird es keinen sozialen Frieden geben.

Perverser Reichtum

Die Spaltung der Gesellschaft entsteht dadurch, dass die Superreichen sich für steuerlich unantastbar halten, während die Normalverdiener die Hauptlast der gesellschaftlichen Infrastruktur der Demokratien tragen. Der perverse Reichtum eines Elon Musk etwa, der mal eben 40 Milliarden Dollar lockermacht, um Twitter zu kaufen. Wie reich dürfen Einzelunternehmer sein? Reich an Geld und reich an Bürgerdaten? Reguliert das noch jemand?

Viele haben den Eindruck, dass den Superreichen und ihren Geldflüssen politisch nicht mehr beizukommen ist. Linke haben früher die Globalisierung kritisiert, heute müssen sie – aus guten Gründen – den offenen Handel verteidigen, weil er zu der Offenheit offener Gesellschaften gehört. Doch die offene Gesellschaft ist für viele zum Synonym für das ungeschützte Individuum geworden. Schützende Regulation fehlt. Viele haben ein Bedürfnis nach der Verzwergen der Welt, um ihrer Probleme wieder Herr zu werden. Le Pen spielte mit diesen Bedürfnissen.

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Waren es nicht immer die leersten Köpfe – welche in dieser Welt bestimmt haben?

Es braucht mehr politische Verantwortungsträger, die globale Verteilungsfragen in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen. Das Autopatriarchat eines John Ford war zwar schlecht, aber immerhin noch egoistisch fürsorglich. Das Megalomaniat, das Bezos, Musk und ihresgleichen verkörpern, kennt nicht einmal mehr egoistische Fürsorge. Humankapital ist ja zur Genüge vorhanden, um es abzunutzen.

Marine Le Pen droht mit dem Frexit und erhält trotzdem 42 Prozent, so die Empörung. Statt Wahlvolkbeschimpfung zu betreiben, sollten Analytiker fragen, weshalb jeder zweite Franzose die EU opfern würde? Würde die EU sich anders positionieren, etwa bei der Regulation von Immobilienmärkten, wüssten Europäerinnen, wofür sie gut ist. Stattdessen verlangt die EU etwa von EU-Beitrittsländern Liberalisierung, ohne Rücksicht auf die Kaufkraft der Einheimischen zu nehmen, wie etwa in Kroatien zu beobachten ist.

Wahlvolkbeschimpfung nützt nichts

Kanadas Staatschef Justin Trudeau will den Anstieg der Immobilienpreise stoppen, indem er Ausländern den Kauf von Häusern verbietet. Illiberal? Ich erinnere mich an einen Aufenthalt in Toronto, wo ich bei einer Sekretärin wohnte, die sich einst im Stadtzentrum ein Haus leisten konnte. Unvorstellbar für die heutige Zeit. Reiche Spekulanten aus China, Russland oder den Arabischen Emiraten kaufen den knappen Wohnraum der Städte als Geldinvestition auf.

Quelle         :             TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben     —     Angela Merkel

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Ukraine-Krieg + Sanktionen

Erstellt von Redaktion am 26. April 2022

China widersetzt sich den USA

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von   :  Alexander Männer

Der von den westlichen Ländern gegen Russland entfesselte Sanktionskrieg geht weiter. In den USA und der EU wird bereits ein neues Sanktionspaket vorbereitet.

Zugleich müssen diese Länder konstatieren, dass es ihnen nicht gelingt, Russland wirtschaftlich vollständig zu isolieren. Dies führt dazu, dass der Westen den Druck auf unabhängige Staaten erhöht, sich der Sanktionspolitik anzuschliessen. Dass dies aber problematisch ist, zeigt etwa die unerschütterliche Position Chinas bezüglich der Ukraine-Krise und der Sanktionspolitik, was vor allem Washington zur Verzweiflung bringt.Trotz der Drohungen aus den Vereinigten Staaten, folgenreiche Sanktionen gegen die Volksrepublik China wegen deren Haltung zu Russlands Invasion in der Ukraine einzuführen, lässt sich Peking von seiner Politik nicht abbringen. Die Chinesen halten weiterhin an ihrer neutralen Position in dem Ukraine-Konflikt fest und sind stets bemüht um Frieden und sind bereit, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft weiterhin eine konstruktive Rolle in der Angelegenheit zu spielen.

Zugleich übt Peking zunehmend Kritik an dem Auftreten des Westens. So seien die Mentalität der Konfrontation und die Logik einseitiger Sanktionen veraltet, hiess es zum einen aus dem Aussenministerium. China sei keine Konfliktpartei in der Ukraine, daher sollten die üblichen Handelsbeziehungen der Volksrepublik zu anderen Ländern, einschliesslich Russland, nicht beeinträchtigt werden.

Zum anderen ist chinesische Führung der Ansicht, dass es die USA sind, die als Brandstifter in dem Konflikt auftreten und mit der Osterweiterung der NATO die Hauptursache für die gegenwärtigen dramatischen Entwicklung zwischen Moskau und Kiew geliefert haben.

Dazu hatte das chinesische Aussenamt einige Aspekte wiederholt dargelegt, die die Einschätzung Pekings in dieser Problematik im Hinblick auf die Rolle Washingtons deutlich zum Ausdruck bringen:

  • Die USA verschärfen den Konflikt in der Ukraine bewusst, um China und Russland abzuschrecken.
  • Es waren die USA, die die Spannungen zwischen Moskau und Kiew an einen kritischen Punkt gebracht haben.
  • Die USA haben keine Massnahmen ergriffen, um die Eskalation zu reduzieren, stattdessen verschlimmern sie die Lage, indem sie andere Länder dazu bringen, eine Seite zu wählen, unter anderem zum Nachteil dieser Länder.

In diesem Zusammenhang ruft China die USA dazu auf, ihre Rolle in der russisch-ukrainischen Krise zu überdenken, zur friedlichen Lösung des Konflikt beitzutragen und zudem ihre Schuld für die Anstiftung zum Ukraine-Krieg zuzugeben.

Dass Peking so deutlich darauf verweist, dass es die USA sind, die durch die Sanktionen weiterhin Öl ins Feuer giessen und die Situation in der Ukraine dadurch nur noch verschlimmern, zeugt ganz klar davon, dass die Chinesen von ihrer Position nicht abweichen werden.

US-Druck auf China nimmt zu

Dies ist den USA ein Dorn im Auge, weil die Ameriakner dadurch ihre Sanktionspolitik gegen Russland als von China unterwandert betrachten und vor allem die Führung in Peking dafür verantwortlich machen, dass die Wirtschaftsbeschränkungen gegen Moskau bisher die erhoffte Wirkung offenkundig verfehlt haben.

Und daran scheint die US-Führung zu verzweifeln, weswegen sie sich wohl dazu veranlasst sieht, den Druck auf unabhängige Länder zu erhöhen, damit sich diese der Sanktionspolitik anschliessen, meint der griechische Politologe Paul Antonopoulos.

Wie Antonopoulos in einem Artikel dazu schreibt, seien die USA „empört über Chinas klare und konsequente Haltung zur Ukraine-Krise”, die sich trotz des ständigen Drucks nicht geändert habe. Daher wolle Biden sein Gesicht wahren und zeigen, dass er die Chinesen für ihre Haltung in Bezug auf Russland bestrafen wird, heisst es.

Dafür sprechen auch diverse Ankündigungen aus Washington, entsprechende Massnahmen in dieser Frage zu ergreifen. So hat die US-Finanzministerin Janet Yellen laut der Nachrichtenagentur Reuetrs vor den wirtschaftlichen und finanziellen Folgen für China und andere Länder gewarnt, die versuchen sollen, Russland zu helfen, die Wirtschaftsbeschränkungen zu umgehen.

Vizepräsident Biden äußert sich bei der gemeinsamen Eröffnungssitzung.jpg

Die Koalition der Länder, die die Sanktionen gegen Moskau erlassen haben, werde „nicht gleichgültig gegenüber Handlungen” auftreten, die die Sanktionspolitik untergraben, meint Yellen.

„China kann nicht erwarten, dass die Weltgemeinschaft ihre Aufrufe zu den Prinzipien der Souveränität und territorialen Integrität in Zukunft respektiert, wenn es diese Prinzipien jetzt, wo es wichtig ist, nicht respektiert”, so die Ministerin. Deswegen könne die Haltung der Welt gegenüber China und ihre weitere wirtschaftliche Integration durch „Pekings Reaktion auf unsere Forderung nach entschlossenem Handeln gegenüber Russland beeinflusst werden.”

Solche von Ultimaten und Drohungen geprägte Politik Washington lassen jedoch daran zweifeln, dass die US-Strategie für China letzten Endes erfolgreich sein wird. Stattdessen ist davon auszugehen, dass die Amerikaner damit eher alle Bedingungen dafür schaffen, dass China unter keinen Umständen die Beziehungen zu Russland abbricht und weiterhin unabhängig’ von Washington agiert.

Quellen:

https://www.bbc.com/news/world-asia-china-60732486

https://www.stvincenttimes.com/china-declares-position-on-ukraine-conflict/

http://de.china-embassy.org/det/fyrth/202204/t20220412_10666970.htm

http://www.chinesemission-vienna.at/eng/fyrth/202204/t20220412_10667041.htm

https://economictimes.indiatimes.com/news/defence/china-blames-us-nato-growth-for-ukraine-war/articleshow/90591174.cms

https://economictimes.indiatimes.com/news/defence/china-blames-us-nato-growth-for-ukraine-war/articleshow/90591174.cms

https://www.rnd.de/politik/ukraine-krieg-china-gibt-usa-und-nato-schuld-peking-ruft-grenzenlose-partnerschaft-mit-moskau-aus-UOG5B2MIKQWIHBPPHBMUDVDIKE.html

https://www.telesurenglish.net/news/China-Denounces-US-Pressure-on-Ukraine-20220404-0021.html
https://infobrics.org/post/35391

https://www.reuters.com/world/us-allies-will-not-be-indifferent-those-who-undermine-russia-sanctions-yellen-2022-04-13/

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben     — Präsident Joe Biden nimmt am Montag, den 15. November 2021, an einem virtuellen bilateralen Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping im Roosevelt Room des Weißen Hauses teil. (Offizielles Foto des Weißen Hauses von Cameron Smith)

Dieses offizielle Foto des Weißen Hauses wird nur für die Veröffentlichung durch Nachrichtenorganisationen und/oder für den persönlichen Gebrauch zum Ausdrucken durch das/die Motiv(e) des Fotos zur Verfügung gestellt. Das Foto darf in keiner Weise manipuliert werden und darf nicht in kommerziellen oder politischen Materialien, Werbung, E-Mails, Produkten und Werbeaktionen verwendet werden, die in irgendeiner Weise eine Genehmigung oder Billigung des Präsidenten, der First Family oder des Weißen Hauses nahelegen.

Verfasser Das Weiße Haus     ( PD )     /     Quelle    :     P20211115CS-3022     /     Datum      –    15. November 2021

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Unten     —     Vizepräsident Joseph Biden hält am 10. Juli 2013 eine Rede bei der gemeinsamen Eröffnungssitzung des strategischen und wirtschaftlichen Dialogs zwischen den USA und China im Dean Acheson Auditorium des US-Außenministeriums in Washington, D.C. [Foto des Außenministeriums / Public Domain]

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Schmutzige Geschäfte

Erstellt von Redaktion am 26. April 2022

Rüstungskooperationen mit Russland

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Von Björn Müller

Im Jahr 2008 führte Moskau in Georgien Krieg. Dennoch begannen Europa und Russland danach eine intensive Rüstungszusammenarbeit.

Frank-Walter Steinmeier hielt im Frühjahr 2008 eine Rede an der Universität Jekaterinburg. Ihr Titel: „Für eine deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft“. Der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident formulierte darin das Konzept des „Wandels durch Handel“, das über Jahre Grundlage der deutschen Russland-Politik war. Es besagt: Wir investieren bei euch; das modernisiert eure Industrie und die Gesellschaft gleich mit dazu.

Dass der Kreml kurz darauf den Georgien-Krieg vom Zaun brach, ließ die deutsche Politik nicht zweifeln. Dort galt die breite Überzeugung, dass sich das Kurshalten auszahlen werde. Das fein ausgedachte Kalkül: Sich verflechten schafft Abhängigkeiten. Diese würden auf lange Sicht zum ultimativen Gewalthemmer, schließlich wolle sich niemand selbst schaden. Für die selbst ernannte Friedensmacht Deutschland war „Wandel durch Handel“ das vermeintliche Supertool, mit dem sich auch gefallene und damit aggressive Ex-Supermächte wie Russland sedieren ließen, sodass deren imperiale Phantomschmerzen abklingen.

Das Investitionssignal der Politik für Russland musste insbesondere die deutsche Wehrindustrie ansprechen. Denn das russische Pendant ist eine zentrale Größe der dortigen Wirtschaft. Klaus Mangold, der langjährige Vorsitzende des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft, sagte 2018 in einem Interview: „Wenn Sie den Rüstungssektor herausrechnen, ist Russland bei einem Industrieanteil an der Bruttowertschöpfung, der, denke ich, kleiner ist als die 20 bis 25 Prozent, die man für ein echtes Industrieland ansetzt.“

Zudem wurde 2007 Anatoli Serdjukow russischer Verteidigungsminister – ein auf westliche Managementmethoden getrimmter Ex-Geschäftsmann einer Möbelhandelskette. Dieser legte das Modernisierungsprogramm der russischen Streitkräfte von 2011 bis 2020 explizit für europäische Beteiligungen aus, um den Preis- und Innovationsdruck auf den heimischen Rüstungskomplex zu erhöhen. Dabei half ihm die dürftige Performance der russischen Armee im Georgien-Krieg, Widerstände aus Industrie und Militär übergehen zu können.

Soldaten-Drill dank Rheinmetall

Somit leitete Deutschlands wichtigster Rüstungskonzern Rheinmetall 2011 das Großprojekt eines hochmodernen Ausbildungszentrums für die russische Armee ein, zum Drillen von 30.000 Soldaten im Jahr. Das Auftragsvolumen betrug 120 Millionen Euro. Der Konzern in seiner damaligen Pressemitteilung: „Der Auftrag ist von besonderer strategischer Bedeutung. Mit ihm ist der deutschen Wehrtechnik erstmals in bedeutendem Umfang der Zugang zum russischen Markt gelungen. Im Hinblick auf die Modernisierung der Ausrüstung der russischen Streitkräfte bieten sich damit gute Chancen für Folgebeauftragungen aus der Russischen Föderation.“ Rheinmetall beschreibt sich hier als Türöffner zu einem Eldorado für Deutschlands Waffenschmieden, in dem sie mit ihren Zulieferfirmen üppig verdienen könnten.

Russland war auch Verheißung, weil die Bundeswehr weiter verkümmerte. Im Jahr des Rheinmetall-Deals wurde in Deutschland die Wehrpflicht ausgesetzt – Teil eines Ad-hoc-Sparpakets von acht Milliarden Euro bei den bereits ausgehöhlten Streitkräften, um die Nachwehen der Finanzkrise zu bewältigen. Damals rechnete man mit einem weiteren Schrumpfkurs des Wehr­etats. Für Deutschlands Waffenindustrie galt es daher dringend, neue Märkte zu erschließen. Ein Kalkül, das auch für die europäische Konkurrenz galt. Schließlich sparten die meisten EU-Mitgliedstaaten zu der Zeit bei ihren „Bonsai-Armeen“ – so ein geflügelter Ausdruck unter Militärexperten – noch weiter.

In der Folge begann eine Reihe ambitionierter Rüstungskooperationen mit Russland. Ebenfalls 2011 startete Renault mit der russischen Rüstungsschmiede Uralwagonsawod das Projekt eines neuen Schützenpanzers für das russische Heer. Davor hatte Frankreich bereits mit Russland vereinbart, für 1,3 Milliarden Euro zwei Helikopterträger der Mistral-Klasse zu bauen, samt Technologietransfer und der Erlaubnis zur Lizenzproduktion.

2009 Moskauer Siegestag Parade 010.jpg

Der deutsche Maschinenbauer MTU sollte gleich für mehrere neue Schiffstypen der russischen Marine die Dieselmotoren liefern, so für die Korvetten der Gremjatschi-Klasse, die seit 2020 im Dienst sind. Symbol dieser russisch-europäischen Symbiose war vor allem der Vertrag der italienischen Iveco, sagenhafte 1.775 Infanteriekampffahrzeuge für die russischen Streitkräfte zu produzieren. Das Iveco-Modell M65 setzte sich sogar gegen das russische Konkurrenzfahrzeug Tigr durch.

Lieferungen noch bis 2018

Das vermeintliche Goldene Zeitalter war jedoch vorbei, bevor es richtig begonnen hatte. Erste dunkle Wolken zogen bereits 2012 auf. Damals wurde Radikalreformer Serdjukow geschasst und der jetzige Verteidigungsminister Sergei Schoigu übernahm das Ruder. Sein Kurs: maximal machbare Unabhängigkeit in der Rüstung, und zwar zügig. Eines der ersten Opfer war 2013 der Iveco-Deal. Nun setzten die Russen doch auf ihr Eigengewächs, das Fahrzeug Tigr.

Im Jahr darauf annektierte Russland die Krim und begann einen verdeckten Angriffskrieg im Osten der Ukraine. Russlands Diktator Wladimir Putin zeichnete damals umgehend ein großes Programm ab, um aus EU und Nato-Staaten eingeführte Militärtechnik durch russische zu ersetzen.

Die großen Rüstungsvorhaben wie Rheinmetalls Ausbildungszentrum und die Mistral-Helikopterträger kollabierten nun, da sie politisch nicht mehr haltbar waren – auch wenn die EU-Sanktionen Altverträge nicht berührten. Auf deren Basis gingen weiter Rüstungsgüter nach Russland. Ab 2014 verzeichneten die Rüstungsexportberichte der Bundesrepublik noch Genehmigungen bis 2018. Zwei Mehrzweckschiffe, Jagdwaffen, geschützte Geländewagen sowie Satellitentreibstoff. Die Luft- und Raumfahrt blieb bis zur Ukraine-Invasion ein letztes enges Kooperationsgebiet der Europäer mit Russland.

Dessen größter europäischer Rüstungspartner war über die Jahre Frankreich, zeigen die Exporterhebungen der EU. Der Waffenexportexperte Pieter Wezeman vom Stockholmer internationalen Friedensforschungsinstitut Sipri im Gespräch mit der taz: „Für Frankreichs Wehrfirmen wie Thales und Safran machten die Russland-Lieferungen nur einen kleinen Teil ihrer Gesamteinnahmen aus. Allerdings war der potenzielle Markt wegen des groß angelegten Modernisierungsprogramms beträchtlich.“

Technologie aus Frankreich für russische Panzer

Quelle         :         TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     —    Auf der linken Seite ist MiG-29SMT ’29 rot / RF-92941′, während auf der rechten Seite ist zweisitzige MiG-29UBT ’74 rot / RF-92947′. Diese Flugzeuge werden beide von 7000 AvB / 5 AvGr, der russischen Luftwaffe, betrieben und sind in Kursk stationiert. Sie wurden nach Chkalovsky verlegt, um an den Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen der russischen Luftwaffe in Schukowski teilzunehmen. Diese Flugzeuge bildeten eine riesige „0“ -Form als Teil eines „100“ -Formationsvorbeiflugs. Geparkt auf einem Rollweg in der Nähe der Rampe, die normalerweise von den stationierten IL-80 Airbourne Command Post-Flugzeugen genutzt wird. Chkalovsky Air Base, Russland. 13-08-2012

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Das Elixier des Untergangs

Erstellt von Redaktion am 18. April 2022

Deals mit russischem Öl und Gas

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Eine Kolumne von Christian Stöcker

Was haben Wladimir Putin, George W. Bush, die Koch-Brüder, die US-Republikaner, Teile der SPD, vier Merkel-Regierungen, Banken, die Automobilindustrie und die Börsen dieser Welt gemeinsam?

»Letztendlich wollen alle Geld machen, und das weiß der Kreml.«

Ein New Yorker Hedgefonds-Manager, zitiert in Catherine Beltons, »Putins Netz« (2020)

Im September 2005 kaufte der Gazprom-Konzern, der damals längst unter der Kontrolle des Kreml stand, Roman Abramowitschs Anteile am russischen Ölkonzern Sibneft, für eine Summe von umgerechnet etwa elf Milliarden Euro. Für den Kurs der Gazprom-Aktie war das hervorragend: Zwischen Anfang 2005 und Oktober 2006 verdreifachte sich der Wert der Anteile. In London knallten die Korken.

Gazprom war nur einer von mehreren russischen Konzernen, die an der britischen Börse für festliche Stimmung sorgten. 2006 ging auch noch der Ölkonzern Rosneft an den Markt. Eine Zeit lang wurde sogar spekuliert, das werde »der größte Börsengang der Geschichte«, mit einem Einstandswert von 20 Milliarden US-Dollar. Ganz so viel war es am Ende nicht, aber auch Rosneft sorgte für börsliche Ekstase. Und das, obwohl der Konzern maßgeblich aus den Yukos-Anteilen bestand, die der Kreml Michail Chodorkowski entrissen hatte, um ihn anschließend in Sibirien wegzusperren. Londons Banker verdienten am Rosneft-Börsengang 120 Millionen Dollar.

Die Schmierstoffe von »Londongrad«

Der Multimilliardär und Putinkritiker George Soros dagegen warnte damals, Rosneft werde immer »ein Werkzeug des russischen Staates« bleiben, Börsengang hin oder her. Zur Erinnerung: Anfang 2006 hatte Russland der Ukraine schon einmal das Gas abgedreht.

Seit etwa dieser Zeit hat die Londoner City übrigens den Beinamen »Londongrad«. Bis heute spielt russisches Geld aus dubiosen Quellen in der britischen Politik eine zentrale Rolleauch und gerade beim Brexit.

George Soros wiederum spielt schon lange eine Hauptrolle in im Westen verbreiteten Verschwörungstheorien. Das ist aufschlussreich, wenn man bedenkt, wie lange Wladimir Putin Soros schon als persönlichen Feind betrachtet. Vielen scheint bis heute nicht klar zu sein, wie lang, tief greifend und erfolgreich russische Einflussoperationen im Westen in all den Jahren gewesen sind. In Teilen der SPD zum Beispiel hat man das grotesk falsche Bild, das man von Putin hatte, offenbar bis heute noch nicht so ganz korrigieren können.

Putins Türsteher als CEO

Aber zurück zur Chronologie. Die Tatsache, dass damals, ab 2005, an den riesigen russischen Öl- und Gasvorkommen jetzt endlich auch westliche Investoren so richtig verdienen konnten, stieß in London und anderswo auf große Begeisterung. Selbst die Tatsache, dass die zugrundeliegenden Geschäfte stets sehr zwielichtig organisiert und die Börsenprospekte der Firmen teils sehr merkwürdig waren, störte die westlichen Märkte nicht.

George Soros war nicht der Einzige, der darauf hinwies, dass Putin und seine Getreuen sich bei jedem dieser Deals vermutlich die eigenen Taschen vollmachten, auch wenn sich das aufgrund zahlreicher Tarnmanöver nie nachweisen ließ. Der Chef von Rosneft war und ist Igor Setschin, ein Ex-KGB-Mann, der schon in Sankt Petersburg in den Neunzigern über den Eingang zu Wladimir Putins Büro wachte. Auch Gazprom-Chef Alexei Miller ist Putins Weggefährte seit den Petersburger Tagen.

Der Markt ist ein Idiot

All das störte die Herren in den Nadelstreifenanzügen in westlichen Bankhäusern nicht, solange Gas, Öl und Geld flossen. Der Markt ist, sehr oft, ein Idiot.

All das muss man selbstverständlich auch, eigentlich sogar vor allem vor dem Hintergrund betrachten, dass 2006 schon lange bekannt war, dass sich die Menschheit immer schneller auf eine von ihr selbst verursachte, globale Katastrophe zubewegte. 2007 erschien bereits der vierte Sachstandsbericht des Weltklimarates IPCC, in dem einmal mehr stand, was man schon viele Jahre wusste, wie so oft viel zu mild und harmlos formuliert: »Fortgesetzte oder weiter gesteigerte Treibhausgasemissionen würden zu weiterer Erwärmung und im Lauf des 21. Jahrhunderts zu vielen Veränderungen im globalen Klimasystem führen.«

Schon damals war auch klar, dass all das sehr teuer werden würde: »Die Folgen des Klimawandels werden sehr wahrscheinlich jährliche Nettokosten verursachen, die immer weiter steigen, wenn die globalen Temperaturen weiter zunehmen.«

Wie gesagt: Der Markt ist oft ein Idiot.

Zum entsetzlichen Gesamtbild gehört, dass der jüngste IPCC-Bericht, dessen Warnungen sich mittlerweile trotz aller politischen Einflussnahme zunehmend verzweifelt lesen, weltweit ein deutlich geringeres Medienecho fand als eine Ohrfeige bei einer Filmpreisverleihung. Das Gift steckt tief in unseren gesellschaftlichen Systemen, bis heute.

Gewinnbringer für Nichtskönner

Die börsliche Begeisterung für die Deals mit russischem Öl und Gas reflektieren gleich in zweifacher Hinsicht diese absurde Kurzsichtigkeit. Jedem, der es wissen wollte, konnte damals, 2005 und 2006, längst klar sein, das Wladimir Putin und seine KGB-Kumpel in Russland ein kleptokratisches, außerhalb jeder Rechtsstaatlichkeit operierendes System der rücksichtslosen Machtausübung und Selbstbereicherung schufen. Der Westen und seine Märkte halfen kräftig mit, dieses System zu finanzieren – und sorgten dabei gleichzeitig dafür, dass die Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit noch schneller untergraben wurden.

Quelle          :         Spiegel-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben          —   „Ich habe gelogen“ von Carlos Latuff.

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Unten     —       Christian Stöcker (2017)

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Der große Irritainer

Erstellt von Redaktion am 14. April 2022

Elon Musk – Kein Troll, sondern ein Meta-Troll

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Eine Kolumne von  Sascha Lobo

Der Tesla-Chef irritiert regelmäßig mit seinen Äußerungen auf Twitter, nun hat er sich bei der Plattform eingekauft. Manche nennen ihn einen Troll, dabei folgt Musk einer viel interessanteren Strategie.

Um Elon Musk und seine so aberwitzige wie hyperwirksame, na ja, Öffentlichkeitsarbeit zu verstehen, muss man einen Begriff aus der Netzkultur kennen: Shitposting. Es gibt wie meist für die interessantesten englischen Worte keine vollumfänglich treffende Übersetzung, deshalb nähern wir uns der Bedeutung einkreisend an. Shitposting enthält Elemente des Trollens, und Trolle sind bekannterweise pöbelnde Störer in sozialen Medien. Shitposting muss aber anders als das Trollen nicht zwingend provozierend und aggressiv sein. Denn es ist ein großer Teil Ironie, Irritation und Interaktionswunsch dabei.

Ein wenig bekanntes Wort mit einem anderen noch weniger bekannten Wort zu erklären, mag kein cleverer Ansatz sein. Aber der Begriff, der dem Shitposting am nächsten kommen dürfte, wurde (wahrscheinlich) in den Neunzigerjahren von ein paar kanadischen Aktionskünstlern in Berlin entwickelt: Irritainment.

Elon Musk ist mit seinen Shitposting-Attacken einer der begabtesten, in jedem Fall aber der mit Abstand erfolgreichste Irritainer der Welt. Ab und zu wird er als »Troll« fehlbezeichnet. Doch diese abwertende Zuschreibung verkennt, dass Musk einer viel größeren und interessanteren Strategie folgt, in der Erkenntnisse über sein Denken, sein Handeln und die Gründe für seinen Erfolg zu finden sind. Das wiederum sagt sehr viel über die Welt im 21. Jahrhundert, denn Elon Musk ist der reichste Mann des Planeten. (Wenn man den Kriegsverbrecher Wladimir Putin mal außer Acht lässt, der nach Einschätzung eben jenes Elon Musk »significantly richer than me« sei, also »erheblich reicher als ich«.)

Elon Musks ökonomische Erfolgsgeschichte findet ihren Ausgangspunkt in der sehr erfolgreichen Gründung und dem Verkauf von Zip2, einem heute unbekannten Start-up, das aber 1999 für den damaligen Weltrekordpreis (für Internet-Unternehmen) von 307 Millionen Dollar an Compaq verkauft wurde. Mit dem Erlös baute er das Bezahlsystem PayPal mit auf, das 2002 für anderthalb Milliarden Dollar an Ebay verkauft wurde.

In der Folge wurden seine zahlreichen Firmen immer spektakulärer: 2004 das Raumfahrtunternehmen SpaceX, das touristische Marsflüge anbieten möchte. Die Elektroautomarke Tesla, die – anfangs belacht und mehrmals am Rand der Pleite tänzelnd – inzwischen der wertvollste Autohersteller der Welt ist und an der Börse so viel wert ist wie die nächstgrößten Automobilhersteller der Welt zusammengenommen. Die SpaceX-Tochter Starlink, die mit 2000 Satelliten im All rund um den Globus Internet anbietet, das nicht durch Regierungen zensiert werden kann. Das Transportunternehmen Hyperloop, das Luftkissenkapseln mit Menschen und Gütern drin mit Überschallgeschwindigkeit (1220 km/h) durch Vakuumtunnel rasen lassen möchte. Die Gehirnvernetzungsfirma Neuralink, die an einer direkten Bioschnittstelle zwischen Hirn und Internet arbeitet. Und schließlich ein Tunnelbohrungsunternehmen namens The Boring Company, das jedoch als erstes eigenes Produkt einen Heim-Flammenwerfer für Gelegenheitspyrokrieger anbot.

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Jetzt hat Elon Musk 9,2 Prozent von Twitter gekauft, einfach so. Für 2,9 Milliarden Dollar. Der witzigste Wirtschaftskommentator der Welt, Matt Levine von Bloomberg, beschrieb daraufhin ein fiktives Gespräch zwischen dem recht neuen CEO von Twitter und Musk. Darin sagt der Fantasie-Musk, ihm sei egal, wie profitabel Twitter sei, »wenn sich euer Aktienkurs verdoppelt, ist das nur ein Rundungsfehler in meinem Vermögen«. Warum also ist Elon Musk zum größten Einzelaktionär von Twitter geworden, einer Social-Media-Plattform, deren weltweite Kommunikationsrelevanz zwar enorm ist, die aber bisher nicht im Ansatz so viel Geld verdient hat, wie die Investoren erwarteten?

Die Antwort liegt natürlich darin, dass Elon Musks Irritainment über Twitter unglaublich gut funktioniert. In gewisser Weise füllt er die Lücke, die die Verbannung von Trump gerissen hat. Nur, dass zum Irritainment (in dem Trump eine boshafte Meisterschaft erreichte) bei Elon Musk ein offensiver Aktivismus kommt und manchmal sogar: Weltverbesserung.

Per Twitter kann er den Bitcoin-Kurs beeinflussen

Seine Tweets werden in Minuten weltweit zur Nachricht und entfalten größte Wirkung. Die Kryptowährung Dogecoin etwa war häufiger Inhalt von Musks Tweets. Der Kurs von Dogecoin stieg um bis zu 50 Prozent, nur weil Musk darüber auf seine leicht kryptische, ironische, irritainende Art twitterte. Auch den Kurs von Bitcoin (Marktkapitalisierung über 750 Milliarden Dollar) kann Musk per Twitter fast nach Belieben beeinflussen. Nachdem der Chef des Welternährungsprogramms der Uno auf CNN gesagt hatte, dass schon zwei Prozent von Elon Musks Vermögen den Hunger der Welt beenden könnte, twittert Musk, er werde das tun, wenn ihm jemand beweise, dass die entsprechende Summe (sechs Milliarden Dollar) tatsächlich das Hungerproblem lösen würden. Wenige Tage später spendet Musk Tesla-Aktien im Wert von 5,7 Milliarden Dollar. Das ist ziemlich exakt so viel wie ganz Deutschland im Jahr 2020 insgesamt gespendet hat.

Quelle       :         Spiegel-online         >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben     —     Elon Musk Portrait Painting Collage Von Danor Shtruzman mit alten Bücherpapieren, Permanentmarker, Acryl, Graphit – Größe (100) x (62) CM

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Versorgung ist Geschäft

Erstellt von Redaktion am 12. April 2022

Inflation – Der Krieg heizt die Spekulation an

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von  :  Suitbert Cechura

Anders gesagt: Für die kommerzielle Spekulation ist Krieg ein interessantes Datum. Ein Kommentar.

Inflation ist allenthalben Thema – umso erstaunlicher, mit welchen Weisheiten die Medien hierzulande immer wieder aufwarten. Das Publikum wird ja laufend informiert: Mal steigen die Preise, mal verteuern sich die Waren, dann schießen die Preise in die Höhe oder explodieren geradezu, sie folgen einem Trend, sie laufen aus dem Ruder, es gibt einen vorübergehenden oder nachhaltigen Preisauftrieb usw. usf. Fragt sich nur, wer da wen treibt. Sind denn Preise Naturphänomene mit eigenen Eigenschaften oder eigenständige Subjekte?

Irgendwie sollen die verehrten Bürger und Verbraucher es wohl so verstehen. Jedenfalls geht es bei derartigen Meldungen nicht um die Erklärung der Sache – warum Preise auf breiter Front erhöht werden –, sondern darum, dass sich die Masse der Kundschaft, die für ihren Lebensunterhalt mehr zu zahlen hat, auf dieses Phänomen einstellt und damit ihr Geld neu einzuteilen lernt.

Streng genommen ist das ein Fall von Desinformation – jetzt nicht an der Kriegs-, sondern an der Heimatfront, wo „wir alle“ uns laut offizieller Ansage auf schwere Zeiten einzustellen haben. Denn was hier als Erklärung geboten wird, ist im Grunde nicht mehr als eine Tautologie: Die Preise steigen an der einen Stelle, so erfährt man, weil sie auch an anderer Stelle (Energie!) steigen.

Die Welt auf den Kopf gestellt

Dabei könnte noch jeder Bürger im Supermarkt oder an der Tankstelle in Erfahrung bringen, dass die Preise nicht von alleine steigen, da sie eben keine Subjekte sind. Sie werden vielmehr von Akteuren, die damit einen lohnenden Verkaufserlös einfahren wollen, zielstrebig festgesetzt und bei Bedarf laufend verändert. Von den wirklichen Subjekten ist in den Medien auch die Rede, allerdings mit einer interessanten Verschiebung. Sie erscheinen als diejenigen, die in erster Linie von den Preissteigerungen betroffen sind:

„Immer mehr Unternehmen heben die Preise an, um die gestiegenen Energiekosten auf ihre Kunden abzuwälzen.“ (SZ, 31.3.2022)

Dass Unternehmen und Handel ihre Kosten wie selbstverständlich auf ihre Kunden abwälzen, wird als eine Art Sachzwang angeführt. Ebenso gilt es als größte Selbstverständlichkeit, dass diese Wirtschaftssubjekte nicht mit den neuen Kosten leben können. Unter den veränderten Konditionen müssen sie es vielmehr hinkriegen, mit Kauf und Verkauf einen ordentlichen Gewinn zu erzielen, schließlich ist das der Sinn und Zweck der ganzen Veranstaltung.

Mit den besagten (Des-)Informationen sollen aber nicht sie als Quelle der Preissteigerung ausgemacht werden. Sie gelten als die Betroffenen, die mit diesem Phänomen als erste fertig werden müssen und deshalb Verständnis verdienen.

Dass mit den Kosten für die Unternehmen so etwas wie eine Sachnotwendigkeit in puncto Preisgestaltung vorgegeben ist, gehört allerdings ins Reich der Legenden. Auch das könnte man noch an jeder Tankstelle lernen. Denn dort schwanken die Preise im Laufe des Tages in erheblichem Umfang, ohne dass sich die Kostenlage der Unternehmen stündlich geändert hätte. Die beziehen sich nämlich auf ihre Kosten nur als ein Datum unter anderen, wenn sie ihre Preiskalkulation vornehmen. Der Preis ist für sie das Mittel, sich Marktanteile und Gewinne zu sichern. Deshalb ist er immer auch durch die Spekulation auf Markterfolge bestimmt.

A SENIOR CITIZENS' MARCH TO PROTEST INFLATION, UNEMPLOYMENT AND HIGH TAXES STOPPED ALONG LAKE SHORE DRIVE IN CHICAGO... - NARA - 556256.jpg

Bei der Kostenkalkulation kommt dann noch ein besonderer Faktor ins Blickfeld:

„Je mehr der Preisauftrieb an Breite gewinnt, umso wahrscheinlicher wird es auch, dass Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen einen Ausgleich für die Inflation fordern. ‚Damit steigt das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale‘, sagte die Wirtschaftsweise Veronika Grimm.“ (SZ, 31.3.2022)

Zwar will kaum noch jemand in dieser Gesellschaft von Lohnarbeit reden – es werden ja nur noch Entgelte und Gehälter gezahlt, womit der Begriff des Lohns und der Lohnabhängigkeit obsolet werden soll. Beim Thema Inflation aber taucht die Lohnarbeit nun wieder auf: Mit der Rolle des Lohns erinnert man sich an eine Klasse, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben muss und die daher in einer besonderen Abhängigkeit steht.

Der besondere Kostenfaktor Lohn

Der Lebensunterhalt von Lohnabhängigen erscheint als eine besondere Kost. Denn dass Lohnabhängige ihre Lebenshaltungskosten einfach auf die Käufer ihrer Ware abwälzen, die gestiegenen Kosten eben zum Argument für höhere Löhne machen, ist in den Augen (nicht nur) der Wirtschaftsweisen ein Unding. Während es für produktive und Handels-Unternehmen geradezu als Sachzwang gilt, die eigenen Kosten an die Kundschaft weiterzugeben, kommt dies für Lohnabhängigen nicht in Frage, gefährden sie doch damit ihre eigene Grundlage. Die angeführte Lohn-Preis-Spirale unterstellt ja, dass Unternehmen angesichts von höheren Lohnforderungen dann gar nicht anders können, als die Preise wiederum zu erhöhen und damit den Lohn weiter zu entwerten.

Damit wird denen, die vom Lohn leben müssen, vor Augen geführt, dass sie als abhängige Größe vom Geschäftsgang keine Chance haben, ihre Lebenssituation zu verbessern. Und Unternehmen wie Wirtschaftsweise können in der Regel darauf vertrauen, dass Gewerkschaftsvertreter in den Tarifrunden alles andere tun, als einen wirklichen Ausgleich für die gestiegenen Preise durchzusetzen. Haben sie sich doch längst in der Abhängigkeit der Einkommen vom Gang der Geschäfte eingerichtet und richten ihre Forderungen so aus, dass der unternehmerische Erfolg nicht in Frage gestellt wird.

Selbst wenn sie sich einmal aufschwingen und Lohnforderungen in Höhe der Inflationsrate stellen, weiß jeder, dass solche Forderungen nicht 1 zu 1 in einen entsprechenden Abschluss münden. Dieser hat als Kompromiss zu erfolgen und liegt dann am Ende meist weit unter dem notwendigen Ausgleich. Als Dementi der Vorstellung, dass eine erfolgreiche Wirtschaft gleichfalls zum Nutzen der dort Beschäftigten sei, will die Tatsache niemand verstehen, auch dann nicht, wenn im Boom oder Aufschwung die Beschäftigten über die Inflation verarmt werden.

Versorgung als Geschäft

Trotz steigender Preise wird der Menschheit immer wieder verkündet, dass die Versorgung gesichert sei: „Die Lebensmittelversorgung ist sicher.“ (Ernährungsminister Cem Özdemir, WAZ, 31.3.2022) Eine zweifelhafte Aussage! Natürlich stimmt es, dass prinzipiell alles Benötigte in Form von Waren und Dienstleistungen in der Marktwirtschaft existiert oder herangeschafft werden kann. In dem Sinne gibt es keinen Mangel und wird es ihn auch nicht geben.

Nur ist eins zu berücksichtigen: Bloß um Versorgung geht es in dieser Gesellschaft nicht. Versorgung ist Mittel des Geschäfts und hat sich in dieser Funktion zu bewähren. Deshalb fehlt am Ende doch hier und da einiges und gibt es trotz allem Überfluss auch jede Menge Armut. Schließlich ist der Erwerb des Lebensnotwendigen (und der zusätzlichen Vergnügungen sowieso) an Preise geknüpft, die nicht nur zu Zeiten der Inflation viele Menschen vom Genuss der Güterfülle ausschließen.

Insofern gehört die Aussage des Ministers zu den Fake-News. Denn mit den steigenden Preisen werden immer mehr Menschen vom Erwerb ihrer Lebensmittel ausgeschlossen, ihre Versorgung wird eingeschränkt und mit Sicherheit unsicher. Auch die Hungernden in der Welt sind nicht wegen zu wenig Weizen oder anderer Nahrungsmittel in Not – die gibt es weltweit in ausreichender Menge. Sie leiden vielmehr an ihrem Geldmangel, denn der Besitz von Geld entscheidet über ihr Schicksal.

Und an allem ist der Putin schuld

Finanzminister Lindner: „Der Krieg macht uns alle ärmer“. (Bild am Sonntag, 3.4.2022) Behauptet wird, dass es eine allgemeine Verarmung in Deutschland und Hunger in anderen Weltregionen wegen des Kriegs in der Ukraine gibt. Wie gezeigt, ist schon die Behauptung, dass alle ärmer werden, weil sie mehr bezahlen müssen, eine schlichte Lüge, denn es gibt ja diverse Gewinner in Zeiten der Inflation. Das wird auch gar nicht verschwiegen, sondern als moralisches Problem besprochen:

„Bei so manchen Preiserhöhungen fragt man sich, ob das wirklich an Putins Krieg liegt oder ob da einer heimlich Kasse macht.“ (Lydia Rosenfelder, Bild am Sonntag)

Ein seltsamer Vorwurf! Da wird eine Unterscheidung gemacht zwischen berechtigten und unberechtigten Preiserhöhungen. Ganz so, als ob es ein festgelegtes Verhältnis gäbe zwischen Kosten und Profit. Und darüber hinaus: „Kasse machen“ ist doch der Zweck der ganzen Veranstaltung namens Marktwirtschaft, an dem gerade die Bildzeitung als Letzte rütteln möchte.

Oder die Medien melden „Windfall-Profite“ bei den Energieunternehmen, also enorme Erfolge, während der Einkommensverlust für Lohnabhängige eine ausgemachte Sache ist. Dabei hat die Bezeichnung vom Windfall eine doppelte Bedeutung. Diese Profite sollen nicht nur besonders hoch sein, sondern irgendwie auch unangemessen und damit unanständig. Dabei versucht noch jedes Unternehmen, aus seinem Kapital eine möglichst hohe Profitrate herauszuholen. Schließlich werden Manager dafür bezahlt und mit Prämien belohnt, damit dies gelingt. Und am Schluss wird das Ganze als erfolgreiches Wirtschaftswachstum am Standort verbucht.

Die Behauptung, die Inflation sei das Produkt des Ukraine-Krieges, ist also schlicht eine Falschmeldung. Es fällt ja auch gleich auf, dass durch den Krieg noch keine Ernte in der Ukraine oder Russland ausgefallen ist – schließlich ist Winter –; dennoch soll der Krieg bereits an allen Ecken und Enden der Welt Versorgungsmängel hervorgerufen haben:

„In vielen Ländern weltweit verdrängt die Angst vor Lebensmittelknappheit und Hungersnöten die Sorgen um die Corona-Pandemie. Schuld ist Russlands Angriffskrieg in der Ukraine.“ (Bild am Sonntag)

Auch Gas und Öl fließt zu den vereinbarten Preisen aus Russland nach Westen. Dennoch sind die Preise für Weizen, Sonnenblumenöl, Dünger oder Öl und Gas in die Höhe geschossen und machen noch einmal deutlich, worum es bei der Preisbildung geht. Sie wird eben nicht, wie meist unterstellt, durch die derzeitigen Kosten bestimmt, sondern richtet sich auf zukünftige Gewinnerwartungen.

Bundesarchiv Bild 146-1971-109-42, Inflation, Schlange vor Lebensmittelgeschäft, Berlin.jpg

So ist es ja durchaus üblich, dass jetzt schon die Preise für zukünftige Ernten ausgemacht werden, auch wenn dafür noch kein Samenkorn in der Erde versenkt wurde. In Erwartung von zukünftigen Engpässen bei den verschiedenen Produkten werden bereits heute Preise festgelegt und spekulieren Unternehmen auf zukünftige Gewinne als Folge des Krieges. Denn der bietet, was die Preisgestaltung betrifft, eine gute Gelegenheit zur Preiserhöhung und zur Steigerung der Gewinne. Schließlich geht durch den Krieg viel Geschäft kaputt, was die Möglichkeit zum Ersatz schafft. Und auch die Versorgung von Truppen und die Aufrüstung vieler Staaten eröffnen viele lukrative Geschäftsmöglichkeiten…

Bestimmend für die Preise im Kapitalismus sind eben die Geschäftserwartungen der Spekulanten und als solche betätigen sich letztlich alle Geschäftsleute. Sie schaffen mit ihren Erwartungen auch die entsprechenden Realitäten. In der Erwartung zukünftiger Geschäftsmöglichkeiten erweitern sie ihr Geschäft und erhöhen die Preise. Alternativ lohnt es sich auch, Güter zurückzuhalten, schließlich gibt es die Perspektive, dass man sie später zu einem höheren Preis verkaufen kann.

So bewirken die positiv gestimmten Geschäftserwartungen gleich Mängel in der Versorgung oder in den Lieferketten – also Schwierigkeiten, die als Gründe für Preissteigerungen angeführt werden. Umgekehrt führen mangelhafte Geschäftserwartungen früher oder später in die Krise, weil niemand Geld investieren will, wenn die Geldvermehrung eine unsichere Angelegenheit ist.

Vernünftig ist eine Ökonomie, die auf Spekulation basiert, also in keiner Hinsicht. Doch aufkündigen will diese Art zu wirtschaften niemand, leider auch die nicht, die ständig davon den Schaden kassieren. Ihre Existenz als Arbeitnehmer ist an den Gang des Geschäftes geknüpft und das soll so bleiben – durch alle Härten und Belastungen, die gerade mal wieder offen angekündigt werden, hindurch.

Zuerst erschienen bei Telepolis

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Oben       —   „If You Must Squawk, Blame Them and Watch Out for Me“ – NARA – 514590

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„Zeitenwende“: Aufrüstung

Erstellt von Redaktion am 9. April 2022

„Zeitenwende“: Aufrüstung, Energiesouveränität, Kriegsmoral

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von   :      Renate Dillmann

Wie Deutschland den Krieg für einen nationalen Aufbruch nutzt. Olaf Scholz hat in seiner Regierungserklärung zur Ukraine eine „Zeitenwende“ in der deutschen Sicherheitspolitik und ein gigantisches Aufrüstungsprogramm verkündet.

„Der böse Mann, der böse Mann, der böse Mann
Soll tot sein, dann
Können wir wieder glücklich sein
Können wir wieder glücklich sein
Glücklich sein“

Peter Licht 2006 (Lieder vom Ende des Kapitalismus)

Robert Habeck nimmt den laufenden Krieg als endgültiges Argument dafür, die Nation von ihrer „Abhängigkeit“ von russischen Öl- und Gaslieferungen zu „befreien“ und stattdessen Fracking-Gas aus den USA zu importieren. Der Wirtschaftsminister spricht offen aus, dass der Kern der deutschen Klimapolitik die „Energiesouveränität“ der Bundesrepublik ist und kann sich dabei der Unterstützung durch fff gewiss sein. Und Annalena Baerbock verurteilt bei ihrer als „emotional“ gefeierten Rede vor den Vereinten Nationen Russland in einer Art und Weise, die den alten Weltkriegsverlierer Deutschland in die Rolle eines moralischen Richters hebt und demonstriert, was „wertebasierte Aussenpolitik“ meint.

Mit Fingerzeig auf den „bösen Mann“ in Moskau wird einiges, was die deutsche Nation in der Vergangenheit zum Teil entzweit und drangsaliert hat, mit Macht und ungeahnter Geschlossenheit voran getrieben – unter freundlicher Schützenhilfe der Mainstream-Medien, die ihre „Debattenkultur“ noch einmal stark verbessert haben.

Bedenken gegen einen Militäretat, der 2 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts verschlingt, werden in dieser Situation der nationalen Panikmache gegen einen „wahnsinnigen Mörder“ aus Moskau, der quasi jederzeit auch über „uns“ herfallen könnte, beiseite geschoben. Der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft gilt zurzeit als eine Art 5. Kolonne des „Feindes“, auch wenn er nur daran erinnert, dass Deutschland immer gut und verlässlich am Russland-Geschäft verdient hat. Und Zweifel an der Klimaverträglichkeit von amerikanischem Fracking-Gas oder sonstigen „Lösungen“ des deutschen Energiehungers werden angesichts der „unerträglichen Erpressung“, in der uns der „russische Bär“ mit seinen Lieferungen hält, für unerheblich erklärt – auch wenn Russland, ganz im Gegensatz zu Deutschland, seine Energie-Verträge bislang noch nie politisch-erpresserisch eingesetzt hat.

Die deutsche Regierung nimmt den russischen Krieg in der Ukraine zum Anlass, einige der bisherigen Widersprüche ihres nationalen Projekts offensiv zu bereinigen.

Das deutsche Souveränitäts-Dilemma wird endlich gelöst

Als Verlierer von Weltkrieg II hatte die Bundesrepublik seit ihrer Gründung ein Problem mit ihrer nur bedingten Souveränität. Weil sie als Frontstaat gegen die Sowjetunion im gerade anlaufenden Kalten Krieg gebraucht wurde, wurde sie von den USA ökonomisch kreditiert (Marshallplan) und auch militärisch wieder aufgerüstet (Bundeswehr, Nato-Mitgliedschaft), wovon die europäischen Nachbarn Grossbritannien und besonders Frankreich seinerzeit nicht gerade erbaut waren. Während diese beide Staaten in den folgenden Jahrzehnten mit letztlich fruchtlosen Kriegen um ihre Kolonien befasst waren, konnte sich die Bundesrepublik mit Hilfe der us-amerikanischen Kreditierung ihrer Währung produktiv in den Weltmarkt einklinken.

Der Aufstieg Deutschlands zu einer der weltweit grössten Exportnationen und zur führenden Ökonomie in der EU liess schon in den 1980er Jahren die Rede vom „ökonomischen Riesen und politischen Zwerg“ aufkommen, der die Unzufriedenheit deutscher Politiker mit der politisch-militärisch zweitrangigen Rolle ihrer „Bonner Republik“ zum Ausdruck brachte.

Die Bundeswehr etwa war bestimmt als reine Bündnisarmee mit der Funktionszuweisung, „Stolperdraht“ für russische Panzer zu sein. Mit dem Nato-Doppelbeschluss und der Stationierung von Pershing-Raketen und Cruises Missiles machte sich Deutschland in den 1980er Jahren dann zwar wichtiger für den Krieg gegen die Sowjetunion und erlangte so etwas wie eine „nukleare Teilhabe“ – allerdings auf Kosten dessen, selbst potenzielles Schlachtfeld eines Nuklear-Kriegs zu werden.

Die Selbstauflösung der Sowjetunion brachte die deutsche Politik 1990 schon enorm vorwärts: Mit dem Anschluss der DDR konnte die BRD die „Nachkriegsordnung“ ein erstes Mal korrigieren – eine Änderung übrigens, die nationale Jubelstürme auslöste! Das vergrösserte Deutschland begann in den Folgejahren, seine politisch-militärische Rolle eigenständiger zu definieren und „mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen“ – so hiess das jedenfalls in der Selbstinterpretation der deutschen Politik, ganz gleichgültig, ob irgendjemand das von Deutschland verlangt hatte oder nicht. Mit ihrer Politik der Anerkennung separationswilliger Provinzen der Bundesrepublik Jugoslawien machte sich die deutsche Regierung Kohl/Genscher stark für die nächste Änderung der Nachkriegsordnung: Titos Jugoslawien wurde zerschlagen und neue Grenzen gezogen.

Ganz weg vom Dilemma deutscher Aussenpolitik war man allerdings noch immer nicht. Als kapitalistische Wirtschaftsnation erster Güteklasse – inzwischen war Deutschland jahrelang Exportweltmeister! – musste man in Sachen Aussenhandel (Zugriff auf Rohstoffe und Absatzmärkte, sichere Handelswege, Erpressung anderer Staaten zum freien Waren- und Kapitalverkehr) noch immer auf die amerikanische Militärmacht zur Sicherung der „Weltordnung“ bauen und war auch nicht in der Lage, die weitere Zerlegung Rest-Jugoslawiens militärisch durchzusetzen; um die staatliche Autonomie von „Bosnien-Herzegowina“ und „Kosovo“ durchzusetzen, brauchten Deutschland und die EU erneut amerikanische Schützenhilfe. Das hatte eine sehr bequeme und für Deutschland ungemein kostengünstige Seite. Das hatte aber auch die unangenehme Seite, dass die USA die Störfälle der Weltordnung definierten – was zum Teil nicht unbedingt mit deutschen Interessen zusammenfiel.

Dieses deutsche Dilemma – als kapitalistisch überaus potente Nation auch nach der Erledigung des kommunistischen Hauptfeindes auf die militärische Potenz des „amerikanischen Freundes“ angewiesen zu sein – versuchte die rot-grüne Schröder/Fischer-Regierung 2003 erstmals zu attackieren. Sie liess sich von den us-amerikanischen Belegen über „Saddams Massenvernichtungswaffen“ nicht „überzeugen“ und verweigerte, zusammen mit Frankreich, eine Teilnahme am zweiten Irak-Krieg, weil sie dessen Nützlichkeit für die deutsche Aussenpolitik bezweifelte – was Deutschen und Franzosen die Verachtung der USA als „altes Europa“ einbrachte. Dagegen initiierten die beiden europäischen Führungsmächte den Aufbau eigener EU-Streitkräfte, angeblich ohne damit der Nato Konkurrenz machen zu wollen. Und Deutschland brachte North Stream I (und später II) auf den Weg, um sich mit dem Zugriff auf russisches Gas ein Stück aus der Abhängigkeit vom us-dominierten Ölmarkt zu emanzipieren.

Unter Angela Merkel stellte sich die deutsche Aussenpolitik dann wieder auf die andere Seite des Widerspruchs: unverbrüchliche Freundschaft mit Washington – was Frankreich erneut verärgerte und über eigene Wege nachdenken liess. In Deutschland liess die Unzufriedenheit wichtiger Politiker mit der Zweitrangigkeit des eigenen Militärs gleichzeitig nicht nach.

Bildergebnis für Wikimedia Commons Bilder Bundeswehr in Schulen Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Ob Horst Köhler in seinem Afghanistan-Interview 2010, Joachim Gauck vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2014, das Weissbuch der Bundeswehr 2016 oder Annegret Kramp-Karrenbauer bei ihrer Rede vor der Bundeswehrhochschule 2019 – sie alle waren (erst Recht, als Trump kam und Deutschland offen als problematischen Konkurrenten behandelte!) unzufrieden damit, dass diese Nation nicht eigenverantwortlich für ihre Interessen einstehen und weltweit „Verantwortung“ übernehmen kann.

Der aktuelle Verlauf des Ukraine-Konflikts macht das deutsche Dilemma erneut handgreiflich. Scholz und Baerbock hatten mit ihrer Vorkriegs-Diplomatie in Kiew und Moskau vermutlich versucht, zwei für Deutschland wesentliche Ziele unter einen Hut zu bringen: Putin zur unverhandelbaren Hinnahme einer ökonomisch und militärisch „west-orientierten“ Ukraine zu bewegen und gleichzeitig Russland als billigen und zuverlässigen Energielieferanten und Absatzmarkt zu erhalten.

Das hat, auch dank us-amerikanischer Hintertreibung, nicht funktioniert – und das nimmt die deutsche Regierung zum Anlass, die Aufrüstung in Gang zu bringen, mit der der „ökonomische Riese“ dann auch endlich autonom über die ihm gebührende militärische Absicherung verfügen können kann.

Mit der Erhöhung auf 2% des Brutto-Inlandsproduktes wird der laufende deutsche Militär-Etat um fast 50% auf 71,4 Milliarden Euro aufgestockt; dazu kommt im aktuellen Haushalt noch ein „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro.

Zum Vergleich: der russische Rüstungsetat lag 2020 bei 62, der britische bei 60 und der französische bei 52 Milliarden; Deutschland hat dieser Planung zufolge den drittgrössten Militärhaushalt der Welt hinter den USA und China und lässt die europäischen Konkurrenten deutlich hinter sich – wenn das nicht eine angemessene Ansage ist, die der von den Medien als „führungsschwach“ charakterisierte Kanzler macht!

Von heute auf morgen eine Aufrüstung um 120 Milliarden Euro beschliessen, das kann übrigens nur ein Land, dessen Wirtschaft so etwas auch liefern kann… Da zeigt sich der grosse Vorteil einer Rüstungsindustrie, die durch staatlich protegierte Rüstungsexporte so grosse Kapazitäten aufbauen konnte, dass sie nun auch spielend die neue heimische Nachfrage befriedigen kann. Massive Aktiengewinne der Rüstungsfirmen erfreuen die schwächelnde Börse.

Energie-Autarkie statt Abhängigkeit von russischem Gas und Öl

Was die USA seit langem verlangt haben, hat Deutschland als Teil der neuen Sanktionen gegen Russland zugestanden: Das Ende von North Stream 2. Bislang fliesst zwar weiter russisches Öl und Gas nach Deutschland; aber auch das wird als Bestandteil ausgeweiteter Sanktionen eventuell noch zur Disposition gestellt.

Wirtschaftsminister Habeck hat deutlich gemacht, dass er in der „Abhängigkeit Deutschlands“ von diesen russischen Importen einen schweren Fehler vergangener Regierungen sieht – ganz so, als hätte sich die deutsche Wirtschaft auf diese Art und Weise nicht den Zugriff auf zuverlässige und billige Energie gesichert, mit der sie ihre Exportwaren für den Weltmarkt so konkurrenzlos günstig herstellen konnte.

Zukünftig jedenfalls will Deutschland sich energiepolitisch autark machen – von den „Grünen“ schon lange als der staatsmaterialistische Kern ihrer Klima-Politik gehandelt. Idealiter soll das durch den weiteren Ausbau der regenerativen Energieformen passieren, mit dem man ja schon relativ weit gekommen ist; aber auch durch Wasserstoff-Technik, auf die Koalitionspartner FDP ja ganz besonders setzt. Finanzminister Lindner stellt dafür bis 2026 weitere 200 Milliarden zur Verfügung; Geld ist genug da – für die richtigen Vorhaben versteht sich. Das ganze Projekt bezeichnet Lindner als die „Freiheits-Energien“, womit er erheblich näher an der Wahrheit liegt als die Grünen mit ihrem Öko-Gelaber.

Wenn „zwischenzeitlich“ aber das „dreckige“ amerikanische Fracking-Gas, Kohlekraftwerke oder sogar alte AKW‘s gebraucht werden, um russische Lieferungen zu substituieren, werden die Grünen das ihrer braven fff-Gefolgschaft, die derweil gegen „Putin“ demonstriert, auch noch verklickern können. Hauptsache, alle sind bereit, an dieser Front Opfer zu bringen – und das ist ja zum Glück keine Frage mehr angesichts des „Bösen“, der Sibirien beherrscht.

Kriegsmoral auf höchstem Niveau

Verantwortlich für die dritte weltkriegsmässige deutsche Aufrüstung ist keineswegs deutsche Kriegslüsternheit. Das lässt sich Deutschland nicht vorwerfen – nach all der Läuterung, die die Nation in den letzten Jahrzehnten hingelegt hat. Verantwortlich ist niemand anderes als Putin, der „Irre aus Moskau“. Um das klarzustellen, hat Annalena Baerbock der Welt eine regelrechte Lehrstunde über die „wertebasierte“ grüne Aussenpolitik erteilt.

Deutsche Militärseelsorger während einer Trauerfeier bei der ISAF.jpg

Zum Segen eilt kein Mörder vergebens

Das kriegsmoralische Dilemma der deutschen Nation, sich als zweimaliger Weltkriegsverlierer besonders rechtfertigen zu müssen, wenn es ums Aufrüsten und Schiessen geht, hat sie dabei mit Bravour gemeistert. Die deutsche Aussenministerin hat es in ihrer Rede geschafft, sich aus der Rolle einer Vertreterin der deutschen Nation in die einer über allen stehende Richterin zu begeben. Sie argumentierte nicht mit den ökonomischen, politischen und militärischen Interessen, die Deutschland an einer Westorientierung der Ukraine hat und die sich mit den russischen Interessen an einer neutralen und entmilitarisierten Ukraine nicht vertragen.

Sie rief Russland vom Standpunkt der „Ordnung“ zur Raison, als deren Hüterin Deutschland auftritt und bezichtigte den Versuch des russischen Aussenministers, die Invasion der Krim nach dem Muster des westlichen Kosovo-Kriegs zu rechtfertigen, ohne jeden Gegenbeweis der „infamen Lüge“. Gleichzeitig stellte sie die radikale Kehrtwendung deutscher Sicherheitspolitik, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, als alternativlose Notwendigkeit angesichts der russischen „Aggression“ dar und machte damit im obersten diplomatischen Gremium der Welt deutlich, dass Deutschland eher einen Weltkrieg riskiert als eine neutrale Ukraine hinzunehmen. (Eine detaillierte Analyse der Rede findet sichhier.)

Man sollte festhalten: Wenn deutsche Medienmacher diese Rede der deutschen Aussenministerin mehrheitlich gut finden, wenn Annalena Baerbock als die „positive Überraschung dieser Regierung“ gefeiert wird („Die Welt“), dann ist das eine Auskunft über den Geisteszustand der deutschen Gesellschaft.

Diese Gesellschaft ist sich – mit Baerbock – einfach sicher, über die besten Werte dieser Welt zu verfügen. Im Augenblick sieht diese Welt demnach so aus, dass Demokratien gegen autoritäre Regime kämpfen. Das macht nicht nur jede Frage danach überflüssig, was Herr Müller in Essen in seinem Niedriglohn-Job von der „lupenreinen“ deutschen Demokratie eigentlich hat oder was Frau Orlowa im autoritären Putin-Russland eigentlich fehlt (ausser „lupenreiner Demokratie“). Das ersetzt nicht nur alles Nachdenken über Interessen und Gegensätze in wie zwischen den Nationen. Das versetzt vor allem in den Zustand einer moralischen Selbstgerechtigkeit, die es dem Rest der Welt wieder einmal zeigen muss – was die „Grünen“ in ihrem Wahlkampf ja unmissverständlich klar gemacht haben (soll also hinterher keiner sagen, man habe nichts wissen können!). Von diesem Standpunkt aus wird Putin auf eine Stufe mit Hitler und seine Invasion auf eine mit dem deutschen „Vernichtungskrieg“ gestellt, etwa von der Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang. Das ist – so übel ein Krieg auch immer vor allem für die Zivilbevölkerung ist (erinnern wir uns an die monatelange Bombardierung Belgrads oder das „Kundus-Massaker“) – eine sachlich unangemessene Charakterisierung des laufenden russischen Kriegs in der Ukraine. Hier trifft tatsächlich einmal der oft inflationär verwendete Vorwurf der Verharmlosung Nazi-Deutschlands und seiner Kriege („Unternehmen Barbarossa“).

Ende der Nachkriegsordnung

So bringt der Krieg, der Vater aller Dinge, einige nationale Anliegen auf Trab. Deutschland bereinigt angesichts des Ukraine-Kriegs einige Widersprüche der Nachkriegsordnung, die sich aus dem unglückseligen letzten Weltkriegsergebnisses ergeben hatten.

Das Militär wird „endlich“ auf den Stand gebracht, den diese Nation zur autonomen Absicherung ihrer ökonomischen Interessen und der dafür notwendigen geostrategischen Machtentfaltung braucht. Was der in Deutschland so verhasste amerikanische Präsident Trump dem Land vorgeworfen hatte: Dass es ausserordentlich viel aus der von den USA gesicherten Weltordnung profitiere und ausserordentlich wenig zu den Kosten ihrer Absicherung beitrage – das lässt sich die aktuelle Regierung einleuchten und bringt die fällige Aufrüstung auf den Weg. Friedensfreunde, die angesichts dessen mal wieder bejammern, dass das Geld „besser“ verwendet werden könnte, sollten sich fragen, wie viel denn ihrer Meinung nach angebracht ist, um dieses Deutschland zu „verteidigen“.

Das Streben nach Energie-Autarkie, mit der sich der rohstoff-arme deutsche Exportweltmeister von seiner „Energie-Abhängigkeit“ befreien will, erhält einen neuen Schub. Die Bürger müssen massiv erhöhte Kosten bei Sprit und Heizung zahlen; die Wirtschaft beschwert sich über die neuen Konkurrenz-Nachteile. All das muss aber sein, damit Deutschland sich in dieser Frage endlich von einigen Rücksichten emanzipieren kann – nicht zuletzt von der Abhängigkeit von einem us-dominierten Welt-Energie-Markt gehört, auch wenn jetzt nur von den schlimmen Russen die Rede ist.

Die unangenehme Kriegsschuld, die Deutschland vom letzten grossen Versuch immer noch anhaftete, wird gerade in der Auseinandersetzung mit dem Land, bei dem die deutsche Wehrmacht die mit Abstand meisten Kriegstoten verursacht hat (27 Millionen), kriegsmoralisch produktiv gemacht. Mit dem selbstgerechten Verweis auf die angeblich so geglückte Vergangenheitsbewältigung führen sich Führung wie Volk als Richter über „gut und böse“ in der Welt auf.

Und die deutschen Bürger?

Sie hören sich die diesbezüglichen Ansagen ihrer Regierung an. Dass Aufrüstung und Energie-Autarkie neben der sowieso schon deftigen Inflation ihren Lebensunterhalt weiter nach unten drücken, führt in unserer „freien Gesellschaft“ vorläufig ebenso wenig zu Massenprotesten oder Streiks wie die Tatsache, dass die deutsche Aussenpolitik zurzeit alle paar Tage die „rote Linie“, die Putin mit seiner Atomkriegs-Drohung gezogen hat, gezielt überschreitet und auslotet, was der „Irre in Moskau“ hinzunehmen bereit ist.

Ebenso wenig stören sich die aufgeklärten deutschen Bürger anscheinend daran, dass in der unserer „freien Presse“ herzlich wenig über den wirklichen Verlauf des Kriegs zu erfahren ist. Für das Bedürfnis nach „Information“ reichen die Interviews mit Betroffenen (natürlich nur der richtigen Seite!), den Klitschko-Brüdern und die täglichen Videos von Selensky mit Drei-Tage-Bart und Militär-Tshirt anscheinend völlig aus. Über die Positionen anderer Staaten ist kaum etwas, über die des „Feindes“ nichts zu erfahren (ausser sozialpathologischen Beschimpfungen).

Feindsender wie RT und Sputnik sind in der meinungsfreien Bundesrepublik verboten; Gabriele Krone-Schmalz, die sich mit ihren Analysen in der Vergangenheit dafür stark gemacht hatte, die russische Position wenigstens einmal intellektuell zu begreifen, wird als „Putin-Versteherin“ von der Mainstream-Presse fertig gemacht – ihre „reisserisch aufgemachten Paperbacks“ sollen am besten verschwinden.

So geht es in der liberalsten Demokratie, die Deutschland jemals hatte, zu. Aber die „freie“ Ukraine darf keinesfalls neutral werden – eher ist man für den Weltkrieg!

Jodtabletten sind übrigens ausverkauft.

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Oben     —    Altmarkt Dresden_DVB Bahn_Tarnbemalung Bundeswehr_1

Verfasser Lupus in Sachsen          /       Quelle    :  Eigene Arbeit       /       Datum 19.01.2017

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2.) von Oben      —       Autor   Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

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Unten      —     Militärdekan Dr. Damian Slaczka, Brigadegeneral Frank Leidenberger und Militärseelsorger Michael Weeke zollen den Opfern Respekt. (Foto von OR-7 Jacqueline Faller, RC North PAO)

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Benzin-Rabatt der FDP

Erstellt von Redaktion am 8. April 2022

Plötzlich ist der Markt egal

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Von Malte Kreutzfeldt

Beim Klimaschutz wollte die FDP komplett auf Preismechanismen setzen. Doch sobald das Benzin tatsächlich teuer wird, ist Klientelpolitik wichtiger.

Es war ein klares Konzept, das die FDP im Wahlkampf vertreten hat: Die Liberalen versprachen, das ambitionierte 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, doch anders als die politische Konkurrenz wollten sie dabei auf Vorschriften, Verbote und Subventionen verzichten. Den Rückgang der Treibhausgas-Emissionen wollten die Liberalen stattdessen komplett mit marktwirtschaftlichen Instrumenten erreichen: Der Handel mit CO2-Zertifikaten, der bisher nur für große Industriebetriebe und Kraftwerke vorgeschrieben ist, sollte auf alle Sektoren ausgeweitet werden.

Das ist in der Theorie keine schlechte Idee. Wenn die CO2-Emissionen überall einen einheitlichen Preis kosten, werden sie immer dort eingespart, wo es ökonomisch am günstigsten ist. Und über die jährliche Absenkung der maximalen Emissionsmenge können die Klimaziele punktgenau erreicht werden.

In der Praxis ist die Sache allerdings – wie so häufig – deutlich komplizierter. Denn was ökonomisch ideal ist, kann sozialpolitisch ziemlich katastrophal sein. Die CO2-Abgabe, die in Deutschland bisher für Autofahren und Heizen fällig wird, ist mit 30 Euro pro Tonne deutlich niedriger als der Preis im EU-Emissionshandel, der Ende letzten Jahres fast 100 Euro pro Tonne betrug. Würden, wie von der FDP gefordert, alle Sektoren in den Emissionshandel einbezogen, würden sich Benzin und Diesel um 25 Cent pro Liter verteuern, und auch das Heizen wäre deutlich teurer.

Die FDP hatte damit im Wahlkampf kein Problem, sondern erklärte die hohen Preise ausdrücklich für notwendig: „So schaffen wir Anreiz zur Investition in klimafreundliche Technologien“, heißt es im Wahlprogramm. Die Partei ging sogar davon aus, dass der CO2-Preis dazu führen würde, dass synthetische Kraftstoffe, die mithilfe von Ökostrom hergestellt werden, dadurch billiger würden als fossiles Benzin – was erst der Fall wäre, wenn sich dessen Preis etwa verdoppelt. „So können wir Klimaschutz marktwirtschaftlich und wissenschaftlich sicher erreichen“, hieß es im Wahlprogramm.

Ein halbes Jahr später ist von diesem Glauben an den Markt nicht viel geblieben. Als die Benzinpreise in Folge des Ukrainekriegs plötzlich steigen, sieht die FDP das nicht mehr als notwendigen Schritt für den Klimaschutz, sondern als Problem. Statt auf den Markt zu vertrauen, war es nun FDP-Chef Christian Lindner, der am lautesten nach einem Eingreifen des Staates rief und via Bild-Zeitung einen „Benzin-Rabatt“ versprach.

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Freie Fahrt für die politischen Räuber

Der wird nicht ganz so bürokratisch umgesetzt, wie von Lindner ursprünglich mit einer Verrechnung zwischen Tankstellen und Finanzministerium vorgeschlagen worden war. Aber auch die jetzt von der Ampelkoalition geplante Steuersenkung macht die Treibstoffe deutlich billiger. Statt des versprochenen Anreizes für klimafreundliche Technik gibt es jetzt das Gegenteil: Je größer und sprithungriger ein Auto ist, desto mehr profitieren die Fah­re­r:in­nen von der Benzinpreissenkung.

Preiswertes Autofahren, so scheint es, ist für die Liberalen ein Grundrecht – ganz anders als bezahlbares Wohnen

Preiswertes Autofahren, so scheint es, ist für die Liberalen ein Grundrecht – ganz anders als bezahlbares Wohnen: eine Mietpreisbremse lehnt die Partei bis heute ab. Wer sich die explodierenden Mieten nicht mehr leisten könne, müsse eben umziehen, argumentiert die FDP. Wer sich das Autofahren nicht mehr leisten kann, bekommt dagegen Hilfe vom Staat. Am Benzin-Rabatt hält die Partei fest, obwohl die Preise inzwischen wieder unter die zunächst als Ziel genannte Marke von 2 Euro pro Liter gefallen sind.

Zusammen mit dem Glauben an den Markt hat sich die FDP dabei auch von einem weiteren Grundsatz verabschiedet: dem Verzicht auf neue Schulden. Die hatten die Freidemokraten zunächst sogar abgelehnt, wenn damit neue Investitionen finanziert werden sollten, die langfristig Kosten sparen. Nachdem sie dort – richtigerweise – nachgegeben hatten, wollten sie aber zumindest bei Konsumausgaben hart bleiben.

„Wenn die Union eine sogenannte Spritpreisbremse fordert, dann muss sie sagen, was sie im Haushalt kürzen will“, hatte Lindner noch am 13. März erklärt – nur um wenige Tage später seinen eigenen Tank-Rabatt vorzustellen, der über neue Schulden finanziert werden soll.

Quelle       :       TAZ-online        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     — Die Tankstelle am Carrefour-Markt in Scheibenhard

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Unten       —     Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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Die Gas- Connection

Erstellt von Redaktion am 2. April 2022

Gazprom wurde zur politischen Waffe Putins, Erpressungen inklusive

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Von Manfred Kriener

Was 1970 mit dem Erdgas-Röhren-Geschäft mit der Sowjetunion begann, könnte jetzt mit dem barbarischen Krieg in der Ukraine enden.

Rubel oder Euro? Sofortiges Embargo oder langsamer Ausstieg? Der Krieg in der Ukraine und Wladimir Putins Psychospielchen um die Gaslieferungen führen die Abhängigkeit Deutschlands von den Energierohstoffen von Gazprom und Co brutal vor Augen. Diese Abhängigkeit hat eine lange Vorgeschichte, in der sich deutsche Wirtschaftsinteressen mit der Vorstellung von „Handel durch Wandel“ verquickten. Ein Blick in die Historie hilft zu verstehen, wie es überhaupt so weit kommen konnte.

Am 1. Februar 1970 unterschreiben in der Essener Nobeladresse Kaiserhof die Manager von Mannesmann, Ruhrgas AG und Deutscher Bank mit ihren sowjetischen Verhandlungspartnern den Vertrag zu einem einträglichen Milliardengeschäft. Mannesmann liefert den Sowjets Großröhren, die für eine 2.000 Kilometer lange Pipeline reichen. Die Deutsche Bank schießt einen günstig taxierten Kredit von 1,2 Milliarden Mark vor, damit die Käufer die Ware bezahlen können. Im Gegenzug liefert die Sowjetunion 20 Jahre lang bis zu 3 Milliarden Kubikmeter Erdgas im Jahr. Die Ruhrgas AG verteilt und verkauft alles. Für die Beteiligten ist es eine Win-win-win-win-Situation.

Der spektakuläre Erdgas-Röhren-Handel beendet die 1962 auf Druck der USA verhängte Embargopolitik der Nato. Sie hatte es den Deutschen strikt verboten, an Obstblockstaaten Röhren für den Bau von Öl- und Gaspipelines zu verkaufen. Die damalige Doktrin: Keine Geschäfte mit dem kommunistischen Feind, die seine Entwicklung voranbringen.

Schon 16 Monate nach dem Essener Deal wird aufgestockt. Die russischen Gaslieferungen werden mehr als verdoppelt – statt 3 werden jetzt 7 Milliarden Kubikmeter im Jahr geliefert – und Mannesmann darf weitere Röhren im Gegenwert der Gasimporte verkaufen. Wieder finanziert die Deutsche Bank das Ganze mit einem Milliardenkredit. Die Bonner Politik begleitet den Handel mit Wohlwollen und Bürgschaften. Willy Brandt hat schon als Außenminister ab 1966 wirtschaftliche Beziehungen zur Sowjetunion gefördert. Jetzt als Bundeskanzler setzt er auf friedliche Koexistenz und Entspannung.

Brandt sieht – 25 Jahre nach dem Krieg – in den Gaslieferungen aus Sibirien weniger die Gefahr einer Abhängigkeit als einen Vertrauensbeweis gegenüber dem einstigen Todfeind. Einwände der USA werden abgewehrt und bald wird Bonn zusätzliche Argumentationshilfe erhalten.

Im Oktober 1973 fließt das erste sibirische Gas in die Bundesrepublik, der „Beginn einer wunderbaren Freundschaft“, frozzelt die Zeit. Im selben Monat eskaliert die Ölkrise. Die arabischen Förderländer drosseln die Produktion, um den Westen für die Unterstützung Israels im Jom-Kippur-Krieg abzustrafen. Der Ölpreis lernt fliegen, die Regierung Brandt muss Benzin rationieren, sie verhängt Sonntagsfahrverbote und strenge Tempolimits; die Nation fühlt schmerzhaft die Abhängigkeit von „den Ölscheichs“.

Wladimir Putin in Deutschland 9.-10. April 2002-1.jpg

Volle Gläser  –  leere Flaschen

Die westlichen Länder geraten unter Druck, ihre Energiepolitik versorgungssicher zu machen. Da sind die Gaseinkäufe aus der Sowjetunion eine gute Alternative. Weitere europäische Länder setzen ebenfalls auf sowjetisches Gas und Öl. Der Handel blüht auf, die Sowjets haben auch Uran für bundesdeutsche Atommeiler im Angebot.

Im Jahr 1979 bekräftigt die zweite Ölkrise nach der iranischen Revolution die Energiepartnerschaft mit der Sowjetunion, dann stellt sie der neue Kalte Krieg vor ernsthafte Belastungsproben. Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und der Nato-Doppelbeschluss mit der Aufstellung neuer Mittelstreckenraketen sorgen für frostige Beziehungen zum Kreml. Doch das Gas fließt weiter, der Pakt „Energie gegen Devisen“ scheint auch in schlechten Zeiten zu funktionieren.

Als deutsche Wirtschaftsbosse Ende 1979 nach Moskau reisen, ist die sowjetische Intervention in Afghanistan vergessen. Die Gasimporte, so die neue Vereinbarung, werden nochmals kräftig erhöht, sie steigen auf 30 Prozent des Verbrauchs. Bundeskanzler Helmut Schmidt unterstützt den neuen Deal nach Kräften. „Handel durch Wandel“ ist seine Devise oder frei nach Jimmy Carter: Wer Geschäfte miteinander macht, schießt nicht aufeinander.

Um den Westexport und damit die Deviseneinnahmen zu sichern, kürzt Generalsekretär Breschnew zu Beginn der 1980er Jahre lieber die Energielieferungen an die sozialistischen Bruderländer, auch an die DDR. Es kriselt, das in Polen verhängte Kriegsrecht führt 1981 zu neuen US-Sanktionen gegen die Sowjetunion. Immer wieder warnt Washington die Europäer vor drohenden Abhängigkeiten. Doch die Gas-Connection überlebt unbeschadet, bis 1989 der Eiserne Vorhang fällt. War es auch der „Wandel durch Handel“, der den kommunistischen Block zu Reformen und schließlich zur Öffnung gezwungen hat? Diese Frage bleibt umstritten.

Im Jahr 1989 betritt ein neuer Akteur die energiepolitische Bühne: Das sowjetische Gasministerium wird in das russische Staatsunternehmen Gazprom umgewandelt, 1992 wird es zur Aktiengesellschaft.

Es ist der Auftakt einer hemmungslosen Bereicherung der früheren sowjetischen Nomenklatura und ihrer Familien. Unzählige Tochtergesellschaften und Scheinfirmen entstehen, Aktienpakete und lukrative Aufträge an Gashandelsfirmen werden hin- und hergeschoben. Über Nacht werden Milliardäre gemacht.

Zunächst setzt Generalsekretär Gorbatschow den korrupten Ex-Gasminister Viktor Tschernomyrdin an die Konzernspitze, danach führt unter Boris Jelzin Tschernomyrdins Vize Rem Wjachirew das Unternehmen, bis Wladimir Putin im Mai 2001 seinen alten Gefolgsmann Alexei Miller als Gazprom-Chef inthronisiert. Nach und nach wird die gesamte Konzernspitze mit ehemaligen Geheimdienstleuten besetzt.

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Das Erwachen erfolgt bei den Politikern immer zu spät

Gazprom wird zum verlängerten Arm, zur politischen Waffe Putins, Erpressungen und Drohungen gehören zum normalen Geschäftsgebaren. Auch wenn man in Deutschland damals kaum Notiz davon nimmt: Putin nutzt die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen gegenüber anderen Staaten mit aller Brutalität. Der Gas- und Ölhahn wird auf- und zugedreht, Preise werden glatt verdoppelt, dann wieder für moskautreue Vasallen gesenkt. Georgien, Lettland, Litauen, Polen und immer wieder die Ukraine werden massiv unter Druck gesetzt.

Am Jahresbeginn 2006 eskaliert der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine. Russland hat neue Tarife für den Gastransit durch die Ukraine diktiert und will für den Eigenverbrauch Kiews „marktorientierte Preise“ durchsetzen.

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben     —  “Thermal power station TETs-21”. Transmission line towers at the thermal power station TETs-21 owned by Mosenergo.

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2,Von Oben      —        WEIMAR. Abendessen im Restaurant Alt Weimar. Präsident Putin mit Bundeskanzler Gerhard Schröder.

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Unten     —   Ceremony of opening of gasoline Nord Stream. Among others Angela Merkel and Dmitry Medvedev

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Kein Platz für Emotionen

Erstellt von Redaktion am 23. März 2022

Der Krieg lässt die Energiepreise in die Höhe schnellen.

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Von Ilija Trojanow

Putins Krieg wird also durch den Krieg finanziert. Anstatt langjährige Grundsätze über den Haufen zu schmeißen und übereilt zu entscheiden, sollte man prüfen, was sinnvoll und was machbar ist.

Das erste Opfer des Krieges sei die Wahrheit, heißt es. Vielleicht stirbt jedoch die Vernunft zuerst. Nicht nur, weil Krieg an sich unvernünftig ist. Auch weil aus Angst und Schock eine überbordende Emotionalität den öffentlichen Diskurs besetzt, die kein guter Ratgeber ist. Übertriebene Behauptungen treiben überhastete Entscheidungen vor sich her.

Etwa bei den Sanktionen: Russland hat neulich seine Staatsbilanzen für Februar veröffentlicht. Ein sehr profitabler Monat, der Überschuss hoch, weil der Krieg die Energiepreise in die Höhe schnellen lässt. Putins Krieg wird also durch den Krieg finanziert. Die Lösung wäre einfach. Energie ist zwar überlebenswichtig, doch würde ein deutscher Boykott keine katastrophalen Schäden bei uns verursachen – weitaus weniger als jene eines fortdauernden Krieges. Die wirtschaftlichen Kosten werden laut Analysten höchstens einige Prozentpunkte des BIP betragen. Unangenehm, aber nicht katastrophal. Da es Alternativen zum russischen Öl gibt und Gas hierzulande vor allem zum Heizen benutzt wird, sollten wir als Frühjahrsputz unser Energie-Abo bei Putin kündigen.

Bescheidung wäre eine prima Alternative. Letzte Woche hat die Internationale Energieagentur einen Plan veröffentlicht, wie wir massiv Erdöl einsparen können: langsamer fahren, öfter den Zug nehmen, ein verkehrsfreier Sonntag. Wieso werden solche Maßnahmen nicht in die Wege geleitet? Könnte es sein, dass der Kapitalismus ausbleibendes Wirtschaftswachstum mehr fürchtet als den Krieg? Ist Verzicht für uns ein zu großes Kriegsopfer?

Wenn wir schon beim Reinemachen sind: Die bisherigen Sanktionen gegen die Vermögen russischer Oligarchen sind harmlos. Da diese Kleptokraten, Kriminelle und Geldwäscher einen Angriffskrieg unterstützen, sind sie Terroristen, und als ich zuletzt nachsah, verfügte der „Westen“ über sehr effektive Instrumente, terroristische Vermögen zu beschlagnahmen.

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Statt an dieser Schraube zu drehen, wird aufgerüstet, auch rhetorisch. Wer in Talkshows und Interviews eine Flugverbotszone fordert, sollte sich einen Tag freinehmen und ein wenig auf den Webseiten recherchieren, die sich – vor allem auf Englisch – militärischen Fragen widmen. Nicht nur wäre es logistisch fast unmöglich, es müssten zudem Stellungen in Russland beziehungsweise Belarus bombardiert werden. Das würde unweigerlich den Krieg ausweiten und in die Hände der russischen Propaganda (Nato als Aggressor) spielen.

Unsere Politik regiert derweil per Sonderfonds. 2005 betrugen unsere Militärausgaben 33,3 Mrd. und 2020 52,8 Mrd. Dollar. Das ist a) sehr viel Geld und b) ein ziemlich rasanter Anstieg. Trotzdem behaupten reihenweise pensionierte Generäle, die deutsche Armee sei nicht wehrfähig. Sind diese ehemaligen Offiziere für diesen Missstand nicht wenigstens mitverantwortlich? Und sollte es stimmen, müssten nicht sofort Verfahren gegen die Zuständigen eingeleitet werden? Für 632,6 Milliarden Dollar in 15 Jahren dürfen wir schon ein wenig Landesverteidigung erwarten.

Sollten nicht, angesichts dieses Versagens von Politik und Armeeführung, zunächst in einem demokratischen Prozess die Fehler aufgearbeitet und die künftigen Prioritäten diskutiert werden? Ist Aufrüstung der richtige Weg? Wäre es für die Verteidigung gegen diesen Angriffskrieg nicht sinnvoller, mit einer derartigen Summe die Folgen eines Boykotts russischen Erdöls und Gases aufzufangen und die Flüchtlinge zu versorgen? Zumal sich die Frage stellt, was unsere Landesgrenzen wirklich sichert? Die Qualität der germanischen Flugabwehr und die Quantität der teutonischen Munition oder MAD (mutual assured destruction)? Seit ich zurückdenken kann, wird uns die Logik der atomaren Abschreckung eingetrichtert. Stimmt sie etwa nicht mehr?

Quelle         :             TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben     — „Ich habe gelogen“ von Carlos Latuff.

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Unten     —    Krieg ist Geschäft – „War is Business 2“ von Carlos Latuff.

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Tyrannei des Wachstums

Erstellt von Redaktion am 21. März 2022

Die Tyrannei des Wachstumismus: Was heißt heute gutes Leben?

Von  .   Jason Hickel

Sich der Illusion hinzugeben, dass sich die globale Wirtschaft immer und ewig erweitern lässt, heißt, die augenfälligsten Wahrheiten zu den ökologischen Grenzen unseres Planeten zu leugnen. Diese Erkenntnis kam im März 1972 – also vor genau 50 Jahren – erstmals in der Öffentlichkeit an, als eine Gruppe von Wissenschaftlern am MIT einen bahnbrechenden Bericht mit dem Titel „Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte.

Die Ergebnisse waren frappierend. Das Business-as-usual-Szenario mit einer Fortsetzung des Wirtschaftswachstums in der bisherigen Geschwindigkeit ließ erkennen, dass wir irgendwann zwischen 2030 und 2040 in eine Krise geraten würden. Angetrieben durch den exponentiellen Charakter der Wachstumsfunktion würde folgende Entwicklung einsetzen: Die erneuerbaren Ressourcen würden die Grenzen ihrer Erneuerbarkeit erreichen, die nicht erneuerbaren Ressourcen zur Neige gehen und die Verschmutzung die Absorptionskapazität der Erde überschreiten. Beim Versuch, diese Probleme zu lösen, würden die Länder immer höhere Geldbeträge aufwenden müssen und daher weniger für das Reinvestment zur Verfügung haben, das man braucht, um weiterhin Wachstum zu generieren. Die Wirtschaftsleistung würde zu sinken beginnen, das Nahrungsangebot würde stagnieren, der Lebensstandard würde sinken und die Bevölkerungszahlen würden nach und nach schrumpfen. „Das wahrscheinlichste Ergebnis“, schrieben sie etwas ominös, „ist ein ziemlich plötzlicher und unkontrollierbarer Rückgang sowohl bei der Bevölkerung als auch bei der industriellen Kapazität.“

Das traf einen Nerv. Der Bericht „Grenzen des Wachstums“ schlug in der Szene ein und wurde einer der am meisten verkauften Umwelttitel in der Geschichte, wobei er von der Gegenkultur profitierte, die im Nachklang der Jugendrevolte von 1968 weit verbreitet war.

Doch obwohl wir nun schon seit fast einem halben Jahrhundert wissen, dass auch die menschliche Zivilisation auf dem Spiel steht, hat es bei den Bemühungen, den ökologischen Zusammenbruch aufzuhalten, keinen Fortschritt gegeben. Keinen. Das ist ein seltsames Paradox. Zukünftige Generationen werden auf unsere Zeit zurückblicken und nicht begreifen, warum wir ganz genau wussten, was Sache war, bis ins fürchterlichste Detail, und doch bei der Problemlösung versagt haben.

Wir wissen ganz genau, was zu tun ist, um einen Klimakollaps zu vermeiden. Wir müssen aktiv fossile Energie herunterfahren und alles für eine rasche Einführung von erneuerbaren Energien in die Wege leiten – für einen globalen Green New Deal –, um die weltweiten Emissionen innerhalb von zehn Jahren zu halbieren und vor 2050 auf null zu bringen. Dabei muss man immer im Auge behalten, dass es sich bei diesem Ziel um den globalen Durchschnitt handelt. Angesichts ihrer größeren Verantwortung für die Emissionen der zurückliegenden Jahre müssen einkommensstarke Nationen diesen Prozess sehr viel schneller bewerkstelligen und den Nullpunkt bis 2030 erreicht haben. Die Dramatik der Situation kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden; es ist die allergrößte Herausforderung, der sich die Menschheit jemals gegenübersah. Die gute Nachricht: Das ist durchaus zu schaffen. Es gibt allerdings ein Problem: Die Wissenschaftler*innen lassen keinen Zweifel daran, dass wir das nicht schnell genug hinbekommen, um die Temperaturen unter 1,5 Grad Celsius oder auch unter 2 Grad Celsius zu halten, wenn wir gleichzeitig die Wirtschaft weiterwachsen lassen. Und warum ist das so? Weil mehr Wachstum mehr Nachfrage nach Energie bedeutet, und mehr Energienachfrage macht es erst recht schwierig – in der Tat unmöglich –, in der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung steht, ausreichend erneuerbare Energien auf den Markt zu bringen, um die Nachfrage abzudecken.

Auch »sauberes Wachstum« stürzt uns in die Krise

Selbst wenn es dieses Problem nicht gäbe, bleibt da doch noch eine Frage: Wenn wir endlich irgendwann 100 Prozent saubere Energie haben, was machen wir dann damit? Wenn wir die Art und Weise nicht verändern, wie unsere Wirtschaft funktioniert, dann werden wir weiterhin genau das Gleiche machen wie mit den fossilen Energien: Wir nutzen sie, um unablässig Extraktion und Produktion voranzutreiben, immer mehr und immer schneller, und setzen dabei die lebendige Welt immer stärker unter Druck, weil es das ist, was der Kapitalismus verlangt. Saubere Energie mag eine Hilfe sein, wenn es um Emissionen geht; aber sie trägt nichts dazu bei, Entwaldung, Überfischung, Bodenverarmung und Massensterben rückgängig zu machen. Eine wachstumsbesessene Wirtschaft wird uns, auch wenn sie von sauberer Energie angetrieben ist, trotzdem in die ökologische Katastrophe stürzen.

Der heikle Punkt dabei ist, dass wir hier offensichtlich kaum eine Wahl haben. Der Kapitalismus ist grundsätzlich von Wachstum abhängig. Wenn die Wirtschaft nicht wächst, rutscht sie in die Rezession: Schulden türmen sich auf, Menschen verlieren Arbeitsplatz und Wohnung, Lebensentwürfe zerbrechen. Die Regierungen haben alle Hände voll zu tun, die industrielle Aktivität am Wachsen zu halten, in einem dauernden Bemühen, die Krise abzuwehren. Wir stecken also in der Falle. Wachstum ist ein struktureller Imperativ – ein stahlhartes Gesetz. Und es kann sich auf stahlharte ideologische Unterstützung verlassen: Politiker*innen der Linken und Rechten mögen sich darum streiten, wie die Früchte des Wachstums zu verteilen sind, aber wenn es um das Streben nach Wachstum selbst geht, dann sind sie sich einig. Da passt kein Blatt Papier dazwischen. Der Wachstumismus, um einmal diesen Ausdruck zu gebrauchen, präsentiert sich als eine der Ideologien mit dem höchsten Führungsanspruch in der modernen Geschichte. Niemand kommt auf die Idee, sie zu hinterfragen.

Weil sie sich dem Wachstumismus verschrieben haben, sehen sich unsere Politikerinnen und Politiker nicht in der Lage, sinnvolle Schritte zu unternehmen, um die ökologische Katastrophe zu stoppen. Wir haben jede Menge Ideen, wie wir das Problem lösen können, aber wir wagen nicht, sie umzusetzen, weil wir damit das Wachstum untergraben könnten. Und in einer wachstumsabhängigen Wirtschaft darf so etwas einfach nicht passieren. Stattdessen berichten die gleichen Zeitungen, die erschütternde Geschichten über ökologische Katastrophen bringen, auch ganz begeistert darüber, wie das BIP in jedem Quartal wächst, und die gleichen Politikerinnen und Politiker, die händeringend die Klimakrise beklagen, rufen jedes Jahr pflichtbewusst nach mehr industriellem Wachstum. Die kognitive Dissonanz hier ist bemerkenswert.

»Wachstumismus« oder die Geheimnisse des guten Lebens

Wie lässt sich erklären, dass der Wachstumismus unsere politische Vorstellungskraft derart fest im Griff hat? Ganz gleich, wie reich ein Land ist – seine Wirtschaft muss wachsen, unbegrenzt, egal was es kostet. Das ist die Botschaft. Ökonom*innen und politische Entscheidungsträger*innen beharren auf dieser Position, auch wenn sich die Hinweise auf einen ökologischen Zusammenbruch häufen. Fühlen sie sich in die Ecke gedrängt, dann kommen sie mit einer schlichten Erklärung daher: Das Wachstum ist für die außerordentlichen Verbesserungen bei Wohlfahrt und Lebenserwartung verantwortlich, die wir in den letzten Jahrhunderten erlebt haben. Wir müssen weiterwachsen, um das Leben der Menschen weiter zu verbessern. Das Wachstum aufzugeben, würde heißen, den menschlichen Fortschritt selbst aufzugeben.

Das ist ein machtvolles Narrativ, und es scheint so offenkundig zutreffend. Das Leben der Menschen ist heute eindeutig besser als in der Vergangenheit, und die Überzeugung, dass wir dies dem Wachstum zu verdanken haben, erscheint durchaus vernünftig. Nun sind aber Wissenschaftler*innen und Historiker*innen dabei, diese Geschichte zu hinterfragen. Wir haben herausgefunden, dass sie auf einem schwachen empirischen Fundament ruht – eigentlich erstaunlich bei einer Behauptung, die in unserer Gesellschaft so tief verwurzelt ist. Es zeigt sich, dass der Zusammenhang zwischen Wachstum und menschlichem Fortschritt nicht ganz so eindeutig ist, wie wir eigentlich dachten. Wichtig ist nicht das Wachstum an sich – wichtig ist, wie Einkommen verteilt und in welchem Maße es in öffentliche Dienstleistungen investiert wird. Und ab einem bestimmten Punkt ist für eine Verbesserung des gesellschaftlichen Wohlergehens gar kein höheres BIP mehr notwendig.

Es gibt viele Länder, die es schaffen, mit vergleichsweise wenig BIP pro Kopf ein erstaunlich hohes Niveau des gesellschaftlichen Wohlergehens zu erreichen. Wir sehen diese Länder gerne als „Sonderfälle“ an; sie belegen aber genau die These, die Szreter und andere Gesundheitswissenschaftler*innen aufzustellen versuchten: Es geht hier um ein reines Verteilungsproblem. Und das Wichtigste dabei ist die Investition in allgemeine öffentliche Güter. Hier wird es wirklich interessant.

Nehmen wir zum Beispiel die Lebenserwartung. Die Vereinigten Staaten haben ein BIP von 59500 US-Dollar pro Kopf, womit sie eines der reichsten Länder der Welt sind. Die Menschen in den USA können damit rechnen, 78,7 Jahre zu leben, was sie gerade noch in die oberen 20 Prozent hineinhievt. Dutzende Länder übertreffen die Vereinigten Staaten bei diesem entscheidenden Indikator, mit nur einem Bruchteil des Einkommens. Japan hat 35 Prozent weniger Einkommen als die USA, aber eine Lebenserwartung von 84 Jahren – die höchste auf der Welt. Südkorea hat 50 Prozent weniger Einkommen und eine Lebenserwartung von 82 Jahren. Und dann ist da noch Portugal, das 65 Prozent weniger Einkommen hat und eine Lebenserwartung von 81,1 Jahren. Es handelt sich hier nicht um ein paar wenige Sonderfälle. Die Europäische Union als Ganzes hat 36 Prozent weniger Einkommen als die USA und übertrifft sie dennoch nicht nur bei der Lebenserwartung, sondern bei praktisch jedem anderen Indikator des gesellschaftlichen Wohlergehens.

Und dann gibt es Costa Rica, das vielleicht das erstaunlichste Beispiel liefert. Das an Regenwäldern reiche zentralamerikanische Land übertrifft die USA bei der Lebenserwartung, obwohl es 80 Prozent weniger Einkommen aufzuweisen hat. Costa Rica zählt sogar zu den ökologisch effizientesten Volkswirtschaften auf dem Planeten, was die Fähigkeit betrifft, hohe Wohlergehensstandards mit minimaler Umweltbelastung zu liefern. Und wenn wir sie zeitübergreifend betrachten, sieht die Geschichte sogar noch faszinierender aus: Einige der eindrucksvollsten Steigerungen bei der Lebenserwartung konnte Costa Rica während der 1980er Jahre erreichen, wobei man die USA ein- und überholte; das war eine Zeit, als das BIP pro Kopf nicht nur klein war (ein Siebtel der USA), sondern auch überhaupt nicht wuchs.

Es ist nicht nur der Indikator Lebenserwartung, der dieses Verhalten zeigt. Wir können das gleiche Muster beobachten, wenn es um den Bereich der Bildung geht. Finnland ist allgemein als ein Land bekannt, das eines der besten Bildungssysteme auf der Welt besitzt, obwohl sein BIP pro Kopf um 25 Prozent unter dem der USA liegt. Estland steht ebenfalls weit oben im Ranking der weltbesten Bildungssysteme, aber mit 66 Prozent weniger Einkommen als die USA. Polen ist besser als die USA mit 77 Prozent weniger Einkommen. Auf dem Bildungsindex der Vereinten Nationen schlägt der Staat Weißrussland Leistungsträger wie Österreich, Spanien, Italien und Hongkong mit einem BIP pro Kopf, das um ganze 90 Prozent niedriger liegt als das der USA.

Wie lassen sich die erstaunlichen Ergebnisse erklären, die diese Länder erreicht haben? Das ist ganz einfach: Sie haben alle in den Aufbau hoch qualifizierter Systeme in der allgemeinen Gesundheitsfürsorge und der Bildung investiert. Wenn es darum geht, ein langes, gesundes, blühendes Leben für alle zu schaffen, dann ist es das, was zählt.

Warum Wachstum den Wohlstand verringert

Die gute Nachricht: Das ist überhaupt nicht teuer. Allgemeine öffentliche Dienste sind sogar signifikant kosteneffizienter zu betreiben als ihre privaten Entsprechungen. Nehmen wir zum Beispiel Spanien. Spanien gibt nur 2300 US-Dollar pro Person dafür aus, um allen eine Gesundheitsversorgung von hoher Qualität zu liefern, als ein Grundrecht, und erreicht damit einen Spitzenwert unter den Lebenserwartungen weltweit: 83,5 Jahre; volle fünf Jahre mehr als die USA. Im Gegensatz dazu verschlingt das private, profitorientierte System in den USA horrende 9500 US-Dollar pro Person, während es eine geringere Lebenserwartung und schlechtere Gesundheitsergebnisse liefert. Ähnlich vielversprechende Beispiele entwickeln sich in Gegenden überall im globalen Süden. Staaten, deren Regierungen in allgemeine Gesundheitsversorgung und Bildung investierten, haben jetzt Verbesserungen bei der Lebenserwartung und anderen Indikatoren gesellschaftlichen Wohlergehens erreicht, die sich weltweit mit am schnellsten entwickelten. Sri Lanka, Ruanda, Thailand, China, Kuba, Bangladesch und der indische Staat Kerala – alle weisen erstaunliche Steigerungen auf, trotz eines vergleichsweise niedrigen BIP pro Kopf. Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Die empirischen Belege zeigen, dass es möglich ist, ein hohes Niveau der menschlichen Entwicklung zu erreichen ohne ein hohes BIP-Niveau. Den UN -Angaben zufolge können Staaten mit lediglich 8000 US-Dollar pro Kopf (im Sinne von Kaufkraftparität oder KKP) in die allerhöchste Kategorie des Lebenserwartungs-Index aufsteigen und auf sehr hohe Stufen beim Bildungsindex mit nur 8700 US-Dollar. Staaten können sogar auf einer ganzen Skala von sozialen Schlüsselindikatoren erfolgreich sein – nicht nur bei Gesundheit und Bildung, sondern auch bei Beschäftigung, Ernährung, sozialer Unterstützung, Demokratie und Lebenszufriedenheit – mit weniger als 10 000 US-Dollar pro Kopf, während sie sich innerhalb oder fast innerhalb der planetaren Grenzen halten. Das Bemerkenswerte an diesen Zahlen ist, dass sie deutlich unter dem globalen Durchschnitt von 17 600 US-Dollar BIP KKP pro Kopf liegen. Mit anderen Worten: In der Theorie könnten wir alle unsere gesellschaftlichen Ziele erreichen, für jeden Menschen auf der Welt, mit weniger BIP, als wir derzeit haben, indem wir einfach in öffentliche Güter investieren und Einkommen und Chancen gerechter verteilen.

Es ist also klar, dass die Relation zwischen BIP und der gesellschaftlichen Wohlfahrt ab einem gewissen Punkt nicht mehr funktioniert. An dieser Relation ist aber noch ein anderer Aspekt interessant. Jenseits einer gewissen Schwelle entwickelt das Wachstum allmählich eine negative Wirkung. Wirkönnen diesen Effekt erkennen, wenn wir uns alternative Kennzahlen für Fortschritt ansehen, wie etwa den Indikator echten Fortschritts (Genuine Progress Indicator GPI). Der GPI beginnt bei den persönlichen Konsumausgaben (was auch der Ausgangspunkt für das BIP ist) und wird dann bereinigt um die Einkommensungleichheit sowie die sozialen und ökologischen Kosten der wirtschaftlichen Aktivität. Indem dieser Maßstab die Kosten wie auch den Nutzen des Wachstums einrechnet, gewährt er uns eine ausgeglichenere Sicht darauf, was in der Wirtschaft geschieht. Wenn wir die Daten im Zeitverlauf grafisch darstellen, sehen wir, dass der globale GPI bis in die Mitte der 1970er Jahre zeitgleich mit dem BIP wuchs, seitdem aber abflachte und sogar abgenommen hat, als die sozialen und ökologischen Kosten des Wachstums ausreichend signifikant geworden waren, um die verbrauchsabhängigen Gewinne aufzuwiegen. Ab einem bestimmten Punkt, so formuliert es der Ökologe Herman Daly, wird das Wachstum mehr und mehr „unwirtschaftlich“: Es schafft zunehmend mehr „Schlechtstand“ als Wohlstand. Wir können dies an mehreren Fronten beobachten: Das fortgesetzte Streben nach Wachstum in einkommensstarken Ländern verschärft die Ungleichheit und die politische Instabilität und trägt zu Problemen bei wie etwa Stress und Depression infolge von Überarbeitung und Schlafmangel, schlechter Gesundheit wegen Umweltverschmutzung, Diabetes und Herzkrankheiten und so weiter.

Quelle       :         Blätter-online         >>>>>          weiterlesen

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Streit – Energiesicherheit

Erstellt von Redaktion am 16. März 2022

Kann LNG russisches Pipeline-Gas in Europa ersetzen?

Datei:AIDAcosma LNG-Bunkerschiff.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von  :  Alexander Männer

Wegen dem Krieg in der Ukraine sind Deutschland und die EU dabei, unter anderem die Energiepartnerschaft mit Russland zu überdenken.

Vor dem Beginn der Kampfhandlungen am 24. Februar hatte Berlin bereits die Zertifizierung der Gasleitung ’Nord Stream 2’ ausgesetzt. Künftig könnte es darum gehen, die europäischen Energiesicherheit ohne die russischen Gaslieferungen zu verwirklichen. Dabei soll das importierte Pipeline-Gas am besten durch verflüssigtes Erdgas ersetzt werden. Allerdings lassen bereits Aspekte wie die globale Verfügbarkeit von Flüssiggas sowie die unzureichende LNG-Infrastruktur auf dem europäischen Kontinent die Perspektiven einer optimalen Nutzung dieses Energieträgers derzeit fraglich erscheinen.Angesichts des Kampfhandlungen in der Ukraine sind Deutschland und die Europäische Union dabei, das Verhältnis zu Russland zu überdenken. Das betrifft in hohem Masse auch die Energiepartnerschaft mit der russischen Seite. Berlin hatte zovur bereits als Reaktion auf die Anerkennung der abtrünnigen ostukrainischen Regionen Donezk und Lugansk am 21. Februar durch Moskau die Zertifizierung der Gasleitung ’Nord Stream 2’ ausgesetzt. Inzwischen geht es für die Bundesrepublik und die EU im Hinblick auf die europäische Energiesicherheit wohl auch darum, Bedingungen dafür zu schaffen, um künftig auf russische Gaslieferungen verzichten zu können.Politiker und Experten plädieren in diesem Zusammenhang unlängst dafür, das russische Pipeline-Gas durch das per Tankschiff nach Europa importierte verflüssigte Erdgas LNG (Liquified Natural Gas) zu ersetzen. Allerdings gibt es diverse Aspekte, die einen ausreichenden kurz- und mittelfristigen LNG-Import in Frage stellen.Wie bereits im ersten und zweiten Teil des Artikels ’Streitpunkt Energiesicherheit: Kann LNG russisches Pipeline-Gas in Europa ersetzen?’’ erläutert, spielen die folgenden Aspekte in der Flüssiggas-Problematik eine ausserordentliche Rolle:

  • Die globale Nachfrage nach verflüssigtem Erdgas übersteigt das Angebot für diesen Energieträger bei weitem, so dass grosse zusätzliche LNG-Kontingente, die theoretisch importiert werden könnten, physisch einfach nicht vorhanden sind.
  • Die EU verfügt nicht über die ausreichende Infrastruktur, um grössere LNG-Lieferungen aufzunehmen, wobei Deutschland bislang überhaupt keine eigenen LNG-Terminals besitzt.

Zu den weiteren Schlüsselaspekten, die aus wirtschaftlicher Sicht gegen einen baldigen rigorosen Umstieg auf LNG in Europa sprechen, zählen die hohen und volatilen Preise für die nicht an langfristige Lieferverträge gebundene LNG-Kontingente an den Handelsmärkten.

Extrem volatile LNG-Preise

Nicht zuletzt seit der europäischen Gaskrise Ende 2021 und dem geopolitischen Konflikt um die Ukraine wurde deutlich, dass das Flüssiggas als ein Rohstoff mit extrem volatilen bzw. instabilen Preisen gilt. Dies stellt für europäische Importländer ein immenses Problem dar, denn Volatilität der Flüssiggaspreise ist hinsichtlich der Versorgung eines Landes mit Gas aus ökonomischer Sicht zweifelsfrei unvorteilhaft.

Wirtschaftlich ist jede Preisschwankung um den Mittelwert grundsätzlich als Risiko zu betrachten. Eine hohe Volatilität – wobei der Grad der Preisschwankung an den Abständen zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Preis in einer Periode gemessen wird – bedeutet eine grössere Unsicherheit für das Geschäft. Dieses ist schwerer kalkulierbar, weswegen beispielsweise eine langfristige Planung schwieriger umzusetzen ist.

Verursacht werden die Preisschwankungen auf den Märkten unter anderem von den geopolitischen Spannungen in der Welt, den Wetterbedingungen und den daraus resultierenden Nachfrageprognosen in den Import-Ländern, dem Umfang der Gaslieferungen via Pipeline sowie der Situation bei der Nachfrage bzw. die Konkurrenz auf den globalen Handelsmärkten.

Das Problem mit den LNG-Preisschwankungen bringt Pepe Egger in seinem Artikel in der Online-Ausgabe der Wochenzeitung «Der Freitag» gut auf den Punkt: «Der Preis ist flatterhaft und nervös, er reagiert auf alle möglichen Signale. In Frankreich müssen Atomreaktoren abgestellt werden: Der Preis steigt. Aus den USA kommen verstärkt […] Flüssiggas-Lieferungen nach Europa: Der Preis fällt. Mehrere LNG-Tanker biegen ab und steuern nach China, weil dort mehr gezahlt wird: Der Preis steigt. In Nordamerika gibt es Schneestürme: Der Preis steigt weiter. Biden trifft Putin, es soll verhandelt werden, der Preis fällt; Russland findet, es gebe nichts mehr zu verhandeln, der Preis steigt wieder an.»

Wenn wir davon ausgehen und zudem die Probleme mit einbeziehen, die wir gerade in Europa haben – Krieg in der Ukraine, Aussetzung der Inbetriebnahme von «Nord Stream 2», historisch niedrige Gasreserven in den EU-Ländern – dann spricht wenig dafür, dass sich die LNG-Preise bald stabilisieren.

Was ausserdem noch dazu kommt: Wegen der Knappheit des Angebots bekommen das Flüssiggas nur diejenigen, die bereit sind, dafür am meisten zu zahlen, weswegen es oft zu einer kontinuierlichen Preisrallye zwischen den Abnehmern kommt. Der Preis kann dann abhängig von der Situation in die Höhe getrieben werden und geht je nach Lage entweder nach Asien, Südamerika oder Europa.

Allerdings gelten der europäische LNG-Markt sowie der noch kleinere südamerikanische Markt verglichen mit Asien gemäss den Zahlen der aktuellen LNG-Marktprognose von Shell eher als Hinterhöfe im globalen Handel mit Flüssiggas. Erstens ist man von der Konjunktur im asiatisch-pazifischen Raum abhängig, wo die Preisbildung am stärksten beeinflusst wird. Zweitens ist der asiatische Markt mit mehr als 75 Prozent der globalen LNG-Nachfrage physisch viel grösser und drittens ist er lukrativer für die Exporteure, weil da generell mehr geboten wird und der Nutzen deshalb am höchsten ausfällt.

Europas LNG-Markt nur bei hohen Preisen konkurrenzfähig?

Im Zuge der europäischen Gaskrise Ende 2021 war jedoch eine einzigartige Situation auf dem globalen LNG-Markt entstanden: Laut dem Portal russland.capital wurde Europa wegen den stark gestiegenen Gaspreisen plötzlich zu einem sehr gewinnbringenden Markt für Exporteure, während Asien einen Preisrückgang verzeichnete. Für die europäischen Länder war das Flüssiggas aus den USA an der Börse günstiger, als zusätzliches, nicht an langfristige Lieferverträge gebundenes Pipeline-Gas aus Russland, den Niederlanden oder Norwegen.

Dies und die sinkenden Gaspreise im asiatisch-pazifischen Raum haben die US-Exporteure motiviert, das LNG in Europa zu verkaufen. Als Folge wurden viele Schiffe, die eigentlich nach Asien gingen, nach Europa geschickt – und US-Händler konnten dort in dieser Zeit zum ersten Mal Rekordumsätze erzielen.

Die Lage entwickelt sich aber oft so, dass wenn die Preise in Asien fallen und die Preise in Europa im Gegenzug ansteigen, dann führt das wiederum dazu, dass die Preise früher oder später in den asiatischen Ländern wieder ansteigen, um die für die dortige Wirtschaft notwendigen LNG-Kontingente ’’abzufangen’’.

So verursachte die Umleitung der LNG-Tanker nach Europa einen Anstieg der Gaspreise auf den asiatischen Märkten und wenn dies nicht zu einem Anstieg der europäischen Preise führt, wird dieser Markt für US-Exporteure automatisch uninteressant. Aus diesem Grund und angesichts der gegenwärtigen Gasknappheit in Europa könnten die Preise auf dem europäischen Markt erneut drastisch ansteigen.

Dies zeigt vor allem, dass das Interesse der LNG-Exporteure an Europa und die Konkurrenzfähigkeit der europäischen Importeure in Bezug auf Asien im Grunde den ungewöhnlich hohen Gaspreisen zu verdanken ist.

Wie das Portal EURACTIV unter Verweis auf Angaben der Europäischen Kommission schreibt, wirken sich hohe Gaspreise jedoch negativ auf die gesamte Wirtschaft aus und werden voraussichtlich auch 2022 ein Haupttreiber der Inflation bleiben. Die Preise hätten bereits energieintensive Industrien mit hohen Produktionskosten belastet und würden wahrscheinlich auch die Preise für andere Güter, einschliesslich Lebensmittel, erhöhen.

Schlussendlich bleibt zusammenzufassen, dass die niedrige Verfügbarkeit von Flüssiggas weltweit, der mangelnde Ausbau der entsprechenden Infrastruktur auf dem europäischen Kontinent sowie die hohen Volatilität und Gaspreise entscheidende Argumente dafür sind, dass es künftig immer Schwierigkeiten bei dem Import und der Nutzung von LNG in Deutschland un der EU geben kann. Daher wird Russland zumindest kurz- und mittelfristig ein Hauptakteur bei der Energieversorgung in Europa bleiben. Langfristig haben die Europäer allerdings durchaus Möglichkeiten, ihre Energieimporte zu diversifizieren. Bis dahin gibt es aber nur wenig Alternativen, um russisches Gas vollständig und wenigtens nur zu einem grossen Teil zu ersetzen.

Quellen:

http://eurobrics.de/?module=articles&action=view&id=1971

http://eurobrics.de/?module=articles&action=view&id=1973

https://www.freitag.de/autoren/pep/teuer-ist-unguenstig

https://energiestatistik.enerdata.net/erdgas/bilanz-lng-handel-welt.html

LNG-Schifffahrt auf dem Atlantik im Minus

Grafikquellen          :

Oben     —   Die AIDcosma im Hafen von Rotterdam bei der Betankung von LNG durch ein Bunkerschiff. / Raffnix2000 (CC BY-SA 4.0)

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Zwischenspiel in Türkis

Erstellt von Redaktion am 10. März 2022

Der Abstieg der ÖVP wurde durch die Phase Kurz nur unterbrochen

Datei:ÖVP-Korruptionsaffäre Rollenverteilung.svg

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von : Franz Schandl

Sie regiert in den meisten Bundesländern. Sie stellt die meisten Bürgermeister. Von 1945 bis 1970 kam der Kanzler aus ihren Reihen. Auf den Österreich zustehenden EU-Kommissar hat sie sowieso ein Abo. Seit 35 Jahren sitzt sie nun schon ununterbrochen auf der Regierungsbank. Opposition hält diese Formation nicht aus, widerspricht ihrem Naturell, das mit Ämtern und Funktionen eng verwoben ist. Sie sind der Nektar ihrer Macht. Überall, von oben bis ganz unten sitzen „ihre Leute“. Die stickige Atmosphäre der Nachkriegszeit ist jedenfalls primär mit ihrem Namen verbunden. Die Rede ist von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), die 1945 als Nachfolgepartei der Christlichsozialen gegründet worden ist. Tatsächlich verstand und gerierte sie sich über Jahrzehnte nicht nur als Staatspartei, sondern wie ihr Name sagt als die Partei des Volkes.

Trotzdem hatte die Partei zwischendurch nicht viel zu lachen. Niederlagen pflasterten ihren Weg. Die alte Stammwählerschaft ging zusehends verloren. Aus dem kontinuierlichen und scheinbar unabwendbaren Abstieg hat erst Sebastian Kurz die ÖVP herausgerissen. Kurzfristig ist es ihm und seinen jungen Mitstreitern sogar gelungen, aus der Volkspartei wirklich eine Partei zu machen. Bis dahin war sie bloß eine Dachorganisation von Landesorganisationen und Bünden (Arbeiter- und Angestelltenbund, Bauernbund, Wirtschaftsbund, Seniorenbund etc.-). Die galt es auszutarieren, was mitunter schwierig gewesen ist. Viel Kraft musste für interne Zwistigkeiten verwendet werden. Energie, die oft in der Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern fehlte.

Doch Kurz ist Geschichte. Mittlerweile kräht kein Hahn mehr nach ihm. War da was? Bereits in einigen Jahren werden die meisten nicht mehr wissen, was da und wer das gewesen ist. Und tatsächlich, man wüsste nicht, worauf man verweisen könnte. Das Phänomen ist verpufft. Da ging es dem Wunderwuzzi nicht viel besser als seinem ehemaligen Vize, den auf Ibiza verunglückten Heinz-Christian Strache (FPÖ). Die Nullnummer und die Lachnummer sind definitiv Geschichte. Die „Leuchtrakete“ (ÖVP-PR) ist ausgebrannt. Die von Kurz lukrierten Stimmen waren konjunktureller Natur. Wie gewonnen, so zerronnen. Da war kein Fundament, keine Substanz, da war nichts. Niemand weint dem „Jahrhunderttalent“ (ÖVP-PR) nach. Was als Ära geplant gewesen ist, erwies sich als Zwischenfall.

Solche Intermezzi sind freilich chronisch geworden. Von der alten Langeweile des öffentlichen Betriebs ist nichts übrig geblieben. Politik ist nicht nur kurzweilig, sie ist, zumindest in der Alpenrepublik, richtiggehend rasant geworden. Wir leben zusehends in einer Übergangszeit der Episoden. Diese gleichen politischen Telenovelas, die man sich, ist man unverdrossen genug, reinzieht. Hatte man vor einer Generation noch das Gefühl, dass sich gar nichts tut, so glaubt man inzwischen, dass überhaupt nichts mehr zur Ruhe kommt – auch wenn sich nichts wirklich bewegt. Eingeflochten in den immerwährenden medialen Theaterdonner, hechelt die politische Besetzung von Event zu Event, von Talk-Show zu Interview. Die Aufregung steigt und die Reflexion sinkt.

Meinungsumfragen – zum Teil bestellt und manipuliert – waren es, die Sebastian Kurz an die Spitze von Partei und Staat pushten und Wahlerfolge, die ihn dort hielten. Ein Land war entzückt und entzündet. Sebastian war eine Projektion. Doch nun ist der Projektor abgeschaltet und die Projektion dahin. Die Fans sind enttäuscht und abgezogen. So eine Chance und dann das. Kurz erwies sich so nicht als der Glücksfall, als der er gestern noch gegolten hat. Noch im August 2021 ließ er sich an einem Parteitag abfeiern. Drei Monate später war er weg. Nicht nur fast weg, sondern ganz weg. Seine Mentoren in den Bundesländern haben ihn fallengelassen als sie die Brisanz belastender Chats erkannten und auch sahen, dass dem Chef jahrelange Verfahren und Anklagen drohen. Vor die Entscheidung gestellt, ob Kurz gehen soll oder die Regierung flöten geht, war klar wie die Entscheidung ausfallen würde. Schließlich wollte man das Kanzleramt retten und nicht in die Opposition abgeschoben werden.

Sebastian Kurz hatte weder eine Botschaft noch eine Sendung, auch wenn er mit seinen Botschaften dauernd auf Sendung gewesen ist. Denn er verstand sein mediales Handwerk ganz blendend, ja er wurde sogar immer besser, gab sich diesbezüglich kaum Blößen. Nichts so gekonnt zu sagen, ist freilich auch eine Kunst, ja heutzutage ein politisches Vermögen. Akzente setzt diese Politik keine. Betreffend Migration hat man ungeniert die Inhalte der ausländerfeindlichen FPÖ übernommen. International steht man treu zur USA und trotz Neutralität zur NATO, die Europäische Union ist sowieso sakrosankt. Auf Interviews getrimmte ÖVP-Ministerinnen betonen immer wieder „glühende Europäerinnen“ zu sein.

Eigenständig an Kurz war gar nichts. Kein Anflug an Originalität streifte den Mann. Seine Reden zur Lage der Nation sind Makulatur. Sie strotzen von typischen Sprüchen, die Politiker halt aufsagen: Werte anrufen, Wirtschaft ankurbeln, Standort sichern, Digitalisierung vorantreiben, Klimawandel aufhalten; nachhaltig ist man sowieso und gendern tut man auch. Mit den Grünen hat man sich auf die Formel der ökosozialen Marktwirtschaft verständigt. Eine k24FVJlassisch rechte Partei ist die ÖVP aber nicht mehr, sie hat sich doch in den letzten Jahren liberalisiert, auch in gesellschaftspolitischen Fragen. Mit konservativer Hegemonie hat ihre Vorherrschaft also wenig zu tun, eher mit einem liberalem Eintopf, wie er gegenwärtig fast überall serviert wird.

Insbesondere aber ging es um die performative Leistung. Die Anhängerschaft war konditioniert auf die Strahlkraft des Helden. Früher brauchte man derlei weniger, weil die Wählerschaft in Lager eingeteilt gewesen ist, die sich auch entsprechend verhielten. Heute haben wir es immer mehr mit amorphen Massen zu tun, die sich recht beliebig zusammensetzen und oft nur kurzen Bestand haben. Postmoderne Anhänglichkeit ist nicht zählebig sondern schnelllebig, mal da, mal dort, mal irgendwo, mal nirgendwo. Auch wählen die Enkel, sofern sie überhaupt wählen, nicht unbedingt das, wofür die Großeltern votierten. Der Aufbau einer substanziellen Wählerschaft ist schwierig, zuletzt ist das Bruno Kreisky (SPÖ) und ansatzweise Jörg Haider (FPÖ) gelungen.

Sebastian Kurz als „Donau-Claudillo“ oder gar „Baby-Hitler“ zu beschreiben, führt in die Irre. Er hatte gar nichts von einem schweren Burschen. Die Operationen, die er setzte, ermöglichte, veranlasste oder zuließ waren nichts Außergewöhnliches. Für die Clique um Kurz war der eigene Vorteil stets die Hauptsache. Ganz primitiv ging es um Gier und Geld, um Macht und Einfluss. Dieses Spiel beherrschte die türkis lackierte Volkspartei wie die alte schwarze. Das taktische Manöver agierte allerdings ohne strategisches Kalkül und Sicherheitsgurte. Die Chancen digitalen Agierens haben sie zwar erkannt, aber dessen systemische Indiskretion sträflich unterschätzt. Das rächt sich jetzt bitter. Dieser lässige Umgang war weniger einer überbordenden kriminellen Energie geschuldet als einer Verstrickung in das ordinäre österreichische Patronagewesen. Man züchtete und sicherte sich Loyalitäten durch gezielte Protektion. Zügig vergab man Posten und Pfründe. Neu ist das nicht, neu war bestenfalls die Unverfrorenheit. Indes war die Dummheit dann doch größer als die Frechheit, da man völlig übersehen hatte, dass in der digitalen Dimension nichts verschwindet. Keine SMS, die nicht auftauchen könnte, kein Chat, der endgültig geschreddert werden kann. So prallte das „Geilomobil“ (ÖVP-PR-Jargon aus ferneren Kurz-Tagen), das auf der Siegerstraße stets das Tempo erhöhte, bei einem Überholmanöver an einen von der Staatsanwaltschaft aufgestellten Laternenmasten.

Dialogprozess mit Kirchen und Religionsgesellschaften (14095758410).jpg

Gesucht und Gefunden ?

Dass Kurz wegen dieser Touren letztlich das Handtuch warf, lässt ihn als Leichtgewicht sondergleichen erscheinen. Das Zeug zum Orbán oder zum Netanjahu (den er oft als Vorbild nannte), hatte er nicht. Von Steherqualitäten keine Spur. Sebastian Kurz war vielmehr selbst ein Glücksritter, der im richtigen Moment an die Spitze gespült wurde und es sich im Erfolg dieser Woge bequem machen wollte. Doch da täuschte er sich. Seit Beginn der Pandemie etwa konnte er nicht mehr durch die Welt jetten, sondern sollte zu Hause die Gesundheitskrise schultern. Die Lust an der Macht wurde ihm laufend versalzen. Zusehends nervte ihn das alles. Bloß wenige Momente klammerte er sich an seine Funktionen. Dem ständigen Räuber- und Gendarmspiel des Investigierens hat er sich nach Übersee entzogen.

Die Nachfolger räumen den Müll weg, vor allem die diversen durch die Kurz-Company hinterlassenen Skandale (SMS-Affären, Protektion, Postenschacher), fordern größere Putztruppen. Der anstehende parlamentarische Untersuchungsausschuss lässt einiges an Ungemach erwarten. Vorerst leckt man die Wunden und versucht sich in Schadensbegrenzung. Ansonsten ist die alte Hackordnung in der ÖVP (Länder-Bünde-Parteizentrale) wieder hergestellt. War da was? Der Aufbruch erwies sich als Schein. Die ÖVP ist wieder dort, wo sie vor Kurz gewesen ist. Die Erosion der schwarzen Regimenter wurde durch diesen kurzen türkisen Frühling nur unterbrochen.

Karl Nehammer, der neue Mann an der Spitze von Partie und Regierung, probiert es mit einem Imagewechsel. Der ehemalige Parteisekretär und Innenminister, vormals Kurzens Grobian, der schon mal mit der Flex die Infektionskette durchschneiden wollte und Maßnahmenkritiker als „Lebensgefährder“ titulierte, will nun partout auf diese zugehen und aktuell als moderater Befreier von der Pandemie sein Glück versuchen. Ob das aufgeht, ist fraglich. Letztes Wochenende setzte es eine herbe Niederlage bei den Gemeinderatswahlen in Tirol. Und zwar nicht gegen die klassischen Konkurrenten SPÖ, FPÖ oder Grüne, sondern gegen die impf- und maßnahmenkritische Liste MFG (Menschen-Freiheit-Grundrechte). Die konnte in 51 Gemeinden zur Wahl antreten und respektable Ergebnisse oft jenseits der 10 Prozent erzielen.

Gekürzte Fassung in Freitag (Berlin), Nr. 9, 3. März 2022

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„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Grafikquellen          :

Oben     —    Rollenverteilung der Beschuldigten in der ÖVP-Korruptionsaffäre

Verfasser INKSCAPE-MACHT SPASS          /       Quelle    :  Eigene Arbeit     /     Datum   –  29. Januar 2022

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International Lizenz.

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Unten     —       Am Dienstag, 27. Mai startet Außen- und Integrationsminister Sebastian Kurz mit den anerkannten Kirchen- und Religionsgesellschaften einen Dialogprozess zum Thema „Religionsfreiheit“, u.a. mit Kardinal Christoph Schönborn; Arsenios Kardamakis, griechisch-orthodoxer Metropolit; Fuat Sanac, Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft; Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde; Michael Bünker, Bischof der evangelischen Kirche A.B., Wien, 27.05.2014, Foto: Dragan Tatic

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Aggression gegen – Ukraine

Erstellt von Redaktion am 24. Februar 2022

Wie Putin mit Desinformation Politik macht

Wladimir Putin auf dem Kongress von Einiges Russland (27.11.2011).jpg

Eine Kolumne von Sascha Lobo

Quer durch die sozialen Medien verzerren und verbiegen die Putinisten und der russische Präsident selbst die Realität. Das Ziel: Neben dem Krieg auch den Informationskrieg zu gewinnen.

1938 trifft der Schriftsteller Heinrich Mann – ein bürgerlicher Antifaschist – im Exil jemanden, der theoretisch auf seiner Seite gegen die Nazis stehen könnte. Die beiden unterhalten sich, später stellt Mann ernüchtert fest: »Sehen Sie, ich kann mich nicht mit einem Mann an einen Tisch setzen, der plötzlich behauptet, der Tisch, an dem wir sitzen, sei kein Tisch, sondern ein Ententeich, und der mich zwingen will, dem zuzustimmen.«

Manns Gast war Walter Ulbricht, der spätere Mitgründer und Staatsratsvorsitzende der DDR, der sich seinerseits im Exil seit 1933 zwischen Moskau und Paris zum kommunistischen Vorzeigekader und eifrigsten deutschen Stalinisten entwickelte. Unter anderem verteidigte er trotz seiner eindeutigen Gegnerschaft gegen die Nazis vehement den Hitler-Stalin-Pakt. Es zieht sich eine ideologisch schnurgerade Linie vom Stalinismus über propagandistische Aktivitäten der Sowjetunion bis zu Putins heutigem Handeln. Und vor allem: zu der von ihm gesteuerten Kommunikation. Putins zentrales Instrument dafür ist die Lüge. Da ist die Kontinuität zu Ulbrichts Ententeich. Obwohl sie auf den ersten Blick so simpel ist, funktioniert die Lüge auf mehreren unterschiedlichen Ebenen.

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Die beste Jahre vermerkelt ?

Erstellt von Redaktion am 23. Februar 2022

Wir hatten die besten Jahre

Karikatur Merkel Politikerdiäten.jpg

Ein Schlagloch von Matthias Greffrath

Wenn das Szenario des Films „Don’t Look Up“ nicht Realität werden soll, braucht es radikale Veränderungen. Doch Politiker fürchten, abgewählt zu werden.

Don’t Look Up“ – natürlich hatten alle am Tisch den Film mit dem Meteoriten gesehen, der zielgenau auf die Erde zurast, diese Satire, die punktgenau den Zustand von Welt und Politik und Medien und Mentalitäten abbildet: die einflussarme Wissenschaft, die machtvergessenen Amtsträger, die Schredderung des Schreckens im Spaßfernsehen, die technokratischen Heroes of the Universe aus dem Silicon Valley. „Wir hatten die besten Jahre“ – ich glaube, das war der letzte Satz, beim letzten Mahl, das Leonardo DiCaprio mit seiner Familie feiert, während die Wände schon beben. Und natürlich waren auch alle am Tisch erschrocken darüber, dass ihnen das Lachen nicht im Hals stecken geblieben war: Wo sind wir gelandet, wenn Apokalypsen nicht mehr schaudern machen?

Im weiteren Verlauf des Abends ging es dann um Folgefragen wie diejenige, warum die Eliten offiziell immer noch von 1,5 Grad reden, obwohl sie wissen oder doch wissen könnten, dass es längst eine Illusion ist? Oder warum Volkswirte nicht längst schon lernen, mithilfe von avancierten Algorithmen Szenarien zu entwickeln, die präziser wären als das kulturwissenschaftliche Murmeln von Postwachstum?

Oder: Warum gibt es noch kein Max-Planck-Institut für Transformation, dessen Bulletins nicht so leicht abgetan werden könnten wie die Klebeaktionen von verzweifelten 17-Jährigen auf Ruhrschnellwegen oder die Feuilletons über das Glück-des-Weniger, das Resonanzdefizit der Gesellschaft oder die Soziologie des Verlusts? So ging der Abend dahin, bei Rehgulasch und Rotkohl und Rotwein, Gesprächen über die Kinder, die trotz alledem auf einem guten Weg sind, die Planung von Radtouren auf den gut asphaltierten Nebenstraßen in Frankreich, und irgendwann auch alten Gedichten:

Dass etwas getan werden muss und zwar sofort

das wissen wir schon

dass es aber noch zu früh ist um etwas zu tun

dass es aber zu spät ist um noch etwas zu tun

das wissen wir schon

und dass es uns gut geht

und dass es so weiter geht

und dass es keinen Zweck hat

das wissen wir schon

und dass wir schuld sind

und dass wir nichts dafür können dass wir schuld sind

und dass wir daran schuld sind dass wir nichts dafür können

und dass es uns reicht

das wissen wir schon …

An die Stelle der Denunziation ist die sozialpopulistische Rückhand getreten: Veränderung träfe die Armen

Das „Lied von denen, auf die alles zutrifft und die alles schon wissen“ endet 33 Zeilen später mit den Versen „und dass wir das schon wissen / das wissen wir schon“. Hans Magnus Enzensberger hat es geschrieben, allerdings schon 1967. Zehn Jahre danach forderte Jimmy Carter seine Landsleute in landesväterlicher Freundlichkeit auf, weniger Strom zu verbrauchen, die Häuser besser zu isolieren und nicht länger mit den großen Schlitten zu fahren. Er besteuerte die Ölkonzerne, gab die Umweltstudie „Global 2000“ in Auftrag, in der zum ersten Mal von einer Klimaveränderung die Rede war. Auf dem Dach des Weißen Hauses ließ er Sonnenkollektoren installieren. Vier Jahre darauf demontierte Ronald Reagan die Anlage, strich das Energiesparprogramm, entließ Hunderte von Forschern, die Windparks verrotteten.

Greta Thunberg spricht mit US-Senatoren über die Klimakrise.jpg

Wer versteht die Wahrheit, welche er nicht hören will oder darf !

Unsere Generation und die unserer Kinder und Enkel – so schrieb es vor 33 Jahren der Zoologe Hubert Markl – werden zu tätigen Zeugen einer gewaltigen Umwälzung des Lebens auf unserer Erde. „Vor unseren Augen, unter unseren Händen geht eine erdgeschichtliche Epoche zu Ende, die viele Jahrmillionen Bestand hatte. Nur blinder Stumpfsinn könnte sich dieser Tragik verschließen. Was bevorsteht, ist ebenso klar erkennbar wie bitter.“ Natur sei nun zur Kulturaufgabe geworden.

Zwanzig weitere Jahre dauerte es dann, bis sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse gegen die milliardenschweren Leugnungskampagnen durchgesetzt hatten, und noch einmal ein Jahrzehnt bis zum Pariser Abkommens im Jahr 2015. Dann kamen ein paar heiße Sommer, Greta Thunberg sprach vor der UNO, und in einem Wandelgang machte ihr die Kanzlerin klar, dass es sehr wichtig sei, aber dass sie auch die Menschen in ihrem Wahlkreis mitnehmem müsse. Und Friedrich Merz befand: das Mädchen sei krank.

Quelle      :          TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben       —   Karikatur

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China imperial ?

Erstellt von Redaktion am 23. Februar 2022

Abschwung verhindern, Macht sichern

Außenminister Kerry posiert für ein Foto mit Dr. Biden, Vizepräsident Biden, dem chinesischen Präsidenten Xi und seiner Frau Peng Liyuan (21723856051).jpg

Von Uwe Hoering

Im Westen gilt China derzeit als Zugpferd der weltwirtschaftlichen Erholung nach der Coronakrise. Doch kann es diese Rolle auch weiterhin ausfüllen – oder steht „die Zukunft einer Globalisierung mit China auf dem Spiel“, wie die dortige Europäische Handelskammer meint?[1]

Hintergrund dieser bangen Frage ist ein wirtschaftspolitischer Strategiewechsel in Peking: Nichts weniger als ein „neues Wirtschaftsmodell“ versprach Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping schon im Mai 2020. Doch anders als bei seiner Ankündigung der Neuen Seidenstraßen (Belt and Road Initiative) im Jahr 2013, die einen weltweiten Debatten-Tsunami anstieß,[2] blieben die Reaktionen in der breiten Öffentlichkeit bislang eher verhalten.[3] Dabei verbirgt sich hinter dem Etikett „Duale Kreislaufstrategie“ (Dual Circulation Strategy, DCS) nichts weniger als eine veritable Neuausrichtung der chinesischen Entwicklungsstrategie, die erhebliche Auswirkungen für die weitere Globalisierung und Chinas Rolle darin haben könnte. Der Politikwissenschaftler James Crabtree sieht darin sogar „eine Wirtschaftsstrategie für einen neuen Kalten Krieg“.[4]

Schon die Neuen Seidenstraßen waren ein deutliches Signal, dass China versucht, sich von seinem investitionsgetriebenen, exportorientierten Wachstumskurs zu befreien. Das Erfolgsmodell für Chinas Aufstieg zur „Werkbank der Welt“ litt spätestens seit der Finanzkrise 2007/2008 immer mehr unter zahlreichen Widersprüchen und Problemen: Wirtschaftlich brachen Absatzmärkte weg, die Wachstumsrate fiel und finanzielle Anschubprogramme führten zu interner Verschuldung und einer Immobilienblase. Innenpolitisch signalisierten Arbeitskämpfe, Umweltschäden, Korruption und die zunehmende Ungleichheit zwischen Arm und Reich sowie Stadt und Land steigende Risiken für die politische Stabilität und den Führungsanspruch der Kommunistischen Partei. Verschärft wurde diese Situation durch die US-Politik, die in der geopolitischen Konkurrenz nicht nur auf wirtschaftliche, sondern zunehmend auch auf militärische Druckmittel setzt.

In diesem Licht bündelt das Konzept des „dualen Kreislaufs“ zahlreiche wirtschaftspolitische Gegenmaßnahmen der vergangenen Jahre. Dabei handelt es sich nicht um eine ausgearbeitete Strategie, sondern eher um ein Konglomerat von Maßnahmen und Zielen. Es zielt ab auf eine weitere Integration und engere Koordination der nationalen und globalen Wirtschaftspolitik. Im 14. Fünfjahresplan (2021 bis 2025), in dem die DCS besonders hervorgehoben wird, heißt es: „Die interne große Zirkulation und die internationale Zirkulation verstärken sich gegenseitig.“

Die internationale Aufmerksamkeit richtet sich bislang zumeist auf den „inneren Kreislauf“, das heißt auf die Ausweitung der Binnennachfrage, auf Importsubstitution sowie auf die Beschleunigung von wirtschaftlicher Modernisierung und Technologieentwicklung.

Denn das neue Wirtschaftsmuster stützt insbesondere die industrielle Modernisierungsstrategie „Made in China 2025“, in der Sektoren wie Künstliche Intelligenz, Luft- und Raumfahrt, „grüne“ Technologien und Medizintechnik vorrangig ausgebaut werden sollen. Dadurch will die Volksrepublik ihre starke Abhängigkeit von den USA und ihren Alliierten im Außenhandel sowie bei Technologien und Know-how verringern. Als weitere zentrale Risiken für die nationale Sicherheit durch hohe Importabhängigkeit nennt Xi Jinping den Energiebereich, die Versorgung mit mineralischen Rohstoffen und die Ernährungssicherheit.[5]

Dabei geht es der KP keineswegs um Autarkie oder Self-reliance im herkömmlichen Sinne, also um eine weitestgehende Eigenständigkeit und konsequente Abkopplung von internationalen Handelsbeziehungen oder Produktionsketten. Das zeigt ein Blick auf die zweite, die „externe Zirkulation“. Sie zielt eher auf eine intensivierte Verzahnung mit den globalen Märkten, sowohl was Importe als auch was eigene Exporte betrifft.

Einen besonderen Stellenwert nehmen dabei die Neuen Seidenstraßen ein, die bereits als „spatial fix“ (David Harvey) für binnenwirtschaftliche Probleme der chinesischen Ökonomie wie Akkumulationskrise, Überkapazitäten in Schlüsselbereichen der Wirtschaft und sinkende Profitraten angelegt waren: Schon bei dieser Strategie ging es anfangs vorrangig um die Infrastrukturentwicklung als Voraussetzung für die Ausweitung von Absatzmärkten und Investitionsmöglichkeiten, für die Verlagerung lohnintensiver oder umweltschädlicher Industrien in Niedriglohnländer sowie die diversifizierte Sicherung der Versorgung mit Rohstoffen, vor allem im Energie- und Agrarbereich – kurz: um eine durch China geprägte neue Globalisierungswelle. Erweitert wurde dies mittlerweile um die sogenannte Digitale Seidenstraße, mit der die logistische Infrastruktur für die Expansion von Handel und Investitionen ausgeweitet und verbessert werden soll.

Eine derartige Gestaltung der Außenwirtschaft nach den eigenen Interessen, die jetzt durch die DCS verstärkt wird, bedeutet unter anderem eine staatskapitalistisch geordnete und gelenkte Ausweitung von Auslandsinvestitionen chinesischer Konzerne und eine Verringerung von Importen, vor allem aus Industrieländern.

Man könnte sie daher als eine eigene Variante eines wirtschaftlichen Nationalismus bezeichnen, der gleichzeitig selektiv protektionistisch und expansionistisch ist. Ultimative Ziele bleiben ein, wenn auch „normalisiertes“, Wirtschaftswachstum und Profitsteigerung, um den von Staat und Partei versprochenen „Gemeinsamen Wohlstand“ und damit die innenpolitische Legitimation und Stabilität zu sichern.

Binnenwirtschaftlicher Balanceakt

Eine derart fundamentale Umstrukturierung ist allerdings selbst für den chinesischen Kapitalismus mit seiner staatlichen Machtfülle nicht einfach – und sie ist kostspielig. Das zeigt sich beispielsweise an der angestrebten Steigerung der Binnennachfrage: Ein spektakulärer Schritt, um sie anzukurbeln, ist die im chinesischen Wirtschaftsjargon als „tertiäre Umverteilung“ bezeichnete Aufforderung an einheimische Konzerne, ihre Profite für soziale Projekte zu spenden.[6] Dem kamen die Unternehmen zwar mit Milliardenbeträgen nach. Doch deren Auswirkung auf die Steigerung der Kaufkraft und die Verringerung von Ungleichheit, die ein erhebliches soziales Konfliktpotential darstellt, gleicht einem Strohfeuer.

Grundlegende Maßnahmen zur Umverteilung von Einkommen und Reichtum hingegen – wie höhere Löhne, der Ausbau sozialer Sicherung und die Einbeziehung von Gruppen wie der Landbevölkerung oder den Arbeitsmigranten, die bislang vom wirtschaftlichen Wohlstand noch weitgehend ausgeschlossen sind – lassen sich weitaus schwieriger und kostspieliger umsetzen. Zudem dürfen sie nicht die Dynamik der chinesischen Wirtschaft insgesamt gefährden.

Fundamentale Abhängigkeiten

Außenwirtschaftlich wiederum verweist die „Dualer-Kreislauf“-Strategie auf die wachsende Bedeutung der Seidenstraßen-Länder für China und seine „innere Zirkulation“ – und das in mehrfacher Hinsicht. So sehen Beobachter „einen grundlegenden Wandel in Chinas wirtschaftlichem Engagement in Zentralasien“.[7] Viele dieser Länder waren bislang kaum mehr als Transitstationen für die Verbindungen zwischen China und Europa und/oder bloße Rohstofflieferanten. Zwar spielen für sie auch weiterhin Exporte von fossilen Energieträgern nach China eine wichtige Rolle, doch geht die Finanzierung großer Infrastrukturprojekte oder von Kohlekraftwerken durch Peking zurück. Stattdessen wächst die Zahl von chinesischen Industrieprojekten, vor allem im Verarbeitungssektor – eine Entwicklung, die diese Länder seit Langem gefordert haben. Das Central Asian Analytic Network (CAAN) konstatiert: „Chinesische Unternehmen versuchen nun, Fabriken zu errichten, die Verarbeitung von Rohstoffen auszuweiten und einheimische Agrarbetriebe zu modernisieren.“[8] Eine ähnliche zunehmende Integration in den „dualen Kreislauf“ lässt sich in Südostasien beobachten.[9]

Quelle     :       Blätter-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben       —     US-Außenminister John Kerry posiert für ein Foto mit U.S. Second Lady Dr. Jill Biden, US-Vizepräsident Joe Biden, der chinesische Präsident und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Xi Jinping und die Frau des obersten Führers, Peng Liyuan, vor einem Mittagessen zu Ehren des chinesischen Führers im US-Außenministerium in Washington, D.C., am 25. September 2015. [Foto des Außenministeriums / Public Domain]

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Die Krise in Osteuropa

Erstellt von Redaktion am 19. Februar 2022

5000 Fahrradhelme für die Ukraine, um Putin nicht zu provozieren

Bereits mit Einschusslöcher entworfen!

Eine Kolumne von Sascha Lobo

Ein Überfall Russlands auf die Ukraine kann natürlich verhindert werden. Für den Fall, dass es misslingt, sagt unser Kolumnist – nicht ganz ernst gemeint – voraus, wie Scholz, Schröder und die Linkspartei reagieren.

Bereits ein kurzer Blick in die Kreml-Kristallkugel zeigt ganz deutlich die mögliche, weitere Entwicklung im Ukrainekonflikt. Natürlich kann Putins Überfall noch verhindert werden – allerdings eben nur von Putin selbst. Und der hat es leider schon ein paar Mal trotz größter Bemühungen nicht geschafft, andere Länder nicht zu überfallen. Daher folgt hier mit dem Fokus auf Deutschland das wahrscheinlichste Szenario, wenn doch noch alles eskalieren sollte.

Tag 0

Ukrainische Regierungsstellen schlagen Alarm und melden Truppenbewegungen und Schüsse der offiziellen russischen Armee – auf ukrainischem Gebiet. Ein Regierungssprecher in Kiew sagt: »Hilfe, der Krieg hat begonnen«. Moskau dementiert in scharfem Ton: »Die Streitkräfte der Russischen Föderation sind nirgends, wo sie nicht sein sollen.« Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) reagiert umgehend nach den bewährten Kriterien des Wu Wei, also gar nicht. Bundesgasler Gerhard Schröder (GAZ) veröffentlicht auf TikTok ein leckeres Bratenrezept mit Pilzen.

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