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Nebeneinkommen im BT.

Erstellt von Redaktion am 15. April 2023

Die Diät ist ihnen nicht  genug

VON FREDERIK EIKMANNS, TOBIAS SCHULZE, ALEXANDRA HILPERT UND PASCAL BEUCKER

Mitglieder des Bundestags müssen neuerdings ihr Nebeneinkommen genau angeben. Die taz hat sich durch die Zahlen gewühlt. Auf die zehn Bestverdienenden entfällt über die Hälfte des Gesamtnebeneinkommens aller Abgeordneten.

Bei fast allen Bundestagsmitgliedern ist neuerdings online einsehbar, wie viel Geld sie nebenher erwirtschaften. Wenige Top­ver­die­ne­r*in­nen stehen einer großen Mehrheit gegenüber, die nur wenig einnimmt. Von rund 37 der 736 aktuellen und 11 ausgeschiedenen Abgeordneten fehlen die Daten noch, vor allem von Union und FDP. Die taz hat die Daten, die es schon jetzt gibt, ausgewertet und bei einigen Bundestagsmitgliedern genauer nachgebohrt.

Dabei zeigt sich, dass ein Großteil der Bundestagsmitglieder neben den normalen Diäten von rund 10.000 Euro monatlich nur wenig zusätzlich einnimmt. Im Schnitt liegt der Nebenverdienst derzeit bei nur rund 15.500 Euro brutto über die gesamte laufende Legislaturperiode, das sind weniger als 1.000 Euro im Monat. Insgesamt rund 490 Abgeordnete, also über die Hälfte der Bundestagsmitglieder, listen momentan keine Nebenverdienste auf, die über 1.000 Euro im Monat oder 3.000 Euro jährlich liegen. Das ist die Schwelle, ab der sie gemeldet werden müssen. Einige wenige Bundestagsabgeordnete geben dagegen Nebenverdienste von Hunderttausenden Euro brutto über die bisherige Legislatur­periode an. Dabei haben es vor allem Hinterbänkler in die ersten zehn geschafft (siehe Tabelle auf Seite 11).

Unter ihnen sind einige Selbstständige mit eigenen Unternehmen. Von ihnen erwirtschaftete Summen sind nicht mit Gewinnen gleichzusetzen, sondern geben vielmehr den Umsatz ihrer Firmen an, von dem unter Umständen ein großer Teil für Lohnzahlungen an Angestellte, Betriebskosten und anderes abgeht – wie groß dieser Anteil ist, müssen sie nicht an­geben. Das macht diese Angaben schwer vergleichbar mit denen von anderen Topverdiener*innen, etwa denen, die als Parteifunktionäre über 100.000 Euro brutto im Jahr verdienen oder als Buch­au­to­r*in­nen Tausende Euro im Monat nebenher erwirtschaften, ohne nennenswerte Betriebskosten zu haben.

Auch zwischen den Fraktionen gibt es beim Nebenverdienst Differenzen. Im Schnitt erwirtschaften die Mitglieder der Linken im Bundestag am meisten nebenbei. Ihr durchschnittlicher Brutto-Nebenverdienst liegt bei etwa 23.000 Euro über die gesamte bisherige Legislaturperiode. Das liegt vor allem an Sahra Wagenknecht, die seit November 2021 bisher beachtliche 792.961 Euro brutto einnahm. Weil außerdem die Linksfraktion mit nur 39 Abgeordneten sehr klein ist, hebt Wagenknecht den Schnitt gewaltig. Auf Platz zwei sind die Abgeordneten der Union und der Grünen (je durchschnittlich rund 18.000 Euro Brutto-Nebenverdienst seit Anfang der Legislaturperiode), dahinter die FDP (rund 16.000 Euro). Deutlich unter dem Schnitt wirtschaften dagegen AfD-Abgeordnete (rund 12.000 Euro) und Sozialdemokraten (rund 10.000 Euro).

Die Daten

Angaben von bundestag.de, Stand 13. April 2023. Im Bundestag sitzen derzeit 736 Abgeordnete, dazu kommen weitere 11, die im Verlauf der aktuellen Legislaturperiode ausgeschieden sind. Für insgesamt 710 aktuelle und ausgeschiedene Abgeordnete liegen aktuell Daten vor. Bei allen Verdienstzahlen handelt es sich um Brutto-Angaben ab 1. November 2021, nur vollständige Monate und Jahre wurden gezählt. Während dieser Legislatur ausgeschiedene Parlamentarier*innen und deren Nach­fol­ge­r*in­nen werden zusammen als ein*e Ab­ge­ord­ne­te*r gewichtet.

File:KAS-Politischer Gegner, SPD FDP-Koalition-Bild-1153-1.jpg

Dass Abgeordnete neben ihrer Parlamentstätigkeit noch andere Jobs ausüben, ist nicht prinzipiell verwerflich. Erfahrung in bestimmten Berufsfeldern kann für die Parlamentsarbeit sogar hilfreich sein. Problematisch werden Nebentätigkeiten dann, wenn politische Entscheidungen Auswirkungen auf das Berufsfeld haben, in dem Abgeordnete arbeiten. Genau das geschah mutmaßlich während der Pandemie, wie die sogenannte Maskenaffäre zeigt, die im März 2021 die Union erschütterte. Damals gelangte an die Öffentlichkeit, dass einige Bundes- und Landespolitiker von CDU und CSU in der Pandemie Geschäfte mit Maskenherstellern eingefädelt hatten, von denen sie selber profitierten. So etwa die damaligen Unions-Bundestagsabgeordneten Georg Nüßlein und Nikolas Löbel, die deswegen ihre Mandate abgaben und aus CSU bzw. CDU austraten. Auch gegen Ex-Kanzlerkandidat Armin Laschet und den damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gab es Vorwürfe. Zwar wurde letztendlich niemand verurteilt, doch sorgten die Enthüllungen für die Einsicht, dass für das Vertrauen ins Parlament ein gewisser Grad an Transparenz nötig ist: Der Bundestag beschloss die neuen Transparenzregeln. Nach den Regeln, die bis dahin galten, mussten Abgeordnete ihre Nebenverdienste nur in Stufen angeben.

Anti-Korruptions-Aktivist*innen sehen in den neuen Transparenz­regeln einen Fortschritt. Norman Loeckel von Transparency International sagt: „Durch die Regeln werden mögliche Interessenkonflikte zwischen den eigenen wirtschaftlichen Interessen und den politischen Tätigkeiten für alle sichtbar und zugänglich.“ Um deren Legitimität beurteilen zu können, brauche es aber eigentlich auch Informationen über die Arbeitszeit, die durch Nebentätigkeiten anfällt. Die müssen Abgeordnete bisher nicht angeben. ­Loeckel sagt weiter: „Wichtig ist es, insbesondere bei den Abgeordneten hinzuschauen, die durch Dienstleistungen sehr viel Geld verdienen.“ Auch Léa Briand von Abgeordnetenwatch.de begrüßt die neuen Regeln. Sie sagt aber: „Es bleiben weiterhin viele Ausnahmen.“ Sie beklagt: „Wir wissen nicht, ob Regelverstöße kontrolliert und sanktioniert werden.“ Ebenfalls kritisch sieht Briand, dass das Gesamtvermögen von Mi­nis­te­r*in­nen und Abgeordneten nicht aufgelistet werden muss sowie die Regelungen für nebenberufliche Anwält*innen, die die Namen ihrer Man­dan­t*in­nen verschweigen dürfen.

Abgesehen von solchen Lücken gibt es aber noch ein weiteres Problem der neuen Transparenzregeln: die Bundestagsverwaltung. Denn sie scheint mit der Umsetzung völlig überfordert. So sind die Angaben, die es bisher auf bundestag.de gibt, teils chaotisch und schwer zu entziffern. Vor allem aber hängt die Bundestagsverwaltung dramatisch hinter ihrem Zeitplan her, den es für die Veröffentlichung der Nebeneinkünfte einst gab. Ursprünglich sollten die Angaben für alle Abgeordneten schon 2021 veröffentlicht werden, zuletzt hieß es dann, bis Ostern 2023 werde man fertig. Auch diese Frist ist nun verstrichen und noch immer fehlen einzelne Angaben. Auf Anfrage, wann die restlichen Angaben folgen sollen, sagt eine Sprecherin: „In den nächsten Tagen.“

1.) Die Erbin

Ophelia Nick verdient dank Fabrik-Anteilen nebenbei Millionen

2.) Die Pflege-Chefin

Kristine Lütke arbeitet als Geschäftsführerin eines Heims

3.) Die Autorin

Sahra Wagenknecht polarisiert – und macht das zu Geld

usw.

Quelle      :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesn

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Die Kindergrundsicherung:

Erstellt von Redaktion am 15. April 2023

Kaum angekündigt, schon demontiert?

Von Christoph Butterwegge

Sie spielt sich oft im Verborgenen ab und steht noch immer zu wenig im Fokus: Kinderarmut. Dabei sind hierzulande rund drei Millionen Kinder und Jugendliche betroffen und damit 21,3 Prozent aller Minderjährigen.

Immerhin: Nachdem man sie lange nur in Sonntagsreden bedachte, betrachten mittlerweile große Teile der Öffentlichkeit Kinderarmut als ein gravierendes soziales Problem, das die Politik sehr viel konsequenter als bisher angehen muss. Und seit die SPD „Hartz IV hinter sich lassen“ will, wie ihre damalige Vorsitzende Andrea Nahles, heute Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, immer wieder betonte, gehört eine Kindergrundsicherung (KGS) zu den Instrumenten dieser Partei, um die Armut und die damit verbundene soziale Ausgrenzung von Minderjährigen zu bekämpfen.[1] Schon kurz nach der Jahrtausendwende hatten die Grünen ein Konzept entwickelt, das sich auf Kinder als besonders vulnerable Armutsrisikogruppe konzentriert. Sie können deshalb als Urheber:innen des Reformprojekts gelten, das nun, nach über zwei Jahrzehnten, langsam Gestalt annimmt.

Nachdem die Ampelkoalition mit dem am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Bürgergeld zunächst die landläufig als „Hartz IV“ bezeichnete Grundsicherung für Arbeitsuchende reformiert hat, steht für den Rest der Legislaturperiode die Kindergrundsicherung als ihr zweites familien- und sozialpolitisches Kernanliegen im Fokus. Damit sollen neben dem Kindergeld sämtliche kindbezogenen Transferleistungen – der Kinderzuschlag, die entsprechenden Regelbedarfsstufen des Bürgergeldes sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepaketes (BuT) – zusammengelegt werden.

Laut den „Eckpunkte[n] zur Ausgestaltung der Kindergrundsicherung“, die Familienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) ihren Koalitionskolleg:innen im Januar vorlegte, soll diese aus zwei Komponenten bestehen: einem für alle Kinder gleichen Garantiebetrag, der dem heutigen Kindergeld entspricht, und einem Zusatzbetrag, der sich nach dem Alter des Kindes und dem Haushaltseinkommen richtet.[2] Vor allem über die Höhe des Zusatzbetrages wird es in der Ampel vermutlich noch harte Auseinandersetzungen geben, weil die FDP das Projekt offenbar verhindern, verschieben oder nur in einer Schrumpfversion passieren lassen will – die schwarze Null und den Verzicht auf Steuererhöhungen als vordringliches Ziel vor Augen. Doch unabhängig von einem möglichen späteren Kompromiss der Koalition stellt sich die Frage, ob das – bislang noch recht vage – Konzept des Bundesfamilienministeriums überhaupt seinem Anspruch genügen kann, „einfach, unbürokratisch und bürgernah“ zu sein.[3] Wäre es also tatsächlich geeignet, die hierzulande weit verbreitete und oft verdeckte Armut von Minderjährigen zu beseitigen oder die soziale Ungleichheit innerhalb der nachwachsenden Generation wenigstens zu verringern?

Kindergrundsicherung für alle?

Das ist alles andere als klar: Laut Eckpunktepapier soll der für alle Familien gleiche Garantiebetrag beim 2025 geplanten Start der Kindergrundsicherung „mindestens“ der Höhe des dann geltenden Kindergeldes entsprechen. Verteilungsgerecht und in sich schlüssig ist eine Kindergrundsicherung damit aber noch nicht. Das wäre erst der Fall, wenn sie neben dem Kindergeld und ergänzenden Familienleistungen auch den bisherigen steuerlichen Kinderfreibetrag integrieren würde, an dem die FDP, vermutlich auch die Unionsparteien, mit ihrer starken Stellung und praktischen Vetofunktion im Bundesrat festhalten. Es ist nicht bloß ungerecht, sondern auch unlogisch, den steuerlichen Kinderfreibetrag, der die Steuerfreistellung eines Einkommens in Höhe des kindlichen Existenzminimums bewirkt, beizubehalten bzw. seine Abschaffung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben: Denn dieser entlastet Spitzenverdienende im Jahr 2023 um gut 354 Euro pro Monat, während Normalverdienenden, die das Kindergeld (heute 250 Euro) bzw. künftig den vermutlich gleich hohen KGS-Garantiebetrag erhalten, monatlich 104 Euro weniger zur Verfügung stehen. In den Eckpunkten der Bundesfamilienministerin heißt es vage, „perspektivisch“ solle der geplante Garantiebetrag der maximalen Entlastungswirkung des steuerlichen Kinderfreibetrages entsprechen. Vorerst aber verhindert die FDP innerhalb der Ampelkoalition, dass dem Staat jedes Kind gleich viel wert ist. Warum sollen Investmentbanker, Topmanager und Chefärzte im Gegensatz zu Erzieherinnen, Pflegekräften oder Verkäuferinnen statt der Kindergrundsicherung für alle Minderjährigen weiterhin einen gesonderten Steuerfreibetrag für ihren Nachwuchs in Anspruch nehmen können? Dieses grundsätzliche Gerechtigkeitsproblem bleibt nach den Plänen des Familienministeriums vorerst weiter bestehen.

Prof Dr Christoph Butterwegge.jpg

Zwar ist die von Paus vorgestellte Absicht, die Grundsicherungsleistungen von einer „Holschuld“ der Familien zu einer „Servicepflicht“ des Sozialstaates zu machen, grundsätzlich zu begrüßen. Denn obwohl viele Kinder schon jetzt Anspruch auf Unterstützung hätten, nehmen zu viele Familien diese – oft aus Unkenntnis und wegen hoher bürokratischer Hürden – bislang nicht in Anspruch. Das soll sich nach den Plänen des Familienministeriums fortan ändern: Nunmehr sollen ein digitales Kindergrundsicherungsportal und ein automatisierter Kindergrundsicherungscheck die Beantragung der Kindergrundsicherung erleichtern. Doch es ist nicht auszuschließen, dass diese Digitalisierung des Antragsverfahrens gerade jene Familien benachteiligt, die am meisten auf KGS-Leistungen angewiesen sind: weil gerade ihnen oft die nötigen Kenntnisse, die passenden Geräte oder ein WLAN-Anschluss fehlen. Wer als „bildungsfern“ gilt, könnte damit noch mehr als bisher im Hinblick auf das Antragsverfahren benachteiligt werden.

Hinzu kommt, dass die geplante Schaffung einer Kindergrundsicherungsstelle nicht, wie beabsichtigt, zu weniger, sondern zu mehr Bürokratie führen würde – und womöglich gar zu einem Behördenchaos, weil auch das Jobcenter für die Eltern im Grundsicherungsbezug zuständig bleibt. Der maximale Zusatzbetrag soll zusammen mit dem Garantiebetrag „das pauschale altersgestaffelte Existenzminimum des Kindes“ abdecken, also den altersgestaffelten SGB-II-Regelbedarfen in Verbindung mit den anteiligen Wohnkosten sowie einzelnen Bildungs- und Teilhabeleistungen entsprechen. Positiv zu bewerten ist, dass der KGS-Zusatzbetrag nicht pauschal ausgezahlt werden soll, was besonders für Kinder aus sozial benachteiligten Familien problematisch wäre. Denn dadurch würden alle Minderjährigen über einen Kamm geschoren, ganz unabhängig davon, wo und in welcher Haushaltskonstellation sie leben, wie alt sie sind und ob sie sozial benachteiligt oder gesundheitlich eingeschränkt sind – Sonderbedarfe sollen also auch fortan geltend gemacht werden können.

Quelle         :      Blätter-online      >>>>>           weiterlesen

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Aber wie und mit wem?

Erstellt von Redaktion am 15. April 2023

Gesellschaft verändern heisst Macht von unten aufbauen

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Stadtteilgewerkschaft Solidarisch in Gröpelingen

Bericht der Stadtteilgewerkschaft Solidarisch in Gröpelingen über ihre Erfahrungen mit Stadtteilbasisarbeit und die Entwicklung des Beratungs-Organisierungs-Ansatzes (BOA).

Seit einigen Jahren wird innerhalb der radikalen und revolutionären Linken immer häufiger von Basisarbeit gesprochen. Einen ersten Aufschwung erlebte die Diskussion während der Debatten um eine Neuausrichtung linksradikaler Politik sowie um neue Klassenpolitik ab ca. 2014. Nachdem das Interesse an Basisarbeit zwischendurch wieder etwas abzunehmen schien, taucht der Ansatz in den aktuellen Diskussionen rund um die Mobilisierungen gegen die Preissteigerungen wieder verstärkt auf. Neben den theoretischen Debatten gab und gibt es auch eine Reihe von praktischen Ansätzen, vor allem mit dem Fokus auf Stadtteilbasisarbeit. Allerdings stiessen viele der Gruppen bei der Umsetzung der theoretischen Überlegungen in den Stadtvierteln an Grenzen.Es zeigt sich, dass es bisher kaum gelang, Strukturen aufzubauen, in denen sich wirklich viele Menschen aus den Stadtteilen organisieren. Häufig bleibt es bei einer Gruppe von Aktivist*innen, die linke Politik im Stadtteil machen und vor allem bereits links politisierte junge Leute ansprechen. Diese Schwierigkeiten in der Praxis haben dazu geführt, dass sich viele Stadtteilbasisgruppen wieder aufgelöst oder ihren Fokus wieder auf klassisch linksradikale Politik und Intervention in Bewegungen und Diskursen gesetzt haben. Wir sind jedoch der Ansicht, dass die Schwierigkeiten in der Praxis auch aus einem unzureichenden Verständnis von Basisarbeit resultieren, sowie mangelnden Erfahrungen, was dieser Ansatz in einer Gesellschaft wie der bundesdeutschen bedeutet.

Als Organisation, die in Bremen seit 2016 revolutionäre Stadtteilbasisarbeit entwickelt, haben wir über die letzten Jahre viele Erfahrungen sammeln können. Anfang 2020 haben wir uns Zeit genommen und uns in einen Reflexionsprozess begeben, um zu analysieren, was Fehler und Hindernisse in unsere Praxis waren und was wir entsprechend verändern müssen. Neben der Auswertung unserer eigenen Erfahrungen haben wir uns auch tiefer gehend mit den Definitionen von Basisarbeit von anderen Bewegungen weltweit beschäftigt und die Frage diskutiert, was in einer Gesellschaft wie der bundesdeutschen wirkliche Ausgangspunkte für Organisierung sein können.

Ausgehend von diesen Reflexionen haben wir einen neuen Ansatz der Stadtteilbasisarbeit entwickelt und setzen diesen seit 2021 schrittweise in die Praxis um. Er beruht auf einer Kombination aus Beratung und Organisierung auf der Basis einer Mitgliedschaft, Vollversammlungen, Aktionen und politischer Bildung. Seit der Umstellung unserer Praxis bemerken wir eine deutliche Veränderung. Wesentlich mehr Menschen aus dem Stadtteil werden in der Stadtteilgewerkschaft aktiv und wir sind in der Lage nachhaltigere Organisationsstrukturen aufzubauen. In dem vorliegenden Text möchten wir unsere Reflexionen transparent machen. Wir wollen ausserdem Gruppen oder Genoss*innen in anderen Städten dazu aufrufen, weitere lokale Ableger einer gemeinsamen organisierten Stadtteilbewegung bzw. Stadtteilbasisorganisation mit gemeinsamen politischen Übereinkünften auf der Basis von Beratung und Organisierung in ihren Stadtteilen zu gründen und das Konzept mit uns gemeinsam weiter zu entwickeln. Wir freuen uns auf Rückmeldungen oder Berichte über eure Erfahrungen und Diskussionen.

Zudem möchten wir alle Gruppen oder Einzelpersonen, die sich für den Aufbau einer solchen Stadtteilbasisorganisation in ihrer Stadt interessieren oder bereits in einer Praxis stehen, zu einem gemeinsamen Austauschtreffen einladen. Wenn ihr Interesse habt, schreibt uns gerne eine Mail an: stadtteil-soli@riseup.net.

1. Einleitung

Aus den Strategiedebatten um eine Neuausrichtung linksradikaler Politik ab 2014 gingen zahlreiche revolutionäre Stadtteil- oder Solidarisch-Gruppen hervor, die versuchten, die theoretischen Diskussionen in die Praxis umzusetzen. So auch wir. Nach der Veröffentlichung der 11 Thesen1 durch kollektiv, haben wir uns auf Basis dieser Grundsätze als Gruppe in Bremen gefunden und 2016 begonnen unter dem Namen Solidarisch in Gröpelingen eine Praxis zu entwickeln, die wir als revolutionäre Stadtteilarbeit oder auch Basisarbeit bezeichnen. Unser Ausgangspunkt war damals, linke Inhalte raus aus der Szene, rein in die Gesellschaft zu tragen und dadurch eine neue Klassenpolitik von unten zu entwickeln. Die grobe Richtung war klar: Anhand einer Sichtbarkeit im Stadtteil und Mobilisierung zu einzelnen Themen wie steigenden Mieten, prekären Arbeitsbedingungen oder Rassismus sollten kollektive Strukturen entstehen, in denen sich Menschen organisieren, eine solidarische Kultur entwickeln und ein kritisches Bewusstsein aneignen können.

Wie viele andere auch begannen wir mit Haustürgesprächen, Infotischen, kleinen Kampagnen zu bestimmten sozialen Kampfthemen und der Anmietung eines eigenen Stadtteilladens. Wir organisierten Filmabende, offene Cafés, Mathe-Nachhilfe, politische Veranstaltungen, inhaltliche Kampfkomitees (z.B. Mietkampf- oder Arbeitskampfkomitee) und vieles mehr. Durch die gezielte Mobilisierung von vonovia-Mieter*innen gelang es uns zwischenzeitlich grössere Mieter*innenversammlungen ins Leben zu rufen, ein Mietkomitee auf die Beine zu stellen und einzelne Mietkämpfe anzufachen und zu begleiten.

Dennoch mussten wir Anfang 2020 – inmitten der Hochzeit der Coronapandemie – ähnlich wie einige andere Stadtteilgruppen auch feststellen, dass es uns in den vier Jahren trotz intensiver Praxis nicht gelungen war, wirklich viele Menschen aus dem Stadtteil zu organisieren und somit die Anzahl an Aktivist*innen zu erhöhen und kollektive politische Prozesse in Gang zu bringen. Auch in der bundesweiten innerlinken Debatte schien der anfängliche Aufschwung in Bezug auf Basisarbeit nachzulassen. Einige Gruppen hatten aufgehört, andere ihren Schwerpunkt wieder auf die Organisierung bereits politisierter junger Menschen aus der Stadt gelenkt oder sich darauf beschränkt, Politik im Stadtteil zu machen, ohne wirkliche Beteiligung einer wachsenden Basis, die aus dem Stadtteil selbst kommt.

Wir sind jedoch der Meinung, dass die fehlende Entwicklung der Praxis weder ein Ausdruck des Scheiterns des Ansatzes von Basisarbeit ist noch ein Beweis dafür, dass es in der Bundesrepublik nicht möglich ist, eine Macht von unten aufzubauen. Vielmehr denken wir, dass einige der Probleme in der Praxis aus einem verkürzten Verständnis von Basisarbeit sowie einer unzureichenden Analyse der bundesdeutschen Verhältnisse resultieren. Erste eher theoretische Reflexionen hierzu haben wir in unserem gemeinsamen Text mit Berg Fidel Solidarisch2 unter dem Namen Stadtteilbasisbewegung – die Konstruktion einer Alternative3 veröffentlicht. Darin haben wir beschrieben, was für uns der Unterschied zwischen „einfacher“ und „komplexer“ Basisarbeit ist und warum wir den Aufbau einer überregionalen Stadtteilbasisbewegung als Ziel von Basisarbeit für nötig erachten. Im vorliegenden Text werden wir auf diesen Überlegungen aufbauen, aber vor allem auch unsere konkreten Rückschlüsse auf die Weiterentwicklung der Praxis darlegen.

In den nachfolgenden Kapiteln werden wir zunächst erklären, welches Verständnis von Basisarbeit und vom Aufbau einer Macht von unten wir vertreten. Daran anschliessend stellen wir Kriterien für Basisarbeit dar. Anschliessend berichten wir davon, welche Praxis wir vor 2020 verfolgt haben und welche Entwicklungen darin uns dazu gebracht haben, einen anderen Ansatz zu verfolgen. Diesen Ansatz, den wir Beratungs-Organisierungs-Ansatz (BOA) nennen, stellen wir im Folgenden dar. Als letzten Teil starten wir einen Aufruf für den BOA-Ansatz.

2. Warum nochmal Basisarbeit? Vom Aufbau einer Macht von unten

Der Ausgangspunkt von revolutionärer Basisarbeit ist das Wissen um die Notwendigkeit und Möglichkeit einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung.4 Notwendig, weil das herrschende System (also der Kapitalismus als Ganzes bzw. als Gesellschaftssystem) nicht nur auf der brutalen Ausbeutung von Mensch und Natur basiert, sondern seine Funktionsweise und Reproduktion auch auf der Verschärfung der patriarchal-rassistischen Unterdrückungen basiert und aus all diesen Gründen ständig neue Widersprüche und Krisen produziert. Wir sind an einem Punkt in der Geschichte angelangt, an dem die Frage nach einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft nicht mehr nur eine Frage unter Linken ist, sondern eine, die das Überleben eines Grossteils der Menschheit an sich betrifft.

Gleichzeitig hat sich das Bewusstsein über die Möglichkeit einer solchen Gesellschaftsveränderung in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Während der Bezug auf eine der unterschiedlichen Formen einer sozialistischen Systemalternative in den 1970er/80er Jahren für fast alle linken Bewegungen und Kämpfe weltweit noch selbstverständlich war, kommt ein Grossteil der hiesigen radikalen Linken in der heutigen Zeit ohne Bezugnahme auf ein alternatives gesellschaftliches Projekt aus. Mit der Zerschlagung zahlreicher linker Bewegungen in den 1970/80er Jahren weltweit, der Durchsetzung des Neoliberalismus und dem Zusammenbruch bzw. der Selbst-Delegitimierung des real existierenden Sozialismus ist der Kapitalismus nicht nur faktisch, sondern auch mental in den Köpfen der Menschen hegemonial geworden.

Die Parole von Margaret Thatcher5 „There is no alternative“ hat sich – auch wenn verhasst – als Teil der herrschenden Ideologie nicht nur in den Köpfen und Herzen vieler Menschen, sondern auch der meisten Aktivist*innen fest gesetzt. Zwar bezeichnen sich die meisten weiterhin als antikapitalistisch, aber bei näherer Betrachtung fehlt oft der Glaube daran, dass Systemveränderung wirklich möglich ist. Viele linke Kämpfe werden eher gegen bestimmte Aspekte des Kapitalismus geführt, als für ein grundlegend anderes System. Für viele ist es heute einfacher, sich ein Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus.

Die Frage, ob wir von der Möglichkeit einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung ausgehen oder nicht, hat jedoch einen zentralen Einfluss auf unsere politische Praxis. Denn wenn wir nicht davon ausgehen, dass eine grundlegende Gesellschaftsveränderung möglich ist, dann müssen wir uns auch nicht mit der Frage auseinander setzen, wie unsere Praxis mit dem Ziel der Gesellschaftsveränderung konkret in Verbindung steht. Dann reicht es aus, wenn wir politische Aktionen gegen einen der vielen Angriffe des Systems durchführen, Veranstaltungen organisieren oder uns in die Subkultur als Schutzort6 zurück ziehen.

Wenn wir an einer grundlegenden Veränderung festhalten, stellt sich die Frage nach einer Strategie. Dann müssen wir diskutieren, wie wir uns einen emanzipatorischen Kampf für eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung und gegen Ausbeutung und Unterdrückung vorstellen und welche Organisierungsformen wir dafür benötigen. Ausgehend also von all den Erfahrungen der Geschichte und vor dem Hintergrund der aktuellen Begebenheiten stellt sich die Frage: Mit welchen Strategien und Praxen können wir dazu beitragen, dass wir ein Gesellschaftssystem erkämpfen, in der nicht nur die materielle Existenz aller Menschen gesichert ist, sondern in der darüber hinaus alle Menschen die Möglichkeit haben, sich selbst zu ermächtigen und ihr menschliches Potential zu entfalten?

Wir denken, ein wichtiger strategischer Aspekt in diesem Zusammenhang ist der Aufbau von einer Macht von unten (populäre Macht). Denn wir gehen davon aus, dass eine grundlegende emanzipatorische Gesellschaftsveränderung nicht von wenigen für oder gegen die Gesellschaft durchgesetzt werden kann, sondern von einem breiten gesellschaftlichen Prozess getragen werden muss.7 Deshalb ist eines der Ziele unserer Arbeit, durch eine Organisierung von unten Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Wir nennen dies die Schaffung von populärer Macht. Sie ist wichtig, damit sich die Unterdrückten8 sozialstaatliche Elemente abgebaut, der Arbeitsmarkt und Finanzsektor flexibilisiert etc. gemeinsam gegen die Angriffe der herrschende Klassen und anderer Akteur*innen wehren und eine Verbesserung ihrer Situation erkämpfen können.

Langfristig braucht es Macht von unten (populäre Macht), um gegen die herrschenden Strukturen als Ganzes zu kämpfen und diese zu überwinden. Gleichzeitig ist mit der Schaffung populärer Macht verbunden, eigene Räume und Strukturen zu schaffen, in denen Lernprozesse und Prozesse der Politisierung stattfinden können. Denn eine neue Gesellschaft kann nur dann nachhaltig aufgebaut werden, wenn emanzipatorische Denk- und Verhaltensweisen im (Kampf- )Prozess der Gesellschaftsveränderung erlernt werden. Zum Beispiel geht es darum, im Organisierungsprozess und in den eigenen Räumen zu erlernen, wie Basisdemokratie funktioniert (also wie man gemeinschaftlich Entscheidungen trifft, wie Versammlungen funktionieren, wie ein Delegiertensystem aussieht), wie kollektive Selbstverwaltung realisiert werden kann, wie Konfliktlösungen jenseits von staatlichen Organen aussehen können usw., kurz gesagt, wie die Organisierungsstrukturen der Machtausübung von unten aufgebaut werden können. Diese selbstverwalteten Räume und Strukturen denken wir dabei nicht als Nischen und Rückzugsorte für Aktivist*innen, die abgetrennt von der Gesellschaft existieren, sondern wir verstehen darunter Strukturen und Räume, die in einen Organisierungsprozess von unten eingebunden sind. Sie sind als materielle Bedingungen die Grundlage für Organisierung, als Basis zur Selbstermächtigung. Revolutionäre Basisarbeit ist für uns eines der Mittel, um so eine Macht von unten aufzubauen.

Kriterien von Basisarbeit

a) Bevor wir starten: politische Klarheit und Definition von Zielen

Basisarbeit an sich ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug oder eine Methode, die wir benutzen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Deshalb müssen wir definieren, was unser Ziel ist, bevor wir in einen Stadtteil gehen und dort mit Basisarbeit beginnen. Wenn wir Basisarbeit machen, weil wir eine emanzipatorische Gesellschaftsveränderung anstreben, dann müssen wir uns die Frage stellen, wie das, was wir vor Ort im Stadtteil machen, mit dieser Vision einer Gesellschaftsveränderung strategisch verbunden ist. Je nachdem, wie wir unsere Ziele und Strategien definieren, ändert sich die Art und Weise, wie wir Basisarbeit machen.

Ein Kriterium ist, dass es eine Anfangsgruppe braucht, die gemeinsame Ziele definiert und vor dem Hintergrund dieser Ziele einen strategischen und politischen Rahmen für die Entwicklung der Praxis festlegt. Wir haben festgestellt, dass es Genoss*innen oft schwer fällt, bereits als kleine Anfangsgruppe solche Ziele und Rahmenbedingungen festzulegen, bevor sie in die Stadtteilarbeit starten und auf die Suche nach Mitstreiter*innen gehen. Nicht, weil sie es nicht könnten, sondern, weil die Sorge besteht, dass ein vermeintlich fertiges Konzept abschreckend wirken oder bevormundend/autoritär sein könnte. Um dies zu vermeiden, versuchen neue Stadtteilgruppen häufig von Beginn an möglichst offen zu sein und zu Versammlungen einzuladen, um gemeinsam mit anderen politischen Aktivist*innen oder Nachbar*innen zu diskutieren, was die Ziele und Inhalte der zu entwickelnden Praxis sein sollen. Nicht selten führt dies jedoch im Verlauf zu frustrierenden Diskussionsprozessen, Spaltungen und vielen Unklarheiten, die die Entwicklung einer strategischen Praxis erschweren.

Wir denken, dass es für die Entwicklung einer revolutionären Basisarbeit zu Beginn Klarheit innerhalb der Anfangsgruppe darüber braucht, was die Ziele und der Rahmen der zu entwickelnden Stadtteilarbeit sind, auf deren Basis dann Mitstreiter*innen gesucht werden. Wir müssen wissen, wohin wir gehen wollen, bevor wir aufbrechen. Dafür ist es hilfreich, zu Beginn politische Übereinkünfte zu formulieren, die den Rahmen für die weitere Entwicklung und den Aufbau der Basisorganisation bilden. Die Umsetzung der Ziele in eine Praxis sowie deren ständige Reflexion und Weiterentwicklung ist dann die gemeinsame Aufgabe all derjenigen, die mit den definierten Zielen übereinstimmen, den grundsätzlichen Ansatz teilen und sich gemeinsam auf den Weg begeben. Ohne eine gemeinsame Vorstellung davon, wo wir mit der Basisarbeit hinwollen, ist die Gefahr gross, dass das Projekt beliebig wird oder scheitert.

b) Aufbau einer Basis – die existentiellen Ausgangsbedingungen der Organisierung

Ein zweites Kriterium von Basisarbeit ist, dass sie in der Lage sein muss, viele Menschen zusammen zu bringen und in einem Organisierungsprozess miteinander zu verbinden. Sie muss also in der Lage dazu sein, eine Basis9 aufzubauen. Es ist jedoch schwer, Menschen davon zu überzeugen, sich zu organisieren, wenn die Organisierung nicht zur Lösung von Problemen beiträgt, die im Alltag eine erhebliche Belastung darstellen und ihren Alltag bestimmen (abgesehen vielleicht von jungen Menschen, die sich eher über eine politische Agitation organisieren lassen). Die meisten Menschen organisieren sich anfangs nicht, weil sie die Welt verändern möchten, sondern weil sie sich eine Lösung für die zentralen Probleme versprechen, mit denen sie zu kämpfen haben. Das heisst, der Ausgangspunkt für Organisierung sollte eine existentielle Notwendigkeit sein, ein individuelles Bedürfnis, das viele Menschen teilen, bisher aber vereinzelt angegangen sind. Schaut man in andere Länder so sind oder waren Ausgangspunkte für solche Organisierungsprozesse z.B. Wohnungslosigkeit, Landlosigkeit, Hunger, Arbeitslosigkeit oder rassistische Unterdrückung.

Wenn wir in der Bundesrepublik eine erfolgreiche Stadtteilbasisarbeit entwickeln wollen, dann müssen wir uns deshalb zuallererst die Frage stellen, was existentielle Notwendigkeiten in einer Gesellschaft wie der bundesdeutschen sind. In einer Gesellschaft, in der der Staat aufgrund seiner imperialistischen Wirtschaftspolitik in der Lage ist, einen Sozialstaat aufrechtzuerhalten, der viele der existentiellen Bedürfnisse oberflächlich befriedigt und viele Menschen direkt oder indirekt an staatlichen Leistungen und soziale Hilfesysteme bindet. Was bedeutet dies für den Aufbau von Massenorganisationen? Wie ist die Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat strukturiert und was könnten darin Ausgangspunkte aber auch Hindernisse für breitere Organisierungsprozesse sein?

Wir denken, dass einer der Fehler vieler bisheriger Stadtteilansätze – unserem inbegriffen – war, dass wir in unsere Praxis gestartet sind, ohne dass wir vorher die Frage nach den existentiellen Notwendigkeiten als Ausgangspunkte der Organisierung ausreichend beantwortet haben. Viele der Stadtteilinitiativen oder Basisprojekte haben – wie wir – damit begonnen, verschiedene soziale, kulturelle und politische Angebote im Stadtteil zu entwickeln oder Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, in denen Leute zusammen kommen können. Aber die Mehrheit der Leute, die in den Stadtteilen wohnt, nutzen diese Räumlichkeiten oder Angebote nicht. Soziale, kulturelle oder politische Veranstaltungen sind wichtig, aber unserer Erfahrung nach kein ausreichender Ausgangspunkt für eine dauerhafte Organisierung. Sie sprechen – bis auf ein paar Ausnahmen – zumeist bereits im weiteren Sinne politisierte, vorwiegend weisse, akademische, junge Menschen an und reproduzieren damit häufig die eigene Szene.

c) Aufbau von verbindlichen Basisorganisationen

Ein drittes Kriterium der Basisarbeit ist, dass sie zum Aufbau von verbindlichen Basisorganisationen beitragen muss. Das heisst, es reicht nicht, wenn wir Stadtteilbasisarbeit machen und uns damit zufrieden geben, dass wir als Gruppe von Aktivist*innen im Stadtteil bekannt werden und Kontakte aufbauen. Unsere Erfolge messen wir häufig daran, dass uns viele Nachbar*innen kennen oder wir mit dem Ladenbesitzer hier und der Taxifahrerin dort ein Pläuschchen halten oder Leute zu unseren Aktionen oder Angeboten kommen. Aber es ist etwas grundsätzlich anderes, ob eine Gruppe von Aktivist*innen im Stadtteil Politik macht und dadurch eine gewisse Bekanntheit und Beliebtheit erreicht oder ob sie über ihre Praxis in der Lage ist, eine Basisorganisation aufzubauen, in der ein Teil der Bewohner*innen des Stadtteils selbst zu aktiven Mitgliedern wird. Wir müssen uns klar machen, dass nicht nur wir – als linke Aktivist*innen – die Subjekte der Gesellschaftsveränderung sind, sondern wir müssen darauf hinwirken, dass sich mehr Unterdrückte als Initiativkräfte für Gesellschaftsveränderung sehen. Das Ziel von revolutionärer Basisarbeit muss also sein, Menschen dazu zu ermutigen und zu befähigen, selbst Teil der Lösung ihrer Probleme und damit Subjekte der Veränderung zu werden.

Das Werkzeug der Veränderung ist die kollektive Organisierung und nicht der Aktivismus einer kleinen Gruppe. Das heisst aber auch, dass eine Praxis, die auf einer Gruppe von Aktivist*innen beruht, die sich immer neue Kampagnen, Aktionen oder Veranstaltungen für den Stadtteil ausdenken, nicht ausreicht. Selbst die Mobilisierung von vielen Leuten zu Aktionen im Stadtteil ist etwas anderes, als viele Leute aus dem Stadtteil, die organisiert sind. Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Mobilisierung und Organisierung. Mobilisierungen finden relativ häufig statt, teils spontan oder auch weil eine Gruppe zu etwas aufgerufen hat. Sie konzentrieren sich auf ein bestimmtes Thema oder eine Forderung. Aber nachdem das Ziel erreicht wurde (oder auch nach einer bestimmten Zeit ohne Erfolg), zerstreuen sich die Menschen wieder.

Im Zentrum des Organisierens steht hingegen, eine wachsende Anzahl von Menschen dazu zu bringen, langfristig zusammen zu arbeiten und selbst Träger*innen einer grundlegenden Veränderung zu werden. Wenn wir dem hoch organisierten System etwas entgegen setzen wollen, reichen unverbindliche Angebote, Mobilisierungen zu einzelnen Themen oder das Führen von einzelnen sozialen Kämpfen (selbst wenn diese vorübergehend dynamisch sind, wie viele der Mietkämpfe) aus unserer Sicht nicht aus. Das heisst, dass wir Wege finden müssen, wie wir Menschen dazu motivieren können, sich längerfristig zu organisieren und verbindliche Strukturen so aufzubauen, dass sie nicht zusammenbrechen, wenn einige zentrale Aktivist*innen aus der Praxis ausscheiden.

Verbindliche Strukturen im Sinne einer Basisorganisation sind – anders als bei einer Gruppe – darauf ausgelegt, zu wachsen und Strukturen zu schaffen, in denen sich mehr Mitglieder verantwortlich beteiligen können und sich so zu Aktivist*innen/Initiativkräften entwickeln und ermächtigen (Multiplikation von Aktivist*innen). Um so eine Basisorganisation – und weiter gedacht – überregionale organisierte soziale Bewegung aufzubauen, braucht es ein Verständnis davon, wie eine Basisorganisation aussehen muss, in der sich 100 oder mehr Menschen – nicht nur als passive Mitglieder – organisieren.10 Basisorganisationen als organisierte soziale Bewegung bzw. in Form von politischen Massenorganisationen brauchen unter anderem transparente Strukturen, politische Grundsätze, verschiedene Beteiligungsformen und Arbeitsteilung.11

Sich als Organisation zu verstehen, sollte aber nicht mit einer Gleichmachung und dem Ignorieren von Unterschiedlichkeit gleichgesetzt werden. Wir werden alle auf unterschiedliche Weisen innerhalb dieses Systems unterdrückt und ausgebeutet. Innerhalb der Basisorganisation muss es daher ein Ziel sein, sich als Teil einer Organisation zu verstehen, in der wir gemeinsam füreinander und für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung kämpfen. Wir möchten die Trennungen aufgrund bestimmter struktureller Unterdrückungen, die derzeit gesellschaftlich vorherrschen, überwinden und etwas Gemeinsames schaffen, in dem wir mit in unserer Unterschiedlichkeit gemeinsam Seite an Seite kämpfen.

d) Politische Bildung

„Mehr als alle anderen sollten die Unterdrückten selbst wissen, wie man das kapitalistische System zerlegt und Lösungen für die Probleme von Menschen finden kann. Es ist leicht, diejenigen zu besiegen, die nicht lernen, diejenigen, die aufhören zu denken. Es ist traurig zu wissen, dass viele Studierte nicht in den Kampf eintreten. Aber es ist unverzeihlich, wenn eine kämpfende Person nicht studiert, nicht intellektuell wird. Studieren bedeutet zu verstehen, was mit dir und mit anderen passiert und nach einer Lösung zu suchen. Dies erfordert eine Reflexion über die eigene Erfahrung und die historische Erfahrung der Klasse der Unterdrückten, die Aneignung des angesammelten Wissens. Sich zu bilden bedeutet weder Kurse zu belegen noch den Kopf mit Informationen zu füllen. Es bedeutet, Antworten finden zu können, die die Probleme der Menschen heute betreffen.“ 12

Menschen zusammenzubringen und dazu einzuladen, sich zu organisieren, ist eine Aufgabe der Basisarbeit. Eine andere – und häufig schwierigere – ist, sie dazu zu motivieren, organisiert zu bleiben und deutlich zu machen, warum es einen permanenten Kampf- und Lernprozess sowie eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft braucht. In dem Text „Stadtteilbasiswegung – die Konstruktion einer Alternative“13 haben wir diesen zweiten Aspekt als „Arbeit an der Basis“ bezeichnet. Politische Bildung spielt dabei eine zentrale Rolle und stellt daher das vierte Kriterium für Basisarbeit dar. Aus unserer Praxis heraus wissen wir, dass es häufig einfacher für langjährige Aktivist*innen ist, Dinge selbst zu tun, um Zeit zu sparen und das Gefühl zu haben, dass etwas vorangeht.

Wir sind es gewohnt mit wenigen Leuten in kurzer Zeit Kampagnen, Veranstaltungen oder andere Projekte auf die Beine zu stellen. Aber wenn wir ernst nehmen, dass wir für eine Gesellschaftsveränderung eine breite organisierte Kraft brauchen und Prozesse, die Menschen ermächtigen, ihre Subjektivität zu entfalten, dann ist die Weitergabe von Wissen, Erfahrungen und Fähigkeiten essentiell. Dann muss ein wesentlicher Kern von Basisarbeit die organisierte Verbreitung von kollektivem Wissen zur Überwindung von Unterdrückung und Ausbeutung sein.

Sie gewährleistet, dass das Wissen, dass sich in den Kämpfen der Arbeiter*innen historisch angesammelt hat, zu denjenigen kommt, die heute unterdrückt werden und die das Wissen zum Verständnis und der Veränderung ihrer Situation brauchen. Zum anderen hilft politische Bildung, die vielzähligen rassistischen, sexistischen oder neoliberalen Denk- und Verhaltensweisen zu erkennen und zu hinterfragen. Das heisst, dass wir von Beginn an unsere Strukturen so aufbauen sollten, sodass sowohl neue Leute, die zu uns stossen, als auch langjährige Initiativkräfte die Möglichkeit erhalten, sich darin zu bilden und zu entwickeln.

Politische Bildung hat aber auch die wichtige Funktion Aktivist*innen zu multiplizieren oder andersherum Menschen zu Aktivist*innen auszubilden und somit Wissensunterschiede innerhalb der Organisation zu verkleinern und die Verantwortung von einigen wenigen auf viele auszuweiten. Denn: „Eliten haben keine Angst vor herausragenden Führer*innen. Es ist für sie leicht, diese zu isolieren, zu zerstören, einige der herausragenden Köpfe zu “kaufen”. Die Vermehrung von Aktivist*innen und Aktionen macht all denjenigen Angst, die sich an die Praxis der Herrschaft gewöhnt haben. Deshalb muss die Multiplizierung von Aktivist*innen ein zentrales Ziel der Basisarbeit und der Struktur der Organisierung sein“14.

Viele von uns haben wenig Erfahrung mit solchen organisierten Bildungsstrukturen, die sich an den Notwendigkeiten der Praxis orientieren. Die meisten haben sich ihr Wissen individuell und zufällig angeeignet, wie z. B. durch Bücher lesen, an der Uni oder auf politischen Veranstaltungen. Als Organisation oder organisierte Bewegung ein eigenes Bildungssystem aufzubauen, ist jedoch etwas anderes. Wir können dabei viel von anderen Bewegungen lernen, wie der MST, der kurdischen Bewegung, aber auch neueren Basisorganisationen wie der L.A Tenants Union. Bildung findet dort zum einen über eigene Akademien und Bildungsangebote mit unterschiedlichen Stufen, zum anderen durch die Reflexion der eigenen Lebenssituation (z.B. die Auseinandersetzung mit der Frage, warum manche Menschen mehrere Häuser besitzen und andere zwangsgeräumt werden) statt.

Politische Bildung in einer Basisorganisation findet also auf unterschiedlichsten Ebenen statt: in der Praxis selbst über das Miterleben kollektiver Entscheidungsfindungsprozesse, basisdemokratischer Verwaltung, das Organisieren von Aktionen zur Durchsetzung von Forderungen oder über die gezielte Vermittlung von theoretischem und praktischen Wissen. Wir sollten die konkreten Kämpfe für eine Verbesserung der jeweiligen Lebenssituationen (Kampf gegen Mietsteigerungen, bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne, gegen rassistische Polizeigewalt etc.) als Ausbildung für den Kampf gegen das gesamte System und den Aufbau einer grundlegend anderen Gesellschaft nutzen.

Wenn wir von der Notwendigkeit politischer Bildung sprechen, dann stossen wir immer wieder auf Skepsis oder auch Ablehnung. Politisierung wird mit Autoritarismus in Verbindung gebracht beziehungsweise mit einer vermeintlich arroganten Überzeugung linker Aktivist*innen, mehr zu wissen als andere. Es wird entgegnet, alle Menschen besässen bereits Wissen aus ihren alltäglichen Erfahrungen und der Bewältigung ihres Alltags und bräuchten deshalb keine linken „Besserwisser*innen“.

Es stimmt, dass alle Menschen über Wissen verfügen, sei es über ihre eigene Lebensrealität oder darüber, wie man die alltäglichen Probleme bewältigen kann. Aber es ist auch ein Fakt, dass die Möglichkeiten, sich kritisches Wissen in dieser patriarchal-rassistischen Klassengesellschaft anzueignen unterschiedlich verteilt sind beziehungsweise die Aneignung von kritischem Wissen gezielt erschwert wird. Das führt zu der absurden Situation, dass zum Beispiel teilweise weisse Studierende mehr über die Black Panther Party oder Geschichte der Arbeiter*innenbewegung wissen, als viele Schwarze Geflüchtete oder Arbeiter*innen aus dem Stadtteil. Organisierte politische Bildung heisst, Wissen zu verbreiten. Und zwar weder zufällig noch spontan, sondern als organisierter und fester Bestandteil einer Basisorganisation. Das bedeutet auch, dass wir uns überlegen müssen, welches Wissen wir aus dem Ozean der Theorie und den angesammelten Erfahrungen für das Verständnis unserer Situation und unserer Kämpfe am dringendsten benötigen und uns mit Methoden zu beschäftigen, wie politische Bildung aussehen kann.

e) Mobilisierungen und konkrete Kämpfe

Ein weiteres wichtiges Kriterium von Basisarbeit ist das Führen von konkreten Kämpfen bzw. regelmässige Mobilisierungen und kollektive Aktionen. Sie haben für die politische Selbstermächtigung und die Erfahrung von kollektiver Handlungsfähigkeit eine wichtige Bedeutung. Solidarität und die Kraft von Organisierung lassen sich nicht nur abstrakt vermitteln, sondern brauchen konkrete Beispiele. Wenn wir zum Beispiel mit vielen Leuten vor dem Jobcenter oder einem Unternehmen stehen, ändert das etwas an unserem Gefühl der Ohnmacht und der Individualisierung. Selbst wenn diese Kämpfe nicht erfolgreich sind, kann das Gefühl, Teil einer Organisation zu sein und nicht alleine dazustehen, die politischen Selbstwirksamkeit stärken. Ähnliches passiert, wenn Leute das erste Mal an einer Demonstration teilnehmen, über ihre Probleme in der Öffentlichkeit reden oder gemeinsam Parolen rufen.

Es geht darum zu lernen, dass Druck entstehen und sich Kräfteverhältnisse verändern können, wenn viele Menschen organisiert sind und organisiert auftreten. Dazu braucht es die kollektive Aktion. Mobilisierungen und Aktionen machen also den kämpferischen und politischen Charakter der Basisorganisation deutlich und markieren so den Unterschied zu Sozialer Arbeit. Ausserdem ist das Bewusstsein darüber, dass wir kollektiv etwas bewegen können und müssen, notwendig, um grundlegende Gesellschaftsveränderung überhaupt erkämpfen zu können. Gleichzeitig ist die Strasse selbst ein Lernfeld und Ort der Politisierung. Denn ich erlebe die Wirklichkeit anders, wenn ich in Bewegung bin oder mich in einer Auseinandersetzung befinde, wie z.B. bei der Funktion von staatlichen Institutionen.

f) Schaffung einer organisierten sozialen Bewegung

Eine einzelne Basisorganisation in einem einzelnen Stadtteil wird nicht viel verändern. Die Gefahr ist gross, dass sich die Initiative irgendwann verläuft oder zu Sozialer Arbeit wird. Wenn unser Ziel ist, eine organisierte Kraft von unten aufzubauen, die zu einer politischen Akteurin werden kann und das Potential hat, die gesellschaftlichen Verhältnisse und Hegemonie herauszufordern, dann wird schnell klar, dass der begrenzte Blick auf einen einzelnen Stadtteil nicht ausreicht. Revolutionäre Basisarbeit kann also nicht nur mit dem Ziel verbunden sein, eine lokale Basisorganisation aufzubauen, sondern braucht eine überregionale Perspektive. Wir nennen diese Perspektive organisierte soziale Bewegung.

Wir verstehen unter einer organisierten sozialen Bewegung eine politische und soziale Massenorganisation, die in verschiedenen Stadtteilen und Städten verankert ist, und die gemeinsame Organisierungsstrukturen und politische Übereinkünfte hat. So eine Organisation ist weder eine reine „Organisation der Revolutionär*innen“ im klassischen Sinne, noch eine reine „Organisation der Arbeiter*innen“, sondern verbindet verschiedene Charaktere: einen Gewerkschaftlichen (Werkzeug, konkrete Verbesserungen zu erkämpfen/durchzusetzen), einen Sozialen (Menschen zusammenbringen und eine solidarische und emanzipatorische Kultur entwickeln) und einen Politischen (es gibt bestimmte politische Grundsätze und Ziele). Es sind politische und soziale Massenorganisationen, die sowohl bestimmte ökonomische Forderungen haben und erkämpfen wollen, als auch politische Ziele und Forderungen und ihre Mitglieder politisch bilden.

Solche Formen wurden vor allem im südamerikanischen Raum entwickelt. Ein Beispiel ist die Bewegung der Arbeiter*innen ohne Land in Brasilien oder Arbeiter*innen ohne Dach (MST/MTST). Der Begriff der Bewegung wird dabei anders benutzt als im europäischen Kontext, in dem als Bewegung meist ein loses Mosaik an Organisationen, Gruppen und Protesten auf der Strasse verstanden wird, die sich auf ein bestimmtes Themengebiet beziehen (feministische Bewegung, Klimabewegung etc.). Bewegung im Sinne einer organisierten sozialen Bewegung bezeichnet eher eine überregional funktionierende Massenorganisation, die auf einzelnen lokalen Basisorganisationen basiert, aber gemeinsame Grundsätze, Ziele und Kommissionen hat. Im Bereich der Stadtteilbasisbewegung hiesse dies, eine überregionale Bewegung mit Stadtteilgewerkschaften als lokalen Beinen.

In der bisherigen Diskussion über Basisarbeit scheint uns die Frage nach der überregionalen Perspektive häufig vernachlässigt worden zu sein. Wenn überhaupt, dann wurde unter überregionaler Zusammenarbeit eher eine lockere Vernetzung oder Erfahrungsaustausch verstanden. Für viele erscheint die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen auf überregionaler Ebene zunächst als etwas zusätzliches zu der lokalen Arbeit, das vor allem Zeit und Kapazitäten in Anspruch nimmt, aber keinen direkten Zusammenhang mit oder Effekt auf die lokale Praxis hat. Auch wir selbst haben uns lange Zeit auf den Aufbau der lokalen Praxis konzentriert und auch von anderen Gruppen oft gehört, sie bräuchten erst mal Erfolge in der lokalen Praxis, bevor sie sich über eine überregionale Zusammenarbeit oder gar Organisierung Gedanken machen könnten.

Inzwischen würden wir jedoch sagen, es ist andersherum. Eine überregionale Organisierung hilft, Erfahrungen nicht überall von Null an neu zu machen, sondern sich gegenseitig zu unterstützen und gemeinsam Erfahrungen auszuwerten und Strategien zu entwickeln. Bestimmte Aufgaben, wie zum Beispiel die Erstellung von Bildungsmaterialien oder Flyern, können geteilt werden. Es ist wesentlich schwieriger, unterschiedliche Stadtteilorganisationen, die sich über einen längeren Zeitraum getrennt voneinander entwickelt haben, perspektivisch zusammen zu denken oder miteinander zu organisieren, als Initiativen, die sich parallel und gemeinsam aufbauen. Das heisst, von Beginn an die Entwicklung der überregionalen und lokalen Strukturen zusammen zu denken, ist wichtig, um die grössere Perspektive nicht aus den Augen zu verlieren und Parallelitäten in unterschiedlichen Städten zu entwickeln, die den Aufbau einer gemeinsamen Organisierung erleichtern.

g) Langfristige Kontinuität – ein langer Atem

Ein weiteres wichtiges Kriterium in Bezug auf Basisarbeit ist langfristige Kontinuität. Basisorganisierungsarbeit ist ein permanenter Prozess – genauso wie eine grundlegende Gesellschaftsveränderung als Ganzes. Wir werden in unserer politischen Praxis Erfolge und Niederlagen erleben. Die Herausforderung ist, daraus zu lernen und die eigene Praxis weiter zu entwickeln. Dafür müssen wir uns aus der Sichtweise lösen, dass unsere politische Praxis unmittelbare, überprüfbare Ergebnisse erzielt. Viele Folgen, wie zum Beispiel Schlüsselmomente in den Politisierungsprozessen einzelner Mitglieder sind nicht unmittelbar messbar.

Trotzdem sind sie entscheidend. Statt jede unserer Aktionen nach kurzfristigem Nutzen zu bewerten, versuchen wir uns als kleinen Teil eines historischen Lernprozesses zu begreifen. Das bedeutet, dass man Dinge ausprobieren darf und mit einer gewissen Fehlertoleranz an die Praxis herangeht. Fehler sind gut, wenn man aus ihnen lernen kann, denn ohne ein gewisses trial and error wird man einen neuen Ansatz nicht weiterentwickeln können. Deswegen ist es uns wichtig, die Praxis sowohl im Hinblick auf eine langfristige Strategie der Gesellschaftsveränderung, als auch im Hinblick auf kurzfristige taktische Aspekte und Notwendigkeiten anzupassen und zu verbessern.

Wir können nicht erwarten, in kürzester Zeit grosse Ergebnisse im Sinne von grundlegender Gesellschaftsveränderung zu erzielen. Wer davon ausgeht, die eigene Geschichte zu Ende zu schreiben, läuft Gefahr, alles zu geben, auszubrennen und sich irgendwann ins Private oder die Subkultur zurückzuziehen. Wer sich jedoch als Teil eines historischen Lernprozesses begreift, der weiss, dass unser Weg ein Marathon und kein Sprint wird. Dafür ist es wichtig, die eigenen Ressourcen so aufzuteilen, dass man auch in Jahren noch in der Lage sein kann aktiv politische Arbeit zu betreiben.

Revolutionäre Basisarbeit konfrontiert Aktivist*innen zudem mit all den Widersprüchen, die es in der Gesellschaft und der eigenen Klasse gibt. Das ist für viele erst mal anstrengend, weil es erfordert, sich aus der Komfortzone der eigenen Szene herauszuwagen. Und, weil der Ansatz der Basisarbeit immer noch marginal innerhalb der radikalen und revolutionären Linken ist, wird man gerade in der Anfangsphase mit Vorwürfen über vermeintliche Unproduktivität konfrontiert werden. Es stimmt, dass revolutionäre Stadtteilarbeit langsamer sichtbare Erfolgserlebnisse hat als eine Kampagne oder die Planung einer Party oder Demonstration. Langfristig ist sie allerdings in der Lage sonst unmögliche Erfolge zu erzielen und Menschen zu ermöglichen, sich zu politischen Subjekten zu entwickeln und zu unseren Mitstreiter*innen zu werden, die wir sonst nicht hätten erreichen können. Der Aufbau einer Stadtteilgewerkschaft erfordert daher eine langfristige Organisierung über Jahre und Menschen, die viel Arbeit und Zeit in den Aufbau stecken.

3. Geschichte und Entwicklungen bis Ende 2019

Nach den einführenden Überlegungen zu dem grundlegenden Verständnis und Kriterien von Basisarbeit möchten wir unsere Praxiserfahrungen bis Ende 2019 näher erläutern. Diese zu kennen ist notwendig, um die Entwicklung des Beratungs-Organisierungs-Ansatzes (BOA) theoretisch als auch praktisch nachvollziehen zu können.

Wir haben 2016 als Initiativgruppe von Solidarisch in Gröpelingen begonnen, revolutionäre Basisarbeit in einem Stadtteil in Bremen zu entwickeln. Vorausgegangen war die Veröffentlichung der 11 Thesen15, infolgedessen sich eine Gruppe von Aktivist*innen zusammen gefunden hat, mit dem Ziel, die theoretischen Überlegungen der Thesen in Bremen in eine lokale Praxis zu übersetzen. Unser Ausgangspunkt damals war es, linke Politik in die Gesellschaft zu tragen und organisierte Strukturen von unten aufzubauen, in denen Menschen zusammenkommen, eine solidarische Kultur untereinander leben, kollektive Lösungen für ihre individuellen Probleme entwickeln und sich über die gemeinsame Organisierung auch ein politisches Bewusstsein aneignen können. Was das konkret bedeutet, haben wir uns erst nach und nach erschlossen – und tun es auch noch weiter. .

Nach einigen Kennenlerntreffen, in denen wir uns über unsere jeweils eigenen Hintergründe und Perspektiven ausgetauscht haben, haben wir damals relativ schnell mit der Praxis begonnen. Das hat dazu geführt, dass wir im Gehen viele der Diskussionen nachholen mussten, die für die Entwicklung der Praxis grundlegend waren. Im Nachhinein würden wir sagen, dass es besser ist, sich am Anfang etwas Zeit zu nehmen, um sich als Anfangs-Initiativgruppe besser kennenzulernen, politische Übereinkünfte miteinander auszuhandeln, sich gemeinsame Ziele zu setzen sowie einen Rahmen für die geplante Praxis festzulegen. Das hilft auch bei der Suche nach neuen Mitstreiter*innen.

Unser erster Schritt in die Praxis war die Auswahl eines Stadtteils. Dazu haben wir unterschiedlichste Stadtteile anhand von Statistiken und anderen Informationen, aber auch durch Umfragen vor Ort erforscht. Relativ bald liessen sich daraus zwei grobe Kategorien von Stadtteilen ableiten: Stadtteile, die eher zentral liegen, eher von einer Mittelschicht geprägt sind, in denen viele linke Aktivist*innen leben und es bereits viele kulturelle und politische Aktivitäten gibt. Und auf der anderen Seite Stadtteile, die weiter weg vom Zentrum liegen, in denen nur wenige Aktivist*innen wohnen, es kaum kulturelle oder politische Aktivitäten gibt und in denen viele Menschen leben, die prekär arbeiten, ALG II beziehen und zudem noch von Rassismus und/oder der Aufenthaltsgesetzgebung betroffen sind.

Obwohl die meisten der Anfangsgruppe in den zentrumsnahen Stadtteilen wohnten, haben wir uns dafür entschieden, unsere Praxis in einem Stadtteil zu beginnen, der zu der zweiten Kategorie zählt. Ein Grund war, dass Menschen bei unserer Umfrage dort viel klarer über Probleme im Alltag und die Notwendigkeit von Veränderung gesprochen haben, als bei unseren Umfragen in den zentrumsnahen und tendenziell reicheren Stadtteilen. Wir sahen dort ausserdem in den Lebensumständen vieler Bewohner*innen existentielle Notwendigkeiten gegeben, wodurch wir hofften, dass sich Menschen dort eher dazu bereit wären, sich gemeinsam zu organisieren.16 Es macht sicher Sinn, wenn Menschen aus der Anfangsgruppe in dem Stadtteil wohnen, in dem mit dem Aufbau einer Basisorganisation begonnen wird, aber wir würden sagen, dass dies keine Notwendigkeit darstellt. Wichtiger ist, aus unserer Sicht, dass unsere Praxis auf eine existentielle Notwendigkeit trifft und eine Klassenperspektive einnimmt, was in prekären Stadtteilen eher gegeben ist.

Nach der Auswahl des Stadtteils haben wir dort über einen längeren Zeitraum unsere Infotische und Umfragen fortgeführt. Das war für uns eine gute Möglichkeit, die Bedingungen vor Ort besser kennenzulernen, aber vor allem auch eine Gelegenheit, uns in den Gesprächen mit Menschen auf der Strasse auszuprobieren und mehr Selbstvertrauen zu entwickeln. Irgendwann wurde klar, dass es nicht mehr ausreicht, weiter nur Umfragen zu machen, sondern, dass wir Angebote entwickeln und Orte schaffen müssen, an denen Menschen zusammenkommen.

Der erste Schritt war deshalb die Organisation eines wöchentlichen offenen Cafés als Anlaufpunkt. Da wir über keine eigenen Räumlichkeiten im Stadtteil verfügten, waren wir damals darauf angewiesen, städtische Räume des sogenannten Quartiersmanagements zu nutzen. Zu den Cafés luden wir die Bewohner*innen der umliegenden Häuserblocks aktiv ein, durch Haustürgespräche und persönliches Einladen vor Beginn der Cafés. Dadurch wurden die Cafés relativ bald von einigen der Bewohner*innen genutzt und es zeigte sich schnell, dass es viele Probleme mit der gemeinsamen Vermieterin – einer Immobilienfirma – gab.

Auf einigen gemeinsamen Treffen besprachen wir mit den Bewohner*innen Möglichkeiten sich gegen die Vermieterin zu wehren und für eine Verbesserung der Wohnbedingungen in den Häuserblocks zu kämpfen. Doch als das Quartiersmanagement von den Versammlungen und deren Inhalt erfuhr, wurden wir aufgefordert aufzuhören, die Bewohner*innen aufzuwiegeln. Kurze Zeit später wurde uns untersagt, die Räumlichkeiten für irgendetwas anderes als „neutrale“ Cafés zu benutzen. Auch den Bewohner*innen wurden die Schlüssel für den Raum entzogen, nachdem ein heimliches Treffen ohne Wissen des Quartiersmanagements dort stattgefunden hatte.

Der Entzug des Raumes bestätigte nicht nur unsere Einschätzung der Rolle und Politik des Quartiersmanagements im Klassenkonflikt in den Stadtteilen, sondern führte uns auch die Notwendigkeit vor Augen, einen eigenen Raum anzumieten, den wir gestalten und nutzen können. Nach der Anmietung eines eigenen Stadtteilladen Ende 2017 begannen wir dort unterschiedliche Angebote zu entwickeln. Dazu gehörten soziale, kulturelle und politische Angebote, wie Mathe-Nachhilfe, Deutschkurse, Filmabende, Veranstaltungen, offene Essensangebote oder Cafés, und auch Kampfkomitees in unterschiedlichen Bereichen wie zum Beispiel zu Miete, oder Arbeit.

Unter dem Dach der Stadtteilgewerkschaft sollten diese unterschiedlichen Kämpfe zusammenfliessen und Orte geschaffen werden, die gegenseitige Unterstützung und Solidarisierungsprozesse ermöglichen sowie das Bewusstsein stärken, dass die unterschiedlichen individuelle Probleme ähnliche strukturelle Ursachen haben. Um dies zu erreichen, haben wir zum einen eine Struktur entwickelt, die aus inhaltlichen Komitees bestand, wie dem Mietkomitee, dem Arbeitskampfkomitee und später dem Antira-Komitee. Zum anderen aus einem wöchentlichen offenen Treffen, zu dem Menschen mit unterschiedlichen konkreten Problemen kommen konnten, um daraus direkte Aktionen/Kämpfe entwickeln zu können. Es gab also unterschiedliche Angebote mit dem Ziel, aus unterschiedlichen individuellen Problemlagen kollektive Kämpfe zu entwickeln und gleichzeitig eine solidarische Kultur und sozialen Austausch zu ermöglichen.

Erfolgreich waren wir damit jedoch nur im Mietbereich und auch nur für eine bestimmte Zeit. Da der Immobilienriese vonovia über 4000 Wohnungen in Gröpelingen besitzt, begannen wir 2017 mit einer gezielten Kampagne zur Mobilisierung der vonovia-Mieter*innenversammlung von vonovia Mieter*innen (2018) Mieter*innen. Wir klingelten bei so gut wie jeder vonovia-Wohnung, führten Haustürgespräche, klebten unsere Einladungen an alle Türen, organisierten Infotische und vieles mehr. Die Folge waren mehrere grosse Mieter*innenversammlungen, aus denen eine Mieter*innen-Demonstration durch den Stadtteil, sowie ein Mietkomitee hervorging.In dem Mietkomitee organisierten sich einige aktive Mieter*innen zusammen mit Aktivist*innen von Solidarisch in Gröpelingen über einen Zeitraum von zwei Jahren.

Einzelne Kämpfe mit der konkreten Forderung nach Reparaturen in Wohnungen einzelner Mieter*innen konnten durch öffentlichen Druck (vor allem Medienarbeit) gewonnen werden – die beiden zentralen Kämpfe (kollektiver Widerspruch gegen Betriebskosten und Entschädigung für monatelange Modernisierungsarbeiten eines Wohnblocks) blieben jedoch erfolglos. Ausserdem gelang es dem Mietkomitee nicht, wirklich viele Mieter*innen über einen Demo von vonovia Mieter*innen in Gröpelingen (2019) längeren Zeitraum aktiv einzubinden und den öffentlichen Druck dadurch konstant hochzuhalten. Gleichzeitig erforderte der kollektive Kampf um ine Reduzierung der Betriebskosten und die Entschädigung für nerven- aufreibende Modernisierungsarbeiten eine ausufernde individuelle Beratung. Diese Umstände führten dazu, dass das Mietkomitee Mitte 2020 inaktiv wurde, nachdem mehrere aktive Mieter*innen sich zudem wegen gesundheitlicher Gründe zurückziehen mussten und die Pandemie persönliche Treffen verhinderte.

Neben dem Mietkomitee hatten wir von Beginn an auch ein Arbeitskampfkomitee. Dort haben wir uns anfangs mit dem Thema Leiharbeit beschäftigt, da Bremen eine der Leiharbeitshochburgen ist und insbesondere in Gröpelingen viele Menschen in Leiharbeit beschäftigt sind. Über Flyerverteilaktionen in den Logistikbereichen und im Stadtteil sowie über persönliche Kontakte haben wir versucht, ein Leiharbeiter*innen-Treffen aufzubauen.

Auch in diesem Bereich konnten wir es nicht schaffen, eine langfristige und verbindliche Organisierung zu erreichen, wodurch dieses Komitee auch inaktiv wurde. Die Frage, wie sich Stadtteilbasisarbeit und Betriebskämpfe und -organisierung verbinden oder gegenseitig stärken lassen, beschäftigt uns immer noch. Wir denken aber, dass der Aufbau von kämpferischen Strukturen speziell im Arbeitsbereich jenseits der reformistischen DGB-Gewerkschaften eine eigene Aufgabe ist und nicht nebenbei im Rahmen eines Komitees einer Stadtteilgewerkschaft verhandelt werden kann. In den weiteren Komitees, die wir gründeten – wie zum Beispiel das Antira-Komitee oder das Jugendkomitee – konnten wir ebenfalls nicht wachsen und konnten diese daher leider nicht aufrechterhalten.

Anfang 2020 mussten wir also feststellen, dass wir in einer Krise waren und die bisherige Praxis nicht die erwünschten Effekte zeigte. Wir hatten es zwar geschafft, Solidarisch in Gröpelingen im Stadtteil bekannt zu machen und einzelne soziale Kämpfe zu führen. Aber am Ende waren wir immer noch eine Gruppe von Aktivist*innen im Stadtteil. Von einer kämpferischen Struktur von unten waren wir weit entfernt.

4) Der Beratungs-Organisierungs-Ansatz (BOA) seit Ende 2020

Die Reflexion unserer Praxis hat seit Beginn unserer Stadtteilarbeit eine wichtige Rolle gespielt. Strategiediskussionen, die Bewertung unserer Praxis in Bezug zu unseren Zielen und die Bereitschaft zu Diskussionen um notwendige Veränderungen waren unter anderem Gründe, warum wir trotz der Schwierigkeiten nicht aufgegeben haben, sondern es möglich war, Misserfolge oder Frustrationen zu nutzen, um daraus zu lernen und die Praxis entsprechend weiterzuentwickeln. Eine die Praxis begleitende Reflexion in Bezugnahme auf die gesetzten Ziele und strategischen Überlegungen ist aus unserer Sicht zentral für die Entwicklung eines Modells der revolutionären Stadtteilarbeit.

Basierend auf unseren Reflexionen und Analysen haben wir einen neuen Ansatz entwickelt und diesen seit Ende 2020 schrittweise in die Praxis umgesetzt: den Beratungs-Organisierungs-Ansatz (BOA). Er ist eine Kombination aus Beratung, verbindlicher Mitgliedschaft, Vollversammlungen, Aktionen, politischer Bildung und unterschiedlichen Beteiligungsmöglichkeiten. Wir denken aufgrund der positiven Erfahrungen, die wir seit der Umsetzung des Beratungs-Organisierungs-Ansatzes machen, dass der Ansatz ein Ausweg aus der Sackgasse sein kann, in der sich einige der Stadtteilgruppen befinden. Wir haben die Veränderungen in unserer Praxis in den letzten Monaten vorsichtig beobachtet, um keine zu schnellen Rückschlüsse zu ziehen. Inzwischen sind wir jedoch der Meinung, dass der Beratungs- Organisierungs-Ansatz enormes Potential hat und – breit angewendet – eine Grundlage für den Aufbau einer organisierten sozialen Bewegung in der Bundesrepublik sein kann. Deshalb schildern wir im Folgenden die unterschiedlichen Aspekte, aus denen sich der BOA zusammen setzt und wie wir ihn konkret umsetzen.

a) Existentielle Notwendigkeit – Beratung als Ausgangspunkt für Organisierung

Wenn wir davon ausgehen, dass die meisten Menschen – insbesondere in prekären Lebenssituationen – sich nicht einfach so organisieren, sondern die Organisierung eine Lösung für konkrete Probleme bieten muss, stellt sich die Frage, was so eine existentielle Notwendigkeit in einer Gesellschaft wie der bundesdeutschen sein kann. Existentielle Notwendigkeiten sind nicht überall gleich, sondern haben länder- oder auch stadtspezifische Ausprägungen, weshalb es einer Analyse der konkreten materiellen Gegebenheiten in einem Stadtteil und des jeweiligen Staatssystems braucht.

Im Unterschied zu vielen anderen Ländern beispielsweise existiert in der Bundesrepublik ein umfassender Sozialstaat, der die soziale Frage mediiert und vermittelt. Während in anderen Ländern Menschen ohne Arbeit auf kollektive, meist familiäre, Netzwerke angewiesen sind oder direkte Formen der Armut erleben, wie beispielsweise Hunger oder Obdachlosigkeit, federt der Sozialstaat in Deutschland viele dieser Effekte ab. Gleichzeitig bindet er einen Grossteil der Bürger*innen in der einen oder anderen Form an sich, sei es über beispielsweise die Inanspruchnahme von Wohngeld, Kindergeld, Arbeitslosengeld I, Bürgergeld oder Kurzarbeitgeld. Die vorherige Abhängigkeit von kollektiven Strukturen, wie zum Beispiel der eigenen Familie, wurde ersetzt durch die Abhängigkeit vom Staat, die in kaum einem anderen Land so gross ist wie in der Bundesrepublik.

Die Beziehung zwischen Individuum und Sozialstaat wird durch individuelle Rechte und Pflichten vermittelt, die die Grundlage für die Inanspruchnahme der unterschiedlichen Leistungen bilden. Der Staat hat dafür unterschiedlichste Institutionen heraus gebildet, die jeweils eigene Verfahren haben, um Gelder zu bewilligen oder abzulehnen. Dies führt zu einer unersättlichen Bürokratie, die uns die Abhängigkeit tagtäglich vor Augen führt und die Inanspruchnahme von öffentlichen Geldern erschwert. Viele Menschen – vor allem in prekären Stadtteilen oder ohne ausreichende Deutschkenntnisse – sind mit den sehr aufwendigen und komplexen bürokratischen Anforderungen überfordert, was im zweiten Schritt existentielle Bedrohungen zur Folge hat. Denn wer nicht rechtzeitig die Unterlagen beim Jobcenter einreicht oder sich nicht gegen die Schikanen zur Wehr setzen kann, bekommt im Zweifelsfall über Monate hinweg keine Leistungen und verliert am Ende deshalb die eigene Wohnung.

Die Bürokratie des Sozialstaates hinterlässt also eine unendliche Nachfrage nach Unterstützung im Umgang mit dem Papierkrieg der staatlichen Behörden. Die geringere Bereitschaft zur Teilnahme an kollektiven Kämpfen und Streiks liegt wiederum zum Teil an der gelungenen Einbindung von Teilen der Arbeiter*innenklasse in das hiesige System (Sozialpartnerschaft), so dass sie aktiv zur Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung beitragen. Zum anderen Teil liegt es aber auch an einer gefühlten Ohnmacht und Alternativlosigkeit gegenüber dieser Hegemonie, die zu Resignation und zum Rückzug ins Private führt.

Aber auch ausserhalb des Sozialstaates ist die Beziehung der Individuen zu Arbeitgeber*innen oder Vermieter*innen durch ein ausdifferenziertes und individualisiertes Rechtesystem vermittelt. Die Inanspruchnahme individueller Rechtsberatung ist für viele Menschen deshalb nach wie vor das Mittel der Wahl, um eigene Probleme anzugehen. In den meisten Städten gibt es dafür ein breit gefächertes Beratungsangebot, das meist von karitativen oder staatlich geförderten Vereinen gestellt wird. Die Beratungsstellen machen gute Arbeit und häufig sitzen dort linke Genoss*innen oder kritische Menschen. Aber strukturell unterstützen sie die Entpolitisierung der sozialen Frage, da sich ihre Beratung meist auf den rechtlich vorgegebenen Rahmen begrenzt und versucht individuelle anstelle von kollektiven und politischen Lösungen zu finden und somit die Individualisierung verfestigt wird.

Wir denken, es ist wichtig diese gesellschaftlichen Bedingungen bei der Entwicklung von Modellen der Basisarbeit zu berücksichtigen. Der direkte Schritt von individuellen Problemen zum kollektiven Kampf ist in einer individualisierten und verrechtlichten Gesellschaft wie der bundesdeutschen unserer Ansicht nach ohne weitere Zwischenschritte schwierig.

Vor dem Hintergrund unserer Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse in der BRD aber auch den Erfahrungen aus unserer vierjährigen Praxis haben wir uns Ende 2020 dazu entschlossen, ein eigenes Beratungsangebot aufzubauen. Der Bedarf an Beratung ist aus unserer Sicht also einer der existentiellen Ausgangspunkte für Organisierung in einer sozialstaatsgeprägten Gesellschaft wie der bundesdeutschen. Das heisst aber auch, dass wir die Beratung als Ausgangspunkt für Organisierung nutzen müssen und nicht als Selbstzweck und nur als individuelle Rechtsberatung und Lösung von Problemen. Denn es geht uns nicht darum, eine weitere Sozialberatungsstelle zu sein. Um das zu gewährleisten, verbinden wir die Beratung mit einer verbindlichen Organisierung, Vollversammlungen, Aktionen, politischer Bildung etc. Aber dazu später mehr.

Die Erfahrung zeigt, dass die Beratung häufig innerhalb kürzester Zeit konkrete und für die Mitglieder existentielle Verbesserungen schaffen kann. Das liegt daran, dass viele Behörden – insbesondere das Jobcenter – aber auch Unternehmen oder Vermieter*innen, sich nicht mal an die sowieso schon begrenzten gesetzlich festgelegten Rechte halten. Viele Menschen kommen in die Beratung zur Stadtteilgewerkschaft, weil sie seit Monaten kein Geld vom Jobcenter erhalten, in verschimmelten Wohnungen leben oder ohne Grund gekündigt wurden. Häufig kennen sie weder ihre Rechte noch verstehen sie die komplizierten Behördenbescheide, so dass es ihnen häufig nicht möglich ist, eigenständig ihre Rechte durchzusetzen. Die kritische und solidarische Beratung spielt deshalb eine wichtige Rolle.

Der erste kleine Schritt der Selbstermächtigung beginnt in der Beratung selbst, durch die Vermittlung einer klaren Haltung gegenüber den Behörden und des Gefühls, dass wir etwas für uns und andere verändern können, wenn wir gemeinsam kämpfen. Gleichzeitig geht es bei der Beratung im Kontext einer politischen Stadtteilbasisorganisation nicht nur darum, die akuten Probleme zu lösen. Aufgabe der Basisorganisation ist es vielmehr, den neuen Mitglieder zu vermitteln, dass die Möglichkeiten der Beratung begrenzt sind und letztendlich nicht die Beratung zur grundlegenden Lösung ihrer Probleme beitragen wird, sondern nur sie selbst als Teil einer kollektiven, Werbung für die Beratung ämpferischen und solidarischen Organisierung.

Wir haben aktuell an drei Tagen in der Woche Beratung bei Problemen mit der Ausländerbehörde, dem Jobcenter, dem Sozialamt, den Vermieter*innen und der Arbeit. Anders als erwartet, hatten wir kaum Probleme damit, Berater*innen zu finden, da es viele kritische Menschen gibt, die selbst bereits Erfahrung mit Beratung haben (z.B. über ihre Arbeit als Sozialarbeiter*innen oder Jurist*innen) und diese gerne in einem politischen Kontext einbringen wollen. Zudem bringen auch viele Leute aus dem Stadtteil Erfahrung und Expertise mit, entweder weil sie sich selbst seit Jahren mit dem Jobcenter herumschlagen oder weil sie Familienmitglieder bei Behördenangelegenheiten unterstützen und oder für sie übersetzen.

Seit wir begonnen haben den Beratungs-Organisierungs-Ansatz in die Realität umzusetzen, merken wir qualitative Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen. Zum einen führt die Beratung dazu, dass permanent neue Leute aus dem Stadtteil zu uns in den Laden kommen und die Stadtteilgewerkschaft kennen lernen. Während wir früher das Problem hatten, dass Angebote nur von wenigen genutzt wurden und wir uns immer wieder überlegen mussten, wie wir in Kontakt mit anderen Leuten aus dem Stadtteil kommen können, führt das grosse Bedürfnis nach Beratung nun dazu, dass von sich aus immer mehr Leute zu uns kommen. Zum anderen werden aber auch immer mehr Leute aus der Beratung in der Basisorganisation aktiv, da wir diese zu den Vollversammlungen und zu den verschiedenen Komitees einladen oder sie andere Aufgaben innerhalb der Organisation übernehmen. Die Beratung ist also eine gute Möglichkeit, um Menschen aus der Beratung selbst wie auch politische Leute aus der Stadt in die Stadtteilgewerkschaft einzubinden.

Während der Beratungszeit sind neben den Berater*innen weitere Mitglieder der Stadtteilgewerkschaft vor Ort, die sogenannten Beratungs-Organisierung-Vermittler*innen (BOV). Sie erklären den Menschen, die das erste Mal in die Beratung kommen das Konzept der Stadtteilgewerkschaft und geben die Informationen über die Mitgliedschaft und politische Übereinkünfte heraus. Den BOVs kommt eine wichtige Rolle zu, da sie ein erstes Bild von der Stadtteilgewerkschaft und der Bedeutung der gemeinsamen Organisierung vermitteln, auf dessen Grundlage die Menschen aus der Beratung entscheiden, ob sie Mitglied werden.

b) Verbindliche Organisierung

Ein zweiter Aspekt, den wir kritisch reflektiert haben, war die fehlende Verbindlichkeit beim Aufbau unserer Strukturen. Wir haben in den ersten Jahren vor allem auf lose Angebote, Treffen und Kämpfe gesetzt, anstatt auf den Aufbau von festen Organisationsstrukturen. Das hat dazu geführt, dass Solidarisch in Gröpelingen eine kleine Gruppe von Aktivist*innen blieb, die unterschiedliche Angebote und Treffen organisierte. Aber es hat sich daraus keine wachsende Struktur unterschiedlicher Menschen herausgebildet.

Einige Mieter*innen im Mietkomitee haben sich zwar emotional Solidarisch in Gröpelingen nahe gefühlt, aber es gab keine klare Mitgliedschaft oder formale Zugehörigkeit – auch was die Beteiligung an Entscheidungen betraf. Solche unverbindlichen Angebote führen aus unserer Sicht nicht nur dazu, dass die Verantwortung letztlich in den Händen von wenigen Aktivist*innen bleibt, sondern verhindern darüber hinaus gemeinsame Lern- und Politisierungsprozesse.

Mieter*innen aus dem Stadtteil kommen auf grossen Miet-versammlungen zusammen, diskutieren ihre Probleme und kämpfen – wenn es gut läuft – über einen bestimmten Zeitraum gemeinsam für eine bestimmte Forderung. Im besten Fall gewinnen sie und machen die Erfahrung, dass kollektive Organisierung hilfreich ist. In den meisten Fällen gehen sie danach wieder auseinander und wählen im Zweifelsfall weiterhin die AfD oder AKP.

Ausgehend von unseren Erfahrungen der letzten Jahre ist in unseren Diskussionen die Frage in den Mittelpunkt gerückt, wie wir verbindlichere Strukturen aufbauen können und was der Unterschied zwischen einer Gruppe und einer Organisation ist, speziell einer politischen Basisorganisation.Viele von uns kennen nur Gruppen, in denen das meiste auf einem Plenum gemeinsam beschlossen wird, neue Mitglieder häufig durch Freund*innenkreise akquiriert werden und die Entwicklung der Mitglieder eine individuelle Aufgabe jeder Person für sich selbst bleibt (eine Ausnahme bilden nur solche Fälle, in denen ein kurzer Begleitprozesse stattfindet, wenn Menschen neu zu einer Gruppe dazu stossen). Das funktioniert aber nicht für eine Organisation aus 100 Mitgliedern oder mehr.

In den letzten zwei Jahren haben wir deshalb eine verbindliche Organisationsstruktur geschaffen, die neben der Beratung verschiedene Komitees, Treffen und Beteiligungsformen umfasst. Um die Beratung mit einer Organisierung zu verbinden und eine Zugehörigkeit zu schaffen, haben wir eine Mitgliedschaft eingeführt. Wir machen den Menschen, die in die Beratung kommen, von Beginn an klar, dass wir keine Beratungsstelle sind, sondern eine Stadtteilgewerkschaft, die auf kollektiver Organisierung beruht. Wir verdeutlichen von Anfang an, dass wir unsere Probleme langfristig nicht nur durch Beratung lösen können, sondern uns darüber hinaus gemeinsam organisieren und für Verbesserungen kämpfen müssen. Die Mitgliedschaft umfasst bestimmte Kriterien wie:

a) Solidarität und Teilnahme an Kämpfen der Stadtteilgewerkschaft, wenn nötig (nach dem bekannten Motto „touch one, touch all“ und nach unserem Motto „People, Power, Solidarität“), b) Teilnahme an Vollversammlungen, c) Teilnahme an kollektiver Kommunikation (Whatsapp-Gruppe) und d) geringfügiger finanzieller Mitgliedsbeitrag, wenn möglich (1€+). Zudem gibt es politische Grundsätze der Stadtteilgewerkschaft, die wir neuen potentiellen Mitgliedern mitgeben und denen sie mit dem Eintritt formal zustimmen.

Zukünftig beraten wir nur noch Mitglieder, die Teil der Stadtteilgewerkschaft sind oder werden wollen. Die Mitgliedschaft ist eine Voraussetzung, um eine verbindliche und längerfristige Organisierung zu ermöglichen, in deren Rahmen weitere Prozesse wie politische Bildung, kollektive Aktionen und Kämpfe, Mitgestaltung, Aufbau einer solidarischen Kultur erst möglich werden.

Für Menschen, die mehr Zeit haben und mehr Aufgaben in der Stadtteilgewerkschaft übernehmen wollen, gibt es weitere Strukturen, an denen sie mitwirken können. Diese umfassen zum einen Komitees und Kommissionen zu einzelnen Teilbereichen der Stadtteilgewerkschaft wie unter anderem das Komitee Küche für alle, Aktionskomitee, Zeitungsgestaltung, Beratungskomitee oder die Kommission für Social Media, politische Bildung etc. Zum anderen regelmässige Treffen, wie das Aktiven- oder Entwicklungstreffen, auf denen strategische und inhaltliche Entscheidungen getroffen und anfallende Aufgaben geklärt oder verteilt werden.

Ein weiterer Aspekt, um die Beteiligung neuer Mitglieder innerhalb der Basisorganisation zu erleichtern, sind klare Aufgabenbeschreibungen und -verteilungen . Zum einen werden dadurch die Aufgaben transparenter. Denn meist ist es insbesondere für neue Mitglieder schwierig, die anfallenden Aufgaben zu erkennen und zu verstehen, weil viele von bereits aktiven Mitgliedern nebenbei erledigt werden. Zum anderen können die Aufgaben dadurch leichter an andere Mitglieder übertragen werden. Zu wissen, was genau eine Aufgabe umfasst und was erwartet wird, hilft dabei, dass neue Mitglieder sich auch trauen, Aufgaben zu übernehmen. Ausserdem können dadurch verschiedene Menschen für einen begrenzten Zeitraum bestimmte Aufgaben übernehmen, wodurch eine Arbeitslastverteilung innerhalb der Organisation erleichtert wird. Eine Aufgabe zu haben, ist wiederum wichtig, um sich als Teil der gemeinsamen Organisierung zu fühlen und sich entwickeln zu können.

Ziel ist perspektivisch, dass alle aktiven Mitglieder der Stadtteilgewerkschaft in einem Komitee mitarbeiten oder eine Verantwortung für einen bestimmten Aufgabenbereich haben. Die verschiedenen Ebenen aus Vollversammlung, Entwicklungs- und Aktiventreffen, Komitees und Verantwortlichkeiten ermöglichen unterschiedliche Beteiligungsgrade und schaffen eine Arbeitsteilung, die Transparenz herstellt und verhindert, dass Treffen mit organisatorischen Punkten überladen werden. Die gemeinsamen Grundlagen aller einzelnen Teilbereiche sind die politischen Übereinkünfte und die definierten strategischen Linien von Solidarisch in Gröpelingen.

Teil der regelmässigen Treffen und wichtiges Element zum Aufbau einer Basisorganisation sind die Vollversammlungen (VV), die seit August 2021 alle sechs Wochen stattfinden. Zu den Vollversammlungen werden alle Leute eingeladen, die in die Beratung kommen oder anderweitig in der Basisorganisation aktiv sind. Die Vollversammlung ist einer der zentralen kollektiven Orte der Stadtteilgewerkschaft, an dem sich die Mitglieder untereinander kennenlernen, von aktuellen Kämpfen berichten und niedrigschwellige politische Bildung durchgeführt wird. Es gibt als Moderationssprache neben Deutsch immer noch eine oder zwei weitere Übersetzungen und je nach Bedarf auch weitere Übersetzungen in andere Sprachen, die als individuelle Flüsterübersetzungen stattfinden. Zudem gibt es immer auch Essen und Musik, um auch ein soziales Miteinander zu ermöglichen.

Ein weiteres für alle offenes und regelmässiges Angebot ist die Küche für alle (Küfa). Sie findet monatlich statt und ist aus der Vollversammlung heraus entstanden. Viele Mitglieder hatten angesichts der steigenden Preise das Bedürfnis geäussert einen Ort zu schaffen, an dem wir kostenloses Essen an die Menschen innerhalb von Solidarisch in Gröpelingen verteilen. Für unsere Organisierungsanstrengungen erfüllt sie mehrere Funktionen: Die Küfa stellt einen guten Anlaufpunkt dar, um neue Mitglieder auf unsere Organisation aufmerksam zu machen. Gleichzeitig ist sie ein Ort, der niedrigschwellige Mitarbeit und ein erstes „Reinschnuppern“, wie es ist organisiert zu sein und wie man in Kommitees arbeitet, ermöglicht. Ausserdem wird durch kulture Theater, die nach dem Essen stattfinden, ein anderer Zugang zu politischen Themen geschaffen.

Die verschiedenen Beteiligungsformen ermöglichen es zum einen, dass neue Mitglieder und Aktive sich in verschiedenen Bereichen einbringen können, ohne den Druck zu haben, direkt alles mitentscheiden zu müssen und bei jedem Treffen dabei zu sein. Ausserdem können sie dadurch Solidarisch in Gröpelingen als Gesamtorganisation mit dessen Struktur und politischen Grundsätzen Schritt für Schritt kennenlernen. Zum anderen können die neuen Mitglieder/Aktiven während des längeren Prozesses hin zu einer Initiativkraft sehen, ob sie mit den erweiterten politischen Grundsätzen übereinstimmen und sich stärker an der Gesamtgestaltung von SiG beteiligen möchten, sowohl auf lokaler als auch überregionaler Ebene. Diese verschiedenen Ebenen sind notwendig, um die Beteiligung verschiedener Menschen auf unterschiedliche Arten zu ermöglichen. Von dieser vielfältigen Beteiligung lebt die aufzubauende politische Massenorganisation.

c) Mobilisierungen und konkrete Kämpfe

Um nicht nur individuelle Rechtskämpfe zu gewinnen, sondern diese auch zu politisieren, sind kollektive Aktionen und Kämpfe notwendig. Aber auch um zu verstehen, was kollektive Handlungsfähigkeit konkret bedeutet. Da der Beratungs- Organisierungsansatz die individuelle Beratung als Ausgangspunkt für die Organisierung nimmt und damit ein Verhältnis, in dem die Person, die in die Beratung kommt, sich erstmal als passiv und abhängig erlebt, sind regelmässige kollektive Mobilisierungen und Aktionen Demo zur Unterstützung des Streiks bei Amazon Elementar. Sie tragen dazu bei, die Rolle als ohnmächtige Hilfesuchende aufzubrechen und in eine Position eines handlungsfähigen politischen Subjektes zu transformieren. Regelmässige Mobilisierungen machen zudem den politischen Charakter der Stadtteilgewerkschaft deutlich und unterstreichen den Unterschied zu auf individuelle Lösungen fokussierten Beratungsstellen.

Aktionen können sich zum einen aus der Beratung selbst ergeben, wenn wir z.B. mit rechtlichen Mitteln nicht mehr weiter kommen oder wenn wir nicht auf das Ergebnis eines rechtlichen Verfahrens warten können, weil sich die davon betroffene Person in einer akuten Notlage befinden. Das ist z.B. der Fall, wenn das Jobcenter monatelang nicht über den Antrag entscheidet oder Leistungen kürzt. In solchen Fällen mobilisieren wir vor das Jobcenter. Ein anderes Beispiel ist, wenn ein Unternehmen eine Person rechtswidrig entlassen hat oder ein Vermieter ein Zwangsräumungsverfahren einleitet. Viele Menschen sind es gewohnt, bestimmte Praktiken einfach hinzunehmen, weil sie nicht die Zeit, das Wissen oder die Ressourcen haben, sich dagegen zu wehren.

Da innerhalb der Stadtteilgewerkschaft Mitglieder mitbekommen, dass sie ähnliche Probleme haben und einzelne Probleme oder Kämpfe immer wieder innerhalb von Vollversammlungen oder anderen Treffen thematisiert werden, entsteht ein Gefühl von Solidarität miteinander. Ausserdem trägt die Weitergabe über das Wissen bestimmter Praktiken staatlicher Institutionen und anderen Stellen dazu bei, Diskussionen über die Ursachen solcher Verhaltensweisen in Gang zu stossen. Indem wir einzelne Fälle aus der Beratung sowohl innerhalb der Stadtteilgewerkschaft thematisieren als auf öffentlich auf die Strasse tragen, kann ein Bewusstwerdungsprozess in Gang gesetzt werden. Denn Menschen können dadurch realisieren, dass ihre individuelle Lage strukturelle Ursachen hat und nicht ihr eigenes Verschulden ist, und, dass wir politische Lösungen und eine grundlegende Gesellschaftsveränderung brauchen, um die Ursachen unserer Probleme zu beseitigen.

Neben Aktionen, die sich aus der Beratung ergeben, können Aktionen aber auch durch aktuelle Entwicklungen und die Diskussionen darüber auf Vollversammlungen oder in anderen Gesprächen entstehen, wie etwa bei der derzeitigen Inflation und sich daraus ergebenden Preissteigerungen. Wichtig ist, die Aktionen so zu gestalten, dass möglichst viele Mitglieder in die Vorbereitung und Durchführung eingebunden sind und die Aktion selbst die einzelnen Teilnehmenden empowert selbst zu sprechen. Wenn die Stadtteilgewerkschaft Aktionen plant, sind alle Mitglieder aufgerufen, daran teilzunehmen. Insbesondere wenn wir konkrete Kämpfe führen. Es geht auch darum, das Bewusstsein „touch one, touch all“ als Haltung zwischen den Mitgliedern zu etablieren und unser Motto „People, Power, Solidarität“ lebendig werden zu lassen.

Für die Umsetzung der Aktionen ist in der Stadtteilgewerkschaft das Aktionskomitee zuständig. Wichtige Aktionen in den letzten Jahren waren zum einen Kundgebungen vor dem Jobcenter, der Sozialbehörde oder dem Gericht, um Mitglieder bei Forderungen in einzelnen Verfahren zu unterstützen. Auf der anderen Seite konnten wir in Gröpelingen relativ erfolgreiche Kundgebungen gegen die Preiserhöhungen und die Auswirkungen der Krise allgemein organisieren. Unsere Erfahrung ist, dass sich Menschen aus dem Stadtteil nicht spontan zu Demonstrationen oder Kundgebungen mobilisieren lassen, auch wenn im Vorhinein intensiv im Stadtteil geflyert und mit Nachbar*innen gesprochen wird. Viele Menschen haben keinen Glauben in die Wirkung von Demonstrationen oder haben Angst, dass es negative Folgen für ihren Aufenthalt haben könnte.

Es ist jedoch etwas anderes, wenn eine Basisorganisation ihre Mitglieder zu einer Kundgebung aufruft, die sich bereits kennen, Vertrauen aufgebaut und im Vorfeld gemeinsam auf Versammlungen darüber gesprochen haben, warum es wichtig ist, auf die Strasse zu gehen. Auf der letzten Kundgebung der Stadtteilgewerkschaft gegen Preiserhöhungen im Februar 2023 waren unter anderem viele Mitglieder der Stadtteilgewerkschaft und ihre Familien und Freund*innen – Menschen aus dem Stadttteil oder aus der Beratung17. Viele davon haben das erste Mal an einer Kundgebung teilgenommen. Es ist also möglich, selbst in bewegungsschwachen Zeiten wie aktuell in der BRD Proteste auch aus den Stadtteilen auf die Strasse zu bringen, aber aus unserer Sicht nicht ohne den Rahmen einer verbindlichen Organisierung.

d) Politische Klarheit und Definition von Zielen

Im Prozess der Entwicklung der Mitgliedschaft und dem Aufbau einer verbindlichen Organisationsstruktur mit Arbeitsteilung in Form von unterschiedlichen Komitees und Kommissionen etc. ist auch die Notwendigkeit einer gemeinsamen inhaltlichen Grundlage stärker in den Vordergrund getreten. Wir haben deshalb politische Übereinkünfte entwickelt, die den Rahmen für die Arbeit der einzelnen Strukturen definiert und die grundlegende Ausrichtung und Haltung der Stadtteilgewerkschaft bestimmt18. Die politischen Übereinkünfte erhalten alle neuen Leute, die sich für die Stadtteilgewerkschaft interessieren. Sich zu entscheiden, Mitglied zu werden, heisst zumindest über die politischen Übereinkünfte informiert zu sein und diese passiv zu akzeptieren.

Die tiefergehende Vermittlung des Inhaltes sowie eine Auseinandersetzung darüber ist Aufgabe der Organisation und vor allem der politischen Bildung. Neben den politischen Übereinkünften der Basismitglieder gibt es noch erweiterte Übereinkünfte, welche die Grundlage für die Initiativkräfte der Stadtteilgewerkschaft bilden. Sie sind auf Grundlage unserer Diskussionen der 11 Thesen sowie unseres damaligen Selbstverständnisses entstanden. Sie beschäftigen sich genauer mit den Aspekten, die in den Basisübereinkünften aufgegriffen werden und enthalten weitere Aspekte, die für eine Verortung innerhalb linker Strömungen und einer Analyse gesellschaftlicher Strukturen sowie der derzeitigen Lage notwendig sind.

e) Politische Bildung

Im Bereich der politischen Bildung haben wir wiederkehrende Bildungsangebote auf unterschiedlichen inhaltlichen Niveaus, je nachdem, wie lange Menschen schon in der Organisation aktiv sind und wie viel Vorwissen sie haben, geschaffen. In den Bildungsangeboten werden beispielsweise die strategischen und politischen Grundlagen von Solidarisch in Gröpelingen vermittelt. Es wird erklärt, warum wir uns als antikapitalistisch verstehen oder wie die eigene Lebenssituation mit strukturellen Problemen verbunden ist. Auf der anderen Seite ist die Bildung von langjährigen Initiativkräften ebenfalls ein wichtiger Bestandteil. Die Auseinandersetzung mit unter anderem olitische Basisbildung Klasse, den verschiedenen Strömungen innerhalb der Linken, der Geschichte von Stadtteilbewegungen oder der Arbeiter*innenbewegung sind notwendig, um sich eine fundierte Grundlage für Stadtteilbasisarbeit zu schaffen.

Die Bildungen bedienen sich verschiedener Methoden der politischen Bildung und haben das Ziel, Menschen aktiv in die Bildung einzubinden und zur Reflexion der eigenen Denkweisen anzuregen. Hierbei ist uns wichtig, nicht eine Lehrer*in-Schüler*in-Atmosphäre zu schaffen, sondern einen Austausch auf Augenhöhe zu ermöglichen. Ebenfalls organisieren wir Offene Austausche, in denen es am Anfang nur eine kurze Einleitung zum Thema gibt und danach offen über Themen wie Inflation oder den Ukraine-Krieg diskutiert wird.

Auch in anderen Bereichen von Solidarisch in Gröpelingen spielen die Überlegungen zu politischer Bildung und das Ziel, Möglichkeiten zur Entfaltung von Subjektivität zu schaffen, eine Rolle. Vollversammlungen dienten am Anfang eher dazu, Menschen aus der Beratung oder weiterem Umfeld zu Solidarisch in Gröpelingen einzuladen.

Austauschtreffen zum Thema: Wer oder was ist eigentlich Schuld an meinen Problemen?

Es sollte eine erste Möglichkeit der Beteiligung, des Gefühls von Kollektivität und einen Überblick über die Aktivitäten und Themen innerhalb von Solidarisch in Gröpelingen vermitteln. Hierbei waren die Vollversammlungen eher von Berichten geprägt und weniger von Austausch. Eine Weiterentwicklung der Vollversammlung umfasst nun unter anderem, jeden einzelnen Menschen durch beispielsweise Diskussionen in Kleingruppen in die Vollversammlung einzubinden. Dies führt dazu, dass die Hemmschwelle, eigene Ideen einzubringen, sinkt und dass sich alle Mitglieder stärker in Solidarisch in Gröpelingen einbringen können. Die Vollversammlung ist zu einem Ort geworden, an dem neue Verantwortlichkeiten verteilt werden und ein stetiger niedrigschwelliger Politisierungsprozess stattfindet. Auch innerhalb der Aktiventreffen wird diese Herangehensweise verfolgt, um auf informelle Art Wissen weiterzugeben und die Handlungsfähigkeit aller Aktiven innerhalb der Organisation zu stärken.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Politischen Bildung ist die Sommerschule. Bei der letzten Sommerschule konnten nicht nur Initiativkräfte teilnehmen, sondern auch Aktive der Stadtteilgewerkschaften. Die Sommerschule ist ein Ort, an dem sowohl Austausch zwischen den verschiedenen Stadtteilorganisationen stattfinden kann, aber auch innerhalb der

Stadtteilgruppen Anregungen und Politische Basisbildung mit Essen Diskussionen angestossen werden können. Durch den Wechsel zwischen praktischen Workshops zu Themen wie „Reden auf Demonstrationen“ und theoretischen Grundlagen revolutionärer Basisarbeit können sich alle innerhalb der Stadtteilgruppe ein ähnliches Wissensniveau aneignen. Ausserdem stärkt die Sommerschule ein Zugehörigkeitsgefühl zur Stadtteilgewerkschaft und zu einer Bewegung von Stadtteilorganisationen, wodurch Menschen dazu motiviert werden, sich noch stärker in die Organisation einzubringen.

f) Schaffung einer organisierten sozialen Bewegung

Um die Idee einer organisierten sozialen Bewegung in die Praxis umzusetzen und zu entwickeln, haben wir mit der Stadtteilbasisorganisation Berg Fidel Solidarisch aus Münster eine gemeinsame Kommission gegründet. Ziel dieser Kommission ist sowohl der Aufbau einer überregionalen Organisation, als auch die stetige Weiterentwicklung unseres Ansatzes durch gegenseitigen Austausch und solidarische Unterstützung. Bisher haben wir mit Berg Fidel Solidarisch ein gemeinsames 10-Punkte-Programm herausgegeben, mit dem wir überregional in den Stadtteilen auftreten19 und gemeinsame Vorstellungen in der Öffentlichkeit vertreten. Ausserdem halten wir zusammen Vorträge über unsere Arbeit, besuchen uns regelmässig und teilen Ressourcen, wie zum Beispiel durch gemeinsame Bildungen und Aufgabenteilung in verschiedenen Bereichen.

Wir bauen zunehmend parallele Strukturen auf und konnten beispielsweise eine gemeinsame Vollversammlung über einen Videoanruf abhalten. Unser bisher grösstes gemeinsames Projekt war die Organisation einer fünftägigen Sommerschule mit Teilnehmer*innen aus unterschiedlichen Städten. Die Sommerschule hat uns gezeigt, dass wir nicht isoliert in unserem Stadtteil sind. Zu sehen und zu wissen, dass man nicht alleine kämpft, sondern mit vielen anderen, die sich auch als Teil einer gemeinsamen Bewegung betrachten, kann einem im Alltag sehr viel Kraft geben.

Perspektivisch wollen wir eine organisierte soziale Bewegung der Stadtteilgewerkschaften aufbauen. Dafür arbeiten wir unter anderem an Strukturen und Kriterien der Zusammenarbeit, versuchen Bildungsformate zu entwickeln, die unsere Idee am besten vermitteln, und suchen bundesweit und darüber hinaus nach Mitstreiter*innen. Dieser Text und der nachfolgende Aufruf sind Teil dieser Anstrengungen.

6) Aufruf

Seit der Umsetzung des Beratungs-Organisierungs-Ansatzes (BOA) hat sich Solidarisch in Gröpelingen auf verschiedene Weisen verändert. Eine der wichtigsten Veränderungen ist, dass über die Beratung permanent neue Leute aus dem Stadtteil – aber auch darüber hinaus – zur Stadtteilgewerkschaft kommen und viele davon neue Mitglieder werden. Die Beratung schafft also den Ausgangspunkt für eine Organisierung und trägt so zum Aufbau einer Basis der Stadtteilbewegung bei. Dadurch hat sich die Zusammensetzung der Stadtteilgewerkschaft von einer überwiegend weiss akademisch geprägten Polit-Gruppe hin zu einer diversen und von Menschen aus dem Stadtteil mit getragenen Basisorganisation entwickelt.

Zum anderen konnten wir über den Aufbau unterschiedlicher Komitees und den Ausbau offener Beteiligungsformate wie der Vollversammlung oder der Küche für alle erreichen, dass mehr Leute in der Stadtteilgewerkschaft aktiv geworden sind. Die Kombination aus Beratung als Eingangstor und unterschiedlichen niederschwelligen Beteiligungsmöglichkeiten hat in den letzten Monaten dazu geführt, dass mehr Leute Mitglied der Stadtteilgewerkschaft und darin aktiv geworden sind, als in den vier Jahren davor. Die meisten dieser neuen Mitglieder kommen selbst aus dem Stadtteil.

Auch haben verschiedene Bildungsgelegenheiten wie Workshops, offene Austauschtreffen, Bildungen, Plena-Situationen oder Gespräche dazu geführt, dass sich neue Mitglieder aktiver in die Organisation einbringen und sich Wissen über politische Themen aneignen konnten. Darüber sind neue Räume der populären Beteiligung entstanden, in denen niedrigschwellige Politisierungsprozesse angeregt werden konnten.

Mit dem BOA-Ansatz sind – wie mit allen politischen Ansätzen auch – einige Herausforderungen verbunden, denen wir auch in Zukunft begegnen müssen. So ist es immer wieder ein Balanceakt in der Beratung nicht nur individuelle Lösungen für die Mitglieder zu finden, sondern auch auf die strukturellen Ursachen dieser Probleme hinzuweisen und aus ihnen heraus politische Aktionen zu initiieren. Ausserdem führt der Ausbau der Komitees, der Wachstum der Organisation als Ganzes und andere Aufgaben zu einer Mehrarbeit, die nicht immer alle leisten können. Unserer Erfahrung nach treten manchmal dann strategische Diskussionen in den Hintergrund, weil praktische Aufgaben eine höhere Dringlichkeit haben, wie beispielsweise die Organisation der Küfa an einem bestimmten Datum. Strategischen Fragen und Diskussionen trotz der drängenden praktischen Aufgaben kontinuierlich genug Raum und Zeit einzuräumen, ist daher ein fortlaufender Aushandlungsprozess.

Gleichzeitig merken wir bei der Entwicklung der Praxis, dass viele Erfahrungen mit Organisierung von unten und dem Aufbau von demokratischen Massen-Basisorganisationen hierzulande verloren gegangen sind, so dass wir viele Fragen, die sich im Gehen stellen, selbst lösen müssen (auch wenn der Blick zu Bewegungen in anderen Ländern die Entwicklung unserer Praxis massgeblich beeinflusst hat). Revolutionäre Basisarbeit basiert auf einem vollkommen anderen Verständnis von Aktivismus und politischer Praxis als viele von uns es bisher gewohnt waren und als es in der linken Szene gängig ist. Das führt dazu, dass es Genoss*innen immer wieder schwer fällt, den Schritt heraus aus dem gewohnten Politikverständnis zu machen und an das Potential einer Organisierung von unten zu glauben. Wir denken jedoch, dass revolutionäre Basisarbeit mit der Zeit und mit den Erfahrungen, die wir in den unterschiedlichen Städten machen, ein selbstverständlicher Teil linker Kultur und politischer Ansätze werden und sich in Zukunft daher auch schneller weiter entwickeln wird.

Wir jedenfalls sind immer noch euphorisch über die vielen Veränderungen, die wir in den letzten Monaten beobachten konnten. Sie geben uns neue Hoffnung und festigen unseren Glauben an das Potential revolutionärer Basisarbeit. Wir sind aufgrund der Erfahrungen, die wir bei der Umsetzung des BOA-Ansatzes gemacht haben, zu der Überzeugung gelangt, dass die Kombination aus Beratung und Organisierung das Potential hat, einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung einer organisierten sozialen Bewegung aus den Stadtteilen zu bereiten. Allerdings reicht es nicht aus, wenn wir diesen Ansatz nur in einem Stadtteil aufbauen und weiter entwickeln. Deshalb möchten wir mit diesem Text auch andere Genoss*innen und Gruppen dazu aufrufen, den BOA-Ansatz in ihren Städten auszuprobieren und mit uns gemeinsam weiter zu entwickeln. Wenn ihr Interesse habt, sind wir gerne bereit, euch bei den ersten Schritten zu begleiten.

Lasst uns gemeinsam die Vision einer organisierten sozialen Bewegung in die Praxis umsetzen. Lasst uns eine Kraft schaffen, die in der Lage ist, die Welt, uns und andere zu verändern.

Fussnoten:

1 „Für eine grundlegende Neuausrichtung linksradikaler Politik – Kritik & Perspektiven um Organisierung und revolutionäre Praxis“ von kollektiv aus Bremen. Zu finden unter: https://solidarisch-in-groepelingen.de/wp-content/uploads/2022/03/11-Thesen_A4.pdf

2 https://bfsolidarisch.blackblogs.org

3 „Stadtteilbasisbewegung: Die Konstruktion einer Alternative. Über einfache und komplexe Formen der Basisarbeit“: https://solidarisch-in-groepelingen.de/wp-content/uploads/2022/03/ Stadtteilbasisbewegung-Die-Konstruktion-einer-Alternative-1.pdf

4 Zur Möglichkeit der Gesellschaftsveränderung und Politik von unten siehe auch den Beitrag von Nima Sabouri zu Subjektivität und Organisierung: https://www.untergrund-blättle.ch/politik/theorie/politik-von-unten-teil-1-subjektivitaet-und-organisierung-7493.html

5 Margaret Thatcher war von 1979 bis 1990 britische Premierministerin. Sie steht symbolisch für die Durchsetzung des Neoliberalismus auf der Basis von konservativen Werten. In ihrer Amtszeit wurden viele der Staatsunternehmen privatisiert, Gewerkschaften und ihr Einfluss zerschlagen. Sie prägte den Satz, „Es gibt keine Alternative“, um ihre Politik zu rechtfertigen und ideologisch zu untermauern.

6 Wir lehnen nicht das Konzept des Schutzortes ab. Orte, in denen sich Menschen sicherer und geschützter vor Unterdrückung und Diskriminierung fühlen, sind legitime und wichtige Orte. Wir kritisieren jedoch eine linke Politik, die überwiegend auf der Schaffung solcher subkultureller Orte basiert und sich aus der Gesellschaft zurück zieht. Eine gesellschaftsverändernde Praxis, die darauf abzielt, mehr Menschen in einen Prozess der Gesellschaftsveränderung zu integrieren, muss sich mit den Widersprüchen innerhalb der Gesellschaft konfrontieren und Mittel schaffen, wie in einem kollektiven Prozess verinnerlichte rassistische, patriarchale, neoliberale etc. Denk-und Verhaltensweisen angesprochen und überwunden werden können.

7 Wir glauben nicht, dass es reicht, auf eine Machtübernahme zu setzen, infolgedessen die Gesellschaft von oben verändert wird. Und wir glauben auch nicht, dass sich Menschen in Aufständen oder Massenstreiks spontan all die Fähigkeiten und Erfahrungen aneignen, die sie für den nachhaltigen Aufbau einer neuen Gesellschaft brauchen.

8 Unter Unterdrückte verstehen wir zum einen all diejenigen, die prinzipiell darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben. Also alle, die arbeiten müssen, weil sie über kein nennenswertes Vermögen verfügen. Zum anderen basiert die kapitalistische Wirtschaftsweise auch auf anderen Unterdrückungsstrukturen, wie z.B. auf der (post-)kolonialen/imperialistischen und rassistischen Unterdrückung von BIPOC, patriarchalen Strukturen v.a. in der sozialen Reproduktion, der zerstörerischen Ausbeutung der nicht-menschlichen Natur, staatlichen Repression etc. Diese verschiedenen Strukturen sind miteinander im derzeitigen System verwoben, weshalb wir uns mit dem Begriff Unterdrückte auf all diejenigen, die von den verschiedenen Unterdrückungsformen betroffen sind, beziehen.

9 Definition von Basis durch den MST (Bewegung der Arbeiter*innen ohne Land) aus Brasilien: „Oder, die Basis ist derjenige Teil der ausgebeuteten Klasse (Masse), der beschliesst einen inneren und äusseren Veränderungsprozess zu unterstützen, bei sich selbst und der Realität, in der sie handelt. Und die beschliesst, dies organisiert und anhand von kollektiven und politischen Kämpfen zu machen.“ (Bildungsheft MST Método de trabajo y organización popular. Über Basisarbeit, Massenarbeit und Arbeit der Gruppe, S. 129)

10 Wir denken an eine Idee der „aktiven Beteiligung“ bzw. des bewussten „Aktivseins“. Das bedeutet, sich aktiv in das Projekt des sozialen Wandels einzubringen, das wir anstreben. Für uns ist diese Idee mit dem Verständnis verbunden, dass unser organisiertes kollektives Handeln kurz-, mittel-und langfristig strategisch zu einer Veränderung der Realität, in der wir agieren (auch innerhalb der Gesellschaft), beiträgt. Für eine Basisorganisation können wir folgende Punkte als “aktive Beteiligung” bzw. „Aktivsein“ erwähnen: Es geht nicht nur um „eine Teilnahme“; es bedeutet nicht nur zu Nicken oder eine „Ja-Sagen“-Haltung zu haben; es bedeutet, Teil von etwas zu sein, während man dieses Etwas aufbaut/gestaltet; es bedeutet Antworten zu geben und auch Fragen zu stellen.

11 Transparenz schafft mehr legitime Entscheidungen und Konsens innerhalb unserer Basisorganisation; eine effizientere Arbeitsweise durch Berücksichtigung des tatsächlichen Bedarfs der gesamten Organisation und der Teilbereiche sowie von ihren Mitgliedern; einen permanenten Dialog zwischen den Mitgliedern und der gesamten Organisierung. Transparenz braucht jedoch eine gemeinsame Grundlage in Form von minimalen oder maximalen politischen Übereinkünften sowie gemeinsamen Zielen. Denn wir gehen davon aus, dass eine Organisation nicht gut, kontinuierlich und transparent funktionieren kann, wenn ihre Mitglieder keinen ideologischen Minimalkonsens haben oder die politischen Übereinkünfte und Ziele nicht kennen.

12 Das Zitat stammt aus einem Bildungsheft der Bewegung der Arbeiter*innen ohne Land (MST) aus Brasilien

13 https://solidarisch-in-groepelingen.de/wp-content/uploads/2022/03/Stadtteilbasisbewegung-Die-Konstruktion-einer-Alternative-1.pdf

14 MST, Caderno de formacao 38, Método de trabalho de base e organizao popular, S.27

15 https://solidarisch-in-groepelingen.de/wp-content/uploads/2022/03/11-Thesen_A4.pdf)

16 Näheres zu den theoretischen Überlegungen zu existentiellen Notwendigkeiten und ihrer Relevanz für Stadtteilarbeit siehe Kapitel

17 Ein gutes kurzes Video der Kundgebung findet sich hier: https://solidarisch-in-groepelingen.de/genug-ist-genug-fuer-eine-gerechte-gesellschaft-auf-die-strasse-gehen-filme-fotos/

18 https://solidarisch-in-groepelingen.de/selbstverstaendnis/

19 https://solidarisch-in-groepelingen.de/10-punkte-fuer-eine-gerechtere-gesellschaft/

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von Redaktion am 15. April 2023

Die Doppelzüngigkeit des Emmanuel Macron

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Ganze 72 Kampfflugzeuge plus zehn Kriegsschiffe aus China zählte das Verteidigungsministerium in Taipeh. Diese waren dabei, Taiwan zu umkreisen, als Übung für Chinas Strategie, die Insel in einigen Jahren anzugreifen.

Nun regt sich in Europa die politische Öffentlichkeit auf, wie Frankreichs Präsident Emmanuel ­Macron ­Europa die Leviten liest, sich nicht durch „andere Großmächte“ – also die USA – in Konflikte wie den rund um Taiwan verwickeln zu lassen.

Annalena Baerbock indes versuchte jetzt während ihres Besuchs in China zu beschwichtigen: Die französische Chinapolitik spiegele „eins zu eins“ die europäische Chinapolitik wider, meinte sie auf ihrer ersten Station in der Hafenstadt Tianjin, aber das waren nur diplomatische Beteuerungen.

Chinas Militärmanöver gegen Taiwan wie Macrons Mahnung an Europa, sich herauszuhalten, fanden kurz nach dem Ende von ­Macrons Chinabesuch statt. So wollte Peking dem Zauderer aus Frankreich eine Chance geben, sich in Chinas „innere Angelegenheiten“ gar nicht erst einzumischen. Die Botschaft: Ihr Europäer könnt uns als die einzige Großmacht, die die USA herausfordert, so oder so nicht das Wasser reichen, also lasst das gleich sein. So oder so ähnlich klang denn auch Emmanuel Macron: Wenn die Europäer allein schon den Krieg in der Ukraine nicht händeln könnten!

Die bittere Ironie ist: Frankreich war es, das sich längst in – wenn auch scheinbar andere – „innere Angelegenheiten“ Chinas eingemischt hatte. Paris war in Europa an erster Stelle, 2018 seine „Indo-Pazifik-Strategie“ aus der Taufe zu heben und so mit der amerikanisch-japanischen Strategie gleichen Namens von Europa aus zu korrespondieren. Dem Vorbild folgte später Berlin. Frankreich entsandte seinen Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ in das umstrittene Südchinesische Meer, um mit den USA, Japan, Australien, Kanada und Indien bewaffnet Patrouille zur Sicherung freier Handelswege zu fahren, klar gegen Chinas Expansionspolitik gerichtet, die das Südchinesische Meer als Chinas Binnensee beansprucht. Anfang 2022 folgte Deutschland auch diesem Vorbild mit der Fregatte „Bayern“.

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Haben sich zuerst Franzosen, dann alle anderen Europäer in die Strategie der USA, in Konflikte nur unfreiwillig verwickeln lassen, die sie so gar nicht sahen? Wohl kaum. Denn europäische Großmächte, allen voran Frankreich und Deutschland, haben längst kundgetan, wie interessiert sie an einer Indo-Pazifik-Konzeption als einer die Zukunft sichernden Geopolitik sind: Indien, der Subkontinent mit bald mehr und weitaus jüngerer Bevölkerung als das alternde China, winkt schon mit einem Marktvolumen, das Europa für Jahrzehnte überlebenswichtige Aufträge sichert. Indes hat Frankreich mit allen vier Teilnehmern der sogenannten Quad – USA, Japan, Indien und Australien – den sicherheitspolitischen 2-plus-2-Mechanismus (Verteidigungs- und Außenministertreffen in festen Intervallen) eingerichtet; in vollem Bewusstsein, gegen wen der Block gerichtet ist. Ähnliches passiert auch zwischen Berlin und Tokio sowie Berlin und Canberra.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Aus den Finanzcasino

Erstellt von Redaktion am 14. April 2023

Bildung und Pflege sind wirtschaftlich gesehen nicht produktiv.

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Von Ulrike Herrmann

Gelten deshalb  auch schnell als „teuer“. Aber auch diese Bereiche profitieren vom Wachstum. Lehrer müssen sein. Das ist keine gute Nachricht, wenn man nur das Wachstum erhöhen will Und wirft eine Fatale Optol auf die Probleme.

Was ist eigentlich ökonomisches Wachstum? Diese Frage wirkt banal, hat aber immense Auswirkungen. Selbst scheinbar ferne Bereiche wie Kinderkrippen, Schulen, Krankenhäuser oder Pflegeheime sind davon elementar betroffen. Wenn etwa Pflegekräfte streiken, dann ist die eigentliche Frage, wer vom Wachstum profitieren soll.

Ökonomisches Wachstum ist zunächst einmal ganz simpel: Es existiert immer dann, wenn mehr Waren und Dienstleistungen entstehen als zuvor. Zwar ist dieses „Mehr“ nicht leicht zu messen, aber diese Ungenauigkeiten sollen hier keine Rolle spielen. Es reicht zu wissen, dass es ein „Mehr“ gibt. Diese Güter entstehen durch Arbeit, und trotzdem sind es nicht die Beschäftigten, die das Wachstum erzeugen. Denn die Menschen ändern sich ja nicht wirklich. Sie haben zwei Arme und zwei Beine, und deutlich intelligenter werden sie auch nicht. Wenn es also zu Wachstum kommt, kann es nicht an der Arbeit der Einzelnen liegen. Der Treiber ist die Technik, die ständig besser und effizienter wird. Die Maschinen machen uns reich. Die Ökonomen nennen das auch „Zuwachs an Produktivität“.

Allerdings ist nicht jede Branche gleich geeignet, um Technik einzusetzen. In der Fertigung von Industriegütern arbeiten kaum noch Menschen. So wird in der Automobilbranche fast alles von Robotern geschweißt, und in den riesigen Hallen stehen nur noch einige Beschäftigte, um an Computern die Arbeit der maschinellen Kollegen zu überwachen. Dafür lassen sich andere Bereiche fast gar nicht technisieren: Dazu gehört etwa das Betreuen von Kleinkindern in Krippen.

Kinderbetreuung ist eine Dienstleistung, was häufig zu dem Missverständnis führt, dass sich Dienstleistungen ganz generell nicht technisieren ließen. Doch das Gegenteil ist wahr. Gerade für die Dienstleistungen werden oft sehr viele Maschinen eingesetzt. „Dienstleistungen“ sind für die Ökonomen alle Güter, die man nicht lagern kann, weil Erstellung und Verbrauch zusammenfallen. Typische Beispiele sind ein Flug nach Mallorca oder eine Zugfahrt nach München. Die Bahn produziert keine Reisen auf Vorrat, anders als Audi, wo die Autos zum Teil auf Halde stehen, bevor sie verkauft werden. Trotzdem sind Bahnfahrten oder Flugreisen fast reine Technik, die nur relativ wenig Personal benötigen.

Ein anderes Beispiel sind die Banken, die ebenfalls zu den Dienstleistern zählen und inzwischen fast komplett mechanisiert sind. Kassierer wurden durch Geldautomaten ersetzt, und auch ansonsten wurde sehr viel Personal eingespart, weil die Kunden ihr Banking jetzt online erledigen. Auch das Investmentgeschäft ist weitgehend automatisiert, indem die Computer berechnen, wann welches Derivat gekauft oder verkauft werden sollte.

Betreuung, Pflege und Bildung sind also rare Ausnahmen, weil sie sich nicht technisieren lassen. Aber ausgerechnet diese Branchen sind elementar und nicht ersetzbar. Es wäre falsch, Kinder nicht zur Schule zu schicken. Zwar gibt es Bildungsprogramme, die sich auf dem Laptop ansehen lassen, aber spätestens die Corona-Lockdowns haben zweifelsfrei bewiesen, dass die meisten Kinder schwer leiden und nur geringe Fortschritte machen, wenn sie nicht mit ihren Klassenkameraden und Lehrern zusammen sein können.

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Lehrer müssen also sein. Das ist keine gute Nachricht, wenn man nur das Wachstum erhöhen will – denn in der Bildung gibt es keine Zunahme an Produktivität. Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Das ist keine Kritik an den Lehrern, sondern eine reine Beschreibung der Realität. Im 19. Jahrhundert saßen in den Volksschulen zum Teil 50 Kinder in einer Klasse, heute unterrichtet ein Lehrer nur noch ungefähr 25 Schüler. Wenn man so will, ist die Produktivität der Lehrer sogar noch gesunken. Wo früher einer reichte, werden jetzt zwei gebraucht.

In der Pflege ist es ähnlich: Das Krankenhauspersonal kann nicht ständig noch mehr Patienten betreuen, wenn es allen gut gehen soll. Rund ums Klinikbett steigt die Produktivität also ebenfalls nicht. Das hat enorme Konsequenzen, denn sofort stellen sich gravierende Verteilungsfragen, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Um dieses Verteilungsproblem zu verstehen, hilft es, sich zunächst den – leicht idealisierten – Normalfall in einer Industriegesellschaft anzusehen: Durch den technischen Fortschritt werden ständig mehr Waren und Dienstleistungen hergestellt, sodass auch die Löhne steigen können, weil es ja mehr zu kaufen gibt.

Quelle       :        TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben           —       Casino im Resort World Sentosa (Singapur)

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Unten   —     Ulrike Herrmann (taz, Berlin) und Markus Pühringer (Grüne) beim Querdenken #18 („Der Sieg des Kapitals“) in Linz

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Bankenlobby wetzt Messer

Erstellt von Redaktion am 14. April 2023

Licht ins Dunkel bringt nur eine UBS/CS-PUK

Quelle      :        INFOsperber CH.

Urs Schnell /   

Der Nationalrat hat die Staatsgarantien abgelehnt. Das bleibt wirkungslos. Die eigentliche Arbeit für das Parlament fängt erst an.

Einer der zentralen Punkte nach der Übernahme der CS durch die UBS ist die Frage, was die CS noch wert ist. Und wie sich der Zustand der CS auf die UBS auswirken wird. Wüsste die Öffentlichkeit mehr darüber, könnte seriöser über die Too-big-to-fail-Problematik diskutiert werden. Die UBS ist gegenwärtig daran, mit internen und wohl auch externen Prüfstellen rasch Antworten zu finden. In der Öffentlichkeit hört man nichts darüber.

Einer der Schwerpunkte ist die Beurteilung der Derivate, in denen die CS engagiert ist. Infosperber hat in einer Artikelreihe auf die Bedeutung dieser Papiere hingewiesen. Gemäss Finanzprofessor Marc Chesney belief sich der Nominalwert der Derivate bei Credit Suisse im Jahr 2017 auf 29,9 Billionen Franken. Diese Zahl überstieg das Bruttoinlandprodukt der Schweiz um das 36-Fache.

Dieser Wert oder Unwert der CS-Derivate bildet eines der grossen Risiken, welches der Bund mit seiner Staatsgarantie von 109 Milliarden Franken abdecken muss. Wieweit sich Bundesstellen Einblick in die Prüfung der CS gesichert haben, ist nicht bekannt.

Die Analyse ist eine Herkulesaufgabe. Im Wallstreet-Krisenjahr 2008 hatten die US-Behörden für die analytische Arbeit Blackrock beiziehen müssen, den heute grössten Finanzkonzern der Welt. Nur mithilfe von Blackrock-Topteams waren die US-Behörden imstande, Rettungspläne für die fallenden Investmentbanken Bear Stearns und Citigroup sowie den Finanzversicherungsgiganten AIG zu zimmern.

Die Grossbanken spekulieren mit hoch abstrakten Produkten im Milliardenbereich. Die Geschäfte sind äussert komplex und verlangen modernste Rechenleistungen. Doch sie sind weitgehend intransparent. Ein grosser Teil des Derivatenhandels haben Grossbanken in Schattenbanken ausgelagert, die ausserhalb der nationalen und internationalen Regulierungsvorschriften spekulieren. Kommt eine Bank ins Trudeln, springt der Staat ein.

Für Bankencrashs wurde in den letzten siebzig Jahren immer irgendwie eine Lösung gefunden. Doch zu welchem Preis? Der letzte Supercrash von 2008 führte zu grossen sozialen Verwerfungen. Viele Länder leiden immer noch darunter.

PUK jetzt

In der Schweiz fragen sich Politik und Wirtschaft nun, ob die neue UBS das Land nicht überfordern wird. Die Ratlosigkeit liest sich zwischen den Zeilen und macht sich bemerkbar auch in Fernsehen. Damit sind wir bei der Frage nach einer PUK.

Ja, eine PUK braucht es. Sie muss die CS wie den toten Körper eines Ertrunkenen sezieren, um herauszufinden, wie die intransparenten Geschäfte liefen. Gerade bei den Derivaten. Und beim CS-Eigenhandel. Eine PUK muss Zugriff auf die Resultate der laufenden Analyse durch die UBS bekommen. Die PUK muss ihre Untersuchungen so weit treiben, dass sie der Öffentlichkeit anschliessend Auskunft geben kann, ob die exorbitanten Spekulationsgeschäfte überhaupt einen volkswirtschaftlichen Nutzen haben. Oder ob der grösste Teil der Derivategeschäfte – was bereits ziemlich klar ist – nur den Boni-Empfängern und Aktionären nützt.

Umso dringender stellt sich die Frage, wie eine (Gross-)Bank aussehen soll, damit der Staat sie aus der Vollkasko-Haftung entlassen kann.

Die Bankenlobby wetzt die Messer

Bereits wärmt die Bankenlobby das Uralt-Argument des Wettbewerbsnachteils auf und bringt es unter die Leute. Scharfe Regulierungen würden dem Finanzplatz Schweiz schaden. Andere Banken würden in Mitleidenschaft gezogen und und und. Wie nach 2008 in den USA, Grossbritannien, Frankreich oder Deutschland, als sich besorgte Politiker und Politikerinnen (Merkel war auch dabei) einschüchtern liessen und Angst um ihre Bankenplätze bekamen.

Eines der schönsten Lobby-Beispiele dazu ist die über Jahre geführte Durchlöcherung des Dodd-Frank-Acts von 2010 durch die US-Grossbanken. Neue Regulierungen sollten ein «Too big to fail» in der Zukunft verunmöglichen. Der Chef von JP Morgan Chase hatte mehr als ein Dutzend Kongressabgeordnete höchstpersönlich kontaktiert, um das gewünschte Gegensteuer zu geben. Und Citicorp schrieb eine wichtige Passage der vermeintlichen Wall-Street-Gesetzgebung gleich selber um. Dies, nachdem die Bank im Sturm 50 Milliarden an Rettungsgeldern bekommen hatte.

Auch in der EU wurden vor fünfzehn Jahren Hunderte von Milliarden an Steuergeldern in die Rettung angeschlagener Banken gepumpt. Dafür sollten im Gegenzug deren hochspekulative Geschäfte gesetzlich eingeschränkt und besteuert werden. Doch die Finanzlobby verhinderte das Vorhaben weitgehend – dank dem Internationalen Bankenverband IIF unter Vorsitz des Schweizers Josef Ackermann.

Lief es in der Schweiz bisher anders? Nein. Die Parlamentsprotokolle der entsprechenden Debatten in den letzten Jahren können allesamt nachgelesen werden. Besonders peinlich ist die Lektüre für die FDP. Die gegenwärtigen Kommmunikationsverrenkungen passen dazu. Devise: «Möglichst abwarten und nichts überstürzen.»

Die Schweizer Bankenlobby kann sich freuen.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Oben      —     Monte Carlo, Monaco 23rd May 2013 Nico Rosberg, Mercedes W04. World Copyright: Charles Coates/LAT Photographic ref: Digital Image _N7T1433

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Signal-Chefin Whittaker:

Erstellt von Redaktion am 14. April 2023

„Die Maßnahmen ebnen den Weg in eine dunkle Zukunft“

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Meredith Whittaker

Regierungen präsentieren uns technische Lösungen für komplexe gesellschaftliche Probleme. Doch diese Art des magischen Denkens gefährdet unsere freie Gesellschaft. Wir veröffentlichen die gekürzte Rede der Signal-Chefin Meredith Whittaker zum 20. Geburtstag der Bürgerrechtsorganisation EDRi.

 

Ich möchte über die Dinge sprechen, die mich nachts wachhalten. Dazu zählt vor allem die derzeitige Flut an Regulierungsvorschlägen, die falsche technische Lösungen für komplexe soziale Probleme anbieten. Diese Lösungen setzen das Recht auf Privatsphäre mit Fehlverhalten gleich. Und sie wollen gegen schlechte Taten vorgehen, indem sie die Privatsphäre abschaffen.

Die Wiederkehr fadenscheiniger Lösungen

In meinen knapp zwanzig Jahren in der Tech-Branche habe ich erlebt, wie die immer gleichen Gespräche aufkamen, abklangen und zurückkehrten – und wie dabei immer wieder die gleiche Form des magischen Denkens aufschien.

Das Muster sieht in etwa wie folgt aus: Ein komplexes, erschütterndes soziales Problem zieht die Aufmerksamkeit von Regulierungsbehörden und Medien auf sich. Jede:r erkennt die Schwere des Problems an und die Dringlichkeit, es zu lösen. Wir sind beunruhigt, besorgt und emotional. Und die Menschen sputen sich, „etwas zu tun“.

Dann wird uns die gleiche fadenscheinige „Lösung“ präsentiert: Um das Unrecht in der Welt zu beseitigen, heißt es dann, müsse man die private Kommunikation einschränken.

Die Gefahren der Massenüberwachung

Die Geschichte der Datenverarbeitung ist gespickt mit Episoden, die die Gefahren der Massenüberwachung veranschaulichen. Sie reicht vom Einsatz der Hollerith-Maschinen von IBM durch die Nazis, die damit den Holocaust organisierten, über den illegalen Zugriff US-amerikanischer Behörden auf die Volkszählungsdaten, um so japanische Amerikaner:innen zu identifizieren und zu internieren, bis hin zu den Bestrebungen des südafrikanischen Apartheidregimes, die Durchsetzung der Segregation zu digitalisieren. Und heute händigen die Technologiekonzerne bereitwillig die Daten ihrer Nutzer:innen aus, die in den Vereinigten Staaten kriminalisierte medizinische Versorgung suchen.

Aber ich glaube nicht, dass ich mich allzu lange mit der Historie aufhalten muss. Wir alle kennen die Gefahren der Massenüberwachung, insbesondere in autoritären Zeiten.

Die Geschichte der Kommunikationstechnologie prägt aber auch das magische Denken zahlreicher Regierungen, die sprichwörtlich ein Omelett zubereiten wollten, ohne dafür Eier zu zerschlagen. Ihr Ziel war es etwa, Hintertüren zu schaffen, auf die nur die „Guten“ zugreifen können. Vor den Bedrohungen, die von „allen anderen“ ausgehen, waren diese Hintertüren angeblich sicher.

Es gibt keine guten Hintertüren

Solche Versuche sind immer gescheitert. Der berüchtigte Clipper-Chip ist nur ein Beispiel von vielen. Millionen von Dollar wurden für derlei Bemühungen verschwendet und entsprechende Projekte sind immer wieder auf Eis gelegt worden. Denn die Wahrheit ist, dass jedes System, das „uns“ Zugang verschafft, genauso schnell von „ihnen“ ausgenutzt werden kann – von feindlichen Akteur:innen, die jene kritischen Infrastrukturen kompromittieren, auf die Regierung, Wirtschaft und zivile Einrichtungen angewiesen sind.

Dennoch taucht diese Art des magischen Denkens immer wieder auch heute noch auf – etwa in den fehlgeleiteten Bestimmungen des britischen Online-Sicherheitsgesetzes, in der EU-Verordnung zur Chatkontrolle oder in den Kämpfen um die Vorratsdatenspeicherung auf Länderebene. Als Beispiele für Letzteres dienen der Angriff auf verschlüsselte Kommunikationsdienste in Belgien oder die Debatten darüber, ob die Vorratsdatenspeicherung privater Kommunikationsdaten zulässig oder auch nur eine kluge Idee ist.

Nicht immer fällt in diesen Debatten das Wort „Hintertür“. Tatsächlich sind die Überwachungsvorschläge, zumindest was das politische Framing betrifft, in den vergangenen Jahren ausgefeilter geworden. Bei der CSAM-Gesetzgebung der EU behaupten beispielsweise viele, dass ihre Vorschläge mit der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung vereinbar seien – ohne dafür Belege zu liefern. Dabei wollen sie Praktiken etablieren, welche die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung faktisch schwächen, wenn nicht gar abschaffen.

Ein faustischer Pakt

Andere schlagen eine ebenso gefährliche, aber neuere Variante des magischen Denkens vor. Sie räumen zwar ein, dass Hintertüren nicht der richtige Weg sind. Stattdessen schlagen sie eine Massenüberwachung „außerhalb“ der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung vor, wobei sie meist auf clientseitige Scan-Systeme (CSS) verweisen.

Keine Sorge, versichern sie uns, wir werden eure Nachrichten auf euren Geräten scannen, bevor sie verschlüsselt sind. Wir werden sie mit unseren undurchsichtigen Datenbanken verbotener Sprache abgleichen, um sicherzustellen, dass Ihr euch innerhalb der von der Regierung genehmigten Grenzen der Meinungsäußerung bewegt. Und danach? Danach könnt ihr weitermachen wie bisher und eure Daten verschlüsseln.

Das clientseitige Scannen ist ein faustischer Pakt, der die Prämisse der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zunichtemacht. Denn dieser Pakt schreibt eine zutiefst unsichere Technologie vor, die es einer Regierung ermöglicht, buchstäblich jede Äußerung zu überprüfen, bevor sie ausgesprochen wird.

KI ist keine Wunderwaffe

CSS wirft noch weitere Probleme auf. Denn diese Systeme stützen sich auf sogenannte „Künstliche Intelligenz“ (KI). Diese Technologien produzieren jedoch folgenreiche Fehlalarme. Und sie können durch Angriffe gehackt werden, gegen die es nur wenige Möglichkeiten der Verteidigung gibt. Die EU verhandelt derzeit eine KI-Verordnung, um auf diese Herausforderungen zu reagieren. In diesem Zusammenhang halte ich es für unerlässlich, dass wir jene Menschen in die Diskussion über client-seitiges Scannen einbeziehen, die die Fehler und Schwächen von KI-Systemen sorgfältig erforscht haben. Wir müssen anerkennen, dass KI hier wie auch anderswo keine Wunderwaffe ist.

Es ist gleichsam überraschend wie verwirrend, dass Prominente, Meinungsmacher:innen und nicht zuletzt Politiker:innen behaupten, dass es technologische Lösungen gebe, die Inhalte auf verbotene Äußerungen scannen können, ohne dafür die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu knacken.

Ich bin weder eine Prominente noch eine Influencerin. Aber ich kenne mich mit Technik aus. Und ich möchte betonen, dass es so etwas nicht gibt. Es ist schlichtweg unmöglich.

Das Grundrecht auf Privatsphäre wird ausgelöscht

Jene, die das Gegenteil behaupten, sind daher entweder schlecht informiert oder sie befinden sich in einem besorgniserregenden Zustand der Realitätsverleugnung. Oder aber sie sind auf gefährliche Weise zynisch, weil sie hoffen, dass sie – indem sie unsinnige technische Lösungen versprechen –weitere Überwachungsgesetze verabschieden können, bevor jemand davon Wind bekommt.

Eine Welt ohne Privatsphäre ist jedoch eine Welt, in der Machtasymmetrien wie in Bernstein eingeschlossen sind. Es ist eine Welt, in der Dissens gefährlich und in der Intimität riskant ist. Und es ist eine Welt, in der die Kräfte für das Erforschen neuer Ideen, das Stellen von naiven Fragen oder das Ausarbeiten noch unausgegorener Gedanken verkümmern.

Wenn in einer Welt, die so sehr auf digitale Kommunikation angewiesen ist, die Verschlüsselung gebrochen wird, löscht dies das Grundrecht auf Privatsphäre faktisch aus. Und auch die Sicherheit digitaler Infrastrukturen wird gefährdet, auf die sich Handel, Regierung und Zivilgesellschaft verlassen.

Es ist Zeit, in die Realität zurückzukehren

In Ungarn werden homosexuelle und transsexuelle Menschen diskriminiert und kriminalisiert, ebenso wie LGBTQ-Literatur und -Äußerungen. In den USA, wo ich lebe, sieht ein Gesetzentwurf im Bundesstaat South Carolina die Todesstrafe für Menschen vor, die kriminalisierte reproduktive Gesundheitsdienste in Anspruch nehmen. Und in sämtlichen US-Bundesstaaten gibt es Gesetzesvorschläge, die gleichgeschlechtliche Ehen kriminalisieren. Einige Staaten erwägen gar ein Verbot von Ehen zwischen unterschiedlichen Ethnien.

Warum erwähne ich das? Weil in Zukunft zu viele fordern könnten, mit Hilfe von CSS eine verbotene Meinungsäußerung, eine verbotene Liebe, eine unzulässige Identität aufzuspüren. Weil in Zukunft zu viele forder könnten, dass dafür ihre magischen Hintertüren verwendet werden und ihr Massenüberwachungsregime zur Bestrafung anderer eingesetzt wird.

Jessica Burgess, eine 41-jährige Mutter aus Nebraska, hat bereits einen Vorgeschmack auf diese Zukunft erhalten. Im Jahr 2022 gab Facebook Nachrichten zwischen Jessica und ihrer Tochter an die Strafverfolgungsbehörden weiter. Diese Nachrichten wurden dazu verwendet, um sie wegen einer Straftat anzuklagen. Denn die Mutter hatte ihrer Tochter dabei geholfen, reproduktive Gesundheitsfürsorge in einem Staat zu erhalten, wo diese Fürsorge von einem Tag auf den anderen für illegal erklärt worden war.

Es ist an der Zeit, in die Realität zurückzukehren. Komplexe soziale Probleme müssen ernsthaft angegangen werden. Sie werden aber nicht dadurch gelöst, dass man sie als emotionalisierenden Vorwand einsetzt, um die Privatsphäre abzuschaffen. Mit welch scheinbar noblen Gründen sie auch gerechtfertigt werden: Die Maßnahmen, die derzeit in Europa, im Vereinigten Königreich und darüber hinaus erwogen werden, ebnen den Weg in eine dunkle Zukunft.

Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung einer Rede, die Meredith Whittaker anlässlich des 20-jährigen Bestehens von EDRi gehalten hat. EDRi ist ein Zusammenschluss von Bürgerrechtsorganisationen, die sich dem Datenschutz und den digitalen Freiheitsrechten verschrieben haben.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquelle :

Oben     —     Meredith Whittaker bei einer Kongressanhörung zum Thema Künstliche Intelligenz

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Zeitenwende in Mali

Erstellt von Redaktion am 13. April 2023

Die Putschregierung in Bamako genießt hohes Ansehen

Waren die Bürger-innen von Mali am Ende froh die Besetzer los zu sein?

Ein Debattenbeitrag von Olaf Bernau

Die Putschregierung in Bamako genießt hohes Ansehen, auch außerhalb des Landes. Der Westen muss sein Vorgehen im Sahel völlig neu ausrichten. Win-win lautet das neue Credo: Geschäfte mit allen, die gute Konditionen bieten – auch mit China und Russland.

Als die aus einem Doppelputsch hervorgegangene malische Übergangsregierung am 23. Februar in der UN-Vollversammlung die Verurteilung des russischen Angriffskriegs in der Ukraine ablehnte, war die Empörung groß. Der Bundeswehrverband forderte, dass Deutschland seine Beteiligung an der UN-Friedensmission Minusma in Mali beenden müsse, selbst im Auswärtigen Amt wuchsen die Zweifel. Das Abstimmungsverhalten schien bestens in das Bild einer wild gewordenen Militärjunta zu passen, die immer enger mit Russland kooperiert, die Kri­ti­ke­r:in­nen mundtot macht und die sich auf Konfrontationskurs mit dem Westen befindet.

Gleichwohl wäre die deutsche Öffentlichkeit gut beraten, genauer zu klären, was in Mali tatsächlich passiert. Denn breite Teile der malischen Bevölkerung schauen optimistisch in die Zukunft, laut verschiedenen Quellen stehen 70 bis 90 Prozent der Menschen an der Seite der Übergangsregierung. Auch in anderen afrikanischen Ländern gilt Mali als Vorreiter, als ein Land, das sich traut, dem Westen die Stirn zu bieten. Die viel gelesene Internetzeitung Agence Ecofin ließ im Februar ihre Le­se­r:in­nen darüber abstimmen, welche afrikanischen Persönlichkeiten das größte Vertrauen genießen. Assimi Goita, Chef der malischen Übergangsregierung, landete auf Platz 4. Vor ihm firmierten lediglich ein nigerianischer Unternehmer, ein kamerunischer Journalist und ein senegalesischer Fußballstar.

Umfragen sind flüchtig, dennoch kommt die Zustimmung nicht von ungefähr. Am wichtigsten dürfte Malis Haltung gegenüber Frankreich sein, dessen selbstherrliches und ineffektives Agieren im Antiterrorkampf schon lange in der Kritik steht. Als die ehemalige Kolonialmacht im Juni 2021 den Abzug ihrer Truppen verkündete, bat die malische Regierung nicht um Aufschub, sondern meinte kühl, dass dies Frankreichs eigene Entscheidung sei. Gleichzeitig intensivierte sie die vom Westen heftig kritisierte Zusammenarbeit mit Russland. Hierzu gehörten auch Waffenlieferungen wie Hubschrauber und Radartechnik, was Frankreich jahrelang verweigert hatte, mit dem Effekt, dass Mali militärisch abhängig blieb. Ähnlich 2022, als die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas Mali mit Wirtschaftssanktionen überzog, nachdem die Übergangsregierung eine Verschiebung der regulären Wahlen angekündigt hatte. Auch hier blieben die Militärs abgeklärt, obwohl die Sanktionen schärfer waren als alle bis heute gegen Russland verhängten Maßnahmen.

Bandschnalle für die Täuscher des tarnens und verpissen – natürlich in Braun.

Aus westlicher Sicht glich dies einem Vabanquespiel. Doch viele Ma­lie­r:in­nen ziehen eine andere Bilanz. Sie verweisen auf die verbesserte Sicherheitslage, darunter auch Bauern und Bäuerinnen im Office du Niger, einem von Terrorgruppen immer wieder heimgesuchten Bewässerungsgebiet im Zentrum des Landes: Die großen Straßen seien wieder passierbar, die Felder zugänglich, das kollektive Sicherheitsgefühl habe sich spürbar erhöht. Das ist natürlich nur ein Ausschnitt, in anderen Regionen sieht es schlechter aus, zumal das Banditenwesen allenthalben explodiert ist. Und doch gibt es einen übergreifenden Konsens: Die 2012 kollabierte Armee habe sich erholt, die Durchsetzungsfähigkeit der Terroristen sei im Schwinden, trotz punktueller Herrschaft über einzelne dörfliche Gebiete. Entsprechend seien auch UN-Berichte mit Vorsicht zu genießen, wonach sich die Zahl getöteter Zi­vi­lis­t:in­nen von 2021 bis 2022 verdoppelt habe. Denn Ter­ro­ris­t:in­nen und Zivilbevölkerung seien keine trennscharfen Gruppen, auch wenn kaum jemand die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte bestreitet. Als Erfolge gewürdigt werden der verstärkte Kampf gegen Korruption, höhere Investitionen in die Infrastruktur und Fortschritte im Justizwesen. Und natürlich der Umstand, dass Assimi Goita wieder Zukunftshoffnung geweckt habe.

Aus Sicht der einstigen politischen Klasse ist dies Propagandakitsch, sie spricht von Diktatur: Wahlen seien nicht in Sicht, der Präsident solle zukünftig noch stärkere Rechte erhalten und mehrere Menschen säßen wegen Meinungsdelikten in Haft. Die Kritik ist nicht ganz von der Hand zu weisen, und doch wirkt vieles überzogen. Aufschlussreicher ist daher, was jene Akteure sagen, die im Sommer 2020 zum Sturz von Präsident Ibrahim Boubacar Keita beigetragen haben, deren Urteil also nicht von der Erfahrung des Privilegienverlustes geprägt ist. Nicht wenige zeigen sich ebenfalls ernüchtert, sie kritisieren mangelnde Visionen und Gesprächsbereitschaft der Militärs, etwa der Filmregisseur Cheik Oumar Sissoko. Sie warnen davor, dass die freiwillige Nichtinanspruchnahme von Grundrechten wie Redefreiheit zur Friedhofsstille führen könnte. Und doch betonen auch sie, dass eine Rückkehr zum früheren Status quo nicht wünschenswert sei.

Quelle         :         TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

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Oben        —       Casques bleus burkinabés de la MINUSMA à Ber, au Mali, en janvier 2017.

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Verkehr als Klimaproduktion

Erstellt von Redaktion am 13. April 2023

Setzen Elektroautos die Ausbeutung von Arbeit und Natur fort?

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Quelle        :     Berliner Gazette

Von        :      · ALLIED GROUNDS

Die viel beschworene Mobilitätswende wird von konkurrierenden Industrien dominiert. Aber auch Akteur*innen der Zivilgesellschaft sowie Arbeiter*innen und Gewerkschaften im Allgemeinen sind an den Kämpfen beteiligt. Es gibt Stimmen, die eine Veränderung des gesamten Produktionssystems fordern. Wäre dies nicht ein Ansatzpunkt für klassenübergreifende Bündnisse, die einen Übergang vom ausbeuterischen und umweltverschmutzenden Kapitalismus zu einer ökosozialistischen Gesellschaft katalysieren? In seinem Beitrag zur BG-Textreihe “Allied Grounds” zeichnet der Forscher John Szabo den Konflikt nach.

Die Verbrennung fossiler Brennstoffe geht weiter, und die Emissionen erreichten 2022 einen neuen Höchststand, so dass das von den Regierungen in Paris vereinbarte 1,5°C-Ziel zunehmend außer Reichweite gerät. 23 % dieser Emissionen stammen aus dem Verkehrssektor, wovon der überwiegende Teil auf den Straßenverkehr entfällt. Die Schuldigen sind Personenkraftwagen. Individualisierte Verkehrsmittel, die auf dem erdölverschlingenden Verbrennungsmotor basieren, sind das Herzstück und der Mittelpunkt der “Klimaproduktion“.

Der Pkw steht dem weiteren Ausbau des fossilen Kapitalismus im Wege, da die Anzahl und Materialintensität der Fahrzeuge ein nicht nachhaltiges wachstumsorientiertes Paradigma unterstützt. Die Dekarbonisierung des Transportwesens scheint unaufhaltsam voranzuschreiten, da Elektrofahrzeuge (EVs) sowohl die Märkte als auch die Vorstellungskraft der Verbraucher erobert haben, die darin einen Beitrag zu einer kohlenstoffarmen Zukunft sehen. Dadurch wird der fossile Kapitalismus in eine etwas weniger kohlenstoffintensive Zukunft geführt, aber der Wandel selbst birgt das Risiko, soziale Ungleichheiten zu verschärfen und sozial-ökologisch ausbeuterische Praktiken aufrechtzuerhalten: Er ist ein Wolf im Schafspelz.

Das Automobil wird als technisches Wunderwerk gepriesen, das seit Beginn des 20. Jahrhunderts einen schnelleren Transport ermöglichte. Es wurde zu einem Objekt des auffälligen Konsums, das die Wohlhabendsten im öffentlichen Raum nutzten. Diese Objekte der Begierde bildeten eine Dialektik mit der Expansion des Erdölsektors: Die Produzent*innen bohrten Millionen von Bohrlöchern und die Raffinerien setzten komplexe Technologien ein, um den Kraftstoff bereitzustellen.

Zentral für die “Klimaproduktion”

Das Auto ist ein technisches Artefakt, das die Umwandlung von fossilen Brennstoffen in Mobilität und Emissionen vermittelt. Sein Aufstieg ist eng mit dem industriellen Kapitalismus verknüpft. Die Hersteller*innen übernahmen weitgehend die Grundsätze des Taylorismus, rationalisierten die Produktion und ermöglichten die vollständige Entfremdung der Arbeit. Parallel dazu ebnete der Fordismus den Weg für die Konsumgesellschaft, indem er dafür sorgte, dass Produktion und Konsum eine Wachstumsspirale in Gang setzten. Das Rezept war einfach: Einem Teil der Arbeiter*innen sollte so viel Lohn gezahlt werden, so dass sie diese Gegenstände selbst kaufen konnten. Dies würde eine größere Verbraucher*innenbasis ermöglichen, die die Beschleunigung der Kapitalakkumulation gewährleisten würde.

Der Pkw wurde zu einem wesentlichen Bestandteil des täglichen Lebens in den Industrieländern, als deren Anzahl und die entsprechende Infrastruktur wuchsen. Sie standen im Mittelpunkt des anhaltenden Wirtschaftswachstums in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Unternehmen wie Toyota eine Schlüsselrolle im “japanischen Wirtschaftswunder”, General Motors im “Goldenen Zeitalter des Kapitalismus” in den USA oder Volkswagen im deutschen “Wirtschaftswunder” spielten. Arbeit und Kapital wurden in ihrem Streben nach Wirtschaftswachstum gleichgeschaltet, während die Auswirkungen der Produktion auf die Umwelt vernachlässigt wurden.

Ein boomender Automobilsektor wurde zum zentralen Faktor der “Klimaproduktion”, da die Emissionen aus Raffinerien und Auspuffrohren in den 1960er und 1970er Jahren spürbare Auswirkungen hatten. Einflussreiche Werke wie Rachel Carsons “Silent Spring” oder die “Grenzen des Wachstums” des Club of Rome beschäftigten sich mit den ökologischen Folgen eines ungebremsten Wirtschaftswachstums und forderten Maßnahmen zur Begrenzung der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und der Emissionen giftiger Stoffe in die Ökosphäre.

Länder auf der ganzen Welt haben Maßnahmen zur Verringerung der Umweltverschmutzung ergriffen, die jedoch von der steigenden Zahl der Fahrzeuge überschattet wurden. Deutschland und Frankreich führten in den 1960er Jahren Umweltvorschriften ein, während der US-Kongress 1965 erstmals Schadstoffe regulierte. Diese waren notwendig, weil die Erdölprodukte (Benzin oder Diesel) Schwefel enthielten und bei ihrer Verbrennung Schwefeldioxid in die Atmosphäre freisetzten. Dies führte zur Versauerung des Wassers und zu saurem Regen, was 1972 auf der Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt des Menschen in Stockholm ein wichtiges Thema war. Hier wurde die Autonutzung nicht als Teil der “Klimaproduktion” in dem Sinne gesehen, wie wir sie derzeit im Zusammenhang mit dem globalen Klimawandel diskutieren. Aber man war sich schon bewusst, dass er gravierende lokale Klima- und Umweltauswirkungen hat. Insofern wurden damals gewisse Voraussetzungen für das heutige Verständnis der Problematik geschaffen.

Fortschrittliche Technologie vs. Arbeit

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschärften die Regierungen schrittweise die Umweltvorschriften für Personenkraftwagen. Nach den Ölkrisen der 1970er Jahre konzentrierte sich Europa auf die Kraftstoffeffizienz, was sich tendenziell auch positiv auf die Kohlendioxidemissionen auswirkte. Dieselkraftstoff wurde zur bevorzugten Technologie, die als effizienter und angesichts der allgemeinen Steuerpolitik der EU in Bezug auf diesen Kraftstoff auch als kostengünstiger aus Sicht der Verbraucher*innen angesehen wurde. Gleichzeitig widersetzten sich die Hersteller*innen anderen strengen Umweltvorschriften. Auf der anderen Seite des Atlantiks zielten die US-Regulierungsbehörden auf NOx- und Partikelemissionen ab, während sie dem Gesamtverbrauch weniger Bedeutung beimaßen. Bei beiden Ansätzen wurde ein wichtiger Faktor vernachlässigt: die Größe. Die US-Vorschriften ließen die Autos und ihre Motoren wachsen, während die EU-Kohlendioxidvorschriften, die im Zuge ihrer Umweltpolitik eingeführt wurden, gewichtsbezogene Emissionsnormen einführten. Die Fahrzeugflotte wurde in beiden Märkten schwerer, materialintensiver und leistungsfähiger.

Personenkraftwagen wurden zu einem Hauptbestandteil der “Klimaproduktion”, aber da diedamit verbundenen Industrien Millionen von Menschen beschäftigen und eine wichtige Triebkraft des Wirtschaftswachstums sind, schien es wenig Bereitschaft zu geben, sie abzubauen und den Verkehrssektor von Grund auf neu zu überdenken. Dies zeigte sich auch an den Positionen der Gewerkschaften. Diejenigen in Europa, die noch Einfluss auf die Führung der jeweiligen nationalen Automobilsektoren haben, neigten dazu, den Zusammenhang zwischen Arbeitsplätzen und Emissionen als Nullsummenfrage zu betrachten. Die allgemeine Auffassung war, dass die höhere Technologie- und Kapitalintensität der E-Fahrzeuge die relative Macht der Arbeiter*innen in diesem Sektor weiter schwächen und Arbeitsplätze überflüssig machen würde.

Die Gewerkschaften lehnten den “grünen Übergang” ab, weil die Technologieintensität der E-Fahrzeugherstellung die Waage weiter zugunsten des Kapitals kippt und es kaum Anzeichen für eine angemessene Sozialpolitik seitens der Staaten gibt, um dies auszugleichen. Die Staaten selbst haben sich auf einen Wettlauf nach unten eingelassen, um die E-Märkte zu erobern und ihre geoökonomische Vorherrschaft zu sichern. Sie stehen in einem globalen Wettbewerb gegeneinander, der ihre relative Macht in globalen Angelegenheiten untergraben könnte, wenn sie ihn verlieren. Um die E-Märkte zu erobern, investierten die USA massiv in Tesla, Deutschland unterstützte nationale Champions, während China seit Jahren staatliche Mittel in den Sektor fließen lässt. Die Staaten unterstützten die Aktivitäten der Unternehmen, indem sie Industrie-, Bildungs- und eine Reihe anderer Politikbereiche den Bedürfnissen dieser privaten Akteur*innen unterwarfen, damit diese auf den globalen Märkten erfolgreich sein konnten.

Warum aber sollten wir in diesem Kontext von einem Wolf im Schafspelz sprechen? Der Umstieg auf Elektrofahrzeuge beinhaltet eine Form der “Klimaproduktion”, die weniger direkt mit den Auspuffemissionen verbunden ist. Es sind nicht die Autofahrer*innen, die Emissionen verursachen, wenn sie pendeln, sondern die verkörperten Emissionen – also nicht der Verbrauch, sondern die produktionsbedingten Emissionen. Die Herkunft des Stroms und der Materialien werden für die “Klimaproduktion” von zentraler Bedeutung sein. Im besten Fall wird dies kohlenstoffarm sein. Die Elektrizität wird bei den derzeitigen Entwicklungen irgendwann dekarbonisiert werden, und sogar der Bergbau, der für die Bereitstellung der Materialien für die Fahrzeugproduktion erforderlich ist, könnte relativ emissionsfrei werden. In diesem Prozess können die Lebenszyklusemissionen von Elektrofahrzeugen sinken, aber ihre Produktion wird weiterhin auf zutiefst ungleichen, ausbeuterischen Praktiken beruhen, die Arbeiter*innen und derUmwelt schaden.

Nehmen wir die Batterieproduktion, bei der wichtige Rohstoffe wie Kobalt in der Demokratischen Republik Kongo und Lithium in Australien und Chile konzentriert sind. Diese Ressourcen müssen abgebaut werden, in der Regel unter laxen Umwelt- Arbeitsvorschriften, also zum Nachteil der Arbeiter*innen, der lokalen Bevölkerung und der Umwelt. Anschließend müssen sie verschifft werden – ein schwer zu dekarbonisierender Sektor, der auf Schweröl angewiesen ist –, um dann raffiniert zu werden, in der Regel in China. Kohle dominiert hier weiterhin den Energieeinsatz, da sowohl die Arbeits- als auch die Umweltgesetze weiterhin lax sind. Danach müssen Batterien hergestellt werden, was nicht nur ressourcenintensiv ist, sondern auch eine hohe Wasser-, Energie- und Abfallintensität aufweist. Länder, die Gefahr laufen, im Zuge der Abkehr vom Verbrennungsmotor Arbeitsplätze und Wachstumsperspektiven zu verlieren, sind der Batterieindustrie entgegengekommen, haben dabei aber fragwürdige Praktiken eingeführt. Letzteres spiegelt sich nicht zuletzt in der wachsenden sozialen Opposition in Fällen wie Ungarn und Polen wider.

Die Herausforderungen für die Arbeitnehmer

Das neue technologische System wird eine Reihe von Lock-Ins in Gang setzen, die den Einfluss der Arbeiter*innen – und damit die demokratische Entscheidungsfindung – auf die Energiewende und eine kohlenstoffarme Gesellschaft weiter aushöhlen werden. Alle Prozesse, die an der Produktion von E-Fahrzeugen beteiligt sind – vom Bergbau über die Batterieproduktion bis hin zur Herstellung dieser Fahrzeuge – sind hoch automatisiert und erfordern weniger Arbeit. Dies könnte durch eine steigende Produktion kompensiert werden, doch damit wird ein wachstumsorientiertes Paradigma aufrechterhalten, das weiterhin extrem materialintensiv ist. Das Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit wird sich weiter zugunsten der ersteren verschlechtern, und eine Umkehrung wird immer schwieriger. Die Gewerkschaften sind davon abgekommen, den Übergang als Nullsummenspiel zwischen der Produktion von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren und einem kohlenstoffarmen Übergang zu betrachten, aber sie konzentrieren sich noch immer auf ihren eng definierten Auftrag, Arbeitsplätze für ihre Mitglieder*innen zu sichern.

Die Gewerkschaften müssen die Gunst der Stunde nutzen und auf eine länder- und branchenübergreifende Organisation drängen, die darauf abzielt, den Übergang mit der Abschaffung anderer ausbeuterischer Praktiken und der Einführung alternativer Lösungen zu verbinden. Die Technologie wird die Arbeitsintensität der Produktion verringern und damit Länder, Unternehmen und Arbeiter*innen gegeneinander ausspielen. Anstatt zu versuchen, dieses System zu verlängern, müssen sozialpolitische Maßnahmen, die sich mit dieser Entwicklung befassen, ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Jene sollte sich nicht nur auf die Frage des allgemeinen Grundeinkommens beschränken, sondern auch die Möglichkeit eines allgemeinen Grundauskommens, d. h. einer allgemeinen Grundversorgung, in Betracht ziehen. Und die universelle Grundversorgung sollte nicht eine Frage des “ob”, sondern des “wie bald” und des “wie umfassend” sein.

Die Gewerkschaften sind auch in der Lage, bei den Unternehmen darauf hinzuwirken, dass sie von einem Profil abrücken, das sich weiterhin auf den Individualverkehr konzentriert, und sich für eine größere Rolle des öffentlichen Verkehrs, ein Umdenken in den Städten und Vorstädten, den Ausbau des Fahrradverkehrs und der Fahrradinfrastruktur usw. einsetzen. Die Gewerkschaften und damit die Arbeiter*innen im Allgemeinen müssen den derzeitigen Bruch im gesellschaftspolitischen System als einen erkennen, der nicht durch die Ersetzung von 3+°C-Klimaproduktionsverfahren durch solche, die mit dem 1,5°C-Ziel vereinbar sind, zu beheben ist. Diese sind schließlich zutiefst ausbeuterisch und sozial-ökologisch nicht nachhaltig und verleihen dem Kapital weiterhin Macht über die Arbeiter*innen, wodurch Ungleichheiten verschärft werden. Insofern sollten Arbeiter*innen, solange sie noch eine gewisse Macht haben, diese nutzten, um sich dem Aufstieg des grünen Kapitalismus zu widersetzen und einen proto-sozialistischen Übergang zu ermöglichen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “Allied Grounds” der Berliner Gazette; die englische Fassung finden Sie hier. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “Allied Grounds”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://allied-grounds.berlinergazette.de

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Oben       —     electric car recharging in Berlin, Germany – dummy/fake registration plate and charging station logo

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von Redaktion am 13. April 2023

„Krieg und Frieden“
Kein Kinderspiel

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Aus Minsk Janka Belarus

Zu den  Verhältnissen von Belarus und Ukraine. Belarus und die Ukraine üben sich in wechselseitiger Einschüchterung. Mit Großplakaten an der Grenze setzen sie die Gegenseite unter Druck.

Schon seit Längerem beschwert sich Belarus darüber, dass ukrainische Grenzschützer das angrenzende Gebiet verminen und obszöne Gesten zeigen. „Frage: Warum musste eine weitere Reihe von Minen auf dem Weg platziert werden?“, heißt es in einer offiziellen Mitteilung. Ja, warum eigentlich? Vielleicht, weil seit mehr als einem Jahr Krieg herrscht und der Sabotageakt belarussischer Partisanen an einem russischen Kampfflugzeug eine Welle von Verhaftungen und Repressionen nach sich zog?

Es ist nicht erstaunlich, dass gerade an Orten wie der Grenze der Informationskrieg eskaliert. Die Menschenrechts-Website Gulagu.net berichtet, dass Russland Söldner nach Belarus schickt, um Anschläge zu begehen. Diese sollen Minsks Machthaber Alexander Lukaschenko zwingen, sich am Krieg gegen die Ukraine zu beteiligen. Die Söldner würden vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB und vom Verteidigungsministerium kontrolliert. Sie sollen bereit sein, sich ukrainische Uniformen anzuziehen und in Belarus Sabotageakte zu begehen.

Die Ukrainer verstärken derweil die Grenze zum nördlichen Nachbarn. Sie zeigen nicht nur offen Panzerabwehrgräben und Minenfelder, sondern nutzen auch Mittel der psychologischen Kriegsführung. Große Plakatwände haben sie an der Grenze aufgestellt, mit Appellen an Lukaschenkos Armee. Und neben der blau-gelben ukrainischen weht die weiß-rot-weiße nunmehr verbotene belarussische Flagge.

Minsk hat darauf so geantwortet, dass das Regime an fünf Grenzübergängen ebenso propagandistische wie kreative Meisterwerke aufgestellt hat, mit doppeldeutigen Aufschriften. Auf einem dieser Plakate sieht man die ukrainische Hauptstadt Kyjiw und durch ein Vergrößerungsglas einen amerikanischen Soldaten vor dem Hintergrund einer US-Flagge. Darauf steht in riesigen Lettern: „Wir helfen der Ukraine, die wahren Okkupanten zu finden.“

Im belarussischen Fernsehen beschwerte sich Sergej Pawlow, offizieller Vertreter des Grenzregiments von Mosyr, dass die Ukrainer „eine Attrappe eines erhängten Soldaten in russischer Uniform mit dem Namen Valera aufgestellt haben. Sie gaben an, dass es sich dabei um einen Wehrdienstleistenden handele, der bei Kyjiw getötet worden sei.“ Pawlow sagte, dass dies angeblich die belarussischen Grenzschützer „einschüchtere“ und „psychologischen Druck“ auf sie ausübe.

Quelle         :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen 

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Oben     —      Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Keine klare Ansage

Erstellt von Redaktion am 12. April 2023

Es ist irritierend, wie Emmanuel Macron Chinas Staatschef hofiert.

Die Männer zeigen schon wie sie die EU auf Distanz halten

Ein Schlagloch von Jagoda Marinic

Macron besucht Xi Jinping. Dort wird fröhlich mit Kohle geheizt, hier predigt man den Einbau von Wärmepumpen. Die Aushöhlung der politischen Haltung führt bei vielen Bürger-innen zu euner Art Nihilismus.

In welcher aller Welten leben wir gerade? Ich weiß es nicht mehr, und dabei bin ich beruflich ständig mit dem Einordnen von politischen Ereignissen beschäftigt. Wie ist das alles wohl für Leute, deren Beruf nichts mit Politik und Medien zu tun hat, nichts mit Demokratie oder Verwaltung, die einfach mitkommen müssen.

Allein die Debatte über die Wärmepumpen: Noch bevor die Bevölkerung inhaltlich über Vor- und Nachteile aufgeklärt werden konnte, spielt die Ampelkoalition ihre Billigseifenoper, sticht Informationen durch, es kommt zur Panikmache und zu Falschinformationen. Weite Teile der Beobachter des politischen Berlins stürzten sich auf die Rivalität zwischen Christian Lindner und Robert Habeck.

Man hobbypsychologisierte darüber, wer beim Kanzler höher in der Gunst stünde. Die meisten Bürger werden nach Wochen der Debatte den Unterschied zwischen Wärmepumpe und Klimaanlage noch immer nicht kennen. Was sie interessiert, ist, wie sie das alles bezahlen sollen. Aber diese Angst ist vielen, die über das Thema berichten, zu profan. Das überlässt man der Bild, und die dreht den Angstregler ordentlich auf.

Doch auch die politischen Beobachter, die wirksame Klimapolitik fordern und Maßnahmen wie den Einbau von Wärmepumpen als richtigen Weg in die Zukunft bejubeln, verstehe ich nur bedingt. Ihre Zustimmung ist mir einfach zu national. Ja, wir müssen handeln. Doch angesichts der Herausforderung der Klimakrise dienen solche nationalen Debatten doch nur dem eigenen guten Gewissen.

Alleingang löst das globale Problem nicht

Rechte instrumentalisieren die teuren Maßnahmen und mobilisieren, indem sie behaupten, Deutschland wolle nun im Alleingang den Planeten retten und der Steuerzahler solle das alles bezahlen. Populismus, ja, doch er greift. Natürlich hat jedes Land seine eigene Klimapolitik umzusetzen, aber das globale Problem wird der Einbau von Wärmepumpen eben nicht lösen.

Je länger wir auf diese Art debattieren, je mehr sich Bürgerinnen und Bürger in die Opferrollen retten aus finanzieller und intellektueller Überforderung oder einfach nur Erschöpfung, desto instabiler wird unsere Demokratie. Teile der geplanten Maßnahmen sind in Zeiten von Inflation zu teuer, die Wut der Deutschen entlädt sich durch den Zulauf zu rechten Parteien, die weder die Klimakrise noch die Demokratie ernst nehmen.

Zugegeben, alle, die etwas von der Dimension der Klimakatastrophe verstehen, sagen an dieser Stelle: Wenn der Planet für den Menschen nicht mehr bewohnbar ist, wird auch keine Demokratie helfen. Mag sein. Doch den Planeten ernsthaft zu retten, würde internationale Bündnisse erfordern, auch das wissen die Bürger. Wo bleibt die ernst zu nehmende internationale Agenda, das funktionierende globale Bündnis?

In den Armen eines Autokraten

Die Autokraten sind leider wieder auf dem Vormarsch und Klimabündnisse werden immer schwieriger, selbst wenn sich Länder wie China gerne ein Klimaschutzprofil verpassen würden, sprechen die Fakten eine andere Sprache. In welcher aller Welten wacht man auf, wenn En-Marche-Macron plötzlich ein James-Bond-artiges Video von seinem Besuch in China auf seinem offiziellen Twitter-Account verbreitet?

Wer sieht nicht wie klein die EU ist – im Vergleich zu Asien ?

Er marschiert darin geradewegs in die Arme eines autoritären Herrschers, spricht von einer Faszination zwischen China und Frankreich und nennt arschkriecherisch – oh, pardon, höflich natürlich – China zuerst. Es ist eine der großen Perversionen der PR-Möglichkeiten unseres Social-Media-Zeitalters, dass man zwielichtige politische Vorhaben mit weichgespülter Bildsprache vermitteln kann, die auf emotionaler Ebene funktioniert.

Wir sollten an dieser Stelle daran erinnern, dass Macron zuletzt seine Rentenreform auf einem weniger demokratischen Weg durchgesetzt hat – und trotzdem im Amt geblieben ist. In weiten Teilen der deutschen Berichterstattung zeigte man weniger Verständnis für die Wut der Franzosen als für Macrons autoritären Führungsstil. Die Sicherheit Europas hängt nun also davon ab, wie fest unsere Umarmung mit Xi Jinping ist.

Letzterer wird in Macrons Video gleich heroisierend mitinszeniert, als hätte eines der mächtigsten Länder Europas nichts in der Hand, um einem nach Corona angeschlagenen China auf Augenhöhe zu begegnen. Wie sollen Bürger, die nach einem Achtstundentag in der Gebäudereinigung, der Pflege oder nach sonstiger harter Arbeit nach Haus kommen, noch entschlüsseln, was derzeit richtig ist?

Quelle          :        TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben     —       Visit of Ursula von der Leyen, President of the European Commission, to China

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Fake-News bei Tagesschau

Erstellt von Redaktion am 12. April 2023

Zur Rechtslage bei COVID-19 Impfschäden –
Wegfall § 84 AMG für COVID-19

Von Johannes Kreis

Wir möchten auf eine aktuelle Falschmeldung der Tagesschau zu der Rechtslage bei Impfschäden durch die neuartigen mRNA Impfstoffe gegen SARS-CoV2 hinweisen.

„Für Covid-19-Impfstoffe gelten im Prinzip dieselben Haftungsregeln wie für andere Arzneimittel, etwa nach dem Arzneimittelrecht oder dem Produkthaftungsgesetz.“

Das ist nach § 15 Produkthaftungsgesetz und §3 Abs. 4 MedBVSV („Verordnung zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Produkten des medizinischen Bedarfs bei der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Epidemie“) falsch.

Für SARS-CoV2 sind wesentliche prozessuale Erleichterungen des Arzneimittelgesetzes (AMG) im Schadensersatzprozess für die durch eine Impfung Geschädigten per Verordnung (MedBVSV) weggefallen.

Erstens gilt die verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung des Produkthaftungsgesetzes (ProdHaftG) nicht für Arzneimittel, zu denen auch Impfstoffe gehören. Das Arzneimittelgesetz (AMG) verdrängt das Produkthaftungsgesetz.

„(1) Wird infolge der Anwendung eines zum Gebrauch bei Menschen bestimmten Arzneimittels, das im Geltungsbereich des Arzneimittelgesetzes an den Verbraucher abgegeben wurde und der Pflicht zur Zulassung unterliegt oder durch Rechtsverordnung von der Zulassung befreit worden ist, jemand getötet, sein Körper oder seine Gesundheit verletzt, so sind die Vorschriften des Produkthaftungsgesetzes nicht anzuwenden.“

Zweitens wurde die verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung nach § 84 Abs. 1 AMG per 25.05.2020 durch § 3 Abs. 4 MedBVSV für SARS-CoV2 aufgehoben. Diese Rechtsverordnung wurde speziell für SARS-CoV2 erlassen.

„(4) Abweichend von § 84 AMG unterliegen pharmazeutische Unternehmer, Hersteller und Angehörige von Gesundheitsberufen hinsichtlich der Auswirkungen der Anwendung der in § 1 Absatz 2 genannten Produkte nicht der Haftung, wenn diese Produkte durch das Bundesministerium als Reaktion auf die vermutete oder bestätigte Verbreitung des SARS-CoV-2-Erregers in den Verkehr gebracht werden und nach den Gegebenheiten des Einzelfalls die auf Absatz 1 gestützten Abweichungen vom Arzneimittelgesetz geeignet sind, den Schaden zu verursachen. Pharmazeutische Unternehmer, Hersteller und Angehörige von Gesundheitsberufen haben die Folgen der auf Absatz 1 gestützten Abweichungen vom Arzneimittelgesetz nur bei grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz zu vertreten. Im Übrigen bleiben die Haftung für schuldhaftes Handeln sowie die Haftung für fehlerhafte Produkte nach den Vorschriften des Produkthaftungsgesetzes unberührt.“

Gleichzeitig ist damit die Beweislastumkehr des § 84 Abs. 2 S. 1 AMG weggefallen,

„(2) Ist das angewendete Arzneimittel nach den Gegebenheiten des Einzelfalls geeignet, den Schaden zu verursachen, so wird vermutet, dass der Schaden durch dieses Arzneimittel verursacht ist.“

Diese Kausalitätsvermutung erleichtert die Beweisführung bei einer Klage wegen eines Arzneimittelschadens erheblich, da die Darlegung der Kausalität zwischen Arzneimittel und Schaden nicht zur vollen Überzeugung des Gerichtes erfolgen muß. Vgl. dazu die Gesetzesbegründung,

„Damit die Vermutung eingreift, wird mehr als die nur abstrakt-generelle Eignung des Arzneimittels verlangt, Schäden der in Rede stehenden Art hervorzurufen. Die Eignung muss auf Grund der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls festgestellt werden.“

„Kann der Geschädigte darlegen und im Streitfall beweisen, dass das Medikament nach den Umständen des Einzelfalls dazu geeignet war, den Schaden zu verursachen, so wird darauf geschlossen, dass die bei ihm konkret vorliegende Beeinträchtigung durch das Arzneimittel bewirkt wurde. Es genügt also die Darlegung und – im Bestreitensfalle – der Nachweis der konkreten Möglichkeit der Schadensverursachung. Der Geschädigte wird dann davon befreit, den Kausalverlauf zur vollen Überzeugung des Gerichts darlegen und beweisen zu müssen.“

Diese Privilegierung wurde für SARS-CoV2 aufgehoben. Frau RAin Jessica Hamed weist seit langem darauf hin, unlängst wieder auf Twitter,

„Der Staat hat durch seine Gesetzesänderung bewusst Schadensersatzansprüche, für die er am Ende aufgrund der Verträge mit den Herstellern haften müsste, letztlich fast vollständig vereitelt.“

Auf Nachfrage führt sie in einem zweiten Tweet aus,

„Deshalb schließt die MedBVSV eine Haftung der pharmazeutischen Unternehmer nach § 84 AMG für durch Arzneimittel verursachte Schäden aus, „wenn diese Produkte durch das Bundesministerium als Reaktion auf die vermutete oder bestätigte Verbreitung des SARS-CoV-2-Erregers in den Verkehr gebracht werden und nach den Gegebenheiten des Einzelfalls die auf Absatz 1 gestützten Abweichungen vom Arzneimittelgesetz geeignet sind, den Schaden zu verursachen“ (§ 3 IV 1 MedBVSV).“ NJW, 2022, 649, 650.““

Der Artikel NJW, 2022, 649, 650 (Neue Juristisch Wochenschrift) ist von Prof. Dr. iur. Anatol Dutta von der juristischen Fakultät der LMU München und er trägt den Titel „Haftung für etwaige Impfschäden“.

  • Anatol Dutta, „Haftung für etwaige Impfschäden“, NJW, 2022, 649, 650

Rechtsgrundlage der MedBVSV ist § 5 Abs. 2 IfSG und hier speziell § 5 Abs. 2 Nr. 4 lit. a  IfSG für den Wegfall der Haftung nach §84 AMG,

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang § 5 Abs. 5 IfSG, der eine Einschränkung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2  S.1 GG, durch § 5 Abs. 2 IfSG enthält,

„(5) Das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes) wird im Rahmen des Absatzes 2 insoweit eingeschränkt.“

Man baut damit einer Verfassungsklage gegen § 5 Abs. 2 IfSG vor, denn nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG muß bei der Einschränkung eines Grundrechts dieses benannt werden. Man hat also bei der Ermächtigung einer Verordnung zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite als erstes das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit eingeschränkt. Damit entzieht sich der Staat seiner Schutzverpflichtung in Bezug auf die Impfstoffe, während gleichzeitig einige Vorzeige-Staatsrechtler in Deutschland über die Notwendigkeit einer Impfpflicht gerade aufgrund dieser Schutzpflicht schwadroniert haben.

Gemäß § 1 Abs. 1 MedBVSV ist der Zweck dieser Verordnung die „Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Produkten des medizinischen Bedarfs während der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Epidemie“.

„(1) Diese Verordnung dient der Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Produkten des medizinischen Bedarfs während der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Epidemie.“

Es bleibt völlig offen, wie die prozessuale Schlechterstellung von Impfopfern zur „Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Produkten des medizinischen Bedarfs“ beiträgt.

Es bleibt den Geschädigten die Geltendmachung eines Schadens aus vertraglichem oder gesetzlichem Schuldverhältnis (Deliktsrecht). Hier ist ein Nachweis eines Verschuldens erforderlich (Fahrlässigkeit oder Vorsatz). Mangels eines Vertrags zwischen dem Impfgeschädigten und dem Impfstoffhersteller kommt wohl nur Deliktsrecht in Frage. Die Beweisanforderung an den Geschädigten dort sind aber wesentlich höher als nach dem Arzneimittelgesetz. Ob und in wie weit eine Produzentenhaftung nach BGB in Frage kommt, kann nur der Rechtskundige beantworten. Dies würde den Nachweis eines Produktfehlers erfordern. Der Wegfall der Chargenprüfung nach § 32 Abs. 1 AMG durch § 3 Abs. 1 MedBVSV wird den Beweis dazu weiter erschweren, da keine Proben aus den Chargen der Impfstoffe eingelagert werden mußten, siehe unten.

Allen möglichen Anspruchsgrundlage ist gemein, dass sich der Hersteller auf den „Stand der Wissenschaft“ berufen kann, um sich aus der Haftung zu bringen. Niemand hätte es besser machen können, da es niemand besser gewußt hat.

In diesem Zusammenhang sind die teleskopierten, „vorher undenkbaren“ Zulassungsverfahren zu sehen, die zu (bedingten) Blitz-Zulassungen der neuartigen mRNA Impfstoffe geführt haben. D.h. man hat die Phasen der Impfstoffprüfung parallel ausgeführt und mit der nächsten Phase begonnen, bevor die vorangehende abgeschlossen war.

Warum können COVID-19-Impfstoffe so schnell zugelassen werden und zugleich sicher sein?

Die Entwicklung von Impfstoffen gegen neue Erreger ist ein komplexer und langwieriger Prozess, der meist mehrere Jahre beansprucht.“

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Können Politiker-innen viel Geld damit verdienen, geht alles noch viiiiiel schneller

Diese Erkenntnis hat alle an der Impfstoffentwicklung beteiligten Expertinnen und Experten bewogen, die Zusammenarbeit enger und die Prozesse effizienter zu gestalten, ohne Abstriche bei der Sorgfalt zu machen. Dies hat auch zu deutlichen Optimierungen der Verfahrensabläufe und einem Zeitgewinn bei der Entwicklung geführt.

Können einzelne Phasen der Impfstoffentwicklung ausgelassen werden?

Nein.

Die Entwicklung und Herstellung von sicheren und wirksamen Impfstoffen ist hochkomplex. In der EU und damit auch in Deutschland standen uns ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie – vorher undenkbar – bereits drei wirksame und sichere Impfstoffe gegen COVID-19 zur Verfügung. Sie alle haben den regulären Weg der Impfstoffzulassung in kurzer Zeit durchlaufen, ohne wichtige Entwicklungsphasen auszulassen – ganz zentral hierbei ist die klinische Prüfung auf Sicherheit und Wirksamkeit. Diese umfassende Prüfung ist wichtig – schließlich werden Impfstoffe gesunden Menschen verabreicht.“

Wenn es so einfach und ohne Abstriche bei der Sicherheit möglich ist, die Prüfungsverfahren zu beschleunigen, warum hatte man das nicht schon längst gemacht? Und warum bedarf es dann dieser umfangreichen Haftungsbeschränkungen und Haftungsausschlüsse für die Hersteller? Warum war eine solche Beschleunigung „vorher undenkbar“?

Die schweren Nebenwirkungen sind so erst bei der Markteinführung bemerkt worden. Davon zeugen 10 Rote-Hand-Briefe zu den Impfstoffen aus dem Zeitraum März bis Oktober 2021 mit denen die Hersteller die Ärzte nach(!) der (seinerzeit bedingten) Zulassung vor schweren Nebenwirkungen warnten,

Die stark verkürzten Zulassungsverfahren waren nicht geeignet den „Stand der Wissenschaft“ mit der notwendigen Sorgfalt zu ermitteln. Der „Stand der Wissenschaft“ ist nicht etwas, was man zufällig zu einem bestimmten Zeitpunkt weiß, sondern was man nach wissenschaftlichen Standards sorgfältig und unter Prüfung aller(!) Alternativen ermittelt hat.

In Australien wurde AstraZeneca inzwischen vom Markt genommen,

From Monday 20 March 2023 Vaxzevria (AstraZeneca) is no longer available. The information on this page is for those that have previously received a primary course and/or booster dose of AstraZeneca.”

Für die (minimale) Entschädigung nach § 60 IfSG genügt nach § 61 IfSG „die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs“. Diese Beträge liegen weit unten denen aus Schadensersatz, bei dem der Geschädigte, zumindest wirtschaftlich, so zu stellen ist, als hätte es das Schadensereignis nicht gegeben (§ 249 BGB).

„Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs.“

Offensichtlich konnte man die Impfgeschädigten nicht ganz ohne Versorgung lassen. Aber, umfangreichen Schadensersatz, der über die geringen Leistungen von einigen Hundert Euro pro Monat nach IfSG hinausgeht, wollte man verhindern. Bei einer lebenslangen Behinderung sind die Bezüge nach IfSG lächerlich. Es besteht ein eklatantes Mißverhältnis zwischen den Milliardenprofiten der Pharmaindustrie durch SARS-CoV2 und den Ausgleichszahlungen an Impf-Geschädigte im Schadensfall.

In diesem Zusammenhang sei auf die weiteren, umfangreichen Ausnahmen vom Arzneimittelgesetz für die Lieferung von Arzneimitteln (Impfstoffen) für SARS-CoV2 nach § 3 Abs. 1 MedBVSV hingewiesen. Angeblich wurden diese Ausnahmen erlassen, um die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln (und Impfstoffen) gegen SARS-CoV2 zu sichern.

„(1) § 8 Absatz 3, die §§ 10, 11, 11a und 21 Absatz 1, § 21a Absatz 1 und 9, § 32 Absatz 1, die §§ 43, 47 und 72 Absatz 1 und 4, § 72a Absatz 1, § 72b Absatz 1 und 2, § 72c Absatz 1, die §§ 73a, 78 und 94 des Arzneimittelgesetzes (AMG) sowie § 4a Absatz 1 und § 6 Absatz 1 der Arzneimittelhandelsverordnung (AM-HandelsV) gelten nicht für das Bundesministerium, die von ihm beauftragten Stellen und für Personen, von denen das Bundesministerium oder eine von ihm beauftragte Stelle die Arzneimittel beschafft, wenn das Bundesministerium oder eine von ihm beauftragte Stelle nach § 2 Absatz 1 Arzneimittel oder Wirk-, Ausgangs- und Hilfsstoffe beschafft und in den Verkehr bringt.“

Im Einzelnen betrifft das die nachfolgenden Ausnahmen vom Arzneimittelgesetz (AMG) für COVID-19. Dabei umfasst dies unter anderem den Vertrieb nach Ablauf des Verfallsdatums, den Wegfall von Kennzeichnungspflichten oder der Erfordernis eine Packungsbeilage, den Wegfall der Fachinformation, Abstriche bei den Zulassungserfordernissen, den Wegfall der staatlichen Chargenprüfung, den Wegfall der vorgegebenen Preispannen, den Wegfall des Erfordernisses einer Deckungsvorsorge für Schadensfälle, usw.

Dabei schränken der Wegfall der Kennzeichnungspflicht, die fehlende Fachinformation und die fehlende Gebrauchsinformation (Packungsbeilage) den Anspruch auf Schadensersatz nach § 84 Abs. 1 Nr. 2 AMG weiter ein, denn diese Informationen waren nach § 3 Abs. 1 MedBVSV für SARS-CoV2 nicht erforderlich.

Weggefallen sind nach § 3 Abs. 1 MedBVSV für SARS-CoV2,

„(3) Es ist verboten, Arzneimittel, deren Verfalldatum abgelaufen ist, in den Verkehr zu bringen.“

„(1) Fertigarzneimittel dürfen im Geltungsbereich dieses Gesetzes nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie durch die zuständige Bundesoberbehörde zugelassen sind oder wenn für sie die Europäische Gemeinschaft oder die Europäische Union eine Genehmigung für das Inverkehrbringen nach Artikel 3 Absatz 1 oder 2 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 erteilt hat.“

„(1) Der pharmazeutische Unternehmer hat dafür Vorsorge zu treffen, dass er seinen gesetzlichen Verpflichtungen zum Ersatz von Schäden nachkommen kann, die durch die Anwendung eines von ihm in den Verkehr gebrachten, zum Gebrauch bei Menschen bestimmten Arzneimittels entstehen, das der Pflicht zur Zulassung unterliegt oder durch Rechtsverordnung von der Zulassung befreit worden ist (Deckungsvorsorge).“

Weiter Ausnahmen betreffen die Arzneimittelhandelsverordnung (AM-HandelsV). Weggefallen ist,

„(1) Arzneimittel dürfen nur von zur Abgabe von Arzneimitteln berechtigten Betrieben erworben werden.“

Auch hier ist vollkommen offen, wie der Wegfall wesentlicher Sicherungsmaßnahmen dazu beitragen kann, die Bevölkerung mit sicheren(!) Arzneimitteln oder Impfstoffen zu versorgen. Die MedBVSV ist gar nicht geeignet, ihren in § 1 MedBVSV genannten Zweck zu erfüllen. Aber darauf kam es wohl nicht an.

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Oben     — Aufkleber eines Impfkritikers an einer Müllbox in Heikendorf.

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Unverstand sucht Schuldige

Erstellt von Redaktion am 12. April 2023

Schon wieder eine Bankenkrise

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Die größten Versager aus 19 Ländern und der EU schleichen sich von Gipfel zu Gipfel für nette Fotos. Alle Jahre wieder – Dummheit trifft auf  Dummheit.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von  :    Suitbert Cechura

Ja, haben die Banken denn gar nichts gelernt? Regieren nur Nieten in Nadelstreifen die Geldwirtschaft? Oder Kriminelle? Hier einige Klarstellungen zu den (mehr oder weniger) dummen Fragen.

Erneut beherrscht ein Krisenszenario die Schlagzeilen: Zuerst war es die amerikanische Silicon Valley Bank, bei der Milliarden von Dollar auf einen Schlag vernichtet wurden, dann traf es die Schweizer Credit Suisse, bei der wiederum Reichtum in Milliardenhöhe von einem Moment zum anderen verschwand. Und plötzlich ist erneut von einer drohenden Bankenkrise mit weltweiten Konsequenzen die Rede.

Was ist da los in der Finanzwelt? Nach der Finanzkrise von 2007 sollten doch angeblich in allen Ländern Lehren gezogen werden, nachdem etwa hierzulande „die Banken mit mehr als 70 Milliarden Euro Steuergeld gerettet wurden“ (FAZ, 1.4.23) und in der Nachfolge neue Regelungen für mehr Sicherheit usw. – in Deutschland wie auf europäischer Ebenen – in Kraft traten. Und jetzt das!? Und dann wird nach der raschen Rettung in der Schweiz auch noch die Staatsanwaltschaft aktiv: „Ermittlungen wegen Credit Suisse“ (FAZ, 3.4.23)! Also schon wieder Straftäter unterwegs, die den Hals nicht vollkriegen konnten?

Eine andere Nachfrage wäre dabei interessanter. Angesichts der Milliardensummen, die jetzt schon wieder innerhalb weniger Tage einfach so „verschwunden“ sind, während in jedem Supermarkt noch der kleinste Diebstahl hart geahndet wird und viele Menschen an der Kasse nach dem letzten Cent kramen, könnte man doch ins Grübeln kommen. Vielleicht sollte man einmal fragen, was „Reichtum“ in dieser Gesellschaft eigentlich ist?

Das Geschäftsgeheimnis: Aus Schulden Vermögen machen

Anlass für die Krise bei der Silicon Valley Bank soll gewesen sein, dass diese viele Wertpapiere mit langer Laufzeit und marktüblichen Zinsen besaß. Das klingt eigentlich nach einer soliden Anlage, konnte die Bank doch mit jährlichen Zinsen und nach Ende der Laufzeit mit der Rückzahlung des Kredits rechnen. Zum Problem wurden diese Wertpapiere dadurch, dass viele Kunden – d.h. mehr, als man erwartet hatte – ihr Geld abzogen und die Bank die Papiere verkaufen musste. Da seit dem Zeitpunkt ihres Kaufs die Zinsen gestiegen waren, erwiesen sie sich allerdings als wertgemindert, ja fast wertlos.

Die Medien warfen der Bank deshalb eine falsche Anlagepolitik vor. Dabei blieb das eigentliche und „normale“ Geschäft außen vor – eine sehr kurzsichtige Kritik! Denn dass die Rückforderung von Geld, das Einzelkunden oder Institutionen einer Bank geliehen haben, zum Problem wird, verweist auf die problematische Grundlage des Geschäfts, das in der Kreditbranche tagein, tagaus betrieben wird, ob es sich nun um die Silicon Valley Bank oder ein anderes Institut handelt.

Vereinfacht dargestellt, sieht dieses Geschäft folgendermaßen aus: Banken leihen sich Geld von denen, die es momentan oder langfristig übrig haben oder auf diese Art und Weise vorsorgen wollen. Dafür zahlen die Banken ihren Kunden Zinsen. Sowohl das Geld ihrer Aktionäre oder Teilhaber – das Eigenkapital im strengen Sinne – wie die Einlagen von Sparern und anderen Kontoinhabern machen dann die ökonomische Potenz einer Bank aus, mit der sie im Geschäftsleben antritt. Der Sache nach handelt es sich aber um nicht viel mehr als Schulden.

Das Geld, über das eine Bank somit treuhänderisch verfügt, bleibt nicht bei ihr. Es ist die Grundlage für ein – mittlerweile – breit gefächertes Kreditgeschäft. Das heißt, es wird weggegeben. Banken verleihen es gegen höhere Zinsen weiter oder legen es ihrerseits in Wertpapieren (Aktien, Unternehmensanleihen etc.) an, wie dies bei der Silicon Valley Bank der Fall war. Dabei beschränken sie sich selbstverständlich nicht darauf, genau so viel Geld zu verleihen, wie sie sich geliehen haben oder worüber sie laut Gründungsakt verfügen: „Bei den größeren Finanzinstituten in Deutschland lag die bilanzielle Eigenkapitalquote 2012 lediglich bei ungefähr 2 Prozent.“ (https://etf.capital/eigenkapitalquote-banken/) In diesem Geschäftszweig lebt man also von vornherein über seine Verhältnisse!

Natürlich bleibt auch vieles, was verliehen wird, innerhalb der Bank und wandert nur von einem Konto auf das andere, weil der Kreditnehmer etwas bei einem anderen Kunden der Bank gekauft hat. Und ein Liquiditätsmanagement – auch durch staatliche Regelungen vorgeschrieben – achtet genau darauf, was in der Kasse ist. Das verliehene Geld verleiht der Bank dann natürlich einen Rechtsanspruch auf Rückzahlung plus Zinsen. Diesen Rechtsanspruch kann die Bank als Wertpapier wiederum beleihen – z.B. bei der Bundesbank – oder an x-beliebige Interessenten verkaufen. Sie erhält so Geld, das sie wieder investieren kann.

Insofern lebt das Geschäft der Banken einerseits davon, möglichst viel Geld zu verleihen, weil die darauf gezahlten Zinsen ihren Gewinn vergrößern. Andererseits müssen die Banken darauf achten, über genügend „Liquidität“ zu verfügen, also mit so vielen Mitteln „flüssig“ zu sein, wie normaler Weise von der Kundschaft abgezogen wird. Wie viel das ist, stellt sich als ein Erfahrungswert in dem Gewerbe heraus, das kontinuierlich mit Ein- und Auszahlungen zu tun hat. Aber das ändert nichts daran, dass es Spekulation bleibt. Immer können Ereignisse eintreten, die die Kontoinhaber dazu veranlassen, vermehrt ihre Konten zu leeren.

Dass zwischen den beiden Seiten – dem Einnehmen und Ausgeben – ein Widerspruch besteht, Banken zugunsten höherer Gewinne dazu neigen, mehr Kredite zu vergeben, als den Liquiditätserfordernissen gut tut, und sich deshalb des öfteren in prekäre Situationen manövrieren, ist übrigens der Grund für die staatliche Aufsicht über das Bankengeschäft. Ein „Bankrott“, also die Pleite einer Bank, würde nämlich wegen der Anzahl der davon unvermeidlich mit betroffenen Gläubiger wie Schuldner und den Auswirkungen auf andere Banken, d.h. letztlich (wie der Crash von 2007/08 gezeigt hat) auf das gesamte Kreditsystem, notwendigerweise größere Folgen nach sich ziehen als die Pleite eines einzelnen Unternehmens, die es in der marktwirtschaftlichen Konkurrenz ständig gibt. Deshalb widmen die Staaten dem Kreditgeschäft eine erheblich größere Aufmerksamkeit und versuchen mit verschiedenen Vorschriften über Eigenkapital, Mindestreservesatz, Liquiditätsanforderungen usw. diesen „systemrelevanten“ Bereich ihrer Wirtschaft „sicherer“ zu machen.

Das Risiko einzuschränken, um die Spekulation sicher zu machen, ist natürlich ein Widerspruch, da sie ja gerade mit der Unsicherheit kalkuliert und aus den unterschiedlichen Erwartungen bzw. Einschätzungen der Marktakteure Profit zu schlagen versucht. Zudem schränken die Auflagen gleich wieder das Geschäft der Banken ein, die ja mit ihrer großzügigen Kreditvergabe die Wirtschaft zum Wachsen bringen sollen – weshalb auch umgekehrt wieder allzu viel an Einschränkung nicht sein darf und sich die Bankiers regelmäßig über „Überregulierung“ beschweren…

Die Schuldner der Banken: per se unsichere Kantonisten

Für das Geschäft der Banken kommt es wesentlich darauf an, dass bei den von ihnen verliehenen oder angelegten Geldern regelmäßige Zinszahlungen, Dividenden bzw. Kurszuwächse bilanziert werden können. Insofern erweist sich das Bankgeschäft abhängig vom Gang der Geschäfte, die mit ihrem Kredit angestoßen wurden. Das Problem im Fall der Silicon Valley Bank hieß nun: Die Wertpapiere der Start-up-Unternehmen hatten ihr lange Zeit Zinseinnahmen gesichert, mit denen sie weitere Geschäfte machen konnte. Als sie die Papiere allerdings vor Ablauf der Laufzeit verkaufen musste, um die Liquidität der Bank zu sichern, erwiesen sie sich – angesichts allgemein steigender Zinsen – als quasi wertlos. Warum?

Der Wert eines Wertpapiers bestimmt sich eben nicht einfach nach dem Kaufpreis. Er wird vor allem im Vergleich zu anderen Wertanlagen ermittelt. Maßstab ist dabei, inwieweit es in der Lage ist, sich zu verwerten, also mehr Geld zu generieren. Steigen allgemein die Zinsen – was in diesem Fall wegen der neuen Vorgaben der US-Zentralbank eintrat –, werden einige Wertanlagen attraktiver und andere damit eventuell entwertet. Hier hat man die ganz normale Geschäftspraxis der Branche vor sich: Die Möglichkeit, aus Geld mehr Geld zu machen, ist der ebenso schlichte wie knallharte Maßstab, an dem sich entscheidet, ob Milliarden von Euros oder Dollars vernichtet werden oder nicht.

Es geht also keineswegs um einzelne Missetaten von Versagern oder kurzsichtigen Gierlappen, um ein paar unsaubere Unternehmen, die den Preis für ihr Missmanagement bezahlen. Die Antwort auf die eingangs gestellte Nachfrage zum Thema Geldvernichtung heißt: Hier hat man es mit dem Wirken des Maßstabs zu tun, an dem nicht nur die Entscheidung für oder gegen ein Wertpapier hängt, sondern der Konsequenzen für die ganze Welt mit sich bringt. Alles dreht sich – im inzwischen internationalisierten Kreditgeschäft – eben darum: um das Gelingen der Spekulation, die Stätten der Produktion in die Welt setzt oder brach legt, Handel antreibt oder scheitern lässt, Menschen in Arbeit bringt, freisetzt oder zum Hungern verurteilt. Denn mit dem entsprechenden Geld verschafft sich der Besitzer die Verfügungsmacht über allen menschlichen wie sachlichen Reichtum in der Welt und kann demnach auch darüber befinden, was an Produktion und Distribution lohnend ist und was nicht.

Das Bankgeschäft ist mit seinen Krediten und Geldanlagen ebenfalls davon abhängig, dass die einen ein lohnendes Geschäft bewirken und die anderen sich gut verzinsen. Die Konkurrenz der Unternehmen untereinander sorgt allerdings mit Notwendigkeit dafür, dass auf keinen Fall alle Investoren mit dem Kredit, den sie sich bei den Banken verschaffen, ein genügend großes Wachstum hinkriegen. Mit anderen Worten: Zahlungsausfälle auf Seiten der Schuldner sind kapitalistischer Alltag – anders geht eine Marktwirtschaft schlicht nicht. Einzelne Ausfälle kann eine Bank dabei verkraften, kommt es jedoch zu einer Vielzahl von Ausfällen, ist die Liquidität des Instituts bedroht. Dann bewerten Anleger wie Einleger die Aussichten ihres Geschäfts neu, ziehen ihr Geld im Fall des Falles ab und die nächste Bankenkrise nimmt ihren Lauf…

Der wirtschaftliche Sachverstand: sucht Schuldige

Bankenkrisen, die mit ziemlicher Regelmäßigkeit auftreten, gehören also systembedingt zum Kapitalismus dazu. Die letzte Finanzkrise ist ja nicht lange her und auch davor gab es in Abständen solche Krisen. Eine ganze Reihe von Banken ist nicht nur deshalb verschwunden, weil sie von anderen aufgekauft wurden, sondern auch, weil sie mit staatlicher Unterstützung abgewickelt wurden. So ist die Zahl der Landesbanken erheblich geschrumpft, um hier nur an einige deutsche Champions von damals zu erinnern. Dennoch suchen Journalisten, Wirtschaftswissenschaftler und Politiker bei jeder Krise die „Schuldigen“ – ganz so, als ob diese Krisen nicht im Wesen dieses Geschäftes und seiner spekulativen Basis begründet wären:

Jede-r welcher nicht weis, sucht nach Schuldigen oder bestellt sich einen Hausmeister zum Wirtschaftsminister.

„In den letzten zehn Jahren machte die Credit Suisse insgesamt einen Verlust von 3,2 Milliarden Franken – und schüttete in der gleichen Zeit Boni von 32 Milliarden Franken aus. Hohe Boni, hohe Risiken. Das war nach der Finanzkrise so, als der damalige Vorstandschef Brady Dougan unter seinem überforderten Verwaltungsrat Urs Rohner die Bank leitete. Das war unter Nachfolger Tidjane Thiam so, der später wegen seiner Verwicklung in eine Spitzelaffäre gehen musste. Und auch das letzte Führungsduo, Ulrich Körner und Axel Lehmann, änderte nicht viel an der Strategie. Stattdessen glaubten die beiden, mit Durchhalteparolen und Geld von saudischen Aktionären einfach so weitermachen zu können wie bisher.“ (SZ, 24.3.23)

Da müsste sich allerdings die Frage aufdrängen, wie solche Pfeifen dauernd in die Führungspositionen von Konzernen gelangen? Aber es ist ja einfach die billige Tour, hinterher, wenn sich der Erfolg nicht eingestellt hat, mit der Schlaumeierei zu kommen, dass man dieses Geschäft besser unterlassen hätte.

Die landläufige Kritik basiert auf der eher kindischen Vorstellung, dass das ganze spekulative Geschäft von Unternehmen wie Banken sicher zu machen sei. Aus diesem Grunde gibt es eine ständige Diskussion darüber, wie das Bankengeschäft neu oder besser zu regulieren wäre: „Rund 70 Milliarden Euro hat die Rettung der Banken damals allein die deutschen Steuerzahler gekostet. Geld, das man auch in Schulen oder die Bahn hätte stecken können. Und die Frage, die sich viele Menschen gerade nicht nur in der Schweiz stellen lautet: Hat die Welt, hat die Politik, haben vor allem Banken denn gar nichts dazu gelernt?“ (SZ)

Dass Staaten Unmengen Geld in Banken statt in Schulen oder Infrastruktur stecken, ist eben ein Hinweis darauf, was in dieser Gesellschaft Priorität hat. Das Geldgeschäft mit dem Geschäft, das auf Geldvermehrung setzt, muss laufen, davon ist alles in dieser Gesellschaft abhängig gemacht und deshalb werden im Zweifelsfall auch alle Mittel dafür mobilisiert: Banken sind in diesem Sinn tatsächlich so nötig für diese Gesellschaft wie der Blutkreislauf für den Menschen. Schulen können auch später renoviert werden; es braucht sie zwar für den Nachwuchs der Nation, aber dessen Brauchbarkeit ist nicht unmittelbar gefährdet, wenn die Fenster zugig sind oder der Putz bröckelt. Auch die Bahn ist für die nötigen Transporte von Waren und Arbeitskräften unerlässlich, aber das geht auch mit Verspätungen und Überfüllung.

Gelernt haben Politiker und Banken nach der letzten Finanzkrise durchaus. Die Politik hat die Banken zu einer höheren Eigenkapitalquote verpflichtet und so das Kredit- und Anlagengeschäft beschränkt, wobei streng darauf geachtet wurde, dass dies nicht zu sehr die Kreditvergabe der Banken an die Wirtschaft behindert. Die Banken haben ihrerseits alles dafür getan, damit ihr Geschäft auch unter diesen Bedingungen nicht leidet und sie diese Regelungen für sich nutzen können.

Der Rest der Welt wurde dabei nicht gefragt. Und was sollten die kleinen Sparer auch lernen? Ihre Zinsen wurden gekürzt und die Gebühren erhöht, so dass nicht nur ihre Einkommen in den letzten Jahren geschrumpft sind, sondern auch ihre Rücklagen, sofern sie denn welche haben. So geht sie eben, die schöne Marktwirtschaft.

Zuerst erschienen bei Telepolis

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Oben       —   Staats- und Regierungschefs beim G20-Gipfel in Rom 2021

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 12. April 2023

Künstliche Intelligenz: Selber Denken oder Denken lassen?

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KOLUMNE VON – Ariane Lemme

Sind Sie sicher, dass ich Ihnen diese Woche hier schreibe – und nicht eine künstliche Intelligenz? Und was wäre Ihnen lieber? Letztlich versuchen wir beide, ich und ChatGPT, ja dasselbe: die Schwarmintelligenz zusammenzubündeln zu, in diesem Fall, ein, zwei, drei Themen zu einer befriedigenden Antwort auf die Frage: Was war los diese Woche? Wer hat was gesagt, gedacht, verpatzt? Gut, meistens versuche ich, das Zusammengesammelte in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Oder was mein Bewusstsein eben so für zusammenhängend hält. Und weil ich nicht anders kann, weil ich emotional werde, wenn mir etwas ethisch elend erscheint, kriegen Sie meine Meinung gratis obendrauf.

Was ich mich aber jetzt frage: Hat das irgendeinen Mehrwert für Sie? Sie haben eh Ihren eigenen ethischen inneren Kompass, wozu brauchen Sie meine Einschätzung? Und könnte eine gute KI die nicht auch simulieren? Welchen Unterschied würde das für Sie machen?

Für mich natürlich einen großen – ich wäre meinen Job los, den ich wirklich sehr gerne mag. Andererseits hätte ich plötzlich sehr viel von dem, was mir am meisten fehlt: Zeit. Etwa, um mit meiner Tochter Schlittenfahren zu gehen. An fast allen der etwa drei Schneetage diesen Winter musste ich arbeiten. Vielleicht, habe ich gedacht, sind das quasi die letzten Schneetage vor der endgültigen, unumkehrbaren Erd­erhitzung. Hätte ich die nicht besser nutzen müssen?

Es ist also, da bin ich mir sicher, kein Zufall, dass ich bei allem, was ich hektischer denn je abseits meiner Lohnarbeit erledige, derzeit den Unendlichen Podcast der Zeit höre. „Alles gesagt?“ heißt dieser eigentlich, aber es wird unendlich lange geredet, theoretisch. Meistens so sechs, sieben Stunden. Mit einer Person. Fantastisch. Ich höre ihn beim Kochen, Duschen, Zähneputzen, Einkaufen – wahrscheinlich weil mein Unterbewusstsein auf einen Mitnahme-Effekt hofft. Wenn ich schon nicht den allerkleinsten Gedanken zu Ende denken kann – weil Kind, Kollegen oder Kopfschmerzen etwas von mir wollen – will ich wenigstens anderen beim Zu-Ende-Denken zuhören.

Die eigene Manipulierbarkeit

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Wer sieht die Politiker-innen anders? Diese wurden von ihren Influencern lange trainiert und hätten ohne Diese – Heute schon nichts mehr zu sagen.

Aber ist denken lassen so gut wie selber denken? Was mich beim Denkenlassen – ob von mehr oder weniger schlauen Leuten oder einer KI – ein bisschen gruselt, ist meine eigene Manipulierbarkeit. Dass KIs überzeugend sein können, habe ich bisher nur gehört, bei Menschen aber oft genug erfahren: Je länger ich jemandem zuhöre, der nicht gerade predigt, lügt oder versucht, mich von etwas zu überzeugen (und der selbstverständlich kein Nazi, Coronaleugner oder Menschenfeind ist), desto sympathischer wird mensch mir. Wahrscheinlich könnte ich nach 8 Stunden Christian Lindner im Ohr auch beinahe nachvollziehen, warum mehr Geld für arme Kinder (dass es die gibt, und wie elend und beschämend und herzzerreißend das ist, weiß jeder, der schon mal mit offenen Augen durch beispielsweise Neukölln gelaufen ist) wenig Sinn macht. Aber nur beinahe

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Wo Kritik unerwünscht ist

Erstellt von Redaktion am 11. April 2023

Deutsche Politik in der Sahelzone

Ein Debattenbeitrag von Dominic Johnson

Kann Deutschland in der Sahelzone aus dem Schatten Frankreichs treten? Tschads Ausweisung des deutschen Botschafters wirft schwierige Fragen auf.

Gordon Kricke ist zurück in Berlin. Der deutsche Botschafter in Tschad wurde am Freitag hinausgeworfen, am Samstag nahm er den Nachtflug nach Paris. Dass eine befreundete Regierung einen Botschafter schriftlich zum Verlassen des Landes innerhalb von 48 Stunden auffordert, ohne ihn auch nur einbestellt zu haben, ist mehr als ein Affront. Es wirft grundsätzliche Fragen zur europäischen Politik in der afrikanischen Sahelzone auf, und diese Fragen richten sich an Deutschland.

Tschads Regierung warf dem deutschen Botschafter „unhöfliche Haltung“ und „mangelnden Respekt für die diplomatischen Gepflogenheiten“ vor. Das Auswärtige Amt in Berlin sagt offiziell, es könne den Vorwurf nicht nachvollziehen, doch Eingeweihte wissen, worum es geht. Als der junge Mahamat Déby am 20. April 2021 nach dem Tod seines Vaters und Amtsvorgängers Idriss Déby Tschads Staatschef wurde, akzeptierten Tschads Partner das nur, weil er bei Wahlen nach einer Übergangszeit von 18 Monaten die Macht wieder abgeben sollte. Aber im vergangenen Oktober ließ Mahamat Déby in einem von wichtigen Oppositionskräften boykottierten „nationalen Dialog“ die Übergangszeit um zwei Jahre verlängern, und er selbst wird bei Wahlen antreten dürfen, womit sein Machtverbleib gesichert ist, denn freie Wahlen gibt es in Tschad nicht.

„Besorgt“ äußerten sich damals öffentlich zahlreiche Botschafter, darunter der Deutschlands, denn sie fühlten sich düpiert. Berichten zufolge soll Gordon Kricke nichtöffentlich noch andere Worte verwendet haben. Auf den Straßen war die Reaktion heftiger. Oppositionelle gingen am 20. Oktober auf die Straße, die Sicherheitskräfte schossen und am Ende waren nach amtlichen Angaben 73 Menschen tot, laut Opposition mehrere hundert. Das grauenhafte Massaker, international ignoriert, war für Mahamat Déby eine Feuertaufe.

Der 39-Jährige reiht sich nun ein in eine lange Riege von Gewaltherrschern. Diktator Hissène ­Habré, der 1982 putschte und gemeinsam mit Frankreich Libyen bekämpfte, richtete grausame Foltergefängnisse ein und hat das Blut von Zehntausenden an den Händen. Ein panafrikanisches Tribunal verurteilte ihn später wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Da war er schon lange im Exil, 1990 gestürzt von Rebellenführer Idriss Déby, der mit dem Segen Frankreichs putschte und eine neue Diktatur errichtete.

Für Frankreichs Machtpolitik in Afrika ist Tschad zentral. Am Flughafen der Hauptstadt N’Djamena befindet sich die neben Dschibuti wichtigste französische Militärbasis des Kontinents. Jahrzehntelang starteten dort Militärinterventionen zum Schutz befreundeter Diktatoren. Heute starten von dort Antiterroreinsätze. Die aus Frankreichs Militäreinsatz in Mali 2013 hervorgegangene Antiterroroperation Barkhane hat in N’Djamena ihr Hauptquartier.

Was in Paris noch Parade – schlich sich aus Mali auf stillen Pfaden..

Gewaltherrscher Mahamat Déby sitzt in N’Djamena fest im Sattel. Nach dem Oktobermassaker wurden 621 verhaftete Jugendliche in das Wüstengefängnis Koro Toro 600 Kilometer außerhalb der Hauptstadt gebracht, viele starben bei der Reise ohne Wasser auf offenen Lastwagen, die anderen wurden in Zellen mit bis zu 50 Insassen gepfercht, mit Terrorhäftlingen als Wächter. Nach einem Sammelprozess wurden viele begnadigt und berichten nun zu Hause vom Staatsterror. Die berühmte Menschenrechtlerin Delphine Djiraibé, die einst Habré vor Gericht brachte, sitzt faktisch unter Hausarrest und berichtet von einer „Bevölkerung in Angst“. Derweil organisiert Frankreich auf seiner Militärbasis Zeremonien und hält mit Tschads Streitkräften Manöver ab.

Die meisten Menschen in den Sahelstaaten sehen Frankreich als neokolonialen Unterdrücker, der Afrika arm hält, um sich selbst zu bereichern, und freuen sich über jeden Schlag gegen Pariser Interessen. In Mali, regiert von einer prorussischen Militärdiktatur, stehen deutsche Soldaten im Rahmen einer UN-Mission, die vor Ort als Werkzeug Frankreichs gesehen wird, da sie im Zuge der französischen Militärintervention entstand. In Niger, wo der einzige gewählte zivile Präsident der Region regiert, agiert die Bundeswehr an der Seite der aus Mali verlegten Franzosen.

Deutschland präsentiert seine Sahelpolitik als Teil einer europäischen Antwort auf Terror und Unterentwicklung. Die EU-Politik vor Ort wird aber von Frankreich gemacht, das die EU-Vertretungen in den Ländern dominiert. Nie hat Frankreich seine Truppen einem UN- oder EU-Rahmen unterstellt, kein französischer Diplomat würde Deutschland in heikle Gespräche mit afrikanischen Freunden einbeziehen. Frankreich fährt in Afrika klassische Machtpolitik, die Machtfragen notfalls außerhalb der Legalität und mit Gewalt klärt. Deutschland agiert als eine Art Frankreich light, das von Sicherheit und Entwicklung spricht, aber keine Machtinstrumente aufzubieten hat.

Quelle      :         TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —     This is a map illustrating the Sahel region of Africa. Derived from Natural Earth data. Projection: Lambert Conformal Conic, CM: 14E, SP: 10N, 25N

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Unten     —       Detachment of the United Nations Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali (MINUSMA) in the Bastille Day 2013 military parade on the Champs-Élysées in Paris.

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Ostermarsch – Düsseldorf

Erstellt von Redaktion am 11. April 2023

Ostermarsch Rhein-Ruhr in Düsseldorf:
Es wird auch um Sympathie für Russland geworben

Fotos : Symbol – Beispiele

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von     :    Edith Bartelmus-Scholich

Zum Auftakt des Ostermarsches Rhein-Ruhr in Düsseldorf stellte Felix Oekentorp als Veranstalter in seiner Rede den Faschismus in der Ukraine in den Mittelpunkt, indem er Passagen aus einer Rede von Heinrich Bücker (Friedenskoordination Berlin) zitierte. Er machte sich zudem die Auffassung zu eigen, dass die Freundschaft zwischen Deutschland und Russland nun leider durch das Verhalten der deutschen Regierung beschädigt sei. Der russischen Regierung misstraut er nicht, wie er erklärte. Fünf Minuten seiner Rede sind als Video dokumentiert: https://twitter.com/LoveGuerillero/status/1644772709442768898/video/1

Seine Rede war eine indirekte Aufforderung der Ukraine die Solidarität zu entziehen, weil die Faschisten in der Ukraine keine Solidarität verdienen. Ferner handelte es sich um eine indirekte Rechtfertigung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Insgesamt eine plumpe Täter-Opfer-Umkehr.

Ich selbst bin seit Jahrzehnten beim Ostermarsch dabei, aber nach dieser Rede habe ich die Demo verlassen. Denn in einer Friedensbewegung, die den Opfern eines Angriffskriegs nicht mit Empathie gegenübersteht, fühle ich mich fehl am Platze.

Zudem wurde auf der Demo ein vierseitiger Hochglanz-Flyer „NATO raus aus der Ukraine“ verteilt. In diesem Flyer wird die russische Regierung unterstützt und als Schuldiger wird ausdrücklich und alleine die NATO benannt. Als politische Massnahme soll nicht etwa eine Friedensbewegung gegen Kriege aufgebaut werden, sondern eine Friedensbewegung gegen die NATO. Bei aller berechtigten Kritik an der NATO als Militärbündnis, hat dies mit der Intention einer Bewegung, die für den Frieden kämpft, nichts mehr zu tun.

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Gestern habe ich dann ein Bild von der Abschlusskundgebung gesehen. Vor dem Rathaus befand sich ein großes Transparent auf dem „Frieden mit Russland“ stand und auf dem auch das Sankt-Georgs-Band gezeigt wurde (seitlich auf dem Transparent). Die Veranstalter sind nicht dagegen eingeschritten. Das Sankt-Georgs-Band dient der Militarisierung der russischen Zivilbevölkerung. Es ist ein nationalistisches Symbol und knüpft die zaristische Tradition des Sankt-Georgs-Orden an. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 ist das „Sankt-Georgs-Band“ Bestandteil der Uniform von russischen Soldaten und Erkennungsmerkmal für die Unterstützung des Angriffskrieges.

Nach diesem Wochenende bin ich der Meinung, dass relevante Teile der Friedensbewegung unter einem erheblichen Realitätsverlust leiden. Sie vermögen sich nicht aus ihren ideologischen Konstrukten, die sich durch die politische Entwicklung überlebt haben, zu lösen und eine Folge davon ist, dass nun auf Friedensdemos nicht mehr der Aggressor verurteilt wird, sondern das Opfer der Aggression. Die Friedensbewegung erledigt sich damit selbst. Und das ist politisch höchst problematisch, denn wir brauchen eine glaubwürdige Friedensbewegung sehr dringend.

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Grafikquellen       :

Oben       —      Am 15. September 2018 haben Köthener den Marktplatz mit Kreide bunt bemalt. Die sollte ein Zeichen gegen die später stattfindende rechte Demonstration sein. Die Kirchengemeinde Köthens sowie verschiedene Vereine hatten dazu aufgerufen.

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Häuserkampf in München

Erstellt von Redaktion am 10. April 2023

Haidhausen soll leuchten

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Wörthstraße 8; Mietshaus, neubarocker Eckbau

Aus München  Dominik Baur

Ausgerechnet mitten in München wollen Mieter ihr Haus übernehmen und selbst verwalten. Doch jetzt läuft ihnen die Zeit davon.

Armin Kasper haut mit der Faust auf den Tisch: „Wir müssen einfach kämpfen. Ein Haus in Haidhausen, das ist doch was! Und es ist unser Haus.“ Der 62-jährige Briefträger sitzt mit acht Mitstreiterinnen und Mitstreitern an einem langen Tisch in einer Wohnküche in ebenjenem Haus in Haidhausen. „Wir müssen es versuchen. Wenn wir scheitern, dann scheitern wir. Aber dann haben wir’s wenigstens versucht.“

Es ist die Küche der Nachbarn Verena Hägler und Andy Ebert im ersten Stock, die einmal in der Woche zum Krisenzentrum wird. Sie ist geräumig und gemütlich, hohe Decken, Stuck. Am Küchentisch beratschlagen sie sich nun schon seit Monaten jeden Donnerstag, wie sie es anstellen können, dass sie auch in ein paar Jahren noch hier wohnen – und das zu bezahlbaren Mieten. Seit sie die Annonce gesehen haben, dass ihr Haus zum Verkauf steht, herrscht Alarmstimmung in der Wörthstraße 8.

Betritt man das Haus, steht man zunächst zwischen Kinderwagen auf einem Mosaik, das stolz das Baujahr des Hauses verkündet: 1894. Ein unsanierter Altbau mit Holzfußboden, Kastenschlössern und allem, was dazugehört. Die alte Holztreppe knarzt beharrlich, von den Wänden im Treppenhaus blättert Farbe ab, aber sonst – das haben sich die Bewohner von Gutachtern bestätigen lassen – ist das Haus gut in Schuss. Über den Briefkästen am ersten Treppenabsatz wacht ein kleiner Buddha aus Gips, draußen am Hauseck eine steinerne Madonna.

13 Wohnungen hat das Haus und 29 Bewohner. Von der Schneiderin über den Schreiner und die Grafikerin bis zur Tierärztin ist alles vertreten. Aufkleber an einer Tür zeugen davon, dass sich hier, nur drei Kilometer vom Sechzgerstadion entfernt, sogar St.-Pauli-Fans niedergelassen haben. Unten befinden sich noch ein Schreibwaren- und ein Schmuckladen sowie ein Friseursalon.

Haidhausen also. Man tritt dem übrigen München sicherlich nicht zu nahe, wenn man behauptet, dass dies eines der schöneren Stadtviertel ist. Am rechten Isarhochufer zentral gelegen, findet man hier noch reichlich Altbauten; das Viertel hat den Krieg für Münchner Verhältnisse gut überstanden. Laut Wikipedia sind sogar zwei Drittel der Gebäude über 100 Jahre alt. Biergärten gibt es hier, Cafés, kleine Läden, den bayerischen Landtag und sogar eine richtige inhabergeführte Metzgerei. Ein Dorf mitten in der Stadt, schreiben die Reiseführer.

Nur den Bunten Würfel gibt es nicht mehr, das Kabarett, in dem Karl Valentin Anfang 1948 seine letzte Vorstellung gegeben hat. Es war gleich um die Ecke in der Preysingstraße. Als man ihn dort versehentlich über Nacht in der kalten Garderobe eingesperrt hat, soll er sich die Lungenentzündung geholt haben, an der er kurz darauf starb.

Aber zurück in die Wörthstraße 8. Eine Woche vor dem Krisentreffen, zweiter Stock. Wer bei Katrin Göbel vor der Tür steht, auf den richten erst einmal die Cartwrights ihre Colts. Als gelte es, die Ponderosa gegen Eindringlinge zu verteidigen. Hinter der Tür, an der die „Bonanza“-Postkarte klebt, trifft man im Wohnzimmer dann neben Katrin Göbel auch Andy Ebert und Hendrik Wirschum. Die drei gehören zum harten Kern der Hausgemeinschaft und erzählen von ihrem eigenen Häuserkampf. Göbel, 57 Jahre alt, wohnt bereits seit 33 Jahren in der Wörth­straße 8. Gemeinsam mit einer anderen Hausbewohnerin betreibt sie den Schreibwarenladen Kokolores im Erdgeschoss. Ebert, 48, arbeitet als Informatiker, Wirschum, 39, als Gewässerökologe.

„Wird unser Haus UNSER Haus?“ lautet die Frage, die auf den Flyern und Postkarten prangt, die sie haben drucken lassen. Eine große Frage. Mit einem großen Fragezeichen. Denn in der Tat ist es etwas gerade in München ziemlich Einzigartiges, was diese Menschen hier planen: „Unsere drei Hauptziele“, erzählt Wirschum, „sind, dass wir erstens mal dieses Haus für immer dem Spekulationsmarkt entziehen, dass wir sozialverträgliche Mieten garantieren können und dass wir selbstverwaltet sind.“

Dass sie von der Annonce erfahren haben, war reiner Zufall. Eine Bewohnerin des Hauses wurde im vergangenen Sommer von einer Bekannten auf die Anzeige in einem Immobilienportal hingewiesen: „Das ist doch euer Haus.“ 6,5 Millionen Euro, das war die Summe, die der Eigentümer für das Haus wollte – genau genommen für eine Hälfte davon, denn die andere gehörte seiner Schwester.

Gesprächsbereite Vermieter

Als die Mieter daraufhin die Eigentümer kontaktierten, lernten sie zwei relativ gesprächsbereite Exemplare der Gattung Vermieter kennen, die ihren Mietern auch gern dauerhaft bezahlbare Mieten sichern würden.

So ergab sich in den folgenden Gesprächen ein Plan, der kompliziert, aber vielversprechend erschien: Der eine Eigentümer würde seinen Anteil der Hausgemeinschaft verkaufen und sich mit fünf Millionen Euro begnügen, von denen zwei Millionen erst in fünf Jahren bezahlt werden müssten. Seine Schwester, die mittlerweile in der Schweiz lebt, würde ihre Hälfte der dortigen Confoedera-Stiftung überschreiben, die dann wiederum ihre Hälfte des Gebäudes gegen die andere Hälfte des Grundstücks eintauschen würde, um daraufhin das Gesamtgrundstück der Hausgemeinschaft in Erbpacht zu überlassen. Das Modell der Stiftung sieht ohnehin vor, Grundstücke der Spekulation zu entziehen und mit dem Pachtzins „das freie Kultur- und Geistesleben“ zu fördern. Gehört der Stiftung einmal ein Grundstück, darf sie es nicht mehr verkaufen.

Damit der Deal funktioniert, müsste die Hausgemeinschaft sich nun also nur noch das nötige Geld leihen, um den Bruder auszubezahlen, und das zu Konditionen, die ihnen erlaubten, mit ihrer Miete den Kredit abzubezahlen, den Erbzins von jährlich 75.000 Euro zu begleichen und das Haus instand zu halten.

Fünf Millionen Euro sind viel Geld, für ein Haus in Haidhausen jedoch eine überschaubare Summe. Hätten die beiden Geschwister das Haus als eine Einheit zum Verkauf angeboten, hätten sie auf dem freien Markt einen Investor gefunden, der 14 Millionen dafür gezahlt hätte, schätzt Ebert, oder auch 15.

Man muss vielleicht kurz in Erinnerung rufen, wie das sonst so abläuft in einer Stadt wie München. Katrin Göbel bekommt es fast täglich zu hören in ihrem Laden. Da kommen die Leute aus dem Viertel vorbei und erzählen ihre Geschichten. Dass da einfach mal unangekündigt das Wasser abgestellt wird, gehört zu den harmloseren. Es wird schon auch mal ein angeblich sanierungsbedürftiges Dach abgedeckt, woraufhin der Vermieter plötzlich die Handwerker nicht mehr bezahlen kann. Die Mieter sitzen dann in ihrem Haus unter dem offenen Dach, und es regnet hinein. Oder die Toiletten sollen ersetzt werden: Die Kloschüsseln werden auch schnell ausgebaut – doch dann kommen die Handwerker nicht mehr, um die neuen einzubauen.

Viele Vermieter, sagt Andy Ebert, spekulierten auch einfach nur auf die Steigerung des Bodenwerts. Die hätten Geld und Zeit. Solche Investoren kauften ein Haus und säßen dann einfach zehn Jahre aus. „Danach können sie es spekulationssteuerfrei weiterverkaufen, und bis dahin wird es runtergeritten.“ Irgendwann hat man die lästigen Mieter dann los.

Und hinterher? Wird saniert und neu vermietet. An Menschen, die es sich leisten können. Von denen gibt es schließlich genug in einer Stadt, in der sich Amazon, Google und Co. mit eindrucksvollen Filialen breitmachen. Gerade erst hat der Freistaat dem Apple-Konzern ein riesiges Innenstadtgrundstück für eine Viertelmilliarde überlassen. „Isar Valley“, titelte die Süddeutsche Zeitung.

Eine Neuvermietung unter 20 Euro pro Quadratmeter kalt? Gibt es in der Gegend praktisch nicht mehr.

„Seit 2008 ist hier gefühlt jedes Haus saniert und verkauft worden“, sagt Ebert. Neuvermietungen unter 20 Euro pro Quadratmeter kalt? Gebe es in der Gegend praktisch nicht mehr. Vor drei Wochen habe er eine Anzeige für eine Wohnung direkt im Nachbarhaus gesehen, erzählt Ebert: 105 Quadratmeter für 2.700 Euro kalt.

Das Mietshäuser Syndikat

Häuser „Die Häuser denen, die drin wohnen“, lautet das Motto des Mietshäuser Syndikats. In dem Verbund haben sich mittlerweile schon 184 Projekte selbstverwalteten Wohnens zusammengefunden. Die Projekte befinden sich verstreut über ganz Deutschland, besonders viele gibt es in und rund um Berlin sowie Freiburg, wo die Idee für das Syndikat Ende der Achtziger geboren wurde.

Kaufen Die Initiative richtet sich an Gruppen, die sich ohne größeres Eigenkapital gemeinsam ein Haus kaufen oder bauen wollen und bereit sind, die Immobilie dauerhaft dem Immobilienmarkt zu entziehen. Käufer des Hauses ist dann eine GmbH, die zu gleichen Teilen der jeweiligen Hausgemeinschaft und dem Syndikat gehört. Die Mieter treffen Entscheidungen über ihr Haus selbst, das Syndikat verhindert durch sein Vetorecht einen Verkauf der Immobilie. Finanziert wird der Kauf großteils über Kredite von Unterstützern.

Damit es ihr nicht genauso ergeht, will sich die Hausgemeinschaft jetzt dem Mietshäuser Syndikat anschließen. Die Idee des Syndikats entstand Anfang der Neunziger in Freiburg, seither wurden bereits 184 Projekte umgesetzt. Ziel der Initiative ist es, möglichst viele Häuser oder Grundstücke aus dem Spekulationsmarkt herauszukaufen.

Dazu schließen sich die Bewohner eines Hauses zu einem Verein zusammen, der zusammen mit dem Syndikat eine GmbH gründet, der wiederum das Haus gehört. Durch das Konstrukt wird verhindert, dass die Bewohner das Haus doch irgendwann verkaufen. Gekauft wird die Immobilie mit geliehenem Geld. Bislang gibt es in München aber nur ein einziges Projekt, das auf diese Weise ein Mietshaus dem freien Markt entzogen hat – in der Ligsalzstraße im Westend.

Das Geld für den Kauf der Wörth 8 soll über Direktkredite von Menschen reinkommen, die das Projekt unterstützen wollen. In den vergangenen Wochen gingen bereits Absichtserklärungen für Kredite in Höhe von fast 1,5 Millionen Euro ein. Laufzeit und einen Zins von bis zu einem Prozent dürfen die privaten Finanziers selbst bestimmen.

Geht der Plan auf, könnten die Bewohner den Kauf des Hauses mit akzeptablen Mieten stemmen. Derzeit zahlen sie im Schnitt nur 9 Euro pro Quadratmeter, künftig wären sie bereit, auf 12 Euro hochzugehen.

Klingt natürlich gut. Endlich mal eine positive Geschichte aus dieser Stadt, in der Wohnen längst zum Luxusgut geworden ist. Das dachten die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses zunächst auch. Sie machten sich ans Werk, bastelten eine Homepage, berieten sich mit Experten des Mietshäuser Syndikats, warben um Direktkredite. Doch dann der Dämpfer: In einem Telefonat erklärte der Hauseigentümer plötzlich, das Ganze gehe ihm nun doch zu langsam, sei ihm zu unsicher. Er werde sich wieder auf die Suche nach anderen Käufern machen. Kurz darauf kamen bereits Interessenten zur Hausbesichtigung.

Quelle       :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Wörthstraße 8; Mietshaus, neubarocker Eckbau, mit reichem Stuckdekor, 1894 von Franz Hammel.

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Lockdown oder Isohaft

Erstellt von Redaktion am 10. April 2023

Lockdown aus der Sicht von Isohaft & Kampfkunst

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von Karl Grosser

Offener Brief an alle Mitglieder von Shin Son Hap Ki Do und andere (Kampfkunst-)Interes­sierte. Der Genosse Karl Grosser hat – schon vor zwei Jahren – den folgenden tollen Text zu der grossen innerlinken Katastrophe verfasst, bei der viele „Linke“die Corona-Massnahmen der Herrschenden kritiklos mitgetragen haben.

„Am Anfang war das Silizium, am Ende hat uns das Silikon Valley ersetzt.„ (Eugen Drewermann)„Ihr seid vollkommen, ihr seid wie Maschinen, der Weg zu zum vollkommenen Glück ist frei.„ (Aus „Wir“ von Jewgeni Samjatin, Roman, 1920)„Der Mensch ist die Medizin des Menschen.„ (Paracelsus, 16. Jahrhundert)

Kündigung an die Vereinsleitung

Liebe Freundinnen; liebe Freunde des bewegten Lebens, jetzt ist ein Jahr vergangen. Unsere Wege werden sich trennen.

Es ist schwer die richtigen Worte zu finden. Die Trennung hat mich durchgeschüttelt, wie ich es kaum nach Trennung von einer geliebten Frau erinnere. Ihr wart eine wichtige Verbindung zum Leben für mich. Da nun die richtigen Worte zu finden, das ist an sich schon kompliziert genug. Seit Corona die Welt regiert, können wir kaum noch unverstellt unsere (verschiedenen) Ansichten diskutieren. Jetzt ist Angst im Spiel. Bei den einen vor Ansteckung und Krankheit; die andern haben schlaflose Nächte, weil die „Corona-bedingten“ Dammbrüche in allen Bereichen des Seins kein Stein auf dem andern lassen und dem Mensch selber an die Wäsche gegangen wird. Es wird etwas länger. Ohne meine persönliche Geschichte zu kennen, ist die Bedeutung von Shin Son Hap Ki Do für mich nicht zu verstehen. Ich komme später drauf zurück.

Ende der 70er habe ich mich politisiert und radikalisiert, Jahre im Widerstand auch im Untergrund: Just nicht mehr daheim auffindbar, stand ich auf dem RAF-Fahndungsplakat. „Top 10“, gesucht mit internationalem Haftbefehl, Kopfgeld und „finalem Rettungsschuss“). Zwei mal verhaftet, angeklagt und verurteilt wegen § 129 a („Mitgliedschaft/Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“) und insgesamt 10 Jahre „und ein paar Zerquetschte“ abgesessen. Immer Isolationshaft, die meiste Zeit in Stuttgart Stammheim 7. Stock im Hochsicherheitstrakt… Dahinter scheinen sich „wilde Taten“ zu verbergen. Aber zu viel der Ehre. Im zweiten Prozess wurde ich zu 9,5 Jahren verurteilt. „Die Schwere der Schuld“ (= die vielen Jahre) war darin begründet, weil ich ein „Gesinnungs- Wiederholungstäter“ bin. Ein astreiner Nazi-Paragraph. In der Weimarer Republik gab es den so noch nicht. That’s all.

Es ist natürlich nicht möglich solch einen Lebensabschnitt in ein paar Zeilen abzuhandeln. Da haben existenzielle Auseinandersetzungen, Entscheidungen, Brüche in der Lebensweise stattgefunden und Turbulenzen aller Art haben alles durcheinander geworfen. Und das in rasanter Abfolge. Ein Stichwort möchte ich dazu aber doch sagen: Es war eine ganz andere Zeit, ein ganz anderes Lebensgefühl und ich war ein Kind meiner Zeit. Die Zeit kann man sich heute nicht mehr vorstellen. „Würde, hätte… Fahrradkette“ – Mir fällt einfach nix besseres ein wie ich damals – aufrecht und eins mit mir selber – hätte durch diese Zeit kommen können? Unser revolutionäres Projekt ist gescheitert. Aber aus meiner Sicht nicht deshalb, weil wir so „schwach&wenige“ waren und der Gegner so „stark&überlegen“. Nee, der Mensch ist zur Freiheit geboren.

Je länger ich drüber nach sinniere, komme ich zu dem Schluss, dass wir uns in der Härte des Kampfes so in den Gegner verbissen haben, dass wir ihm in Teilen ähnlich wurden. Vielleicht haben wir das auch schon von Anfang an mit rein geschleppt. Wer weiss das schon. Wenn aber der Weg nicht mehr radikal auf Befreiung insistiert, leidet die Emanzipation und eine„Soziale Idee“ wird natürlich auch immer weniger sichtbar. Rein persönlich ist diese Zeit für mich abgeschlossen. Aus dem Rückblick ein bisschen wie in einem Boxkampf.

Wir haben uns nix geschenkt; Federn gelassen, aber die volle Länge mitgegangen. Jetzt ist fight over. Nicht unbedingt „Shake Hands“. Es war erklärtermassen ein „Schmutziger Krieg“. Aber ich habe keinen persönlichen Groll mehr im Herzen. – Das heisst aber nicht vergessen … Ich weiss jetzt SEHR genau, wer ihr [Herrschenden] seid, welches eure Lehrer sind und welche Techniken ihr anwendet … ! Die letzten Jahre ist diese Zeit immer mehr in den Hintergrund gerückt. Diese Erfahrungen hatten kaum noch Bedeutung, um mich in meinem Leben zurechtzufinden. Ich war „draussen angekommen“. Da war Trainieren, trainieren… tausende von Kilometer mit dem Faltkajak auf der Ostsee oder sonst wo, die Elemente, Liebesbeziehungen, Freundschaften, Messebau (bezahltes Konditionstraining, mit Abenteuerflair)… „Politik“ hat mich im Grunde nie wirklich interessiert und ich wollte auch noch in andere Bereiche des Lebens eintauchen. Aber es kam im März 2020 der erste Lockdown – und Stammheim, der permanente Ausnahmezustand und die innere Anspannung war wieder präsent bis in die Träume. Wir sind uns teilweise schon nahe gekommen.

Deshalb möchte ich dieses Corona-Jahr so erzählen wie es über mich hereingebrochen ist. „Lockdown“ kommt aus der Militär- und Gefängnissprache und bedeutet: Sperrung, Ausgangssperre und EINSCHLUSS. Im Knast sieht das so aus: Die Zellen bleiben zu, Futter durch die Klappe: 12-7-24. Ein ähnliches Programm habe ich insgesamt drei Jahre erlebt: Nie mehr aus dem Loch raus gekommen, keinen Zivilisten gehört, gesehen oder gesprochen. Ausser 1,5 Stunden Besuch im Monat – hinter Panzerglas und mit Overkill-Bewachung. Den Tag über habe ich das mit „Arbeit und Struktur“1 ganz gut hinbekommen. Aber nicht die Nacht und die Träume.

Da gab es eine Phase, wo ich mir Menschen , meine Vertrauten, im Traum nicht mehr vorstellen konnte. Nur noch getippte Zeilen. Und ich kann nur mit der Schreibmaschine antworten. Das war so grausam, dass ich an der Lautstärke meines eigenen Zähneknirschen aufgewacht bin. Viele Nächte bin ich am Tisch sitzen geblieben. Dagegen waren die Träume von Verfolgung, Erschiessung oder Hinrichtung harmlos bis geradezu erbaulich: Entweder ich habe mich zwei mal geschüttelt, das T-Shirt gewechselt und weitergeschlafen oder ich bin gestorben und der Traum ging – entspannt – und aufregend weiter. Die Esos wären begeistert von mir. Und ich hatte in der Leere des Betons ein sinnliches Erlebnis, wo ich tagelang von zehren konnte. Um dasselbe nochmal in der „Tagwelt“ im Knast zu verdeutlichen: Es gab Situationen, da wurde der Druck der Isolation so gross, dass ich mich dieser andauernden Erniedrigung widersetzt habe.

Ein Beispiel. Vor und nach jedem „Kontakt“ mit andern Gefangenen war es für „die Sicherheit und Ordnung der Anstalt“ unerlässlich, sich nackt auszuziehen und dann wurde uns ins Arschloch geschaut. – ( Und heute soll ich mir aus dem gleichen Grund die Nase penetrieren lassen?) Schluss mit Lustig! … Dann kam halt das Rollkommando zu fünft mit den Knebelhandschellen – und ich habe mich wiedergefunden auf der Zelle auf merkwürdige Weise „zusammen geprügelt“. Im positiven Sinne: Ich habe mich wieder gespürt! Ich wusste wieder wo Aussen und Innen ist. Was hier Sache ist. Und was die Dämonen sind, die die Isolation „gebiert“

Alles Paletti! Wir alle haben Angst vor Gewalt und wollen sie tunlichst vermeiden. Ich auch. Aber es scheint etwas Nachhaltigeres, sehr viel Tiefergehendes zu geben, wie physische Gewalt! Und letztendlich nimmt es sich nicht viel. – Mein erster Zahnarzt nach dem Knast hat mich gefragt, ob ich „Kummer habe“. Die folgende Reparatur war ähnlich wie nach Stiefeltritten von irgendwelchen Schergen. Ich brauch mich jetzt ja nicht mehr vor euch genieren. Ich war und bin immer noch einer, der ganz gut mit sich selber klarkommt. Ganz gerne alleine ist. Aber in der Isolation, in der völligen Abwesenheit von Menschen bis in die Träume, da habe ich verstanden, dass Mensch nur existieren kann zusammen mit andern Menschen.

Das „Wir“ ist das Zentrum dessen, was uns – auch als Individuen – im innersten Kern zusammenhält. „Wer einmal aus dem Blechnapf frass„, identifiziert das „Corona-Massnahmenpaket“ sofort als „Weisse Folter“! – Das ist ein bisschen wie bei einem Strassenköter: Bevor er Worte hört und schaut – Futter oder Knüppel? – riecht er die Hand…. Das ist eine erfahrungsbasierte und realistische Überlebensstrategie. Wisst ihr eigentlich, dass diese moderne Form der Kontrolle in Korea ihren Ausgangspunkt hat? Die Amis haben sich im Korea-Krieg die Zähne an den Kriegsgefangenen ausgebissen. Trotz brutalstem zu Tode foltern haben die nicht geredet. Was hat ein einfacher Mannschaftsdienstgrad schon für Militär Geheimnisse zu verraten? – Die waren so sehr mit ihren Leuten, mit dem Land und der Kultur verbunden, dass sie wussten: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in dieser Welt.„

(Jean Amery, Jude und KZ-Überlebender.) Die Folterer haben dann aber rausbekommen, wenn sie die Gefangenen lange genug isolieren, (keine überfüllten Löcher mehr), permanent Angst machen, die Existenzsicherheit nehmen, Lockerungen geben und wieder nehmen, sinnlose Rituale erzwingen: Raus katapultieren aus allen inneren und äusseren Sicherheiten … – dann hat es meistens genügt sie zu holen, tief in die Augen schauen und das Gespräch damit zu beginnen: „Wir wollen doch eigentlich dasselbe.“

Und die Gefangenen haben mehr erzählt als sie gefragt wurden. Die Folterer hatten eine weisse Weste und sie konnten Leute präsentieren und entlassen, die scheinbar aus freien Stücken vor allem eines wollten: „Alles richtig machen“. „Korea“ hatten sie vergessen. Das überzeugt mehr, wie wenn ein Invalide entlassen wird. Das ist seither „lebendige Wissenschaft“, die alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst. Dieser Satz von Jean Amery hat mich jahrelang im Knast begleitet. Seit dem Lockdown beschäftigt mich dieser Kompass wieder – aber es geht gar nicht mehr nur um meine kleine Einzelexistenz. Die Frage nach dem Bezug, die Frage nach der „Welt“, ist schwieriger geworden… Aber das Träumen, das Schürfen danach, das lohnt sich. Wir wussten Ende der ’70er Jahre, worauf wir uns einlassen. Als militante Linke waren wir mit dem internationalen „Anti-Terrorkrieg“ von vorneherein konfrontiert. Das war eine Selektive Kriegführung.

„Hart gegen den Kern, weich mit dem Umfeld“. Wir mussten das quasi als die „Arbeitsbedingung“ in den Griff kriegen. Aber der „Kampf gegen die Pandemie“ ist qualitativ eine ganz andere Hausnummer. Das „Hygienegesetz“ besagt: C19 ist eine tödlich Bedrohung und alle sind „verdächtig&gefährlich“, deshalb brauchen wir eine „starke Hand“ , die zum „Licht am Ende des Tunnels“ führt – „Der Ausnahmezustand wird zum Normalzustand“ (i.S.v. Carlo Schmitt). Das ist Faschismus – aus den Zentren der Macht werden die Menschen über das universelle Herrschafts-Instrument Angst auf Linie gebracht und der Durchmarsch organisiert. Ich habe dutzende Bücher gelesen zu dem Thema, hunderte von Briefen gewechselt und Textauszüge angefertigt, mich mit der eigenen und unserer Situation auseinander gesetzt …. Aber das – das konnte ich mir nie vorstellen im Hier&Heute … Ich habe das erste mal in meinem Leben Angst vor dem Staat bekommen. Ich war paralysiert vom Blick auf die Katastrophe. Wie ein Käfer auf dem Rücken.

Das ging so lange bis eine Uralt Freundin mir den Kopf gewaschen hat: Jetzt tritt das ein, was ihr schon damals analysiert habt. Du kennst diesen Staat so gut und intim wie kaum jemand. Und du hast auch in aussichtsloser Position dagegen gekämpft! Denk drüber nach und hör auf auf zu zetern! — Danke! „Know yourself“ war für Bruce Lee der Weg. „Komm in deine eigene Kraft“ – Das verbindet uns. Damit bin ich endlich bei uns angelangt und da, wo ich euch nicht verstehe. Beim ersten Lockdown waren viele von den Fitness Vereinen, Box/Gyms usw. auf der Strasse: Wir wollen selber für unsere Gesundheit/Immunsystem sorgen, tun das schon die ganze Zeit erfolgreich… Öffnung der Studios, Ende des Lockdown!

Das habe ich selbstbewusst und gradlinig gefunden. Und wir, wo sind wir? Shin Son Hap Ki Do hat da einiges mehr an Anspruch. Allein die Theorie wiegt 3,65 kg. — Aber es kam Corona und alles ist vergessen? Ist das eine Schönwetter-Philosophie? Da kommt mit Corona mal ein Gegner an, der nicht im Prüfungsprogramm steht, und schon purzelt alles um und durcheinander? Es wird vor Schrecken in eine totale Aussenorientierung gegangen und alles, was uns mal ausgemacht hat, wird nach hinten geschoben, untergeordnet, aufgegeben? Bei allem gebotenen Respekt: Dafür trainiere ich nicht seit 27 Jahren!

Meine Sicht auf die Dinge ist folgende: Ohne Zweifel, C19 ist ein ernst zu nehmender Gegner. Was bedeutet da DO der „Weg des friedvollen Kriegers“? • Respekt.

Das heisst nicht den Kampf vermeiden , weil harte Konfrontation immer Leid zur Folge hat. Aus Angst vor den Konsequenzen. Nein, Respekt heisst für mich „Mit dem Herzen sehen“. Diese Haltung angstfrei durchzuziehen, ist das schwierigste, verhindert aber bestimmt das meiste Ungemach. Diese Haltung übertritt auch nie die Grenze von Selbstverteidigung. Sie bekämpft böse&schlechte Absichten. Aber sie kennt nicht den „Anderen“, den „Feind“, der als Ganzes platt gemacht werden muss. • Jahse.

Entspannung, Sinken und leer werden – den Schwerpunkt tiefer legen, den Kopf leer machen, er pumpt eh nur den Bizeps des Gegners auf… in der Mitte ankommen und die Energien fliessen lassen. Aber über die Faust oder den Tritt hinaus – • „Die Einheit des Kampfes“ begreifen. Wir haben nicht gegeneinander gekämpft, wir haben Partnerübungen gemacht. Weil sie das intuitive Verständnis für den Fluss der Energien im „Konflikt als Ganzes“ fördern – Yin und Yang , Hart und Weich… Das war für mich der „Kick“, das „High“ nach fast jeder Trainingseinheit.

Mit Erfolgsgarantie. Ich hab ein paar Jahre Sparring gemacht, JKD und Kickboxen. Selbst da gab es Sternstunden, wo sich das anfängliche Gegeneinander völlig im „Hier&Jetzt und Flow“ aufgelöst hat. – Magic! Das soll nicht heissen, alles wird harmonisch. So nicht. Mir stand da öfters nur ein Problem gegenüber: 15 kg+ mehr Muskeln, dafür 10 Jahre jünger und mit Vollkontakt-Erfahrung – das beeindruckt. Aber in diesen Situationen war der Kopf frei (von Bildern, Vorurteilen, Angst). Und das Irre war, dann lief auch der Fight de facto auf Augenhöhe. OK – die haben mich v.a. respektiert wegen „aussergewöhnlichen Nehmerqualitäten„. Aber ich war präsent, selbst wenn es in Richtung Vollkontakt entgleist ist.

Die Balance hat gestimmt. Das ist natürlich kein Erfolgsrezept … (Seufz). Aber „DO“ ist für mich v.a. Spurensuche, Fährten lesen… Da habe ich den Hauch einer Ahnung bekommen, was die „Grossen“ damit gemeint haben könnten: „Jeder Kampf wird im Kopf gewonnen„. Wenn man sich ans andere Endes des Spektrums der körperlichen Begegnung denkt – die Liebe – dann wird es vielleicht einfacher verständlich, was ich meine: Das „Erdbeben“….

Ab jetzt wird etwas anderes zählen, wie Viagra, geistloses Anhäufen von Muskeln und Techniken oder Materialschlachten im Blindflug zu veranstalten, die viel mehr schaden, als dass sie nützen – gegen wen auch immer.) Der Grossmeister hat sich bei einer Dan-Prüfung gefreut über das ausgeglichene Verhältnis zwischen Männer und Frauen. Es sei ein Ziel von ihm gewesen, den Yin-Aspekt in der Kampfkunst wieder zu stärken. Ich habe das im Sinne von Lao Tse verstanden: Nichts ist weicher als Wasser und doch so gewaltig. Alle Welt weiss es. Doch niemand vermag danach zu handeln. Von hier aus tut sich nun ein ganz anderer Blick auf unsere angsterfüllte Welt auf.

Im Grunde tun sich die selben Horizonte auf wie damals, wo die Wissenschaft diese winzigen Wesen entdeckt hat: Viren, Bakterien sind überall. Um uns, in uns, und sie sind immer da. Heute weiss man, es würde vermutlich überhaupt kein entwickeltes Leben geben ohne Viren und ihre Fähigkeit zu mutieren. Es wird so klar, dass man einem Gegner wie Corona, den ja noch nicht mal jemand richtig kennt, und der sich durch Veränderungen permanent entzieht, nicht mit Krieg und Ausnahmezustand begegnen kann – immer hart am Ziel ihn zu vernichten. Mit solch einem Gegner kann man auf eine gesunde Balance hin arbeiten, wo auch wir gut mit Leben können. Alles andere ist völlig patriarchaler und verselbständigter wissenschaftlich-technologischer Machbarkeitswahn. Das ist „der Teufel, den ihr rieft“ (Faust). Unsere Welt ist voll von diesen „aktiven Friedhöfen“. Und jetzt mit der Genetik-Spritze uns selber durch die Retorte quälen? . Damals, wo die Viren entdeckt wurden, war die Frage: Warum merkt man ihre Anwesenheit meistens gar nicht und dann wiederum kommt es plötzlich zum Ausbruch einer Krankheit? Liegt es am Milieu oder am Erreger?

Seither versucht die Pharmaindustrie natürlich mit aller Macht auf den Erreger zu zeigen, den „Feind„. Da kann man Abhängigkeiten schaffen, sich Einfluss, Macht und stetig steigende Gewinne sichern. C19 lässt nun alle Dämme brechen. HEUTE ist vom „Milieu“ gar nicht mehr die Rede. Vom Menschen, auch als soziales Wesen, Gesundheit, Immunsystem, Wohlbefinden, Glück. Das war auch in der etablierten Wissenschaft Konsens bis „Die Pandemie“ ausgerufen wurde. Es ist das Wissen von unseren Omas. „Verliebte werden niemals krank„, das weiss jedes Kind. –

In vielen Hunderttausend Jahren, in der Begegnung von Mensch zu Mensch haben wir Sprache, Kunst, Kultur entwickelt und haben unsere Toten verabschiedet. Im gemeinsam erlebten und verarbeiteten Spannungsfeld zwischen Liebe und Tod sind wir zu Menschen geworden. Das ist über Nacht und per neuem „Hygienegesetz“ kriminell und „geradezu ein Fall für den Psychiater“ (Merkel). Aus Solidarität wird „Angst und Abstand halten„, Liebe kommt aus der Spritze, und als Weg gesund zu werden und zu bleiben, wird eine geradezu talibanesk anmutende Freudlosigkeit verordnet. „Warum nicht den Winter auf dem Sofa mit einer Tüte Chips vor dem TV verbringen, Dann infizieren sie sich nicht“ (Jens Spahn). 100.000 Menschen sterben jedes Jahr hier an ungesunder Ernährung. Die wissen genau, was sie tun. Global gesehen wachsen sich die Folgen dieser „Gesundheitspolitik“ in eine historische Katastrophe aus – Hunger, Verelendung und Unterdrückung wachsen exponentiell. Während die Reichsten der Reichen „historisch nie dagewesene Gewinne“ einfahren. (Deutschlandfunk).

Der globale Süden braucht keine Spritze und keine Waffenlieferungen, die brauchen eine gerechte Weltwirtschaftsordnung! „Hunger ist die schlimmste Krankheit„. (Jean Ziegler) Killer hin und Mutante wieder zurück – ein Virus bleibt ein Virus, mit genau den Eigenschaften eines Virus. So wie ein Wolf ein Wolf bleibt und der „Problemwolf“ eine Erfindung des „Spiegel“ ist. Mir ist es völlig unverständlich, wie ihr auf solch einen Zug aufspringen könnt. Ein Weg, der die Menschen nicht informiert über die Komplexität der Wirkkräfte, nicht selbstbewusst und stärker macht, ihnen die „Techniken“ beibringt, um einer Gefahr zu begegnen. Sondern einer, wo die Menschen wie Gefangene gehalten, klein und kaputt gemacht werden, der sie in die Fänge einer „Pharma-Lobby, krimineller als die Mafia“ treibt – um sie zu kontrollieren. Das war eine Headline in der Süddeutschen Zeitung 2016. Vor 60 Jahren bin ich zusammen mit den „Contergan-Kindern“ aufgewachsen. Ich muss mich zurückhalten…

Im Grundkurs Strassenabi lernt man: Greif niemals aus Unwohlsein zu einer Nadel. Der Wiederholungsdruck schaut dir schon über die Schulter. Dieses Phänomen kommt nicht vom Hamburger Hauptbahnhof oder von „Heroina“ (mit dem Allheilmittel hat dieselbe Industrie vor 100 Jahren viel Geld verdient und – wissentlich wie immer – viele Leben zerstört). Dieses Phänomen kommt aus den Tiefen der menschlichen Psyche. Das ist meine Haltung zu dem Thema. Wer zum Teufel braucht denn diese „starke Hand“? Wir haben doch alles aus eigener Kraft hinbekommen. Habt ihr die letzte Hochwasserkatastrophe im Wendland vergessen? Wie umsichtig und verantwortungsvoll Menschen sind, wenn das Wasser bis zum Hals steht? Alle grossen spirituellen, alle grossen Kampfkunstmeister der Vergangenheit haben gesagt: „Sieg und Niederlage sind eine Illusion des menschlichen Geistes.“ Ich spreche hier nicht als Grüngürtel mit euch.

Als Schüler habe ich mich von Oben gar nicht mehr wahrgenommen gefühlt. Bei meinen schüchternen Einwänden wegen der ganzen neuen Rituale im Dojang, hab ich nur zu hören gekriegt „Das ist so, ich glaube daran“ und in diese unsäglichen Kontaktnachverfolgungslisten wurde ich einfach von andern eingetragen… No Chance – so wurde ich das letzte Mal im Knast behandelt. Ich spreche hier nur als Mensch zu euch, und als einer, der den geschützten Rahmen der Matte verlassen hat und auf „Freier Wildbahn“ hart am Wind und am Limit unterwegs war. Dazu gehört meine Beteiligung am kollektiven Hungerstreik ’89 (vier Wochen), mit dem Ziel mit anderen Gefangenen zusammen kommen zu können. Und – mit dem Schwinden der Kräfte und dem Wachsen der geistigen Wachheit und Demut – bin ich wichtigen Fragen in diesem Zusammenhang näher gekommen.

„Wenn einem die Scheisse bis zum Hals steht – erst dann bewegt man sich auf Augenhöhe!“ Von da aus rede ich nicht nur, sondern ich spüre auch die Verunsicherung und die Angst in eurem Herzen. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass ein Weg, den Frau&Mann geht, um der Gefahr zu entgehen, kein Ziel hat. Mit jedem Schritt auf diesem Weg legt sich der Urgrund des Ausgangspunktes enger um die Seele. Die eigene Angst wird einem an den Hacken hängen wie Schleppscheisse. Das Problem ist unsere lebenslängliche Aussenorientierung. Sicherheit findet man aber nur in sich selber. Da beginnt auch DO und damit bleibt DO lebenslänglich verknüpft. Ich dachte genau da hätten wir eine gemeinsame Basis. Wer sind denn diesen neuen „Doktoren des Vertrauens“?

Ich will nicht ihre fachliche Qualifikation in Abrede stellen. Ich meine das so wie auf dem Bau, wenn die Combo erweitert wird: Wer biste, was kannste? Das sind unsere Aufgaben – jeder soll seinen Platz finden und am Ende des Tages sind alle glücklich und zufrieden miteinander. Christian Drosten. Reiner Labormediziner und Techniker. Versuchsanordnungen, Tabellen, Berechnungen, Computersimulationen, das ist seine Welt….

Hier blinkt es und da schiessen die Kurven empor – es sieht nicht gut aus Christian. Also eilt Herr Drosten – keine Zeit sich die Haare zu richten – im September 2020 zu einer Konferenz mit dem amerikanischen TV und sagt: „Wir verlieren gerade das Vertrauen der Öffentlichkeit. Wir haben hier [in Deutschland] also das gleiche Phänomen. (Wie in USA unter Trump, der war da noch Präsident) – Warum verliert ihr das Vertrauen in der Öffentlichkeit?

– Die Krankheit existiert nicht, sie ist nicht da. Der typische Befund ist, die Fallzahlen (= positiv Getestete) gehen hoch, aber die Todeszahlen gehen nicht hoch. Wir haben keine Toten. Und das hält Menschen, die sich nicht mit Zahlen beschäftigen, davon ab… Wenn du diese Zusammenhänge nicht siehst, dann verlierst du den Glauben. Das sind dann nur Zahlen und Graphiken. Und du fragst dich: Was zur Hölle ist hier los. „Die Wirtschaft.…“

Der Mann ist nicht umgetrieben von der Sorge, dass hier Menschen leiden und auch sterben. Sein Problem scheint eher zu sein, dass viel zu wenige sterben. Der Mann ist beunruhigt, weil sich die Wirklichkeit nicht in den „Zaubergarten der Mathematik“ (so heisst ein Buch über Mathe) von ihm&Friends quetschen lässt, sondern das Leben seinen eigenen Weg geht. Und das erschüttert den „Glauben“ an die Hygiene-Regierung und die von ihr definierten „Wissenschaft“. Das geht jetzt seit über einem Jahr so. Zweifelsohne, er kommt sympathisch rüber. Aber nicht nur in der Liebe, auch in Gesundheitsfragen gilt: Aufgepasst bei der Partnerwahl! Lothar Wieler. Fachgebiete Mikrobiologie und Infektionen bei den Tieren. Ganz klar, er hat nicht die Tiere auf freier Wildbahn – er hat die grossen Ställe im Blick, die industrielle Fleischproduktion.

Das ist seine „Wissenschaft“ und seine Herangehensweise.

Auch er soll selber zu Wort kommen: „Der entscheidende Punkt ist, dass wir so viele Menschen wie möglich mit PCR identifizieren! Und dann ist die Sequenzierung eine sequenzielle nachgeordnete Technologie, die uns noch mehr Informationen gibt. Aber zunächst mal beruht das ganze Wesen der Pandemiebekämpfung darin, dass wir Menschen identifizieren.“

Das bedeutet: Mental haben wir – erzwungenermassen – in dem Jahr den Bildschirm&Big Data schon ganz ordentlich als unsere neue Matrix geschluckt (auch als Kritiker hat einen das Problem am Wickel). Hier beschreibt Wieler, dass wir gleichzeitig auch leiblich ins binäre Zahlensystem integriert werden und damit für den Computer kompatibel und beherrschbar. Das ist eine sehr finstere Seite der Schlacht um die „Inzidenzwerte“. Jens Spahn ist Co Autor des Buches „Die App im Gesundheitswesen“. Da kann man einen Vorgeschmack kriegen wie es wird, wenn Kollege Wieler ihm seine Erkenntnisse „rüber reicht“.

Ihr wisst, wie und nach welchen Kriterien Tierfabriken organisiert sind. Alle Moderatoren der C-Situation haben eines gemeinsam: Niemand hat jemals einen Menschen behandelt. Im Wilden Westen, im Untergrund oder im Krieg – da geht man zur Not zu einem Tierarzt oder Laboranten. Grundkurs Medizin haben die gemacht. Aber heute gehe ich doch zu einem gelernten Humanmediziner , einem Praktiker seines Faches, der nicht nur auf seinen PC, sondern auch auf mich schaut und vielleicht sogar mal eine Frage stellt, z.B. wo der Schuh drückt? 1986 hat der Ami Jay Lifton eine Studie veröffentlicht: „The Nazi Doctors. Medical Killing and the Psychology of Genozid“. Er schreibt darin: „Wenn uns die Ärzte im Dritten Reich irgendetwas zu lehren haben, dann, dass wir zu den Prinzipien des Heilens zurückkehren müssen…. Der weissgekleidete Arzt… wird zum biologischen Soldaten, ja zum biologischen General im Feldzug zur Tötung des Todes.“

Das ist kein Vergleich mit unserer gesellschaftliche Wirklichkeit.

Aber es zeigt eine Parallele und wessen Geistes Kind diese „Ärzte“ und „Hygienemassnahmen“ sind. Das ist ein gedanklicher Prozess von der Oberfläche in Richtung: Wesen der Dinge. – Das haben früher alle gemacht. Die Medien wurden nach den leidvollen Erfahrungen mit der Nazi-Propaganda explizit als „Vierte Gewalt“ in der BRD installiert – als Korrektiv staatlichen Handelns: Die Vielfalt war gefragt, statt Propaganda: Als Garant für Demokratie. Die Linke, alle kritischen Menschen haben – jeder von seinem Ausgangspunkt und mit seinem spezifischen Werkzeugkasten – alle haben sie hinterfragt. Fragen, was dahinter ist. „Untersuchen“ – schauen, was unten drunter ist, nachfragen – miteinander sprechen… „Diskussion“ war „damals“ eine Expedition in neue Gefilde, wo alle Beteiligten mehr Übersicht kriegten und gestärkt raus kamen. Auch wenn Widersprüche stehen geblieben sind.

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Das ist heute nicht mehr populär im Mainstream. Da machen sich zunehmend ein Umgang fett, der an den Umgang mit dem Virus erinnert. Aber das wäre eine neue Diskussion. Unser gemeinsames Thema war Gesundheit und Kampfkunst. Da habe ich versucht aus meiner Erfahrung ein, zwei Aspekte einzubringen. Für viele ist das vielleicht eine extreme Sichtweise. Aber ich komme nicht von einem anderen Stern. Ich habe nur ne Weile im Schattenreich der „Schönen Neuen Welt“ gelebt.

Jetzt, wo die Schatten auch über der Erde länger werden, drängt es mich zu berichten, was ich dort gesehen habe und wie sich dasselbe hier breit macht. Ich will damit niemand in die persönlichen Beweggründe und Entscheidung rein quatschen. Ganz bestimmt nicht. Jeder ist letztendlich nur für und vor sich selber verantwortlich. Aber in Zeiten der Not hat der Verein/Leitung eine gesellschaftliche Verantwortung: U. hat bei seiner Verabschiedung einen seiner Beweggründe für sein Engagement genannt:

„Nur Stämme werden Überleben.2 Das hat Eindruck hinterlassen. Es hat verschiedene Sachen in meinem Leben und die Träume wie mit einer verborgenen Linie verbunden und zu einem Bild gefügt. „Heilige Worte“… Und heute? Sorry – ich sehe euch in das Reservat laufen, was Big Data&Big Pharma und die starke Hand des Staat bereit gestellt haben . Der Deal ist „Sicherheitsempfinden, gegen Freiheit; Mitmachen für Sozialpunkte und gesellschaftlichem Status“ usw. Und die, die lieber bei sich bleiben wollen, die kriegen halt keinen „Freigang“. Ich kenne es nicht anderes.

Die Nordamerikanischen First Nation Stämme leben im Reservat und viele kämpfen um ihre eigene kulturelle Identität. Dabei reiben sie sich ständig mit dem „Modernen Leben“. Das sprengt das Reservat. Schon am 16.März 2020 hat sich der Häuptling der Hopi-Indianer White Eagle zum „Corona-Paradoxon“ geäussert: „Dieser Moment, den die Menschheit gerade erlebt, kann als Pforte oder als Loch betrachtet werden.Die Entscheidung durch die Pforte zu schreiten oder ins Loch zu fallen, liegt an EuchWenn ihr rund um die Uhr Nachrichten konsumiert, mit negativer Energie, dauernd nervös mit Pessimismus, werdet ihr in das Loch fallen.Wenn ihr aber die Gelegenheit ergreift, Euch selbst zu betrachten, Leben und Tod zu überdenken, für euch und andere Sorge tragt, dann werdet ihr durch das Portal gehen. …

Unterschätzt nicht die geistige Dimension dieser Krise. Nehmt die Perspektive eines Adlers ein, der von oben das Ganze sieht, mit weitem Blick. Es liegt eine soziale Forderung in der Krise, aber genauso eine geistige. Beide gehen Hand in Hand. …

Lerne Widerstand am Vorbild indianischer und afrikanischer Völker.Wir wurden und werden immer noch ausgerottet. Aber wir haben nie aufgehört zu singen, zu tanzen, ein Feuer zu entzünden und Freude zu haben. Fühle dich nicht schuldig, Glück zu empfinden in dieser schwierigen Zeit. Es hilft überhaupt nicht traurig und energielos zu sein … Das hat nichts mit Entfremdung/Weltfremdheit zu tun. Das ist eine Strategie des Widerstandes. Wenn wir durch die Pforte gehen, bekommen wir eine neue Sicht auf die Welt, weil wir uns unseren Ängsten, unseren Schwierigkeiten gestellt haben.

Das ist alles, was du momentan tun kannst – Gelassenheit im Sturm – Bete täglich – Mach es dir zur Gewohnheit, das Heilige jeden Tag zu treffen.“ Über unserer Kampfkunstschule steht jetzt nicht mehr „Himmel-Erde-Alle Lebewesen IST Eins“ – da steht jetzt: „1,5 Meter Abstand halten“ (oder was ist grad erlaubt?) & „Safety first„. Konflikte sind nicht mehr die Möglichkeit eine neue Stufe der Einheit zu erlangen. Die Spaltung, die Trennung und die Fremdheit – die „Andern“ – die koloniale Welt ist die Wahrheit des Reservates geworden.

Und in der Seele der Stammesmitglieder ist der Leitstern „Alles richtig machen“, weil es „draussen“, ausserhalb der „Regeln“ viel zu gefährlich ist. Wir sind hier wieder am Anfang bei den koreanischen Kriegsgefangenen.

Ihr könnt nicht mehr meine Lehrerinnen und Lehrer sein. Ich sehe nur noch sinnentleerte Körperertüchtigung. Der Spirit ist raus aus dem Haus. Und gegen derlei uniformes Mitmarschieren mit dem Mainstream habe ich mein ganzes Leben rebelliert. Ich muss weiterziehen, um mich zu entwickeln. Meinen Monatsbeitrag reiche ich lieber an kritische Medien und Hilfe für traumatisierte Kinder weiter.

Bei dem Thema Anti/Faschismus – und das ist Sache hier&heute – gebührt meiner Oma das letzte Wort. Eine einfache Frau, die immer kämpfen musste und die in zwei Weltkriegen praktisch alle/s verloren hat, ausser meiner Mutter – und ihre Herzenswärme und ihren wachen Verstand. Ihre Geschichten endeten manchmal mit der Feststellung: „Wer hat dem Anstreicher (Adolf Hitler) denn das Geld gegeben? … Die (Oberen) stecken doch alle unter der selben Decke.„

„Die Spur des Geldes“ führt heute wieder ins Zentrum und zur – unumkehrbaren – Dynamik des Geschehens… Im Mainstream wäre sie heute eine „Verschwörungstheoretikerin„. Und von den Türstehern der – dem Untergang geweihten – properen Bürgerstube würde sie angebrüllt:“Naziarsch verpiss dich! Nazis raus!„ *** Unsere Gründungsväter und Mütter wollten „kämpfen lernen“. So wurde es mir von verschiedenen Seiten erzählt. Ja eben! Was glaubt ihr denn, warum ich so hingebungsvoll trainiert habe. Obwohl nach traditionellen Shin Son Kriterien eigentlich mit blossem Auge kaum noch Fortschritte zu verzeichnen sind? Genau deshalb.

Das war der erste Impuls, wo ich ’93 anfing und es ist die Konstante seit 27 Jahren geblieben. Damals wollte selbstbewusst durch ne Landschaft gehen, die total neu für mich war, mit der ich nicht mehr „umgehen“ konnte und ich – in meine Einzelteile zerlegt – ziemlich neben mir selber gestanden bin (ich habe eine sinnliche Vorstellung davon, wie das Sprichwort entstanden ist). Das war mein Lebensgefühl nach der Entlassung ’93. Isolation trennt den Körper vom Geist (Danke Frankie, ich weiss mein Blick…).

Wenn ich an diese Zeit zurück denke, der Karl, wie er damals rauskam und wie ich heute in mir selber zu Hause und in der Welt bin, da wird mir erst bewusst, wie unendlich viel ich euch verdanke!

In den 90ern ging es mir manchmal eher durchwachsen… Meine Vertrauten haben gesagt: Du musst unbedingt eine Therapie machen! Rein intellektuell hat mir das ja eingeleuchtet. Aber der Therapeut, bei dem ich es versucht habe, der hat gar nicht verstanden, wo’s weh tut. Der ist auf seinem Gebiet bestimmt gut. Aber für mich und mein Anliegen, wäre es schwer gewesen, was zu finden. Und es hat mich auch kaum angetörnt. Ich habe viel lieber mit euch trainiert. Nach praktisch jeder Einheit dieses Glücksgefühl „Das Leben spüren und geniessen!“, hat der Grossmeister gesagt. Nach den Knastjahren wusste ich nicht mehr wie das geht. Ne Genossin hat mal gesagt: „Wenn man rauskommt, hat man nach nichts mehr Sehnsucht wie nach Menschen. Aber man kann es nicht mehr.“

Und ihr ward immer für mich da – offen – mit eurer körperlichen und geistigen Präsenz und einem Weg, wo positiv was passiert ist.

Heute, nach 27 Jahren, wo ich mit euch verbunden bin, kann ich mit grosser Sicherheit sagen: So wie es möglich ist durch ne Therapie, über die geistige Auseinandersetzung wieder beieinander zu kommen, so ist es auch möglich, durch „Bewegung für das Leben“, die Verkrampfungen des Körpers zu lösen und zu natürlichen Bewegungen, den Energien… zurückzufinden – das geht nur mit Hilfe des Geistes und damit stellt sich die Verbindung wieder her. – Es besänftigt die 9 Windstärken im Kopf, glättet die See im Gemüt und führt zu einer neuen Balance. (Hier versteht ihr vielleicht, warum online-Arbeit nie eine Option für mich war. Das Problem, was ich bearbeiten und überwinden will, ist dabei gewissermassen die Geschäftsbedingung).

E., es ist mir nur langsam gedämmert: Du hast mich ja „genötigt“ an der Vorführung teilzunehmen. („Sich Zeigen“). Da hast du mir mit deiner tollen Präsenz und deinem Vertrauen über eine Schwelle geholfen, die mir weit über den Dojang hinaus, neue Horizonte und Möglichkeiten erschlossen hat.

Danke,U. Für einige persönliche Hinweise, wo es lange später überhaupt erst durchgesickert ist, was du eigentlich von mir willst. „Lebenslängliche Themen„… Auch an alle, die geduldig mit mir trainiert haben. Für mich war der Weg mit euch nicht nur ungezählte tiefe und schöne Erinnerungen. Ihr ward auch meine „Therapie“. Eine echte Herzensangelegenheit ist auch aufs engste mit euch verbunden. Die letzten drei Jahre meiner Knastzeit war ich in Strafhaft in Bruchsal und konnte an manchen Gemeinschafts-Veranstaltungen teilnehmen.

Bei einem Filmabend hab ich mich unsterblich in „Die Tochter des Meisters„3 verguckt. Noch kann ich nicht bei ihr vorstellig werden als Schüler. Aber ich bin auf dem Weg und die Gewissheit ist noch recht jung. Für einen „Grauen Panther“ ist das schon ein Ding! Als Amateur Fussballer würde ich seit Jahren für meine Sportsfreunde den Rasen mähen und das Bier kalt stellen. Das alles ist viel mehr als ich mir jemals erträumt habe!

Karl Grosser

Fussnoten:

1 Autobiografisches Buch (2013) des Schriftstellers und Künstlers Wolfgang Herrndorf, der darin die letzten drei Jahre seines durch einen Hirntumor begrenzten Lebens dokumentierte

2 Deutscher Titel (1976) des Buches „We talk, you listen; new tribes, new turf“ von Vine Deloria junior; 1970

3 Chinesischer Actionfilm von 1983

Zuerst veröffentlich auf Perspektive Solidarität, Hamburg

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —      Justizvollzugsanstalt Stuttgart.

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Pro und Contra des Labor

Erstellt von Redaktion am 10. April 2023

Pro und Contra Laborhypothese: Der Kampf um die Deutungshoheit

Quelle      :        INFOsperber CH.

Martina Frei /   

Nach neuen, brisanten Aussagen zugunsten der Laborthese bedienten andere Wissenschaftler die Medien mit Contra-Informationen.

Ob das Coronavirus Sars-Cov-2 aus einem Labor oder von Tieren stammt, wurde von Pandemiebeginn an mehr als politische denn als wissenschaftliche Frage behandelt. Der Hergang zeigt auch, wie vorsichtig Medien sein sollten. Im Folgenden eine Chronologie aufgrund der neusten «Erkenntnisse».

Die Akteure

Robert Redfield, Virologe und bis Januar 2021 Leiter der grössten US-Gesundheitsbehörde «Centers for Disease Control and Prevention» (CDC).

Florence Débarre, Evolutionsbiologin am «Centre national de la recherche scientifique» und der Sorbonne-Universität in Paris. 

George F. Gao, Virologe und Immunologe. Bis Juli 2022 Direktor des chinesischen Zentrums für Krankheitskontrolle und
-prävention, dem Pendant zu den CDC in den USA. 

Anthony Fauci, Arzt und Immunologe. Bis Dezember 2022 Direktor des Instituts für Infektionskrankheiten und Allergien (NIAID) an der grossen US-Forschungsinstitution «National Institutes of Health». 

Kristian G. Andersen, Professor in der Abteilung für Immunologie und Mikrobiologie am Scripps Research Institute in La Jolla, Kalifornien. Gehörte zum engen Kreis der Wissenschaftler, die sich zu Beginn der Pandemie, am 1. Februar 2020, mit Anthony Fauci austauschten.

Robert F. Garry, Professor für Mikrobiologie und Immunologie an der Tulane-Universität in New Orleans. Gehörte ebenfalls zum engen Kreis der Wissenschaftler, die sich am 1. Februar 2020 mit Anthony Fauci austauschten.

Edward C. Holmes, Virologe und Evolutionsbiologe an der australischen Universität Sydney. Holmes erachtete das Pandemievirus anfangs als «nicht übereinstimmend mit Erwartungen der Evolutionstheorie». Zusammen mit Andersen und Garry veröffentlichte Holmes im März 2020 einen wichtigen Leserbrief in «Nature Medicine».

Jeremy Farrar, Wissenschaftler und langjähriger Direktor des «Wellcome Trust», mit rund 38 Milliarden eine der weltweit grössten gemeinnützigen Stiftungen, die Gesundheitsforschung und -forscherInnen finanziert (Infosperber berichtete). Farrar organisierte die Videokonferenz mit Anthony Fauci und den Wissenschaftlern am 1. Februar 2020. Farrar wird im zweiten Quartal 2022 Leiter Wissenschaft bei der WHO.

Die Chronologie

Seit Monaten versucht ein US-Untersuchungsausschuss herauszufinden, woher das Pandemievirus stammt. Für den 8. März 2023 lud der Ausschuss den Virologen Robert Redfield vor, den früheren Leiter der US-Gesundheitsbehörde «Centers for Disease Control and Prevention» (CDC). Die CDC sind mit ihren 10’000 Mitarbeitern auch für Infektionsausbrüche zuständig. Redfield gehörte zur US-Coronavirus-Taskforce. Wer seine früheren Äusserungen kannte, konnte sich ungefähr ausrechnen, was er am 8. März aussagen würde.

Während Redfields Termin näherrückte, durchforstete Tausende Kilometer entfernt die französische Evolutionsbiologin Florence Débarre die Gisaid-Datenbank. In dieser grossen Datenbank hinterlegen viele Forscher Informationen zum Erbgut von Grippe- und Coronaviren.

Dabei stiess Débarre am 4. März 2023 auf bisher unbekannte Gen-Daten. Sie sei bei ihrer Forschung zufällig darüber gestolpert, sagte sie dem Wissenschaftsmagazin «Science». Unterstellungen, sie sei irgendwie anders zu diesen Daten gekommen, wies sie scharf zurück. Die Gen-Daten stammten von Proben, die chinesische Wissenschaftler von Januar bis März 2020 am Fischmarkt in Wuhan gesammelt hatten.

«Dieses Virus sah für mich konstruiert aus.»

Robert Redfield, Virologe, früher Leiter der CDC und Mitglied der US-Coronavirus-Taskforce

Redfields brisante Aussagen vor dem Ausschuss

Am 8. März sagte Robert Redfield unter Eid vor dem Untersuchungsausschuss aus: «Basierend auf meiner Analyse der Daten kam ich [zu Beginn der Pandemie – Anm. d. Red.] zur Überzeugung und glaube das auch heute noch, dass Covid-19 wahrscheinlicher das Resultat eines Laborunfalls war als das Ergebnis eines natürlichen Überspringens.»

Das Virus habe an einer wichtigen Stelle einen menschlichen Gencode enthalten, führte Redfield aus. «Das war sehr beunruhigend für mich. Dieses Virus sah für mich konstruiert aus.» Das habe er zu Beginn der Pandemie auch Anthony Fauci, dem WHO-Direktor Tedros Ghebreyesus und Jeremy Farrar gesagt, dem damaligen Direktor des «Wellcome Trust».

Ein weiteres Indiz für Redfield: Anders als Sars- und Mers-Viren, die nie gelernt hätten, sich von Mensch zu Mensch zu verbreiten, sei das Pandemievirus nach Redfields Dafürhalten von Beginn weg «zu ansteckend» für Menschen gewesen.

Redfield hatte nach eigenem Bekunden darauf gedrängt, beide Hypothesen zum Ursprung mit grösster Ernsthaftigkeit zu untersuchen. Doch weil Faucis Team nur ein Narrativ gewollt habe und er, Redfield, einen anderen Standpunkt vertrat, sei er weder in wichtige Videocalls noch in E-Mails eingebunden worden, in denen Fauci und Farrar sich mit verschiedenen Wissenschaftlern über die Herkunft des Virus austauschten (Infosperber berichtete mehrmals).

Krasser Widerspruch zu Fauci

Dass er in diese Unterredungen nicht einbezogen worden sei, habe ihn «total enttäuscht» und auch verärgert, bekannte Redfield vor dem Untersuchungsausschuss. Er habe von diesen geheimen Diskussionen zwischen Fauci und anderen Wissenschaftlern erst erfahren, als dies mit Hilfe des Öffentlichkeitsgesetzes ans Licht kam.

Es gehöre zur Wissenschaft, dass Debatten gefördert würden, damit die Wissenschaft schliesslich die Wahrheit finde, so Redfield. In diesem Fall aber sei a priori beschlossen worden, nur eine Sichtweise zu bringen und jeden, der damit nicht einverstanden gewesen sei, ins Abseits zu stellen.

Der frühere CDC-Direktor gab weitere klare Statements ab: Die «National Institutes of Health» (NIH), wo Anthony Fauci das NIAID leitete, förderten Redfield zufolge die «gain of function»-Forschung – auch in Wuhan. «Ich denke, es gibt keinen Zweifel», sagte Redfield vor dem Ausschuss. Damit widersprach er Anthony Fauci, der ebendort unter Eid vor einiger Zeit das Gegenteil behauptet hatte. Somit steht nun die Frage im Raum, ob Fauci einen Meineid leistete. Bei der «gain of function»-Forschung werden Mikroben so verändert, dass sie neue Eigenschaften erwerben, also zum Beispiel ansteckender oder gefährlicher werden.

Drei «sehr ungewöhnliche» Vorgänge

Es sei klar, so Redfield, dass im Labor in Wuhan im September 2019 ein «bedeutsames Ereignis» stattfand. In früheren, normalen Zeiten habe er mit George Gao, seinem chinesischen Amtskollegen, dem Direktor des chinesischen CDC, in gutem Austausch gestanden. Doch dann sei dieser unkomplizierte, informelle Austausch plötzlich nicht mehr möglich gewesen.

File:Wuhan Institute of Virology main entrance.jpg

Damals seien drei Dinge in dem Labor in Wuhan passiert, die Redfield als «sehr ungewöhnlich» bezeichnet: Erstens wurden Informationen zum Erbgut von Coronaviren in einer Datenbank gelöscht. Zweitens sei das Labor in Wuhan der militärischen Kontrolle unterstellt worden, während es zuvor der zivilen Kontrolle unterstanden habe. Drittens sei das Belüftungssystem im Labor erneuert worden.

«Fox News» und andere Medien verbreiteten Redfields Aussagen sofort. In Schweizer Medien las man nichts davon.

Verfechter der Hypothese vom natürlichen Ursprung suchen in den Daten

Am 9. März 2023, dem Tag nach Redfields Anhörung, realisierte Débarre nach eigenen Angaben, wie bedeutsam die Daten seien, die sie in der Datenbank entdeckt hatte. Dem Magazin «Science» zufolge suchte sie sofort Unterstützung bei einer Gruppe von westlichen Wissenschaftlern, die stark die Hypothese vom natürlichen Ursprung vertreten.

Eiligst machten sie sich zusammen in den chinesischen Daten, die sie von der Gisaid-Datenbank heruntergeladen hatten, auf die Suche. Gelänge es, einen tierischen Zwischenwirt zu finden, wäre das Rätsel, woher das Virus stammt, gelöst.

Zwei Tage nach Redfields Anhörung, am 10. März 2023, stimmte das US-Repräsentantenhaus einig wie selten mit 419 zu null Stimmen für einen Gesetzentwurf. Dieser verpflichtet die US-Geheimdienstkoordinatorin, sämtliche Informationen über die Herkunft von Sars-CoV-2 offenzulegen, insbesondere zu den Verbindungen zum Labor in Wuhan. Ob der US-Präsident dieses Gesetz unterschreiben würde, war zu diesem Zeitpunkt offen.

Nun gelangten die Neuigkeiten der Evolutionsbiologin Florence Débarre und ihrer Kollegen an die Öffentlichkeit.

Die Gen-Daten, die sie analysierten, gehören zu einer wissenschaftlichen Arbeit, die Redfields chinesischer Amtskollege George Gao, der frühere Leiter des chinesischen CDC, zusammen mit KollegInnen bereits im Februar 2022 auf einem sogenannten Preprint-Server veröffentlicht hatte.

Für die einen «nichts Neues», für die anderen die Bestätigung

Das chinesische Team wartete darauf, dass Gutachter ihr OK zur Publikation im Wissenschaftsmagazin «Nature» gaben. Mindestens ein Gutachter bestand darauf, dass Gaos Team alle Rohdaten offenlege. Gegenüber dem Wissenschaftsmagazin «Science» sagte Gao, diese Daten seien nichts Neues.

Das Fazit seiner Arbeit: Man habe keinen tierischen Wirt für Sars-CoV-2 gefunden. Es sei daher nicht auszuschliessen, dass das Virus durch Menschen oder über gefrorene Waren in den Markt in Wuhan eingeschleppt wurde. Um die mögliche Herkunft des Virus zu ergründen, sei mehr internationale Koordination nötig.

«The Atlantic» erhält Informationen zugespielt

Débarre und ihre Kollegen lasen aber etwas anderes aus den Daten heraus: Sie entdeckten in einer Probe sowohl Marderhund-Erbgut als auch Sars-CoV-2-RNA. Daraus schlossen sie, dass der Marderhund vermutlich mit Corona infiziert war – er könnte ihrer Ansicht nach also der gesuchte Zwischenwirt sein, von dem das Virus auf den Menschen übersprang.

Noch bevor Débarre und Co. irgendetwas Wissenschaftliches veröffentlichten, das die Fachwelt hätte prüfen können, erhielt die Laienpresse Informationen: «Eine neue Analyse von genetischen Sequenzen, die vom Markt gesammelt wurden, zeigt, dass Marderhunde, die illegal dort verkauft wurden, das Virus Ende 2019 möglicherweise in sich trugen und ausschieden.» Das sei bisher «der stärkste Hinweis», dass die Pandemie von einem Tier ausging und nicht durch einen Laborunfall verursacht wurde, schrieb «The Atlantic» am 16. März 2023.

Am 18. März zog die WHO nach, die von Débarres Kollegen laut eigenen Angaben am 11. März informiert wurde. Laut der WHO würden die Daten zeigen, dass auf dem Markt Tiere waren, die für Sars-CoV-2 empfänglich seien und die eine Ansteckungsquelle für Menschen «gewesen sein könnten».

Am 20. März 2023 veröffentlichten Débarre und ihre KollegInnen schliesslich ihre Sicht der Dinge: «Die seit Beginn der Pandemie angesammelten Daten weisen gesamthaft klar auf einen tierischen Ursprung des Virus hin.» Die Argumente für diese Hypothese stünden in starkem Kontrast zu den fehlenden Beweisen für irgendeine andere Entstehungsgeschichte. Auf die von Robert Redfield und anderen Wissenschaftlern vorgebrachten Indizien für die Laborhypothese gingen sie nicht ein.

«Wissenschaft beruht auf Beweisen und Fakten, nicht auf Spekulation. Insbesondere kann man nicht in den Medien übertreiben, um die Öffentlichkeit und Politiker in die Irre zu führen.»

George F. Gao, ehemaliger Leiter der chinesischen Gesundheitsbehörde CCDC

George Gao, der frühere Leiter des chinesischen CDC, bezeichnete Débarres Analysen als «irreführend»: «Wissenschaft beruht auf Beweisen und Fakten, nicht auf Spekulation. Insbesondere kann man nicht in den Medien übertreiben, um die Öffentlichkeit und Politiker in die Irre zu führen», so Gao gegenüber der Non-Profit-Organisation «U.S. Right To Know». Er forderte die Gruppe um Débarre auf, sich zu beruhigen und «anständige Wissenschaft» zu machen.

Am 21. März 2023 meldete sich die Datenbank Gisaid zu Wort. Denn Analysen mit den Daten anderer Wissenschaftler vorzunehmen und diese eigenen Analysen zu veröffentlichen, noch bevor die chinesischen «Eigentümer» ihre wissenschaftliche Arbeit publiziert haben – das ist nicht die feine Art. Einige Benutzer hätten einen unvollständigen Teil der chinesischen Daten heruntergeladen, teilte Gisaid mit und meinte damit Débarre und ihre Kollegen. Gisaid rügte sie: «Vorzeitige Diskussionen von wissenschaftlichen Daten in den Medien drohen das öffentliche Vertrauen in die wissenschaftliche Forschung zu untergraben.»

Chinesische Proben belegen «überhaupt nichts»

Medial war das Ganze jedoch ein Riesenerfolg für Débarre und ihre Kollegen. Denn obwohl weiterhin nichts bewiesen ist, berichteten Dutzende Medien über ihren Befund: Der Marderhund wurde als möglicher Zwischenwirt gehandelt. Deutschsprachige Medien zitierten weitherum den Virologen Christian Drosten: «Diese vorläufige Analyse chinesischer Daten bestätigt meine stets favorisierte Hypothese.»

Aussagen wie jene des deutschen Virologen Alexander Kekulé vom 23. März 2023, die chinesischen Proben würden «überhaupt nichts» belegen und einige seien sogar von einer Reinheit, die fast zu gut sei, kamen zu spät und wurden demgegenüber viel weniger zitiert.

Potenzielle Interessenkonflikte blieben unerwähnt

Unerwähnt blieben in fast allen Berichten über Débarres Neuigkeit ihre Co-Autoren. Eine ganze Reihe von ihnen unternahm im Februar 2022 mit geleakten chinesischen Daten schon einmal eigene Analysen. Ihr Fazit bereits damals: Die Hypothese vom natürlichen Ursprung sei viel plausibler als die Laborhypothese.

Finanziell gefördert werden etliche der Co-Autoren von den «National Institutes of Health», vom «Wellcome Trust» oder zum Beispiel von Anthony Faucis früherem Institut NIAID. Die lange Liste ihrer potenziellen Interessenkonflikte war in den grossen Medien kein Thema.

Drei Namen stechen unter den Autoren hervor: Kristian G. Andersen, Professor in der Abteilung für Immunologie und Mikrobiologie am Scripps Institute in Kalifornien. Robert F. Garry, Professor für Mikrobiologie und Immunologie an der Tulane-Universität in New Orleans. Und Edward C. Holmes, Virologe und Evolutionsbiologe an der australischen Universität Sydney. Alle drei hatten am 1. Februar 2020 an dem Videocall mit Anthony Fauci teilgenommen.

Andersen war es, der Ende Januar 2020, zu Beginn der Pandemie, in einer E-Mail an Anthony Fauci noch schrieb: «Einige Eigenschaften [des Virus] sehen (potenziell) fabriziert aus.» Und: «Ich finde, das Erbgut [des Virus] ist nicht vereinbar [inconsistent] mit dem, was man von der Evolutionstheorie her erwarten würde.»

Auch Holmes und Garry befanden noch am 2. Februar 2020, das Coronavirus sei «nicht übereinstimmend mit Erwartungen der Evolutionstheorie». Damals schrieb Garry, er könne nicht verstehen, wie SARS-CoV-2 sich auf natürliche Weise herausgebildet haben könne.

In den folgenden zwei bis vier Tagen änderten Andersen, Holmes und Garry ihre Meinung diametral. Nun schlug Andersen vor, in einem Fachbeitrag zu schreiben, das Virus sei «konsistent mit natürlicher Evolution». Der Entwurf wurde angeblich schon am 4. Februar 2020 verfasst. Am 17. März 2020 erschien dieser Beitrag in «Nature Medicine». «Wir glauben nicht, dass irgendein Labor-basiertes Szenario plausibel ist», hielten Andersen, Holmes und Garry dort bereits zu einem Zeitpunkt fest, als noch überhaupt nichts klar war. Trotzdem beeinflusste ihr Artikel die öffentliche Meinung massgeblich: Der Laborursprung wurde daraufhin in grossen Medien als die weniger wahrscheinliche Hypothese oder sogar als Verschwörungstheorie gehandelt.

«Teil eines Narrativs, das sie erschufen» – oder plötzliche, neue Erkenntnisse?

Seinen plötzlichen Sinneswandel innerhalb weniger Tage erklärte Andersen später gegenüber der «New York Times» damit, dass er sich das Virus nochmal genauer besehen habe. Auch Garry relativierte später und sagte, er habe in den anfänglichen Diskussionen den «advocatus diaboli» gespielt. Die Gruppe um Fauci hätte diverse Informationen ausgetauscht und es sei ihnen sehr schnell klar geworden, dass das Pandemievirus natürlichen Ursprungs sei.

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Am 8. März 2023 bezeichnete Redfield den von Andersen, Garry und Holmes mit-verfassten Artikel in «Nature Medicine» vor dem Untersuchungsausschuss als «inakkurat, […] Teil eines Narrativs, das sie erschufen».

Mittlerweile haben Gao und seine KollegInnen eine überarbeitete Version ihrer Publikation auf einen chinesischen Preprint Server hochgeladen und «Nature» veröffentlichte eine vorläufige Version ihres Artikels – worauf eine der Ko-Autorinnen von Débarre diesen auf Twitter sofort als «sehr fehlerhaft» brandmarkte.

In ihrer Kernaussage bleiben die chinesischen Wissenschaftler dabei: Die Proben können keine Infektionen mit Sars-CoV-2 bei Tieren beweisen. Um die mögliche Herkunft des Virus zu ergründen, brauche es mehr internationalkoordinierte Anstrengungen.

Heftige Vorwürfe an die chinesischen Wissenschaftler

Von Débarre, ihren Kollegen und anderen westlichen Wissenschaftlern, aber auch von der WHO hagelte es Kritik: Die chinesischen Wissenschaftler hätten diese wichtigen Daten sofort zugänglich machen müssen, anstatt sie jahrelang zurückzuhalten. «Unentschuldbar» sei die mangelnde Offenlegung, zitierte «Der Spiegel» eine WHO-Epidemiologin.

Was nicht erwähnt wird: Wichtige Informationen über die Anfänge der Pandemie, die in US-Archiven schlummern, wurden bisher nicht oder erst auf juristischen Druck hin offengelegt. Und selbst wenn sie offengelegt werden mussten, waren viele Stellen geschwärzt oder Hunderte von Seiten einfach weiss (Infosperber berichtete).

Die E-Mail-Korrespondenz zwischen Fauci, Andersen und den anderen am Videocall vom 1. Februar 2020 beteiligten Wissenschaftlern beispielsweise kam nur dank des Öffentlichkeitsgesetzes ans Licht. Und just zu dem Zeitpunkt, als diese E-Mails publik wurden, löschten sich Andersens frühere Tweets angeblich plötzlich von selbst. Im Artikel von Débarre betonen Andersen und alle anderen Autoren hingegen, sie seien Befürworter des offenen Datenaustausch unter Wissenschaftlern.

Vielleicht kommt nun mehr Licht ins Dunkel

Der – vorerst – letzte Akt in diesem Hin und Her: Am 20. März unterzeichnete US-Präsident Biden das nach der Anhörung Redfields vorgeschlagene Gesetz. Dieses verpflichtet die Leiterin des US-Geheimdiensts, «so viele Informationen wie möglich» zum Ursprung des Virus öffentlich zu machen. Dafür hat sie 90 Tage Zeit.

Noch ist aber offen, welche der bisher geheimen Informationen die US-Regierung wann offenlegen wird.

Ursprung im Wuhan-Labor käme sowohl USA als auch China ungelegen

Beim Sars-Ausbruch von 2003 gelang es rasch herauszufinden, dass das Virus von Fledermäusen über Zibetkatzen auf den Menschen übersprang. Beim Sars-CoV-2-Ausbruch von 2019 dagegen ist auch nach drei Jahren und mehr als 80’000 gesammelten Proben offen, woher das Virus kam. 

China behauptet, das Pandemievirus stamme von ausserhalb des Landes. Die USA dagegen behaupten, Sars-CoV-2 stamme aus China. 

Politisch wäre es für die USA am besten, wenn das Pandemievirus in China von Tieren auf den Menschen übertragen worden wäre. Dann träfe die USA keinerlei Mitschuld. Würde sich hingegen die Laborhypothese bestätigen, dann stünden auch die USA in der Mit-Verantwortung, weil sie die virologische Forschung in Wuhan massgeblich finanzierten. Auch die EU förderte Forschung am Institut für Virologie in Wuhan.

Weder China noch die USA haben also ein Interesse daran, dass sich die Hypothese bestätigt, dass Sars-CoV-2 aus einem Labor in Wuhan stamme. 

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Grafikquellen        :

Oben      —   Dr. Robert R. Redfield, director of the Centers for Disease Control and Prevention, joined by President Donald J. Trump and Vice President Mike Pence, along with members of the White House Coronavirus Task Force, addresses his remarks at a coronavirus update briefing Wednesday, April 8, 2020, in the James S. Brady Press Briefing Room of the White House. (Official White House Photo by D. Myles Cullen)

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2.) von Oben       —    Wuhan Institute of Virology is a research institute by the Chinese Academy of Sciences in Jiangxia District, south of the Wuhan city, Hubei province, China.

Author Ureem2805         /    Source     :    Own Work      /       Date   :    12 December 2016

This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.

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Unten        —                Redfield (rechts) während der Pressekonferenz der COVID-19-Task-Force am 29. Februar.

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Kolumne * Materie

Erstellt von Redaktion am 10. April 2023

Die Letzte Generation ist zu religiös

Eine Kolumne von Kersten Augustin

KlimaktivistInnen der Letzten Generation. – Gerade an Ostern fällt auf, wie religiös die Letzte Generation eigentlich ist. Und dass das ein strategisches Problem für die Klimabewegung ist.

Oh, schon wieder vier Wochen um, neuer Monat, neue Kolumne. Aber worüber? Die Welt hat sich weitergedreht, aber immer nur um sich selbst statt auch mal nach vorne. Während ich verzweifelt nach einem Thema suche, kleben sich AktivistInnen vor dem Hamburger Elbtunnel fest und legen den Verkehr lahm. Danke, denke ich im ersten Moment, Kolumne gerettet. Klimakleber, das regt auf, das zieht immer. Und im zweiten: Scheiße, da muss ich morgen auch durchfahren, auf dem Weg in den Osterurlaub.

Mein letzter Rest Sympathie mit der Letzten Generation ist zuletzt deutlich schneller verschwunden als hartnäckige Kleberreste, und das liegt nicht an meiner persönlichen Betroffenheit. Ich verstehe einfach nicht, warum Linke, die sonst vor einem Kulturkampf von Rechts warnen, wenn Markus Söder mal wieder „Insektenburger“ sagt, tatsächlich glauben, dass sie ein Kulturkampf von Links irgendwie näher an ihr Ziel bringt: das Erreichen der Klimaziele. Nichts anderes ist die Verlagerung eines politischen Konflikts auf den Individualverkehr: Kulturkampf.

Gerade an Ostern fällt mir auf, wie religiös die „Letzte Generation“ eigentlich ist. Und dass das ein strategisches Problem für die Klimabewegung ist.

Es ist nicht nur der Name, der verrät, dass ihre Mitglieder im Konfirmationsunterricht besonders fleißig waren. Es ist die Selbstinszenierung als Märtyrer, die aus der Ablehnung durch die Mehrheit ihre Bestätigung zieht. Beim NDR schreibt ein Pastor, die Letzte Generation stünde „in der Tradition der Bergpredigt Jesu, und der Aufforderung, dem, ‚der dich auf die Wange schlägt, auch die andere darzubieten.‘“

Doomismus lähmt

Nicht nur die Letzte Generation ist quasi-religiös. Große Teile der klimabewegten Bevölkerung übernehmen die Rhetorik der kleinen Gruppe. Gerade haben 240 VertreterInnen diverser Parteien von der Linken bis zur CDU einen offenen Brief an Olaf Scholz geschickt. Auch sie bezeichnen sich als die Letzte Generation, die aufhalten könne, was uns drohe: „der globale Verlust unserer Kontrolle über die menschengemachte Klimakrise.“

War das Auto festgeklebt – oder hielten die Bullen ein Kreuz in den Händen ?

Auch, wer die Klimakrise ernst nimmt, darf diese Wortwahl in Frage stellen. Man überzeugt niemanden, indem man den Weltuntergang heraufbeschwört. Dieser Doomismus lähmt, statt zu bewegen. Die Klimakrise ist längst Alltag, sie tötet von Pakistan bis zum Ahrtal. Es ergibt keinen Sinn, von einer Gefahr in der Zukunft zu sprechen, wenn die Krise längst Gegenwart ist.

Jesus nimmt an Ostern die Schuld der Menschheit auf sich, um sie zu erlösen. Und in dieser Geste steckt auch das Problem der Letzten Generation und ihrer Anhänger. Statt die Menschen in ihren Autos zum gemeinsamen Kampf zu bewegen, übernehmen sie als Märtyrer die Last.

Sie nehmen die Wut der Autofahrer auf sich, die in der Mehrheit die Gefahr der Klimakrise längst erkannt haben, aber sich ohnmächtig fühlen, und kämpfen stellvertretend für die Erlösung. Aber das ist nicht empowernd, wie man heute sagt, sondern entlastend.

Quelle       :        TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Unten        —    Aufstand der Letzten Generation Aalen 2023-03-13

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Frieden und Ostermärsche

Erstellt von Redaktion am 9. April 2023

Kein Frieden in der Bewegung

Von Christian Jakob

Die Friedensbewegung ist gespalten: Wie scharf soll man die russische Aggression verurteilen? Und wie soll man mit Querdenkern und Rechten umgehen?

Kann es gute Nachrichten geben in so einer Zeit, mit Hunderttausenden Toten, keinem Ende des Kriegs in der Ukraine in Sicht und Atomraketen, die neu aufgestellt werden? Vielleicht diese hier: „Als neulich beide Seiten sagten: Wir haben keine Munition mehr. Das war die einzige gute Nachricht“, sagt Kristian Golla.

60 Jahre ist Golla alt. 42 dieser Jahre verbrachte er in der Friedensbewegung, seit über 30 Jahren ist er Geschäftsführer des Netzwerks Friedenskooperative, dessen Jahr gewissermaßen von Ostermarsch zu Ostermarsch verläuft. Diese vorzubereiten, ist Gollas Aufgabe.

Das Büro des Friedens-Dachverbands liegt in einem Wohnbezirk von Bonn. Golla, schwarzes Sakko, schwarze Mütze, zeigt alte Fotos: Bonner Hofgarten, die berühmten Demos mit Hunderttausenden. Damals gab es keinen heißen Krieg, nur einen kalten, aber die Friedensbewegung prägte eine ganze Generation. Jetzt, da die Kriegsangst zurück ist, sind auch die Ostermärsche wieder für Menschen interessant, die sie schon fast vergessen hatten.

„Als wir mit unserer Anzeige in der taz für den Ostermarsch Reklame gemacht hatten, da gab es so viele Rückmeldungen wie noch nie“, sagt Golla. „Was wollt ihr denn in dieser Kriegstreiberzeitung?, haben die Leute zwar per Mail gefragt. Aber gleichzeitig haben sich so viele Unterzeichnende gemeldet wie noch nie.“

Vieles, was die Friedensbewegung seit jeher zu verhindern versuchte, ist durch Putins Angriffskrieg eingetreten: Krieg in Europa, mehr Rüstungsexporte, mehr Geld für die Bundeswehr. Und die Gefahr, dass alles noch schlimmer wird, ist groß. „Die Menschen treibt die Frage um: Was ist die richtige Reaktion?“, sagt Golla.

Seine Antwort steht in dem Aufruf, den das Netzwerk zum Ostermarsch geschrieben hat. „Von Russland fordern wir das Ende des Krieges gegen die Ukraine“, steht darin. Das klingt selbstverständlich, bloß sucht man diesen Satz in anderen Friedensmanifesten bekanntlich oft vergebens. Und auch in vielen der lokalen Ostermarsch-Aufrufe, etwa jenem aus Berlin, fehlt jede Erwähnung Russlands. Das ist eine der Bruchlinien, die sich heute durch die Friedensbewegung ziehen.

„Immer mehr Waffenlieferungen schaffen keinen Frieden und werden die Spirale der Gewalt nicht durchbrechen“ – so hat Golla es im bundesweiten Aufruf formuliert. Die Argumentation werfe Probleme auf, räumt er ein: „Wer für Waffenlieferungen ist, macht sich moralisch-ethisch schuldig, weil damit Leute zu Tode kommen. Wer als Pazifist gegen Waffenlieferungen ist, macht sich schuldig durch Unterlassen, weil dann auch Menschen ums Leben kommen. Diese Widersprüchlichkeit muss ich aushalten.“

Dass geflüchtete Ukrainer für Waffenlieferungen seien, sei legitim, findet Golla: „Die sagen: Wir sitzen im Warmen, und das Einzige, was wir tun können, ist für Waffenlieferungen zu sein. Nur so können sie ihre Heimat unterstützen.“ Die klassische Friedensbewegung aber müsse auf andere Lösungen drängen.

Von Bundeskanzler Olaf Scholz fordert Gollas Netzwerk deshalb, „endlich wieder Friedensinitiativen“ zu starten. Denn da müsse mehr möglich sein, findet Golla. „Dass alle maximal pokern, gehört dazu. Aber die reden ja trotzdem. Wie sonst hätte es das Getreideabkommen geben können oder den Gefangenenaustausch?“ Und so müsse eben noch mehr geredet werden. Das sei die Botschaft, mit der die Friedensbewegung auf die Straße gehen werde.

Seit 1960 gibt es die Ostermärsche, noch nie in dieser Zeit war ein großer Krieg so nah. Golla zeigt eine Karte auf einem riesigen Flatscreen an der Wand. So viele Punkte sind zu sehen, dass sie sich gegenseitig überlappen: alles geplante Kundgebungen an Ostern. Organisiert werden sie lokal. Die Friedensbewegung funktioniere „bottom-up“, sagt Golla. „Jede Gruppe hat eigene Schwerpunkte, und unser Job ist die bundesweite Klammer, das zusammenzuführen.“

Diese Autonomie, ein Merkmal der politischen Kultur sozialer Bewegungen der alten Bundesrepublik, machte lange ihre Stärke aus. Heute ist sie gleichzeitig ihr Problem. Denn die ­Friedensbewegung stehe „aktuell so uneins da wie schon lange nicht mehr“, schreibt die Junge Welt, die unverdächtig ist, die Bewegung spalten zu wollen.

Angst vor „Querfront-Geschmuse“

Die Friedensbewegung muss in diesen Wochen mit zwei Schwierigkeiten umgehen. Die erste: Die Standpunkte zum Ukrainekonflikt liegen unter jenen, die heute mit Friedenstauben und Pace-Fahnen auf die Straße gehen, teils ­meilenweit auseinander. Strittig ist vor allem die Frage, wie viel Schuld Russland am Krieg trägt und wie viel der Westen.

Und die zweite Schwierigkeit: Selbst die AfD präsentiert sich heute als „Friedenspartei“. Dass die politischen Milieu­-Übergänge der traditionell linken Friedensbewegung heute fließend geworden sind, zeigte sich unter anderem daran, wer alles auf das „Manifest für den Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht ansprang.

Wo also die Grenze ziehen?

Andrea-Cora Walther findet, dass die Abgrenzung nicht deutlich genug ist. Wann sie den Ostermarsch das letzte Mal ausgelassen hat, weiß die friedensbewegte Oberhausener Steuerberaterin nicht mehr. Der Marsch steht jedes Jahr fest in ihrem Kalender. Doch ausgerechnet dieses Mal wird sie nicht hingehen. „Mir blutet ja auch das Herz“, sagt sie. Doch sie fürchtet „Querfront-Geschmuse“ und „rechte Mitläufer“.

Auf den Vorbereitungstreffen in den Oberhausener Ortsgruppen habe sie dies zum Thema gemacht, aber nur gehört: „Wir können uns doch nicht die Mobilisierung auf der Straße von den Querschwurbelnden nehmen lassen.“ Bei manchen gelte „Augen zu und durch“, sagt Walther. Andere „stimmen mit den Füßen ab, indem sie nicht an den Aktionen teilnehmen“. So wie sie.

Der Politologe Thorsten Gromes von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung hat die Aufrufe zu Ostermärschen ausgewertet, die das Netzwerk Friedenskooperative Anfang April auf seiner Website aufführte. Von 48 Aufrufen forderten nur acht einen Rückzug Russlands aus der Ukraine. Viele relativierten dagegen die russische Schuld am Blutvergießen.

Einige langjährige Ostermarsch-Demonstranten stören sich deshalb an einer „schleichenden Täter-Opfer-Umkehr“. Die Ukraine werde von Teilen der Friedensbewegung zunehmend als eigentliche Gefahr für den Frieden gesehen, weil sie Russland keine Zugeständnisse machen wolle. Um einen Atomkrieg zu verhindern, solle das angegriffene Land Russland Gebiete abtreten.

Nicht wenige stört auch, dass Querdenkergruppen wie die Partei Die Basis oder die Freien Linken bei den Märschen dabei sind. In Hamburg und Fulda zog der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) deshalb seine Unterstützung für den Ostermarsch erstmals zurück, in Hamburg, Berlin, Potsdam und Magdeburg auch Die Linke. „Klare Kante“, lobte der linke thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow.

Kristian Golla weiß das alles – und versucht dagegenzuhalten. „Was wir tun können, ist zu formulieren, dass diese Leute definitiv nicht eingeladen sind“, sagt er. Es seien Trittbrettfahrer, die andere Ziele verfolgten. „Coronaleugner wollen ihre Verschwörungsideologie verbreiten und suchen dafür Mitstreiter. Denen geht es nicht um Frieden.“ Genauso die AfD: Die wolle eine „starke Bundeswehr aus nationalistischen Gründen“. Die Friedensbewegung aber sei „klar internationalistisch, für Ausgleich, für Minderheitenschutz. Das ist das Gegenteil der AfD.“

Parteien wie Die Basis oder Team Todenhöfer seien „rechts offen, da sagen viele Gruppen: Mit denen kann man nicht zusammenarbeiten“, sagt Golla. Die Grenze verlaufe bei „Coronaleugnern, Faschismus, wenn es menschenverachtend wird“.

Golla verweist auf einen in diesem Jahr erstmals verfassten Hinweis unter einigen Aufrufen: „Wir distanzieren uns ausdrücklich von jeglicher Form von Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Sexismus und LGBTQ-Feindlichkeit“, heißt es darin.

Augenfällig wurde die politische Spreizung zuletzt in Nordrhein-Westfalen. Obwohl es in dem Bundesland etliche jahrzehntealte Friedensgruppen gibt, bildete sich dort im Februar ein Friedensbündnis NRW neu. Auf seinem Telegram-Kanal ist die Rede von einem „neuen und großen Teil der Friedensbewegung“, der „aus der Grundrechtebewegung gegen die regierungsoffiziellen und höchst profitträchtigen Corona-Maßnahmen hervorgegangen“ sei. Klarer kann man nicht sagen, dass man seine Wurzeln bei den Querdenkern hat. Die „hauptamtlichen Ostermarschorganisatoren“ werden als „NATO-fromm“ kritisiert. Antifa-Recherchegruppen sprechen von „weit nach rechts offenen Strukturen“ – mit Blick auf Teile des Bündnisses wie etwa die Düsseldorfer Außerparlamentarische Opposition (APO) oder „Oberberg bewegt sich“.

Einige Ostermarschierer befürchten eine Täter-Opfer-Umkehr. Die Ukraine werde von Teilen der Bewegung zunehmend als eigentliche Gefahr für den Frieden gesehen.

Als am 3. April in Sankt Petersburg der bekannte russische Kriegspropagandist Maxim Fomin durch einen Bombenanschlag getötet wurde, schrieb die APO auf Telegram, sie drücke „den Familien und Freunden des bei diesem hinterhältigen Terroranschlag verstorbenen Korrespondenten unser Beileid aus“. Der Kreml selbst hätte es wohl nicht anders formuliert. Auf dem Telegram-Kanal von „Oberberg bewegt sich“ wird Robert Habeck als „Auftragskiller zur Zerstörung deutscher Industrie“ bezeichnet, der Holocaust als Lüge, die Pandemie als Märchen. Videos über den angeblichen „Great Reset“ – den wichtigsten Verschwörungsmythos der extremen Rechten – teilt die Gruppe munter.

Aus solchen Akteuren also besteht das Friedensbündnis NRW. Am 25. März organisierte es in Düsseldorf eine Kundgebung unter dem Motto „Diplomaten statt Granaten! Verhandeln jetzt!“. Hauptredner war das Ex-Linke-MdB Diether Dehm, aufgerufen hatte unter anderem die Querdenkerpartei Die Basis. Am Rande protestierten Antifas. Weil die Polizei sie nicht so vertrieb, wie die Friedensfreunde sich das vorstellten, sprachen diese hinterher von einer „anhaltenden Instrumentalisierung staatlicher Exekutivorgane für Repressalien gegen eine unerwünschte regierungskritische Opposition“ – gemeint waren sie selbst. Die Polizei sei ein „Handlanger der Antifa“. Rechtsextreme reden genauso.

Der Rechtsanwalt Jürgen Schütte ist Mitgründer des Friedensbündnisses NRW. Vorwürfe gegen Gruppen wie „Oberberg bewegt sich“ kenne er nicht und habe sie auch „in der praktischen Umsetzung unserer Arbeit nie erlebt“, sagt er der taz. Das Bündnis distanziere sich von Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus, sei davon aber „absolut nicht betroffen“. Würde man bei Teilnehmern solche Haltungen feststellen, würden diese sofort ausgeschlossen.

Doch das nehmen dem Bündnis nicht alle ab. Die ­traditionsreiche ­Deutsche Friedensgesellschaft – Ver­einigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) NRW nannte die Entwicklung – offenkundig mit Blick auf Schüttes neues Bündnis – „bedenklich“. Die Zusammenarbeit mit ihren Gruppen sei abzulehnen, so die DFG-VK in einem Rundschreiben: „Wir fragen, warum diese Kräfte eigene Strukturen aufbauen, anstatt bei den seit Jahren bestehenden Friedensgruppen vor Ort mitzuarbeiten.“ Offenbar werde bewusst die Nähe zu sogenannten Querdenkern und „noch weiter rechts stehenden Gruppierungen gesucht oder zumindest nicht ausgeschlossen“.

Der Leipziger Bewegungsforscher Andreas Leistner sieht im Kontext des Ukrainekriegs drei Muster der Mobilisierung: Für die klassische Friedensbewegung stehe unter dem Motto „Die Waffen nieder“ der Gewaltverzicht im Vordergrund. Für die „Stand with Ukraine“-Mobilisierungen sei Solidarität mit den Angegriffenen das Wichtigste. Und schließlich gebe es die „Frieden mit Russland“-Kundgebungen der extremen Rechten und der rechtsoffenen Teile der Friedensbewegung.

Minderheit mit Russlandfahnen

Diese sind weiterhin eine Minderheit, keine Frage. Aber was tun, wenn sie mit Russlandfahnen bei der Friedensdemo anrückt? „Wenn die lokalen Veranstalter Hilfe brauchen, gebe ich denen eine Antwort,“ sagt Golla. Aber letztlich müssten diese in regionaler Verantwortung entscheiden. „Sonst funktioniert das nicht.“ Auf das Friedenssymbol gebe es „kein Copyright, Frieden ist keine geschützte Bezeichnung“. Die Ökumenische Friedensdekade habe ihr „Schwerter zu Pflugscharen“-Signet als Marke eintragen lassen, um eine Ins­tru­men­ta­li­sie­rung zu verhindern. „Mit der Friedenstaube und der Pace-Fahne kann ich das nicht machen.“

Was also bleibt? „Mit unserem Aufruf wollen wir Vereinnahmung erschweren“, sagt Golla. „Natürlich können AfD-Leute kackfrech sagen: Das unterschreib ich auch. Aber ich glaube, die meisten würden sich das gut überlegen.“ Ein Problem sei, dass es Leute gebe, „die vielleicht anfangen zu glauben, dass die AfD, weil sie ja für Russland ist, doch eine Friedenspartei sei. Da ist einiges ins Rutschen gekommen“, räumt Golla ein. Das Manifest von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer habe „eine Art Graufeld“ geschaffen. Dass dort so viele unterschrieben haben, liege auch daran, dass sie „das Gefühl haben, die Friedensbewegung kommt nicht vor in der veröffentlichten Meinung“. Schwarzer und Wagenknecht hingegen gelinge das: „Die Leute denken: Die schaffen das, die dringen durch.“

Quelle           :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben        —     Ort: Berlin, Ostermarsch 2022, Internationale der Kriegsdienstgegner*innen (IDK)

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Gefährliche Überbietungen

Erstellt von Redaktion am 9. April 2023

Die neue Dimension der Waffenlieferungen an die Ukraine

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von    : Jürgen Wagner /

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 477, März 2023, www.graswurzel.neon

Der seit einem Jahr tobende Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat nach Angaben von US-General Mark Milley bereits Anfang November 2022 etwa 40.000 ukrainischen Zivilist*innen, 100.000 russischen und ebenso vielen ukrainischen Soldat*innen das Leben gekostet. (1)

Ein jahrelanger Stellungskrieg mit unzähligen Opfern, wie während des Ersten Weltkriegs, ist wahrscheinlich. Auch die Gefahr eines Super-GAUs in ukrainischen AKWs infolge der Kriegshandlungen ist nicht gebannt. Trotzdem gibt es kaum Anstrengungen für einen Waffenstillstand oder Verhandlungen. Statt diplomatische Arbeit für eine Deeskalation zu leisten, verkündet die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock Ende Januar 2023 vor dem Europarat: „Wir befinden uns in einem Krieg mit Russland“. (2) Waffenproduzenten wie Rheinmetall und Co. sind die grossen Profiteure des Krieges und der dadurch in ganz Europa ausgelösten Remilitarisierung. Die Problematik der Waffenlieferungen ins Kriegsgebiet beleuchtet für die GWR-Leser*innen Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung. (GWR-Red.)Bei der Frage deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine fällt ein Tabu nach dem anderen. Inzwischen zeigen sich auch gestandene Hardliner besorgt, wenn etwa der langjährige militärische Chefberater im Kanzleramt, Ex-Brigadegeneral Erich Vad, bereits eindringlich vor einer „Eigendynamik“ und einer „Rutschbahn“ warnte, die in einen direkten Krieg der NATO mit Russland führen könnte. „Was sind die Kriegsziele?“, fragte Vad völlig zu Recht. „Will man mit den Lieferungen der Panzer Verhandlungsbereitschaft erreichen? Will man damit den Donbas oder die Krim zurückerobern? Oder will man Russland gar ganz besiegen? Es gibt keine realistische End-State-Definition. Und ohne ein politisch strategisches Gesamtkonzept sind Waffenlieferungen Militarismus pur.“(3) Waffen! Waffen! Waffen! In Sachen Waffenlieferungen sind die USA weiterhin der zentrale Akteur, der bis Anfang Februar 2023 Kriegsgerät im Wert von rund 30 Mrd. Dollar in die Ukraine geliefert hat. In der EU ist Deutschland Spitzenreiter, nach den letzten Zusagen beim Ramstein-Treffen Ende Januar 2023 summieren sich seine Beiträge auf 3,4 Mrd. Euro. Bezahlt werden die deutschen Waffenlieferungen nicht aus dem Verteidigungshaushalt, sondern aus dem Allgemeinen Haushalt. Ausserdem gibt es ein EU-Budget für Waffenlieferungen, in das Deutschland 25 Prozent einzahlt. Der Name dieses Budgets ist zynisch: „Europäische Friedensfazilität“. Bis Februar 2023 wurden über die „Friedensfazilität“ 3,6 Mrd. Euro für Waffen an die Ukraine bezahlt.

Doch nicht nur die Beträge, auch die Feuerkraft der gelieferten Waffen nimmt ständig zu. Man kann förmlich zusehen, wie die Eskalationsleiter immer weiter hochgeklettert wird: Erst waren es Helme, dann Panzerhaubitzen, dann Flakpanzer (Gepard), anschliessend Schützenpanzer (Marder) und Ende Januar 2023 wurde dann auch noch grünes Licht für die Lieferung von zunächst 14 Leopard-2-Kampfpanzern gegeben. Am 7. Februar 2023 genehmigte die Bundesregierung zudem die Ausfuhr von bis zu 178 Leopard-1-Kampfpanzern. Kaum ist eine rote Linie überschritten, wird gleich die nächste ins Visier genommen, wenn zum Beispiel von Christoph Heusgen, dem Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, inzwischen auch die Lieferung von Kampfflugzeugen gefordert wird. (4)

Dagegen warnt inzwischen zum Beispiel auch der eigentlich auch eher zu den Hardlinern zählende Markus Kaim von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“, die „Politik“ drohe jedes „Mass und Mitte zu verlieren“, sie laufe Gefahr zur „Getriebenen“ derjenigen zu werden, die am lautesten nach immer mehr Waffen schreien würden: „Die Ukraine solle das erhalten, was für das Selbstverteidigungsrecht wichtig sei. Angesichts dieser dürftigen Begründung für deutsche Waffenlieferungen stockt einem fast der Atem: Mit einem derartigen Freibrief liesse sich auch die Lieferung taktischer Nuklearwaffen an die ukrainischen Streitkräfte rechtfertigen.“ (5) Torpedo gegen Verhandlungslösungen Eine ganze Reihe von Gründen sprechen gegen die Waffenlieferungen. Am prominentesten wird dabei auch aus Ecken, die der Friedensbewegung gänzlich fern stehen, die Gefahr einer Eskalation hin zu einem westlich-russischen Krieg benannt. Seit Mai 2022 werden in Deutschland ukrainische Soldaten für die Panzerhaubitzen 2000 ausgebildet, seit Ende Januar 2023 wird hierzulande an den Marder-Schützenpanzern trainiert und bald soll auch die Leopard-2-Ausbildung folgen.

Wenn aber Waffen im vollen Wissen geliefert werden, dass sie nur zu einem Abnutzungskrieg und weiteren Todesopfern führen, dann ist womöglich genau das das zynische Ziel des Unterfangens

Das ist brandgefährlich: Erinnert sei hier an das im Mai 2022 erschienene Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages „Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme“. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, die Lieferung von Kriegsgerät sei noch nicht als Kriegsbeteiligung zu werten, die Ausbildung ukrainischer Soldaten an diesen Geräten hingegen schon. (6)

Das ist aber nur ein Grund, gegen diese Waffenlieferungen zu sein. Mindestens ebenso wichtig ist die Frage, was mit ihnen wohl bezweckt werden soll: Erinnert sei deshalb noch einmal daran, dass russische und ukrainische Vertreter*innen ein Dokument ausgehandelt hatten, das Ende März 2022 unterschriftsreif vorgelegen hatte. Kernpunkte dieser Istanbul-Verhandlungen waren ein sofortiger Waffenstillstand, die Neutralität der Ukraine (mit Garantiestaaten) sowie die Ausklammerung der offenen Fragen um Teile des Donbas sowie der Krim, verbunden mit der Vereinbarung, eine nicht-militärische Lösung innerhalb der nächsten 15 Jahre anzustreben. (7)

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Damit war ein Weg aus diesem Krieg vorhanden, was dann im Detail geschah, ist bis heute unklar. Mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass der Westen der ukrainischen Regierung unmissverständlich nahelegte, diese Verhandlungslösung abzulehnen, verknüpft mit Zusagen für Waffenlieferungen, um den Kampf gegen Russland „erfolgreich“ fortsetzen zu können. Schon am 5. April 2022 berichtete die Washington Post, diverse NATO-Staaten würden eine Fortsetzung der Kampfhandlungen befürworten: „Das führt zu einer unangenehmen Realität: Einige in der NATO halten es für besser, wenn die Ukrainer weiter kämpfen und sterben, als dass ein Friede herauskommt, der zu früh und mit zu hohen Kosten für Kiew und den Rest Europas verbunden ist.“ (8)

Diese Angaben werden auch durch Aussagen des damaligen israelischen Premiers Naftali Bennett betätigt: „Ein Waffenstillstand sei damals, so Bennett, in greifbarer Nähe gewesen, beide Seiten waren zu erheblichen Zugeständnissen bereit. Doch vor allem Grossbritannien und die USA hätten den Prozess beendet und auf eine Fortsetzung des Krieges gesetzt. […] Auf die Frage, ob die westlichen Verbündeten die Initiative letztlich blockiert hätten, antwortete Bennett: ‚Im Grunde genommen, ja. Sie haben es blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht.‘ Sein Fazit: ‚Ich behaupte, dass es eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gab, wenn sie ihn nicht verhindert hätten.‘“ (9) Raus aus der Eskalationslogik Genau zu dem Zeitpunkt, als die Ukraine und Russland also Ende März 2022 kurz vor einer Verhandlungslösung standen, nahmen Umfang und Feuerkraft der westlichen Waffenlieferungen enorm zu. Das war nichts anderes als die klare Botschaft an die Adresse der Ukraine, den Krieg fortzusetzen. Doch mit welchem Ziel? Oft ist zu hören, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen, aber was heisst das und vor allem: ist das realistisch?

Das ist nicht der Fall, zumindest wenn man jemandem Glauben schenkt, der es wissen sollte: US-Generalstabschef Mark Milley. Er schaltete sich bereits im November 2022 mit dem Argument in die Debatte ein, die Ukraine habe mit dem russischen Rückzug aus Cherson das Maximum des Möglichen erreicht, ein Sieg über Russland auf dem Schlachtfeld sei unmöglich, es sei deshalb nun wichtig, sofortige Verhandlungen aufzunehmen. (10) Stattdessen werden nun also (nicht nur) deutsche Kampfpanzer geliefert, deren einziger Zweck darin besteht, eine ukrainische Offensive zu unterstützen, die nach Meinung von immer mehr Expert*innen keine Entscheidung auf dem Schlachtfeld wird herbeiführen können.

Gleichzeitig werden Verhandlungen weiter nahezu kategorisch abgelehnt. Wenn aber Waffen im vollen Wissen geliefert werden, dass sie nur zu einem Abnutzungskrieg und weiteren Todesopfern führen, dann ist womöglich genau das das zynische Ziel des Unterfangens. Ungeschminkt beschreibt einer der renommiertesten US-Politikwissenschaftler, John Mearsheimer, dieses Kalkül mit folgenden Worten: „Wir haben beschlossen, dass wir Russland in der Ukraine besiegen werden. […] Man könnte argumentieren, dass der Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, bereit sind, diesen Krieg bis zum letzten Ukrainer zu führen. Und das Endergebnis ist dann, dass die Ukraine tatsächlich als Land zerstört wird. […] Tatsache ist, dass die Vereinigten Staaten den Ukrainern nicht erlauben werden, einen Deal abzuschliessen, den die Vereinigten Staaten für inakzeptabel halten.“(11)

In den USA mehren sich die Stimmen, die Verhandlungen fordern und auch die nicht enden wollenden westlichen Waffenlieferungen in Frage stellen. Es steht zu hoffen, dass auch hierzulande immer mehr Menschen die Sackgasse erkennen, in die hier derzeit mit Höchstgeschwindigkeit gefahren wird. Abschliessend dazu noch einmal Ex-Brigadegeneral Erich Vad: „Man kann die Russen weiter abnutzen, was wiederum hundertausende Tote bedeutet, aber auf beiden Seiten. Und es bedeutet die weitere Zerstörung der Ukraine. […] Es muss sich in Washington eine breitere Front für Frieden aufbauen. Und dieser sinnfreie Aktionismus in der deutschen Politik, der muss endlich ein Ende finden. Sonst wachen wir eines Morgens auf und sind mittendrin im Dritten Weltkrieg.“ (12)

Fussnoten:

(1) Müller, Fabian: Verluste im Ukraine-Krieg: US-General nennt 200.000 getötete oder verwundete Soldaten, Merkur, https://www.merkur.de/politik/ukraine-krieg-verluste-russland-soldaten-getoetet-verwundet-us-general-selenskyj-putin-91906557.html

(2) Diekmann, Patrick: Streit zwischen Scholz und Baerbock. Ein Sturm zieht auf, t-online, 01.02.2023, https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/aussenpolitik/id_100120520/streit-zwischen-olaf-scholz-und-annalena-baerbock-um-deutsche-aussenpolitik-.html

(3) Ross, Annika: Erich Vad: Was sind die Kriegsziele?, Emma, 12.01.2023.

(4) Heusgen befürwortet Lieferung von Kampfjets an die Ukraine, Deutschlandfink, 29.01.2023.

(5) Kaim, Markus: Warum nicht gleich Nuklearwaffen? Spiegel Online, 19.01.2023.

(6) Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages: Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme, Sachstand, 16.03.2022.

(7) Waffenstillstand und Frieden für die Ukraine, IPPNW, 15.11.2022.

(8) Birnbaum, Michael, Ryan, Miss: NATO says Ukraine to decide on peace deal with Russia — within limits, Washington Post, 05.04.2022.

(9) Scheidler, Fabian: Naftali Bennett wollte den Frieden zwischen Ukraine und Russland: Wer hat blockiert? Berliner Zeitung, 06.02.2023.

(10) Baker, Peter: Top U.S. General Urges Diplomacy in Ukraine While Biden Advisers Resist, New York Times, 10.11.2022.

(11) Kolenda, Klaus-Dieter: „… im Grunde ein Krieg zwischen den USA und Russland“, Telepolis, 26.04.2022; siehe auch ganz ähnlich die Aussagen von Ex-Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat: „Die Ukraine kämpft um ihre Freiheit, um ihre Souveränität und um die territoriale Integrität des Landes. Aber die beiden Hauptakteure in diesem Krieg sind Russland und die USA. Die Ukraine kämpft auch für die geopolitischen Interessen der USA. Denn deren erklärtes Ziel ist es, Russland politisch, wirtschaftlich und militärisch so weit zu schwächen, dass sie sich dem geopolitischen Rivalen zuwenden können, der als einziger in der Lage ist, ihre Vormachtstellung als Weltmacht zu gefährden: China.“ (Interview mit General a.D. Harald Kujat, zeitgeschehen-im-fokus.ch, 18.01.2023)

(12) Ross 2023.

Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

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Der Multipolarer Weltmarkt

Erstellt von Redaktion am 9. April 2023

Multipolare Weltordnung – multipolarer Krieg

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Einzug in Münster zu den Friedensverhandlungen 1643, Stadtmuseum Münster.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Iwan Nikolajew

  1. Prolog

Der Ukraine-Krieg ist ein Weltordnungskrieg, wie auch der erste Krieg der multipolaren Weltordnung. Die multipolare Weltordnung ist nicht das Produkt des Ukraine-Krieges, sondern der Ukraine-Krieg ist das Produkt der multipolaren Weltordnung und bringt sich über den Ukraine-Krieg auf den Begriff. Ein Zurück in den neoliberalen Weltmarkt ist nicht mehr möglich. Die „Globalisierung“ ist an sich selbst gescheitert.

  1. Epochenbruch

Erst mit dem Ukraine-Krieg bringt sich der multipolare Weltmarkt auf den Begriff. Multipolarer Weltmarkt-Multipolare Weltordnung ist nichts anderes als allseitige imperialistische Konfrontation. Der Krieg, der imperialistische Krieg, ist die Fortsetzung der Weltmarktkonkurrenz mit anderen Mitteln. Ganz gewiss ist der multipolare Kapitalismus keine fortschrittliche soziale Entwicklung, ebenso wenig der neoliberale Kapitalismus. In welcher Form auch immer, Kapitalismus ist Ausbeutung, nur die Formen der Ausbeutung ändern sich. Der Kapitalismus hat den Krieg in sich, wie die Wolke den Regen. Ausbeutung und Krieg gehören zusammen. Während der neoliberale Kapitalismus tendenziell die imperialistischen Metropolen vereinte, wurde der Kolonialkrieg gegen die Peripherie zum Krieg schlechthin. Mit dem Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes verschwindet auch der Kolonialkrieg als Modell des Krieges und der imperialistische Krieg wandelt sich zum Krieg Metropole gegen Metropole. Kolonialkriege werden weiterhin geführt. Der imperialistische Krieg Metropole-Peripherie bleibt weiterhin bestehen, jedoch über ihn erhebt sich als prägend der imperialistische Krieg Metropole versus Metropole und so prägt der imperialistische Krieg die Weltmarktkonkurrenz des multipolaren Weltmarktes mehr als in der Epoche des neoliberalen Kapitalismus. Der imperialistische Krieg wandert von der Peripherie ins Zentrum, verdoppelt sich in Peripherie und Zentrum.

In der neoliberalen Epoche des Kapitalismus regulierte sich der Kapitalismus zentral unmittelbar über das Wertgesetz. Die strukturelle Gewalt, bzw. der strukturelle Zwang der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, vollzog sich in dieser kapitalistischen Epoche unmittelbar und stumm bzw. untergründig, während die direkte Gewalt der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sich nur mittelbar über das Wertgesetz exekutiert. Nur in Notfällen griff die direkte kapitalistische Gewalt, vermittelt über den bürgerlichen Staat, welcher ebenfalls über das Wertgesetz reguliert wird, offen ein. Im multipolaren Kapitalismus jedoch tritt das Wertgesetz gleichberechtigt unmittelbar, als stummer Zwang der materiellen kapitalistischen Produktionsverhältnisse und ebenso zu gleichen Teilen vermittelt über die Gewalt des bürgerlichen Klassenstaates, auf.

In der neoliberalen Form des Kapitalismus konnte sich der stumme Zwang des Wertgesetzes nur aufgrund der Hegemonie des US-Imperialismus innerhalb der kapitalistischen Kette tendenziell entfalten und damit auch nur durch die indirekte Entfaltung des Wertgesetzes vermittels auch der direkten politischen Gewalt des US-Imperialismus. Der US-Imperialismus agierte als alleiniger Weltpolizist und griff im Ernstfall, dann wenn die tendenzielle Entfaltung der stummen Gewalt des Wertgesetzes behindert wurde, auch mit offener Gewalt ein. In der offenen Gewalt des US-Imperialismus vermittels des bürgerlichen US-Staates materialisiert sich indirekt das Wertgesetz. Die Intervention des bürgerlichen Staates in die Ökonomie ist keine Negation des Wertgesetzes, sondern nur seine Modifikation. Mit der US-Hegemonie gelang es den Weltmarkt tendenziell zu vereinheitlichen, zum Nutzen aller Metropolen der imperialistischen Kette. Der Hegemon innerhalb der imperialistischen Kette ist der Schiedsrichter zwischen den Metropolen, seine Entscheidung wird respektiert und umgesetzt. Jedoch der Zusammenbruch der US-Hegemonie, offen ersichtlich seit dem Ukraine-Krieg im Februar 2022, läßt den Thron des Hegemon verwaisen. Es gibt spätestens vom Februar 2022 an keine Hegemonialmacht mehr, die den relativ vereinheitlichten Weltmarkt garantieren kann und so zerfällt der Weltmarkt tendenziell in seine Einzelteile, d.h. der Weltmarkt beginnt sich zu segmentieren und in einzelne Fragmente zu zerfallen. Während im neoliberalen Weltmarkt sich das Wertgesetz tendenziell auf den Begriff bringt, beginnt im multipolaren Weltmarkt eine umgekehrte Bewegung, entfernt sich das Wertgesetz tendenziell immer weiter von seinem Begriff, nimmt der partielle Grad seiner Verwirklichung im Begriff ab. Doch niemals kann das Wertgesetz im Kapitalismus verschwinden, es transformiert sich nur in eine indirekte Form seines Seins- in die politische Staatsintervention. Im multipolaren Weltmarkt reguliert das Wertgesetz indirekt über die politische Staatsintervention die Weltmarktkonkurrenz, die eine imperialistische Blockkonkurrenz ist. Mit dem Zerfall des neoliberalen Weltmarktes bilden sich naturwüchsig imperialistische Blöcke heraus, die miteinander in Konkurrenz stehen. Jeder imperialistische Block zentriert sich um eine hegemoniale Metropole, welche den imperialistischen Großraum ordnet und diesen gegen andere imperialistische Großräume abgrenzt. Die Akkumulation bezieht sich zentral auf den eigenen imperialistischen Block, welcher in Konkurrenz zu jedem anderen imperialistischen Block steht, während die Innenbeziehungen ausgebaut werden, werden die Außenbeziehungen zu den anderen imperialistischen Blöcken abgebaut. Der Krieg, der imperialistische Krieg, ist eine notwendige Form der Weltmarktkonkurrenz, die sich in ökonomische und politische Konkurrenz verdoppelt. Der Krieg, der imperialistische Krieg, ist im multipolaren Weltmarkt die höchste Form in der Entwicklung des Wertgesetzes und kein Bruch mit dem Wertgesetz. Die Ausbreitung einer Kriegsökonomie und die Militarisierung der bürgerlichen Gesellschaft gehen mit den Akkumulationserfordernissen einher. Wenn es keinen „Weltpolizisten“ mehr gibt, ist jede Metropole auf sich allein gestellt, und muß sich sein „Recht“ erkämpfen. Das Faustrecht ist das zentrale Recht des multipolaren Weltmarktes, nach innen, wie nach außen. Jede Metropole muß versuchen, bei Strafe des Untergangs, die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette zu erobern. Es ist ein Kampf aller gegen alle, ein Kampf jeder gegen jeden, wie in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes führt nicht zurück vor 1989, sondern viel weiter zurück, in die Jahre vor 1945, konkret in die Jahre von 1900 bis 1945. Die Welt von Jalta und Potsdam endet spätestens im Februar 2022 auf den Schlachtfeldern der Ukraine, wo auch die US-Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette beerdigt wird.

Zuerst bildete sich die Form des neoliberalen Kapitalismus im US-Imperialismus und im britischen Imperialismus aus und die neoliberalen Tendenz griff von dort aus zuvor auf Chile und andere südamerikanische Staaten über, welche als soziales Labor für die Metropolen fungierten, bevor sie sich im britischen und US-Imperialismus verallgemeinerten. Dazu wurden demokratische Regierungen gestürzt und Militärdiktaturen etabliert. Am Anfang des Neoliberalismus stand Gewalt und Terror. Doch erst mit dem Zusammenbruch der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten in Osteuropa begann der Siegeszug des neoliberalen Kapitalismus, zogen die anderen Metropolen langsam nach und es wurde unter der Hegemonie des US-Imperialismus weltweit die Klassenbeziehungen dereguliert. Mit der Verallgemeinerung des neoliberalen Weltmarktes zog sich auch die politische Gewalt als indirekter Ausdruck des Wertgesetzes zurück und überließ die Herrschaft über die Klassenbeziehungen der unmittelbaren Exekution des Wertgesetzes. „Demokratie“ und „Neoliberalismus“ gingen ab 1989 im wesentlichen Hand in Hand; nur bei bedeutenden Problemen griff der bürgerliche Staat gewaltsam ein. Erst der Zusammenbruch der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten, welcher Ausdruck der Flexibilisierung des Weltmarktes war, führte zum neoliberalen Akkumulationsmodell.

Seit 1974/1975 befindet sich der Kapitalismus in einer historischen Krise und der Neoliberalismus war die Antwort des Kapitals auf diese historische Krise des Kapitalismus. Auch die bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten waren Momente des Weltmarktes und waren ebenfalls von der historischen Krise des Kapitalismus betroffen, welche sich in den bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten als Stagnation niederschlug. Gleichzeitig begann sich im Kapitalismus, vor allem im US-Imperialismus und im britischen Imperialismus, über die Deregulierung der Klassenbeziehungen tendenziell zu flexibilisieren und besonders gegenüber den bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten an Schlagkraft zu gewinnen. Dies führte zur tendenziellen Zersetzung der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten und zu ihrer Selbstaufgabe. Die Arbeiterbürokratie organisierte die „demokratische“ Konterrevolution und transformierte sich in eine neue Bourgeoisie. Der Zusammenbruch der Sowjetunion ließ den russischen Imperialismus wiedererstehen. Damit ist die Wiederauferstehung des russischen Imperialismus ein notwendiges Produkt des Zusammenbruchs der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten in Osteuropa, neben der vollständigen Rekapitalisierung der Welt. Nun war der Weg frei für das neoliberale Akkumulationsmodell. Durch die Einbeziehung der ganzen Welt unmittelbar in den Weltmarkt konnte der Kapitalismus zeitweise seine Widersprüche mildern und der US-Imperialismus garantierte den Weltmarkt zu seinem Nutzen und dem Nutzen aller Metropolen, natürlich in abgestufter Form. Mit der Zeit jedoch wurde der neoliberale Weltmarkt zu Fessel für die Entwicklung des russischen Imperialismus, wie auch für die Entwicklung des chinesischen Kapitalismus. Während der russische Imperialismus sich am Rande des neoliberalen Weltmarktes aufhielt, marschierte China ins Zentrum des neoliberalen Weltmarktes und nahm dabei enge Fühlung mit dem US-Imperialismus auf. Es gab objektiv eine enge sino-US-amerikanische Zusammenarbeit, , welche zum Motor des neoliberalen Weltmarktes wurde und Chinas Aufstieg vorantrieb. China wurde zur Weltfabrik und der US-Imperialismus zum Importeuer der letzten Instanz und zum Weltbankier. Die US-Mehrwertproduktion wurde zu großen Teilen nach China ausgelagert. Mit dem Marsch Chinas ins Herz des neoliberalen Weltmarktes rekapitalisierte sich auch China. Die USA wurde der wichtigste Exportmarkt für China, während der US-Imperialismus zum größten Importeuer chinesischer Waren wurde. Durch die Dollarkäufe finanzierte China das immer größer werdende US-Handelsdefizit, stützte den US-Dollar als Weltgeld, finanzierte die US-Aufrüstung, denn der US-Dollar als Weltgeld ermöglicht der USA die Verschuldung in eigener Währung. Gleichzeitig wurde der US-Imperialismus durch seine enorme Verschuldung zum Importeuer der letzten Instanz und stabilisierte auf diese Weise den neoliberalen Weltmarkt. Die Exporteure (und damit auch China) häuften hohe Dollarforderungen an, während der US-Imperialismus die Waren verkonsumierte. Dieses Verhältnis trieb die Entwicklung des fiktiven Kapitals voran. Die Schwäche der US-Mehrwertproduktion jedoch wird zunehmend zum Problem des neoliberalen Weltmarktes, denn dem fiktiven Kapital steht kein Wert gegenüber. Nur der US-Dollar als Weltgeld und damit als letzter Nagel des US-Imperialismus, garantiert den neoliberalen Weltmarkt. Um das neoliberale Verhältnis, welches im Kern das Verhältnis USA-China ist, aufrechtzuerhalten, muß das fiktive Kapital mit Wert unterfüttert werden, damit die Hegemonie des US-Imperialismus verteidigt werden kann. Auf diesem Wege soll auch gleichzeitig Rußland und China unter Kontrolle gehalten werden, denn der Pfad der Unterfütterung des US-Dollars mit Wert verläuft über die Kolonialkriege im Mittleren Osten, deren Ziel es ist, die strategischen Rohstoffe unter US-Kontrolle zu halten bzw. zu bringen. Der Kern des US-Dollars als Weltgeld ist die Fakturierung des Öls in US-Dollar durch die Golfstaaten und die Anlage der Dollarguthaben in den USA (Petro-Dollar). Erst die massenhafte Anlage der US-Dollarguthaben in den USA durch die Golfstaaten macht den US-Dollar zum Weltgeld und macht den Weg frei für den US-Dollar als weltweite Transaktionswährung für Öl etc, denn es wird gleichzeitig auf diesem Wege ein internationales Finanzsystem aufgebaut. Der US-Dollar als (Öl-) Transaktionswährung ist nur die Krönung des US-Dollars als Weltgeld. Im US-Dollar als Weltgeld konzentriert sich das internationalisierte US-Finanzsystem. Nach dem Ende von Bretton Woods wurde der US-Dollar an das Öl gebunden. So richten sich die US-Kolonialkriege im Mittleren Osten und in Zentralasien nicht nur gegen die Staaten der Peripherie, sondern gleichzeitig und vor allem gegen China und Rußland und immer mehr wird dann der neoliberale Weltmarkt zur Fessel des russischen Imperialismus und auch zur Fessel für China. Konsequent unterstützen dann der russische Imperialismus und China die Staaten der Peripherie, welche vom US-Imperialismus angegriffen werden und so scheitern letztlich die US-Kolonialkriege des US-Imperialismus. Damit scheitert die US-Politik über direkte politische Interventionen die Schwäche der US-Mehrwertproduktion zu kompensieren. Es gelingt damit auch nicht mehr, das fiktive Kapital mit Wert zu unterfüttern und so wird das Mißverhältnis zwischen mehrwertheckenden Kapital und fiktiven Kapital gewaltsam wieder in ein Gleichgewicht gebracht. Mitte September 2008 bricht die Wall Street zusammen. Die historische Krise des Kapitalismus seit 1974/1975 transformiert sich in die Große Krise, die bis zum heutigen Tage nicht überwunden wurde. Zwar konnte knapp in den Jahren 2008/2009 der totale Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes verhindert werden, doch nur um den Preis einer Stagnation; die Dynamik des neoliberalen Weltmarktes war gebrochen, er begann zu verfaulen und zu verwesen. Die Stagnation des neoliberalen Weltmarktes zerbricht dann den neoliberalen Weltmarkt und damit das den neoliberalen Weltmarkt konstituierende Verhältnis USA-China. Das objektive Bündnis USA-China transformiert sich notwendig in ein Feindverhältnis. Solange der neoliberale Weltmarkt expandierte ertrugen Rußland und China die Fesseln des neoliberalen Weltmarktes, jedoch unter einem stagnativen neoliberalen Weltmarkt beginnen die Fesseln zu schmerzen und Rußland, wie auch China, beginnen sich ab dem Jahr 2009 langsam von dem neoliberalen Weltmarkt zu befreien. China stärkte seine Binnenkonjunktur und stabilisiert nicht nur sich, sondern auch den neoliberalen Weltmarkt, d.h. China beginnt tendenziell den neoliberalen Weltmarkt zu garantieren und verdrängt damit objektiv den US-Imperialismus als Garantiemacht desselben. Hier liegt der Beginn der Feindschaft des US-Imperialismus gegen China. Das Verhältnis USA-China verschlechtert sich und ist nun ein offenes Feindverhältnis. Ebenso bricht der russische Imperialismus seit 2009 immer deutlicher aus dem neoliberalen Weltmarkt aus und dies schneller und offener als China, denn Rußland steht am Rande des neoliberalen Weltmarktes und muß weniger Rücksicht auf den US-Imperialismus nehmen als China, welches ins Herz des neoliberalen Weltmarktes vorgerückt und eng mit den USA verflochten ist. Die Widersprüche innerhalb der imperialistischen Kette eskalieren notwendig. Während die imperialistische Konkurrenz über Kolonialkriege im Mittleren Osten ausgetragen wird, erfolgt der qualitative Sprung der imperialistischen Konkurrenz mit der Ukraine-Frage im Jahr 2013. Damit erreicht die imperialistische Konkurrenz Europa und damit schlägt die mittelbare imperialistische Konkurrenz in eine unmittelbare imperialistische Konkurrenz um und wird immer explosiver. Der qualitative Umschlag des imperialistischen neoliberalen Kolonialkrieges gegen die Peripherie in den imperialistischen Krieg der Metropolen der imperialistischen Kette untereinander bezeichnet den konkreten Punkt, den präzisen Einschnitt, des qualitativen Umschlags vom neoliberalen Weltmarkt in den multipolaren Weltmarkt. Dieser multipolare Weltmarkt ist materiell konstitutiv durchzogen von einer Kette von imperialistischen Kriegen und/oder dem Dritten Weltkrieg. Der Kampf um die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette wird bis zum äußersten geführt. Die Kette von imperialistischen Kriegen, die immer mehr imperialistische Stellvertreterkriege sind, radikalisieren die imperialistischen Blöcke, so daß auch ein Dritter Weltkrieg nicht ausgeschlossen ist, d.h. der Dritte Weltkrieg wäre kein „Unfall“, kein Zufall, sondern die Fortsetzung der imperialistischen Stellvertreterkriege auf höherer Stufenleiter, ein qualitativer Sprung konzentriert im Dritten Weltkrieg. In der Tendenz treiben die imperialistischen Stellvertreterkriege einem Dritten Weltkrieg zu, wenn es der Arbeiterklasse nicht gelingt, den Kapitalismus zu stürzen. Auf keinen Fall steht der multipolare Weltmarkt für eine „friedliche Koexistenz“ der imperialistischen Metropolen. Jede Metropole kämpft um ihr Überleben bei Strafe des Untergangs. Bündnisse sind von kurzer Dauer und der „Frieden“ bereitet den nächsten Krieg vor. Der „Frieden“ ist nur eine Unterbrechung des imperialistischen Krieges.

Protektionismus prägt den multipolaren Weltmarkt und der Protektionismus bereitet den Wirtschaftskrieg vor. Der Wirtschaftskrieg ist die Fortsetzung der durchschnittlichen Weltmarktkonkurrenz mit anderen Mitteln, bereitet den kapitalistischen und imperialistischen Krieg vor, der ebenfalls nur eine Fortsetzung der kapitalistischen Konkurrenz ist und diese krönt. Nicht der Wirtschaftskrieg schafft die Krise, sondern die Krise erschafft den Wirtschaftskrieg. Im Wirtschaftskrieg findet der aktuelle Krisenschub der Großen Krise, die Tendenzen zur massenhaften Entwertung des Kapitals nur seinen politischen Ausdruck an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, was sich konkret in den inflationären Tendenzen niederschlägt, welche mit deutlichen Zinserhöhungen bekämpft werden und die Entwertung wieder in ihre klassischen Bahnen zurückbringt. Im Wertverhältnis ist materiell der Klassenkampf, wie auch gleichzeitig der Krieg, gegründet. Der Wirtschaftskrieg ist nur eine Vorform des imperialistischen Krieges und treibt diesen voran, d.h. er ist keine „sanfte“ Form des Krieges, sondern im schlimmsten Fall eine Belagerung mit „Hungerkrieg“ und bereitet den offenen oder verdeckten Krieg vor. So wird der imperialistische Stellvertreterkrieg gleichzeitig mit Wirtschaftskrieg und Krieg geführt. Mittlerweile kann man von einem Weltwirtschaftskrieg sprechen. Es werden mehrere Wirtschaftskriege gleichzeitig geführt, die nicht identisch sind, aber doch letztlich sich zu einem Weltwirtschaftskrieg konzentrieren. Einmal der transatlantisch antirussische Wirtschaftskrieg und einmal der US-amerikanische anti-chinesische Wirtschaftskrieg. Noch ist es dem US-Imperialismus nicht gelungen, den US-amerikanischen antichinesischen Wirtschaftskrieg zu einem transatlantisch antichinesischen Wirtschaftskrieg zu transformieren, denn das EU-Bündnis und damit auch besonders der deutsche Imperialismus, zögern in dieser Frage, denn die Akkumulationsbeziehungen sind zu China als Weltfabrik sehr eng. Es droht ein weiteres Reißen der Lieferketten. Doch der US-Imperialismus erhöht den Druck auf das EU-Bündnis. Während das EU-Bündnis in der transatlantischen Front gegen den russischen Imperialismus erheblich verliert und das EU- Kapital droht, in die USA abzufließen, bereitet der US-Imperialismus den Wirtschaftskrieg gegen die EU und dem deutschen Imperialismus vor, in dem es dem EU-Kapital Sonderbedingungen anbietet. Es ist offen, ob die EU und der deutsche Imperialismus sich gegen den US-Imperialismus offen zur Wehr setzen, nicht nur formal und in Worten, sondern in harten anti-US-amerikanischen Sanktionen. Dieser US-Wirtschaftskrieg gegen die EU und somit auch besonders gegen den deutschen Imperialismus, erhöht den Druck auf die EU-Metropolen, sich dem US-antichinesischen Wirtschaftskrieg anzuschließen, denn in diesem Fall könnte der US-Imperialismus seinen Frieden mit dem EU-Bündnis schließen. Die Tiefe der Krise in den EU-Metropolen würde sich bei einem gleichzeitigen Wirtschaftskrieg gegen Rußland und China noch einmal deutlich zunehmen. Eine schlechte Alternative wäre ein gleichzeitiger Wirtschaftskrieg der EU-Metropolen gegen Rußland und die USA. Auch dies würde die gegenwärtigen Krise erheblich vertiefen. Doch niemand weiß, ob der US-Imperialismus zu seinen Zugeständnissen gegenüber den EU-Metropolen im Falle eines US-EU Wirtschaftskrieges gegen China steht und nicht plötzlich ebenso einen Wirtschaftskrieg gegen die EU führt. Im schlimmsten Fall muß der deutsche Imperialismus gleichzeitig einen Wirtschaftskrieg gegen Rußland, China und die USA führen und würde daran scheitern. Sollte der deutsche Imperialismus beschließen, gegen den US-Imperialismus Widerstand zu leisten, wird die EU als Ergänzungsraum des deutschen Imperialismus dafür nicht ausreichen, es bedürfte dann ein zweites Rapallo mit Rußland und zusätzlich eine Verständigung mit China, also eine drastische Umkehrung der bisherigen Politik. Die EU und der deutsche Imperialismus werden langsam zwischen den Fronten zerrieben, wenn sie sich nicht neu orientieren. Während der deutsche Imperialismus einen Wirtschaftskrieg gegen den russischen Imperialismus führt, führt der US-Imperialismus einen Wirtschaftskrieg gegen den russischen Imperialismus, einen Wirtschaftskrieg gegen den deutschen Imperialismus und einen Wirtschaftskrieg gegen China. Auch der deutsche Imperialismus ist für den US-Imperialismus der Feind, während bis jetzt der deutsche Imperialismus sich in der Illusion wiegt, im US-Imperialismus einen „Freund“ gefunden zu haben, einen Großen Bruder, der seine schützende Hand über den deutschen Imperialismus hält.

Es gelingt dem US-Imperialismus nicht, über Krieg und Wirtschaftskrieg sich zu stabilisieren, sein fiktives Kapital mit Wert zu unterfüttern, was sich im Zusammenbruch der Silicon-Valley Bank äußert, welche weitere Banken mitreißt und dem bürgerlichen Staat zwingt, die Banken mit Steuergeld und/oder einer Ausweitung der Geldmenge zu retten, bevor die Krise auf das gesamte Finanzsystem übergreift und zu einem zweiten 2008 wird. Auch die Sprengung der Nord-Stream II-Pipelines durch die USA in der Ostsee war nur ein kurzfristiger Erfolg und spülte neuen Werte in das US-Finanzsystem, denn nun mußte das deutsche Kapital US-Fracking-Gas zu höheren Kosten importieren, statt wohlfeileres Gas aus Rußland. Doch auch dies reicht nicht aus, um das überproportional wachsende US-fiktive Kapital mit Wert zu unterfüttern. Die ganze Ukraine mit ihrem Reichtum an Rohstoffen muß es sein. Doch der US/NATO-Krieg in der Ukraine scheitert. Mit einer „Mini-Stalingrad“ Strategie zerstört der russische Imperialismus die Donbass-Front der NATO-Ukraine. Erst später sind russische Militäroperationen westlich des Donbass zu erwarten. Die russische Militärstrategie setzt nicht auf Blitzkrieg oder Geländegewinne, sondern auf das maximale Töten des Feindes und auf die langsame Auflösung der ukrainischen Gesellschaft und nicht nur auf die Auflösung des ukrainischen Staates, um die Ukraine, ihre Gesellschaft, in die russische Gesellschaft einzugliedern. Das ukrainische Militär kann sich nicht in die Tiefe zurückziehen, denn nach der üblichen NATO-Strategie wird auf eine „Vorneverteidigung“ gesetzt, gleichzeitig sind die ukrainischen Verluste so hoch, daß jetzt gar eine Volkssturm-Mobilisierung durchgeführt wird. Je länger der Krieg, desto stärker wird Rußland militärisch, politisch und ökonomisch und desto schwächer wird der US-Imperialismus, was zur Folge hat, daß die Ukraine nicht für die Unterfütterung des US-fiktiven Kapitals herhalten kann und das internationale US-Finanzsystem immer tiefer in die Krise gerät. Der US-NATO-Krieg in der Ukraine ernährt das internationale US-Finanzsystem, wenn er siegreich ist, wenn er nicht siegreich ist, droht er zum Grab des internationalen US-Finanzsystems zu werden. Vermittelt über den imperialistischen Stellvertreterkrieg in der Ukraine und damit auch den Wirtschaftskrieg, bricht sich die Überakkumulation des Kapitals Bahn. Durch den Wirtschaftskrieg wird der neoliberale Weltmarkt zerstört, was sich in den inflationären Tendenzen materialisiert, welche sich schon nach der Corona-Krise ausbreiteten und im Jahr 2022 explodierten. Dies führt zur Erhöhung der Zinsen, was die Akkumulation der Mehrwertproduktion reduziert und dem Finanzsystem eine große Quantität an faulen Krediten aufbürdet. Die Banken zerbrechen an dieser Entwicklung. Wenn sie zusätzlich noch im spekulativen Geschäft tätig waren und kurzfristige Gelder langfristig angelegt haben, ist dies nur der Auslöser, aber nicht der Grund des Zusammenbruchs. Das internationale Bankensystem beginnt mit den steigenden Zinsen zu wanken und die ansteigenden Zinsen sind ein Produkt des transatlantisch antirussischen Wirtschaftskrieges, welcher selbst das Resultat der Großen Krise des Kapitalismus ist. Auch die Deutsche Bank steht kurz vor dem Zusammenbruch und kann auch den deutschen Imperialismus und die gesamte Euro-Zone in eine tiefe Krise stürzen. Die gesamte Immobilienspekulation wickelt sich ab, denn die Immobilienblase ist geplatzt, was das internationale Bankensystem in den Abgrund reißen könnte. In China bricht der Immobilienkonzern Evergrande, der seit Jahren kurz vor dem Ende steht, nun endgültig zusammen und erhöht die Gefahren im internationalen Finanzsystem.

Umso mehr der US-Imperialismus sich im Stellvertreterkrieg gegen den russischen Imperialismus in der Ukraine engagiert, desto mehr zerbricht die US-Hegemonie, da der imperialistische Zugriff der USA auf den Mittleren Osten immer schwächer wird und dieser unter russischen und chinesischen Einfluß gerät. Es gelingt China eine tendenzielle Annäherung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien auszuhandeln, was zu einem Ende des Jemen-Krieges führen könnte, wo sich der Iran und Saudi-Arabien gegenüberstehen. Gleichzeitig nimmt Saudi-Arabien wieder diplomatische Beziehungen mit Syrien auf. Damit werden Israel und die USA aus dem Mittleren Osten immer weiter zurückgedrängt. Der US-Imperialismus wird versuchen, diesen Neuordnungsprozeß im Mittleren Osten zu sabotieren. Rußland bindet den Iran enger an sich und organisiert einen Transportkorridor über den Iran nach Indien, während China dabei ist, einen iranisch-saudischen Ausgleich auszuhandeln. Saudi-Arabien sieht sich von den USA an den Rand gedrängt, denn der Jemen-Krieg läuft nicht gut für Saudi-Arabien und Raketenangriffe haben mehrmals die Öl-und Gas-Infrastruktur erheblich beschädigt, während sich die USA mit militärischer und sonstiger Hilfe zurückhalten, da die US-Ressourcen auf die Ukraine konzentriert werden. Aus diesem Grund schwenkt Saudi-Arabien tendenziell auf einen russisch-chinesischen Kurs ein und drohen mit dem Petro-Dollar zu Gunsten eines Petro-Yuan zu brechen. Die Niederlage des US-Imperialismus in Afghanistan und die sich abzeichnende US-Niederlage in der Ukraine bei gleichzeitigem engeren Zusammenschluß zwischen Rußland und China reduziert den US-Einfluß im Mittleren Osten drastisch und auch deutlich im Fernen Osten gegen China. In Zukunft wird sich der US-Imperialismus auf China und den Fernen Osten, wie die Pazifik-Region konzentrieren müssen, denn für mehr reichen die Kräfte nicht mehr aus. Der Ukraine-Krieg schwächt den US-Imperialismus und eine Niederlage im Ukraine-Krieg setzt den Niedergang verstärkt fort, denn dieser Gesichtsverlust kann nicht kompensiert werden.

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Im Stellvertreterkrieg in der Ukraine konzentrieren sich die derzeitigen Widersprüche des sich gerade herausbildenden multipolaren Weltmarktes. Die aggressive Politik des deutschen Imperialismus gegen den russischen Imperialismus kann jedoch nicht auf die Politik des US-Imperialismus reduziert werden, denn sie entspringt den eigenen imperialistischen Interessen des deutschen Kapitals nach „Lebensraum“ bzw. Akkumulationsraum, um den deutschen Weltmarktanteil am Weltmarkt zu erhöhen. Osteuropa und auch Rußland dienen dem deutschen Imperialismus als Ergänzungsraum, von wo aus wohlfeil Rohstoffe, auch Energierohstoffe, bezogen werden, wie auch Halbfabrikate. Je schwächer der russische Imperialismus ist, desto wohlfeiler die Rohstoffe aller Art. Dies versuchte das deutsche Kapital im einer „gegenseitigen“ ökonomischen Durchdringung bzw. Verflechtung des deutschen mit dem russischen Kapital bei gleichzeitiger aggressiver EU- und NATO- Erweiterung zu erreichen. Die gegenseitige ökonomische Verflechtung des deutschen mit dem russischen Kapital, diese „freundschaftlichen“ Beziehungen, stellen nur die Deckung für die aggressive NATO und EU-Osterweiterung dar. Während versucht wurde, das russische Kapital positiv an die NATO und EU heranzuführen, arbeitet man gleichzeitig durch die NATO und EU-Osterweiterung an der Schwächung des russischen Kapitals, um die Rohstoffe noch wohlfeiler zu beziehen und dadurch zu Lasten des russischen Kapitals. Mit dieser Politik versuchte der deutsche Imperialismus den russischen Imperialismus auf die untergeordnete Rolle eines Rohstoffproduzenten festzulegen, denn die Rohstoffproduzenten weisen im neoliberalen Weltmarkt eine negative Terms of trade aus und können nur durch den Export von strategischen Rohstoffen tendenziell in der kapitalistischen Entwicklung mithalten. Auf keinen Fall akzeptierte der deutsche Imperialismus den russischen Imperialismus auf Augenhöhe. Diese Politik war nur möglich, weil der deutsche Imperialismus die EU und die NATO und damit den US-Imperialismus hinter sich glaubt und mußte notwendig zum Zusammenstoß mit dem russischen Imperialismus führen. Der konkrete Anlaß für diesen imperialistischen Zusammenstoß war die Ukraine-Frage. Der NATO-Massenputsch vom Jahr 2014 in der Ukraine, um diese in die NATO und EU zu führen, scheiterte, die strategisch wichtige Krim spaltete sich ab und lief zu Rußland über, während in der Südostukraine sich der Bürgerkrieg entwickelte, der dann im Februar 2022 zu einem offenen Krieg zwischen dem russischen Imperialismus und den transatlantischen Metropolen umschlug. Für den russischen Imperialismus ist die Ukraine die rote Linie. Wer Kiew hat, kann Moskau zwingen. Die Ausdehnung der EU und NATO auf die Ukraine mußte notwendig zum Krieg führen, der Bürgerkrieg in der Ukraine selbst ist schon das Ergebnis der Ostausdehnung von EU und NATO. Der Ukraine-Krieg ist ein NATO-Rußland Krieg, ein Stellvertreterkrieg zwischen Rußland und dem NATO-Pakt auf dem Territorium der Ukraine und damit der erste Krieg des multipolaren Weltmarktes, der multipolaren Weltordnung. Ein Krieg um die imperialistische Neuordnung des Weltmarktes, welcher den US-Imperialismus offen als Hegemon stürzt. Hätte der US-Imperialismus noch die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette inne, würde es den Ukraine-Krieg nicht geben. Scheitert der transatlantische Block in der Ukraine, scheitert auch der deutsche Imperialismus in der Ukraine. Das deutsche Kapital hat ein originäres Interesse an der Ukraine, an den strategischen Rohstoffen für die „Energiewende“, d.h. für die „Digitalisierung“ des kapitalistischen Produktionsprozesses, wie auch an den großen agrarwirtschaftlichen Potenzen der Ukraine, an dem möglichen ukrainischen Fracking-Gas, wie auch an der Möglichkeit, Rußland von der Ukraine aus militärisch zu bedrohen und so wohlfeile Rohstoffpreise dem russischen Kapital abzutrotzen. Aus diesem Grund verbindet sich der deutsche Imperialismus über die EU mit der Ukraine zu einer „Rohstoffpartnerschaft“ Eine weitere „Rohstoffpartnerschaft“ gibt es nur noch mit Kanada. Mit der Ukraine geht dann auch die „Rohstoffpartnerschaft“ zu Grunde und die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse über den Einsatz KI-Systemen (Künstliche Intelligenz als höchste Form der Digitalisierung des kapitalistischen Produktionsprozesses) würde stocken und die EU-Metropolen würden hinter den USA, China und Rußland in der Weltmarktkonkurrenz zurückfallen. Wenn dem deutschen Imperialismus die strategischen Rohstoffe vorenthalten werden, hier besonders auch die Energierohstoffe, droht der deutsche Imperialismus mit Krieg. Dabei muß die Kriegsdrohung nicht ausgesprochen werden, sie liegt in der Natur der Sache, in den Zwängen der Akkumulation. Alternativ ist auch eine Verständigung mit dem russischen Imperialismus möglich. Doch welchen Weg das deutsche Kapital einschlagen wird, ist offen, ist im deutschen Kapital selbst umkämpft. Entweder muß sich der deutsche Imperialismus mit dem russischen Imperialismus einigen oder versuchen, alleine oder im Bündnis mit anderen Staaten, den russischen Imperialismus im Krieg zu besiegen und sich durch Eroberung die strategischen Rohstoffvorkommen anzueignen.

Der Ukraine-Krieg reflektiert den Niedergang des transatlantischen Imperialismus, was sich an dem Einflußverlust des US-Imperialismus im Mittleren Osten ablesen läßt, denn der Zugriff auf die strategischen Rohstoffe Erdöl und Erdgas, welche auch den US-Dollar mit Wert unterfüttern sollen, geht tendenziell immer mehr verloren. Dagegen setzt der transatlantische Imperialismus auf seine Autarkie von fossilen Energieträgern, um die Bedeutung des Mittleren Ostens zu reduzieren. Doch ein „nicht fossiler Kapitalismus“, „nicht fossiler Imperialismus,“ benötigt für die digitale Energiewende, welche auf „erneuerbare Energie“ setzt, Rohstoffe, konkret Metalle, welche nun ebenfalls zu strategischen Rohstoffen erklärt werden. Man löst sich aus der Abhängigkeit von Öl und Gas und tauscht diese in eine Abhängigkeit von Metallen ein. Diese Metalle gibt es nicht ausreichend derzeit bzw. wenn, dann teilweise in China oder in Rußland oder in der Ukraine. Der Ukraine-Krieg ist auch ein Krieg um seltene Metalle, ohne die einer „nicht-fossile Energiewende“ unmöglich ist. Auf der einen Seite beanspruchen Rußland und China diese Metalle in der Ukraine und auf der anderen Seite der transatlantische Imperialismus. Auf den Schlachtfeldern der Ukraine wird ausgekämpft, wer die Kontrolle über diese neuen strategischen Rohstoffe ausüben wird, wobei der russische Imperialismus der Sieger sein wird. Der deutsche Imperialismus kann zwar seine strategischen Rohstoffe (Öl und Gas), die er zentral vom russischen Imperialismus bezieht gegen Metalle austauschen, substituieren, nicht aber seinen zentralen Lieferanten. Einen Ersatz kann kein anderer Lieferant bieten. Entweder der deutsche Imperialismus akzeptiert den russischen Imperialismus als Lieferanten oder aber, er muß zum imperialistischen Raubkrieg übergehen. Die neuen Metalle für die „erneuerbare Energie“ sind das Öl und das Gas von morgen und damit der Grund für imperialistische Kriege oder einem möglichen Dritten Weltkrieg, sie sind nicht Teil einer Lösung, sondern Teil eines Problems, welcher Kapitalismus heißt, auch sie dienen konkret der Unterfütterung des fiktiven Kapitals mit Wert, denn der Zugriff des US-Imperialismus auf die strategischen Rohstoffe Öl und Erdgas schwindet und so sind dann die Metalle das Erstzöl und das Erstzgas für das fiktive Kapital des US-Imperialismus und ihre Gewinnung im Kapitalismus genauso umweltschädlich wie die Förderung von Gas oder Öl. Energiewende heißt unter den Bedingungen des Kapitalismus in letzter Instanz Dritter Weltkrieg. Der „ökologische“ Imperialismus ist nicht besser als der „fossile Imperialismus“ und auch nicht friedlicher.

Nur eins kann der deutsche Imperialismus nicht. Auf der Stelle stehen bleiben, während sich die Welt in einer historischen „Wende“ befindet. Die derzeitige „Wende von 2022“ steht der „Wende von 1989“ in Nichts nach. Wie im Jahr 1989 muß sich auch der deutsche Imperialismus im Jahr 2022 grundsätzlich neu orientieren. Doch diese Neuorientierung des deutschen Imperialismus ist sehr holprig und unsicher, denn der deutsche Imperialismus wurde vom Ukraine-Krieg überrascht, da die Abschreckungswirkung des NATO-Paktes und der EU zu hoch angesetzt und die Interessen des russischen Imperialismus nicht ernst genommen wurde, weil man sich in einer stärkeren Position wähnte. Auch der deutsche Imperialismus verteidigt, wie der transatlantische Imperialismus überhaupt, in der Ukraine ein nicht mehr existierender Status quo. Nicht der Ukraine-Krieg ist verantwortlich für den Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes, sondern der Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes ist verantwortlich für den Ukraine-Krieg. Die multipolare Weltordnung ist eine Ordnung des multipolaren Krieges. Der imperialistische multipolare Krieg ist ein Instrument des Kapitals, um den Weltmarkt neu zu ordnen. Ohne den imperialistischen Krieg kann der Weltmarkt nicht neu geordnet werden, d.h. ohne den imperialistischen Krieg läßt sich die Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse nicht realisieren. Auf jeden Fall ist die multipolare Weltordnung keine Weltordnung des Friedens, sondern eine Weltordnung des imperialistischen Krieges und auch der deutsche Imperialismus wird sich dort seinen Platz erkämpfen müssen und das richtet sich nicht nur gegen den russischen Imperialismus, sondern auch gleichzeitig an alle anderen EU-Metropolen und dem US-Imperialismus, wie auch an China. Die historische Entwicklung treibt den deutschen Imperialismus hin auf seinen „deutschen Sonderweg“, der Schaukelpolitik zwischen West und Ost und damit zu seinem „Mitteleuropa-Programm“. Das Ende von Jalta und Potsdam ist auch das Ende der Westbindung und dies führt notwendig zu einer verstärkten Aufrüstung und perspektivisch auch zur Aktivierung der Wehrpflicht, was dann auch wiederum den Zivildienst aktiviert. Der „äußere Feind“ steht nicht mehr ausschließlich im Osten, sondern ebenso im Westen oder Süden. Entscheidet Rußland den Ukraine- Krieg für sich, ist die neoliberale transatlantische Weltordnung offen zerschlagen, dann brechen die Widersprüche in der EU und im NATO-Pakt offen aus und diese beginnen sich langsam zu zersetzen. Ein russischer Sieg in der Ukraine wäre ein Sieg über den US-Imperialismus, ein Sieg über die NATO- EU und damit auch ein Sieg über den deutschen Imperialismus, ein Sieg, der weltweite Auswirkungen nach sich zieht. Der US-Imperialismus wäre nicht nur in Europa in der Defensive, sondern auch in Asien gegen China. Gegen einen russisch-chinesischen Block hat der US-Imperialismus keine Chance und selbst der NATO-EU Block ist dazu kaum in der Lage mitzuhalten. Umso tiefer sich der US-Imperialismus in der Ukraine verstrickt, desto schwächer wird er gegen China. Zieht sich der US-Imperialismus aus den ukrainischen Verstrickungen zurück und konzentriert sich auf Asien, dehnt sich der Einfluß des russischen Imperialismus in Europa aus, denn die westeuropäischen Metropolen sind zu schwach, um einen abziehenden US-Einfluß zu kompensieren. Die Zwischenwahlen in den USA im November 2022 führten zu einem Sieg der Republikanischen Partei im Repräsentantenhaus, der wichtigsten Parlamentskammer im politischen System der USA, und stärken vor allem die Fraktion des US-Kapitals, welches in China den zentralen Feind sieht und nicht Rußland. Es werden die Widersprüche zwischen dem US-Imperialismus und China eskalieren, zusätzlich zu den US-russischen Widersprüchen und damit wächst auch der Druck auf den deutschen Imperialismus und die EU-Metropolen mit China zu brechen, was schwerwiegende Folgen für die EU-Staaten und auch für Deutschland hätte. Ein republikanisch kontrolliertes Repräsentantenhaus verurteilt den US- Präsidenten zur „lahmen Ente“, seine Gestaltungsmacht auf allen politischen Feldern sinkt beträchtlich. Es droht damit auch eine gegenseitige Blockade in der Erhöhung des Limits für die die Staatschulden. Die republikanische Mehrheit will einer Erhöhung der Staatsschulden nur dann zustimmen, wenn die US-Regierung Sozialkürzungen verfügt. Wie immer diese Angelegenheit auch ausgeht, deutlich ist, daß der US-Imperialismus unberechenbar wird. Eine Blockade des US-Staates über das Repräsentantenhaus kann nur über eine Radikalisierung der US-Politik realisiert werden, d.h. Radikalisierung der Ukraine-Politik etc. nur dann, wenn auch eine Radikalisierung in der China-Politik eingeleitet wird. Dann wird auch an dem deutschen Imperialismus die Forderung ergehen, mit China zu brechen. Schon jetzt wird im deutschen bürgerlichen Staat der Bruch mit China diskutiert. Das deutsche Kapital verliert durch den transatlantisch antirussischen Wirtschaftskrieg seine Märkte und der potentielle antichinesische Wirtschaftskrieg wirkt sich schon jetzt negativ auf die Akkumulationsrate aus, weitere Märkte, Bezugsmärkte, wie Exportmärkte, sind bedroht. Der hohe Weltmarktanteil des deutschen Kapitals ist nur möglich bei einem relativ offenen Weltmarkt. Derzeit weist der deutsche Imperialismus keine militärische Schlagkraft im Verhältnis zur ökonomischen Schlagkraft aus. Bisher konnte der deutsche Imperialismus seine Interessen über seinen ökonomischen Einfluß durchsetzen, jedoch jetzt reicht dies nicht mehr aus. Im antirussischen Wirtschaftskrieg radikalisiert sich die ökonomische Politik des deutschen Imperialismus und kommt damit an ihre Grenzen. Im Wirtschaftskrieg können Staaten der Peripherie niedergerungen werden, nicht jedoch Metropolen der imperialistischen Kette. Ein innerimperialistischer Wirtschaftskrieg hat gewaltige Rückwirkungen auf die Akkumulation des deutschen Kapitals, Rückwirkungen, die der deutsche Imperialismus unterschätzt hat. Ein Wirtschaftskrieg zerstört auch die bisher wichtigste Waffe des deutschen Imperialismus- die Exportwaffe. Die große Aufrüstung des deutschen Imperialismus ist die Einsicht, daß alleine die deutsche Exportwaffe nicht ausreicht, um den Weltmarktanteil des deutschen Kapitals zu verteidigen. Ohne militärische Macht hat der deutsche Imperialismus im Rahmen des multipolaren Weltmarktes-multipolare Weltordnung keine Chance seine Interessen international durchzusetzen. Im transatlantisch antirussischen Wirtschaftskrieg befindet sich das deutsche Kapital nun in der Defensive und es droht gar eine totale Niederlage in der Ukraine-Frage. Diese Niederlage gegen den russischen Imperialismus wird die deutsche Aufrüstung forcieren und dies geht zu Lasten der gesellschaftlich notwendigen Reproduktion der Arbeiterklasse. Kanonen statt Butter. Das ist die Entscheidung des deutschen Kapitals, welche durchgesetzt wird, wenn die Arbeiterklasse keinen entschlossenen Widerstand leistet. Der Haushalt des bürgerlichen Staates wird deutlich auf den militärisch-industriellen Komplex ausgerichtet, zu Lasten der Ausgabenposten für die kollektive Reproduktion der Ware Arbeitskraft. Aufrüstung meint auch Aufrüstung nach innen, denn nur dann kann die allgemeine Aufrüstung und damit die Aufrüstung gegen den „äußeren Feind“ realisiert werden. Will man den „äußeren Feind“ besiegen, muß man zuerst den „inneren Feind“ besiegen und der „innere Feind“ ist die Arbeiterklasse. Über eine politisch-ideologische Offensive wird auch die Arbeiterbürokratie und mit ihr die proletarischen Massenorganisationen im Sinne der multipolaren imperialistischen Aggression kurzgeschlossen, in der Selbstgleichschaltung gleichgeschaltet und damit die proletarischen Massenorganisationen zersetzt, indem diese nicht mehr als Interessenvermittler der Arbeiterklasse mit dem Kapital fungieren, sondern immer deutlicher die Kapitalinteressen unmittelbar in der Arbeiterklasse vertreten. Die Entfremdung der Massen von der Arbeiterbürokratie nimmt deutlich zu, was sich in der fallenden Mitgliederzahl der DGB-Gewerkschaften niederschlägt, also in der Entfremdung der Arbeiterklasse von ihren Organisationen und damit auf stummen Wege zur Atomisierung der Arbeiterklasse führt. Die Arbeiterklasse atomisiert sich selbst, da sie das Vertrauen in ihre Massenorganisationen verloren hat. Zum Verzicht bedarf es keiner Gewerkschaft, dann ist der Gewerkschaftsbeitrag überflüssig. Die Gewerkschaftsbürokratie zerstört über eine Politik des Verzichts die Gewerkschaften, zerstört sich somit selbst, denn sie verliert ihre materielle Basis und damit auch ihre Existenzberechtigung, ist ein politischer Selbstmord in der Hoffnung, auf den Einbau in den bürgerlichen Staat. Immer mehr fungiert der DGB als Arbeitsfront, statt als Gewerkschaft, denn die DGB-Bürokratie fühlt sich nicht mehr für ihre Mitgliedschaft verantwortlich, fühlt sich in erster Linie der Bourgeoisie verpflichtet, dem ideellen Gesamtkapitalisten, dem bürgerlichen Staat in Notstandsform und verteidigt die bürgerliche „nationale Sicherheit“ gegen die Arbeiterklasse. Die Gewerkschaftsbürokratie setzt auf Burgfrieden, statt auf Gegenmacht und Klassenkampf. Eine reformistisch- gewerkschaftliche Gegenmacht ist derzeit für das Kapital und für die Gewerkschaftsbürokratie eine Bedrohung der „nationalen Sicherheit“. Auch die Gewerkschaftsbürokratie sieht sich für die „nationale Sicherheit“ verantwortlich und verteidigt die „nationale Sicherheit“ gegen die Arbeiterklasse. Und die „nationale Sicherheit“ verlangt Verzicht von der Arbeiterklasse. Die „Nation“ verlangt Verzicht von der Arbeiterklasse. Nicht-Verzicht ist in den Augen des Kapitals „Extremismus“, gar „Terrorismus“, ein Verbrechen. Auf jeden Fall ist Nicht-Verzicht ein Angriff auf die „nationale Sicherheit“. Die Gewerkschaftsbürokratie stellt die „nationale Sicherheit“ höher als die Interessen der Gewerkschaftsmitglieder, höher als die Interessen der Arbeiterklasse. Damit verliert derzeit die Arbeiterklasse ihre Ansprechpartner, ihre eigenen Organisationen und wird atomisiert. Die stärkste Waffe des Proletariats ist die Organisation des Proletariats und derzeit wird das Proletariat vom Kapital desorganisiert. Auch die anderen Organisationen, welche als Vermittler zwischen Arbeiterklasse und Kapital dienen, erklären sich für die Interessen des Proletariats nicht zuständig und kapitulieren vor der Bourgeoisie. Diese naturwüchsige und stumme Atomisierung der Arbeiterklasse wird spontan und sporadisch durch proletarische Revolten durchbrochen, welche dann wieder in sich zusammenfallen und die Atomisierung wiederherstellen. Nur organisierter Widerstand kann erfolgreich sein, aus diesem Grunde versucht die Bourgeoisie auch die proletarischen Organisationen zu desorganisieren und wird dabei die stumme Desorganisierung auch repressiv absichern, jeden Organisationsversuch repressiv unterbinden und stützt damit die proletarischen Massenorganisationen, welche zur Vorfeldorganisationen der „nationalen Sicherheit“ bzw. Arbeitsfronten mutiert sind. Hiermit versucht der bürgerliche Staat diese proletarischen Massenorganisationen repressiv zu stabilisieren und ideologisch zu legitimieren. Nur diese Organisationen werden vom bürgerlichen Staat und den Kapitalverbänden als Verhandlungspartner anerkannt. Es wird ihnen ein Vertretungsmonopol der Arbeiterklasse zugesprochen, unabhängig davon, ob die Arbeiterklasse diese Organisationen noch als die ihren anerkennt. Als erste Maßnahme gilt es von Seiten des bürgerlichen Staates, die Meinungsfreiheit drastisch zu begrenzen bzw. auszuschalten. Der multipolare Weltmarkt- multipolare Weltordnung kennt in jedem imperialistischen Block nur eine uniformierte Meinung, bzw. uniformierte öffentliche Meinung, welche der bürgerliche Staat vorgibt und somit Staatsmeinung ist, wenn sie die „nationale Sicherheit“ betrifft. In der gegenwärtigen Krise des nunmehrigen multipolaren Weltmarktes wird der Begriff der „nationalen Sicherheit“ weit ausgelegt und greift damit tief in die proletarische Meinungsbildung ein. Themen, welche nicht die „nationale Sicherheit“ bedrohen, können debattiert werden, nicht aber die zentralen Themen. Es bestimmt allein die Bourgeoisie, welches Thema zentral, bzw. zentral für die „nationale Sicherheit“ ist, dies ist die „neue Normalität“ seit dem „Corona-Notstand“ und gilt auch in dem tendenziellen Energienotstand. Seit dem „Corona-Notstand“ ist deutlich, daß jedes Gesetz unter Notstandsvorbehalt steht. Jederzeit kann ein offener oder verdeckter Notstand verhängt werden und so steht auch die öffentliche Meinungsbildung unter dem Notstandsvorbehalt bzw. unter dem Vorbehalt der „nationalen Sicherheit“. Auch eine Meinung kann die „nationale Sicherheit“ bedrohen. Und schon dies auszusprechen ist eine zumindest potentielle Gefährdung der „nationalen Sicherheit“ und kann damit als „Förderung des Extremismus und Terrorismus“ ausgelegt werden. Der Deutsche Herbst als vergangener „übergesetzlicher“ Notstand ist nicht tot, ist nicht abgelegte, staubige Geschichte, sondern lebt in Notstandszeiten wieder auf, ist eine äußerst lebendige und exemplarische Geschichte und Stammheim ist als Warnung der Bourgeoisie an die Arbeiterklasse wieder aktuell und mit Stammheim auch die Morde von Stammheim. Anhand dem Stammheim-Komplex ist zu ermessen, wie weit die deutsche und transatlantische Bourgeoisie bereit ist zu gehen, wenn sie die „nationale Sicherheit“ bedroht sieht und die „nationale Sicherheit“ der BRD umfaßt auch die transnationale Sicherheit der EU und des NATO-Paktes. Die „nationale Sicherheit“ der BRD ist gleich der transnationalen Sicherheit der NATO-EU. In der Tradition des Deutschen Herbstes gibt es „Meinungsverbrechen“ und „Kontaktschuld“, um repressiv gegen oppositionelle proletarische Subjekte als Träger einer oppositionellen Meinung, einer Anti-Staatssicherheitsmeinung, vorzugehen, um durch die ideologische und unter Umständen physische Trennung dieser oppositionellen proletarischen Subjekte von den Massen zu realisieren, damit sichergestellt ist, daß die Staatsmeinung auch die Meinung der Massen ist, bzw. an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, daß sich die Staatsmeinung mit der Volksmeinung vollständig deckt. Nur dann, wenn offen oder verdeckt, die proletarischen Massenorganisationen als der Kern der Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus, zerschlagen sind, ist die Arbeiterklasse atomisiert und erst jetzt kann die Arbeiterklasse vom gesellschaftlichen und individuellen Kapitalkommando im Sinne der Neuzusammensetzung des Kapitals in der Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft neu zusammengesetzt werden, als Objekt und nicht als Subjekt im offensiven Klassenkampf der Arbeiterklasse. Die Uniformierung der Meinungsbildung wird durch die vielfältigen Formen der Zensur reguliert und ist die materielle Grundlage für die Uniformierung und innere Militarisierung der bürgerlichen Gesellschaft in der Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft mit dem Ziel der Selbstzensur, der Schere im Kopf bezüglich Bewußtsein und Verhalten. Das Ziel ist die soziale Figur des Untertan. Befehl und Gehorsam ersetzten die Vernunft, statt Rationalität regiert die Irrationalität. Über Befehle kann man nicht diskutieren, sie müssen exekutiert werden. Verweigert man die Exekution der Befehle, macht man sich des Ungehorsams, der Meuterei, schuldig und wird von den Institutionen der militarisierten bürgerlichen Gesellschaft in Form der Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft einer harten Strafe zugeführt, in letzter Konsequenz der physischen Vernichtung. Aber das Hauptproblem ist nicht Befehl und Gehorsam, sondern der vorauseilende Gehorsam. Das System von Befehl und Gehorsam erschafft den Komplex des vorauseilenden Gehorsams, der Selbstgleichschaltung in die Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft, was für Organisationen, wie für Klassenindividuen gilt. Ein Befehl beruht auf Zwang, der mit einer scharfen Sanktion umgesetzt wird. Der Befehlsausführende exekutiert einen fremden Willen, auch notfalls gegen seinen eigenen Willen, er identifiziert sich nicht unbedingt mit dem Befehl und hat bei der Befehlsexekution deshalb Spielräume, weil ein Befehl nicht die gesamte konkrete Situation abdecken kann. Das mangelnde Eigeninteresse an der Befehlsexekution eröffnet Handlungsspielräume. Anders hingegen der vorauseilende Gehorsam; er ist der Gehorsam mit Eigeninteresse und schließt dadurch Handlungsspielräume aus, da nicht die Form des Befehls zählt, wie bei einer reinen Befehlsexekution, sondern aufgrund des Eigeninteresses auf den Inhalt des Befehls, der Intension des Befehls, abgestellt wird und dieser somit der konkreten Gesamtlage angepaßt wird. Der Wunsch wird zum Befehl, der Befehl zum Wunsch. Im vorauseilenden Gehorsam ist die Befehlsexekution nicht fremd zum formalen Befehl, sondern stimmt mit der Intension des Befehls überein, der eigene Wille trifft sich mit dem Willen des Befehlshabers in der Exekution des Befehls. Hinter dem vorauseilenden Gehorsam steht nicht die scharfe Sanktion, sondern das Eigeninteresse des Befehlsausführenden. Im Gehorsam des reinen Befehls kann sich der Befehlsausführende auf eine Notsituation berufen, wenn er nicht gehorcht, droht eine scharfe Sanktion. Jedoch liegt eine Notsituation im vorauseilenden Gehorsam nicht vor, denn dieser ist ein vom Eigeninteresse interpretierter Befehl und diese Befehlsexekution ist die allgemeine Befehlsexekution. Nur der interpretierte Befehl des vorauseilenden Gehorsams ist der Befehl an und für sich, denn nur er sichert eine sachgemäße Befehlsexekution, schließt also das individuelle Eigeninteresse des Befehlsausführenden mit ein. Der äußere bürokratische Zwang der scharfen Sanktion ist zwar die materielle Grundlage des Befehls, reicht aber nicht aus, es Bedarf des gesellschaftlichen Zwanges, des sozialen Zwanges, des Gruppenzwanges, damit der Befehl seiner Intension nach exekutiert wird. Der „freiwillige Zwang“ erst macht den Befehl scharf. Es sind die von der herrschenden Klasse vorgegebenen Normen, welche den Inhalt des Befehls ausmachen, welche die Intension des Befehls ausformulieren. Wird ein Befehl nicht „ordnungsgemäß“ ausgeführt, geschieht nichts wesentliches. Es droht höchstens eine soziale Abschätzigkeit und es müssen „Karierenachteile“ in Kauf genommen werden. Jedoch dies akzeptiert nur eine Minderheit aus dem Kleinbürgertum. Die Mehrheit des Kleinbürgertums orientiert sich an den allgemeinen kapitalistischen Normen, wie an die jeweiligen konkreten historischen Normen einer kapitalistischen Epoche und interpretiert die Befehle in dieser Art. Das Kleinbürgertum steht der Bourgeoisie objektiv strukturell näher als der Arbeiterklasse und nur in der Offensive kann die Arbeiterklasse das Kleinbürgertum an sich binden und führen, ansonsten fällt das Kleinbürgertum an die Bourgeoisie. Immer marschiert das Kleinbürgertum an der Seite der stärksten Klasse. In der gegenwärtigen Defensive der Arbeiterklasse orientiert sich das Kleinbürgertum an die Bourgeoisie, wird auch in diesem Sinne die Befehle der herrschenden Klasse mit Leben erfüllen, mit dem kleinbürgerlichen Selbstinteresse nach sozialem Aufstieg und Anerkennung durch die Bourgeoisie. Es ist die kleinbürgerliche Ideologie des individuellen Aufstiegs etc. die ihre materielle Basis in der objektiven Klassenlage des Kleinbürgertums findet, welche die Befehle des Kapitals konkret mit Repression auflädt. Offener Widerstand gegen die um sich greifende Tendenz zum Befehl und zur Selbstgleichschaltung findet sich selten. Die Angst vor sozialer Ausgrenzung ist groß und ein Produkt der Isolierung und Atomisierung durch den Notstand. Es radikalisiert sich die Bourgeoisie und reißt das Kleinbürgertum mit sich. Die gegenwärtigen Normen einer zunehmend multipolaren nationalistischen kapitalistischen Gesellschaft gelten als das „Gute“, welche gegen das „Böse“ steht, d.h. gegen alle, welche die konkreten nationalen Normen verletzten bzw. ihnen andere Normen entgegensetzen. Die eigenen gesellschaftlichen Normen bzw. „Werte“ werden nicht hinterfragt. Im Gegenteil, sie gelten als Gut“ und ihnen wird und soll „Freundschaft“ entgegengebracht werden. Hingegen führt jede Kritik der heiligen Normen bzw. Werte in das „Reich des Bösen“ und dies bedeutet „Feindschaft“. Der „Gutmensch“ ist mit den herrschenden Normen der herrschenden Klassen im Übereinstimmung und er geht über jede gesetzliche Erfüllung hinaus. Es reicht nicht die bürgerlichen Gesetze zu befolgen, sie sollen über die konkreten Werte und Normen verinnerlicht und weiterentwickelt werden. Die konkrete Moral ist eine Zusammenfassung für die Politik der Werte und Normen. Es kommt zu einer Politik der Moral, zu einer moralischen Politik, welche nur die materiellen Interessen der bürgerlichen Politik verschleiert. Das Proletariat soll sich nicht so sehr nach den geschriebenen bürgerlichen Gesetzen richten, sondern nach der ungeschriebenen konkreten bürgerlichen Moral. Stehen Gesetz und Moral im Widerspruch, soll die Moral über das bürgerliche Gesetz obsiegen. Es ist gerade die historische Mission des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) sich von dem bürgerlichen Gesetz als Ausdruck parlamentarisch-demokratischer Klassenjustiz relativ abzukoppeln, und auf eine Sondergesetzgebung des Ausnahmezustandes zurückzugreifen, die jedoch eine Negation des Gesetzes selbst ist, denn der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) ist nur an seine Macht und seinen historischen Klassenauftrag gebunden und frei von jedem Gesetz. Dem bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) gewährt nicht das Gesetz seine Legitimation, sondern der amorphe „Volkswille“, welcher durch die Normen und Werte, durch die gesellschaftliche Moral, bestimmt ist, durch die Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft. Die gegenwärtige Betonung der „Werte“ ist damit auch gleichzeitig eine Abwertung des bürgerlichen Gesetzes und seines sogenannten „Rechtsstaates“. Was zählt ist nicht die Befolgung der Gesetze, sondern die Befolgung der konkreten Moral, der konkreten gesellschaftlichen Werte und Normen. Man kann unschuldig vor dem Gesetz sein, aber schuldig durch den Gerichtshof der konkreten gesellschaftlichen Werte und Normen und die historische Funktion des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) ist es, diese amorphe Moral, diese amorphen Werte und Normen, statt dem Gesetzesbruch zu sanktionieren, die individuelle und kollektive Gesinnung zu sanktionieren. Die „nationale Sicherheit“ geht über das Gesetz, auch Sicherheitsgesetz, hinaus, es umfaßt ebenfalls die (politische) Gesinnung, die „politische Zuverlässigkeit“ in ihren Abstufungen. Der Begriff „Sicherheitsrisiko“ umfaßt nicht nur die aktuelle Datenlage, sondern versucht aus der aktuellen Datenlage ein zukünftiges Risiko heraus zu interpretieren, welches dann die zentrale Maßgabe ist für „nationale Sicherheit“. Wer nicht die gesellschaftlichen Normen und Werte lebt, ist ein potentielles „Sicherheitsrisiko“ und wird einer repressiven Sonderbehandlung unterworfen. Immer mehr wird deshalb versucht die „Sicherheitsüberprüfung“ zu verbreitern. Aufgrund von Geheimdienstinformationen, die nicht hinterfragt werden, wird permanent bestimmt, wer als „Sicherheitsrisiko“ gilt und wer nicht. Eine Sicherheitsüberprüfung wird nicht nur am Beginn eines Arbeitsverhältnisses durchgeführt, sondern permanent. Bei Einstufung als „Sicherheitsrisiko“ droht Entlassung oder Versetzung. Auf jeden Fall Aufnahme in die Schwarzen Listen des Kapitals und unter Umständen gar ein offizielles Berufsverbot. Schon heute existiert neben der offiziellen „Sicherheitsüberprüfung“ eine inoffizielle „Sicherheitsüberprüfung“ bzw. „wilde Sicherheitsüberprüfung“, die von bestimmten Kapitalien durchgeführt wird und sich zentral auf die Durchsuchung des Internets über eine bestimmte Person und weitere Informationen außerhalb des Internets bezieht. Derzeit versucht man zwei Sicherheitskreise aufzubauen. Ein Sicherheitskreis umfaßt bereits den militärisch-industriellen Komplex mit den höchsten „Sicherheitsanforderungen“ und der zweite Kreis mit niedrigeren „Sicherheitsanforderungen“ wird mit Konstruktion der „Kritischen Infrastruktur“ konstituiert, wobei durch Erlaß die ganze Volkswirtschaft als „Kritische Infrastruktur“ eingestuft werden kann. Über diese Maßnahmen der inneren Militarisierung wird die relative Tarifautonomie weiter untergraben und die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften erheblich beschränkt. Der Sicherheitskreis „Kritische Infrastrukturen“ erfaßt immer den größeren Teil der Arbeiterklasse als der erste Sicherheitskreis, welcher sich nur auf den militärisch-industriellen Komplex bezieht und notfalls erfaßt der zweite Sicherheitskreis die gesamte Lohnarbeiterklasse. Vor allem über den zweiten Sicherheitskreis kann das Kapital die Arbeiterklasse sozial neu zusammensetzen. Das Kapital setzt zu einer Säuberung der Betriebe von widerständigen Kernen der Arbeiterklasse an und versucht diese in die industrielle Reservearmee zu verbannen. Mit der Erhöhung des politischen Drucks erhöht sich auch langsam der soziale Druck in der Lohnarbeiterklasse, erhöht sich der soziale Druck durch die gesellschaftlichen bürgerlichen Normen und Werte. Die Abweichung von den bürgerlichen gesellschaftlichen Werten und Normen im multipolaren Akkumulationsmodell ist bereits ein „Sicherheitsrisiko“, eine potentielle Gefahr für die „nationale Sicherheit“, eben dies wird vor allem in der „Sicherheitsüberprüfung“ geprüft. Es wird in der „Sicherheitsüberprüfung“ zentral die „politische Gesinnung“ überprüft und nicht so sehr vergangene kriminelle Handlungen, denn dafür gibt es das „Polizeiliche Führungszeugnis“. Die „Sicherheitsüberprüfung“ ist eine Rasterfahndung, welche sich auf die Betriebe bezieht. Der „Feind“ ist nicht nur der, wer die bürgerlichen Gesetze bricht, sondern auch der, wer von der „rechten“ Gesinnung abweicht, wer gegen das „gesunden Volksempfinden“, wer gegen die gesellschaftlichen Normen und Werte, verstößt. Vor allem zielt die Repression auf Positionen unterhalb der Schwelle des Strafrechts bzw. des bürgerlichen Klassenrechts überhaupt. Das Feindrecht geht über das Strafrecht hinaus, geht auch über das bürgerliche Klassenrecht selbst hinaus. Die „Freund/Feindkennung liegt in der politischen bzw. allgemeinen Gesinnung, in der Akzeptanz der multipolaren gesellschaftlichen Normen und Werte. Um die „richtige“ Gesinnung zu beweisen, ist es notwendig, regelmäßig „Loyalitätsbekundungen“ abzugeben, d.h. sich von bestimmten Meinungen, Handlungen und Personen zu distanzieren, notfalls von seiner Vergangenheit. Die Repression heute äußert sich in einem Rechtfertigungszwang. Der bürgerliche Staat und das individuelle Kapitalkommando stellen der Arbeiterklasse und ihren individuellen Gliedern permanent Fragen, auch sinnlose, und die Arbeiterklasse und ihre individuellen Glieder haben diese zu beantworten und sollen somit ihre Loyalität bekunden, nicht nur auf den Inhalt bezogen, sondern auch auf die Form, d.h. auf die reine Frage selbst, denn nur die bürgerliche Klassenmacht hat das Fragerecht und die Arbeiterklasse hat nur die Pflicht zu antworten und damit sich zu rechtfertigen. Wer fragt herrscht-wer antwortet unterwirft sich. Die Betonung der Werte und Normen durch die Bourgeoisie steht für eine Abwertung des bürgerlichen Gesetzes, für eine Abwertung der parlamentarisch-demokratischen Form des bürgerlichen Staates und für den Aufbau eines bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus), denn diese negieren das bürgerliche Gesetz zugunsten einer exekutiven Notversordnung und dies bezieht dann notwendig die Gesinnung mit ein. Sonderjustiz ist Gesinnungsjustiz. Nicht die Tat steht im Vordergrund, sondern die Gesinnung, die Gesinnung selbst ist eine Straftat. Während das codifizierte Gesetz hinter den Normen und Werten zutritt, tritt auch das Völkerrecht hinter die „regelbasierte Ordnung“ zurück. Im Ausnahmezustand herrscht nicht das codifizierte bürgerliche Gesetz, sondern das Universum der amorphen Werte und Normen und der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) interpretiert dieses Universum an amorphen Werten und Normen, läßt sich durch diese irrationalen Strömungen legitimieren. Notstand und Irrationalismus gehen Hand in Hand. Werte und Normen entstehen naturwüchsig, wertgesetzrational, sind keine Produkte bewußter Handlungen und in diesem Sinne irrational, während das bürgerliche Gesetz eine bewußte Handlung ist und Ausdruck der Politik im Klassenkampf. Die bürgerlichen Werte und Normen werden heute als vorverlegter Staatsschutz formiert und zwar im Sinne von „Pre-Crime“. Eine Ablehnung der herrschenden Werte und Normen, die zu „abweichenden Verhalten“ führt, nicht aber zu Straftaten, werden zu tendenziellen und potentiellen Straftaten uminterpretiert. Um potentielle Straftaten zu verhindern, muß präventiv dieses „abweichende Verhalten“ sanktioniert werden. Dafür steht die KI (Künstliche Intelligenz) bereit, die massenhafte digitale Erfassung und automatische Interpretation des Verhaltens in Form einer sozialen Rasterfahndung, schlägt sich in der „Sicherheitsüberprüfung“ nieder, denn dort zählt das „Sicherheitsrisiko“ und dies geht über die Ermittlung von vergangenen oder aktuellen Straftaten hinaus, es zählt hingegen die Internalisierung der ungeschriebenen herrschenden sozialen und gesellschaftlichen Normen und Moralvorstellungen, der präventive Gehorsam, bzw. das alltägliche soziale Verhalten im Klassenalltag. Für die Bourgeoisie sind die herrschenden gesellschaftlichen Normen und Moralvorstellungen derzeit zentral, so daß sie „alternativlos“ sind. Alternativen sind tabu. Alternative Positionen sind ein Angriff auf die „nationale Sicherheit“.

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Logo of the Organization of the Warsaw Pact

In der Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft gibt es keine relativ unabhängigen, relativ autonomen proletarischen Massenorganisationen, gibt es keine Opposition und erst Recht keine proletarische Opposition. Es gibt nur den Feind. Entweder man stimmt zu hundert Prozent mit der Staatsmeinung überein, dann ist man ein „Freund“ der Gesellschaft, ein „Freiheitsfreund“ oder man stimmt nicht zu hundert Prozent mit der Staatsmeinung überein, dann ist man ein „Feind“. Schwarz oder weiß. Ein grau dazwischen gibt es nicht. Opposition gibt es nicht. Entweder „Freund“ oder „Feind“. Und „Feind“ heißt dann konkret „Extremist“ oder „Terrorist,“ bezieht sich auf den „inneren Feind“, welcher mit dem „äußeren Feind“, konkurrierende imperialistische Blöcke in der multipolaren Weltmarktkonkurrenz, in Verbindung steht. Eine solche Verschwörungstheorie versucht die Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft ideologisch abzusichern. Da sich die Arbeiterklasse der qualitativen Absenkung ihres gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsniveaus widersetzt, ist sie objektiv der notwendige „innere Feind“ des Kapitals und ihre Organisationen sind „Feindorganisationen“ müssen offen oder verdeckt zerstört werden und neue proletarische Massenorganisationen dürfen sich nicht bilden, denn diese würden angeblich die innere Einheit der „Nation“ zerreißen und gefährden dadurch die „nationale Sicherheit“. Jede Abweichung von der Generallinie, die die Bourgeoisie durch den bürgerlichen Staat vorgibt, ist eine Feindhandlung, da sie die „nationale Sicherheit“ gefährdet. Für jedes Verhalten, für jede Handlung im Klassenalltag, muß sich gerechtfertigt werden, Zugangskontrollen werden ausgeweitet, Rasterfahndung wird exekutiert. Auf diese Weise soll der verdeckte „innere Feind“ aufgespürt werden.

Über den „Corona-Notstand“ wurde diese Repression schon exekutiert und massenhaft eingeübt. Rationierung ist immer Repression und immer mit Kontrolle verbunden. Die Impfausweise galten als Zutrittsberechtigung, wie zuvor die „Corona-Warn-App“ und wurden kontrolliert, bei den Mundschutzmasken wurde kontrolliert, ob sie auch richtig aufgesetzt wurden etc. Das Mobilephone wurde zu einem Kontrollgerät, wo die Zugangsberechtigungen gespeichert wurden und erfaßt jede Bewegung und jede Kommunikation. Sogar wer auf der Straße zu dritt unterwegs war und nicht aus einer „Haushaltsgemeinschaft“ stammt, wurde gestraft, ebenso, wenn eine „Haushaltsgemeinschaft“ innerhalb der Wohnung gegen die „Corona-Regularien verstieß und mehr Personen von außerhalb der Hausgemeinschaft zuließ. Wer gegen die Regeln des „Corona-Notstandes“ verstieß verfiel der Repression, wurde in letzter Konsequenz zwangsweise und gewaltsam isoliert, bzw. in spezifische Zentren für eine Zeit lang weggesperrt. Dies ist die „neue Normalität“ des Corona-Notstandes, welche nicht so einfach mit dem „Corona-Notstand“ vergeht, sondern sich als Erbe in den „Energienotstand“ trägt. Im „Corona-Notstand“ wurde strikt und präzis nach „Freund“ und Feind“ unterschieden und im Energienotstand ebenfalls, „Feind“ ist, wer das Ende des antirussischen Wirtschaftskrieges und Verhandlungen mit Rußland fordert, „Freund“ ist, wer den antirussischen Wirtschaftskrieg fortsetzten will und ebenfalls Waffenlieferungen an die NATO-Ukraine organisiert. Den Kritikern des NATO-Kriegskurses des deutschen Imperialismus wird die Legitimität ihrer Kritik und gar, durch die Änderung der Gesetze sogar bezüglich eines unbewiesenen russischen „Völkermordes“ in der Ukraine, die Legalität der Kritik in Frage gestellt. Es drohen gar strafrechtrechtliche Ermittlungen, wenn unbewiesene Behauptungen in Frage gestellt werden. Tatvorwurf ist „Volksverhetzung“. Es findet eine Kriminalisierung der öffentlichen Meinungsbildung statt. Kritik kann schnell als „Volksverhetzung“ geahndet werden und gerade auch Kritik an den staatlichen und damit auch medialen Verschwörungstheorien der Bourgeoisie. Es geht nicht mehr um Wahrheit und damit um Rationalität, sondern um den Triumph des Willens über die Wahrheit, darum, die Irrationalität zum Maßstab zu machen. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Wer die Wahrheit verkündet, d.h. eine wahre Aussage über die Klassenrealität tätigt, ist schuldig und nicht die Klassenrealität. Über diesen Mechanismus werden dann politische Tabu-Themen konstruiert und wer diese Tabu-Themen auch nur tendenziell erwähnt, ist dann ein „Extremist“ oder gar „Terrorist“ ist der „innere“ Feind. Kritik ist nur noch erlaubt, wenn sie den multipolaren Kapitalismus rationalisiert.

Das multipolare Akkumulationsmodell orientiert sich an dem bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus). Nur auf diese Weise kann das Kapital den erneuten Krisenschub der Großen Krise ab Herbst 2019 überstehen. Die Entwertung des Kapitals in der durchschnittlichen Bewegung desselben im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate zwingt das Kapital zu einer Neuzusammensetzung des Kapitals-Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse und damit zum Bruch mit dem neoliberalen Akkumulationsmodell und naturwüchsig in den multipolaren Weltmarkt, denn der naturwüchsige Bruch mit dem neoliberalen Weltmarkt ist das Resultat des Zusammenbruchs der Hegemonie des US-Imperialismus innerhalb der imperialistischen Kette unter dem Druck der Entwertungstendenzen der Großen Krise und die allseitige Verschärfung der nun multipolaren Weltmarktkonkurrenz führt zum Rückgriff auf autoritäre Formen bürgerlicher Klassenherrschaft, um so auf die sich entfaltenden Widersprüche der Akkumulationsbewegung des Kapitals zu reagieren. Diese parlamentarisch-demokratische Form des bürgerlichen Staates des neoliberalen Akkumulationsmodells weicht tendenziell dem bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus), welcher immer deutlicher die parlamentarisch-demokratischen Formen bürgerlicher Klassenherrschaft unterhöhlt und immer offener auf den Notstand-Ausnahmezustand zurückgreift. Statt dem Bürger als Citoyen steht nun der Untertan in der Bourgeoisie hoch im Kurs, welcher sich in der „Freund-Feind“-Kennung verwirklicht. Der Bürger als Citoyen ist nur dann ein Bürger in der multipolaren Form der Akkumulation, wenn er Untertan ist, denn nur dann ist er „Freund“ im Sinne der Bourgeoisie, wird jedoch der Status Untertan verweigert, kommt der Status „Feind“. Ein Untertan übt keine grundsätzliche Kritik, sondern nur immanente Kritik zur Optimierung der bürgerlichen Klassenherrschaft. Hingegen stellt eine proletarische Grundsatzkritik die bürgerlichen Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse in den Mittelpunkt der praktischen Kritik und wird deshalb von der Bourgeoisie als „Feind“ klassifiziert und repressiv verfolgt. Die „neue Normalität“ des Ausnahmezustandes, des Notstandes, ist die neue Normalität der Repression gegen die Arbeiterklasse. Statt „Demokratie wagen“ heißt es nun „Mehr Diktatur wagen“, statt „Wohlstand für Alle“ heißt es nun „Wohlstand für Wenige-Armut für die Mehrheit“ bzw. „Verzicht für die Mehrheit“. Oder besser: „Hartz IV für alle“.

Das Hartz IV-System ist der Keim der autoritären Entwicklung schon im neoliberalen Akkumulationsmodell und kommt im multipolaren Kapitalismus, in der multipolaren Weltmarktkonkurrenz, zur vollen Blüte, wird zum Modell für die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse durch das Kapital. Schon immer, d.h. in der neoliberalen Form des Kapitalismus, war das Hartz IV-System ein Notstand, ein Ausnahmezustand für bestimmte Segmente der industriellen Reservearmee, war immer ein Labor des Ausnahmezustandes, ein Labor des Notstandes. Im Hartz IV-System wurde die Entrechtung der Arbeiterklasse bereits tendenziell im Jahr 2004/2005 realisiert und bezog sich auf bestimmte Schichten der industriellen Reservearmee. Ein Sonderrecht wurde implantiert, welches von der parlamentarisch-demokratischen Klassenjustiz tendenziell abgekoppelt wurde. Die Oberaufsicht durch die Judikative war nur schwach ausgeprägt. Es gab zu keinem Zeitpunkt ein Interesse, das Hartz IV-System zu überwachen, im Gegenteil, das Hartz IV-System sollte sich ohne juristische Kontrolle entwickeln. Das Zentrum von Hartz IV ist die systematische Willkür, dessen Ziel es ist, einen Hartz IV-Untertan zu produzieren; den Willen der Hartz IV-Bezieher zu brechen. Der bürokratische Zwang des Hartz IV-Systems setzt auf Gehirnwäsche mit dem Ziel Befehl und Gehorsam als zentrale Verhaltensdispositive in den Hartz IV-Empfängern zu internalisieren; sie werden keinesfalls als Bürger im Sinne des Citoyens gleichberechtigt anerkannt, sondern als minderwertig, asozial, kategorisiert. Es gibt keine Rechte, sondern nur die Tyrannei der Gnade des Hartz IV-Systems, wenn man sich aktiv diesem System unterwirft. Einfordern kann man nichts, nur Flehen. Jedoch kann das Hartz IV-System sehr viel vom Hartz IV-Empfänger einfordern. Große Beharrlichkeit ist notwendig, wenn man im Hartz IV-System seine geringen Rechte durchsetzen will. Eine Beharrlichkeit, die nur eine Minderheit aufbringt. Die Repression des Hartz IV-Systems hält den Widerspruch klein.

Das Hartz IV-System kennt als zentrales Diktum die Arbeitspflicht. Jede angebotene Arbeit ist anzunehmen, es sei denn, sie verstößt gegen die „guten Sitten“. Es gibt keinen Qualifikationsschutz und keinen Tarifschutz. Um diese Arbeitspflicht zu realisieren, wurde die Beweislast umgekehrt. Nun muß der Hartz IV-Empfänger nachweisen, daß die ihm angebotene Arbeit unzumutbar ist. Zuvor mußte das Arbeitsamt nachweisen, daß die Arbeit für den Erwerbslosen zumutbar war. Mit der Umkehrung der Beweislast jedoch obliegt nun die Beweisführung in Hinblick auf die Zumutbarkeit von Arbeit jetzt dem Hartz IV-Empfänger gegenüber dem bürgerlichen Staat, ein Beweis den dieser alleine gegen die konzentrierte Macht des bürgerlichen Staates jedoch nicht praktisch erbringen kann. Bei Verweigerung der angebotenen Arbeit drohen Sanktionen. Sanktionen gibt es eben nicht nur auf der Ebene des Weltmarktes im Wirtschaftskrieg, sondern werden auch unmittelbar gegen Erwerbslose verhängt, wenn sie nicht die Befehle des Hartz IV-Systems exekutieren. Das Bundesverfassungsgericht brauchte ganze 16 Jahre, um ein Urteil in der Frage der Sanktionierungspraxis zu fällen. Solange wurden die diversen Urteile zwischen den verschiedenen Instanzen hin und her geschoben. Die Judikative wollte keine Verantwortung übernehmen und ließ das Hartz IV-System an ihrer langen Leine seinen Lauf. Doch auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hebt den Widerspruch Sanktionierung auf null versus Recht auf Leben in Menschenwürde nicht auf. Die beiden Seiten bleiben weiterhin abstrakt unvermittelt. Auf der einen Seite wird die Sanktionshöhe eingeschränkt und doch letztlich kann noch tiefer im Einzelfall sanktioniert werden. Über die Akkumulation einzelner Sanktionen sagt das Urteil auch nichts aus. Letztlich bleibt es, wie es immer war. Bei Verweigerung angebotener Arbeit kann bis in die Obdachlosigkeit sanktioniert werden. Damit wird dann die relative Tarifautonomie der Gewerkschaften zerschlagen, denn es setzt zwangsweise ein Unterbietungswettbewerb in der Lohnarbeiterklasse ein.

Doch vorher muß erst die Hürde der „Bedürftigkeitsprüfung“ überwunden werden, um in das dunkle Hartz IV-Reich hinabzusteigen. Nicht jeder Erwerbslose erhält Arbeitslosengeld II, nachdem das Arbeitslosengeld II ausgelaufen ist. In der „Bedürftigkeitsprüfung“ wird das Vermögen und das Einkommen des Antragstellers, wie das Einkommen und das Vermögen der „Bedarfsgemeinschaft,“ geprüft. Zentral ist das Einkommen und Vermögen der „Bedarfsgemeinschaft“. Ist dies zu hoch, wird kein Arbeitslosengeld II gewährt. Zuvorderst ist das eigene Vermögen aufzubrauchen und erst, wenn das Einkommen der „Bedarfsgemeinschaft“ zu gering ist, wird das Arbeitslosengeld II genehmigt. Wird das Arbeitslosengeld II wegen der „Bedürftigkeitsprüfung“ nicht gezahlt, zahlt praktisch die „Bedarfsgemeinschaft“ ihr eigenes Arbeitslosengeld II, solange, bis es eine bestimmte Schwelle unterschreitet und der bürgerliche Staat mit seinem Hartz IV-System den Fall übernimmt. Der Sinn der „Bedürftigkeitsprüfung“ liegt darin, den Erwerbslosen und seine „Bedarfsgemeinschaft“ vollständig kapitalistisch zu enteignen, bevor er soziale Transferleistung beziehen darf. Der Kapitalismus enteignet das Proletariat, sein Privateigentum, zusätzlich, nachdem das Proletariat von seinen Produktionsbedingungen, von seinem Eigentum an Produktionsmitteln, enteignet wurde. Das Hartz IV-System organisiert über die „Bedürftigkeitsprüfung“ die Enteignung der Erwerbslosen, denn nur dann können sie sich der Repression durch das Hartz IV-System nicht mehr entziehen, erst dann sind sie relativ wehrlos der Gewalt des bürgerlichen Staates in Form des Hartz IV-Systems ausgesetzt.

Um den Druck auf den Erwerbslosen zu erhöhen, wird zentral der Druck auf die „Bedarfsgemeinschaft“ gelegt. Hartz IV ist „soziale Sippenhaft“. Auch die „Bedarfsgemeinschaft“ muß sich dem Diktat des Hartz IV-Systems beugen. Wird Hartz IV genehmigt, ist die „Bedarfsgemeinschaft“ gezwungen den Hilfebezug zu reduzieren oder gar aufzuheben, indem alle Glieder der „Bedarfsgemeinschaft“ genötigt sind, eine Lohnarbeit aufzunehmen, denn dann könnte die „Bedarfsgemeinschaft“ den Erwerbslosen aus den Mitteln der „Bedarfsgemeinschaft“ erhalten und der bürgerliche Staat könnte seine Transferleistung Arbeitslosengeld II einstellen. Aber der Druck auf die „Bedarfsgemeinschaft“ wird noch durch das engmaschige Netz der Kontrolle durch das Arbeitsamt weiter gesteigert. Es wird ein eigener Ermittlungsdienst gegründet, welcher die „Bedarfsgemeinschaften“ kontrollieren soll, auch mit Hilfe von Denunziation. So kommt es zu Hausdurchsuchungen und Razzien gegen „Bedarfsgemeinschaften“, wo das Eigentum der „Bedarfsgemeinschaft“ penibel kontrolliert wird, über Kontoeinsicht sind die Zahlungsströme ebenso transparent und werden der Kontrolle unterzogen. Unterstützt werden diese Kontrollmaßnahmen durch Verhöre auf dem Arbeitsamt, wie den „Schulungen“, welche der Gehirnwäsche dienen, um den Lohnarbeiter für den zweiten Arbeitsmarkt (der Verschränkung von Niedriglohn und ergänzender sozialer Transferleistung) abzurichten. Das Hartz IV-System ist lediglich der Notstand vor dem Notstand und bietet das Muster für einen allgemeinen Notstand-Ausnahmezustand, welcher in Tendenz den multipolaren Weltmarkt konkret spezifisch widerspiegelt.

Mit Hilfe des Hartz IV-Systems wurde der zweite Arbeitsmarkt geschaffen. Durch den sozialen Druck wurde die industrielle Reservearmee in die arbeitende Armut transformiert- in den Niedriglohnsektor, welcher durch Niedriglohn und ergänzenden Arbeitslosengeld II konstituiert wird. Faktisch ein gewerkschaftsfreier und tarifvertragsfreier Raum, auch wenn die DGB-Bürokratie versucht hat, untertarifierte Tarifverträge, wie z.B. in der Leiharbeit, abzuschließen. Unter dem Druck des bürgerlichen Staates kapitulierte in den Jahren der Implantation des Hartz IV-Systems die DGB-Bürokratie und akzeptierte indirekt das Hartz IV-System und direkt die geforderten Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen, wozu auch die untertarifierten Tarife in den Niedriglohnbranchen gehören. Der Druck des bürgerlichen Staates auf die Gewerkschaften in den Fragen Hartz IV und Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen, waren ein Angriff auf die relative Tarifautonomie der Gewerkschaften. Statt zum Massenstreik bzw. Generalstreik zur Verteidigung dieses Grundrechts und damit zur Verteidigung der gesamten Verfassung aufzurufen, zog es die Gewerkschaftsbürokratie vor, zu kapitulieren. Der soziale und politische Widerstand ohne die Mobilisierung der Gewerkschaften war zu schwach, um Hartz IV und Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen zu verhindern. Dies war der erste Schritt zum Einbau der Gewerkschaftsbürokratie in den bürgerlichen Staat. Ohne die Zerstörung von Hartz IV kann die relative Tarifautonomie nicht wiederhergestellt werden und ohne die Wiederherstellung der vollen relativen Tarifautonomie der Gewerkschaften wird der Reallohnverlust in Grundsatz nicht kompensiert werden können. Mit Hartz IV in den „Corona-Notstand und in den Energienotstand. Hartz IV öffnete für das Kapital das Tor zum Ausnahmezustand-Notstand. Über die Implantation des Hartz IV-Systems setzte das Kapital die Arbeiterklasse passiv neu zusammen. Mit der „Corona-Krise“ erfolgt eine neue Offensive zur Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse mit dem Ziel, die Verwertungsposition im multipolaren Weltmarkt auszubauen. Das deutsche Kapital versucht mit einer Radikalisierung der Deflationspolitik die Kosten zu senken, um die Auswirkungen der protektionistischen Tendenzen und der Wirtschaftskriege zu Lasten der Arbeiterklasse zu kompensieren. Die Radikalisierung der Deflationspolitik kann nur unter dem Schutz des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) erfolgen, wenn sie realisiert werden soll. Ein parlamentarisch-demokratischer bürgerlicher Staat ist ein Hindernis für eine radikale Deflationspolitik und muß notwendig beseitigt werden, wenn die Arbeiterklasse atomisiert und desorganisiert werden soll.

Im bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) versucht die Bourgeoisie durch Desorganisation der proletarischen Massenorganisationen dem Proletariat eine bürgerliche Identität aufzuzwingen. Als Mittel dazu dient die „Identitätspolitik“. Identität gibt es nur in der Nicht-Identität. Doch die immer mehr irrational um sich schlagende Bourgeoisie will die Nicht-Identität nicht akzeptieren. Für sie gibt es nur noch die bürgerliche Identität, welche sich konzentriert in der „Nation“ ausdrückt. In der „Nation“ ist die Bourgeoisie mit sich selbst identisch. Über den Ausnahmezustand, offen oder verdeckt, auch als Drohung mit ihm, soll die Arbeiterklasse sich mit ihrer eigenen Bourgeoisie, mit ihrem eigenen Kapital, mit ihrer Ausbeutung, identifizieren, d.h. mit der bürgerlichen „Nation“. Identifizieren heißt hier akzeptieren, aussöhnen. Für das Kapital ist die „Identität“ alternativlos. Die Ware Arbeitskraft soll sich als Ware Arbeitskraft identifizieren, als abstrakte Arbeit, welche ihre Identität als Ware Arbeitskraft immer erhält, aber als konkrete Arbeit verschiedene Identitäten annimmt, sich dann mit der konkreten Form der Arbeit identifiziert. In der bürgerlichen Abstraktion realer Ausbeutungsverhältnisse bzw. Selbstausbeutungsverhältnisse der „Ich-AG“ oder des „Arbeitskraftunternehmers“ wird die bürgerliche Identitätspolitik konkret. Die Ware Arbeitskraft steht dem Kapital atomisiert gegenüber und kann sich nur als Ware Arbeitskraft realisieren, wenn sie sich den Verwertungsanforderungen des Kapitals vollständig unterwirft, sich mit dem Verwertungsprozeß identifiziert. Verweigert sich die Ware Arbeitskraft der Identifikation mit den kapitalistischen Anforderungen, wird sie in die industrielle Reservearmee absteigen.

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Das Proletariat 

Identität steht im Kapitalismus für Unterwerfung unter die Ausbeutung. Nicht-Identität ist die Antwort des Proletariats auf die kapitalistische Ausbeutung, d.h. Nicht-Identität ist Klassenkampf. Die kapitalistische Identität findet im bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) ihren Begriff, d.h. konkret in der „Nation“ bzw. Volksgemeinschaft-formierte Gesellschaft, indem sie versucht totalitär die Negation der Identität, die Nicht-Identität, den proletarischen Klassenkampf, welcher sich in den Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus materialisiert und damit auch in der parlamentarisch-demokratischen Form des bürgerlichen Staates, welche nicht von der Bourgeoisie, sondern vom Proletariat erkämpft wurde, zu zerstören. Der Zwang zur Identität soll die Nicht-Identität vernichten. Die Nicht-Identität ist die Negation des kapitalistischen Verwertungsprozeßes, die Nicht-Identität ist der „Feind“ und nur Identität mit dem Kapitalismus ist „Freund“. Nicht-Identität-Feind ist die Ware Arbeitskraft, welche versucht, die kapitalistische Vernutzung der Ware Arbeitskraft einzuschränken oder gar abzuschaffen, ist der „politische Feind“, den es zu vernichten gilt. Hingegen ist der „soziale Feind“ diejenige Ware Arbeitskraft, welche objektiv nicht als Ware Arbeitskraft fungieren kann und damit auch keine Ausbeutungsmasse für das Kapital ist. Diese relative Übervölkerung ist vom Standpunkt des Kapitals nutzlos und stellt nur Kosten dar, denn sie kann noch nicht einmal als industrielle Reservearmee fungieren, schmälert so die Profitrate und behindert das Kapital im Kampf um höhere Weltmarktanteile im multipolaren Weltmarkt. Die Ware Arbeitskraft, die objektiv nicht als Ware Arbeitskraft fungieren kann, ist keine Ware Arbeitskraft mehr, sondern nur Kosten bzw. „tote Ware Arbeitskraft“ (z.B. Dauererkrankte oder Behinderte) und damit Nicht-Ware-Arbeitskraft als Negation der Ware Arbeitskraft, welche potentielle Ausbeutungsmasse für das Kapital ist. Der „soziale Feind“ ist Nicht-Ware Arbeitskraft, diese Nicht-Ware Arbeitskraft ist nicht identisch mit der Ware Arbeitskraft und hat damit keine Existenzberechtigung und dies gilt dann auch für den Träger der Nicht-Ware Arbeitskraft. Hingegen der „politische Feind“, welcher objektiv Ware Arbeitskraft ist, da er potentiell als Ware Arbeitskraft ausgebeutet werden kann. Dieser ist „politischer Feind“, weil er subjektiv sich der Ausbeutung durch das Kapital verweigert bzw. diese nur eingrenzen will und nur subjektiv ist der „politische Feind“ die Nicht-Identität der Ware Arbeitskraft, negiert die Funktion als Ware Arbeitskraft politisch. Der „soziale Feind“ gehört nicht zur Volksgemeinschaft-formierten Gesellschaft, wird tendenziell entrechtet und erhält nur „Gnadenrecht“, was dann zum „Gnadentod“, der Euthanasie, führen kann. Letztlich führt der Status als „tote Ware Arbeitskraft“ auch zum physischen Tod des sozialen Trägers dieser Nicht-Ware- Arbeitskraft. Die Funktion des Ausnahmezustandes-Notstands ist es, entweder den „politischen Feind“ sofort physisch zu vernichten oder ihn auf die Form des „sozialen Feindes“ zu reduzieren, was nur zeitversetzt auf das gleiche hinausläuft. Um den „sozialen Feind“ zu vernichten, muß der zuerst der „politische Feind“ vernichtet werden, entweder politisch-sozial oder physisch, denn der „politische Feind“ schützt den „sozialen Feind“. Die bewußte subjektive politische Verweigerung der kapitalistischen Identität als massenhaft organisierte Nicht-Identität bzw. Negation der kapitalistischen Identität im Klassenkampf steht höher als die bloß bewußtlose objektive Nicht-Identität zur kapitalistischen Identität.

Die kapitalistische Identitätspolitik wird auch in der Form der inneren Schiene der Repression organisiert, in der Arbeiterklasse und im Kleinbürgertum selbst. Es werden von der Bourgeoisie derzeit viele Identitäten konstruiert, indem real existierende Spaltungslinien innerhalb der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums verabsolutiert werden; die Totalität auseinandergerissen wird und die einzelnen Momente gegeneinander, statt gemeinsam gegen das Kapital, ausgerichtet werden. Jeder steht nur für sich gegen jeden anderen und Gruppe steht gegen Gruppe. Im Namen der Identität, wird die Totalität angegriffen, indem sie schlechthin geleugnet wird. Das Diktum des Neoliberalismus geht in der Identitätspolitik auf. Es gibt keine Gesellschaft mehr, sondern nur noch Individuen und Gruppen, die gegeneinander konkurrieren um den Platz an der Sonne und nur die stärksten Individuen und Gruppen setzten sich durch, auch indem sie sich verbünden, aber vor allem, in dem sie das Bündnis mit dem Kapital suchen, denn nur die Unterstützung des Kapitals kann einer Identitätsgruppe zum Sieg über die anderen verhelfen. Alle tanzen um das Kapital als das goldene Kalb. Identität ist immer gleichzeitig Nicht-Identität, beinhaltet immer eine Abgrenzung und Ausgrenzung, daß „Wir“ gegen die „Anderen“, der „Freund“ gegen den „Feind“ und letztlich ist das „Wir“ die Nation. Die Identität ist ein Produkt der Abgrenzung und Ausgrenzung. In der Identitätspolitik geht es um mannigfaltige Abgrenzung und Ausgrenzung bzw. um Spaltung in immer kleinere Teile, um Desorganisation der Arbeiterklasse. Die Identitätspolitik ist eine Anrufung an den „starken“ bürgerlichen Staat als Schiedsrichter in dem Streit der Identitäten, wer in dem Streit der Sieger und wer Verlierer ist. Das Ziel ist es, die Gunst des bürgerlichen Staates zu erheischen. Statt Proletarier alle Länder vereinigt euch, Proletarier aller Länder spaltet euch in kleinste Atome. Identitätspolitik führt zu Einpunkt-Bewegungen, welche die bürgerliche Gesellschaft ausblenden. Es geht nicht darum die bürgerliche Gesellschaft zu überzeugen, sondern es geht nur darum, den bürgerlichen Staat von seiner Agenda zu überzeugen, ihn auf seine Seite zu ziehen. Eine Bewegung von unten, eine breite Basisbewegung, ist nicht gewünscht. Im Gegenteil, man sieht sich als Elite und zielt auf die herrschende Klasse. Es geht um Lobbyarbeit, um Pressure Groups für bestimmte Fraktionen des Kapitals. Mit Hilfe der bürgerlichen Medien wird eine elitäre Massenbewegung von oben konstruiert, welche versucht, eine real nicht vorhandene Massenbewegung zu imitieren.

Diese „Zivilgesellschaft“ ist zentral professionell, d.h. hauptamtlich organisiert und nicht nebenberuflich aus freien Stücken, wie es bei Basisbewegungen und damit bei Massenbewegungen üblich ist. Basisbewegungen/Massenbewegungen sind naturwüchsig demokratisch organisiert, während die neoliberale/multipolare „Zivilgesellschaft“ hierarchisch gegliedert ist. Basisbewegungen/Massenbewegungen finanzieren sich durch private Spenden aus der Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum, während die neoliberale/multipolare „Zivilgesellschaft“ aus dem Profit des Kapitals oder den Steuern des bürgerlichen Staates finanziert wird. Die NGO´s (Nichtregierungsorganisationen) sind nur formal Nichtregierungsorganisationen, real werden sie entweder durch den bürgerlichen Staat oder durch die Stiftungen des Kapitals finanziert, bzw. gemeinsam, d.h. die verschiedenen Stiftungen verflechten sich miteinander über Tochterstiftungen, fusionieren etc. und gleichzeitig sind diese mit den verschiedenen Staatsapparaten vermittelt. Auf diese Weise werden die „NGO´s“ über die Finanzen zentral gesteuert. Finanzierung schließt auch Finanzierung über das Ausland nicht aus, sondern die Finanzierung durch ausländische Mächte ist durchaus normal, dann steht immer ein ausländischer kapitalistischer/imperialistischer Staat dahinter. Über die Finanzierung wird die „Zivilgesellschaft“ gesteuert. Jede Organisation der „Zivilgesellschaft“ kann finanzielle Mittel beantragen und erhalten, wenn nicht die „nationale Sicherheit“ dagegensteht. Im Gegenteil, umso mehr die „nationale Sicherheit“ im Mittelpunkt steht, desto leichter wird die Organisation der „Zivilgesellschaft“ finanziert. Ist die „nationale Sicherheit“ deutlich bedroht, kann im Vereinsrecht die Gemeinnützigkeit entzogen oder der Verein verboten, wie strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet werden. Notfalls können auch bei Nichtvorhandensein eines Vereins einfach Personen beschuldigt werden, einen Verein zu betreiben, um strafrechtlich belangt werden. Finanzierung und Repression zeigen der neoliberalen-multipolaren „Zivilgesellschaft“ den Weg. Aus bürokratischem Eigeninteresse der „NGO´s“ wird man auf eine Konfrontation mit der Bourgeoisie verzichten und sogar mit dieser eng zusammenarbeiten- gegen die Arbeiterklasse. Die neoliberalen-multipolaren Organisationen der „Zivilgesellschaft“ sind undemokratisch. Die nebenberuflichen Mitglieder dieser neoliberalen-multipolaren „NGO´s“ haben keinen Einfluß auf die Politik dieser Organisation. Die Agenda wird von der Organisationsleitung in zentralen Punkten vorgegeben und kann nur noch modifiziert werden. Es bleibt dann den nebenberuflichen Mitgliedern überlassen, ob sie die Politik der „NGO-Führung“ unterstützen oder sich passiv zurückziehen. Eine breite Massenbewegung als Basisbewegung der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums kann nicht mit der neoliberalen/multipolaren „Zivilgesellschaft“ geschehen, sondern nur gegen sie. Die derzeitige neoliberale-multipolare „Zivilgesellschaft“ ist das Trojanische Pferd des Kapitals und dient der präventiven Zerstörung einer möglichen proletarischen und kleinbürgerlichen egalitären Massenbewegung. Das Ziel der „Zivilgesellschaft“ ist es, den sozialen und politischen Druck aus der Arbeiterklasse und dem Kleinbürgertum in bürgerlich gesicherte Bahnen zu kanalisieren. So ist die „Zivilgesellschaft“ auch ein Frühwarnsystem für das Kapital, welches gesellschaftliche Unruhe registriert, gleichzeitig präventiv in die bürgerliche Bahn lenkt und dadurch die Spitze nimmt. Zur Kanalisation in bürgerliche Bahnen ist es notwendig, die Totalität des potentiellen Protestes aufzuspalten und die verschiedenen Momente gegeneinander zu isolieren, denn nur dann kann der potentielle Massenprotest in bürgerlich-egalitäre Bahnen gelenkt werden, wird vorm egalitären Massenprotest in einen Elitenprotest transformiert. Das egalitäre Band einer proletarischen und kleinbürgerlichen Massenbewegung wird durch die bürgerliche Identitätspolitik zerrissen und es droht dann eine kleinbürgerlich elitäre Massenbewegung, welche eine bedeutende soziale und politische Massenbasis für den bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) darstellen kann. Die neoliberale/multipolare „Zivilgesellschaft“ stellt somit im Innenverhältnis die innere Schiene der Repression dar. Im Außenverhältnis ist die neoliberale/multipolare „Zivilgesellschaft“ eine Waffe im imperialistischen Kampf um die Neuaufteilung des Weltmarktes, gegen konkurrierende Metropolen oder gegen die Peripherie. Jeder bürgerliche Staat geht repressiv gegen ausländisch finanzierte „NGO´s“ vor, zeitgleich fördert er im Innenland seine eigenen ihm verpflichteten „NGO´s“ und gleichzeitig finanziert jeder bürgerliche Staat, vor allem ein imperialistischer bürgerlicher Staat, im Ausland ebenfalls seine „NGO´s“. Von „Zivilgesellschaft“ ist in der gegenwärtigen neoliberalen/multipolaren „Zivilgesellschaft“ nicht viel vorhanden bzw. sie ist nichts anderes als eine Vorfeldorganisation des bürgerlichen Staates, besonders des imperialistischen bürgerlichen Staates, eher eine Waffe zur verdeckten inneren Militarisierung und damit besonders eine Tarnorganisation der Geheimdienste im Inland, wie im Ausland. Die „Zivilgesellschaft“ ist nicht die Lösung, sondern Teil des Problems.

Die „Zivilgesellschaft“, die staatlich-private Partnerschaft der sogenannten „NGO`s“, spielt eine wesentliche Rolle in der Stabilisierung und Destabilisierung des eigenen, wie fremden bürgerlichen Nationalstaates, unter besonderer Berücksichtigung der Politik der Metropolen. Der „graue“ Sektor der „NGO´s“ kann nur durch die Metropolen strukturiert werden, denn dafür bedarf es erheblicher finanzieller Mittel, welche nur in den Metropolen vorhanden sind und nicht in der Peripherie. Somit sind die staatlich-privaten „NGO´s“ eine Waffe im Kampf um Weltmarktanteile im multipolaren Weltmarkt und sind Momente der multipolaren Weltordnung. Die multipolare Weltordnung reproduziert den multipolaren Weltmarkt in der politischen Sphäre und der multipolare Krieg (auch der multipolare Wirtschaftskrieg) ordnet die multipolare Weltordnung und über diese auch bedeutend den multipolaren Weltmarkt.

In letzter Instanz sind die staatlich-privaten „NGO´s“ vormilitärische Organisationen/para-geheimdienstliche Strukturen in einer Strategie der Spannung. Ihre Aufgabe ist es, entweder im eigenen Land die Arbeiterklasse und das Kleinbürgertum immer weiter aufzuspalten und unter Aufsicht der „NGO“ als Vorfeldorganisation des bürgerlichen Klassenstaates politisch neu zusammenzusetzen, um die soziale Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse auf diesem Weg zu forcieren, oder im Ausland diesen Prozeß gegen eine andere Metropole und/oder gegen eine koloniale oder halbkoloniale Bourgeoisie in der Peripherie im Sinne imperialistischer Aggression/ Expansion zu realisieren. Hier sind auch die „Farbenrevolutionen“ oder „bunten Revolutionen“ als verdeckte Kriegsführung/hybrider Krieg zu verorten. In dieser imperialistischen Aggression der verdeckten Kriegsführung/hybrider Kriegsführung spielen die „NGO´s eine zentrale Rolle. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts wird der internationale Konkurrenzkampf des Kapitals indirekt über die verdeckte Kriegsführung/hybride Kriegsführung ausgetragen. Ein Staatsstreich erfolgt in diesem Konzept nicht mehr durch das Militär oder wird durch andere politische Minderheiten realisiert, sondern durch einen Massenputsch. Immer noch putscht sich eine Minderheit an die Macht, jedoch getragen durch eine Massenbewegung, welche zwar machtlos ist, aber die putschenden Kräfte mit Massenlegitimation versorgt. Diese Massenbewegung ist nur amorphe Masse und zentral formal durch die „NGO´s geleitet bzw. durch Parteien und andere Organisationen, die mit den „NGO´s“ organisch verbunden sind, real jedoch werden sie durch „eigene“ oder „fremde“ Geheimdienste geführt. Es gibt eine straffe und hierarchische interne Organisationsstruktur, welche eine demokratische Diskussion unterdrücken, was dazu führt, daß egalitäre Forderungen und soziale Forderungen nur eine unwesentliche Rolle spielen, während politische und elitäre Forderungen in den Vordergrund treten und damit die Arbeiterklasse aus der Massenbewegung herausgedrängt wird, während das Kleinbürgertum und über dieses die Bourgeoisie diese Massenbewegung hegemonieren und steuern-gegen die Arbeiterklasse. Der Massenputsch ist keine Revolution, denn die Revolution lebt von der Selbsttätigkeit der Massen, die sich selbst organisieren. Im Massenputsch bzw. zivilen Massenputsch wird lediglich eine Revolution imitiert und die Selbsttätigkeit der Massen ausgelöscht. Es wird Revolution, Volksaufstand, gespielt, aber exekutiert wird ein Staatsstreich in demokratischer Verkleidung. Die Revolution als Farce. Statt Revolution eine „demokratische“ Konterrevolution. Die Massenbewegung tarnt den Staatsstreich. Der Putsch erscheint als Revolution. Eine Fraktion des Kapitals, alleine oder mit ausländischer imperialistischer Hilfe, stürzt eine andere Fraktion des Kapitals und versucht das jeweilige kapitalistische Land in das Einflußgebiet einer anderen imperialistischen Macht zu transformieren. Die „Zivilgesellschaft“ als Agentur des Staatsstreichs, entweder gegen die Regierung oder für die Regierung, Sturz einer Regierung über einen Staatsstreich, oder Vernichtung der Opposition durch einen Staatsstreich der Regierung. Diese (neoliberale/multipolare) „Zivilgesellschaft“ ist so zivil wie ein Panzer und walzt den authentischen und originären Widerstand von unten, aus der Arbeiterklasse, nieder und präsentiert sich als den gut ausgerüsteten „Widerstand“ von oben.

Im Massenputsch kommt der „Zivilgesellschaft“ nur die Aufgabe zu, den eigentlichen Staatsstreich abzusichern, indem dieser „demokratisch“ maskiert wird. Der reale Putsch wird von anderen militärischen und paramilitärischen Kräften ausgeführt, welche unter dem Schutz des „demokratischen“ Schildes teils offen, teils verdeckt, operieren. Die faschistischen und islamistischen Stoßtruppen sind die zentralen Akteure, verbunden mit dem nationalen und/oder internationalen militärisch-industriellen Komplex, welche den Staatstreich exekutieren und werden durch den „demokratischen Kranz“ der „Zivilgesellschaft“ politisch geschützt, erscheinen so als „Freiheitskämpfer, als „Revolutionäre“. In der ersten Phase des „demokratischen Massenputsches“ dominiert die „Zivilgesellschaft“, welche die sozialen Probleme aus der materiellen Krise eines kapitalistischen Landes in politische Probleme konzentriert und transformiert, hin zu einem Staatsstreich, bereitet politisch das Feld für einen Staatsstreich vor. In der entscheidenden Phase kommt der Angriff durch die faschistischen und/oder islamistischen Stoßtruppen, welche vorher als „aufrechte Demokraten“ geadelt wurden und stürzen die Regierung bzw. vernichten die Opposition, ohne daß sich die Regierung des bürgerlichen Staates die Hände schmutzig macht. Der „gerechte Volkszorn“ entlädt sich und ist angeblich immer demokratisch. Ab diesem Angriffszeitpunkt hat die „Zivilgesellschaft“ ihre Schuldigkeit getan und wird an die Peripherie geschoben. Diese konkrete historische Funktion der „Zivilgesellschaft“ liegt in der „Strategie der Spannung“, den politischen Spannungsaufbau bei gleichzeitiger Negation der sozialen Spannungen. Erst wenn die politischen Spannungen ein hohes Niveau erreicht haben, kann ein Staatsstreich exekutiert werden. Nach dem Staatstreich entscheiden andere Kräfte, auf die die „Zivilgesellschaft“ keinen Einfluß hat und diese muß sich unterwerfen. Mit dieser groben Skizze kann die gegenwärtige Form des „Regime-Change“ betrachtet werden, ob in der Ukraine, in Syrien, in Weißrussland, etc. Statt sozialer Umwälzungen wurden immer nur politische Umwälzungen exekutiert und die sozioökonomische Lage blieb vor und nach dem „Machtwechsel“ gleich bzw. verschlechterte sich, da eine massive Deregulierugs- und Schockpolitik eingeleitet wurde. Es geht nur um eine innerkapitalistische Machtübertragung von der einen Fraktion der herrschenden Klasse auf die andere Fraktion der herrschenden Klasse, deswegen, weil es keine proletarische politische Offensive gibt, welche die herrschende Klasse enger zusammenschweißt. Als eigenständige Kraft wurde die Arbeiterbewegung seit dem Zusammenbruch der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten 1989 weitgehend ausgeschaltet. Nur dann ist es für die Bourgeoisie möglich Revolution zu spielen. Doch die derzeitigen Brüche machen das Revolutionsspiel der Bourgeoisie gefährlicher, denn langsam ist die Arbeiterklasse gezwungen, Widerstand zu leisten, will sie sich noch langfristig ihre gesellschaftlich notwendige Reproduktion sichern.

Regime-Change-Maßnahmen, „Farbrevolutionen,“ finden vor allen an den Bruchkanten und Knotenpunkten der Weltmarktkonkurrenz statt und betreffen nicht nur das konkrete Land, sondern eine bestimmte Region, bzw. die Welt insgesamt und sind deshalb verdichtete und konzentrierte innerimperialistische Konflikte, die quer zu den originären Konflikten und auch determinierend zu diesen, ausgetragen werden. Exemplarisch sieht man dies an der Syrien und Ukraine-Frage. Es geht nicht so sehr um Syrien oder um die Ukraine, sondern es ist ein Machtkampf zwischen dem transatlantischen Imperialismus auf der einen Seite und dem russischen Imperialismus und China auf der anderen Seite. Darum können Syrien-Krieg und vor allem der Ukraine-schnell in den Dritten Weltkrieg eskalieren. Der Syrien-Krieg, wie der Ukraine-Krieg, sind imperialistische Stellvertreter-Kriege, die schnell in einen direkten Krieg der imperialistischen Mächte eskalieren können und damit in einen Dritten Weltkrieg. Die gegenwärtige Weltkrise, welche sich in dem Ukraine-Krieg konzentriert, ist selbst das Produkt eines „Regime-Changes“ in Form eines Massenputsches/“Farbrevolution. Der Weg vom Stellvertreterkrieg zum direkten dritten imperialistischen Weltkrieg ist kurz. Die „Zivilgesellschaft“ wurde zum Zulieferer einer inneren Militarisierung der bürgerlichen Gesellschaft.

Ein „Regime-Change“ durch einen von der „Zivilgesellschaft“ organisierten Massenputsch bereitet potentiell Krieg und Bürgerkrieg vor. Der Maidan-Putsch im Jahr 2014 in der Ukraine führte direkt in den Bürgerkrieg und dann zum NATO-Rußland Krieg in und um die Ukraine und kann jederzeit in den Dritten Weltkrieg eskalieren. Der NATO-Maidan-Putsch im Jahr 2014 schlug fehl und der russische Imperialismus organisierte einen Gegenputsch, der zur Abspaltung der Krim führte, der strategisch wichtigsten Region der Ukraine und unterstützte den Aufstand in der Südostukraine auch im Bürgerkrieg. Die innere Einheit der Ukraine war zerschlagen und die Ukraine zwischen den imperialistischen NATO-Mächten auf der eine Seite und dem russischen Imperialismus auf der anderen Seite aufgeteilt. Es bahnte sich seit dem Jahr 2014 eine imperialistische Konfrontation in und über die Ukraine an. Die „Zivilgesellschaft“ ist immer die fünfte Kolonne des Imperialismus, auch in der Ukraine, sie bereitet politisch das kommende Schlachtfeld vor. Die Maidan-Proteste, welche im Maidan-Putsch im Februar 2022 endeten waren von Beginn an elitäre Massenproteste des Kleinbürgertums, welche politisch und paramilitärisch vom ukrainischen Faschismus unterstützt worden sind und beide waren zu jedem Zeitpunkt unter der Kontrolle des transatlantischen Imperialismus und US-Imperialismus, welcher durch die ukrainische Compradorenbourgeoisie agiert. Der soziale und politische Klassencharakter der Maidan-Proteste war immer antiproletarisch. Die Kritik des Maidan an der damaligen Regierung unter Präsident Janukowitsch war, daß seine Politik zu egalitär war und zu weit Rußland entgegenkommt. Jeder Versuch mit proletarischen Forderungen an den Maidan-Protesten teilzunehmen wurde von den faschistischen Kräften unterbunden. In der ersten Phase vor dem Putsch von November 2013 bis Februar 2014 dominierte die „Zivilgesellschaft“; mit dem Putsch vom Februar 2014 dominierte der faschistische Sektor und ordnet sich die „Zivilgesellschaft“ unter, die nun die Aufgabe zufällt, die Diktatur und den Bürgerkrieg zu legitimieren. Der Bürgerkrieg endete mit einer schweren Niederlage im Donbass. Der Donbass wurde zum Massengrad des Maidan. Nach acht Jahren Bürgerkrieg in Form eines Stellungskrieges drohte die NATO-Ukraine mit einem Angriff auf den Donbass und Rußland, Zielrichtung vor allem gegen die Krim. Rußland nahm die Herausforderung an und griff dann im Februar 2022 selbst an, nachdem die USA im August 2021 ihre katastrophale Niederlage in Afghanistan einstecken mußte. Diese Schwäche galt es auszunutzen. Die NATO-Ukraine hat sich auf den Krieg vorbereitet, Rußland ebenso. Doch der russische Imperialismus hat sich besser vorbereitet. Die zentrale Front ist nicht so sehr die militärische Front in der Ukraine, sondern die Wirtschaftsfront im Wirtschaftskrieg. Der Wirtschaftskrieg schadet mehrheitlich die transatlantischen Metropolen und dem deutschen Imperialismus, indem er vor allem eine Energiekrise produziert. Während sich Rußland und China ökonomisch und politisch annähern, wachsen die Spannungen zwischen den transatlantischen Metropolen und China. Die sozialen Erschütterungen des Wirtschaftskrieges fallen in Rußland kleiner aus, als in den transatlantischen Metropolen. Damit gibt es keine materielle Basis Rußland über eine „Zivilgesellschaft“ zu destabilisieren, während in den transatlantischen Metropolen die Angst vor einer Destabilisierung durch Rußland umgeht. Ein Notstandsstaat formiert sich dort immer deutlicher.

An der militärischen Front verweigert Rußland einen Blitzkrieg und geht langsam vor. Erst der Donbass, dann der Rest der Restukraine. Vor allem stellt der russische Imperialismus auf die Zerstörung der morschen ukrainischen Gesellschaft ab und entzieht so einem neuerlichen Maidan den Boden. Die ukrainische Gesellschaft zersetzt sich und wird dann durch Rußland im Sinne des Konzepts von der „Russischen Welt“ wieder neu zusammengesetzt. Langsam, aber unerbittlich geht der russische Vormarsch weiter. Ohne Zeitdruck. Der Donbass wird zum zweiten Mal das Massengrab des Maidan, aber immer mehr zum Massengrab der Ukraine, bzw. NATO-Ukraine. Langsamer Vormarsch unter dem Schutz der Luftwaffe und der Raketen, wie Artillerie Abwehrsysteme, massive Artillerie Konzentration auf den ukrainischen Festungsgürtel im Donbass führen zum Erfolg. Der Imperialismus teilt sich den Weltmarkt neu auf und die Ukraine ist ein Land, welches neu aufgeteilt wird. Eine multipolare Welt verlangt nach dem multipolaren Krieg, wenn es der Arbeiterklasse nicht gelingt, den Kapitalismus zu stürzen.

Die Große Krise in Form des transatlantisch antirussischen Wirtschaftskrieges hinterläßt eine Spur der sozialen Verwüstung und damit auch der Massenunzufriedenheit. Auch die EU-Staaten werden von einer Welle des proletarischen Klassenkampfes überrollt. Massenstreiks im britischen Imperialismus, Massenstreiks und offene proletarische Revolten in Frankreich etc. Und auch in Deutschland nimmt die Streikbereitschaft zu. Noch ist die Arbeiterklasse unter Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratie, welche eine Politik des Reallohnverlusts betreibt, denn es wird explizit ein Inflationsausgleich ausgeschlossen. Jedoch ist die Streikbereitschaft hoch und in dieser hohen Streikbereitschaft unter Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratie manifestiert sich die hohe Massenunzufriedenheit der Arbeiterklasse in Deutschland. Es geht um mehr als um die gewerkschaftlichen Forderungen. Es geht um Inflationsausgleich, Ende des antirussischen Wirtschaftskrieges und Ende der deutschen Unterstützung für die NATO-Ukraine, denn Schritt für Schritt treibt die Welt einem Dritten Weltkrieg entgegen. Diese objektiven Forderungen liegen der proletarischen Massenunzufriedenheit zu Grunde und finden ihren materiellen Ausdruck in der hohen Streikbereitschaft, weisen wie die Massenstreiks in Frankreich und in Britannien auf einen potentiellen proletarisch-revolutionären Bruch hin.

  1. Der proletarische Weg

-Generalstreik gegen Krieg und Krise. Der Feind steht im eigenen Land! Der Feind ist die eigene Bourgeoisie, der Feind ist der eigene bürgerliche Staat!

-Radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, ansetzend an der alltäglichen Sabotage der Ausbeutung, vor allem auch im Sektor der „Kritischen Infrastruktur“ und im militärisch-industriellen Komplex und international organisiert

-Arbeiterkontrolle über die Produktion als ersten Schritt zur proletarischen Doppelmacht

-Aufbau proletarischer Hundertschaften gegen die Repression des bürgerlichen Staates und seiner neofaschistischen Organisationen

Iwan Nikolajew Hamburg im April 2023 Maulwurf/RS

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Grafikquellen       :

Oben       — Einzug in Münster zu den Friedensverhandlungen 1643, Stadtmuseum Münster.

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3.) von Oben        —  Logo of the Organization of the Warsaw Pact

Fenn-O-maniC – Own work

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Unten     —       Heimkehrende Schnitter von Jakob Becker: Blick eines romantischen Malers auf das Landproletariat im 19. Jahrhundert

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von Redaktion am 9. April 2023

Staat und Kanon: – Wie wir zu lesen haben

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Kolumne von Fatma Aydemir

In Deutschland und der Türkei stehen zwei Bücher zur Diskussion, oder besser: wie wir sie lesen sollen. Dabei ist das von unserem Erlebten geprägt.

Jedes Mal, wenn ich in der U-Bahn oder im Wartezimmer einer Arztpraxis jemanden in einen aufgeschlagenen Roman vertieft sehe, spüre ich ein leichtes Kribbeln und packe beschämt mein Smartphone weg. Es ist eine Art Ehrfurcht, als stünde ich vor einem Zeitreisenden, als platzte ich in dessen Tempel und entweihte ihn mit dem Vibrieren des profanen Geräts, das wie eine kantige Verlängerung aus meiner Handfläche ragt. Und es ist ein bisschen Neid auf die Konzentrationsfähigkeit der Lesenden, die nicht erst an den See fahren oder einen freien Tag haben müssen, um sich in Literatur zu versenken.

Romane können Unterhaltung sein, klar, aber sie verlangen uns eine ganz andere Verbindlichkeit ab als das, was uns heute viel eher als Unterhaltung in den Sinn käme. Romane zu lesen erfordert eine Aufmerksamkeit, die für das Bingen einer Serie völlig unnötig wäre. Spätestens am Anfang der nächsten Folge wird mir ohnehin nacherzählt, was mir beim Wäschefalten womöglich entgangen ist. Dafür geben uns Romane in gewisser Weise aber auch mehr: mehr Deutungsmöglichkeiten, mehr Verspieltheit und mehr Raum für das eigene Erlebte, das in der Begegnung mit Romanfiguren und deren Konflikten immer nachhallt.

Insofern ist die Annahme, man könne vorgeben, wie ein Roman zu lesen und verstehen sei, nicht nur falsch, sondern geradezu lächerlich. Das soll kein Affront gegen die Literaturwissenschaft sein, deren Aufgabe ja eher im Auffächern verschiedener Deutungsebenen in bestimmten kulturhistorischen und ästhetischen Kontexten besteht.

Wenn es sich jedoch nicht um Möglichkeiten, sondern um Vorgaben handelt, die auch noch von staatlicher Seite kommen, ist stets äußerste Vorsicht geboten. Denn diese übergestülpte Lesart übergeht nicht nur Gewalterfahrungen eines Teils der Leser_innenschaft, die beim Lesen ebenfalls nachhallen. Sie erzählt uns auch etwas über den Umgang eines Staats mit seinen Minderheiten, wie zwei aktuelle Fälle zeigen.

Zwei Fälle von Anmaßung

So beschloss vor wenigen Wochen ein türkisches Gericht, dass ein vor neun Jahren erschienener Roman („Rüyasi Bölünenler“) des kurdischen Schriftstellers Yavuz Ekinci nicht mehr gedruckt und verbreitet werden darf, weil er angeblich Propaganda für die PKK betreibe. Etwa zur selben Zeit entbrannte hierzulande eine Debatte um Wolfgang Koeppens Nachkriegsroman „Tauben im Gras“ von 1951, weil er trotz rassistischer Sprache und Protest von Schwarzen Lehrer_innen, Schüler_innen sowie Verbündeten in Baden-Württemberg Abi-Pflichtlektüre bleiben soll.

Zugegeben, der eine Fall lässt sich nicht direkt mit dem anderen vergleichen, wird auf der einen Seite doch das emanzipatorische Werk eines Autors von einem autoritären Staat zensiert, auf der anderen Seite die Forderung nach einem rassismuskritischen Pflichtlektüre-Kanon an Schulen abgelehnt und als „Zensur“-Versuch verteufelt.

In beiden Fällen jedoch maßt sich eine staatliche Institution an, bestimmen zu können, wie eine literarische Erzählung zu deuten sei – und in beiden Fällen will sich die Leser_innenschaft ein eigenes Bild davon machen. So verraten Suchmaschinen-Statistiken, dass seit zwei Wochen wie verrückt nach einer PDF-Version von Yavuz Ekincis verbotenem Roman gegoogelt wird. Der Klassiker „Tauben im Gras“ wiederum schoss über Nacht auf die Bestsellerliste von Amazon.

Quelle         :           TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten      —   FriedensEi

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Das Werwolf-Prinzip

Erstellt von Redaktion am 8. April 2023

Die  Suche nach den Ursachen zum Ukraine Krieg ! 

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Von Helmut W. Ganser

Die Suche nach den Ursachen des Ukraine-Kriegs wird künftige Historiker zur inneren Dynamik Russlands führen, aber auch zur Russlandpolitik westlicher Nato-Staaten.

Angenommen, wir sind im Jahr 2038, und angenommen, Historiker streiten weiterhin über die Ursachen des russischen Krieges gegen die Ukraine. Dann könnte das so aussehen:

Das erste Narrativ konzentriert sich auf die innenpolitische Dynamik in Russland beziehungsweise in der Sowjetunion und betrachtet die russische Aggression als konsequente Folge nationalistischer, kolonialistischer und imperialer Triebkräfte der Moskauer Eliten. Angefangen vom Imperialismus der Zarenzeit schlagen Historiker den Bogen zum Totalitarismus und zu den Verbrechen Stalins, bis hin zur sowjetischen Gewaltherrschaft nach dem 2. Weltkrieg und schließlich dem Revisionismus des Kreml unter Wladimir Putin, der seine Herrschaft auf Lebenszeit zementiert hat. Demnach betrachtet Putin die Auflösung der Sowjetunion als schweren Fehler und strebt die Wiederherstellung des Großmachtstatus Russlands an, unterstützt von großen Teilen der russischen Elite und der Bevölkerung, die der Staatspropaganda vertrauen. Nach innen baut er systematisch ein autokratisches Unterdrückungssystem auf und schreckt dabei nicht vor Morden an Oppositionellen im In- und Ausland zurück. Die größte Bedrohung für sein Regime sieht er in der Übertragung des westlichen liberalen Demokratiemodells nach Osteuropa.

Spätestens 2014 ist mit der Annexion der Krim und der Besetzung von Teilen des Donbass die Aggressivität der russischen Führung nach außen sichtbar geworden. Die Eigenstaatlichkeit der Ukraine lehnt Putin ab und folgt dabei einem Drehbuch, das schon seit dem russischen Krieg gegen Georgien im Jahre 2008 feststeht, auch wenn der damalige georgische Präsident Micheil Saakaschwili diesen Krieg törichterweise begonnen hatte. Seither rüstet der Kreml die Streitkräfte und die Nationalgarde mit den vom Westen aus den Energieexporten gezahlten Billionen konsequent auf. Die Entspannungspolitik und die Prinzipien „Wandel durch Handel“ oder „Stabilität durch Handel“ sind gescheitert. Die Osterweiterung der Nato hat sich im Rückblick als kluge und weitsichtige Strategie bestätigt. Ohne den Schutzschirm der Allianz hätten die drei baltischen Staaten längst ihre Unabhängigkeit verloren. Noch klüger wäre allerdings gewesen, die Ukraine und Georgien auch in das westliche Militärbündnis aufzunehmen.

Die Historiker, die das zweite Narrativ vertreten, befassen sich zunächst mit der Russlandpolitik der Vereinigten Staaten und ihrer westlichen Verbündeten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, den der Westen als Sieg im Kalten Krieg feierte und dem schließlich ohne Rücksicht auf russische Sicherheitsinteressen der Nato-Erweiterungsprozess folgte.

Moskau hat die Ausdehnung des Nato-Raums von Beginn an als gravierendes Sicherheitsproblem wahrgenommen und ist endgültig misstrauisch geworden, als die Nato auf ihrem Gipfel in Bukarest 2008 der Ukraine und Georgien die Mitgliedschaft grundsätzlich zusagte. Die US-Regierungen seit Bill Clinton und vor allem osteuropäische Nato-Staaten sind nie bereit gewesen, der Russischen Föderation eine ernsthafte Rolle in einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur einzuräumen. Im Nato-Russland-Rat redeten Botschafter, Außen- und Verteidigungsminister sowie Staats- und Regierungschefs schon in der ersten Dekade meist aneinander vorbei. Die Kündigung des „Anti Ballistic Missile (ABM)“-Vertrags durch Washington 2002 und der Aufbau der strategischen Raketenabwehr der USA in Europa destabilisierten die Beziehungen zwischen der Nato und Russland weiter. Moskau befürchtete schon damals, dass die amerikanische Raketenabwehr den wahren Zweck verfolge, eines Tages das russische Abschreckungspotential zu neutralisieren, was Washington allerdings stets bestritt.

Der Umsturz in der Ukraine Anfang 2014 war schließlich der entscheidende Kipppunkt zum neuen Ost-West Konflikt. Der Kreml betrachtete den „Euro-Maidan“ als eine von den USA unterstützte Aufstandsbewegung. Aus Moskauer Sicht war die Maidan-Revolution eine weitere westliche Offensive in der geopolitischen Auseinandersetzung zwischen Moskau und Washington. Der Kreml unterstellte den USA das Ziel, Oppositionsbewegungen in Russland zu unterstützen, um auch in Moskau eines Tages einen Regierungswechsel herbeizuführen. Rund zwei Monate vor dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine wandte sich der Kreml an die USA und die Nato-Staaten mit Vertragsentwürfen, in denen es darum ging, eine Aufnahme der Ukraine in die Nato vertraglich auszuschließen, was von der Nato mit dem Hinweis auf die freie Bündniswahl und die Nato-Politik der offenen Tür zu schnell zurückgewiesen wurde. So wurde nicht ernsthaft getestet, ob Putin bereit gewesen wäre, in Verhandlungen über einen sicheren Status der Ukraine ohne Nato-Beitritt einzutreten und die Invasion zu vermeiden.

War vielleicht dieser Afghanische Esel nach einer Schlussbetrachtung klüger als alle, eine Uniform tragenden Sternen-träger und Politiker-innen in der Nato zusammen ?? 

Eine dritte und wachsende Gruppe von Historikern sieht inzwischen die Ursachen für den russischen Angriff in einer Kombination aus beiden Erzählungen. Sie konzentrieren ihre Analyse auf die Interessengegensätze und die machtpolitische Rivalität zwischen den USA und Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und beziehen die einander entgegengesetzten politischen Kulturen, Wertorientierungen und die historische Entwicklung Russlands ein. Das Denken und Fühlen der Eliten in der russischen Gesellschaft ist seit Jahrhunderten durch zwei gegensätzliche Strömungen geprägt. Die Westler-Slawophilen wie Dostojewski, Turgenjew und Tolstoi haben im 19. Jahrhundert das Widersprüchliche im russischen Lebensgefühl in ihren literarischen Figuren aufleben lassen und vermutlich auch in sich selbst verspürt. Da gibt es die sanfte, empathische Seite, die sich offen zeigt gegenüber der westlichen Kultur. Doch die im 19. Jahrhundert geführte Debatte um die Frage, ob sich Russland an westlichen Werten orientieren oder einen eigenen slawischen Weg gehen sollte, geht bald in einen allgemeinen Panslawismus über. Diese andere, dunklere russische Seite war immer präsent, von der Zarenzeit bis in die Spätphase der Sowjet­union. Kompromissloses Machtstreben, Gewalt, Empathielosigkeit und Zynismus sind für diese Haltung kennzeichnend. Während unter Michail Gorbatschow und bis etwa zum Millennium eher die emphatische, kooperative Seite dominierte, wurde die Außen- und Militärpolitik danach revisionistischer.

Quelle         :          TAZ-online             >>>>>          weiterlesen

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Bolivien und Peru

Erstellt von Redaktion am 8. April 2023

La Paz: Gondelbahnen als attraktives lokales Verkehrsmittel

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Josef Estermann /   

Vor neun Jahren fuhr die erste Gondelbahn. Inzwischen gibt es in der bolivianischen Stadt zehn Linien. Ein Augenschein vor Ort.

Red. Josef Estermann hatte während 17 Jahren in Peru und Bolivien gelebt und gearbeitet. Kürzlich besuchte er alte Bekannte.

La Paz ist eine verrückte Stadt. Sie liegt in einem Kessel auf einer Höhe von 3200 bis 4000 Metern über dem Meeresspiegel. Am oberen Rand – von den Einheimischen Ceja oder «Augenbraue» genannt – beginnt die Andenhochebene (Altiplano) und damit die Satellitenstadt El Alto (wörtlich: «der Hohe»). Entgegen der Meinung vieler Ausländerinnen und Ausländer ist La Paz nicht die Hauptstadt Boliviens – diese ist Sucre –, sondern Sitz der bolivianischen Regierung.

Eine verkehrstechnische Herausforderung

La Paz und El Alto haben zusammen inzwischen rund zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, wobei sich das Verhältnis umgekehrt hat. 1950 war El Alto mit rund 2000 Bewohnerinnen und Bewohnern ein kleines Dorf auf der windigen und kalten Hochebene; heute hat die ehemalige Satellitenstadt mehr Einwohnerinnen und Einwohner als der Regierungssitz. Das Verkehrsaufkommen ist dementsprechend sprunghaft angestiegen, vor allem auf den Hauptverkehrsadern, welche die beiden Metropolen miteinander verbinden und den grossen Höhenunterschied überwinden.

Schon in den 1980er Jahren hatte die Stadtregierung von La Paz Pläne, die beiden Städte mit Luftseilbahnen miteinander zu verbinden. Die Umsetzung aber scheiterte an politischen Machtspielen, bis der ehemalige Staatspräsident Evo Morales zu Beginn seiner zweiten Amtszeit (ab 2011) die Initiative an sich riss und das Projekt in Rekordzeit umsetzte. Für die Überwindung der insgesamt fast tausend Höhenmeter war bis anhin ein riesiges Heer von Minibussen besorgt, die regelmässig die zum Teil schmalen und kurvenreichen Strassen verstopften und nicht selten wegen technischer Defekte steckenblieben.

Am 30. Mai 2014 konnte Evo Morales nach kurzer Projektierungsphase und ebenso kurzer Bauzeit die erste Gondelbahn, die «rote Linie», in Betrieb nehmen, welche den alten stillgelegten Bahnhof im Zentrum von La Paz mit El Alto verbindet. Die Linie ist 2349 Meter lang, die Fahrt dauert etwa elf Minuten. Sie führt von Taypi Uta («zentrales Haus») über die Mittelstation Ajayuni («wo die Seelen hausen») beim riesigen Friedhof der Stadt nach Jach’a Qhatu («grosser Markt») in El Alto. Auch die Haltestellen der anderen neun Linien tragen Aymara-Namen und sollen den neuen Wind versinnbildlichen, der mit der Regierung von Morales Einzug in Bolivien gehalten hat.

Täglich 400’000 Passagiere

Nach der roten Linie kamen die beiden anderen Landesfarben Boliviens, gelb und grün, für weitere Gondelbahnen zum Zug, die ebenfalls El Alto mit La Paz, allerdings dieses Mal mit den reicheren und tiefer gelegenen Vierteln in der südlichen Zone (Zona Sur) verbinden sollten. Heute gibt es insgesamt zehn verschiedene Gondelbahnen mit insgesamt 38 Haltestellen und einer Gesamtlänge von 32 Kilometern. Die farblich gekennzeichneten Linien sind wie ein Spinnennetz miteinander verbunden. Touristinnen und Touristen machen sich ein Spiel daraus, alle Strecken an einem Tag oder gar einem Vormittag zurückzulegen. Für die Einheimischen dagegen sind die Gondelbahnen ein schnelles, bequemes, sicheres und vor allem ruhiges Verkehrsmittel.

Pro Tag benutzen rund 400’000 Passagiere eine oder mehrere der insgesamt 1398 Gondeln. Bis heute haben diese über 400 Millionen Menschen transportiert. Die Konzession für den Bau und Betrieb der Gondelbahnen hat der bolivianische Staat an das österreichisch-schweizerische Konsortium Doppelmayr-CWA (Carrosserie-Werkstätte Aarburg) vergeben, aber die öffentliche Hand ist Eigentümerin und Nutzniesserin der Gondelbahnen. Der Einheitstarif für eine Linie beträgt drei Bolivianos (rund 40 Rappen), beim Umsteigen auf eine andere Linie zahlt man noch zwei Bolivianos; und der «Vorzugstarif» für RentnerInnen (ab 60), Schwangere, Studierende und Menschen mit einer Beeinträchtigung beträgt nur die Hälfte.

Das Gesamtprojekt, das noch nicht abgeschlossen ist, nennt sich Red de Integración Metropolitana (Netz zur Integration der Metropole) und ist als wichtiger Beitrag zur Bewältigung des zunehmenden Verkehrsaufkommens der beiden Städte konzipiert. Die Feinverteilung der Reisenden sollen Schnellbusse sicherstellen – in La Paz die Puma Katari, in El Alto die Wayna-Busse –, was allerdings nur zum Teil umgesetzt ist. Geplant sind eine Weiterführung der braunen (café) und der Bau einer neuen «goldenen» (dorado) Linie, welche die Stadtteile der südlich gelegenen wohlhabenderen Viertel verbinden soll. Böse Zungen behaupten, dass Letztere deshalb noch nicht gebaut sei, weil Evo Morales und sein Movimiento al Socialismo (MAS) sich für den stillen Staatsstreich rächen wollen, der ihn 2019 aus dem Amt gejagt hatte.

Grösstes urbanes Seilbahnnetz der Welt

Während die meisten Seilbahnen in der Schweiz dazu dienen, Personen auf Aussichtspunkte oder Güter in schwierig zugängliche Alpgebiete zu transportieren, sind die Seilbahnen von La Paz und El Alto in erster Linie städtische Verkehrsmittel. Die touristische Nutzung ist bloss ein Nebeneffekt und fällt, aufs Ganze gesehen, kaum ins Gewicht. Dabei spielt zwar die Überwindung der Höhendifferenz von fast tausend Metern eine entscheidende Rolle, aber einige Linien dienen auch der Verbindung einzelner Stadtteile untereinander. So gibt es drei Seilbahnlinien, die unterschiedliche Stadtteile von El Alto miteinander verbinden, sowie deren vier, die dasselbe in La Paz zum Ziel haben. Nur drei Gondelbahnen – rot, gelb und violett – verbinden die beiden Städte und damit den tiefergelegenen Süden mit dem höhergelegenen Norden miteinander.

Das soziale Gefälle wird sichtbar

Durch die Seilbahnen wurde vielen Bewohnerinnen und Bewohnern der beiden Städte zum ersten Mal bewusst, wie eklatant die sozialen und lebensweltlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Stadtteilen sind. Wenn man zum Beispiel die gelbe und grüne Linie benutzt, wie dies viele Hausangestellte aus El Alto jeden Tag tun, dann schwebt man in etwas mehr als einer halben Stunde nicht nur von 4000 auf rund 3200 Meter Höhe hinunter, sondern über die gesamte Skala sozialer Klassen und ethnischer Zugehörigkeit hinweg.

Man oder frau startet in Qhana Pata, dem Ausgangspunkt in El Alto (der nicht ohne Grund «Aussichtspunkt» heisst), der zugleich das Zentrum der Geschäftstätigkeit der Aymara ist. Am Abhang hinunter nach La Paz und bis zur ersten Station Quta Uma kleben armselige und nur über steile Treppen oder Sandwege erreichbare prekäre Behausungen am rutschigen Berg. Schliesslich werden die Häuser immer solider und vor allem höher, aus Backstein und oft sogar schön verputzt, bis die Gondel in Supu Kachi das Ausgangsviertel von La Paz erreicht. Mit jeder Station wird es wärmer. In Chuqui Apu steigt man in die grüne Linie um, die an der Katholischen Universität und dem Olympiaschwimmbad vorbei und über mondäne Villen mit Pool nach Irpavi führt. Eine riesige Mall im US-Stil empfängt die Passagiere, aber auch die Aymara-Frauen, die zu ihren Señoras hasten, um Kinder zu hüten oder den Haushalt zu schmeissen.

Gondelbahnen als Mittel zur sozialen Integration

Tatsächlich erhalten die Armen Einblick in die Innenhöfe der Reichen, und tatsächlich sehen die Reichen (wenn sie denn überhaupt die Gondelbahn in Anspruch nehmen) die baufälligen Behausungen am Abhang, was ohne die Seilbahnen niemals so augenscheinlich möglich wäre. Aber führt dies auch zu einer sozialen Integration von an sich klar getrennten sozialen Sphären? Die von einer indigenen Regierung geplanten und schliesslich realisierten Gondelbahnen erfüllen vor allem die bis heute marginalisierten Gruppen der Aymara und Quechua mit einem neuen Stolz. Sie nennen diese denn auch «Mi Teleférico»: «meine Seilbahn».

Zwar haben sich die Staus im Zentrum von La Paz oder an den neuralgischen Punkten in El Alto nicht wirklich aufgelöst, aber ohne die Seilbahnen wäre das Verkehrschaos unvorstellbar. Es wären mindestens 20’000 zusätzliche Minibusse unterwegs, um die Gondelpassagiere zu transportieren. La Paz und El Alto sind näher zueinander gerückt, aber auch die einzelnen Stadtteile. Die unsichtbare «Apartheid», wie sie zuvor das soziale Leben in den beiden Metropolen bestimmt hat, ist jetzt für alle sichtbar geworden. Die Zona Sur, einstmals jener Stadtteil von La Paz, wo sich die Wohlhabenden unter ihresgleichen wähnen konnten, wird durch die Gondelbahnen immer mehr auch Ziel eines Ausflugs von Cholas (so werden die Aymara-Frauen mit ihren Reifröcken genannt) aus El Alto. Und nicht wenige Q’aras (Bezeichnung für weisshäutige Menschen) aus La Paz ergötzen sich an den Cholets in El Alto, jener Neo-Aymara-Architektur, die alpine Chalets im andinen Kontext zu Hunderten hochzieht.

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Kolumne-Fernsicht-Israel

Erstellt von Redaktion am 8. April 2023

Für Benjamin Netanjahu ist noch kein Messias in Sicht

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Von Hagai Dagan

Die schweren Unruhen auf dem Tempelberg, die die Schlagzeilen im Heiligen Land beherrschen, könnten erneut zu militärischen Auseinandersetzungen führen und die Beziehungen Israels zu den Nachbarstaaten belasten.

Mag sein, dass die Ausschreitungen von palästinensischen Organisationen angefeuert wurden. Ihren Anfang nahmen sie indes, als jüdische religiöse Fundamentalisten mit der Absicht auf den Tempelberg zogen, dort eine Opferzeremonie abzuhalten. Die Misere ist, dass genau diese Fundamentalisten in der Regierung repräsentiert werden, namentliche durch die Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich. Weitere extrem Religiöse, die in der Regierung sitzen, sind die Haredim, die ultraorthodoxen Juden. Sie lehnen es grundsätzlich ab, Opferzeremonien auf dem Tempelberg abzuhalten, aber auch sie versuchen, radikalreligiöse Gesetzesreformen voranzutreiben, die dem liberalen Charakter des Staates Israel widersprechen.

Eins dieser Gesetze verbietet die Missionierung, tatsächlich geht es dabei nur um die christliche Mission. Nach haredischer Logik sind Versuche seitens christlicher Organisa­tio­nen, die jüdische Öffentlichkeit zu beeinflussen gleichzusetzen mit dem Versuch, das jüdische Volk zu vernichten. Diese Logik stützt sich auf die Tradition, die religiöse Bekehrung als spirituelles Aussterben interpretiert. So empfinden die Haredim die physische Vernichtung der Juden und Jüdinnen in der Shoah und die Assimilierungsprozesse der Juden und Jüdinnen in die moderne Gesellschaft in Europa als gleichermaßen gravierend.

Die geplante Gesetzesreform alarmiert die US-Evangelisten. Ihre Haltung dem Staat Israel gegenüber ist sehr positiv. Traditionell unterstützen sie tatkräftig vor allem Israels Rechte. Diese Haltung stützt sich allerdings auf eine bestimmte Theologie. Demnach ist es die Aufgabe der Juden, den Boden für die Erlösung zu bereiten, und wenn es so weit ist und das Reich Gottes kommt, sollen sich alle Juden taufen lassen und Christen werden. Im Grunde wäre es schön, wenn sie schon jetzt damit anfingen.

Die Haltung der Haredim, die die evangelistische Mission als Ketzerei und Gräuel empfindet, ist für die Evangelisten unerträglich.

Für Regierungschef Benjamin Netanjahu wie auch für seine Koalitionspartner ist das ein Problem, denn von den Evangelisten kommt umfangreiche finanzielle Unterstützung für die jüdischen Siedlungen im besetzten Westjordanland. Sie stehen rechten israelischen Gruppierungen zur Seite und engagieren sich in den USA für die Sache Israels. Im Grunde gibt es da keinen Unterschied zwischen den Evangelisten und den Republikanern.

Quelle      :        TAZ-online          >>>>>        weuterlesen

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Bürgermeisterwahl Chicago

Erstellt von Redaktion am 7. April 2023

Gute Kinder, böse Stadt

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Aus Chicago von Lukas Hermsmeier

695 Menschen wurden 2022 in Chicago getötet. Bei der Wahl des neuen Bürgermeisters dreht sich alles um die Frage: Was tun gegen die Gewalt? Die einen wollen mehr Polizei, die anderen wollen sie abschaffen.

 

Die erste Schusswaffe hatte Camiella Williams mit elf Jahren. Ein 9-mm-Kaliber, für 25 Dollar vom Taschengeld gekauft. Nichts Besonderes in Englewood, sagt sie. Hatten die Jungs ja auch.

Wenn sie die anderen einschüchtern wollte, holte sie die Pistole aus ihrem Rucksack und wedelte damit herum. Muss sie sich abgeguckt haben, sagt Williams. Wer zu einer Gang gehört, sorgt besser für Angst, als sie zu zeigen.

In Englewood gibt es kein Leben ohne Gewalt. Gewalt ist draußen und zwischen den Menschen und irgendwann auch in einem drin, sagt Williams. Als Trauma, kalt und glühend. Man weiß, dass Personen, die schwere physische Gewalt ausüben, fast immer selbst Gewalt erfahren haben. In Englewood erlebt man es.

Wer mit Camiella Williams, die heute 35 Jahre alt ist, zwei Söhne hat und als Lehrerin arbeitet, durch ihre alte Heimat im Süden von Chicago fährt, spürt, wie sehr sie an Englewood hängt. Sie zeigt auf den Kiosk, an dem sie damals Fruchtgummis für 75 Cent kaufte, die Marke, die sie jetzt immer noch holt. Sie erzählt vom Shoppingcenter, das es nicht mehr gibt, Evergreen Plaza, „von allen nur Everblack genannt“. Erinnerungen an jeder Ecke. Und an jeder zweiten nennt sie einen neuen Namen.

Deonte. Rekia. Porshe. Terrell. Starkesia. Tyshawn.

Wie viele Menschen sie in ihrem Leben durch Gewalttaten verloren hat? „Es müssten über 50 sein.“ Freundinnen, Cousins, Lehrerinnen, Bekannte.

„An manchen Tagen weiß ich einfach nicht mehr weiter“, sagt Williams, als sie an einer Ampel hält. Angst, schiebt sie wie im Reflex hinterher, habe sie aber keine. Williams zeigt links neben sich auf das kleine Fach in der Autotür. Dort liegt ihre Pistole. Dass Selbstbewaffnung keine langfristige Lösung ist, muss man ihr nicht erzählen. Kaum jemand weiß das besser als sie.

***

Wenn Chicago, mit 2,7 Millionen Ein­woh­ne­r*in­nen die drittgrößte Stadt der USA, am 4. April einen neuen Bürgermeister wählt, wird die Southside eine entscheidende Rolle spielen. Es sind allerdings nicht die Leute in Englewood, ihre Perspektiven, die im Mittelpunkt der Debatten stehen. Maßgebend ist auch nicht in erster Linie die Gewalt, die sich hier durch Armut, fehlende Angebote und oft rassistische Repressionen der Polizei ins Leben der Menschen drückt und dann zwischen ihnen explodiert. Gewalt wird von den politischen Verantwortlichen als Problem nur sehr selektiv wahrgenommen.

Das dominierende Thema dieser Wahl ist Crime, also Kriminalität.

Kriminalität und Gewalt haben natürlich etwas miteinander zu tun, aber es sind doch ganz verschiedene Denkgrößen, verschiedene Rahmen. Besonders deutlich wird das in Vierteln wie Englewood, wo das Label „crime hotspot“ eine Auseinandersetzung mit den Ursachen von Gewalt geradezu verhindert.

2022 wurden in Chicago 695 Menschen getötet. Im Jahr davor waren es 804. So hoch waren die Zahlen zuletzt in den 90er Jahren. Dass die Zahl der Straftaten in den vergangenen Jahren laut Polizei gestiegen ist, wird vor allem mit der Pandemie erklärt. 2022 wurden pro Tag durchschnittlich 59 Autodiebstähle gemeldet. Schießereien gehören zur Normalität. Laut aktueller Umfragen fühlen sich zwei Drittel der Ein­woh­ne­r*in­nen von Chicago unsicher.

Hat man diese Statistiken im Kopf, überrascht es kaum, dass das Thema den Wahlkampf bestimmt. Und doch ist dieses Jahr etwas Besonderes. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gibt es einen aussichtsreichen Kandidaten auf das höchste Amt der Stadt, der anders über Gewalt und Kriminalität nachdenkt – der nicht noch mehr Polizei in Viertel wie Englewood schicken will, sondern im Gegenteil, so viele Be­am­t*in­nen wie möglich durch Sozialarbeiter*innen, The­ra­peu­t*in­nen und Leh­re­r*in­nen ersetzen will.

Linker Wandel oder Recht und Ordnung?

Brandon Johnson heißt der Mann, der einen linken Wandel für Chicago anstrebt. Der 47-jährige Afroamerikaner war Lehrer an einer öffentlichen Schule und Gewerkschaftsaktivist, bevor er Politiker wurde. Aktuell sitzt er im Parlament von Cook County, so heißt der Verwaltungsbezirk, in dem Chicago liegt. Johnson wohnt mit seiner Familie in Austin, einem überwiegend prekären Viertel im Westen der Stadt. Er weiß, wie sich Schüsse aus der Nähe anhören. Und er gibt zu, dass er manchmal Angst hat, wenn seine Kinder draußen spielen.

„Glaubt mir“, sagt Johnson bei jeder Gelegenheit, „mir liegt persönlich daran, dass wir das Problem lösen“.

Sein Kontrahent, der 69-jährige Paul Vallas, will keinen Bruch, sondern den Strafapparat weiter ausbauen. Vallas war in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedenen US-Metropolen als Chef der Schulbehörde im Einsatz und sorgte in Chicago, Philadelphia und New Orleans dafür, dass Teile des Bildungssystems privatisiert wurden. Statt großflächig in öffentliche Schulen zu investieren, ließ Vallas sogenannte Charter Schools eröffnen, die von privaten Trägern gemanagt werden. Darüber hinaus führte er rigidere Teststandards ein und kürzte beim Rentenfonds der Lehrer*innen.

Damit Chicago zurück zu „Gesetz und Ordnung“ kommt, will Vallas Tausende weitere Po­li­zis­t*in­nen einstellen. Mit diesem Versprechen konnte er im ersten Wahlgang Ende Februar vor allem die wohlhabenden, überwiegend weißen Wäh­le­r*in­nen im Zentrum und im Norden Chicagos überzeugen. Vallas landete – bei einer Wahlbeteiligung von nur 36 Prozent – vor Johnson auf Platz eins. Amtsinhaberin Lori Lightfoot, die in ihren vier Jahren im Rathaus weitestgehend orientierungslos agierte, stürzte ab.

In der Stichwahl kommt es nun zu einem Duell der politischen Visionen. Johnson und Vallas sind zwar beides Demokraten, könnten aber innerhalb der Partei kaum weiter voneinander entfernt stehen. Der eine kommt aus der Bewegung, der andere aus der Bürokratie. Der eine wird von progressiven Graswurzelgruppen unterstützt, der andere von der Polizeilobby. Er sei „mehr ein Republikaner als ein Demokrat“, hat Vallas mal über sich gesagt.

Es funktioniert

Von Bedeutung ist diese Wahl weit über die Grenzen von Chicago hinaus. Der Umgang mit Gewalt ist eine zentrale Frage der amerikanischen Politik. Republikaner und rechte Medien haben in den vergangenen Jahren – auch als Antwort auf die Schwarzen, linken Massenproteste im Sommer 2020 nach dem Mord an George Floyd durch einen weißen Polizisten – ihre Crime Panic intensiviert: Weil die Demokraten in den Städten nicht hart genug regierten, versinke das Land im Chaos, lautet ihre Erzählung.

Das Unheimliche an der Crime Panic ist, dass sie nichts löst und trotzdem funktioniert: Die meisten Demokraten lassen sich bereitwillig treiben, mindestens so oft treiben sie die Aufrüstung selbst voran. Es gilt: Auf keinen Fall soft on crime wirken. Präsident Joe Biden hat das Polizeibudget insgesamt um mehrere Milliarden erhöht. Seinem Plan nach sollen in den kommenden Jahren 100.000 neue Po­li­zis­t*in­nen eingestellt werden.

In Chicago, ausgerechnet dort, könnte nun ein Gegenexperiment beginnen. Johnson verspricht zwar keinen radikalen Abbau der Polizei, aber einen radikalen Wandel im Umgang mit der Gewalt. Sollte er gewinnen, hätte die linke Bewegung Macht demonstriert – und stünde sofort unter enormen Druck. Sie müsste gegen alle Widerstände beweisen, dass es anders geht.

***

Wenn Camiella Williams lacht, und ihre Zahnlücke zum Vorschein kommt, dann wirkt sie mit ihrem runden Gesicht für einen kurzen Moment wie ein Kind. Das passiert nicht oft an diesem Nachmittag.

Sie trägt einen blauen Kapuzenpullover, auf dem „GoodKidsMadCity“ steht, so heißt die Community-Organisation, bei der sie als Mentorin arbeitet. Der Name ist eine Anspielung auf Kendrick Lamars legendäres Album, natürlich ist es auch eine politische Botschaft: Nicht die Kids sind das Problem, sondern die Umstände, in die sie geworfen werden.

GoodKidsMadCity wurde 2018 in Englewood gegründet, mehrere hundert Jugendliche sind dort mittlerweile aktiv. Sie treffen sich, um über Konfliktlösungen zu sprechen, organisieren Basketballturniere und Proteste, unterstützen die Angehörigen von Gewaltopfern. Sie setzen sich dafür ein, dass in ihre Nachbarschaften investiert wird: neue Jobs, bessere Bildung, Zugang zu Gesundheitsversorgung, mehr Sportplätze. Sie wollen Gewalt präventiv entgegenwirken. Und sie fordern eine Abschaffung der Polizei.

Williams versucht, ihre Erfahrung an die jungen Ak­ti­vis­t*in­nen weiterzugeben. Sie sagt ihnen nicht: Gebt eure Waffen weg. Sie sagt: Fangt keinen Streit an. Sie fordert nicht: Verlasst eure Gangs. Sie weiß: So was passiert nicht einfach so. „Ich nehme sie ernst“, so Williams, „indem ich ihnen meine Verletzbarkeit zeige.“

Williams war zehn, als ihr Vater an Aids starb. Ihre Eltern waren da schon eine Weile geschieden. Dann erfuhr sie, dass ihre Mutter Brustkrebs hat. Zu viel für ein Kind, sagt sie, vor allem, wenn es keine professionelle Hilfe bekommt. Williams suchte Prügeleien, egal mit wem. In der High School fing sie an, mit Drogen zu dealen, schloss sich einer Gang an, deren Namen sie lieber nicht verraten möchte. Sie entwickelte eine „Vorliebe zur Gewalt“, wie sie im Rückblick sagt.

Die Bewegung ist stark

Im März 2006, Williams war 19 und zum ersten Mal schwanger, wurde ein 14-jähriges Mädchen in der Nachbarschaft durch einen Irrläufer eines Sturmgewehrs getötet. „Sie bringen jetzt auch Kinder um?“ Williams wusste, dass sie irgendwie rausmuss. Sie wandte sich an den Pastor der St.-Sabina-Kirche, deren angeschlossene Schule Williams besucht hatte. Zusammen installierten sie vor dem Gebäude eine Gedenkwand mit Fotos von getöteten Jugendlichen aus Chicago. Knapp 200 Bilder hängen dort heute in sechs Glasvitrinen. Für Williams war es der Einstieg in den Aktivismus.

Sie zog aus Englewood in einen Vorort südlich der Stadt, schrieb sich in ein Community-College ein. In den folgenden Jahren trat sie verschiedenen aktivistischen Gruppen bei. Black Lives Matter nahm seinen Lauf. Der Glaube an eine Reform der Polizei war damals noch da.

„Als ich als politische Organizerin angefangen habe, wurde mir beigebracht, dass man seine Wut besser nicht zeigt“, sagt Williams. „Die Kids von heute sind zum Glück radikaler.“

Und in kaum einer Stadt ist die Bewegung so stark wie in Chicago.

Neben GoodKidsMadCity gibt es in der Windy City, so Chicagos Spitzname, diverse Organisationen, die für den Abolitionismus kämpfen, also die Überwindung von Polizei und Gefängnissen. Da wäre zum Beispiel das Project NIA, von der Vordenkerin Mariame Kaba initiiert, das sich dafür einsetzt, Kinder und Jugendliche aus dem Strafsystem zu holen. Da wären Assata’s Daughters, benannt nach der Schwarzen Freiheitskämpferin Assata Shakur, die politische Bildung anbieten und Ak­ti­vis­t*in­nen trainieren. Auch Kollektive wie BYP100, Love & Protect oder das Rampant Magazine setzen sich dafür ein, den jetzigen Strafapparat obsolet zu machen.

Brandon Johnson, Bürgermeisterkandidat für Chicago :

„Die sichersten Städte der Welt haben eine Sache gemeinsam: Sie investieren in die Menschen“

Alder Planetarium

Chicago ist wieder einmal Wegbereiter. So war es ja schon im 19. Jahrhundert, als dort Zehntausende Ar­bei­te­r*in­nen für einen Acht-Stunden-Tag kämpften und damit den Tag der Arbeit aus der Taufe hoben. So war es in den 1960er Jahren, als Fred Hampton die revolutionäre Rainbow Coalition ins Leben rief. So war es auch 2012, als Zehntausende Leh­re­r*in­nen – organisiert durch die Gewerkschaft CTU – streikten und damit der amerikanischen Ar­bei­te­r*in­nen­be­we­gung Schwung verpassten. In Chicago sitzt der linke Verlag Haymarket Books, benannt nach dem blutigen Aufstand 1886. Hier findet auch die alljährliche Sozialismuskonferenz statt. Chicago ist die Stadt, in der eine wiedererstarkte Gewerkschaftsmacht auf einen Schwarzen, linken Feminismus trifft. Sollte Johnson die Wahl zum Bürgermeister gewinnen, hätte er das vor allem der Graswurzel-Organisierung der vergangenen Jahre zu verdanken.

Quelle         :            TAZ-online          >>>>>      weiterlesen

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Oben     —     From top left: Downtown Chicago, the Willis Tower, the bucetar, the Chicago „L“, Navy Pier, the Field Museum, and Millenium Park

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Geld oder das Leben ?

Erstellt von Redaktion am 7. April 2023

Ökologie und Frieden: Was heißt heute Pazifismus?

Von    :      Daniel Cohn-BenditClaus Leggewie

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine steht auch die Friedensbewegung an einem Scheideweg, durchlebt sie eine neue Unübersichtlichkeit, die die alten Überzeugungen auf den Prüfstand stellt.

Die letzte – und schon damals neue – Friedensbewegung entstand als Teil der neuen sozialen Bewegungen in den 1960/70er Jahren, und zwar als Duo für „Umwelt & Frieden“. Ihr Codename lautete: Ökopax. Damals protestierte man so selbstverständlich gegen die zivile wie gegen die militärische Nutzung der Atomenergie. Man blockierte Mutlangen, den Standort der US-amerikanischen Pershing-Raketen, genauso entschieden wie Wyhl, Brokdorf und Wackersdorf als mögliche Standorte für Atomkraftwerke und Wiederaufbereitungsanlagen. Öko und Frieden: In diesem Doppelpack eroberten alternative Listen dann kommunale Parlamente, zog die grüne Partei in den Bundestag und in die Landtage ein, verbanden sich Umwelt- und Friedensgruppen über die deutsch-deutsche Grenze hinweg.

Diese neue Friedensbewegung,[1] die seit Ende der 1970er Jahre gegen den Nato-Doppelbeschluss kämpfte, schloss an ihre Vorläuferin, die Ostermarschbewegung der 1950er und 60er Jahre, an, die gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik Deutschland und deren Eingliederung in westliche Militärallianzen opponiert hatte, nicht zuletzt deshalb, weil beides mutmaßlich die deutsche Wiedervereinigung verhinderte. Große Teile der (außer-)parlamentarischen Linken bis weit in die SPD hinein bevorzugten eine dauerhaft entmilitarisierte, neutrale Republik zwischen den Blöcken, waren gegen die Westbindung, die Bundeskanzler Konrad Adenauer Richtung Washington und sein Atom- und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß in Richtung Paris (inklusive Atomwaffenbesitz) vorantrieben. Mit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im französischen Parlament 1954 war dieser Streit zwischen Atlantikern und Gaullisten praktisch schon entschieden. Was alte und neue Friedensbewegung verband, war die tiefsitzende Aversion gegen alles Nukleare und „Amerika“. Dass sowjetische SS-20 auf Deutschland gerichtet waren, war für die meisten unter den 100 000 Friedliebenden 1983 im Bonner Hofgarten kein Thema, wie eine Leitfigur der Ökologiebewegung, André Gorz, damals anprangerte: „Alles ist darauf abgestellt, die sowjetische Empfindlichkeit nicht zu verletzen und als Vermittler zwischen dem Kreml und den westlichen Ländern aufzutreten. […] An Stelle von Breschnew hätte ich keinerlei Achtung für Leute, die imstande sind, sich gegen die Startbahn West in Frankfurt, gegen das Atomkraftwerk Brokdorf und gegen die Pershing 2 zu mobilisieren, die aber den Völkermord in Afghanistan, die biologischen Waffen der Sowjetunion, die SS-20, die Folterungen in der Tschechoslowakei und den Warschauer Putsch stillschweigend hinnehmen und das alles mit dem sibirischen Gas krönen.“[2]

Erst der russische Angriffskrieg hat vielen die Einsicht verschafft, wie blind dieser Pazifismus gegenüber dem sowjetischen, im Kern russischen Imperialismus war. Die historische Verantwortung für den deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 und die Ablehnung der bundesrepublikanischen Staatsideologie des Antikommunismus mündeten in die Idee, mit Moskau und Ostberlin für „Wandel durch Handel“ zu sorgen – was den von Gorz beklagten Nebeneffekt hatte, dass die Entspannungspolitik auf Regierungskontakte mit autoritären KP-Regimen fixiert war und den Kampf der Oppositionsbewegungen in den meist übersehenen Staaten Ostmitteleuropas ignorierte.

Es ist kein Zufall und nicht ohne Belang, dass die einzige Partei, die den Demokratiebewegungen gegenüber sensibel und solidarisch agierte, die Grünen waren, für die Frieden, Demokratie und Menschenrechte gleichrangig nebeneinander standen. Das Grundmuster der Regierungspolitik blieb jedoch auch nach 1990 erhalten und führte in der Putin-Ära zur umgekehrt proportionalen Zunahme der Energieabhängigkeit von Russland bei gleichzeitiger Abnahme der deutschen Verteidigungsbereitschaft.

Mit der dafür allzu oft in Anspruch genommenen noblen Idee des Pazifismus hatte und hat dies nichts zu tun. Die Intention des Pazifismus war nie, einem Aggressor vorauseilend die weiße Fahne auszurollen und auch die andere Backe hinzuhalten, sondern vielmehr den Angriffskrieg, bis ins 19. Jahrhundert eine unangefochtene Staatenpraxis, dauerhaft zu bannen und zu verbieten.[3] Sich dagegen notfalls mit Waffengewalt zu wehren, war niemals „bellizistisch“. Das schlagendste, aber stets heruntergespielte Beispiel ist die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus durch die Antihitlerkoalition, die nur durch Waffengewalt und Millionen von Opfern möglich war.[4] Diese Tradition des „Frieden schaffen mit Waffen“ wurde von der Friedensbewegung lange verdrängt. Doch Russlands Aggression fordert das ökopazifistische Milieu nun zum Umlernen auf – und auch dazu, die Ökopax-Allianz auf neue Grundlagen zu stellen.

Unmittelbar nach Beginn des russischen Überfalls war dieses Umdenken durchaus zu erkennen. Unter dem Slogan „Stand with Ukraine!“ rief Fridays for Future (FFF) im März 2022 mit zur Großdemonstration auf: „Wir fordern von der Bundesregierung, dass sie die Energieimporte aus Russland stoppt: Schluss mit der Finanzierung des Kriegs – Schluss mit Öl, Gas und Kohle aus Russland. Das Ende von Nord Stream 2 – ein für alle Mal“, heißt es in dem Aufruf, und weiter: „Die Antwort darauf darf aber nicht die Investition in andere fossile Infrastrukturen, sondern muss die konsequente Energiewende weg von Kohle, Öl und Gas hin zu Erneuerbaren sein, um fossile Abhängigkeiten und Kriege zu beenden. […] Die ganze Welt muss sich gegen den Krieg stellen. Folgt dem Aufruf unserer ukrainischen Mitaktivist:innen und kommt mit uns auf die Straßen! End the war – end fossil fuels!“[5] Der Zusammenhang war somit klar erkannt: Russland führt nicht zuletzt einen globalen Energiekrieg, Klimaschutz und Unterstützung der Ukraine gingen zusammen.

Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten 1981

Wie Friedens- und Ökologiebewegung auseinandergedriftet sind

Doch ein Jahr später hat sich der Wind in der Ökologiebewegung gedreht. Seither konzentrieren sich FFF, „Last Generation“ und die meisten Umweltverbände ganz auf den ökologischen und klimapolitischen Aspekt. Ihre Protestenergie fließt in Demonstrationsziele wie „Hambi“ und „Danni“, „Lützi“ und „Fecher“; dagegen übt man zivilen Ungehorsam und legt sich mit grünen Verantwortlichen für vermeintlich schmutzige Koalitionskompromisse in der Energie- und Verkehrspolitik an. Zurückhaltung übt man dagegen in der Kriegsfrage – genau wie die Gewerkschaften (aus Rücksicht auf ihre Linken-Kader), die Kirchen (in Verkennung gerechter Kriege) und wie andere Gruppen in ihrer Fixierung auf sexuelle und kulturelle Diversität – obwohl diese kaum irgendwo so sehr bedroht ist wie in Russland.

Diese Reduktion auf die eigenen, vermeintlichen Kernthemen ist ein fataler Fehler. Während der Angriffs- und Vernichtungskrieg Russlands in eine neue, auch für Deutschland existenzielle Phase tritt, sollten sich diese Organisationen und Bewegungen auf ihre Forderung „End the war!“ besinnen, bei der sich die Aufrüstung der ukrainischen Armee und die Forderung nach Verhandlungslösungen gerade nicht ausschließen. Und anders, als es die empiriefreien Appelle der „Manifest“-Unterzeichner suggerieren, ist es die mehrheitliche Überzeugung der Deutschen, dass es sowohl der Waffen als auch der Diplomatie bedarf. Worauf Wagenknecht, Chrupalla und Co. außerdem keine Antwort geben: Mit welchem Verhandlungspartner wäre denn gegenwärtig über einen dauerhaften Frieden zu reden – und über welche Faustpfande und Garantien? Das ewige Mantra von der angeblich allein friedensstiftenden „Diplomatie“ steht jedenfalls in gewaltigem Widerspruch zum Putinschen Desinteresse an Verhandlungen.

Jenseits des gescheiterten Budapester Abkommens oder der Minsker Floskeln werden Frieden und Sicherheit für die Ukraine nur per Nato-Beitritt erreichbar sein – beziehungsweise durch die Aufnahme in die Europäische Union, die analoge Beistandspflichten mit sich bringt, schon für den Fall, dass der Aggressionshunger Putins nach einem prekären Waffenstillstand wieder zunimmt. Die Ukraine ist undenkbar als neutraler Pufferstaat zwischen Ost und West; zu garantieren ist ihre Integrität und Unabhängigkeit nur als westliche Bündnisnation. Doch genau um das zu verhindern und den „kollektiven Westen“ nicht an Russlands Grenzen auszudehnen, ist Putin schließlich über das Land hergefallen. Der Ruf nach bloßer Diplomatie birgt daher keineswegs geringere Risiken für Deutschland und den Westen als die Positionen der leichtfertig als „Bellizisten“ Denunzierten, die zwischen militärischer Unterstützung und diplomatischen Verhandlungen keinen starren Gegensatz aufmachen.

Quelle       :          Blätter-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —       10. Globaler Klimastreik von Fridays for Future, Berlin, 25.03.2022

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Finnland in der NATO

Erstellt von Redaktion am 7. April 2023

Ein weiterer historischer Fortschritt in der Einkreisung Russlands

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von        :        Manfred Henle

Finnland und Schweden haben auf dem NATO-Gipfel im Juni 2022 in Madrid ihre Vollmitgliedschaft in der NATO beantragt.

1. NATO-Beitritt Finnlands löst Triumphgefühle aus

Finnland und Schweden haben auf dem NATO-Gipfel im Juni 2022 in Madrid ihre Vollmitgliedschaft in der NATO beantragt. Die NATO hat diese perspektivische NATO-Erweiterung umgehend begrüsst und das Aufnahmeverfahren eingeleitet. Und nun ist es fast vollbracht! Finnland immerhin ist seit Dienstag den 4.April 2023 Vollmitglied in der NATO. Diese gelungene militante NATO-Norderweiterung im Zuge der unaufhaltsamen militärisch-nuklearen Einkreisung der Russischen Föderation löst wahre Triumphgefühle in den Herzen der NATO-Regisseure aus:

Es ist eine historische Erweiterung der Allianz – um ein Land, das jahrzehntelang stolz war auf seine militärische Neutralität. Das eine immerhin 1.300 Kilometer lange Grenze mit Russland teilt. Und das allein deshalb schon eine Armee mitbringt, die sehr viel leistungsfähiger ist als die mancher alteingesessener Nato-Staaten. Finnland wird damit das 31. Mitglied der Militärallianz. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg spricht von einem historischen Tag. (ZDF heute, 3.4.2023)1

Das ist er, der Geist der Zeitenwende: Er gratuliert sich selbst dazu, eine Armee hinzu gewonnen zu haben, die an ersehnter militärischer Gewalt wenig Wünsche offen lässt und, wie erfreulich, sogar manch alteingesessenen NATO-Staat in den Schatten stellt. Wahrlich ein „historischer Tag“ für die kollektive NATO-Gewaltbereitschaft und Gewalt.

2. Ein Loblied auf die kollektive Gewaltbereitschaft

Die jahrzehntelang gepflegte militärische Neutralität Finnlands in Gestalt des Zurückhaltens einer NATO-Vollmitgliedschaft inmitten der seit Jahr und Tag betriebenen militärisch-strategischen Integration Finnlands in die NATO und faktisch längst geschaffene Interoperabilität mit der NATO, war längst hinfällig: Hinfällig angesichts der Vollendung der militärisch-nuklearen Einkreisung (Kern-) Russlands; ein echtes Hindernis angesichts des mit der Zeitenwende definitiv eingeläuteten NATO-Krieges gegen die Russische Föderation mittels der Ukraine und der ukrainischen Bevölkerung als lebendige NATO-Säule und menschliche NATO-Ressource. Deshalb verdient die NATO-Vollmitgliedschaft Finnlands nichts als ungeteiltes Lob seitens der NATO-Regisseure und NATO-Kriegsplaner:

Die Streitkräfte an der neuen Nordflanke gelten als gut ausgebildet, trainiert und motiviert. Finnland hat die Wehrpflicht für Männer nie abgeschafft und verfügt bei 24.000 aktiven Soldaten über 900.000 ausgebildete Reservisten. Im Verteidigungsfall würden Heer, Marine und Luftwaffe auf 280.000 Frauen und Männer anwachsen können […] Finnland hat anders als andere nach dem Kalten Krieg seine Investitionen in die Armee nicht reduziert“, lobte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg das neuste Mitgliedsland. (dw, 3.4.2023)2

Eingestandermassen: Mit dieser akkumulierten kollektiven, „historischen“ Gewaltbereitschaft und Gewalt ausgestattet lässt sich der NATO-Krieg gegen die Russische Föderation noch ganz anders planen und exekutieren als zuvor: Eine perspektivisch hinzu gewachsene lebendige, menschliche NATO-Ressource von 280.000 Frauen und Männer in Heer, Marine und Luftwaffe, eingeplant und verplant im gegenwärtigen Krieg, wie in den zukünftigen NATO-Kriegen mit globaler Reichweite – mindestens, wie oftmals von den hohen Damen und Herren betont, bis in den Indo-Pazifik hinein, vorzugsweise unter Deutscher (An-) Führerschaft:

Deutschland intensiviert sein sicherheitspolitisches Engagement im Indo-Pazifik. Die Präsenz der Luftwaffe ist ein Signal der Unterstützung unserer Wertepartner vor Ort und ein Zeichen an die Weltgemeinschaft zur Stärkung der regelbasierten internationalen Ordnung.Deutschland wirkt aktiv an der Gestaltung der internationalen Ordnung im Indo-Pazifik mit. Wichtigste Ziele für den indo-pazifischen Raum sind der Erhalt der regelbasierten internationalen Ordnung und die Stärkung des Multilateralismus in einer freien und offenen Region. In den im September 2020 von der Bundesregierung veröffentlichten Leitlinien zum Indo-Pazifik ist unter anderem auch ein verstärktes Engagement der Bundeswehr im Indo-Pazifik vorgesehen. (BMVG, 18.8.2022)3

Für solch ausgreifende Kriegsplanungen ist nochmals und ausdrücklich lobend festzuhalten:

Finnland hat anders als andere nach dem Kalten Krieg seine Investitionen in die Armee nicht reduziert“, lobte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg das neuste Mitgliedsland […] So bringt die Luftwaffe zum Beispiel 60 moderne Kampfjets in die Verteidigung des NATO-Gebiets ein. (dw, 3.4.2023)

Ungeachtet der öffentlich kommunizierten Klarstellungen über den ausgreifenden geostrategisch-globalen Nutzen einer NATO-Vollmitgliedschaft Finnlands und auch Schwedens hält die 4. Gewalt in den NATO-Ländern ihrem längst verinnerlichten Feindbild und ihrer Feindbildpflege gemäss an folgendem Ammenmärchen fest um es als nicht weiter hinterfragbare öffentliche Meinung unantastbar zu machen: Putin ist schuld: „Finnland grenzt an den Aggressor Russland“ (dw, 3.4.2023); somit scheint ja wohl klar: „Der Beitritt erfolgt als Reaktion auf Russlands Invasion der Ukraine.“ (ZDF heute, 3.4.2023)

Welche Konsequenzen die NATO-Vollmitgliedschaft Finnlands und Schwedens zeitigen, scheint gleichermassen keiner näheren Betrachtung wert zu sein. Dazu komprimiert und auszugsweise einige Hinweise, die andernorts bereits ausführlich dargelegt wurden.4

3. Gesicherte Konsequenzen einer Vollmitgliedschaft im NATO-Klub

So, wie die NATO die globale Einkreisung (Kern-) Russlands auf immer erweiterter Eskalationsstufe vorantreibt und den „Krieg gegen Russland“ (Baerbock) radikalisiert, beendet sie definitiv jeglichen Schutz, jegliche Sicherheit für die berühmten „Menschen im Land“, respektive auf dem europäischen Kontinent. Denn speziell mit der NATO-Vollmitgliedschaft Finnlands eröffnet sich der NATO eben diese schöne Perspektive:

Bald könnten in Finnland an der Grenze zu Russland Atomwaffen stationiert werden, sofern der Antrag des Landes auf Beitritt zur NATO genehmigt wird […] Nuklearraketen in Finnland an der russischen Grenze dürften wohl weit weniger als eine Minute nach Moskau benötigen. Das ist eine höchst kurze Vorwarnzeit […] es könnte bald Realität werden […] Nach Angaben der in Helsinki erscheinenden Zeitung Iltalehti enthält der Gesetzentwurf zum Beitritt […] keine Ausnahmeregelung für Atomwaffen […] Aussenpolitischen Insidern zufolge könnten demnach NATO-Atomwaffen durch finnisches Hoheitsgebiet verlegt oder dort stationiert werden. Darüber hinaus gibt es keine Beschränkungen für die Einrichtung von NATO-Stützpunkten im Land […] (exxpress, 31.10.2022)5

File:Flags of Finland and NATO.jpg

Das NATO-Nuklearideal, Russland jede Erst- oder Zweitschlagskapazität zu nehmen und seine nicht nur nukleare Kapitulationsurkunde zu signieren, wäre doch allen Ernstes erreicht. Bei einer für die NATO in Aussicht stehenden Vorwarnzeit von knapp 1 Minute beim nuklearen Erstschlag drängt sich aber doch die Frage auf:

Was sagt Russland zu einem Nato-Beitritt der skandinavischen Länder? Kurz nach den Ankündigungen der beiden Länder sprach der russische Präsident Wladimir Putin mit dem Uno-Sicherheitsrat über einen möglichen Nato-Beitritt von Finnland und Schweden. An einem Treffen der Staats- und Regierungschefs der ehemaligen Sowjetstaaten sagte Putin, dass Schwedens und Finnlands möglicher Nato-Beitritt an sich Russland nicht bedrohe. Anders sieht es bei einer Aufrüstung der beiden Staaten aus. «Die Ausweitung der militärischen Infrastruktur auf dieses Territorium wird unsere Antwort hervorrufen», drohte Putin am Montag […] Zuvor sagte der Kreml, er sehe die Absicht Finnlands für die Nato-Mitgliedschaft als Bedrohung. Die Entscheidung der Regierung sei ein feindlicher Akt, der Russlands Sicherheit gefährde […] Putin hatte seine Entourage davor bereits angewiesen, die Sicherheit der westlichen Flanke Russlands mit Blick auf die Nato-Aktivitäten zu stärken.6

Die Verabschiedung der jahrzehntelang gepflegten schwedischen und finnischen Neutralität im Rahmen ihrer Zugehörigkeit zum westlichen (NATO- und EU-) Lager ist inmitten der Zeitenwende eine unmissverständliche, auch nuklear-erstschlagsbereite Feindschaftserklärung gegenüber Russland. Die erklärte Beendigung der nicht unmittelbar gegenüber Russland gerichteten, neutralistisch orientierten Russlandpolitik der faktischen NATO-Länder Finnland und Schweden hat sich denn auch umgehend die reziproke, herzliche Feindschaft Russlands zugezogen: „ein feindlicher Akt“ (Putin). In den Worten des russischen Aussenministers S.Lawrow:

Russian Foreign Minister Sergei Lavrov said on Wednesday that Moscow would be forced to take unspecified measures on its border if Finland joins Nato, news agency Reuters reports. Lavrov said Finland had long been a model of friendly relations, according to Reuters, but that the Nordic country had now changed its rhetoric towards Moscow. The Russian FM added that Russia would have to take „appropriate measures on our borders.7

Dass die Radikalisierung der globalen Einkreisung (Kern-) Russlands auf immer erweiterter Eskalationsstufe im „Krieg gegen Russland“ (Baerbock) mittels der Ukraine und den perspektivischen Vollmitgliedern Finnland und Schweden den gesamten europäischen Kontinent in Richtung eines kontinentalen Kriegsschauplatzes, eines möglicherweise wahren Euroshimas zuspitzt, dem sich früher oder später kein Land, keine Region, kein Bauernhof mehr entziehen kann, wird wohl früher oder später Ergebnis der von der NATO konsequent verfolgten Durchsetzung seiner Zeitenwende gegenüber Russland sein.

4. Zur totalitären Ideologie des Schutzes und der Sicherheit

Angesichts der unmissverständlichen öffentlich kommunizierten Klarstellungen über den Nutzen einer NATO-Vollmitgliedschaft Finnlands und Schwedens, sowie angesichts der Klarstellungen der Russischen Föderation hinsichtlich seiner Einkreisung durch eine NATO-Vollmitgliedschaft beider Länder, gehört ins Reich der Ammenmärchen die alberne, inmitten des europaweiten demokratischen Meinungspluralismus geltende totalitäre Ideologie, demnach der Beitritt Schwedens und Finnlands in die NATO deren „Schutz“ und „Sicherheit“ erhöht:

„Schweden und Finnland seien ‚heute sicherer als vor ihrem Aufnahmeantrag‘ beteuert Stoltenberg zudem stets – ein weiterer verklausulierter Hinweis darauf, dass die Nato die Beitrittskandidaten verteidigen würde […].“ (SZ, 10.1.2023)8 Am von der NATO selbst ins Spiel gebrachten, schon mal im Gedanken antizipierten „Verteidigungsfall“, der mit dem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens konkret drohende Gestalt annimmt, halten NATO und die 4. Gewalt in den NATO-Ländern unbeirrt fest; ebenso am für die Öffentlichkeit bestimmten Ammenmärchen: „Dieser Beitritt, so Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Tag vor Beginn des Treffens, „macht Finnland sicherer und unsere Allianz stärker“.(ZDF heute, 3.4.2023)

Dementsprechend hat Russland reagiert:

Russland hält trotz massiver Kritik aus dem Ausland an seinem Plan fest, strategische Atomwaffen im Nachbarland Belarus zu stationieren. „Solch eine Reaktion kann natürlich russische Pläne nicht beeinflussen“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Montag in Moskau. (Suttgarter Nachrichten, 27.3.2023)9

Es geht also voran im „Krieg gegen Russland“ (Baerbock) und der Verwandlung des europäischen Kontinents in einen kontinentalen Kriegsschauplatz.

Fussnoten:

1 Unter: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/nato-treffen-finnland-beitritt-stoltenberg-ukraine-krieg-russland-100.html

2 Unter: https://www.dw.com/de/nato-finnland-st%C3%A4rkt-den-norden/a-65217359

3 Unter: https://www.bmvg.de/de/aktuelles/bundeswehr-zeigt-flagge-im-indo-pazifik-5479566

4 Vgl. Manfred Henle, 13.3.2023, Finnland und Schweden wollen in die NATO – Warum, unter: https://www.untergrund-blättle.ch/politik/europa/finnland-schweden-nato-beitritt-vollmitgliedschaft-7555.html

5 Unter: https://exxpress.at/gefahr-eines-3-weltkriegs-finnland-erlaubt-nato-stationierung-von-atomwaffen/

6 So die NZZ, 13.2.2023, unter: https://www.nzz.ch/international/nach-dem-entscheid-zum-nato-beitritt-von-finnland-folgt-jetzt-schweden-ld.1683660#subtitle-warum-wollen-die-skandinavischen-l-nder-jetzt-einen-beitritt-zum-milit-rb-ndnis-first; vgl. Auch Lawrow:

7 Yle News, 18.1.2023, unter: https://yle.fi/a/74-20013479

8 So die SZ, 10.1.2023, vgl. unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/nato-schweden-finnland-1.5729501

9 Unter: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.massive-kritik-an-plaenen-russland-haelt-an-stationierung-von-atomwaffen-in-belarus-fest.551c211a-fd29-49cd-8cc1-28dfe6f01f11.html

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Große Koalition in Berlin:

Erstellt von Redaktion am 6. April 2023

Ein Desaster für die Bürgerrechte

2022 wollte sie noch gestakten – nun 2023 lässt sie sich von der CDU verwalten !!

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kommentar von        : 

Mehr Videoüberwachung, mehr anlasslose Kontrollen, mehr Staatstrojaner. CDU und SPD wollen in Berlin für Aufbruch stehen, doch sie liefern autoritären Rückschritt. Sozialdemokrat:innen, die eine bunte und liberale Stadtkultur wollen, dürfen diesem Koalitionsvertrag nicht zustimmen.

„Aufbruch und Erneuerung“ für Berlin – so lautet das zentrale Versprechen Kai Wegners und Franziska Giffeys. Innenpolitisch liefert der heute vorgelegte Koalitionsvertrag [PDF] von CDU und SPD indes das genaue Gegenteil. Auf die Frage nach dem guten Zusammenleben in der Millionenstadt servieren beide Parteien vor allem die üblichen Antworten der Konservativen: mehr Überwachung, mehr Repression, weniger Grundrechte.

Das beginnt bereits bei der Sprache. Bei der heutigen Vorstellung des Vertrages verspricht der Chef der Berliner CDU mehr „Sicherheit“ und „Sauberkeit“ für die deutsche Hauptstadt. Als ob beide Werte den gleichen Rang haben, sichert Wegner der Polizei alle nötigen Mittel zu, um beides durchsetzen. SPD-Chefin Giffey steht daneben und lächelt. Sie hatte im Wahlkampf ähnliche Töne angeschlagen wie der CDU-Mann und damit das schlechteste Ergebnis der Berliner SPD seit der Wiedervereinigung eingefahren.

„Wertschätzung für die Polizei“ ist Kai Wegner bei dem heutigen Pressetermin besonders wichtig. Kein Wort verliert er darüber, warum das Image der Behörde so ramponiert ist. Dabei ließe sich viel sagen über Probleme mit Rassismus oder auch Rechtstaatsfeindlichkeit in den eigenen Reihen. Stattdessen kündigt Wegner an: „Sie werden merken, dass diese neue Koalition hinter der Polizei steht.“ Für die Opfer von Polizeigewalt muss das nicht nur wie Hohn, sondern wie eine Drohung klingen. Statt Problemanalyse und vertrauensbildender Maßnahmen stellt Wegner der Polizei einen Blankoscheck aus.

Präventivhaft und Staatstrojaner

Der weltoffenen Metropole Berlin droht weit mehr als nur ein neuer Regierungsstil. Wegner und Giffey stehen für Law and Order. Dass die Polizei personell deutlich aufgestockt werden soll, ist dabei nicht zwangsläufig problematisch. Wie so viele Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge wurde auch sie kaputtgespart. Zu Recht klagen die Polizist:innen über zu viel Belastung. Doch die Große Koalition will auch eine massive technische und rechtliche Aufrüstung betreiben.

Konkret will sie unter anderem eine Rechtsgrundlage schaffen für den Einsatz von Staatstrojanern durch die Polizei – wie üblich mit Verweis auf die „Bekämpfung terroristischer Straftaten und schwerster Straftaten“. Tatsächlich setzt die Polizei staatliches Hacking in der Praxis vor allem wegen Eigentums- und Drogendelikten ein.

Natürlich gehört auch mehr Videoüberwachung „an kriminalitätsbelasteten Orten“ zum Programm der Koalitionär:innen, um damit „die Bürgerinnen und Bürger besser zu schützen“. Sie hatte die CDU schon zu Zeiten der bislang letzten Berliner GroKo zwischen 2011 und 2016 auf dem Wunschzettel. Dass Videoüberwachung laut wissenschaftlicher Studien damals wie heute kaum zur Prävention beiträgt, interessiert offenbar wenig.

Vom Wunschzettel der CDU

Berlin war bislang eines der letzten Bundesländer mit einem halbwegs liberalen Polizeigesetz. Nun soll auch hier die Möglichkeit zur Präventivhaft verlängert werden, von zwei auf fünf Tage. Ein Blick nach Bayern oder Nordrhein-Westfalen zeigt, wie schnell dieses Mittel gegen politischen Aktivismus und zivilen Ungehorsam eingesetzt werden kann.

Auch das grundrechtsfreundliche Versammlungsfreiheitsgesetz will die GroKo auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls verschärfen. Das hieße: Weniger Versammlungsfreiheit, mehr Rechte für die Polizei auf Demonstrationen. Außerdem will die GroKo mit neuen „Messerverbotszonen“ weitere Gebiete schaffen, in denen die Polizei anlasslos Menschen kontrollieren darf. Das wäre eine versteckte Ausweitung der umstrittenen Schleierfahndung. Auch der Verfassungsschutz soll weiter ausgebaut werden.

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In der wikipedia steht geschrieben:   „Im Zuge der Krawalle in der Silvesternacht 2022 geriet Wegner in die Kritik, weil er im Namen der CDU-Fraktion vom Berliner Senat Auskunft über die Vornamen der deutschen Tatverdächtigen verlangte. Vertreter der rot-rot-grünen Regierungskoalition warfen Wegner daraufhin Rassismus vor, weil er Menschen mit Migrationshintergrund nicht als richtige Deutsche anerkennen wolle.[20 „

Die Nutzung von Bodycams will die GroKo ebenfalls ausweiten und künftig auch in Privaträumen von Bürger:innen einsetzen. Kein Wort verliert der Koalitionsvertrag dazu, dass Polizist:innen die kleinen Körperkameras erfahrungsgemäß immer dann aus vermeintlich technischen Gründen ausschalten, wenn die Aufnahmen sie selbst in einem schlechten Licht dastehen lassen würden.

Konservative Innenpolitik in Reinform

Auch zum sogenannten Neukölln-Komplex findet sich in dem Koalitionsvertrag kein Wort. Über viele Jahre hinweg konnte eine Neonazibande das südliche Neukölln in Angst und Schrecken versetzen. Sie schmissen Fensterscheiben von Menschen ein, die sich gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagieren, schmierten Morddrohungen an Wände, zündeten Autos an. Starke Indizien sprechen dafür, dass die Täter nicht nur wegen stümperhafter Polizeiarbeit so lange agieren konnten, sondern auch, weil sie aktive Sympathisant:innen in Justiz und Sicherheitsbehörden hatten.

Ein Untersuchungsausschuss soll in dieser Legislaturperiode endlich Licht in die rechtsextremen Netzwerke bringen. Im ersten Jahr kam er bislang noch nicht weit, auch weil die Behörden mauern. Dass die Aufklärungsarbeit mit dem neuen Regierungsbündnis besser wird, darf getrost bezweifelt werden. Im Gegenteil: Es ist wohl ausgeschlossen, dass der Ausschuss nun noch Erkenntnisse produziert, die die ehemaligen Innensenatoren von CDU und SPD belasten.

Unterm Strich ist all das konservative Innenpolitik in Reinform. Kein Wunder also, dass die Gewerkschaft der Polizei jubiliert, dass sie für zahlreiche Weichenstellungen in dem Koalitionsvertrag verantwortlich sei.

SPD-Mitglieder haben es in der Hand

Dass die von der CDU vorangetriebene autoritäre Wende mit einer gehörigen Portion Rassismus garniert sein dürfte, darauf gab bereits die Debatte um die sogenannten Silvesterkrawalle Anfang des Jahres einen Vorgeschmack. Es würde leichter fallen, Wegners und Giffeys permanenten Bekenntnissen zur „bunten und vielfältigen Stadt“ Glauben zu schenken, wenn sie Probleme bei der Polizei wenigstens ansprechen würden. Oder wenn die neuen Befugnisse zumindest mit besserer Kontrolle der Sicherheitsbehörden einhergingen. Doch Pustekuchen.

Stattdessen schlägt die Berliner Datenschutzaufsicht seit Jahren wegen zahlreicher Datenschutzverstöße bei der Polizei Alarm. Weil sie diese bislang nur beanstanden, nicht aber – wie eigentlich von der EU vorgeschrieben – gegenüber der Polizei auch Anordnungen aussprechen darf, hat Brüssel inzwischen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Die Berliner GroKo will an dem offenkundigen Missstand offenbar nichts ändern. Stattdessen soll die Datenschutzbehörde zum „Servicedienstleister“ für die Verwaltung degradiert.

Bleibt die Frage: Wen will die SPD mit dieser Politik eigentlich überzeugen? Wer konservative Politik will, kann CDU wählen. Tatsächlich präferiert ein Großteil der Berliner SPD-Wähler:innen laut Umfragen ein Bündnis mit Grünen und Linken. Dafür ist es noch nicht zu spät. Es liegt jetzt bei den Mitgliedern der sozialdemokratischen Partei, das Desaster einer Großen Koalition in Berlin abzuwenden.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquelle :

Oben     —       Jährliche Demonstration des DGB zum ersten Mai in Berlin.

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Ackermanns Finanzen

Erstellt von Redaktion am 6. April 2023

Bankchef Josef Ackermann verstand seine eigenen Angebote nicht

Quelle      :        INFOsperber CH.

Urs P. Gasche /   

Es geht um systemrelevante, intransparente Wettgeschäfte in Billionenhöhe, über welche die Medien weitgehend schweigen. (Teil 2)

Wie andere Grossbanken war auch die gestrauchelte Credit Suisse auf undurchsichtigen «Dark Pool»-Handelsplätzen hyperaktiv oder versuchte computergesteuert innerhalb von Millisekunden hohe Gewinne zu erzielen und machte den Kunden und Pensionskassen in ganzseitigen Inseraten «Renditeoptimierungsprodukte» schmackhaft, beispielsweise mit dem unverständlichen Namen «Autocallable Barrier Reverse Convertibles».

Die Finanzindustrie hat die Finanzwelt in ein gigantisches Casino verwandelt, wo Milliarden-Gewinne locken. Man zockt und bereichert sich schamlos auf Kosten anderer – ohne Nutzen für die Volkswirtschaft.

Im «Worst case» können die Spekulanten auf eine Rettung durch Regierungen zählen. Das Risiko eines Crashs trägt die ganze Bevölkerung. 

Infosperber versucht, den Schleier etwas zu lüften. In einem ersten Teil deckten wir auf, dass die unregulierten Schattenbanken weltweit fast die Hälfte sämtlicher Finanzanlagen verwalten. Heute geht es um sogenannte Finanzprodukte, mit denen ohne Nutzen für die Volkswirtschaft spekuliert wird.

Josef Ackermann: «Es werden täglich neue Produkte kreiert. Ich muss mich auf mein Team verlassen»

Sogenannte Derivate sind Spekulationspapiere, deren Wert sich davon ableitet, wie sich die Kurse bestimmter Aktien entwickeln. Wie genau der Wert eines sogenannten «strukturierten Produkts» von den Börsenkursen seiner («Basis»)-Werte abhängt, bestimmen meist schwer durchschaubare mathematische Modelle.

Nur ein geringer Teil der Derivatgeschäfte taucht in den Bilanzen der Banken auf. Beispielsweise fehlen dort alle OTC-Geschäfte (Over the Counter = über den Tresen). Trotz der grossen Bedeutung solcher OTC- und Schattenbank-Geschäfte wissen deshalb weder die Aufsichtsbehörden noch die Notenbanken, wie gross ihr Umfang weltweit derzeit ist.

Finanzjournalistin und Buchautorin Myret Zaki schätzt, dass die gesamte Summe der kaum regulierten Spekulationsgeschäfte weltweit mindestens 150 Billionen Dollar betragen. Zaki warnte in der Sendung «Infrarouge» des Westschweizer Fernsehens: «Wenn die Zinsen weiter steigen, kracht dies alles zusammen, doch niemand interessiert sich dafür.»

In Schweizer Kundenkontos lagen Ende 2019 Derivate in Form von strukturierten Produkten mit einem Volumen von 198 Milliarden Franken (Quelle: Schweizerischen Nationalbank). «Die Schweiz ist mit einem Anlagevolumen von rund 200 Milliarden der weltweit grösste Markt für stukturierte Produkte», rühmten Mitte 2021 die Credit Suisse und der Lobby-Verband der «Strukis», wie man sie zärtlich nennt. Diese undurchsichtigen Spekulationsvehikel würden «viele Arbeitsplätze für Hochqualifizierte» schaffen und angeblich das Eigen- und Fremdkapital für Unternehmen erhöhen.

Als «Basiswerte» von strukturierten Produkten wählen die Mathematiker der Banken Aktien grosser Unternehmen. Ein Nutzen dieser Milliarden-Spekulationen mit Derivaten für diese Unternehmen und für die reale Wirtschaft ist nicht ersichtlich. Falls der Handel mit diesen Spekulationspapieren besteuert oder sonst eingeschränkt würde, «erwarten wir keine substanziellen Nachteile», meinte ein Novartis-Sprecher auf Anfrage. Die SwissRe nannte ebenfalls keine Nachteile: «Wir machen dazu keine Aussagen.» Nestlé wollte auch keine Nachteile für Nestlé erwähnen: «Wir überlassen die kompetente Antwort den Finanz- und Finanzmarktspezialisten.»

Finanzprofessor Marc Chesney warnte am 11. September 2018 in der NZZ:

«Ein Blick in die Schweiz zeigt, dass der Nominalwert der Derivate der Credit Suisse im Jahr 2017 einen Umfang von 28,9 Billionen Franken betrug. Damit waren diese ungefähr 36-mal so hoch wie ihre Bilanzsumme und 687-mal so hoch wie ihr Eigenkapital. Der Wert dieser Produkte entsprach etwa 43-mal dem BIP der Schweiz und etwas mehr als einem Drittel der Weltwirtschaftsleistung.
Der Nominalwert der Derivate der UBS betrug im gleichen Jahr 18,5 Billionen Franken und war 20-mal so gross wie ihre Bilanzsumme beziehungsweise 361-mal so hoch wie ihr Eigenkapital. Hiermit machte es 28-mal das Schweizer BIP und rund einen Viertel der Weltwirtschaftsleistung aus.
Das Derivatevolumen der Deutschen Bank zeigt ein ähnliches Bild. Es wies 2017 eine Höhe von 48,3 Billionen Euro auf. Dies entsprach 33-mal ihrem gesamten Vermögen und 708-mal ihrem Eigenkapital. Damit war es ungefähr 15-mal so gross wie das Deutsche BIP und machte etwa 67 Prozent der Weltwirtschaftsleistung aus.
Zwischen 2008 und 2018 hat sich der Schattenbankensektor stark entwickelt – wie zum Beispiel die Beteiligungsgesellschaft BlackRock, die ebenfalls «too big to fail» ist und ein Vermögen von mehr als 6 Billionen Dollar verwaltet. Dieser Sektor besitzt eine beunruhigende Macht.»

Derivate in Form von «strukturierten Produkten» sind weit verbreitet. Das Wetten mit ihnen hängt oft von so komplizierten und schwer durchschaubaren Bedingungen ab, dass Bankkunden sie nur schwer verstehen können. Manchmal gaukeln die Banken Produkte mit «100 Prozent Kapitalschutz» vor, obwohl es schon mehrfach zu absoluten Verlusten kam.

In der Schweiz beliebt sind fast unzählige Angebote mit Namen «Barrier-Reverse-Convertibles». Deren gute Noten der Rating-Agenturen seien «für die Kunden irreführend» und «eine echte Gefahr für Privatanleger, Pensionskassen und Gemeinden», warnte Marc Chesney, Finanzprofessor in Zürich. «Eigenartigerweise» würden die Aufsichtsbehörden dies zulassen.

Namhafte Beteiligte an diesen Geschäften der Schattenwirtschaft bezeichnen sich selber als «Investmentbanken». Man denkt an Investionen in Strassen, Schulen und Fabriken. Doch weit gefehlt. Mit mathematischen Modellen entwickeln sie komplexe Anlagepapiere, genannt «Produkte», darunter «strukturierte» Produkte, die Spekulationsgeschäften dienen, jedoch Sicherheit und «Renditeoptimierung» vorspiegeln.

Auf die Frage, ob er als Chef der Deutschen Bank verstanden habe, was die Deutsche Bank zu seiner Zeit da genau anbot und wie hoch die Risiken waren, antwortete Josef Ackermann Anfang 2022 in der NZZ:

«Bei dieser Komplexität der Materie muss sich ein Bankchef auf die Fachkompetenz eines starken Teams verlassen können. Es werden täglich neue Produkte kreiert.»

Selbst der oberste Bankchef versteht also nicht alle «Produkte», welche seine eigene Bank ihren Kunden anbietet. Ebenso wenig verstehen davon überforderte Aufsichtsbehörden oder Parlamentarier, die Bankgesetze beschliessen, oder Regierungen, die Verordnungen erlassen.

Es handelt sich fast immer um spekulative Termingeschäfte, also Wetten auf die Zukunft. Mit sogenannten «Swaps» (deutsch: Tausch) werden Geschäfte zu einem festgesetzten Preis mit Zahlung zu einem späteren Zeitpunkt vereinbart.

Die komplexen Derivate erlauben den «Investment»-Bankern, mit einem geringen Kapitaleinsatz hohe Gewinne abzuschöpfen. Diese rechtfertigen am Jahresende happige Boni.

Die Nominalwerte ihrer offenen Derivatgeschäfte müssen die Grossbanken in der Bilanz nicht einmal ausweisen. Das wird damit begründet, dass sich die Risiken netto ausgleichen würden. Es handle sich um ein «Nullsummen-Spiel», weil immer eine Seite gewinnt und die andere verliert. Nur: Wenn das Casino brennt, müssen die Steuerzahlenden die Zeche zahlen.

Wäre das Wett-Casino tatsächlich ein Nullsummen-Spiel, hätten sich die Risiken 1998 und 2008 tatsächlich gegenseitig neutralisiert und es wäre nicht zu den grossen weltweiten Finanzkrisen gekommen. Warren Buffett bezeichnete die Derivate-Instrumente der Finanzindustrie bereits in den Neunzigerjahren als «Massenvernichtungswaffen».

Das Beispiel Archegos

Auch beim Fall Archegos entpuppte sich das angebliche Netto-Null-Risiko als trügerische Hoffnung. Die Bilanz wies Fonds von 10 Milliarden aus, Archegos stand jedoch mit 50 Milliarden Dollar im Risiko. Zum Wetten mit Derivaten stellte die Credit Kundengelder und eigene Gelder der Archegos Capital Management zur Verfügung. Die CS soll der Archegos regelrecht Geld nachgeschmissen haben, «weil sie sich hohe Gebühreneinnahmen und Provisionen versprach», schrieb die NZZ. Das interne Risiko-Management der Grossbank versagte.

Das Geschäftsmodell von Archegos beruhte auf der Manipulation von Börsenkursen. Die Anklageschrift der New Yorker Staatsanwaltschaft beschrieb das Konstrukt wie folgt (redigiert):

«Archegos lieh sich über Derivate wie sogenannte Total-Return-Swaps viel Geld und kaufte damit riesige Mengen von lediglich etwa zehn verschiedenen Aktien. Diese grosse Nachfrage trieb die Kurse dieser Aktien massiv nach oben. Das führte zu nicht realisierten Gewinnen. Dank diesen verbuchten Gewinnen konnte sich Archegos von Banken wiederum sehr viel Geld ausleihen, mit dem wieder die gleichen Aktien gekauft wurden, was deren Wert weiter in die Höhe trieb.»

Bevor die Credit Suisse in diese riskanten Spekulationsgeschäfte investierte, hatte die Grossbank nicht einmal verlangt, dass Archegos seine weiteren finanziellen Verpflichtungen offenlege. Wirtschaftsjournalist Beat Schmid kommentierte am 2. Mai 2021 in der Sonntags-Zeitung: «Jeder Hausbesitzer und Unternehmer muss, bevor er einen Kredit erhält, offenlegen, bei wem er weitere Kredite am Laufen hat. Bei Archegos, das mit einem x-fach höheren Einsatz spekulierte, verlangten die Banken dies nicht.»

CDS oder Kreditausfallversicherungen

Zu casino-ähnlichen Wettgeschäften entartet sind auch Versicherungen gegen Kreditrisiken oder Währungsverluste. Die Käufe solcher Versicherungs-Zertifikate, genannt Credit Default Swaps CDS, erfüllen ihren Zweck dann, wenn sie ein tatsächlich eingegangenes Risiko gegen Verluste absichern. Kauft beispielsweise ein Investor Obligationen eines Unternehmens, kann er sich gegen einen Zahlungsausfall des Unternehmens absichern, indem er bei einem Finanzinstitut eine Kreditausfallversicherung abschliesst und ein CDS kauft. Der Preis hängt in der Regel von der Bewertung des Unternehmens durch Rating-Agenturen ab. Je unsicherer die finanziellen Aussichten des Unternehmens sind, desto höher steigt der Preis oder der Kurs des CDS.

Der Kurs der CDS steigt also, wenn es dem Unternehmen immer schlechter geht, weil dann eine Rückzahlung der Obligationen unsicherer wird. Die CDS kann man jederzeit kaufen und verkaufen.

Zur Zweckentfremdung kommt es, wenn man an der Börse CDS gegen Kursverluste von Obligationen kauft, ohne dass man Obligationen dieses Unternehmens besitzt. Man hat kein Geschäft abzusichern, sondern spekuliert einfach darauf, dass der der Kurs der Obligation fällt und der Preis der börsengehandelten CDS entsprechend steigt. Dann kann man die gekauften CDS viel teurer wieder verkaufen. Der Erwerb solcher «Versicherungs»zertifikate oder CDS dient dann ausschliesslich der Spekulation.

Chesney erläuterte diese Spekulation mit folgender Analogie:

«Niemand kann eine Autoversicherung abschliessen, ohne ein Auto zu besitzen […] Man kann auch keine zehn oder hundert Versicherungen für das Auto des Nachbarn abschliessen in der Hoffnung, dass er einen Unfall hat. Man hätte dann ein Interesse daran, das Auto des Nachbarn zu manipulieren! In der Finanzwelt aber ist es gang und gäbe, auf die Zahlungsunfähigkeit von Unternehmen, mit denen keinerlei Geschäftsbeziehungen bestehen, zu spekulieren und möglicherweise die Zahlungsunfähigkeit dann zu provozieren. Man wettet auf ihre Zahlungsunfähigkeit, ihren Erfolg oder ihre Rettung.»

Bekannt wurde, dass beispielsweise der frühere Goldman-Sachs-Manager Richard Perry im Jahr 2016 mit seinem Hedge-Funds Perry Capital für eine Milliarde Dollar solche Kreditausfallversicherungen kaufte und auf Pleiten von Unternehmen wettete. Das meldete «Business Insider».

Das Ausmass der Spekulationsgeschäfte mit diesen Vesicherungspolicen CDS ist gigantisch: Heute sichern über 90 Prozent aller gekauften CDS keine realen Geschäfte mehr ab, sondern sind reine Wettgeschäfte.

Der Preis eines CDS hängt davon ab, wie die Rating-Agenturen die «Bonität» des jeweiligen Versicherten zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses einschätzen. Und umgekehrt können Rating-Agenturen die «Bonität» herabsetzen, weil die Preise der CDS steigen.

Die spekulativen CDS können als gefährliche Brandbeschleuniger wirken.

Ein aktuelles Beispiel ist die Credit Suisse. Je tiefer der Kurs der CS-Aktien im Jahr 2022 fiel, desto stärker stiegen die Kurse der CDS. Steigende CDS-Kurse wie letztes Jahr bei der Credit Suisse gelten als Zeichen, dass die grossen Wett-Spekulanten nicht mehr an die Zukunft der Bank glauben oder jedenfalls auf deren Niedergang wetten. Die Bank verliert weiter an Bonität. Das hat zur Folge, dass sie bei der Ausgabe neuer Obligationen oder bei der Aufnahme von Krediten höhere Zinsen zahlen muss.

Ende November 2022 prophezeite Rainer Skierka, Banken-Analytiker bei Research Partners in der NZZ, der Kursanstieg der CDS sei für die CS «noch folgenschwerer als der Rückgang des Aktienkurses». Das war dann tatsächlich der Fall.

Niemand weiss allerdings, welche Finanzinstitute, Hedge-Fonds oder Beteiligungsgesellschaften wie BlackRock oder Vanguard auf eine Insolvenz der CS gewettet haben. Die Akteure bleiben im Dunkeln. Die parlamentarische Untersuchungskommission könnte versuchen, dies herauszufinden.

Mit «Killerinstinkt» gegen Unternehmen wetten

Wenn grosse Hedge-Funds auf den Konkurs eines Unternehmens wetten, können sie die Entwicklung entsprechend beeinflussen beziehungsweise manipulieren. Häufig platzieren sie selber dazu nützliche Beiträge in Medien oder bedienen Wirtschaftsjournalisten mit exklusiven «Insider»-Informationen, die dem Unternehmen schaden.

Auf ihren «Killerinstinkt» sei sie geradezu stolz, meinte Fahmi Quadir, Gründerin des New Yorker Hedge-Funds «Safkhet Capital». Das Setzen auf Kursstürze und Bankrotte von Unternehmen sei nützlich, um schwache Firmen aus dem Markt zu kippen. Beim Unternehmen «Valeant Pharmaceuticals» beispielsweise habe sie ein schlechtes und korruptes Management ausgemacht und dann zehn Prozent des Hedge-Fund-Kapitals eingesetzt, um mit Leerverkäufen* auf einen Kurszerfall bei Valeant zu wetten. Kurz darauf hätten die Valeant-Aktien 90 Prozent ihres Wertes verloren.

UBS zahlte wegen Manipulationen in Dark Pools 14 Millionen Dollar

Anfang 2015 verbreitete Reuters folgende Meldung: 

«Im Rahmen eines Vergleichs zahlt die UBS-Tochter UBS Securities 14,4 Millionen Dollar [Schadenersatz]. Den Market-Makers und Hochfrequenz-Handelsfirmen, welche die Dark Pools genutzt hätten, seien unerlaubterweise Vorteile zu günstigen Konditionen gewährt worden, erklärte die US-Wertpapieraufsicht SEC. Dark Pools sind ausserbörsliche Handelsplätze, an denen Investoren unbemerkt von Rest der Investoren grosse Aktienpakete kaufen oder verkaufen können.»

Lange bringt es grosse Gewinne – beim Absturz helfen Staat und Steuerzahlende

Hat das Wetten gegen die Zukunft eines Unternehmens Erfolg, machen Käufer von CDS ein hervorragendes Geschäft. Deshalb beteiligen sich an diesem lukrativen Geschäft alle grossen Finanzinstitute: Die Deutsche Bank (Derivatvolumen 2015: 75 Billionen Dollar!), JPMorgan, Goldman Sachs und mindestens bis zum Kollaps die Credit Suisse. Das genaue Ausmass des Engagements der Credit Suisse (und der UBS) müsste die parlamentarische Untersuchung aufdecken.

Finanzprofessor Marc Chesney hatte Anfang 2021 gegenüber Infosperber darauf hingewiesen, dass bei der Credit Suisse im Geschäftsjahr 2020 weniger als 1 Prozent der Nominalwerte aller Derivatgeschäfte das Kursrisiko eines Wertpapiers, eines Rohstoffes oder eines Wechselkurses absicherten. «Die restlichen 99 Prozent sind reine Wetten einer Casino-Finanzwirtschaft sowie Marktmanipulationen, die der Realwirtschaft keinen Nutzen, sondern nur Gefahren bringen. «Wer kann da noch glauben, die Situation sei unter Kontrolle?», fragte Chesney.

Regierungen und Parlamente schauen zu und übernehmen die Rettung

Falls es wie 1998 oder 2008 zu einer grösseren Krise oder einem Crash kommt, zählen die Spekulanten darauf, dass andere Banken oder der Staat einspringt. Im Jahr 2008 mussten mit der AIG die grösste Versicherungsgesellschaft der Welt sowie die US-Hypothekenbanken Fannie May und Freddy Macgerettet werden. Bei einem Bankrott der AIG wären CDS in Höhe von 440 Milliarden Dollar fällig geworden. Sie hätten das globale Finanzsystem finanziell aus den Angeln gehoben.

Da flog dann auch Peer ein

Die Jahre der tiefen Zinsen und Negativzinsen verschaffte der Finanzindustrie immer neues, billiges Geld. Doch die «Investmentbanken» stellten der Realwirtschaft nur wenig davon zur Verfügung. Sie verwöhnten zuerst die Aktionäre und schleusten den grössten Teil in die Spekulation, also in erster Linie in das Wettgeschäft mit Derivaten.

Trotz aller Versprechen, das Geschäft mit Derivaten im Dunkel der Schattenbanken stärker zu regulieren, hat kein einziges Land etwas unternommen. Im Gegenteil: Der Derivate-Sektor ist weiter stark gewachsen. Das ganze Finanz-Casino gefährdet unterdessen das globale Finanzsystem, den Wohlstand, die Demokratie und den Frieden mehr denn je.

Die Schweizer Finanzaufsichtsbehörde Finma gibt sich schweigsam. Auch auf Anfrage sagt sie beispielsweise nicht, welcher Anteil der Derivate in der Schweiz nicht über die Börse, sondern ausserbörslich in der Schattenwirtschaft gehandelt wird. Und zur Frage, welchen Nutzen beispielsweise der Handel mit ungedeckten, rein spekulativen CDS für die reale Wirtschaft hat, will sich die Finma auf Anfrage nicht äussern.

Abhilfe gegen dieses Zocken mit Derivaten und CDS brächte eine Mikrosteuer auf allen elelektronischen Transaktionen, also auch auf Käufen und Verkäufen dieser «Produkte».

*Spekulieren mit Leerverkäufen

Bei Leerverkäufen verkauft jemand zu einem festgelegten Preis auf einen späteren Zeitpunkt Aktien, die er noch gar nicht besitzt (Termingeschäft). Der Verkäufer setzt mit Leerverkäufen auf fallende Aktienkurse (er „shortet“ seine Position). In der Zeit bis zum vereinbarten Verkaufstermin muss der Leerverkäufer die Aktien kaufen. Das Geschäft geht schief, falls der Kurs der Aktie steigt.

Im Extremfall kann es vorkommen, dass viel mehr Aktien im Voraus verkauft werden als existieren. Das war beispielsweise beim US-Unternehmen Gamestop der Fall, die Computerspiele und Unterhaltungssoftware verkauft. Als der Aktienkurs aufgrund von Spekulationen von 20 Dollar am 12. Januar 2021 bis auf über 480 Dollar am 28. Januar 2021 emporschnellte, verkauften vor allem Hedge-Funds massenweise Gamestop-Aktien auf Termin, da sie fallende Kurse erwarteten und daraus Gewinne erzielen wollten. Schliesslich wurden 40 Prozent mehr Aktien leer verkauft als es überhaupt gab. Weil sich die Baisse-Spekulanten rechtzeitig mit Aktien eindecken mussten und es zu wenige gab, wären die Kurse in extreme Höhe geschnellt. Dazu kam es nicht, weil ein Online-Broker die Käufe stoppte. Es kam zu Verwerfungen. Gamestop schloss weltweit fast alle Läden und betreibt fast nur noch Online-Handel.

Die Wettgeschäfte mit den Gamestop-Aktien waren alle legal. «Es war die menschliche Gier, welche Anleger zu Gamestop zogen», meinte Werner Grundlehner, Börsenredaktor der NZZ.

Wie das Problem «ganz einfach zu lösen» wäre, sagte einer der es wissen muss. Multimilliardär Peter Peterffy, Mehrheitsaktionär von Interactive Brokers: «Die Regulatoren müssten für die Leerverkäufe nur die Margenvorschriften anzupassen – von bisher 50 Prozent hinterlegtem Eigenkapital auf 100 Prozent plus 1 Prozent von jedem zusätzlichen 1-Prozent-Anteil der bereits auf fallende Kurse gesetzte Papiere. Im Endeffekt wären immer genügend Sicherheiten vorhanden.»

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Grafikquellen        :

Oben      —       Relief “Ludwigs Erbe” by Peter Lenk, close to Zollhaus and tourist information, Hafenstraße 5, Ludwigshafen am Bodensee, Bodman-Ludwigshafen in Germany: Right-hand part of the triptych: Josef Ackermann

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KOLUMNE – NAFRICHTEN

Erstellt von Redaktion am 6. April 2023

KI zeigt wahres Gesicht der AfD

Congrès international fasciste de Montreux 1934 (caricature).jpg

Von Mohamed Amjahid

AfD-Politiker Norbert Kleinwächter hetzte mit KI-Bildern gegen Geflüchtete. Die Täuschung zeigt aber auch ungeschminkte Realität – die des Rassismus.

Dies ist die Geschichte eines Politikers der AfD mit lebhafter Fantasie. Er heißt Norbert Kleinwächter und ist immerhin stellvertretender Fraktionsvorsitzender im Bundestag. Norbert geht anscheinend mit der Zeit. Manchmal postet er auf Instagram Selfies von sich – so nah von seiner Fresse aufgenommen, dass man reflexhaft den Bildschirm etwas weiter von den eigenen Augen entfernen muss. Der moderne Norbert hat nun auch die künstliche Intelligenz für sich entdeckt. Auf seinem Instagram-Profil, wo sich eigentlich nicht so viele Use­r*in­nen verirren (sollten), tauchte also neben seiner AfD-Visage ein Bild von schreienden Männern auf.

Als Be­trach­te­r*in liest man sie als nordafrikanisch oder aus dem Nahen Osten stammend: Bärte, schwarze Haare, dunklerer Hautton. Sie sind wütend, ihre Augenbrauen sind zusammengezogen, eine Faust ist zu sehen. Unter der Szene steht in großen Lettern: „Nein zu noch mehr Flüchtlingen!“ In der Bildbeschreibung beruft sich der Norbert auf die Gewerkschaft der Polizei, die auf reiner Meinungsbasis mit mehr Geflüchteten in den kommenden Monaten rechnet und damit Stimmung macht. Da haben sich wohl zwei gefunden.

Schaut man genau hin, erkennt man schnell, dass an dem Bild von den Männern so einiges nicht stimmt: Die Proportionen in den Gesichtern sind komisch, die offenen Münder deformiert, die Haut der Männer wirkt unnatürlich metallisch, das Licht sehr künstlich. Mehrere User*innen, die sich mit künstlicher Intelligenz auskennen, entlarvten das Bild schnell als Fake. Auf Instagram verteidigt sich der Norbert daraufhin mit dem Satz: „Können Fakten Hetze sein?“ Man fragt sich halt nur, von welchen Fakten er da labert.

File:Keine AFD V1.svg

KI ganz ungeschminkt

Es liegt nahe, dass der Norbert die kostenlose Testversion der KI genutzt hat: Billige Hetze. Mehr braucht es auch nicht: Denn es ist davon auszugehen, dass viele Menschen im Netz keinen Unterschied zwischen realen und künstlich erzeugten Bildern machen. Vor allem die Adepten der AfD lassen sich, wie in den vergangenen Jahren auf sozialen Medien geschehen, gerne auf Fake News ein – wenn es ihr Weltbild bestätigt. Auf Pressenachfrage rechtfertigte die AfD Norberts Vorgehen. Auch andere Parteimitglieder nutzen gerne die KI für ihre faktenbefreite Hetze.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Caricature de R. Fuzier sur le congrès international fasciste de Montreux. Outre les fascistes italiens en chemise noire, on reconnaît un franciste français et un nazi allemand (en réalité, le parti d‘Hitler n’était pas représenté au congrès).

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Viel Lärm um Unklares

Erstellt von Redaktion am 5. April 2023

Als Chef von Israels Nationalgarde würde sich Ben-Gvir gern sehen.

Ein Debattenbeitrag von Joseph Croitoru

Dass der rechtsextreme Politiker das Kommando bekommt, ist aber unwahrscheinlich. Eine Verdoppelung der Grenzschutzeinheiten und zehntausend Freiwillige mit Kampferfahrung.

Eine „Nationalgarde“, wie sie sich der rechtsextreme Politiker und Minister Itamar Ben-Gvir für Israel wünscht, ist eigentlich auch schon vom Klang her für israelische Ohren fremd. Das israelische Militär heißt im Hebräischen „Armee zur Verteidigung Israels“, die Polizeikräfte nennen sich „Israels Polizei“. Mit einer Nationalgarde assoziiert man eher autoritäre Regime besonders in arabischen Staaten der Region. Der Hang zur expliziten Verwendung des Begriffs „national“ bei der Benennung staatlicher Organe kennzeichnet in Israel bekanntlich weit stärker die Rechte als die Linke.

Benjamin Netanjahus Parteifreund Ariel Scharon erhielt 1996 ein „Ministerium für nationale Infrastrukturen“ und Netanjahu rief drei Jahre später den „Rat für nationale Sicherheit“ ins Leben. Doch selbst in seiner langen Regierungszeit hielt sich die „Nationalisierung“ der Ministerien in Grenzen – es kam nur ein „Nationaler Minister für Digitales“ hinzu.

Bei der rechtsextremen Partei Die nationale Union begann Itamar Ben-Gvirs politische Karriere. Als Netanjahu ihn Ende 2022 in die Regierung holte, ließ sich Ben-Gvir zum „Minister für nationale Sicherheit“ erklären – zuvor hieß das Ressort „Innere Sicherheit“. Seine Par­tei­freun­d*in­nen von Otzma Yehudit (Jüdische Stärke) zeichnen für ähnlich lautende ministerielle Ressorts verantwortlich: „Siedlung und nationale Aufgaben“, „Negev, Galiläa und nationale Stärke“. Die nationalistische rhetorische Färbung ist ein unverkennbarer Wesenszug dieser Partei, und Ben-Gvir macht keinen Hehl daraus, dass er sich in der Rolle eines Oberbefehlshabers einer „Nationalgarde“ gefallen würde.

Allerdings verfügt der israelische Staat schon seit Juni 2022 über eine solche, sie trägt aber die Bezeichnung „Israelische Garde“. Mit ihrer Gründung folgten Ben-Gvirs Amtsvorgänger Omer Bar-Lev und der damalige Ministerpräsident Naftali Bennett einer dringenden Empfehlung hochrangiger Militärexperten, die mit Sorge beobachteten, dass die israelische Polizei bei der Bewältigung der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Juden im Mai 2021 besonders in den gemischten israelischen Städten völlig überfordert war.

Bennett und Bar-Lev entschieden sich in erster Linie für die Rekrutierung von Freiwilligen für die Grenzschutzeinheiten, die unter dem Kommando der israelischen Polizei stehen. Die Rede war von mehreren Tausend Personen; allerdings konnten nur rund 600 dafür gewonnen werden. Auch deshalb kündigten Ben-Gvir und der ihm unterstehende Polizeichef Kobi Schabtai auf einer Pressekonferenz im Januar nicht nur einen massiven Ausbau und eine weit bessere Bezahlung der Polizeikräfte an, die seit Jahren an einem immer dramatischeren Personalschwund leiden. Auch die Gründung einer „Nationalgarde“ wurde bekanntgegeben, die schon im Koalitionsvertrag zwischen Netanjahus Likud und Ben-Gvirs Partei vereinbart worden war. Damit dürfte die bereits im Aufbau befindliche „Israelische Garde“ – sie wurde auf der Pressekonferenz nicht einmal erwähnt – ad acta gelegt werden. Der auf der Pressekonferenz vorgestellte Plan der beiden sah eine Verdoppelung der Grenzschutzeinheiten sowie die Rekrutierung von zehntausend Freiwilligen mit Kampf­er­fah­rung vor. Ben-Gvir und Schabtai unterstrichen bei diesem Anlass, dass die Nationalgarde unter dem direkten Kommando von Schabtai in seiner Funktion als Polizeichef stehen würde – eine Antwort auf die öffentliche Kritik, dass der wegen Volksverhetzung und Unterstützung einer Terrororganisation verurteilte Ben Gvir sich eine „private Miliz“ zulegen wolle.

Israel Collective Punishment

Seit Januar war jedoch kaum etwas in der Sache geschehen. Nachdem Ben-Gvir als Gegenleistung für seine Zustimmung zur Verschiebung der umstrittenen Justizreform Netanjahu eine schriftliche Bestätigung für die Gründung der Nationalgarde abgerungen hatte, legte er am 29. März seinen Plan für die Garde vor. In dem dreiseitigen Papier wird das Organ nun als „Nationale Garde für Israel“ bezeichnet – darin findet die „Israelische Garde“ jetzt doch Erwähnung, wenngleich als unvollendetes Projekt. Ben-Gvirs Entwurf enthält kaum Konkretes zum Aufbau der Garde. Sie werde über „reguläre Kräfte und taktische Einheiten“ verfügen, die landesweit in Routine- wie in Notzeiten Terrorismus bekämpfen und die Kontrolle über die öffentliche Ordnung stärken sollen. Es soll auch die Möglichkeit geprüft werden, ob bestimmte Grenzschutzkräfte dem direkten Kommando der Garde unterstellt werden können.

Quelle           :             TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben          —      נשיא המדינה יצחק הרצוג, וראש הממשלה בנימין נתניהו, במרכז התמונה המסורתית במשכן הנשיא בירושלים לרגל השבעת ממשלת ישראל ה-37. יום חמישי, ה‘ טבת תשפ“ג, 29 בדצמבר 2022. קרדיט צילום: אבי אוחיון.

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Zu den Corona-Maßnahmen

Erstellt von Redaktion am 5. April 2023

Von falschen Versprechungen und Maßnahmen-Lockdown+Impf-Krise

Von Johannes Kreis

Die „naturwissenschaftliche Wirklichkeitskonstruktion“ des Grundgesetzes und die „Operationalisierung von Grundrechten“ nach Kersten/Rixen

Ich möchte im Zusammenhang mit der Corona-Maßnahmen-Lockdown-Impf-Krise auf die „naturwissenschaftliche Wirklichkeitskonstruktion“ des Grundgesetzes und die „Operationalisierung von Grundrechten“ nach Kersten/Rixen (2022) aufmerksam machen. Herr Rixen ist Mitglied im Deutschen Ethikrat.

  • Kersten, Rixen, „Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise“, C.H. Beck, 3. Aufl., 2022

Hier insbesondere Kapitel VIII, „Impfen“.

[Anmerkung:

Für Menschen wie Jens Kersten und Stephan Rixen ist das, was hier gesagt wird, nicht zugänglich oder verständlich. Es ist nicht Teil ihrer Wirklichkeit. Es existiert in der Welt dieser Herren nicht. Genauso wie es in der Welt vieler deutscher Gerichte nicht existiert.]

I. Die falschen Versprechen des PEI

Der blanke Unsinn, den Kersten/Rixen verbreiten, ist gefährlich. Darauf wird weiter unten detailliert eingegangen. Er ist Teil dieser „selbstverständlichen Wissenschaft“,  die in unerhörter Selbstanmaßung  vorher undenkbare“, beschleunigte Zulassungsverfahren (PEI) für COVID-19 Impfstoffe versprochen hat, mit fürchterlichen Folgen.

Warum können COVID-19-Impfstoffe so schnell zugelassen werden und zugleich sicher sein?

Die Entwicklung von Impfstoffen gegen neue Erreger ist ein komplexer und langwieriger Prozess, der meist mehrere Jahre beansprucht.“

Diese Erkenntnis hat alle an der Impfstoffentwicklung beteiligten Expertinnen und Experten bewogen, die Zusammenarbeit enger und die Prozesse effizienter zu gestalten, ohne Abstriche bei der Sorgfalt zu machen. Dies hat auch zu deutlichen Optimierungen der Verfahrensabläufe und einem Zeitgewinn bei der Entwicklung geführt.

#1 Zeitgewinn durch Wissenschaftliche Beratung

#2 Zeitgewinn durch Rolling Review

#3 Zeitgewinn durch Kombination von klinischen Prüfungsphasen

#4 Zeitgewinn durch Forschungswissen zu Coronaviren

Die neuen Verfahren zur Zulassung von COVID-19 Impfstoffen waren auf Zeitgewinn hin optimiert, weil es schnell gehen sollte. Die Kombination von klinischen Prüfungsphasen umfasst dabei das Ineinanderschieben von Prüfungsphasen („Teleskopierung“), bei dem die nächste Phase schon anfängt, bevor die vorangehende Phase abgeschlossen ist. Das PEI verspricht, dass keine Phase ausgelassen worden ist, vgl. ebenda.

Können einzelne Phasen der Impfstoffentwicklung ausgelassen werden?

Nein.

Die Entwicklung und Herstellung von sicheren und wirksamen Impfstoffen ist hochkomplex. In der EU und damit auch in Deutschland standen uns ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie – vorher undenkbar – bereits drei wirksame und sichere Impfstoffe gegen COVID-19 zur Verfügung. Sie alle haben den regulären Weg der Impfstoffzulassung in kurzer Zeit durchlaufen, ohne wichtige Entwicklungsphasen auszulassen – ganz zentral hierbei ist die klinische Prüfung auf Sicherheit und Wirksamkeit. Diese umfassende Prüfung ist wichtig – schließlich werden Impfstoffe gesunden Menschen verabreicht.“

Das PEI spricht von einer Entwicklungs- und Zulassungsgeschwindigkeit, die „vorher undenkbar“ war. Warum war das „vorher undenkbar“, wenn eine solche Beschleunigung der Entwicklung und Zulassung so einfach und ohne Abstriche bei der Sicherheit zu bewerkstelligen ist?

Interessanterweise wird kaum noch geimpft, siehe Impfdashboard der Bundesregierung,

Aber die Variantenentwicklung von SARS-CoV2 Viren ist unverändert weitergegangen. Denn die Variantenbildung bei Viren ist das Naturgesetz. Sie ist Teil der Evolutionsmaschine Natur. Und die Katastrophe bleibt aus.

Neben der Beschleunigung der Zulassungsverfahren durch „Teleskopierung“ verkürzte man die Testdauern. Gleichzeitig, und das darf nicht vergessen werden, hat man die Studien zur Arzneimittelsicherheit frühzeitig  geöffnet („unblinded“). D.h. man hat aus „ethischen Gründen“ der Placebogruppe die Impfsubstanzen angeboten. Damit gab es keine Vergleichsgruppen mehr. Langfristige Nebenwirkungen waren so nicht mehr erkennbar.

Die ungeheure Anmaßung der Wissenschaft (im wesentlichen Landesbeamte und Bundesbeamte), dass man diesen beschleunigten Prozess beherrschen würde, weil man soviel wüßte, ist zentraler Bestandteil der „naturwissenschaftsfreundlichen – Wirklichkeitskonstruktion“  des Grundgesetzes, was Kersten/Rixen vollkommen übersehen, siehe unten. Anscheinend verzeiht das Grundgesetz jede wissenschaftliche Anmaßung.

II. Ein Dokument der Zeitgeschichte

Diese jeden Zweifel erstickende  „Sofort“-Wissenschaft, die so selbstverständlich scheint, kommt auch in der gemeinsamen Stellungnahme der Präsidenten der außeruniversitären Forschungsorganisationen zu COVID-19 von Oktober 2020 zum Ausdruck. Dieses Dokument der Zeitgeschichte trägt die eigenhändige Unterschrift von 6 Präsidentinnen und Präsidenten der außeruniversitären Forschungsorganisationen in Deutschland. Das ist die crème de la crème der deutschen Forschung. Das ist, wo das große Geld sitzt. Mehr Wissenschaft geht in Deutschland nicht.

  • Presseerklärung zur gemeinsame Erklärung der Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Präsidenten von Fraunhofer-GesellschaftHelmholtz-GemeinschaftLeibniz-GemeinschaftMax-Planck-Gesellschaft und Nationaler Akademie der Wissenschaften Leopoldina, „Wissenschaftsorganisationen zur Coronavirus-Pandemie: Die Situation ist ernst“ , Max Planck Gesellschaft, 27. Oktober 2020https://www.mpg.de/15947053/stellungnahme-coronavirus-pandemie-die-situation-ist-ernst

Mit Verlinkung auf die Erklärung,

  • Gemeinsame Erklärung der Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Präsidenten von Fraunhofer-GesellschaftHelmholtz-GemeinschaftLeibniz-GemeinschaftMax-Planck-Gesellschaft und Nationaler Akademie der Wissenschaften Leopoldina, „Wissenschaftsorganisationen zur Coronavirus-Pandemie: Die Situation ist ernst“, Max Planck Gesellschaft, https://www.mpg.de/15953757/gemeinsame-erklaerung-zur-coronavirus-pandemie.pdf

Bemerkenswert ist, dass diese gemeinsame Stellungnahme auf einer mathematischen Modellierung beruht. Wer erinnert sich nicht an das weiterhin im Experiment nicht zu beobachtende Phänomen des „exponentiellen Wachstums“ der (medizinisch nicht relevanten) Testzahlen?

Auf der Webseite befindet sich auch eine Verlinkung zu der mathematischen Analyse der Datenlage von Viola Priesemann,

Objektiv betrachtet war die gemeinsame Erklärung eine reine Mutmaßung, so wie die gesamte mathematische Modellierung reine Mutmaßung war. Die prognostizierte Katastrophe ist nicht eingetreten, nicht einmal annähernd, auch nicht in 2020. Im Grund haben diese 6 Präsidenten und Präsidentinnen damals nichts gewußt, und sie wissen heute immer noch nichts. Das Nicht-Wissen wird ersetzt durch eine gemeinsame Erklärung. Jedoch eine Konsensmeinung ersetzt nicht die wissenschaftliche Erkenntnis.

Doch die deutsche Wissenschaftselite der Besoldungsstufe W2 bis W4 bescheinigt sich selbst größte Objektivität und Wissenschaftlichkeit. Dies kann man aktuell in den Wiener Thesen zur wissenschaftsbasierten Beratung von Politik und Gesellschaft der Leopoldina nachlesen. Der Präsident der Leopoldina war Mitunterzeichner der gemeinsamen Erklärung. In einer unglaublichen Selbstbeweihräucherung lobt man die eigene Leistungsfähigkeit und blendet die unzähligen falschen Hypothesen und Ansätze schamlos aus.

„Ohne Wissenschaft wüssten wir nicht, was die „seltsame Lungenkrankheit“ verursacht, hätten wir nicht in kurzer Zeit Impfstoffe und wirkungsvolle Medikamente entwickelt. Ohne Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse gäbe es auch keine zielgerichtete öffentliche Diskussion über notwendige Maßnahmen und für die Politik keine Möglichkeit, evidenzbasiert zu entscheiden. 

Die Pandemie hat die Leistungsfähigkeit der Wissenschaft eindrucksvoll unter Beweis gestellt.“

Von dieser Seite ist keine kritische Auseinandersetzung mit den „vorher undenkbaren“, beschleunigten Zulassungsverfahren für neuartige Impfstoffe und Medikamente zu erwarten. In diesen Thesen geht es unverhohlen um einen Machtanspruch, nämlich entscheiden zu dürfen, wer Expertise hat und in den Beratungsgremien der Politik sitzen darf, wer zu einem aktuellen Problem gehört wird und wer nicht. Vgl. ebenda,

Wissenschaftsakademien wissen, wer wirklich Expertise hat

Wissenschaftsakademien versammeln als Gelehrtengesellschaften die „klügsten Köpfe“ aus Wissenschaft und Forschung und haben Zugriff auf das aktuellste und bestgesicherte Wissen. Sie sind daher eine glaubwürdige Informationsquelle, gerade auch dann, wenn es um die Einrichtung und Besetzung von Beratungsgremien geht. Aufgrund ihrer Unabhängigkeit und ihres fachlichen Überblicks können Akademien rasch und zuverlässig erklären, wer die maßgeblichen Personen mit entsprechender Kompetenz in einem bestimmten Themenfeld sind.“

Nicht die Daten sind entscheidend, nicht das Experiment, sondern die „maßgeblichen Personen“. Dieses falsche Grundverständnis von Wissenschaft entzieht einer rationalen, am wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn orientierten Diskussion jeden Boden. Denn, wer die falsche Auffassung vertritt, der wird nicht zur Diskussion zugelassen.

Dieses falsche Verständnis von Wissenschaft überträgt sich auf den Rest der Gesellschaft und damit auch auf die Rechtswissenschaft und in die Gerichtssäle. Dort operiert man leichtfertig und sorglos mit „abstrakt-generellen Nutzen-Risiko Abwägungen“ von hier „maßgeblichen“ Organisationen.  Was soll schon passieren, die „maßgeblichen Personen“ sagen es ja.

Die deutsche Wissenschaftselite hat sich eine eigene Wirklichkeit geschaffen. Die Worte stehen nicht mehr für tatsächliche Ereignisse oder physikalische Objekte, sondern sie stehen für sich selbst tragende Wirklichkeitskonstrukte, ohne Bezug zur Realität. Die wissenschaftliche Hypothese wird zur Wirklichkeit, auch wenn man keinerlei Belege hat. Wichtig ist nur, dass man sie häufig genug behauptet, dass genügend viele sie wiederholen und dass alle kritischen Stimmen unterdrückt sind.

Wenn alle kritischen Stimmen verstummt sind, dann muß doch die einzige im Raum verbleibende Behauptung die richtige sein, so die Annahme.

III. Die wirren Ideen der Herren Kersten und Rixen

Kommen wir damit zu den wirren Ideen von Jens Kersten und Stephan Rixen, die von vielen anderen Juristen geteilt werden. In vollkommener Verkennung, was Naturwissenschaft bedeutet, und in nahezu einmaliger Naivität hat man sich den Bären von der „allwissenden Wissenschaft“ aufbinden lassen, die sich nur noch um einige wenige, offene Detailfragen zu kümmern hätte.

  • Kersten, Rixen, „Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise“, C.H. Beck, 3. Aufl., 2022

Schauen wir hier insbesondere auf Kapitel VIII.3, zu der „Impfverweigerung“. Dort lesen wir eingangs,

„Wer das Vorhandensein virologischer Bedingungszusammenhänge in Abrede stellt oder die Wirksamkeit des Impfens prinzipiell leugnet, stellt die naturwissenschaftsfreundliche Wirklichkeitskonstruktion in Frage, die dem Grundgesetz zugrunde liegt.“

Dem Grundgesetz liegt sicherlich eine „naturwissenschaftsfreundliche Wirklichkeitskonstruktion“ zugrunde. Die Erkenntnis des Menschen ist begrenzt und ganz offensichtlich kann sich der Mensch der Wirklichkeit in seiner Erkenntnis nur annähern. Aber sollte das den kritisch denkenden Juristen nicht zur Vorsicht mahnen, gerade wenn die deutsche Wissenschaftselite sich selbst so über den grünen Klee lobt?

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Es ist eine objektive Tatsache, dass es Jahre gegeben hat, in denen die Effektivität der Grippeschutzimpfung negativ gewesen ist, d.h. die Geimpften erkrankten häufiger an der Grippe als die Ungeimpften. Wo findet diese Tatsache Platz in der Wirklichkeitskonstruktion von Kersten/Rixen?

„Dagegen bestand gegen eine Infektion mit Influenza-A(H3N2) gar kein Schutz. Die Effektivität fiel mit -28 Prozent sogar negativ aus, was ein tendenziell höheres Erkrankungsrisiko für Geimpfte vermuten lässt.“

Und bei der Grippe sprechen wir von bekannten Impfstoffen, die seit Jahrzehnten untersucht sind, und nicht von neuartigen Gen-Impfstoffen, zu deren Wirkmechanismus nur Mutmaßungen existieren.

Es folgt dann bei Kersten/Rixen eine Aufzählung von Themenbereiche, die gemäß Grundgesetz der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes zugewiesen sind, z.B. die Flugsicherung oder die Atomkraft, in der irrigen Annahme, dass damit per se eine grundgesetzliche Wertung zu dem naturwissenschaftlichen Inhalt dieser Themen verbunden sei. Dabei werden Kritiker von Kersten/Rixen ganz nebenbei als „Schwerkraftleugner“ gekennzeichnet.

Vgl. ebenda,

„Wer den Flugverkehr regelt, sollte nicht an der Schwerkraft zweifeln. Ein Gesetz, das anordnet „Die Schwerkraft ist verboten“ wäre in etwa so sinnvoll wie ein Gesetz, das der Sonne verbietet, Licht zu spenden.“.

Auf dieser Ebene wird sicherlich jeder zustimmen, aber nehmen wir das Beispiel Atomkraft von Kersten/Rixen. Jeder der Zeitung liest weiß, dass derzeit in Deutschland die Atomkraftwerke abgeschaltet werden, während in Frankreich, indirekt über die EU auch von Deutschland finanziert, neue Atomkraftwerke gebaut werden. Ist die Wirklichkeitskonstruktion in Frankreich eine andere als in Deutschland?

Weiter heißt es bei Kersten/Rixen zu den Kritikern des Corona-Wahns,

„Niemandem kann z.B. verboten werden zu glauben, die Erde sei eine Scheibe. Allerdings gibt es keinen grundrechtlichen Anspruch darauf, dass Staat und Gesellschaft den eigenen, naturwissenschaftsskeptischen Blick auf die Welt zum allein maßgeblichen Blick erklären.“

Es gibt Schwerkraft und die Erde ist keine Scheibe. Welche molekularbiologische Theorie oder Hypothese wäre damit bewiesen?  Oder soll man es so lesen, dass sich der Kenntnisstand in der Virologie auf dem Stand der Wissenschaft im antiken Griechenland befindet, als Aristoteles beobachtete, dass die Erde einen kreisförmigen Schatten auf den Mond wirft und daraus schloß, dass die Erde eine Kugel sei?

Dass es berechtigte, sogar zwingende Kritik z.B. an der Maskenpflicht oder an den neuartigen Impfstoffen gibt, ist in der Welt der Herren Kersten und Rixen schlicht nicht vorstellbar. Sie teilen diese augenscheinliche Unfähigkeit mit dem größeren Teil der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.

Auf diesem Niveau ist jede inhaltliche Diskussion von vornherein ausgeschlossen. Und das ist wohl auch der tatsächliche Zweck dieser Diffamierung. Die Verweigerung der inhaltlichen Auseinandersetzung ist das Machtinstrument. Es kann(!) nichts Vernünftiges gegen eine Maskenflicht gesagt werden, so der Trick, deshalb muß dazu auch nicht gesprochen werden. Die Verabsolutierung einzelner Wahrheiten und die Verweigerung der Diskussion dazu ist der Kern dieses diktatorischen Gedankengutes.

Wenn man den Sachverhalt auf der Ebene von „die Erde ist keine Scheibe“ oder „es gibt Schwerkraft“ beschreibt, dann macht eine juristische Bewertung des Sachverhaltes gar keinen Sinn. Es ist in höchstem Maße erstaunlich, dass deutschen Vorzeige-Staatsrechtlern dies nicht auffällt.

Die weiteren Ausführungen von Kersten/Rixen zur „Impfverweigerung“ hängen so, wie schon die einleitende „naturwissenschaftliche Wirklichkeitskonstruktion“ des Grundgesetzes vollkommen in der Luft. Denn die ernsthafte Überprüfung dieser Wirklichkeitskonstruktion wird verweigert.

Fragen, z.B. nach der Sicherheit der Impfstoffe, werden von den beiden Juristen, trotz „vorher undenkbarer“ Teleskopverfahren bei der Zulassung, zur „Identitätsfrage“ erklärt, bei der sich eine unsachliche und irrationale Minderheit der „Vernunft der Mehrheit“ verschließt. Vgl. ebenda,

„Es geht um eine Identitätsfrage, die das Selbstverständnis der Person in einem politischen Gemeinwesen fundamental berührt. Ein um die Menschenrechte – die im Kern Minderheitenschutz sind – angeordneter Verfassungsstaat muss sich zu dem Faktum verhalten, dass es Minderheiten gibt, die sich der Vernunft der Mehrheit verschließen, und zwar auch bei Gesundheitsfragen.“

Die Mehrheit, zu der zufällig die Herren Kersten und Rixen gehören, ist vernünftig, und für die unvernünftige Minderheit bedarf es keines Minderheitenschutzes, denn wenn sie „vernünftig“ wäre, wäre sie nicht die Minderheit. Es ist bemerkenswert mit welch Simpelton-Argumenten die deutsche Juristenelite aufwartet.

Hier zeichnet sich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft ab, die sich in „Vernünftige“ und „Unvernünftige“ teilt, was nicht zu diskutieren ist, denn mit „Unvernünftigen“ kann man nicht reden. Gerade vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte mahnen solche Einteilungen zu äußerster Vorsicht.

Es ist noch nicht so lange her, dass deutsche Staatsanwälte für den Diebstahl von zwei Scheiben Brot die Todesstrafe gefordert und auch bekommen haben, teilweise in der von der Staatsanwaltschaft dazu eingelegten Revision.

Wie weit sind einzelne Mitglieder der deutschen Juristerei von den Kommentatoren der Nürnberger Rassegesetze entfernt? Hat man seinerzeit den Kritikern der Nürnberger Rassegesetze vorgeworfen, die Erde für eine Scheibe zu halten und die Wissenschaft des Instituts für Rassekunde der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu leugnen? Waren diese Kritiker Rassegesetz-Leugner?

Wer fühlt sich bei einigen juristischen Ausführungen aus den letzten 3 Jahren nicht an Karl Larenz erinnert, der dem Nicht-Deutschen die Rechtsfähigkeit absprach?

„Larenz befürwortete die umfassende Einflussnahme der Staatsführung auf privatrechtliche Vereinbarungen. Bezeichnend in diesem Sinne ist seine Neudefinition der Rechtsfähigkeit: „Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist; Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist. Dieser Satz könnte an Stelle des die Rechtsfähigkeit ‚jedes Menschen‘ aussprechenden § 1 BGB an die Spitze unserer Rechtsordnung gestellt werden.“

Wie übersetzt man das in juristischen Neusprech, „Rechtsgenosse ist nur, wer geimpften Blutes ist“?

Tribute to White Power

Nicht nur Kersten und Rixen ziehen extremste Positionen, z.B. die Erde sei eine Scheibe oder es gäbe keine Schwerkraft, heran, um einen Kontext zu schaffen, der valide Argumente diskreditiert. Das ist analog dem Vorgehen von Spiegel TV, die seit 3 Jahren in kurzen Ausschnitten scheinbare Sonderlinge auf Demonstrationen zeigen, um implizit den Teilnehmern der Demonstration den Status von Sonderlingen und Aluhutträgern zuschreiben zu können.

Es fehlt nicht nur an jeder Bereitschaft, sich ernsthaft mit den vielen offenen Fragen der Virologie auseinanderzusetzen. Es ist auch die Frage zu beantworten, wo sich diese Zurschaustellung von Menschen von der fürchterlichen Propaganda zur „Gefährdung der Volksgesundheit“ in der jüngeren deutschen Geschichte unterscheidet?

Sollte man Kersten, Rixen und den viele andere Infektionsschutzrechtsexperten ihren Tunnelblick auf die Wissenschaft nachsehen, weil sie ihr Unwissen nicht zu vertreten haben? Auch wenn es naiv anmutet, zu unterstellen, man könne die 10 – 15 Jahre Entwicklungszeit für Impfstoffe ohne weiteres auf 6 Monate teleskopieren, oder die Maskenpflicht hätte selektiv zum Ausfall nur der Grippewellen geführt. Die hier gestellten Fragen existieren in der Welt der meisten Juristen nicht. Sie leben in einem „naturwissenschaftlichen Wirklichkeitskonstrukt“, in dem die Wissenschaft alles weiß und sich daher jede kritische Frage verbietet. Sie können, genau wie die deutsche ordentliche Gerichtsbarkeit das nicht erkennen, was es in ihrer Welt nicht gibt. Die „maßgeblichen Personen“ der Leopoldina, siehe oben, haben doch gesagt, dass alles richtig ist.

Aber, die selektive Wahrnehmung in diesen Kreisen umfasst bemerkenswerterweise nicht nur naturwissenschaftliche Fragen, sondern auch Fragen der Rechtswissenschaft, die um einige dieser Fragen einen allzu offensichtlichen Bogen macht.

So stellt in einem Buch zum Infektionsschutzrecht, an dem Herr Rixen mitgearbeitet hat, ein illustrer Kreis von mutmaßlich Rechtskundigen zwar fest, dass die Bundesregierung schon im April 2020 das Haftungsrisiko der Impfstoffhersteller per Rechtsverordnung verringert hat, siehe,

  • Kluckert (Hrsg.), „Das neue Infektionsschutzrecht“, Nomos, 2. Auflage. 2021

Und dort,  §7 Medizinprodukte und die epidemische Lage von nationaler Tragweite Rn. 51

„Eine erste Maßnahme ist auf Grundlage von § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 lit. a und lit. b IfSG bereits getroffen worden: Das BMG erließ am 8.4.2020 die „Verordnung zur Beschaffung von Medizinprodukten und persönlicher Schutzausrüstung bei der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Epidemie.“ Durch diese Verordnung befreite die Bundesregierung deutsche Unternehmen, die auf internationalen Märkten tätig sind und als Vertragspartner der Bundesregierung die aktuell dringend benötigte persönliche Schutzausrüstung und Medizinprodukte beschaffen, von dem damit normalerweise verbundenen Haftungsrisiko.“

Aber niemand aus dem Kreis dieser Rechtsexperten, unter anderem Rechtsanwälte des Deutschen Hausärzteverbandes und des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI), kann die Frage beantworten, warum eine Verminderung des Haftungsrisikos die Versorgung mit Arzneimitteln sicherstellt?

Was ist denn hier die innere Logik? Es soll schnell gehen, deshalb kann es Probleme geben. Wenn es aber Probleme gibt, dann wollen wir keine Haftung haben?

Es ist sehr plausibel, gerade im Hinblick auf die normalerweise 10 -15 Jahre Entwicklungszeit für Impfstoffe, die man in 6 Monate „teleskopiert“ hat, dass man sich der Risiken bewußt gewesen ist und gerade deshalb das Haftungsrisiko der Hersteller vermindert hat. An dem Risiko des Bürgers, schwere Impfnebenwirkungen zu erleiden, hat das nichts geändert.

Der illustre Kreis von Infektionsschutzrechtexperten umfasst neben Prof. Dr. Sebastian Kluckert von der Universität Wuppertal,

Dr. Peter Bachmann, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, München

Nicole Böck, Rechtsanwältin, München

Andreas Fleischfresser, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht, Köln

Prof. Dr. Ulrich M. Gassner, Mag. rer. publ., M. Jur., Universität Augsburg

Dr. Kerstin Sabina Heidenreich, GKV-Spitzenverband, Berlin

Prof. Dr. Marcel Kau, LL.M., Universität Konstanz

Dr. Martin Krasney, Rechtsanwalt, GKV-Spitzenverband, Berlin

Dr. Felix Lubrich, GKV-Spitzenverband, Berlin

Dr. Klaus Ritgen, Deutscher Landkreistag, Berlin

Prof. Dr. Stephan Rixen, Universität Bayreuth

Dr. Joachim Rung, Rechtsanwalt, München

Prof. Dr. Nils Schaks, Universität Mannheim

Dr. Marc Schüffner, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Berlin

Joachim Schütz, Deutscher Hausärzteverband, Köln

Prof. Dr. Felipe Temming, LL.M., Universität Hannover

Prof. Dr. Michael Tsambikakis, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht und Fachanwalt für Medizinrecht, Köln

Ulf Zumdick, Rechtsanwalt, Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) e.V., Berlin.

Wenn die neuen, „vorher undenkbaren“ Zulassungsverfahren doch sicher waren, wie das PEI versprochen hat, was hatten die Hersteller dann zu befürchten? Warum sollte dann ein über das normale Maß hinausgehendes Haftungsrisiko bestanden haben?

Die Mehrheit der deutschen Rechtstechniker verschließt sich weiterhin der ganz zentralen Frage, wie eine Verminderung des Haftungsrisikos (u.a. durch Aufhebung der Beweislastumkehr des §84 Abs. 2 S. 1 AMG)  zur Sicherstellung der Arzneimittelversorgung beiträgt? Kein einziger der deutschen Vorzeige-Staatsrechtler hat sich bislang öffentlich dieser Frage gestellt.

Und diese Leute wollen den Bürger belehren, was der Stand der Wissenschaft sei? Indem die entscheidenden Fragestellungen ausgespart werden?

In der irrigen und verqueren Welt von Kersten, Rixen & Co bilden die Grundrechte nicht mehr die Grenzmarken innerhalb derer sich die Staatsgewalt bewegen darf. Sondern, es ist die Staatsgewalt, die die Grundrechte nach Bedarf „operationalisiert“. Vgl. Kersten/Rixen (2022),

 „Hierin zeigt sich ein spezifisch juristischer Umgang mit Grundrechten, ein spezifisch juristischer Denkstil der Operationalisierung, der prinzipienhaft-offen angelegte, ja bekenntnishaft-vage formulierte Grundrechtstexte in alltagstauglich-konkrete Handlungsdirektiven für den Staat umformuliert.“

Damit stellt man die Grundrechte effektiv zur Disposition, während man gleichzeitig jeden Kritiker der Exekutivorgane RKI und PEI als “unvernünftig“ diffamiert, und  dem Kritiker aufgrund seiner „Unvernunft“ den Minderheitenschutz abspricht.

Grundrechte werden bewußt vage gehalten, damit sie der Staat bedarfsgerecht operationalisieren kann. Ist die Aufhebung des §84 Arzneimittelgesetz (AMG) und damit der Wegfall der Beweislastumkehr für den Geschädigten zur Verminderung des Haftungsrisikos der Arzneimittelhersteller, eine solche Operationalisierung des Art 2. Abs. 2 Grundgesetz (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit)?

Gleichzeitig sprechen Kersten/Rixen erfahrenen Ärzte, Molekularbiologen, Epidemiologen und Statistikern die Kompetenz ab und degradieren nach wissenschaftliche Standards verfasste, aber eben der verordneten Einheitsmeinung widersprechende Untersuchungen zu Google-Recherchen und Facebook-Posts, vgl. ebenda,

„Eine Gesellschaft, die dem Grunde nach völlig zu Recht um die Idee der Selbstbestimmung zentriert ist, muss damit fertig werden, dass nicht wenige Menschen Selbstbestimmung als Lizenz zum rechtfertigungsfreien Eigensinn missverstehen. Sie halten deshalb ihre per Google-Recherche und Facebook-Posts gebildete Meinung für Fachkompetenz und wehren tatsächliche Fachkompetenz beleidigt als expertokratische Übergriffigkeit ab, […]“

Nachdem wir im Bundestag gelernt haben, dass es ein “vulgäres Verständnis von Freiheit“ gibt (Helge Lindh (SPD) am 26. Januar 2022 im Deutschen Bundestag), lernen wir jetzt, dass es sich bei dem grundgesetzlich verbürgten Recht auf Selbstbestimmung tatsächlich um „rechtfertigungsfreien Eigensinn“ handelt.

Kersten/Rixen betrachten ihre Ausführungen als gerechtfertigte Kritik. Und sie fühlen sich  mißverstanden, wenn ihr Diktum, was das „maßgebliche Wissen“ sei, als „Abwertung des Subjektes“ mißdeutet wird. Vgl. ebenda,

„Angetrieben von einer Art Recht auf epistemische Selbstbestimmung, […], verwandelt sich die wissenssoziologisch zentrale Frage, was warum maßgebliches Wissen ist, in ein Wertschätzungsproblem, denn die Ablehnung von Thesen, die mit gängigen Rationalitäts- und Realitätsvorstellungen nicht vereinbar sind, gilt schnell als Abwertung des Subjekts, das sie vertritt.“

Ja, liebe Kritiker, ihr habt alle keine Ahnung, aber nein, nehmt das doch bitte nicht persönlich. Eure Beiträge kollidieren leider mit „gängigen Rationalitäts- und Realitätsvorstellungen“ und wir, die Profis, erklären auch, was die Realität ist. Die schweren Impfschäden, bis zum Tod, über die sogar im ÖRR berichtet wurde, sind wohl nicht Teil dieser „gängigen Rationalitäts- und Realitätsvorstellungen“.

Den Kritikern werfen Kersten/Rixen vor, dass sie lediglich den „Sound akademischer Kritik“ imitierten.

„Aber der kritische Gehalt von Äußerungen, die sich in Verdächtigungen und Verschwörungen ergehen und dafür die subjektive Evidenz des völlig entsicherten Vorurteils genügen lassen, ist ersichtlich nur vorgeschoben. Wut, Hass und Ressentiment werden nicht dadurch satisfaktionsfähig, dass Wissenschaftler/innen sie im Sound akademischer Kritik präsentieren.“

Dabei zitieren sie Hannah Arendt für ihre Zwecke. Dem wohnt schon eine gewisse Perfidie inne.

Zwar haben Kersten/Rixen verstanden, wie der Mechanismus der „alternativlosen“ Politik auf Basis „wissenschaftlicher“ Mutmaßungen funktioniert. Aber sie übersehen, dass das nur deshalb möglich war, weil die Politik, medial verstärkt, jede Alternative ausgeblendet hat.

„Kritisch ist aber schon zu fragen, ob der politische Betrieb, der sich so sehr auf die naturwissenschaftliche Beratung bezogen hat, die Deutungsanfälligkeit vieler (natur)wissenschaftlicher Thesen womöglich aus taktischen Gründen zu sehr nach dem Motto vereinfacht hat „Die Wissenschaft hat festgestellt“ (neudeutsch: „follow the science“), um die eigenen politischen Wertungen als alternativlosen Sachzwang auszugeben.“

Charleroi - station Janson - Les psy - 01.jpg

Auch aufgrund von Pseudo-Argumenten wie die von Kersten/Rixen waren die deutschen Gerichte bislang nicht in der Lage, der Ausblendung von Alternativen, wie z.B. des schwedischen Weges, durch die Exekutive Paroli zu bieten. Im Gegenteil, die Judikative gefällt sich als verlängerte Werkbank der Exekutive. Zu groß scheint die Angst, die sorgsam gepflegten „Wirklichkeitskonstruktionen“ zu beschädigen. Was bliebe denn noch übrig, wenn man den Anmaßungen der Leopoldina nicht mehr glauben kann?

Das irrige Gedankengut à la Kersten/Rixen gedeiht im Schatten einer unterstellten Mehrheit. Tatsächlich schlägt man sich auf die Seite der Mächtigen, anstatt die grundgesetzlich garantierte Wissenschaftsfreiheit dafür zu nutzen, das Tun der Mächtigen zu hinterfragen.

Dabei übersehen Fachfremde wie Kersten und Rixen, dass es in der Virologie vor allem um eine Verwaltung des Nicht-Wissens geht. Bis heute kann man nicht einmal zwischen einem Laborunfall und einer Zoonose in Wuhan unterscheiden (soweit man einen Laborunfall für plausibel hält). Hängt man der Zoonose-Hypothese an, wie Herr Drosten, so weiß man bis heute nicht, ob es der Marderhund, das Gürteltier oder eine Fledermaus war. Genauso wenig können die Virologen für die vorangegangenen, mutmaßlichen Pandemien durch unterstellte, neuartige Erreger aus einer Zoonose, wie MERS, SARS(1), diverse Scheine- und Vogelgrippen, BSE oder die inzwischen wieder verschwundenen Affenpocken, explizite Beweise für eine Zoonose liefern. Es bleibt weiterhin bei der unbewiesenen Hypothese.

Um dieses Unvermögen der Virologie denken Kersten und Rixen herum und blenden es aus. Denn wenn die verabsolutierten Wahrheiten der Virologie fallen, bleibt von der naturwissenschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion der Herren Kersten und Rixen nichts mehr übrig.

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Grafikquellen          :

Oben     —     Eine grafische Darstellung von Lock-down während Covid-19

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2.) von Oben         —   Aufkleber eines Impfkritikers an einer Müllbox in Heikendorf.

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Atomausstieg in Deutschland

Erstellt von Redaktion am 5. April 2023

50 Jahre nach Beginn der Wyhl-Proteste

Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein

Von      :      Axel Mayer  (Der Autor ist seit den Wyhl Protesten in der Umweltbewegung aktiv und war 30 Jahre lang BUND-Geschäftsführer in Freiburg)

Hintergrund: Atomausstieg Deutschland – 50 Jahre nach Beginn der Wyhl-Proteste.  Der Atomausstieg am 15.4.23 ist schon ein erstaunliches Phänomen. Seit wann setzen sich in a »Rich Man´s World« die Vernunft gegen die Macht, die Nachhaltigkeit gegen die Zerstörung und die Kleinen gegen die Großen durch?

Vor 50 Jahren erkannten die Verantwortlichen des damaligen Energiekonzerns Badenwerk, dass der Atomkraftwerksstandort Breisach politisch nicht durchsetzbar war. Am 19. Juli 1973 wurde erstmals der neue Standort eines Atomkraftwerkes in Wyhl bekannt. Dort scheiterten ab 1975 die Pläne ein AKW zu bauen am massiven Widerstand der örtlichen Bevölkerung.
Fast 50 Jahre später, genau 111 Jahre nach dem Sinken der unsinkbaren Titanic, werden am 15.4.2023 endlich die drei letzten deutschen AKW Neckarwestheim-2, Emsland und Isar-2 abgeschaltet. Der Atommüll, der in etwas mehr als 3 Jahrzehnten entstand, strahlt noch eine Million Jahre und gefährdet 30.000 Generationen. Geschichtlich gesehen war und ist die Nutzung der Kernenergie zutiefst asozial. Die AKW-Stilllegung ist kein „Selbstzweck“ sondern berechtigte Gefahrenabwehr. Leider umfasst der Atomausstieg nicht auch die Anlagen der Urananreicherung in Gronau und die Brennelementfertigung in Lingen..

Die Nutzung der Atomkraft in Deutschland war nicht erst seit den„AKW-Wyhl-Protesten“ vor einem halben Jahrhundert heftig umstritten. Massive Proteste in Wyhl, Grohnde, Brokdorf, Wackersdorf und Gorleben haben die letzten Jahrzehnte in Deutschland geprägt. Und da war nicht nur das »NAI Hämmer gsait«, das Nein der Umweltbewegung zur Atomkraft. Da war immer auch das Ja zu den umweltfreundlichen, kostengünstigen und nachhaltigen Energien, die von Atom-, Öl- und Kohlekonzernen und ihren Lobbyisten in der Politik massiv bekämpft wurden und immer noch bekämpft werden.

Während in den ersten Jahrzehnten der Atomenergiedebatte „nur“ die Aspekte des Umwelt- und Menschenschutzes auf Seiten der Umweltbewegung standen, ist es seit einigen Jahren auch die Ökonomie. Strom aus Wind und Sonne ist nicht nur umwelt- und menschenfreundlicher sondern auch wesentlich kostengünstiger als Strom aus neuen AKW. Auch der ökonomische Niedergang der französischen Atomwirtschaft zeigt dies mehr als deutlich. Und wie heißt es? „It’s the economy stupid.“

Trotz alledem:

  • Die globale Macht der alten und neuen atomar-fossilen Seilschaften ist noch nicht gebrochen.
  • Die von der Anti-Atombewegung befürchtete weltweite Verbreitung von Atomwaffen durch die nur scheinbar friedliche Nutzung der Atomkraft hat begonnen.
  • Die von der Umweltbewegung befürchteten schweren Atomunfälle kamen nicht mit der Wahrscheinlichkeit von ein zu einer Million Jahre, wie von der Atomlobby verkündet. Die Atomunfälle und Atomkatastrophen von Lucens (CH), Harrisburg (USA), Tschernobyl (SU) und Fukushima (Japan) bestätigten alle frühen Befürchtungen der Umwelt-Aktiven und zeigten die Lügen der Atomlobby.

Jahrzehntelang haben marktradikale atomar-fossile Seilschaften den Ausbau der zukunftsfähigen Energien, Stromtrassen und die Energiewende massiv behindert und das Energieerzeugungsmonopol der mächtigen Energiekonzerne verteidigt. Jetzt warnen sie scheinheilig vor einem Black-out und vor dem Klimawandel. So kämpfen Sie für die Gefahrzeitverlängerung und gefährliche und teure neue AKW.

Viele Medien berichten kurz vor dem Ausstiegsdatum leider gerade ungeprüft, dass die Atomkraft weltweit im Aufschwung sei. Der World Nuclear Industry Status Report 2022 zeigt die Realität: „Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Realität des Atomindustriesektors von der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und zahlreicher Entscheidungsträger als blühende Zukunftstechnologie unterscheidet. Fast alle Indikatoren haben ihre Höchstwerte seit Jahrzehnten überschritten, z.B. die Anzahl laufender AKW 2002, der Anteil der Atomkraft am Strommix 1996 oder die Betriebsaufnahmen Mitte der 1980er Jahre.“ Und dennoch behaupten Atomlobbyisten, dass alle Welt neue AKW baue und nur die „dummen Deutschen“ aus der Atomkraft ausstiegen. Die Hauptstoßrichtung der aktuellen PR-Kampagnen ist nicht faktenorientiert, sondern beruht auf dem Erfolgsrezept einer perfekt organisierten Angstkampagne.

Für Laufzeitverlängerung und neue AKW kämpfen erstaunlicherweise nicht mehr direkt die deutschen Energiekonzerne, denn diese können rechnen. Für die Gefahrzeitverlängerung kämpfen insbesondere die Lobbygruppen und Parteien, die politisch die Hauptverantwortung für den Klimawandel, Ressourcenverschwendung und die Artenausrottung tragen. Je offensichtlicher es wird, dass wir den großen, globalen Wachstums-Krieg gegen die Natur gerade krachend verlieren, desto stärker setzen sie auf den Mythos der neuen Wunderwaffen. Dieser Mythos war auch im letzten Weltkrieg sehr effizient und kriegsverlängernd, änderte aber nichts an der Katastrophe. Der Streit um die Laufzeitverlängerung und um neue AKW ist getragen von der Hoffnung und Propaganda der „Wunderwaffe Atomkraft“, die ein zerstörerisches Weiter so ermöglichen soll. Ein Weiter so mit Weltraumtourismus, Superyachten, Überschallflugzeugen, Rohstoffverschwendung, unbegrenztem Wachstum und selbstverständlich ohne Tempolimit.

Hier zeigt sich auch eine Konfliktlinie, die aktuell viele ökologische und soziale Konflikte prägt. Nicht der Staat, sondern der Markt soll entscheiden, ob Atomkraftwerke, PFAS oder CO₂ gefährlich sind. Nach dieser marktradikalen Logik wären DDT, FCKW und Asbest immer noch nicht verboten.

Nach der Abschaltung der letzten deutschen AKW muss sich die Umweltbewegung noch stärker als bisher um die massiv bekämpfte Energiewende und um den Ausstieg aus den fossilen Energiequellen kümmern. Technischer Fortschritt und gute, nachhaltige, menschengerechte Technik könnten schon heute das gute Leben für alle Menschen der Welt ermöglichen, wenn es mehr Gerechtigkeit gäbe. Die Abschaltung der AKW ist Grund zur Freude, aber kein Anlass für Triumph, insbesondere auch so lange in Lingen die Brennelementfabrik noch arbeitet.

Im großen, globalen Krieg des Menschen gegen die Natur und damit gegen sich selber, (Atommüllproduktion, Klimawandel, Artenausrottung, Ressourcenverschwendung, Meeresverschmutzung …) haben wir mit dem mühsamen Atomausstieg in Deutschland Zerstörungsprozesse entschleunigt und einen kleinen, wichtigen Teilerfolg erzielt. Es lohnt, sich zu engagieren.

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Gruß aus der Protestküche

Erstellt von Redaktion am 5. April 2023

Krimtataren haben in Warschau ein Lokal eröffnet

Von    :   Gabriele Lesser

Direkt gegenüber der russischen Botschaft. In drei Jahren wollen sie zurück, sofern die Russen dann abgezogen sind.

Wenn der russische Botschafter in Polen aus dem Fenster schaut, sieht er seit Kurzem die „Krym“. Davor wehen drei Flaggen – die ukrainische, tatarische und polnische. Keine russische. Nachts leuchtet weithin sichtbar der neonblaue Schriftzug und darüber das wie eine Krone wirkende goldene Tamga, das Siegel, das ursprünglich das Wappen des Krim-Khanats war. Geöffnet hat das Lokal täglich bis 22 Uhr.

„Wir wollten ein politisches Zeichen setzen“, sagt Ernest Suleymanov, der Inhaber. „Wir hätten unser Restaurant auch woanders in Warschau aufmachen können, aber die Lage hier ist politisch einfach nicht zu toppen.“ Seine Frau Elmira Seit-Ametova nickt und deutet aus dem großen Panoramafenster: „Rechts die Botschaft Russlands, links das Puschkin-Kulturinstitut und …“ Sie macht eine kleine Pause, richtet sich auf und deutet auf die Gäste an den kleinen Tischen: „… und mittendrin wir Krimtataren mit all den vielen Unterstützern aus Polen, der Ukraine, aus Usbekistan, eigentlich aus ganz Osteuropa.“

Sie schenkt aus einer kleinen Karaffe Kirschkompott ein, den Saft eingemachter Sauerkirschen. „Als wir das noch leerstehende Lokal renovierten, hatte ich erst große Angst, dass uns hier niemand finden würde.“ Ihr Mann nickt, legt seinen Arm um sie: „Aber bei uns isst man eben nicht einfach nur tatarisch, sondern politisch. Unsere „Krym“ – das ist die Küche des Protests!“

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukrai­ne hat sich die Gegend rund um die russische Botschaft in Warschau verändert. Direkt neben der herrschaftlichen Einfahrt steht seit einigen Monaten ein neues Straßenschild: „Allee der Opfer der russischen Aggression“. Hier finden immer wieder lautstarke Demos mit vielen blau-gelben Ukrainefahnen und Fotos von gefolterten und ermordeten Zivilisten statt.

„Eigentlich sind wir keine Köche“, erzählt der 54-jährige Suleymanov mit dem kurz geschnittenen Oberlippen- und Kinnbart. Er ist eigentlich Architekt. „Nach dem Maidan habe ich mich vor allem politisch engagiert.“ Als er vor neun Jahren gegen das russischen Referendum auf der Krim mobil machte, habe er fliehen müssen. Seine Frau ist eigentlich Künstlerin. Da beide in Polen keine Arbeit fanden, haben sie das Lokal geöffnet. „So ist das eben im Exil. Man muss sich irgendwie durchschlagen. Aber wir beklagen uns nicht“, sagt Seit-Ametova.

Ihr Mann nippt am Kirschkompott: „Unser Sohn wird es da sicher leichter haben. Er ist 22 und studiert jetzt hier in Warschau.“ Dabei wollen sie eigentlich in drei Jahren zurück auf die Krim. „Wir hoffen, dass die Russen dann abgezogen sind“, sagt Suleymanov. „Wenn nicht, müssen wir uns etwas Neues ausdenken.“

Quelle          :        TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Ambasada Rosji z oznaczoną tabliczkami aleją Ofiar Rosyjskiej Agresji wzdłuż ulicy Belwederskiej w Warszawie.

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Darüber redet kaum jemand

Erstellt von Redaktion am 4. April 2023

Der Deal der Großbanken

Ein Debattenbeitrag von Rudolf Walther

Übernahme von Credit Suisse. Von der Pleite der Credit Suisse und der Übernahme durch die UBS profitieren vor allem Wirtschaftsanwälte und Kanzleien.

In der Schweiz kursiert unter ehrgeizigen Abiturienten, aber auch bei gestandenen Sozialwissenschaftlern, wie mir ein befreundeter, im Schweizer Sozial- und Gesundheitswesen tätiger unabhängiger Firmengründer und Berater mitteilte, der nur auf den ersten Blick erstaunlich gleiche Traum von der nicht verfehlten, erst im nächsten Leben zu korrigierenden Berufswahl. Die Schweizer Abiturienten träumen fast nur noch von der Bedeutung der finanziell aussichtsreichsten Studien- und Berufswahl, möglichst fürs ganze bevorstehende Berufsleben.

Auf den zweiten Blick erstaunt diese Koinzidenz der Träume von alten und angehenden Akademikern über die Berufswahl nicht. Denn den Hintergrund und Anlass für diese Gleichschaltung der Träume bildet die politische Debatte in der Schweiz: die Pleite der Großbank Credit ­Suisse und die ferngesteuerte Übernahme der Credit ­Suisse durch die Konkurrentin UBS.

Deutlich führte das Drama vor Augen: Wenn es um den internationalen Finanzmarkt geht, hat es mit dem Stolz auf Eigenständigkeit, Neutralität und traditionelles Brauchtum, das sich seit geraumer Zeit immer schroffer gegen andere und Fremde richtet, ein ganz schnelles Ende.

Die Träume älterer und angehender Akademiker von der lukrativsten Berufswahl in der Schweiz werden befeuert von der Aussicht auf lebenslang wohlstandssichernde Honorare für Wirtschaftsanwälte und ihre Kanzleien aus anstehenden Gerichtsprozessen, in der es um milliardenschwere Streitwerte geht.

Fremdkapital, das in Eigenkapital umgewandelt wird

Es handelt sich um die Entschädigung der Käufer von sogenannten AT1-Anleihen mit einem Nennwert von gigantischen 16,1 Milliarden Schweizer Franken bei der Pleitebank Credit Suisse.

AT1-Anleihen, auch „Coco-Bonds“ genannt, sind hochriskante „Errungenschaften“ der Finanzindustrie nach der letzten Bankenkrise von 2008/2009. Es ist Fremdkapital, das jedoch ohne Zustimmung der Inhaber in Eigenkapital umgewandelt werden kann – so zumindest die marktwirtschaftsfromme und kapitalmarktkompatible Lesart der Juristen der Schweizer Behörden, die jedoch umstritten ist.

Die Käufer dieser AT1-Anleihen wurden ohne seriöse juristische Prüfung ihrer Regress- und Entschädigungsansprüche enteignet. Und das könnte eine Lawine von Klagen auslösen.

Die Steuerzahler müssen haften

Die ohne Zweifel bevorstehenden Entschädigungs- und Haftungsprozesse enthalten politische Brisanz. Und das nicht nur für die Schweizer Finanzministerin Karin Keller-Sutter, die sich wie eine patriotisch besorgte Politikerin für „ihre“ Banken und deren Geschäftsmodell ins Zeug legt, sondern in letzter Instanz auch ganz erhebliche finanzielle Risiken für den Steuern zahlenden Teil der Schweizer Bevölkerung schafft.

Die Steuerzahler haften nach dem Stand der Dinge auf jeden Fall mit mindestens 9 Milliarden Franken für den Deal. Die Nationalbank ist bereit, 100 Milliarden Franken zu drucken, um die famose Lösung abzusichern und der Übernahme der Credit ­Suisse durch die USB genügend Cash zur Verfügung zu stellen.

Vor allem aber birgt der Deal der Großbanken enorme Prozessrisiken und damit reichlich Futter, also üppige Honorare für Generationen von erfahrenen Wirtschaftsanwälten und -kanzleien mit einer Langzeit-Beschäftigungsgarantie.

Niemand redet vom Image-Schaden

Auch Interessenten der als wertlos eingestuften AT1-Anleihen wie die Investmentbank Goldman Sachs stehen bereits in den Startlöchern und kaufen die Papiere schon mal auf – für den Fall der Fälle. Die Bilanzsumme der zusammengelegten beiden Großbanken umfasst mit etwa 1,6 Billionen Franken mehr als das Doppelte des gesamten Bruttoinlandsprodukts der Schweizer Wirtschaft.

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Fast keiner, und schon gar nicht öffentlich wahrnehmbar, redet vom Imageschaden der Pleite der Großbank für die Schweizer Wirtschaft und für die Demokratie.

In den Medien kümmern sich allenfalls Nischenprodukte wie die linke Zürcher Wochenzeitung, die kleine sozialwissenschaftliche Zeitschrift Widerspruch oder Blogs kritischer Wissenschaftler um die gravierenden Imageverluste des Landes, ausgelöst durch gewohnheitsmäßig an der unscharfen Grenze zur Kriminalität operierenden Banker vom Zürcher Paradeplatz, dem Stammsitz der beiden Schweizer Großbanken.

Als sei nichts passiert

In offen national-chauvinistisch und trotzig-apologetischer Perspektive profilieren sich dagegen Organe der Rechts-Abbieger-Presse wie die einst durchaus lesbare Wochenzeitung Die Weltwoche unter dem heutigen Eigentümer Roger Köppel – ein selbstherrlich über willige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter regierender Chefredakteur, rechter SVP-Politiker und Fan des SVP-Urgesteins Christoph Blocher.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben     —    Occupy movement at Paradeplatz in Zürich (Switzerland)

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Staatstrojaner Pegasus

Erstellt von Redaktion am 4. April 2023

EU-Kommission prüft Klagen gegen Mitgliedsländer

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        : 

In Ungarn, Polen und Spanien bespitzelte der Staat Abgeordnete und Journalist:innen mit dem Staatstrojaner Pegasus. Bislang hat das keine Konsequenzen. Nun bereitet Brüssel mögliche rechtliche Schritte vor.

Im Juli 2021 platzt eine Meldung in das Sommerloch. Ein internationale Recherche enthüllt eine Liste von 50.000 Telefonnummern, die im Visier des Staatstrojaners Pegasus gestanden haben sollen. Demnach hat das EU-Land Ungarn mit dem Trojaner Journalist:innen und Oppositionelle bespitzelt. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen nennt das „komplett inakzeptabel“.

Seither folgen immer weitere Enthüllungen. Inzwischen ist bekannt, dass auch die Regierungen in Polen und Spanien Pegasus gegen Oppositionspolitiker:innen eingesetzt haben sollen. In Griechenland überwachte der Geheimdienst Journalist:innen und Abgeordnete mit Predator, einem anderen Trojaner. Auch die EU-Kommission wurde Opfer von Pegasus.

Die staatlichen Übergriffe sorgen für Empörung, das EU-Parlament richtet einen eigenen Untersuchungsausschuss ein. Die EU-Kommission legt einen Gesetzesvorschlag vor, der Presse und Zivilgesellschaft vor Hacking schützen soll. Doch für Regierungen, die Trojaner einsetzen, gibt es bislang keine Konsequenzen.

Das könnte sich ändern. Die Kommission prüft derzeit Klagen gegen Staaten, die Staatstrojaner EU-rechtswidrig einsetzen. Als Teil ihrer Untersuchung hat die Brüsseler Behörde im Dezember einen Brief an alle Mitgliedsländer verschickt.

Die Kommission stellt erstmal nur Fragen

Das Schreiben, das wir durch eine Informationsfreiheitsanfrage erhielten und im Volltext veröffentlichen, enthält Fragen zum Einsatz von „Spyware“. Die Kommission will wissen, auf welcher rechtlichen Grundlage überwacht wird und welche Maßnahmen zum Grundrechtsschutz getroffen wurden. Auch bittet die Kommission um Listen aller nationalen Behörden, die Trojaner einsetzen oder ihren Einsatz anordnen dürfen.

Die Antworten fließen in eine rechtliche Analyse ein. Ist diese fertig, entscheidet die Kommission auf ihrer Grundlage über mögliche Klagen. Voraussetzung dafür ist, dass durch die Überwachung europäisches Recht verletzt wurde, etwa die Datenschutzgrundverordnung. Denn nur dann kann die Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof Klagen einbringen.

Das Gericht kann dem Staat dann gegebenenfalls anordnen, den rechtswidrigen Zustand zu beheben. Weigert sich der Staat, kann die Kommission nochmals klagen und vor Gericht Strafzahlungen durchsetzen.

Einige Staaten haben auch zwei Monate nach Abgabefrist den Fragebogen der Kommission noch nicht beantwortet. Dabei handelt es sich um Ungarn, aber auch Dänemark, die Niederlande und Deutschland, sagte ein Kommissionssprecher gegenüber netzpolitik.org. Auch Deutschland nutzt den Staatstrojaner Pegasus, gibt sich dazu aber schweigsam.

Die Kommission hat sich für ihre Untersuchung ohnehin kein fixes Enddatum gesetzt. „Wir werden uns so viel Zeit wie nötig nehmen.“

Seit fast zwei Jahren nur „zaghafte Ermahnungen“

Versuche in einzelnen EU-Ländern, rechtlich gegen die Pegasus-Überwachung vorzugehen, sind bislang ins Leere gelaufen. In Ungarn entschied die Datenschutzbehörde, die Verwendung des Staatstrojaners sei zum Schutze der nationalen Sicherheit passiert und rechtens gewesen. In Polen haben die Regierungspartei PiS und ihre Verbündeten im Justizsystem ein gerichtliches Vorgehen gegen die systematische Überwachung weitgehend verhindert. Zu diesem Schluss kommt ein Bericht der EU-Abgeordneten Sophie in ’t Veld.

In ’t Veld hat die EU-Kommission bereits im November aufgefordert, endlich auf die Enthüllungen zu reagieren. Es scheine so, als habe die EU-Behörde außer „zaghaften Ermahnungen“ wenig anzubieten. Ungarn und Polen berufen sich bei ihren Überwachungsmaßnahmen auf den Schutz der „inneren Sicherheit“, so die niederländische Abgeordnete. Doch dies dürfe nicht als „unbegrenzte Ausnahmeregelung von den europäischen Gesetzen und Verträgen interpretiert werden und zu einem Bereich der Gesetzlosigkeit werden.“

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquelle :

Oben     —  The oldest scientific manuscript in the National Library the volume contains various Latin texts on astronomy. The volume, written in Caroline minuscule, consists of two sections, the first (ff. 1-26) copied c. 1000, in the Limoges area of France, probably in the milieu of Adémar de Chabannes (989-1034), whilst the second (ff. 27-50), from a scriptorium in the same region, may be dated c. 1150.

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Macrons – Rentenpolitik

Erstellt von Redaktion am 4. April 2023

Der Staat und die Reproduktion des globalen Kapitals

File:Manifestation contre la réforme des retraites, Paris, le 28 mars 2023 — 44.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von   :   Morteza Samanpour

Das Beispiel der Neuregelung des Rentenalters in Frankreich. Die Weigerung der französischen Regierung, der Forderung und dem öffentlichen Willen in der Rentenfrage nachzukommen, die derzeit durch eine Art „Ausnahmezustand“ gelöst wird, ist nicht nur spezifisch für Macron und die neoliberalen Kräfte der französischen Gesellschaft.

Sie zeigt auch grössere Veränderungen in den Funktionen von Regierung und Politik sowie eine Veränderung im Verhältnis der Regierung zum Kapital an.In Frankreich sind in den vergangenen Wochen Millionen Menschen in mehr als 250 Städten auf die Strasse gegangen, um Nein zu den neoliberalen Rentenreformen der Macron-Regierung zu sagen. Zusätzlich zu den Strassenprotesten haben öffentliche Streiks weite Teile der französischen Gesellschaft einbezogen: Lehrer:innen, Krankenschwestern, Hafen- und Flughafenarbeiter;innen und Energiearbeiter:innen, Schüler:innen und Studierende, Beschäftigte im städtischen Nahverkehr usw. verweigerten an vielen Stellen die Arbeit.Durch die Weigerung der Arbeiter:innen der Stadtreinigung, den Müll zu sammeln, türmen sich in Paris bereits 7.000 Tonnen Müll auf dem Strassenboden, dessen Gestank die Tiefe der öffentlichen Unzufriedenheit widerspiegelt und vom Verfall der virtuellen Demokratie erzählt. Dies ist nicht das erste Mal, dass die Nicht-Privilegierten, Gewerkschaften und unabhängige Organisationen der Linken in Frankreich gegen Rentenreformen kämpfen. Im Dezember 2019, kurz vor Beginn der Corona-Pandemie, kam es aus Protest gegen die neoliberale Rentenpolitik zum grössten Streik in der Geschichte Frankreichs seit Mai 1968, Die Pariser U-Bahnen stellten den Betrieb für mindestens einen Monat ein. Aber welches Ergebnis hatten die jahrelangen Kämpfe und Proteste gegen die Änderung der Rentengesetze?Unter völliger Missachtung der lauten Stimmen der Demonstranten und gegen das Gesetz und den Willen des Parlaments billigte die Regierung Macron am 16. März 2023 die „Rentenreform“ per Dekret unter Berufung auf den Verfassungsartikel 49.3. Schon einmal hatte Macron diesen juristischen Trick angewandt und die Wut gegen die neoliberale Änderung des Arbeitsrechts einfach übergangen. Damit hat Macron die Gesellschaft einmal mehr ausgetrickst und verhöhnt!

Was bedeutet eine solche Missachtung der Regierung gegenüber Arbeiter:innen, Gewerkschaften, Demonstrant:innen und zumindest den Oppositionsfraktionen im Parlament? Was sagt diese Form des neoliberalen Autoritarismus über die Rolle und die Stellung des Staates im zeitgenössischen Kapitalismus aus? Welche politischen Lehren kann man daraus für die Organisierung ziehen?

Dieser Text versucht zu zeigen, dass die Weigerung der französischen Regierung, die Forderung und den öffentlichen Willen in Bezug auf die Rentenfrage zu akzeptieren, die derzeit durch eine Art „Ausnahmezustand“ gelöst wird, nicht nur spezifisch für Macron und die neoliberalen Kräfte der französischen Gesellschaft ist: sie weist auch allgemein auf grössere Veränderungen in der Funktion von Regierung und Politik und eine Veränderung im Verhältnis zwischen Staat und Kapital hin. Diese Veränderungen können auch etwas zum Verständnis der kapitalistischen Verhältnisse im globalen Süden beitragen.

Von der Wohlfahrts- und Entwicklungsregierung bis zur Integration in das globale Kapital

Sehen wir uns zuerst kurz und knapp die schädlichen Auswirkungen von Macrons Rentenreformgesetzen an. Das Rentenalter wird von 62 auf 64 Jahre angehoben, und damit werden die Subalternen bis in ihre letzten Lebensjahre als Lohnsklaven:innen gehalten, die bis zu ihrem Tod ihre Arbeitskraft auf dem hart umkämpften Markt verkaufen müssen.

Aus einer Sicht existenzieller sozialer Rechte bedeutet dies, dass die herrschende Klasse Zeit, Leben und Arbeitskraft der Lohnempfänger:innen nutzt, um die Verwertung des investierten Kapitals so weit wie möglich zu steigern und sich gesellschaftliche Erträge privat anzueignen 1. Nicht umsonst haben die existenzielle Sorgen um Themen wie Leben und Tod mit der Reduzierung menschlicher Lebensmöglichkeiten im Rahmen kapitalistischer Kostenüberlegungen dramatisch zugenommen. Abgesehen von diesen „philosophischen“ Fragen wird der Mutterschaftsurlaub nach den neuen Gesetzen nicht als Teil der Arbeitsjahre gezählt, und wie bei allen Angriffe des Kapitals auf die gesellschaftliche Reproduktion sind es die Frauen, die den höchsten Preis zahlen.

Kurz gesagt, das Ergebnis solcher Reformen ist nichts anderes, als die gesellschaftliche Reproduktion noch schwieriger zu machen; während im Bereich existenzieller Bedürfnisse seit Jahren eine umfassende Krise vorangetrieben wird, die im Kern ein privatkapitalistischer Verwertungsangriff (Kommodifizierung) auf Wohnen, Bildung und Gesundheit ist, mussten sich Millionen Menschen zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse bereits verschulden und daher in Not geraten sind.

Aber die zentrale Frage ist: Wie kann der französische Präsident dieses Gesetz in einer sogenannten „demokratischen“ Gesellschaft trotz weit verbreiteter und vielfältiger Proteste durchbringen? Vielleicht ist es hier hilfreich, auf die charakteristische historische Natur und Funktion des Staates im zeitgenössischen Kapitalismus zu achten; Eine Frage, die über die besonderen Merkmale der französischen Gesellschaft hinausgeht. Seit Jahrzehnten sind die Nationalstaaten auf der ganzen Welt zu Ausführenden des transnationalen Kapitals, insbesondere des Finanzkapitals, geworden, und ihre Funktion als Institutionen, die für die Reproduktion des Kapitals verantwortlich sind, hat gravierende Veränderungen erfahren. Ein – wenn auch knapper – Vergleich mit der historischen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg macht die Sache etwas klarer.

Der Wohlfahrtsstaat in Westeuropa und Nordamerika war neben der Bereitstellung öffentlicher sozialer Dienstleistungen für die Bürger auch für die Repräsentation des nationalen Industriekapitals verantwortlich, d.h. für die Bereitstellung der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen für die umfassende Reproduktion des Produktivkapitals. Auf globaler Ebene reifte das, was Marx im Kapital das soziale Gesamtkapital nannte, aus der Einheit der nationalen Kapitalien – Kapitalien, die in geopolitischer und wirtschaftlicher Konkurrenz mit anderen nationalen Staaten und Kapitalien neben eigener nationalen Staaten standen2.

Der Aufstieg des transnationalen Kapitals mit der Herrschaft des Finanzkapitals als dominierender Fraktion des Kapitalismus verändert auch die Rolle und Funktion des Staates: anstatt die Interessen des national-industriellen Kapitals zu vertreten, übernimmt der Staat die Rolle der Integration in das transnationale Kapital, insbesondere das Finanzkapital. Die politischen Folgen einer solchen wesentlichen Veränderung für den nationalen Staat, der den Raum für die Reproduktion des transnationalen Kapitals bietet, sind enorm und zielen letztendlich auf die Zerstörung der demokratischen Kräfte der Gesellschaft.

In Frankreich zum Beispiel gab es keinen Mangel an sozialen Bewegungen, die sich im letzten Jahrzehnt gegen neoliberale Gesetze und Deregulierungen formierten und sich in kontinuierlichen und umfangreichen Kämpfen engagierten: von? Nuit debout? bis zu Gelbwesten, von Kämpfen gegen Arbeitsgesetze und gegen die Rentenreformen. Und das Ergebnis? Unterdrückung der Bewegung mit umfassender Polizeibrutalität (Blinden, Verhaften und Einsperren usw.) und schliesslich die Erschöpfung der wütenden Menschen über einen langen Zeitraum.

Auf der anderen Seite der Welt, in der damals sogenannten „Dritten Welt“, war der zentrale Begriff für den postkolonialen Staat die „Entwicklung“: das Wachstum der industriellen Produktivkräfte und die wirtschaftspolitische Unabhängigkeit von Ost und West3. Der aus der Biologie stammende Begriff der Entwicklung, der bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht und sich auch in Hegels eurozentristischer Geschichtsphilosophie manifestiert, war einer der Zeitbegriffe (Temporalität), die in der Geschichte des Kolonialismus eine besondere Rolle spielten. Durch den Begriff der Entwicklung wurde der Kolonialismus historisch gerechtfertigt: Die kolonialisierten Gesellschaften wurden als Gesellschaften dargestellt, die nicht in der Lage seien, „zivilisatorisch fortschrittliche“ Potenziale zu entwickeln (oder zu verwirklichen).

Diese Gesellschaften mussten daher von aussen und durch die Gewalt der Kolonisatoren missioniert und erneuert werden. In der postkolonialen Ära nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Veränderung der Bedeutung von Entwicklung durch die Vereinigten Staaten – der sogenannten „Truman-Doktrin“ – wurde der Begriff der Entwicklung von seinen kolonialen Konnotationen gelöst und von den Staaten der sogenannten Dritten Welt selbst akzeptiert: Also war Entwicklung nun ein nationales Projekt für Wirtschaftswachstum, Wohlstand und Besiedlung sowie kulturellen und politischen Fortschritt, insbesondere bei der Verleihung von Bürgerrechten.

Als Khomeini 1979 – direkt nach seiner Rückkehr in den Iran – über kostenloses Wasser, Strom und Gas für die „armen Klassen“ sprach, und als er sagte: „wir werden Euch auf den Stand der Menschheit bringen“, wurden seine Worte im Kontext der historischen Ära der „Entwicklung“ verstanden; Eine Ära, die jedoch kurz vor der Revolution 1979 zu Ende gegangen war oder abgebaut wurde. Entwicklung als postkolonialer Traum und politisch-ökonomisch-kulturelles Projekt sollte mit seiner Verwirklichung durch den nationalen Staat in nicht allzu ferner Zukunft die Wunden des Kolonialismus in der historischen Vergangenheit heilen. Die „Dritte Welt“ sollte den Punkt erreichen, an dem der Westen historisch stand, durch den Tunnel der Zeit und basierend auf dem linearen und forschungsorientierten Geschichtsbild, das seine Wurzeln im Zeitalter der Aufklärung hatte.

Diese Träume, für die auch die anti-kolonialen Bewegungen weltweit gekämpft hatten, wurden aber nicht nur durch die Hände des Westens und des Imperialismus, sondern ab den 1970er Jahren von postkolonialen Regierungen im Einvernehmen mit den supranationalen Finanzagenturen IWF, Weltbank und privaten Investoren zerstört: also durch die gewaltsame und möglichst vollständige Integration der nationalen Ökonomie in den fremdbestimmten Weltmarkt. Die Mission des „Entwicklungslandes“ änderte sich von der „Entwicklung“ zur Integration in einen global-hierarchischen Kapitalismus. Soziale und politische Rechte, Wohlstand, Wirtschaftswachstum und Sicherung der Grundbedürfnisse sind zu ideologischen und leeren Wörtern geworden. Nicht nur wurden die Wunden des Kolonialismus nicht geheilt, sondern auch das Erbe des Kolonialismus wurde von den postkolonialen „nationalen“ Staaten genutzt, um sich in das globale Kapital zu integrieren.

Vom Mythos zur Realität der liberalen Demokratie

Die Geschichte des zeitgenössischen Kapitalismus, der die globalen Machthierarchien vertieft und die globalen Ungleichheiten in beispielloser Weise verschärft hat, hat gezeigt, dass die sogenannten „sich entwickelnde“ Gesellschaften sich keinem selbst entwickelten Ziel nähern, sondern ihre Gesellschaften ausgeliefert sind. Westeuropa und Nordamerika haben kein historisches Modell und keinen Massstab für historische Zeit (Zeitlichkeit), die andere Gesellschaften nachvollziehen könnten. Die Verneinung einer homogenen, linearen und segmentierten historischen Zeit, die in der Aufklärungsbewegung und der Philosophie Hegels wurzelt, ist nicht nur ein Produkt postkolonialer Studien, sondern wurzelt in der objektiven Realität aus der Bewegung des globalen sozialen Widerspruchs im Kapitalismus.

Datei:Manifestation contre la réforme des retraites, Paris, le 28 mars 2023 — 37.jpg

Waren es früher Faschismus und Krieg, die in den Werken von Bloch, Benjamin und Adorno die europäische Philosophie der linearen Zeit in Frage gestellt haben, so ist es nun das Erbe des Kolonialismus und der globalen Ungleichheiten, die die Zeitphilosophie zwangen, die Pluralität historischer Zeiten zu akzeptieren. Im Gegensatz zum kulturellen Pluralismus der Postkolonialisten:innen wird diese Pluralität historischer Zeiten aktiv vom Kapital bzw. dem prozessierenden sozialen Antagonismus geschaffen. Die historischen Entwicklungen der heutigen Welt haben auch gezeigt, dass der Kapitalismus keinen logischen Zusammenhang mit der Demokratie hat, auch nicht in Form einer formalen Demokratie, d. h. Gleichheit vor dem Gesetz und Bürgerrechten.Weder die religiöse autoritäre Diktatur (mit der Brutalität der Revolutionsgarden) in der Islamischen Republik sind getrennt vom kapitalistischen Körper, noch der Autoritarismus der Macron-Regierung mit seinen Verstössen gegen die Demokratie in Frankreich. Die Berichterstattung über die Gelbwesten in Radio und Fernsehen der Islamischen Republik Iran als Beweis für die Tiefe der Krise und die Repression der Demonstranten:innen im Westen ist ebenso absurd und lächerlich wie die liberale Erzählung des französischen Fernsehen vom revolutionären Jina-Aufstand im Iran als eine Bewegung, die einen Rechtsstaat wie in Frankreich anstrebt. Wenn es im Kapitalismus Rechte gibt, sind sie das Produkt von Geschichte und Klassenkampf im weitesten Sinne. Ja, es stimmt, dass der Kapitalismus Lohnarbeit auf der allgemeinen Ebene voraussetzt, aber er endet nicht notwendigerweise mit „freier“ Lohnarbeit4.

Fazit

So wie die Ära der Entwicklung im globalen Süden seit Jahrzehnten vorbei ist, so ist auch im globalen Norden die Zeit nationaler Wohlfahrtsstaaten längst vorbei. Das Kapital erreicht seine Einheit nicht mehr auf nationaler Ebene. Neben der Neugruppierungen des Kapitals schafft der Staat vor allem die Bedingungen für die Reproduktion des transnationalen Kapitals durch Deregulierung und Neoliberalisierung der Wirtschaft. Das Finanzkapital spielt dabei die entscheidende Rolle für die Herstellung eines Massstabs der globalen Profitraten.

Die Globalisierung des Kapitals bedeutet daher gerade keinen Verlust der Macht des Staates gegenüber scheinbar transnationalen feindlichen Kräften, sondern er erlangt eine doppelte neue Bedeutung: der Staat hat nun entscheidende Aufgaben bei der Integration des nationalen Raums und wie auch der nationalen Zeit in den globalen Kapitalraum. Das sind zwangsläufige Folgen der Entnationalisierung des Territoriums und der gesellschaftlichen Zeiten, die traditionell davon abhängen. Mit einem Wort, die Mission des nationalen Staates in der historischen Gegenwart ist nichts anderes als die Denationalisierung der Wirtschaft als Voraussetzung für den Eintritt in den globalen Markt und die Reproduktion des globalen Kapitals.

Deswegen wird der Wille des „Bürgers/ der Bürgerin“ immer mehr beiseite geschoben, und die Exekutive des Staates geniesst eine doppelte Macht im Vergleich zu Legislative und Kontrollinstitutionen. Im globalisierten Zeitalter verschwindet der Staat nicht, sondern seine Funktion und sein Wesen, insbesondere seine herausgehobenen Institutionen wie die Regierung, werden neu definiert. Mit Frankreichs Verfassungsartikel 49.3 kann die Regierung der Legislative die Macht auf trickreiche Weise entziehen und Gesetze willkürlich durchbringen. Er besagt, dass ein von der Regierung unter Berufung auf ihn eingebrachtes Gesetz als angenommen gilt – es sei denn, ein innerhalb von 24 Stunden eingereichter Misstrauensantrag gegen die Regierung erhält eine Mehrheit.

Er darf nur drei Mal pro Sitzungsperiode angewandt werden. Allerdings gibt es eine Ausnahme: wenn sich das geplante Gesetz auf das Staatsbudget bezieht – und das ist auch bei der Rentenreform der Fall. Die formale liberale Demokratie ist unter solchen Bedingungen tot, weil die Menschen nicht in der Lage sind, durch Wahlen und parlamentarische Vertretung politisch an ihrem kollektiven Schicksal teilzunehmen. Der Autoritarismus der französischen Regierung ist nicht nur Macron eigen, sondern dem Staat im zeitgenössischen Kapitalismus eigen.

Organisation und Politik von unten stehen in einer solchen Situation vor grossen Herausforderungen. Die objektive Situation diktiert die populäre Politik, sich so weit wie möglich von der parlamentarischen Demokratie und der rechtlichen Intervention zu distanzieren und stattdessen dem Staat und der herrschenden Klasse gesellschaftspolitisch entgegenzutreten. Dies ist ein Thema, das in Zukunft einer gesonderten Diskussion bedarf.

Morteza Samanpour

Fussnoten:

1 Nach Macrons neoliberalen Gesetzen wird die Zahl der Versicherungsprämienjahre von 41 auf 43 steigen. Das bedeutet, dass eine Person im Alter von 64 Jahren nur dann Anspruch auf eine volle Altersrente hat, wenn sie 43 Jahre gearbeitet hat.

2 Siehe den letzten Teil des zweiten Bandes von Marx‘ Kapital.

3 Sandro Mezzadra and Robert Neilson, The Politics of Operation: Excavating Contemporary Capitalism (Durham and London: Duke University Press, 2019)

4 In Frankreich mussten Frauen bis 1965 eine offizielle und gesetzliche Erlaubnis ihrer Ehemänner einholen, um arbeiten zu dürfen. Als Marx das Kapital (1867) veröffentlichte, waren die Disziplinar- und Strafvorschriften für die Beendigung des Arbeitsvertrags umfangreich, in dem Sinne, dass Einzelpersonen einen Vertrag frei schliessen, aber nicht davon zurücktreten konnten. Dies sind nur historische Beispiele, um den Mythos des Kapitalismus als Gleichheit vor dem Gesetz zu negieren, was einer gesonderten Diskussion bedarf, um im Detail analysiert zu werden.

Erstveröffentlichung auf Farsi

Author Jules*         /       Source    :    Own wirk        /        Date     :    28 March 2023, 16:55:36

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Unten         —      Dans le cortège parisien de la manifestation du 28 mars 2023 contre la réforme des retraites.

Verfasser Jules*         /     Source    :      Own work      /       Date    :      28. März 2023, 16:27:28

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KOLUMNE * IN RENTE

Erstellt von Redaktion am 4. April 2023

Von armen und reichen Freundinnen

File:Armut Bettler Obdachlos (12269249596).jpg

Eine Kolumne von Barbara Dribbusch

Manche Freundinnen unserer Kolumnistin sind chronisch krank und kriegen kaum Rente, andere haben geerbt. Wie geht man gut damit um?

Die kleine Geburtstagseinladung bei Vera hatte mir die Augen geöffnet: Wir müssen über Geld reden, erst recht im Alter. Ich hatte für Vera zum 70.Geburtstag ein, wie ich dachte, originelles Geschenk mitgebracht. Ein superleichter, faltbarer, teurer High-Tech-Camping-Stuhl war es. In Veras Mietshaus gibt es einen begrünten Hinterhof, sie hatte sich immer beklagt, dass dort keine Sitzgelegenheit existiere. Voilà! Dachte ich. Zu Veras Einladung in ihrer Einzimmerwohnung kam auch Gitta.

Gitta überreichte Vera einen Umschlag mit Geschenkband drumherum: „Ich dachte mir, das kannst du besser gebrauchen als irgendwelchen Schnickschnack“, sagte Gitta. Vera nahm den Umschlag mit einem verlegenen, aber auch erfreuten Lächeln an und bedankte sich. Kurz darauf sah ich, wie sie in der Küche den Umschlag öffnete und hineinlinste. Drinnen lagen ein 50-Euro- und ein 20-Euro-Schein, wie ich später erfuhr.

Mir dämmerte, dass Gitta das passendere Geschenk mitgebracht hatte. Wie konnte ich nur auf den doofen überteuerten Outdoor-Stuhl kommen? Vera ist schwer rheumakrank und lebt von einer kleinen Rente plus Grundsicherung, also auf Hartz-IV-Niveau. Sie hatte mir mal erzählt, wie schwierig es für sie sei, den Tierarzt für die Katze zu bezahlen, die ihr Ein und Alles ist. Ich hätte besser Geld schenken sollen, ganz einfach. Mit Freundin Hille sprach ich später über das Problem. Hille hat eine gute Rente, ist Erbin und schon lange mit Gisela, chronisch krank, Grundsicherungsempfängerin, befreundet.

„Da schämt man sich“

WerHatDerGibt demonstration Berlin 2020-09-19 61.jpg

Oft halten solche Freundschaften ja nicht, aber Hille hatte Gisi vor 40 Jahren in einer Psychiatrie-Ambulanz kennengelernt, die beiden sind inzwischen schon viele Kilometer zusammen durch Brandenburg gewandert und Hille hängt an Gisi, das weiß ich. Früher war das finanzielle Gefälle zwischen den beiden wohl auch nicht so gigantisch gewesen wie jetzt. „Ich kann’s dir jetzt sagen“, erzählte Hille, „ich hab einen Dauerauftrag eingerichtet für Gisi. 90 Euro in der Mitten jeden Monats, mit dem Erbe kann ich das auf Dauer durchhalten.“ Sie hatte zuvor Gisi immer mal wieder zwischendurch Geld geliehen, „aber frag mal eine Grundsicherungsempfängerin, wann sie dir das Geld zurückgeben kann. Bescheuert. Da schämt man sich“, schilderte Hille.

Quelle :          TAZ-online           >>>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben     —       

Description Armut Bettler Obdachlos
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Source Armut Bettler Obdachlos 

Author blu-news.org
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2.) von Oben     —       Demonstration unter dem Motto „Wer hat der gibt!“ für die Umverteilung von Reichtum am 19. September 2020 in Berlin.

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Mehr Großzügigkeit wagen

Erstellt von Redaktion am 3. April 2023

Die Grünen nach dem Koalitionsausschuss

Bündnis 90 - Die Grünen Logo.svg

Geht es nicht letztendlich allen Parteien nur darum möglichst viele ihrer Clan-Mitglieder in den vom Steuerzahler bezahlten Lohnbereich unterzubringen? Nach Wahlen war immer alles anders als vorher. Die Macht hat ihren Charakter immer verkauft.

Ein Debattenbeitrag von Jan Feddersen

Die Ergebnisse des Koalitionsausschusses bereiten den Grünen miese Laune. Dabei täten sie gut daran, sich in Selbstreflexion zu üben.

Die miese Laune bei den Grünen ist nur allzu berechtigt: Die zwei anderen Parteien der Ampelkoalition stutzten die ideell erfolgreichste Partei seit 1980 auf ein Maß zurück, das in etwa ihrem Bundestagswahlergebnis entspricht.

14,8 Prozent betrug dieses, nicht weniger, aber eben auch nicht so viel mehr, als dass die Ökopartei wirklich einen auf dicke Hose machen könnte. Nichts von den Protesten ihrer Funktionäre in den Krisengesprächen der Koalition fruchtete wirklich. Herausgekommen ist jetzt ein state of the art, ein „So liegen die Dinge nun einmal“, an dem nicht zu rütteln sei, wie Bundeskanzler Olaf Scholz es Ende der Woche ausdrücklich betonte. Nämlich dass auch Autobahnbauten und -reparaturen keinem Moratorium unterlegen. Das ist symbolpolitisch betrachtet das Krasseste, mit dem sich die FDP durchsetzen konnte.

Aber besteht wirklich Anlass für die Grünen, aufs Wehklagen sich zu verlegen, ja, gar zu fantasieren, mit einem Unionskanzler wie dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst sei die grüne Klimapolitikagenda viel eher zu realisieren? Überhaupt liest man in grünen Verlautbarungen ganz gleich auf welcher hierarchischen Ebene erkennbaren Verdruss mit Blick auf die Ampelregierung. Mal ist es der Kanzler, der zum Teufel gewünscht wird, mal gleich seine ganze Partei, hauptsächlich aber bekommt Verkehrsminister Volker Wissing Kommentare verpasst, die hier nicht zuletzt aus Sorge vor eventueller strafrechtlicher Verfolgung nicht zitiert werden sollten.

Die Gemengelage so zu betrachten – und dies schreibt einer, der in jeder Hinsicht massiv Interesse an einer ökologischen Politik hat, gleich mit welcher Partei, aber selbstverständlich zuvörderst mit den Grünen – ist freilich antipolitisch. Es ventilieren sich in ihr nur Gefühle, keine kühlen Überlegungen, wie der Misere der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit abzuhelfen wäre. Denn: Glauben die Grünen ernsthaft, sie seien mit ihren 14,8 Prozent im Bundestag stark genug, um das, was sie klimapolitisch erreichen wollen, auch durchsetzen zu können? Also bitte!

Was haben sie selbst zu dieser Misere beigetragen?

Wer eine Etappe verliert, wer eine tüchtige Niederlage erlitten hat, ist immer gut beraten, nicht mit Fingern auf andere zu zeigen, sondern darüber nachzudenken, was man selbst dazu beigetragen hat, dass es kam, wie es nun gekommen ist. Einige Hinweise auf diesen Prozess der erfrischenden Neuorientierung sind leicht zu ermitteln: In der Öffentlichkeit stehen die Grünen für eine klimapolitische Transformation, die Angst macht, finanzielle Furcht – wer soll die bezahlen, die ganzen Wärmepumpen und et cetera?

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Politik war immer ein Spiel zwischen Lug und Betrug wobei die Gewählten nach den Wahlen auf ihre Wähler-innen als die Schuldigen zeigen.

Sie verkörpern immer noch, wie in schlechten alten Zeiten, zwar nicht eine Aura des Verbotshaften, aber sie wollen bestimmte Sachen nicht. So ist der parteiinterne Konsens, dass es absolut keinen Aus- und Neubau von Autobahnen geben soll, wie es alle anderen Parteien (inklusive der Union und hier besonders der CSU) befürworten, dafür aber soll ein Bahnnetz her, das mit individueller Straßenmobilität konkurrieren kann. Das Image, die nahezu baufälligen Autobahnen nicht ausbauen zu lassen – ob das im Detail so zutrifft oder nicht –, haben die Grünen hartnäckig an sich haften.

Und das ist falsch, wie überhaupt politstrategisch und verkehrspolitisch kontraproduktiv ist, sich buchstäblich für jeden, wie es in einem grüneninternen Statement jüngst hieß, „Holunderstrauch“ einzusetzen, aber alle Kraft darauf zu verwenden, bis in die letzte Ecke Straßen zu verhindern, die schnelleres Fahren ermöglichen. Ebenso untilgbar ist das Image, gegen jedes Großprojekt zu sein. Beispielhaft dafür ist die Untertunnelung des Fehmarn-Belts zwischen Schleswig-Holstein und der dänischen Insel Lolland, mit der der Weg zwischen Hamburg und Kopenhagen nicht mehr sechs, sondern allenfalls drei Stunden dauern würde.

Grüne haben ein Interesse, FDP bei Laune zu halten

Grüne, das könnte die Lehre aus der 30 Stunden währenden Krisentagung der Ampel sein, fahren buchstäblich nicht gut damit, sich als solitäre Re­gie­rungs­ad­vo­ka­t*in­nen für die Sache der Klimapolitik zu verwenden: Das macht einsam, politisch vor allem.

Quelle       :            TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —    Logo of Alliance ’90/The Greens

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Wahlrechtsdeformation :

Erstellt von Redaktion am 3. April 2023

Ampel gegen Rot-Grün-Rot

File:Reichstag Plenarsaal des Bundestags.jpg

Leer, leer , leer sind alle meine Plätze – gerade so leer als alle Köpfe welche dort einst saßen.

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Die Macht, NEIN zu sagen

Erstellt von Redaktion am 3. April 2023

ROSA ELEFANT IM RAUM

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Kayvan Soufi-Siavash redete jüngst am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin – dort wo die neue deutsche Demokratiebewegung ihren Anfang nahm. Mit seiner Rede ermunterte er die Teilnehmer der Kundgebung zur Selbstermächtigung. Seine Rede sollte verbereitet werden. Wer sie begreift, der ist reif für Veränderungen. Wer sie weitergibt, der verbreitet das Virus der Demokratie. Das kann sehr ansteckend wirken.

Worüber man in diesem Land nicht reden darf

„Ich war die Tage im Berliner Zoo auf der Suche nach einem Tier.

Einem Tier, das ich dort nicht finden konnte – obwohl es mir im täglichen Leben seit Jahren permanent begegnet.
Die Rede ist von diesem gigantischen rosa Elefanten, der seit dem Jugoslawienkrieg 1999 überall in der Republik im Wege herumsteht und den wir alle tagtäglich erkennen können, über den dieses Land aber nicht sprechen darf oder will.

Befragung im Polizeigewahrsam

Dieser rosa Elefant steht für die Erkenntnis, dass das, was wir Demokratie nennen, also die Herrschaft durch das Volk, volk-kommen ins Leere läuft. Und zwar zu allen Themen, zu denen wir, die Bürger, später zur Kasse gebeten werden – in dem Sinne, dass wir für sie einen Preis zu bezahlen haben.
Ob Bankenpolitik, Flüchtlingspolitik, NATO-Politik oder jüngst Gesundheitspolitik: Wir werden nie wirklich gefragt.
Und selbst wenn, so ist der Regierung unsere Antwort ziemlich egal. Sie handelt stets so, dass sie immer das Gegenteil von dem beschließt, was die Mehrheit abgestimmt hätte, HÄTTE man sie dazu direkt befragt.
Direkte Befragung findet in der BRD nur in Polizeigewahrsam statt.
Und auch nur für Otto Normalbürger, die sich durch Präsenz auf der Straße ungebeten demokratisch betätigen. Das Hochhalten des Grundgesetzes reichte dazu in den Corona-Hochzeiten.
Das HOCHHALTEN des Grundgesetzes galt ganz offiziell als eine unerlaubte politische Äußerung! Ich habe diesen Spruch von der Polizei, hier auf dem Rosa-Luxemburg-Platz mehrfach gehört.

Das Stück „Die Angepassten“

Was ich nicht gehört habe, war Widerspruch, z.B vom Theater Volksbühne im Hintergrund – im Gegenteil. Diese Institution war während der gesamten Corona-Zeit auf der Seite der Regierung und verhüllte seine Fassade wie Christo seinerzeit den Reichstag – nur dass es bei Christo Kunst war.
Bei der Volksbühne handelte es sich um Opportunismus: Dieses Haus hat seine Glaubwürdigkeit verspielt.
Der Vorhang ist gefallen und was wir sehen konnten, war das Stück „Die Angepassten“.

Mauer der Propaganda

Natürlich ist diese Kurzbeschreibung des Status quo in diesem Land eine für mich typische Verschwörungstheorie. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen. Muss man auch nicht, sie steht ja schon: in den Köpfen der meisten.
Es ist die Mauer der Propaganda, an der kontinuierlich gearbeitet wird.

Als freier Reporter in Weißrussland

Ich war die letzten Tage in Weißrussland.
Als freier Reporter mache ich mir generell selber ein Bild von der Lage. Das unterscheidet mich von den Hofberichterstattern und Atlantik-Brücke- Journalisten, die wir beim Tagesspiegel, der taz, bei FAZ, Spiegel und natürlich ARD und ZDF finden.
Diese Menschen sind so angepasst, dass sie Seymour Hersh für den Halbbruder von Julian Assange halten und sich fragen, warum der immer noch auf freiem Fuß ist.

Weißrussland hat nie vergessen, was Krieg bedeutet

Warum war ich in Weißrussland?
Es ging mir um die Frage, was weiß Russland, was wir nicht wissen und die Antwort habe ich ihnen mitgebracht:
Weißrussland hat nie vergessen, was Krieg bedeutet.

Ein Drittel der Weißrussen ermordet

Es gibt dort eine lebendige und vor allem aufrichtige Erinnerungskultur. So war ich in Chatyn – dem weißrussischen Chatyn, nicht zu verwechseln mit dem russischen Katyn.
Der Ort Chatyn steht für das Auslöschen von mehr als 200 Dörfern durch die Wehrmacht. Mehr als 200 Dörfer wurden buchstäblich dem Erdboden gleich gemacht. Die Menschen wurden in Scheunen gejagt und angezündet. Wer versuchte zu entkommen, der traf auf ein Maschinengewehr oder einen Flammenwerfer.
Insgesamt wurde ein Drittel der damals 10 Millionen Weißrussen ermordet. Frauen, Kinder, Säuglinge, Schwangere, Alte wurden systematisch vernichtet.
Dieses Verbrechen an den Weißrussen jährt sich in diesem Jahr zum 80sten Mal. An der Gedenkstätte waren Diplomaten und Medienvertreter aus aller Welt. Zehntausende von Weißrussen hatten sich wie jedes Jahr dort versammelt.
Nicht zu finden war auch nur ein deutsches Medium oder ein Vertreter der Republik unter Olaf Scholz.

Scholz kann sich nicht erinnern

Scholz kann sich entweder nicht erinnern, z.B. an Cum Ex, die Außenpolitik der SPD unter Willy Brandt – oder er macht in Washington gute Miene zum bösen Spiel, wenn ihm dort sein Chef Joe Biden erklärt, dass die BRD bei Nord Stream 2 bald in die Röhre schauen werde.

Zurück nach Weißrussland: Belarus wird vom Westen sanktioniert.
Weil es immer noch Kontakt zu seinem Nachbarn Russland hält. Weil es mit Russland spricht und weil der weißrussische Präsident kein lupenreiner Demokrat ist, der seinen Bürgern echte Freiheit vorenthält.

Friedensnobelpreis: 7 Länder in 8 Jahren bombardieren

Während der gesamten Corona-Zeit war etwa das Tragen von Masken in Weißrussland immer freiwillig.
Daran kann man erkennen, wes Geistes Kind dieser weißrussische Präsident ist. So wird das nie etwas mit dem Friedensnobelpreis. Dazu müsste er schon wie Obama 7 Länder in 8 Jahren bombardieren.

Russische Panzer durch McDonalds-Filiale ersetzen

In Weißrussland traf ich auf eine mich beschämende Gastfreundschaft. Zusammen mit 50 anderen deutschen Friedensaktivisten wurden wir herzlich begrüßt und konnten Blumen niederlegen.
Was ich nicht konnte, war offen darüber zu sprechen, wie der Westen aktuell mit der eigenen Geschichte umgeht.
In Deutschland werden Denkmäler abgebaut, welche an die Befreiung von den Nazis durch die Rote Armee erinnern und demontiert, was auch nur entfernt an Russland erinnert oder Russisch im Namen trägt. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die russischen Panzer vor dem Brandenburger Tor entfernt werden, um sie durch eine McDonalds-Filiale zu ersetzen.
Zur Befreiung von Auschwitz wurden die russischen Befreier, also die Nachfolger der Roten Armee, beim letzten Mal schon nicht mehr eingeladen.

Rolle Russlands fälschen.

Ich halte das für eine skandalöse und unfassbar geschmacklose Geste. Es ist die Vorstufe, die Rolle Russlands im Zweiten Weltkrieg zu fälschen.
Wer die wahre Geschichte des Zweiten Weltkriegs vergessen lassen möchte, plant, sie zu wiederholen.

100 Milliarden Euro großer Elefant

Dieser rosa Elefant ist nicht zu übersehen. Er ist 100 Milliarden Euro groß und nennt sich Sondervermögen.
Er kommt als Wiedereinführung der Wehrpflicht, Dienstpflicht genannt, durch die Tür. Die Sondervermögen wurden, wie seinerzeit die Kriegskredite, die den Ersten Weltkrieg erst ermöglichten, schon wieder durch die SPD bewilligt.
Wer hat uns erneut verraten? A-Sozial-Demokraten.

Abhängigkeit von den USA

Wir sind Lichtjahre von einer halbwegs eigenständigen Außenpolitik entfernt. Es gab sie einst unter Willy Brandt und Egon Bahr.
Heute leben wir in der vollkommenen Abhängigkeit von den USA. Spätestens seit dem Nord-Stream Anschlag der NATO auf das NATO-Mitglied BRD wissen wir, was Washington für Deutschland vorgesehen hat: Wir sollen – wie damals – der Führung bis in den Untergang folgen.

Deutschland ist als Kampfzone vorgesehen

Anders als unter der Regierung Helmut Kohl besteht die politische Elite der Bundesrepublik mittlerweile nur noch aus Erfüllungsgehilfen, die zu schlicht sind, um zu erkennen, dass der nächste große Krieg, der aktuell von westlichen Eliten vorbereitet wird, sich gegen Russland, aber vor allem gegen China richtet und auf der eurasischen Platte ausgetragen werden soll.
Deutschland ist dabei als Kampfzone vorgesehen und wird ohne Skrupel der USA geopfert werden: Deutschland kann weg. Es war als politischer Rivale stets eine Nervensäge und ist heute politisch so unterbelichtet, dass es beim eigenen Untergang auch noch aktiv mithilft. Mit Baerbock, Habeck und Co. haben wir bildungsferne Schichten in deutschen Führungspositionen.
Ein Selbstmordkommando, das den Sprenggürtel für ein Mode-Accessoire hält und bereit ist, den Knopf zu drücken, weil der diesmal grün lackiert ist.
Wer in Deutschland rechts abbiegen möchte, muss den grünen Pfeil nehmen.

Deutschland zum Abschuss frei

Wenn japanische Kamikazeflieger sich im Zweiten Weltkrieg aufgeopfert haben, geschah dies freiwillig und aus Loyalität zum eigenen Land.
Unsere Politiker geben Deutschland zum Abschuss frei, weil man ihnen wahrscheinlich in Washington erklärt hat, dass ein nicht mehr existierender Industriestandort Deutschland gut für das Klima sei. Nur so sei der Kurswechsel um 360 Grad möglich, wird sich Annalena denken …

BRD unter Rot-Grün schafft sich ab

Die BRD unter Rot-Grün schafft sich ab. Und Corona war dabei nur der Testlauf. Es ging nie um Gesundheit, es ging um das Einüben des Ausnahmezustandes: für den Kriegsfall.
Wie weit würden die Bürger sich an die neuen Regeln halten? Gegenseitiges Denunzieren bei Regelverstößen: Wer würde mitmachen? Und wer nicht ?
Das galt es herauszufinden und die Daten sind abgespeichert. Unterm Stich lief die Täuschung perfekt und nahezu jeder Widerstand wurde im Keim erstickt oder niedergeprügelt.
Die Rolle der Presse, der Polizei oder Justiz waren dabei mit wenigen Ausnahmen beschämend.

Marktkonforme Demokratie

Die Presse hat sich zum Propaganda-Werkzeug der Konzerne machen lassen. Die Konzerne sind die eigentliche Regierung. Wer was zu sagen hat, trifft sich in Davos. Da, wo’s einen Effekt hat, wenn etwas global beschlossen wird.
Wir leben in einer marktkonformen Demokratie, wie Merkel schon bestätigte. Gemeint war Konzernfaschismus, aber das traute sich Mutti nicht zu sagen.

Was bedeutet es eigentlich, Uniform zu tragen?

Die Polizei hat der Politik dabei geholfen, das Grundgesetz niederzuknüppeln, als sie Bürgern mit dem Schlagstock begegnete, die für ihre bis dato unveräußerlichen Grundrechte auf die Straße gingen.
Aber was bedeutet es eigentlich, Uniform zu tragen?
Diese Uniform repräsentiert nicht die Regierung, sie repräsentiert den Staat und seine Verfassung.
Der Staat wiederum sind wir: die Bürger. Und eben nicht eine übersichtliche korrupte Politkaste, die sich eher mit Lobbyisten trifft als mit den Wählern.

Polizisten für Aufklärung

Wenn Sie, liebe Polizisten, abends ihre Uniform ausziehen, erwachen Sie in dem Land, dem Sie zuvor geholfen haben, seine Bürger niederzuprügeln. In diesem Land leben Ihre Frau und Ihre Kinder.
Erkennen Sie, wie Sie benutzt werden?
Orientieren Sie sich in Zukunft an Kollegen, die es auch unter Ihnen gibt und schließen Sie sich diesen Kollegen an.
Ich spreche von den Polizisten für Aufklärung und bedanke mich für ihr mutiges Handeln.
Werte Polizisten! Ich hatte außerhalb der Corona-Demos immer wieder mit Ihnen zu tun und Sie machten stets einen super Job. Bei Corona wurden Sie leider vorgeführt.
Wachen Sie auf und stehen Sie auf der richtigen Seite der Geschichte! Das hat Vorteile. Sie können später ihren Kindern und Enkelkindern erklären: Ich habe nicht mitgemacht. Ich habe mich nicht missbrauchen lassen. Ich habe mich an meinen Eid erinnert, den ich auf mein Land, die Bundesrepublik Deutschland geschworen habe.
Sie haben nicht der aktuellen Regierung Ihre Treue geschworen, sondern der Bundesrepublik Deutschland. Einem Land, das vorgibt, demokratisch zu sein.

Erweiterte Verhörmethode

Und wo stand während der Coronazeit die Justiz?
Sie stand und steht, dort, wo sie auch bei Julian Assange oder Michael Ballweg stand und steht. Die Justiz hat das Unrecht unter Corona erst ermöglicht, indem sie der Politik jeden Wunsch erfüllte. Ähnlich wie US-Juristen seinerzeit erklärten, Waterboarding sei gar keine Folter, sondern nur eine „erweiterte Verhörmethode“ („enhanced interrogation technique“).
Auch die deutsche Justiz ist kein Garant für das Grundgesetz mehr. Sie ist im Gegenteil ein zuverlässiger Partner bei dessen Demontage.

Und wo standen die Künstler?

An der Volksbühne haben wir es gesehen. Die Volksbühne titelte damals: „Wir sind nicht Eure Kulisse“.
Stimmt, ihr seid die Bühne für staatliche Willkür. Ohne staatliche Subventionen gehen bei euch die Lichter aus.
Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.
Brecht würde brechen und Rosa Luxemburg darauf bestehen, eure Adresse in „Platz der Bücklinge“ umzubenennen.

Stay at home

Was ist aus der ZDF-Anstalt geworden?
Was aus den sogenannten Gangster Rappern in Berlin? Ihr seid „Stay at home“-homies!
Das hat mit NWA soviel zu tun wie Smudo mit Snoop Dog.

Respekt an Nena, Uwe Steimle oder Nicolai Binner

Wir, die Bürger, welche sich gegen die Willkür der Regierung gewehrt haben, sind mehr Gangster im Geiste, als ihr alle zusammen. Mein Respekt geht raus an Nena, Uwe Steimle oder Nicolai Binner.

Terroranschlag auf die Nord-Stream-Pipeline

Kommen wir zur zum Terroranschlag auf die Nord-Stream-Pipeline.
Hier handelt es sich vor allem um einen Anschlag auf die deutsche Industrie. Deutschland muss jetzt sein Gas um den x-fachen Preis in den USA und Norwegen einkaufen, während Russland sein Gas zu Höchstpreisen weltweit anbietet – und auch loswird.

Auf die deutsche Presse NULL verlassen

Wer wissen will, was Phase ist, kann sich auf die deutsche Presse NULL verlassen. Die deutsche Presse verbreitet, wo immer es von Washington gefordert wird, US-Propaganda.
Ohne das journalistische Urgestein Seymour Hersh wüssten die Deutschen nur das, was an Märchen von der Tagesschau in Umlauf gebracht wird.

Frage an den Mittelstand:

Wo bleibt da eigentlich Ihre Empörung? Man hat Sie gerade an die Konkurrenz verraten!
Wo bleibt Ihre Verbundenheit zu Ihrem Land, dem Standort Deutschland?
Hätten Sie noch die Güte, sich zu erheben!? Z.B. für ihre Belegschaft – Sie sind doch Familienunternehmen. Dann handeln Sie wie eine Familie: Stehen Sie füreinander ein, und füreinander auf. Papi und Mami machen den Anfang in einem Familienunternehmen. Sie zeigen sich loyal gegenüber ihrer Belegschaft und ihrem Land.

Investieren in die größten Profite

Die Großkonzerne kennen keine Loyalität. Für sie steht das D nicht für Deutschland, sondern für Dollar. Sie investieren immer dort, wo sie die größten Profite machen können. Die Großkonzerne folgen aktuell dem Ruf der USA, denn Amerika lockt mit billigen Energiepreisen und tollen Gewinnen.

Deutschland Kriegsgebiet

Und noch eine Frage an den deutschen Mittelstand: Warum sehen Sie zu, wie Deutschland über illegale Lieferungen von Kampfpanzern in ein Kriegsgebiet zur Kriegspartei wird?
Sollte der von unseren Medien vollkommen verzerrt dargestellte Ukraine-Krieg sich ausweiten, ist auch Ihr Standort, Ihr Unternehmen betroffen.

Der Ukraine-Krieg begann 2014

Der Ukraine-Krieg begann nicht mit dem illegalen Grenzübertritt der Russen unlängst in der Ukraine. Er begann 2014 mit dem illegalen Putsch der USA in Kiew und dem jahrelangen Beschuss der Region Donbass, um dort vor allem Ukrainer mit russischen Wurzeln zu vertreiben und zu töten.
Wer diesen Teil der Geschichte einfach weglässt, lügt – wie einst ein deutscher Kanzler, als er sagte, ab 5.45 Uhr werde „zurück“-geschossen.

USA: „Die einzige Weltmacht“

Der Krieg gegen Russland über den Hebel Ukraine war von Washington lange geplant und offen angekündigt.
Der langjährige US-Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski schrieb das Drehbuch zum Ukrainekrieg. Lesen Sie sein Buch über die USA: „Die einzige Weltmacht“.

Kennen Sie die Bilder von Berlin in der Stunde Null?

Jeder, der das erkennt und nicht aufsteht, nimmt billigend in Kauf, dass Deutschland erneut in eine militärische Auseinandersetzung mit Russland gerät.Können Sie sich noch an den Ausgang beim letzten Mal erinnern?
Kennen Sie die Bilder von Berlin in der Stunde Null?

Sind Sie IRRE, wenn Sie denken, es würde dieses Mal zu unseren Gunsten ausgehen??

Russland wird uns das nicht vergessen

Angela Merkel hat neulich offen zugegeben, das Minsker Abkommen hätte nur der Täuschung gedient. Ziel war es von Anfang an, die Ukraine aufzurüsten und fit zu machen für einen Stellvertreterkrieg gegen Russland.
Mit dieser Politik hat die Ex-Bundeskanzlerin die deutsche Diplomatie verraten.
Ist das unser Zeichen der Dankbarkeit für die Wiedervereinigung?
Russland wird uns das nicht vergessen.

Einen nuklearen Holocaust riskieren

An alle Scharfmacher in Regierung und bei der Presse: Wissen Sie was Krieg ist? Wohl kaum.
Wenn es nach mir ginge, würde man in diesem Land mal für lächerliche 7 Tage den Strom abstellen.
Glauben Sie mir, das, was binnen dieser Tage an Schaden entstünde, würde ausreichen, um ihnen eine Lektion zu erteilen.
Deutschland würde im Chaos versinken und Sie würden nie wieder auf die Idee kommen, in irgendwelchen Talkshows von einem „robusten Mandat“ zu faseln oder ernsthaft zu fordern, man sollte eine nukleare Antwort auf Putins Politik „nicht von vornherein ausschließen“, denn das wäre ein Zeichen von Schwäche.
Wer so etwas öffentlich von sich gibt, ist irre und riskiert einen nuklearen Holocaust. Er hat in Führungspositionen nichts verloren.

Milliarden kassiert für unerforschte Plörre

An dieser Stelle ein Wort zur Pharma-Industrie.
Die Pharma-Industrie hat es nach der Bankenkrise ebenfalls geschafft, Deutschland auszunehmen wie eine Weihnachtsgans. Sie hat für völlig unerforschte Plörre Milliarden kassiert und kommt mit keinem Cent für die Folgen bei den Opfern auf. Das ist ein Skandal.

Impfopfer mit irreparablen Schäden

Laut Lauterbach existieren offiziell 20.000 Impfopfer mit zum Teil irreparablen Schäden.
Zum Vergleich: Bei Contergan waren es 3000 und das Medikament wurde vom Markt genommen.
Pfizer-Biontech-Plörre bekommen Sie immer noch. Sie wird weiter verimpft, sogar an Kinder und Schwangere. Hier handelt es sich um ein Verbrechen, denn mit der Gesundheit der Bürger wird bewusst gespielt.
Die Bürger wurden von der eigenen Regierung zu Versuchskaninchen erklärt und der Scharlatan Lauterbach wird uns am Ende mit dem Satz kommen, den schon Mielke kurz vor Schluss von sich gab: „Ich liebe doch alle Menschen.“
Es wird Zeit für ein zweites Nürnberg, Herr Lauterbach – und an Herrn Spahn erinnern wir uns auch noch.

Hinterzimmer-Verträge sittenwidrig

Die Verantwortlichen gehören vor ein ordentliches Gericht und die Pharma-Industrie an den Kosten für die Opfer beteiligt. Ihre Hinterzimmer-Verträge sind sittenwidrig und wurden in Wahrheit nicht mit unabhängigen Volksvertretern abgeschlossen, sondern mit Lobbyisten, die man zuvor zu Spitzenpolitikern gemacht hatte.
Des Weiteren fordere ich, dass 50 % der GEZ-Gebühren in einen Opferfonds für Impfschäden fließen sollten. Die GEZ-Medien haben mit ihrer Impfpropaganda so viel Schuld auf sich geladen, dass sie dafür jetzt bezahlen müssen.

Zerstörung des Sozialstaates

Ein Wort an das, was sich Regierung nennt:
Die Aufgabe jeder Regierung besteht darin, das eigene Volk vor Schaden zu bewahren. Das bedeutet vor allem: alles für den sozialen Frieden im Inland und den Frieden mit einem Nachbarn zu tun.
Und was tut unsere aktuelle Bundesregierung?
Sie arbeitet aktiv an der Zerstörung des Sozialstaates. Sie öffnet Grenzen, ohne auch nur im Ansatz über die Folgen nicht geleisteter Integration nachzudenken.
Wie will sie die Millionen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge so in Deutschland einbinden, dass sich nicht unzählige Parallelgesellschaften bilden? Darauf hat sie keine Antwort.
Die Regierung benutzt Flüchtlinge. Unter anderem, indem sie seit Jahren vermeidet zu fragen, vor wem oder was diese Menschen eigentlich auf der Flucht sind. Die Antwort würde in den meisten Fällen nämlich lauten: vor einem aktuellen NATO-Krieg oder den hochsubventionierten Exportprodukten der EU.

System von fake-money ist nicht mehr zu retten

Die NATO ist ein Angriffsbündnis, dessen Ziel es ist, für die EU und die USA Märkte zu erobern. Würde die NATO mit ihrer „Außenpolitik“ aufhören, wäre übermorgen das Kapitel des Finanzkapitalismus zu Ende. Er würde noch schneller zusammenbrechen als WTC 7.
Vor wenigen Tagen stand die Großbank Credit Suisse kurz vor dem Untergang und konnte nur durch die UBS und später Blackrock vor dem Crash gerettet werden … vorübergehend.
Sehen wir der Wahrheit ins Auge: Dieses System von fake-money ist nicht mehr zu retten – game over.

Chinesische Wirtschaft ist der deutschen überlegen

Ein Wort zur Wirtschaft jenseits des Dollarraums. Als sich dieser Tage Putin mit dem chinesischen Staatschef traf, um stabile langjährige Wirtschaftsbeziehungen zu vereinbaren, musste jedem klar werden, was das für Deutschland bedeutet:
Wir sind mittelfristig raus.
Russland hat sich vom Exportland Deutschland abgewendet und kauft jetzt in China ein. Und glauben Sie mir, die chinesische Wirtschaft ist der deutschen überlegen.

Titanic verlassen

Welche Möglichkeiten haben wir in Deutschland, um nicht unterzugehen?
– Wir müssen die Titanic verlassen, solange die Rettungsboote noch zu Wasser gelassen werden können, oder besser: solange die USA diese Rettungsboote nicht gesprengt haben.
– Wir brauchen eine eigene europäische Perspektive und unabhängige Außenpolitik. Diese Politik kann sich nur am Frieden mit unseren Nachbarn orientieren. Wandel durch Handel sollte die deutsche Losung sein. Innerhalb einer US-hörigen, gelenkten Demokratie ist diese Politik nicht möglich. Sie wird sabotiert.
– Wir brauchen daher direkte Demokratie. Alle 4 Jahre sein Kreuz zu machen, ist eine Simulation von Demokratie.
– Parteiprogramme müssen betreffs ihrer Kernaussagen verpflichtend sein. Wer wie die Grünen mit dem Verbot von Rüstungsgütern in Krisengebiete wirbt, um nach der Wahl das Gegenteil zu tun, ist ein Betrüger. Die Wahl sollte wiederholt werden oder aber der Export verboten.

Wahlbetrug NACH der Wahl

In der Folgenlosigkeit für offensichtliche politische Täuschung liegt das Dilemma für den Verlust in das Vertrauen demokratischer Institutionen.
Bei uns findet der Wahlbetrug NACH der Wahl statt. Wir brauchen Wahlbeobachter zwischen den Wahlen, nicht nur davor.

Unsichtbaren Machtpyramide

Und zum Schluss zum Kern unseres Problems, von dem immer nur die Symptome behandelt werden: Unser Problem ist unser Geldsystem. Private Banken schöpfen Geld aus dem Nichts und haben dabei den Bezug zur Realwirtschaft vollkommen verloren. Alles basiert auf Zins- und Zinseszins. Diese Konstruktion führt zwangsläufig in den Krieg, denn es herrscht Wachstumszwang.
Dass wir ausgerechnet in einer Wirtschaftsnation wie der BRD nicht darüber sprechen dürfen, hat viele Gründe; der Wesentliche jedoch ist der politische Klimawandel – und der ist zu 100% vom Menschen gemacht. Allerdings von nur sehr wenigen Menschen. In einer für die meisten unsichtbaren Machtpyramide.

Krieg gegen die Menschheitsfamilie

Aktuell verfügen 8 (in Worten: acht) Menschen über das gleiche Vermögen wie die untere Hälfte der Menschheit, aktuell etwa 3.5 Milliarden Menschen.
In einer derart ungerechten Welt kann es keinen Frieden geben und wer eine derart ungerechte Welt nicht anprangert, ist an echtem Frieden nicht interessiert – im Gegenteil. Er benötigt die ungerechte Verteilung, um seinen Krieg gegen die Menschheitsfamilie führen zu können.

Bergpredigt unter 2G-Regeln

Wie hätte Jesus auf die eben genannten Zahlen reagiert? Hätte Jesus die Bergpredigt unter 2G-Regeln gehalten, wenn die römische Regierung das verlangt hätte? Hätte er die Stimme erhoben?
Fragen Sie sich, wann Sie zum letzten Mal die eigene Stimme erhoben haben, um gegen allgemeines Unrecht zu protestieren.

Sind Sie die Veränderung, die Sie sehen wollen?

Mein Rat: Folgen sie Ihrem Herz. Ihr Herz ist deutlich schwerer durch Propaganda zu manipulieren als Ihr sogenannter Verstand. Glauben Sie nicht alles, was Sie denken. Vertrauen Sie verstärkt dem, was Sie fühlen.

Experte für Ihr Inneres

Werden Sie ein Experte für Ihr Inneres und werden Sie aktiv.
Werden Sie Teil der Friedensbewegung – Teil der Friedhofsbewegung sind Sie schon. Überwinden Sie die Angst, mutig zu sein.
Machen Sie sich selber stolz, indem Sie die Empfehlungen der Regierung zurückweisen, die nur dazu dienen, Ihre Ohnmacht zu stabilisieren.
Sie sind nicht ohnmächtig – im Gegenteil: Sie haben die Macht, NEIN zu sagen. NEIN zu einer Politik, die nicht ehrlich ist. Einer Politik, die spaltet. Einer Politik, die ihnen erklärt, es wäre solidarisch, die eigenen Verwandten im Altenheim verrecken zu lassen, anstatt sie zu besuchen und sie menschliche Nähe und Würde spüren zu lassen. NEIN zu einer Politik, die Ihnen erklärt, mit dem Export von schweren Waffen würde man Kriege beenden. Einer Politik, die jeden gemachten Vorschlag für alternativlos erklärt.
Sie wissen, dass das alles gelogen ist.

„Du sollst nicht lügen“ – aber du sollst auch nicht schweigen, wenn Dritte es in Deinem Namen tun.

Was antwortete Ho Chi Minh während des Vietnamkrieges, als er von US-Reportern gefragt wurde, was er von westlicher Zivilisation halte?
Er antwortete:
„Ja, eine westliche Zivilisation wäre eine wirklich gute Idee.“

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Die Volksrepublik China

Erstellt von Redaktion am 2. April 2023

Die chinesische Auffassung von Demokratie

In Schland durfte von der FDP  nur „Hoch auf den gelben Wagen“ gesungen werden.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Während der Westen der VR China jegliches Demokratieverständnis schlichtweg abspricht, erläutern und veröffentlichen hochrangige Experten des ältesten und heute wieder sehr lebendigen Kulturstaates der Welt auf einem Forum des Central South University’s Human Rights Centers die Besonderheiten der chinesischen Demokratie.

Ein Blick in die chinesische Verfassung erleichtert das Verständnis. Dort wird schon in der Präambel eine ‚demokratische Diktatur des Volkes‘ skizziert. Im Kapitel I. Art. 1 steht dann: „Die Volksrepublik China ist ein sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht“.

Seit 40 Jahren hat sich in China viel getan, um zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt zu werden. Dringend Zeit also für eine aktuelle Bestandsaufnahme in Sachen Demokratie chinesischer Art (DCA). Alle Experten sind sich darin einig, dass das Wesentliche des chinesichen Demokratie der Respekt und die Wahrung der Menschenrechte ist. Chen Youwu, Dekan der Guangdong University of Technology’s School of Law sieht die DCA pragmatisch als Mittel zur Realisierung eines Gemeinwohls für die chinesische Bevölkerung von 1,4 Mrd Menschen, also zur koordinierten, friedvollen Entwicklung von Zivilisation, Menschen, Natur und materiellen Gütern.

Aus chinesischer Sicht ist Demokratie demnach ein Gesamtprozess (whole-process), der auch international gelten sollte. Die Rolle der Komunistischen Partei ist eine Besonderheit der DCA und in diesen Gesamtprozess eingebunden. Dabei geht die Macht im Staat vom Volke aus, denn neben der CPC sind im Volkskongress noch weitere acht Parteien und andere Interessengruppen vertreten und werden gehört.

Aus Unwissen über oder Desinteresse an chinesischer Kultur und Geschichte übersehen wir, dass die CPC (Communist Party of China) China von Unterdrückung und Ausbeutung durch westliche Demokratien befreit und wieder zu Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein entwickelt hat. Seit der Gründung 1949 hat China mehrere Reformen hinter sich gebracht und sich bemerkenswert entwickelt.

Ein großer Unterschied zwischen der DCA und anderen Demokratieformen ist ihr sozialer Charakter und ihre stetige Entwicklung. Für China gibt es gewichtige historische und soziale Gründe, einen eigenen demokratischen Weg einzuschlagen, der sich von westlichen Demokratien deutlich unterscheidet. Andere Länder, andere Sitten, also Gegebenheiten, die aus unserer Sicht nicht verständlich oder ungewöhnlich sind, haben tief wurzelnde Bedeutung und sind nur im Kontext des Landes und seiner Geschichte zu verstehen. Die Werte asiatischer Gesellschaften können ohne tiefere Kenntnis asiatischer Zivilisationen nicht verstanden werden. Umso wichtiger ist es gerade bei den aktuellen Veränderungen in der Welt, sich ehrlich mit der Kultur und Geschichte Chians zu beschäftigen, bevor man voreielige Beurteilungen abgibt.

Demokratie gibt es bei der Diversität der Staatsformen und Kulturen auf unserer Welt nicht in nur einer Art und Weise. Die westliche Denke, ihre Demokratie mit Gewalt durchzusetzen und anderen Ländern aufzuzwingen ist falsch, denn ein Volk will stets eine Politik, die seine Probleme löst. Es gibt kein Monopol auf Demokratie und ihre Definition. Alle Menschen haben das Recht, ihre Volksherrschaft (Demokratie) so zu gestalten und fortzuentwickeln, dass alle sich in kulturtypischer Weise an der politischen Willensbildung beteiligen können. Die DCA als Gesamtprozess ist da neu.

Urheberrecht
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Oben       —     伟大历程 辉煌成就——庆祝中华人民共和国成立70周年大型成就展

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Zwei gegensätzliche Modelle

Erstellt von Redaktion am 1. April 2023

Streiks machen Schlagzeilen in Deutschland wie in Frankreich.

Reichstagsgebäude von Westen.jpg

Folgen wir unserer Sprache, müssten hier die Gewählten Vertreter der Reichsbürger sitzen. Aber die Politik zeigt schon eigenartige Auslegungen wenn sie sich selber schützen will.

Von  :    JAYRÔME C. ROBINET

Doch Tradition, Funktion und die Ziele der Gewerkschaften in beiden Ländern könnten kaum unterschiedlicher sein. Während deutsche Gewerkschaften die Lage der Ar­bei­te­r:in­nen verbessern wollen, lehnen die französischen Kompromisse ab.

Seit Anfang März sind die Straßen in mehreren Städten Frankreichs mit Müll übersät, Berge von Müllsäcken türmen sich mit ihrem Gestank auf, nach Angaben der Pariser Stadtverwaltung liegen mittlerweile fast 10.000 Tonnen nicht abgeholter Müll in der französischen Hauptstadt. Der Streik bei der Müllabfuhr ist Teil der aktuellen Proteste gegen die Rentenreform. In Deutschland höre ich häufig, dass Frankreich bei sozialen Protesten einen Vorsprung hätte und dass in meiner alten Heimat der Geist der Revolution noch herrschen würde. Nun möchte ich mit diesem Mythos aufräumen. Um zu verstehen, warum Streiks und Demonstrationen in Frankreich nicht wirklich einem „revolutionären Geist“ folgen, müssen wir uns anschauen, wie Gewerkschaften im Unterschied zu Deutschland funktionieren und wie außerdem das präsidentiell-parlamentarische Regierungssystem in Frankreich mitunter einer „präsidentiellen Monarchie“ ähnelt.

Zweifellos sind sowohl in Deutschland als in Frankreich Gewerkschaften legitime Organe zur Vertretung der Interessen von Ar­beit­neh­me­r:in­nen. Hinsichtlich der Organisationsformen wie auch der Ziele und Vorgehensweisen unterscheidet sich die Gewerkschaftsarbeit in den zwei Ländern. Der Politologe René Lasserre beschreibt in einer Essaysammlung die Entstehung und Methoden der Gewerkschaften auf beiden Seiten des Rheins. Der Kontrast sei so groß, dass man in vielerlei Hinsicht sagen könnte, dass es sich eigentlich um zwei gegensätzliche Modelle handelt.

Seit ihren Ursprüngen am Ende des 19. Jahrhunderts steht die französische Gewerkschaftsbewegung unter dem Zeichen des Pluralismus: zum einen der Organisationsformen, darunter Berufssyndikalismus und Industriesyndikalismus; zum anderen der Ideologien, darunter Anar­chis­t:in­nen, Mar­xis­t:in­nen, So­zia­lis­t:in­nen und Chris­t:in­nen. Die Folge der Zerstrittenheit unter den Gruppen waren zahlenmäßig schwache Organisationen. Laut einer vom französischen Arbeitsministerium veröffentlichten Studie lag im Jahr 2019 der gewerkschaftliche Organisationsgrad insgesamt – im öffentlichen und privaten Sektor zusammen – bei 10,3 Prozent. In gewisser Weise sind französische Gewerkschaften eine Minderheitsbewegung.

Dazu kommt nun der vielleicht wichtigste Punkt: Der Syndikalismus in Frankreich ist stark geprägt von einer Tradition des Protests gegen die soziale Ordnung. Im Grunde sind französische Gewerkschaften nicht so sehr ein Mittel zur Verteidigung der Interessen der Arbeiter:innen, sondern sie verstehen sich vielmehr als Instrument zur Umgestaltung des kapitalistischen Systems. Obwohl sich heute die Gewerkschaften in der Grande Nation nicht mehr auf den revolutionären Syndikalismus der direkten Aktion berufen würden, sondern sich in vielfältiger Form am wirtschaftlichen und sozialen Leben beteiligen, bleiben sie dem sozialen Dialog gegenüber misstrauisch. Sie sind weitgehend auf Konfrontation eingestellt, anstatt auf Engagement oder Teilhabe, die ihre Autonomie einschränken könnte. Insbesondere lehnen sie jede Form der Zusammenarbeit mit den Ar­beit­ge­be­r:in­nen oder dem Staat ab, auch wenn diese Zusammenarbeit konstruktiv sein könnte. Das zeigt sich auch darin, dass in Frankreich die meisten Be­am­t:in­nen streiken dürfen.

Im Gegensatz dazu haben sich die deutschen Gewerkschaften im Zuge der Sozialdemokratie von Anfang an als eine relativ homogene Massenbewegung entwickelt. Nach der Aufhebung des Bismarck’schen Verbots im Jahr 1890 und infolge der Industrialisierung Deutschlands bevorzugte man die moderne Form der Industriegewerkschaft. Ab 1914 wurden mächtige und effiziente Organisationen gegründet. Und nun kommt der vielleicht wichtigste Punkt: Am Ende der Weimarer Republik und während der großen Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre führten Meinungsverschiedenheiten zwischen So­zi­al­de­mo­kra­t:in­nen und Kom­mu­nis­t:in­nen sowie die Rivalitäten mit den christlichen Gewerkschaften zu einer Schwächung der Gewerkschaftsbewegung und schließlich zu ihrer Kapitulation vor den Nazis. Wie so oft zog Deutschland dann die Lehre aus der Geschichte: Nie wieder schwache Gewerkschaften, die vor dem Staat kapitulieren. So wurde in der Nachkriegszeit die Gewerkschaftsbewegung auf der Grundlage der parteipolitischen Neutralität wiederaufgebaut. Es entstand eine quasi einheitliche Gewerkschaftsbewegung, in der ein großer Mehrheitsverband, der DGB, heute knapp 6 Mil­lionen Mitglieder vereint. Die Tendenz ist sinkend, trotzdem liegt der gewerkschaftliche Organisa­tions­grad insgesamt in Deutschland entscheidend höher als in Frankreich.

Aber die Franzosen haben schon früher ihre politischen Versager in die Verbannung geschickt und machen Heute aus dem Vorraum ihres Palast, einen Platz für Camper. 

Während deutsche Gewerkschaften nun versuchen, die unmittelbare Lage der Ar­bei­te­r:in­nen durch Tarifverhandlungen im Rahmen der bestehenden Gesellschaft zu verbessern, lehnen die französischen Gewerkschaften Kompromisse im Namen einer utopischen Zukunft ab. Wer will, mag hier den revolutionären Geist Frankreichs spüren, in der Sache ist das aber eher kontraproduktiv.

Die Schwäche der Gewerkschaften in Frankreich, ihr Widerwille, Kompromisse einzugehen und damit einhergehende Verpflichtungen anzunehmen, hindert sie daran, eine reale soziale Aufgabe zu übernehmen. Dem Dialog abgeneigt, stellen sie den Konflikt in den Vordergrund: Mit Demonstrationen und Generalstreiks wollen sie den Kapitalismus zum Kippen bringen. Die deutschen Gewerkschaften sind da realistischer.

So ist es kein Zufall, dass die wirtschaftliche und industrielle Situation Frankreichs heute so miserabel ausschaut. Während die deutsche Wirtschaft ihr Wachstumsmodell auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und den Export stützt, setzt die Wirtschaftspolitik in Frankreich auf den Konsum und die Kaufkraft der Haushalte. Der Politikwissenschaftler Felix Syrovatka hält das für den Grund, warum die Deutschen die Rentenreformen besser akzeptiert hätten. Weil für eine Wirtschaft, die auf der Wettbewerbsfähigkeit von Exporten beruht, die Senkung der Lohnkosten wichtiger sei als der Erhalt der Kaufkraft der Rentner:innen.

Aber könnte der starke Rückgang der Industrie in den letzten zwanzig Jahren in Frankreich auch auf die Vorgehensweise der Gewerkschaften zurückzuführen sein? Regelmäßig wird das Land ja für Tage, Wochen oder Monate buchstäblich blockiert. Wir erinnern uns an die Gelbwesten-Bewegung: Drei Jahre später ist es wieder so weit. Wieder wird das öffentliche Leben in Frankreich durch landesweite Proteste eingeschränkt – diesmal gegen die Rentenreform. Stilllegung der wichtigsten Raffinerien, Streik der Müllabfuhr, Ausfälle im Zug- und Flugverkehr, Streik an Schulen, Demonstrationen mit Ausschreitungen und Zusammenstößen mit der Polizei, Bushaltestellen verwüstet und Mülltonnen angezündet – womit das erwähnte Abfallproblem teilweise gelöst ist.

Die Kehrseite der Medaille ist, dass die französischen Gewerkschaftsführungen in Wirklichkeit wenig Gestaltungsfreiraum haben. In Deutschland ist ein Streik nur das letzte Mittel – in Frankreich ist er gewissermaßen eine Vorstufe zu jeglichen Verhandlungen. Gemäß René Lasserre ist die Abneigung gegen den sozialen Dialog in Frankreich nicht nur auf die Gewerkschaften zurückzuführen, sondern sie wird auch von einem nicht unerheblichen Teil der Ar­beit­ge­be­r:in­nen geteilt, insbesondere in den kleinen und mittleren Unternehmen. Dies bleibt nicht ohne Folgen. Denn das erfordert das ständige Eingreifen des Staates, der in der Tat der eigentliche Regulierer und Schiedsrichter der gesellschaftlichen Verhältnisse ist.

Quelle         :         TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Irgendwas mit Internet:

Erstellt von Redaktion am 1. April 2023

Privilegien kann man jetzt bei Twitter kaufen

Er ist aber im Besitz von soviel Cleverness sich nicht im Kreis der Politikerzlaien zu bewegen.

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Fünf Monate nach der Übernahme Twitters durch Elon Musk stehen bei der Plattform nun die größten Veränderungen an. Das bisherige Verifikationssystem wird abgeschafft, zukünftig können Privilegien gekauft werden. Willkommen im Kapitalismus.

Vor etwa elf Jahren schickte mir Twitter einmal eine Direktnachricht: „Wir bei Twitter würden gerne Deinen Account verifizieren. Klicke einfach auf den Link und folge der Anleitung.“ Damals war ich dort bereits einige Jahre auf Twitter aktiv und der Dienst hatte einige Zeit zuvor ein Verifikationssystem ausgerollt. Nutzer:innen konnten damit ihre Accounts verifizieren – anfangs durch das Unternehmen kuratiert, später waren auch Anträge möglich. Sie erhielten dann den blauen Haken.

Ich galt aus Sicht Twitters als öffentliche Person und betrieb mit @netzpolitik einen der bekannteren Account im deutschsprachigen Twitter. Ich klickte mich durch die Anleitung und kurze Zeit darauf zierte ein blauer Haken mein Profil. Nach welchen Kriterien das Unternehmen damals die Entscheidung traf, war mir unklar. Ich musste nicht einmal meinen Personalausweis hochladen.

Was der Haken genau bedeutete, war mir damals auch noch nicht klar. Ich sah es als eine Art Qualitätsmerkmal, das Twitter vergab. Der Haken wertschätzte dadurch aber auch viele Nutzer:innen, die zur Wertschöpfung der Plattform und dessen Ökosystem beitrugen.

Seitdem lebte ich mit dem blauen Haken, den auch immer mehr Nutzer:innen erhielten. Dazu gehörten vor allem Journalist:innen, Personen des öffentlichen Lebens und gewählte Abgeordnete, die auf der Plattform aktiv waren.

In der eigenen Twitter-Nutzung bemerkte ich nur einen Unterschied: Ich wunderte mich, wie das Geschäftsmodell von Twitter in der Realität funktionierte, weil ich selten Werbung sah. Irgendwann realisierte ich, dass ich durch den blauen Haken offensichtlich bei Laune gehalten wurde und hier eine Sonderrolle genoss.

Die anderen Privilegien bekam ich weniger mit. Ich war verifiziert und das zeigte Nutzer:innen an, dass hinter meinem Account auch tatsächlich meine Person stand. Und der blaue Haken hatte Auswirkungen darauf, wie mein Account für andere sichtbar war. Meine Inhalte wurden bei den algorithmischen Entscheidungssystemen bevorzugt behandelt, wenn Nutzer:innen eine algorithmisch-kuratierte Timeline wählten, die sogenannte „For you“-Ansicht.

Die zwei Nutzungsarten bei Twitter

Es gab und gibt bei Twitter vor allem zwei unterschiedliche Nutzungsgewohnheiten. Ich selbst bin im „Team Chronologisch“. Ich mag es, die Kontrolle darüber zu haben, was mir angezeigt wird. Bei anderen sozialen Netzwerken fühlte ich mich irgendwann früher oder später unwohl, wenn mir Inhalte bunt und intransparent zusammengewürfelt eingeblendet wurden und ich keinerlei Kontrolle über deren Zusammenstellung hatte. Was interessieren mich die Postings von Bekannten von vor einer Woche?

Aber Nutzer:innenforschung hat inzwischen ergeben, dass ich einer Minderheit angehöre. Viele Menschen ziehen eine vorsortierte Timeline vor, weil sie so ein besseres Nutzungserlebnis erführen. Das „Team Algorithmische Timeline“ ist von der chronologischen Timeline überfordert. Es möchte gerne vorsortiert etwas erleben. Immerhin haben alle bei Twitter – zumindest noch – die Freiheit, zwischen beiden Ansichten zu wählen.

Ob das so bleibt, ist derzeit völlig offen. Vor fünf Monaten hat Elon Musk die Macht bei Twitter übernommen. Und es vergeht kaum ein Tag, an dem es nicht zu Veränderungen kommt. Das allein reicht offenbar aus, um einen fast täglich erscheinenden Podcast zu füllen, wie Dennis Horn und Gavin Karlmeier mit „Haken dran – das Twitter-Update“ beweisen.

Mein Nutzererlebnis blieb seitdem erstaunlicherweise gleich. Nur eine Sache hat sich nachhaltig geändert: Ich sehe Werbung und zwar eine ganze Menge. Das ist umso erstaunlicher, als dass Twitter die meisten seiner Werbekunden in den vergangenen Monaten verloren hat.

Privilegien kann man jetzt kaufen

Eine der größten Veränderungen steht aber aktuell an: Das eingespielte Verifikationssystem wird abgeschafft, um das neue Bezahlsystem Twitter Blue zu promoten. Twitter Blue hatte Elon Musk als Produktneuerung eingeführt, nachdem er die meisten Werbekunden durch sein Geschäftsgebaren und seinen Kommunikationsstil verscheucht hatte. Für acht Euro – Apple-Nutzer:innen zahlen 30 Prozent mehr – kann nun jede:r einen blauen Haken erhalten. Und erhält damit weniger Werbung im eigenen Feed und eine bevorzugte Ausspielung auf der algorithmischen Timeline bei Anderen. Twitter-Nutzer:innen können sich also jetzt ein Privileg kaufen.

Das funktionierte bisher nicht so toll als Geschäftsmodell. Denn es gab bislang nicht allzu viele Menschen, deren Ego einen gekauften blauen Haken benötigt. Wer möchte schon Elon Musk finanziell unterstützen, nachdem er durch schlechte Geschäftsentscheidungen und sein verschwörungsideologisches und aggressives Kommunikationsverhalten die eine Lieblingsplattform kaputt macht? Wir helfen doch bereits mit unseren Inhalten und Daten. Noch. Und überhaupt: weniger Werbung? Wenn dann würde ich dafür bezahlen, gar keine Werbung mehr sehen zu müssen.

Nach dem blauen Haken ist vor dem blauen Haken

Um Twitter Blue weiter zu promoten, sollen jetzt alle bisherigen Haken-Nutzer:innen diesen verlieren. Das aktuelle „Dieser Account wurde im alten System verifiziert. Er ist möglicherweise (aber nicht unbedingt) beachtenswert“ soll bis zum 15. April abgeschaltet werden. Ich verliere dann meine Privilegien und kann sie mir zurückkaufen. Zumindest zum Teil und als Verifikationssimulation. Willkommen im Kapitalismus.

Ich lass mich überraschen, wie Twitter in zwei Wochen aussieht. Vielleicht ändert sich ja weiterhin nichts in meiner Nutzung, weil Twitter Blue eher geringe Auswirkungen auf meine chronologische Nutzung hat. Außer eben der vielen Werbung neuerdings.

Vor allem aber hoffe ich noch immer auf eine richtige Alternative zu Twitter. Dort hätte ich gerne Text in Echtzeit, chronologisch sortiert. Das Fediverse mit Mastodon und Co. sind als mögliche Alternativen herangewachsen – und besser als gedacht. Ein Viertel meiner Twitter-Timeline ist auch bereits drüben. Aber dreiviertel von ihnen sind es offensichtlich noch nicht. Dafür experimentieren WordPress und Meta aktuell mit Schnittstellen ins Fediverse, viele Werkzeuge werden nutzer:innenfreundlicher. Das macht Hoffnung auf eine blühende Zukunft ohne Elon Musk – und hoffentlich dann auch gänzlich ohne blauen Haken und Privilegien.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben       —     Inspired by book Shoshana Zuboff — The Age Of Surveillance Capitalism

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Genozid bleibt Genozid

Erstellt von Redaktion am 31. März 2023

 Politiker senden auch nur Ihresgleichen ins Ausland

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Ein Debattenbeitrag von Alexander Rhotert

Auf dem Balkan gibt es eine Unkultur, Kriegsverbrechen zu verherrlichen. Der deutsche Hohe Repräsentant für Bosnien enttäuscht in seiner Amtsführung.

Der inflationär gebrauchte Begriff des Völkermords ist im internationalem Recht klar definiert. Drei Gerichte haben mehrfach geurteilt, dass der Mord an über 8.300 Bosniaken, verübt von serbischen Einheiten während des Bosnien-Krieges in Srebrenica im Juli 1995, ein Völkermord war. Punkt. Recht gesprochen haben die Gerichte der UN, der Internationale Gerichtshof (IGH) und der Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGH), sowie der Staatsgerichtshof von Bosnien und Herzegowina. Dafür wurden Serbenführer Radovan Karadzic und sein Armeechef Ratko Mladic zu lebenslanger Haft wegen Völkermords und weitere Täter zu über 700 Jahren rechtskräftig verurteilt.

Dies ist ein Meilenstein der internationalen Strafjustiz seit den Militärtribunalen von Nürnberg und Tokyo. Trotzdem gibt es auf dem Balkan, speziell in Bosnien, eine besorgniserregende Unkultur der Leugnung und Relativierung von Völkermord und anderen Kriegsverbrechen. Aus der Haft entlassene Kriegsverbrecher werden, insbesondere in Belgrad, aber auch in Zagreb, wie Helden empfangen. Es gibt eine regelrechte Kriegsverbrecherglorifizierung, die von politischen und staatlichen Stellen teils sogar gefördert wird.

Karadzics Nachfolger, Serbenführer Milorad Dodik, hat die Genozid-Leugnung in sein politisches Stammrepertoire integriert. Er hofiert öffentlich Kriegsverbrecher, so am 9. Januar 2022, als er zum 30. Gründungstag des serbisch-dominierten Teils Bosniens, der Republika Srpska, den vom Haager Kriegsverbrechertribunal wegen seiner Beteiligung am Srebrenica-Genozid verurteilten serbischen Offizier Vinko Pandurevic einlud. Bei der vom bosnischen Verfassungsgericht verbotenen Militärparade stand der Srebrenica-Mörder hinter Präsident Dodik. Der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft für Bosnien und ehemalige deutsche Landwirtschaftsminister, Christian Schmidt, verurteilte weder Pandurevics Teilnahme, noch verbot er die verfassungswidrige Versammlung, obwohl dies zu seinen Hauptaufgaben gehört.

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Wird im Ausland nicht genau das probiert, was im eigenen später Konzens wird? Jeder Clan wird seine besten Leute zu Hause beschäftigen!

Ein Jahr später, am 9. März dieses Jahres, bezeichnete der nun höchst umstrittene Schmidt auf einem Balkan-Forum in Budapest laut Anwesenden den Völkermord von Srebrenica als eine „genocide-style situation“. Wirklich? Eine „völkermordartige Situation“ oder eine „Situation im Stile eines Genozids“ kennt das internationale Recht nicht. Für solche rhetorischen Entgleisungen sollten die Opfer eine umgehende Entschuldigung erwarten können, die erwartungsgemäß ausblieb. Warum? Weil Bosnien in Deutschland wenige interessiert, die Entscheidungen treffen. Daher kann sich Schmidt seit 18 Monaten Amtszeit von einem Skandal zum nächsten hangeln. Nur der Wiener „Standard“ berichtete im deutschsprachigen Raum über den jüngsten Ausfall.

Deutschlands ehemaliger UN-Repräsentant, Botschafter Hanns Schumacher, kritisierte Schmidts „unglückliche rhetorische Übung“, die zu seiner „schwachen Amtsführung“ noch hinzukäme. Vielleicht sollte man in Berlin die Meinung von ehemaligen deutschen Diplomaten zur Kenntnis nehmen. Schumacher und viele andere fordern die Abberufung Schmidts seit geraumer Zeit. Schmidts unsensibler Fauxpas erinnert an die gequälten Worte einiger politisch und diplomatisch Beteiligter, die 1994 den Völkermord in Ruanda als völkermordartige Exzesse relativierten, um nicht eingreifen zu müssen. Bereits vor Schmidts Äußerungen forderte die Gesellschaft für bedrohte Völker den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Michael Roth, auf, auf Schmidt einzuwirken oder ihn auszutauschen.

Schmidt hat sämtliche Hoffnungen enttäuscht, strikter gegen serbische und kroatische Nationalisten vorzugehen, denen die Existenz des multiethnischen Bosniens ein Dorn im Auge ist. Obwohl Schmidt Macht und Mittel hat, gegen sie vorzugehen, tut er dies nicht. Im Gegenteil: Er stellt selbst den destruktiv agierenden Machthabern Serbiens und Kroatiens regelmäßig eine Carte blanche aus, indem er ihnen attestiert, einen mäßigenden Einfluss auf Bosnien zu haben.

Diese Annahmen sind realitätsfern. Ohne Unterstützung Belgrads und Zagrebs müssten sich ihre Statthalter in Bosnien warm anziehen. Schmidts Worte sind verstörend, eine umgehende Entschuldigung wäre das Minimum gewesen. Dies gehört in Deutschland seit vielen Jahrzehnten zur politischen Kultur und Staatsräson, ebenso wie die Anerkennung der Singularität des Holocausts, und sollte demnach auch für Deutsche gelten, die im Ausland Dienst tun. Deutschland hatte bereits in den 1980er Jahren einen unsäglichen Historikerstreit, ausgelöst von den kruden Thesen Ernst Noltes, der, verkürzt betrachtet, Auschwitz als Reaktion auf das sowjetische Gulagsystem darstellte. Es kann keine Diskussion darüber geben, was ein Völkermord war. Dies wird in Relativierung münden, selbst unbeabsichtigt.

Quelle         :         TAZ-online            >>>>>        weuterlesen

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Oben       —     Begräbnis von 465 identifizierten Massakeropfern (2007)

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Schweiz + das Russland Öl

Erstellt von Redaktion am 31. März 2023

Die Schweiz überwacht Öl-Sanktionen zu Russland kaum

Quelle      :        INFOsperber CH.

Markus Mugglin /   

Grosse Schweizer Rohstoffhändler zogen sich aus dem Ölgeschäft mit Russland zurück. Eine neue Genfer Firma springt in die Lücke.

Red. Die Nichtregierungsorganisation Public Eye hat soeben die Studie «Die Schweiz und der Handel mit russischem Öl: Ein trügerischer Abschied?» publiziert. Die Studie analysiert die dramatischen Veränderungen auf dem Ölmarkt seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und insbesondere die Folgen für die Schweiz als globalen Hub für den Handel mit russischem Öl. Sie folgt auf mehrere seit dem Krieg von der Organisation publizierten Recherchen. Wir geben im Folgenden die Zusammenfassung der neusten Studie wieder.

Ein Jahr Krieg in der Ukraine hat die Karten auf dem Ölmarkt neu gemischt. Zur Austrocknung dieser Hauptfinanzierungsquelle des Kremls hat die westliche Welt, darunter die Schweiz, ein historisches Embargo gegen das schwarze Gold aus Russland verhängt. Seit Dezember 2022 ist die Einfuhr dieses Rohöls auf dem Seeweg verboten, und der Handel damit unterliegt in rund 40 Ländern einem Preisdeckel. Diese Massnahmen gelten seit Februar auch für Erdölprodukte. Vor Putins Einmarsch in die Ukraine war Europa der Hauptmarkt für russisches Öl, das laut unseren Schätzungen zu 50 bis 60 Prozent über die Schweiz gehandelt wurde.

Basierend auf exklusiven Insider-Daten und -Aussagen zeigen neue Recherchen, dass dieser Markt neu aufgeteilt und noch undurchsichtiger wurde. Jahrzehntelang waren Trafigura, Vitol, Glencore und Gunvor die Haupthändler von Putins Öl und direkt an vielen russischen Projekten und Unternehmen beteiligt. Seit der Invasion in die Ukraine wurden die Schweizer Rohstoffkonzerne durch russische oder chinesische Staatsunternehmen sowie kleine Händler mit unbekannten Eigentümern ersetzt. Diese neuen «Pop-up»-Firmen operieren meist von Dubai oder Hongkong aus, die keine Sanktionen gegen Russland verhängt haben. Viele Indizien weisen darauf hin, dass sie dies im Auftrag oder mit Unterstützung von Grossunternehmen tun, die unbemerkt weiter mit russischem Öl handeln wollen.

Public Eye hatte Zugang zu Daten, welche die Entwicklung im ostrussischen Hafen Kozmino zeigen, von wo die Rohölsorte «ESPO» nach Asien exportiert wird. Seit Sommer 2022 sind die grossen Handelshäuser aus der Käufer-Liste verschwunden. Dafür besetzt ein anderes Schweizer Unternehmen nun einen Spitzenplatz: Paramount Energy & Commodities. Zwischen März 2022 und Februar 2023 exportierte das Genfer Unternehmen 10 Millionen Tonnen (72 Millionen Barrel) russisches Rohöl, was etwa acht Tanker pro Monat entspricht.

Kurz nach Kriegsbeginn hatte Public Eye erstmals über die primär in Russland und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion aktive Paramount berichtet. Im Juni 2022 soll die Firma den Handel mit diesen Fässern gemäss Global Witness und Financial Times jedoch der in Dubai registrierten Paramount Energy and Commodities DMCC übertragen haben. Dieses Unternehmen agiert demnach zwar unabhängig von der fast gleichnamigen Genfer Firma, sein Geschäftsführer ist aber Schweizer Staatsbürger.

Der Mechanismus der Preisobergrenze ermöglicht es westlichen Marktteilnehmern (Händlern, Spediteuren, Versicherern), weiter mit russischem Erdöl zu handeln, sofern sie dafür weniger als 60 USD pro Barrel zahlen («price cap») und es an Länder ohne Russland-Sanktionen verkaufen.

Mit den EU-Sanktionen hat der Bundesrat auch diesen Mechanismus übernommen. Anders als die EU, USA und Grossbritannien kontrolliert das in der Schweiz dafür zuständige Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) jedoch nicht, ob sich die Unternehmen auch daran halten. Das Seco bestätigte Public Eye vielmehr, dass es weder Audits durchführt noch eine Melde- oder Dokumentationspflicht für solche Transaktionen auferlegt, sondern sich ganz auf den guten Willen der Branche verlässt, sich selbst zu kontrollieren.

Zudem gilt das Schweizer Embargogesetz – im Gegensatz zu den EU- und US-Bestimmungen – nicht für Schweizer Bürger*innen mit Wohnsitz im Ausland. Für global agierende Händler ist diese rechtliche Lücke faktisch eine Einladung, die Sanktionen gegen russisches Öl mit nur kleinen organisatorischen Änderungen ganz legal zu umgehen.

Bald wieder mehr Geschäfte mit russischem Öl?

(mm) Die USA würden die grossen Handelsunternehmen dazu drängen, die Ölgeschäfte mit Russland wieder aufzunehmen, wenn sie dies unter der von der G7 festgelegten Obergrenze von 60 Dollar pro Barrel tun können. Das berichtet die Financial Times. Der Westen zeige sich besorgt über die durch die Sanktionen hervorgerufene Verlagerung des Handels von den traditionellen hin zu wenig bekannten Unternehmen, die häufig alte Schiffe einsetzten und nicht transparent operierten, schreibt die britische Wirtschaftszeitung in ihrer Berichterstattung über den «Commodities Global Summit», der diese Woche in Lausanne stattgefunden hat. Die Vertreter der in der Schweiz domizilierten Trafigura und Vitol erklärten sich dazu bereit, Ölgeschäfte mit Russland unter Einhaltung des Preisdeckels wieder abzuwickeln, sofern die Regierungen und Banken diesen zustimmen würden.  

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Ich – Ich – ich arbeite nicht

Erstellt von Redaktion am 31. März 2023

Wann kommt die Wagenknecht-Partei?

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Erst wenn dem Plakat-träger die Arme abgefallen sind !

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von     :    Edith Bartelmus-Scholich

Anfang März kündigte Sahra Wagenknecht an, nicht mehr für DIE LINKE kandidieren zu wollen. Wenig später konkretisierte sie in einem ZDF-Interview ihre Vorstellungen vom eventuellen Aufbau einer eigenen Partei.

Demnach will sie bis zum Ende des Jahres ihre Entscheidung treffen. Bis dahin will sie prüfen, ob die Voraussetzungen für eine bundesweit bei Wahlen erfolgreiche Partei gegeben sind. Sie machte damit klar, dass die Gründung einer eigenen Partei nicht an ihrem Willen wohl aber an unzureichenden Voraussetzungen scheitern könnte.

Der Fraktions- und der Parteispitze war schon seit Monaten bekannt, dass Wagenknecht nicht wieder für den Bundestag kandidieren will. Nun hat sie selbst dies öffentlich gemacht, aber in einer Tonalität („nicht wieder für DIE LINKE“), die Fraktions- und Parteispitze sich sicher so nicht gewünscht haben. Die Erklärung entweder als Publizistin zu arbeiten oder ein neues politisches Projekt zu beginnen, lässt immer noch offen, ob Wagenknecht mit einer eigenen Partei zu Wahlen antreten wird.

Eine Neugründung nur zu den eigenen Bedingungen

Wagenknechts Offenheit was die Zukunft betrifft, ist die Methode mit der sie den beginnenden Parteibildungsprozess ihren eigenen Bedingungen unterwerfen will. Der sozialkonservative Flügel der Partei DIE LINKE strebt tatsächlich ein eigenes Projekt an, aber nicht um jeden programmatischen und strategischen Preis. Wagenknecht hat zwar in „Die Selbstgerechten“ eine programmatische Grundlage aufbauend auf den Werten Nation, Leitkultur und Leistungsgesellschaft vorgelegt, aber diese ist auch unter ihren Anhänger*innen umstritten. Bedeutende Stimmen der „Populären Linken“ erklären, dass ein neues Projekt programmatisch mehr sein und breiter aufgestellt werden müsse als eine bloße Wagenknecht-Partei. Hier zeigt sich der Anspruch, die Programmatik und die Strategie einer neuen Partei demokratisch selbst zu bestimmen. Andererseits ist allen Beteiligten völlig klar: Eine sozialkonservative Partei wird ohne Wagenknecht nicht an den Start gehen. Hier setzt diese an um zu verdeutlichen, dass es die Parteigründung nur zu ihren Bedingungen geben wird.

Ein enger Zeitrahmen

Die Ankündigung von Wagenknecht musste spätestens jetzt erfolgen. Eine Parteigründung und die Kandidatur bei Wahlen erfordern einen langen Vorlauf, anderthalb Jahre wäre sehr ambitioniert. Die Liste zur Wahl des Europäischen Parlaments muss spätestens am 24. Februar 2024 eingereicht werden. Die Landeslisten zur Wahl des nächsten Bundestags müssen ungefähr im April/Mai 2025 gewählt sein. Zum Europäischen Parlament kann eine Liste antreten, zur Bundestagswahl definitiv nur eine Partei. Chancenreich ist eine solche Partei nur dann, wenn sie in allen Bundesländern Landeslisten aufstellen kann. Wagenknecht konnte folglich nicht mehr länger warten. Geplant war diese Weichenstellung schon im Herbst 2022.

Wagenknecht und ihrem engen Umfeld ist dabei völlig klar, dass für ein Parteiprojekt mehr zusammenkommen muss als nur der sozialkonservative Flügel der Partei DIE LINKE. Dieses „Mehr“ wird am besten durch große öffentliche Kundgebungen und Veranstaltungen angezogen. Geeignet hätte sich dazu die Kundgebung zum Auftakt des „Heißen Herbstes“ in Leipzig. Wagenknecht wollte dort sprechen, die Rechte mobilisierte nach Leipzig. Da es eine linke Kundgebung war, konnte die Spitze der Linkspartei den Wagenknecht-Auftritt verhindern. Der Zeitplan geriet ins Stocken. Kurz vor Weihnachten wurde bekannt, dass es mit dem zum Jahreswechsel in Kreisen ihrer Anhängerschaft angekündigten Bruch von Wagenknecht mit der Partei nun doch noch nichts werden würde. Der neue Zeitplan sah Online-Konferenzen ab Mitte Januar und eine Präsenz-Konferenz im Mai vor.

Zwei Szenarien

Die Veröffentlichung des „Manifests für den Frieden“ und die Kundgebung am 25. Februar waren die Mittel, das „Mehr“ für den Parteibildungsprozess anzuziehen. Bemerkenswert ist die offenbar zentrale Rolle von Klaus Ernst. Eigentlich sollte im Spätherbst (nach Leipzig!) eine Saalveranstaltung mit Wagenknecht in Schweinfurt stattfinden. Sie wurde verschoben und hat nun Anfang März (nach Berlin!) stattgefunden. Die Bilder des vollen Saals (550 Plätze) sind genau in Schweinfurt problemlos zu generieren.

Es gibt jetzt zwei Szenarien: Entweder setzt sich Wagenknecht mit ihren Vorstellungen durch, dann kommt die Wagenknecht-Partei. Oder Wagenknecht setzt sich nicht mit ihren Vorstellungen durch, dann kommt keine Wagenknecht-Partei und der sozialkonservative Flügel bleibt teilweise in der LINKEN. Diese zweite Option gilt als weniger wahrscheinlich.

Sollten die Vorstellungen, die Wagenknecht an ein eigenes Parteiprojekt hat, nicht erfüllt werden, wird sie dieses Projekt beerdigen. Eine Minderheit ihrer Anhänger*innen wird dann in der LINKEN bleiben, die Mehrheit wird austreten. Der Mitgliederverlust und gewisse Störungen würde DIE LINKE nicht mehr beeinträchtigen als jetzt auch. Die verbleibenden Mitglieder des sozialkonservativen Flügels werden innerhalb der Partei vermutlich nicht mehr einflussreich sein.

Mit einer Friedensliste ins Europa-Parlament

Die erste Option ist wahrscheinlicher. Am 6. Mai trifft sich die „Populäre Linke“ in Hannover um Vorentscheidungen für eine Neugründung zu treffen. Es ist zu erwarten, dass nach der Konferenz ein Antritt zur Wahl des Europäischen Parlaments vorbereitet wird. Dazu soll noch nicht eine Partei gegründet werden, sondern nur eine „Friedensliste“. Es darf abgewartet werden, wer diese Liste anführen wird. Es werden sicher nur einige wenige Mitglieder der LINKEN auf dieser Liste kandidieren. Andere Anhänger*innen von Wagenknecht werden überwiegend zu diesem Zeitpunkt noch in der Partei bleiben. Sie werden vermutlich innerparteilich Angriffe starten und den Wahlkampf der Partei DIE LINKE behindern.

Der Einzug dieser Liste in das Europa-Parlament scheint sicher, da es (bis jetzt) keine 5%-Hürde gibt. Abzuwarten ist nur, mit wie vielen Abgeordneten eine solche Liste ins Europäische Parlament einziehen wird und, ob sie DIE LINKE hinter sich lässt. Ein Ergebnis, bei dem DIE LINKE weniger Wählerstimmen und Abgeordnete erzielt als eine „Friedensliste“, wäre für DIE LINKE sicher nicht vorteilhaft.

Eine „Friedensliste“ wird nicht ohne Wahlkampfunterstützung von Wagenknecht auskommen. Spätestens wenn öffentlich wahrnehmbar wird, dass Wagenknecht eine „Friedensliste“ mitgründet und im Wahlkampf unterstützt, muss die Bundestagsfraktion sie ausschließen, falls sie nicht schon vorher austritt. Da in diesem Fall ihr nahe stehende MdB auch nicht mehr in der Linksfraktion bleiben werden, geht der Fraktionsstatus spätestens zu diesem Zeitpunkt verloren. Das bedeutet weniger Mitarbeiter, weniger Geld, Gefährdung der Rosa-Luxemburg-Stiftung etc. Auch die parlamentarischen Möglichkeiten werden geringer. Vor allem die materiellen Ressourcen von Fraktion und Partei sind allen Beteiligten – auch den MdB und Mitarbeiter*innen, die der Wagenknecht-Flügel stellt – sehr wichtig und das ist ein Grund für den zögerlichen Umgang mit der diskutierten Neugründung.

 Bunte Westen 03.jpg

Nach einem erfolgreichen Wahlantritt zum Europäischen Parlament werden sich in der LINKEN auch diejenigen entscheiden, die es bislang noch vermieden haben. Es spricht einiges dafür, dass es in diesem Fall Austritte in Höhe von ca. 25% der Mitgliedschaft geben könnte. Neben Sozialkonservativen werden auch Mitglieder mit Karriereambitionen oder solche, die andernfalls ihre Existenzgrundlage verlieren, wechseln.

Das Potential für eine populistische, linkskonservative Partei ist da

Wenn die Wagenknecht-Partei kommt, wird sie (erst einmal) bei Wahlen erfolgreich sein. Es gibt seit Jahren eine Repräsentationslücke, die z.T. für den hohen Anteil an Nichtwählern ursächlich ist. Nicht repräsentiert ist ziemlich genau ein „Linkskonservatismus“, wie ihn Wagenknecht umreißt. Das Potential besteht aus Wähler*innen, die sich gleichzeitig einen starken Staat (autoritär) als auch eine gerechte Verteilung (sozial) wünschen. Sie sind rückwärtsgewandt was die Sozialpolitik und konservativ was die Gesellschaftspolitik betrifft. Auf diese Klientel zielt Wagenknecht seit Jahren. Beim ersten Wahlantritt zur Bundestagswahl wird die neue Partei auch Protestwähler*innen anziehen. Teile dieses Segments der Wählerschaft wählen derzeit die AfD. Überhaupt darf erwartet werden, dass eine Wagenknecht-Partei die Wahlergebnisse der AfD halbieren wird. Wagenknecht ist in rechten Kreisen sehr beliebt.

Wagenknecht unterschätzt die AfD, wie zuletzt aus ihren Äußerungen gegenüber dem Parteivorstand der LINKEN zu entnehmen war. Offenbar hält sie diese für eine „normale Parlamentspartei“. Sie wird daher anfällig für eine Zusammenarbeit mit der AfD sein. Die Blütenträume von Jürgen Elsässer von einer Regierung aus Wagenknecht-Partei und AfD haben darin eine Grundlage.

Die Folgen für DIE LINKE

Ein Ausscheiden des sozialkonservativen Flügels oder dessen Marginalisierung bedeutet für DIE LINKE, dass sich die Mitgliederbasis stark verändern wird. DIE LINKE wird eine plurale Partei bleiben, aber (fast) ohne Sozialkonservative. Die Pluralität der Partei muss den verbleibenden Mitgliedern garantiert werden.

Die Bedingungen unter denen linke Politik gestaltet werden muss, haben sich in den letzten 15 Jahren stark verändert. Diesen Veränderungen kann DIE LINKE nach dem Ausscheiden des sozialkonservativen Flügels objektiv leichter gerecht werden. Denn angesichts der Herausforderungen konnte sich die Mehrheit der Partei schon seit Jahren nicht mehr mit dem sozialkonservativen Flügel auf zielführende politische Antworten einigen. In den letzten Jahren entwickelte die Partei daher nicht das Profil, welches angesichts von Kriegen, Klima- und Umweltkrise, weltweitem Rechtsruck, Migrationsbewegungen und zunehmender Verarmung weiter Teile der Bevölkerung angemessen und erfolgreich sein kann. Aus dieser Krise kommt die Partei nur mit einem entschlossenen programmatischen und strategischen Erneuerungsprozess, der rasch gestartet werden muss. Keinesfalls darf DIE LINKE nun noch weiter Wagenknecht die Initiative überlassen.

Edith Bartelmus-Scholich, 30.03.2023

Urheberrecht
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Oben       —     Kurz vor dem Beginn der Hannover Messe 2016, die unter anderem von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama eröffnet wurden, organisierte ein Trägerkreis zum Samstag, den 23. April 2016 auf dem hannoverschen Opernplatz eine Demonstration unter dem Motto „TTIP und CETA stoppen.

Foto: Bernd Schwabe – Own work

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  • File:2016-04-23 Anti-TTIP-Demonstration in Hannover, (10063).jpg
  • Created: 23 April 2016

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Unten      —   „Bunte Westen“ protest in Hanover, 16th february 2019

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Rückendeckung von links

Erstellt von Redaktion am 30. März 2023

Auch die Politik der Ukraine ist streckenweise zu kritisieren.

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Ein Debattenbeitrag von Anastasia Tikhhomirova

Das Recht zur Selbstbestimmung und zur Verteidigung besteht dennoch unbesehen. Prekarisierte Menschen werden aufgefordert zu frieren, anstatt dass man die Übergewinnsteuer einführt.

Oft heißt es in linken Kontexten, dass sich Waffenlieferungen an die Ukraine und linke Positionen ausschließen. Doch gibt es eine ganze Reihe von Gruppen, die Ukrai­ne­r*in­nen weder Solidarität noch das Recht auf Selbstverteidigung versagen wollen. Die Berliner Gruppe Right to Resist UA, die ins Leben gerufen wurde, weil die Ak­ti­vis­t*in­nen die mangelnde Solidarität von Linken in Deutschland mit Ukrai­ne­r*in­nen entsetzlich fanden, gehört dazu. Sie orientiert sich an den Positionen der ukrainischen Sozialisten Socialny Ruch, bei denen sich der Historiker Taras Bilous engagiert.

Er kritisiert seit Beginn der russischen Komplettinvasion regelmäßig die Ignoranz der westlichen Linken gegenüber Russlands imperialen Ansprüchen. Anstatt die Welt nur in geopolitischen Lagern zu sehen, müssten sozialistische In­ter­na­tio­na­lis­ten jeden Konflikt auf der Grundlage der Interessen der arbeitenden Menschen und ihres Kampfes für Freiheit und Gleichheit bewerten, findet Bilous. Er kämpft zudem an der Front und plädiert für Waffenlieferungen. „Auch wir stellen uns gegen das kapitalistische System, in dem mit Krieg Profit gemacht wird“, betont Aktivist Ian von Right to Resist. Man trete nicht generell für Waffenlieferung ein. „Unsere Forderungen dürfen aber nicht realitätsfern werden.“

Als Reaktion auf das „Friedensmanifest“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht verfasste Right to Resist ein eigenes Statement. Darin heißt es, dass ein Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine nicht zu einem Ende des Krieges führen würde. Im Gegenteil würde dies eine Ausweitung der russischen Besatzung, also Vergewaltigungen, Deportationen und Hinrichtungen, bedeuten, die auf andere postsowjetische Staaten übergreifen könnte. Die Gruppe demonstriert regelmäßig in Berlin mit anderen linken Gruppen, wie der russländischen „Feminist Antiwar Resistance Berlin“, den antikolonialen Voices of Indigenous Peoples of Russia oder Good Night Imperial Pride, eine Solidaritätskampagne für antiautoritäre Genoss*innen, die für die Befreiung der Ukraine von der russischen Invasion und Besatzung kämpfen.

Gleichzeitig ist aus einer linken Perspektive kritikwürdig, dass es ukrainischen Männern im wehrfähigen Alter nicht gestattet ist, zu fliehen. Flucht vor Krieg ist ein Menschenrecht, das seit Kriegsbeginn mindestens 45.000 Männern und einigen trans Personen verweigert wurde. In Artikel 65 der ukrainischen Verfassung heißt es, dass die Verteidigung der Unabhängigkeit und territorialen Integrität der Ukraine die Pflicht der Bürger ist. Allerdings wird nirgendwo die geschlechtsspezifische Dimension dieser Pflicht erwähnt. Während sich Männer strafbar machen, wenn sie dieser Pflicht nicht nachkommen, ist für ukrainische Frauen der Dienst in den Streitkräften ein erst seit kurzem bestehendes Recht, für das ein Teil der feministischen Bewegung seit langem kämpft. Aktuell sind mehr als 38.000 Frauen in den Streitkräften, etwa 5.000 von ihnen an der Front.

Die Gruppe Radical Aidforce fährt nahezu wöchentlich in die Ukraine und ermöglicht Liefer- und Evakuierungsfahrten bis an die Frontlinien. Die Ak­ti­vis­ten*­in­nen hegen grundsätzliches Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen. Festzuhalten ist, dass eine Unterstützung des ukrainischen Widerstandes nicht gleichbedeutend mit einer Unterstützung der Nato sein muss, insbesondere mit Blick auf andere internationale Konflikte, in die die Nato involviert ist. Ein interna­tio­nales, demokratisches Sicherheitssystem muss her. Darüber zu debattieren, wird jedoch erst nach Wladimir Putins Untergang und dem Sieg der Ukraine über den russischen Imperialismus möglich sein.

Робоча поїздка Президента України на Миколаївщину та Одещину 50.jpg

Sorge bereiten vielen Linken zudem die anhaltende Inflation und die neoliberale Antwort der Ampelregierung darauf. So werden prekarisierte Menschen aufgefordert, zu frieren und zu sparen, anstatt eine adäquate Antwort auf das Versagen der deutschen Energiepolitik infolge des jahrelangen Appeasements gegenüber Russland zu finden, die Übergewinnsteuer einzuführen und Reiche zu besteuern. Nicht wenige linke Gruppierungen demonstrieren deshalb seit Monaten zusammen in einer Querfront mit rechten und esoterischen Gruppen gegen eine Unterstützung der Ukraine und für Frieden mit Russland.

Auf bundespolitischer Ebene stellt sich der Bundesarbeitskreis Bytva (ukrainisch für Kampf) dagegen. Er wurde gegründet, um sich mit Linken im osteuropäischen Raum zu solidarisieren und gleichzeitig Antworten auf die neoliberale Politik zu finden. Die ukrainischstämmige Linkenpolitikerin und Mitglied des BAK Bytva Sofia Fellinger kritisiert, dass „aktuell eine große Aufrüstungskampagne unter dem Mantel der vermeintlichen Ukraine-Solidarität gefahren“ werde.

Quelle       :        TAZ-online          >>>>>           weiterlesen

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Oben     —     Selenskyj bei einer Ansprache im März 2022

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Ein Jahr Ukraine –

Erstellt von Redaktion am 30. März 2023

20 Jahre Irakkrieg – Warum der Globale Süden dem Westen nicht traut

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Legal, illegal? Scheißegal

Erstellt von Redaktion am 30. März 2023

Kanzler Scholz gibt den Watschenmann

Quelle      :      Ständige Publikumskonferenz der öffentlichen Medien e.V.

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Für die Rolle bestens geeignet / Zensur und Selbstzensur kaschieren das deutsche Elend, derweil die Rechtsstaatlichkeit schwindet

Deutschland, der Pausenhof: Big Joe knallt dem Olaf ein Ding an den Nischel, so einen Wumms hält kein Gasrohr aus. Olaf sieht Sterne und Streifen. Aber er versichert den Umstehenden: „Unsere Partnerschaft ist enger und vertrauensvoller denn je.  Big Joe bestellt den Olaf wenig später zu sich nach Übersee und flüstert ihm was. Die ARD-aktuell aber macht daraus einen „Besuch bei Freunden“.  Manipulation gehört eben zur Tagesschau wie Mattscheibe zur Caren Miosga. Drei Tage später heißt es aus Hamburg, Big Joe habe dem Olaf überhaupt keine reingehauen, sondern, ganz anders, einige pro-ukrainische Rüpel hätten mit einem Segelboot Knallfrösche in Olafs Badewanne … Man verzeihe uns das Geschnodder, es soll darauf aufmerksam machen, dass die USA eine intellektuelle Flugverbotszone über unser Land verhängt haben; deshalb liefern unsere Leit- und Konzernmedien Nachrichten vom hier dargestellten informationellen Gehalt.

Unser Gemeinwesen verkrüppelt unter solcher Deutungshoheit zusehends zu einem protofaschistischen US-Protektorat. Widerstandskräfte dagegen entwickeln sich erst allmählich. Konkrete Erfahrungen mit realem Faschismus hat in Deutschland nur noch ein sehr kleiner Kreis von Hochbetagten, die Hitlers Drittes Reich erlebt haben. Die Jüngeren müssen erst selbst dahinterkommen, wo welche Gefahrenquellen für unseren Rechtsstaat sprudeln.

Seine Verächter zeichnen sich durch ihren abgrundtiefen Zynismus und US-Konformismus aus. Selbstbestimmte Persönlichkeitsentfaltung, unabhängige Meinungsbildung, freies Denken und Reden sind ihnen zuwider. Ihr Ideal ist der Angepasste, der sich ihren Vorgaben unterordnet und ihnen besinnungslos nachbetet. Die einst übliche Todesstrafe fürs Abhören von „Feindsendern“ brauchen sie für ihre Zwecke nicht mehr. Mit von elektronischer Datenverarbeitung unterstützter Zensur sowie mit Agitation und Propaganda in Dauerschleife gelingt es schon jetzt, ein vollkommen verzerrtes Weltbild als Realität auszugeben und mehrheitlich akzeptabel zu machen. Rechtsnihilismus und Willkürjustiz unterstützen den Erfolg.

Kein Nachrichtentag vergeht, ohne dass wir vom brutalen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu hören kriegen. Wer diese USA-NATO-EU-Sichtweise öffentlich infrage stellt, ein Ende der gigantischen Waffenlieferungen an die Ukraine und die Aufnahme von Verhandlungen mit Russland fordert, lernt schnell deutsche Staatsanwälte kennen. Die nennen soviel kritischen Widerspruch gegen die „herrschende“ Meinung nämlich

Billigung eines Angriffskrieges, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“.

Das gilt als Straftat und wird mit bis zu drei Jahren Haft oder Geldstrafe geahndet. Entsprechende Urteile sind bereits ergangen.

Deutsche Gerichte berücksichtigen nicht, dass der globale Süden, die Mehrheit der Weltbevölkerung, sich nicht an der westlichen Sanktionspolitik beteiligt. Zudem lassen die deutsche Justiz (und füglich auch die konformistische Tagesschau) außer Acht, dass sich Russland bei seiner militärischen Aktion gegen die Ukraine – ob zu Recht oder Unrecht bleibt offen – auf Art. 51 der UN-Charta beruft; dieser Artikel betrifft die Selbstverteidigung und schließt sogar eine präventive (=vorbeugende) Selbstverteidigung nicht aus.

Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, ist angeblich blind und wird meist mit verbundenen Augen dargestellt. Ihre deutsche Ausgabe gibt sich hingegen als offen einäugig. Sie setzt durch, dass die Masse der Bevölkerung das Geschehen in der Ukraine nicht einmal mehr von beiden Seiten betrachten kann: von der NATO-transatlantischen und von der russischen Seite – der Beleg unserer zunehmenden Unfreiheit.

Ex-Kanzlerin Schamlos und Kanzler Tunichtgut

Das lässt sich exemplarisch auch am Umgang mit dem Eingeständnis der Altkanzlerin Merkel sowie der vormaligen Staatspräsidenten Poroschenko (Ukraine) und Hollande (Frankreich) aufzeigen. Alle drei gaben bekanntlich aus freien Stücken zu erkennen, das völkerrechtlich abgesicherte Minsk-II-Abkommen mit voller Absicht gebrochen und Putin hintergangen zu haben. Sie wollten den seit Mitte 2014 von Kiew geführten Bürgerkrieg gegen die ukrainischen (russischsprachigen) Donbass-Provinzen nicht beenden lassen (das Abkommen sah dafür enge Fristen von wenigen Monaten vor), sondern – vertragswidrig – der Ukraine jede Menge „Zeit geben“ zu hemmungsloser Hochrüstung. Sie kalkulierten Russlands militärische Reaktion und brachen somit einen völkerrechtlich gültigen Vertrag.

Schon Monate vor Russlands Invasion hatten sie bis ins Detail geplant, womit sie ihren schon mehr als zehn Jahre geführten Wirtschaftskrieg zu verschärfen gedachten; die Angeberei des Merkel-Nachfolgers und vormaligen Vizekanzlers Scholz im Bundestag verrät alles:

„…Sanktionen …, die ihresgleichen suchen. Über Monate hinweg haben wir sie bis ins kleinste Detail vorbereitet …. Weltweit haben wir für Unterstützung geworben.“

Sie wussten, was kam. Sie hatten es ja genau darauf angelegt.

ARD-aktuell berichtete über diesen Skandal mit keinem Wort. Wenn schon einäugige Justiz, dann erst recht tendenziöser Qualitätsjournalismus.

Keine offizielle Instanz in Deutschland regt sich darüber auf, dass Ex-Kanzlerin Merkel in ihrem „Zeit“-Interview zugleich einen mehrfachen Verfassungsbruch schamlos eingestand: Das Grundgesetz bindet nämlich alle staatlichen Organe an die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“. Zugleich verbietet es „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören“. Offen bleibt die Frage, ob außerdem noch ein strafbarer Fall von Friedensverrat vorliegt.

Reden wir lieber über den regierenden Kanzler Scholz und seine infantile Außenminister-in Baerbock. Beider Rechtsverständnis reicht ebenfalls nicht so weit, dass sie sich um eine Wiederbelebung des Minsk II-Abkommens bemühten. Im Gegenteil, sie verweigern Gespräche mit Moskau und konterkarieren das, was die UN-Generalversammlung gerade erst wieder beschlossen hat:

„Die Generalversammlung fordert nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel.“ 

Mit Ignoranz und Arroganz setzen sie vielmehr auf weitere Waffenlieferungen an die Ukraine, auf grundgesetzwidrige Kriegsbeteiligung mittels Ausbildung ukrainischer Soldaten an deutschen Angriffswaffen und auf völkerrechtswidrige Sanktionen. Im Gegensatz zu aller Berliner Heuchelei dient diese Politik den USA und deren Ziel, den Krieg zu verlängern.

Das Einzige, was man Kanzler Scholz zugutehalten kann:

Er hat sich noch nicht öffentlich bei den Amis für ihren Terroranschlag auf die Nord-Stream-Gasleitungen bedankt.

Aber das kann ja auch noch kommen.

Legal, illegal? Scheißegal

Man sollte eigentlich meinen, die UN-Charta sei auch in Art. 2, Absatz 4 unmissverständlich:

„Alle Mitglieder unterlassen … jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“,

doch machte man dann die Rechnung ohne den Wirt. Nach Auslegung der USA ist in der Charta lediglich die „militärische Gewalt“ gemeint. Der globale Süden beharrt hingegen darauf, das Gewaltverbot gelte auch für Wirtschaftssanktionen. Wird hier Haarspalterei betrieben? Das kann nur jemand meinen, der nicht wahrhaben will, dass Sanktionen eine ebenso existenzvernichtende, für Millionen Menschen tödliche Gewaltform darstellen können wie die militärische Gewalt.

Damit auch das endlich geklärt ist: Baerbocks großmäulige Ansage, die Sanktionen würden (sollten) „Russland ruinieren“ ist eine Missachtung des Völkerrechts. Ein Ausdruck vollendet selbstherrlicher Ignoranz. Denn laut UN-Charta ist nur der UN-Sicherheitsrat und niemand sonst ausdrücklich befugt, zur zwischenstaatlichen Streitbeilegung und zur Sicherung des Friedens schwerwiegende Sanktionen zu verhängen.

Mit hasserfülltem Aktionismus verfügte die EU allein in den ersten zwei Monaten nach Beginn der russischen Militäroperation sage und schreibe 3913 Sanktionen. Per Verordnung, ohne gesetzliche Grundlage, auf rechtlich äußerst fragwürdiger Basis.

Dass diese überschäumende Sanktionitis ihren gegen Russland gerichteten Zweck verfehlt, ist das Eine; das Andere aber, dass sie inzwischen die deutsche Wirtschaft massiv schädigt. Das führte selbst in Baerbocks Ministerium zu Nebenwirkungen:

„Bei vielen Mitarbeitern hat sich ein enormes Maß an Frustration und Fremdscham angehäuft … zunehmendes Unverständnis über die Art und Weise der Sanktionspolitik ohne jede Rücksichtnahme auf deutsche Interessen …

Ob die Sanktionen mit dem in Deutschland geltenden Recht vereinbar sind, ist längst nicht so eindeutig geklärt, wie die führenden Politiker und ihre journalistischen Wasserträger uns weismachen wollen. Beabsichtigt war, die russische Bevölkerung dazu zu bringen, den innenpolitischen Druck auf ihre Führung zu verstärken, um deren Außenpolitik zu ändern. Das Gegenteil ist eingetreten. Putin wird von 80 Prozent der Russen unterstützt. Logisch und rechtlich geboten wäre es folglich, die Sanktionen aufzuheben.

Über Berge von Leichen

Doch weder mit Logik noch mit rechtsstaatlichem Bewusstsein ist unsere Ampelregierung sonderlich gesegnet. Vielmehr treibt sie der gleiche krankhafte Wille, die Widersacher der USA zu vernichten, wie ihn Washington gegenüber Kuba, Venezuela, Irak, Iran und derzeit in schlimmster Form gegenüber Syrien auslebt. Da gehen die Scholz-Regierung und die Biden-Aministration Arm in Arm – und zwar über Berge von Leichen.

Menschenleben zählen nicht, entgegen dem frommen Schein auch keine ukrainischen. Waffen liefern für den Krieg, auf dass er bald zu Ende gehe? Gegenfrage: Kennen Sie in der vieltausendjährigen Geschichte der Menschheit auch nur einen einzigen Fall, dass ein Krieg mittels Waffenlieferungen beendet wurde?

Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der abgestorbenen Sowjetunion, politischer Vater auch der DDR-Selbstaufgabe und einst der Deutschen Lieblingsrusse:

„Die deutsche Presse ist die bösartigste überhaupt.“

Sie ändert sich nicht und garantiert damit, dass sich auch in unserem politischen Alltag nichts Wesentliches ändert. Gleiches gilt für die EU und den gesamten „Werte-Westen“: Ihre „regelbasierte Ordnung“ ist ein orchestrierter Bruch des Völkerrechts. Menschenverachtende Willkür. Gäbe es außerhalb der bewussten Medien (Internet-Portale, Blogs, einige kleine Tages- und Wochenzeitungen) tatsächlich einen distanziert-kritischen, um Wahrhaftigkeit und um Aufklärung bemühten Journalismus, dann gingen die Massen heute nicht nur zu Arbeitskämpfen auf die Straße, sondern regelmäßig auch gegen politische Korruption und gegen Kriegstreiberei.

Die Pest der Zensur

Mit ihr weiß unsere politische und gesellschaftliche Elite allerdings gut umzugehen und dem Volkszorn vorzubeugen. Mit Zuckerbrot (Journalisten schmieren, sie mit gut dotierten Posten und Privilegien korrumpieren) und Peitsche: Maulkorb und Strafandrohung, von Staats wegen.

Über die Informationsfreiheit heißt es in Art. 11 der Charta der Europäischen Union:

„Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet.“

Das Entsprechende in unserem Grundgesetz Art. 5:

Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Diese Grundrechte sind das Papier nicht mehr wert, auf dem sie gedruckt stehen. Bereits bevor Russland in den Ukraine-Krieg eingriff, verweigerten deutsche und europäische Behörden RT Deutsch die Sendeerlaubnis, obwohl RT bereits eine europaweit geltende, von Serbien ausgestellte Sendelizenz hatte. Die russische Nachrichtenagentur „Sputnik“ wurde ebenfalls gesperrt. Ausgerechnet EU-Kommissionspräsidentin v. d. Leyen, selbst unter Korruptionsverdacht und geübt in schamloser Lüge, durfte sich da hervortun:

„Als Sprachrohre Putins haben diese Fernsehkanäle seine Lügen und Propaganda erwiesenermaßen aggressiv verbreitet.“ Man solle ihnen „keine Bühne mehr zur Verbreitung dieser Lügen geben.“

Tobias Schmid, Direktor der Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen sah für das Vorgehen allerdings keine Rechtsgrundlage:

„Die Europäische Kommission ist gefordert, eine gesetzgeberische Lösung zu finden.“

Mit anderen Worten: Das Verbot war rechtswidrig. Und das ist es bis heute.

Die Bundesnetzagentur gab sich zur Durchsetzung der Zensurmaßnahmen her. Auch sie handelte rechtswidrig, wenn man eine grundlegende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beachtet:

„Dem Einzelnen soll ermöglicht werden, sich seine Meinung auf Grund eines weitgestreuten Informationsmaterials zu bilden. Er soll bei der Auswahl des Materials keiner Beeinflussung durch den Staat unterliegen. Da die Informationsfreiheit … auch dazu bestimmt ist, ein Urteil über die Politik der eigenen Staatsorgane vorzubereiten, muss das Grundrecht vor Einschränkungen durch diese Staatsorgane weitgehend bewahrt werden.

Die Informationsfreiheit wurde … verfassungsrechtlich garantiert, um die ungehinderte Unterrichtung auch aus Quellen, die außerhalb des Herrschaftsbereiches der Staatsgewalt der Bundesrepublik bestehen, zu gewährleisten. Wenn die Informationsquelle an irgendeinem Ort allgemein zugänglich ist, mag dieser auch außerhalb der Bundesrepublik liegen, dann kann auch ein rechtskräftiger Einziehungsbeschluss nicht dazu führen, dieser Informationsquelle die Eigenschaft der allgemeinen Zugänglichkeit zu nehmen.“

Diese vorbildliche Entscheidung stammt allerdings aus einer Zeit, als Politiker und Richter noch bemüht waren, „Demokratie zu wagen“.

Zwei staubige Brüder

Hatten wir eingangs des Kanzlers charakterlos schleimige Bemerkungen zitiert, so wollen wir hier mit vergleichbar Geistreichem von ihm fortfahren. Scholz:

„Niemand steht über Recht und Gesetz“.

Um Legendenbildungen vorzubeugen: Er bezog das auf Putin, nicht auf sich selbst.

Ein klassischer Fall von Cum-Ex-Gedächtnislücke. Doch bei diesem folgenlosen Vorwurf wollen wir es nicht belassen. Scholz habe am neuesten Märchen über die Nord-Stream-Gasröhren mitgestrickt, behauptet der weltbekannte Investigativ-Journalist Seymour Hersh; er habe beim Tête-à-Tête mit US-Präsident Biden in Washington vereinbart, dessen Täterschaft zu vertuschen. Beide hätten die CIA und den BND beauftragt, eine Tarngeschichte für die Zerstörung der Nord-Stream-Röhren zu erfinden und sie zu lancieren.

Heraus kam dabei die Story von ukrainischen Segelbootfahrern als angebliche Nord-Stream-Bombenleger. Die Tagesschau behauptete sogar, nicht die Einflüsterung der Geheimdienste, sondern eigene Recherchen der ARD hätten zu dieser „Spur“ geführt. Das klang so großmäulig wie unglaubwürdig.

Sollte Hersh mit seiner Behauptung Recht haben, Scholz sei Mitwisser der fiesen Geschichte, dann gehörte der Kanzler wegen eines Bündels von Straftaten vor den Richter, unter anderem wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung und Strafvereitelung im Amt.

Was aber macht ein deutscher Bundeskanzler heutzutage, wenn er mit schändlich unterwürfigen Aussagen gepatzt hat? Zieht er sich ins Trappistenkloster zurück und legt ein Schweigegelübde ab? Aber nicht doch! Entgegen seiner Pflicht, selbst aktiv zur Konfliktbewältigung beizutragen, tut er so, als sei sein geopolitischer Widerpart ein Schwachkopf – und lässt schnellstmöglich die nächste Sottise raus:

“Es ist wichtig, dass Putin versteht, dass er seine Truppen zurückziehen muss“.

Man nennt das verbale Vorne-Verteidigung. Die Tagesschau bringt derart hohle Phrasen garantiert im O-Ton und kommentarlos auf den Schirm, statt sie als Realsatire zu brandmarken. Das Publikum lässt es sich ja gefallen. Noch.

Quellen

https://www.tagesschau.de/inland/scholz-washington-105.html
https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/scholz-biden-111.html
https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-9971.html
https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-56347.html
https://dejure.org/gesetze/StGB/140.html
https://www.infosperber.ch/freiheit-recht/buergerrechte/russlandversteher-in-berlin-mit-2000-euro-bestraft/
https://www.bundestag.de/resource/blob/414640/44a2b7337d3b8fd94962639cb365c9c8/WD-2-049-07-pdf-data.pdf
https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-21-vom-30-november-2022.html
https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzler-olaf-scholz-2019954
https://www.zeit.de/2022/51/angela-merkel-russland-fluechtlingskrise-bundeskanzler
https://lxgesetze.de/gg/24
https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_26.html
http://stgb-online.de/verrat.html
https://www.un.org/depts/german/gv-notsondert/a-es11-1.pdf
https://www.wallstreet-online.de/nachricht/16690507-scholz-kuendigt-kontinuierliche-waffenlieferungen-ukraine
https://www.bundestag.de/resource/blob/892384/d9b4c174ae0e0af275b8f42b143b2308/WD-2-019-22-pdf-data.pdf
https://www.tagesschau.de/ausland/scholz-kampfpanzer-leopard-ukraine-101.html
https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/un_charta_666.html
https://www.mpil.de/files/pdf1/vrz.gewaltverbot.pdf
https://www.rnd.de/politik/ukraine-krieg-baerbock-ueber-sanktionen-das-wird-russland-ruinieren-RZDYS2DEPRK5OST7ZGGRZ6UN4I.html
https://unric.org/de/un-aufgaben-ziele/frieden-und-sicherheit/
https://de.statista.com/themen/9109/sanktionen-gegen-russland/#topicOverview
https://www.nachdenkseiten.de/?p=95404
https://verfassungsblog.de/wirtschaftssanktionen-gegen-russland-und-ihre-rechtlichen-grenzen
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1293274/umfrage/umfrage-zu-den-zustimmungswerten-fuer-wladimir-putin-in-russland/
https://www.tagesspiegel.de/politik/russland-gorbatschow-deutsche-presse-ist-die-boesartigste-ueberhaupt/1512810.html
https://uebermedien.de/82771/landesregierung-will-veroeffentlichte-preistraeger-noch-mal-veroeffentlichen/
https://fra.europa.eu/de/eu-charter/article/11-freiheit-der-meinungsaeusserung-und-informationsfreiheit
https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_5.html
https://www.tagesschau.de/inland/rt-de-rundfunklizenz-101.html
https://www.tagesschau.de/investigativ/hr/verbot-russische-staatssender-101.html
https://www.deutschlandfunk.de/putin-medien-propaganda-russland-europa-eu-kommission-sender-100.html
https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Fachthemen/Digitalisierung/Internet/Netzneutralitaet/DNSsperren/start.html
https://www.fallrecht.de/bv027071.html#080
https://www.berliner-zeitung.de/news/scholz-zu-putin-haftbefehl-niemand-steht-ueber-recht-und-gesetz-li.329010
https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-56079.html
https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__129a.html
https://dejure.org/gesetze/StGB/258a.html
https://www.tagesschau.de/ausland/scholz-cnn-103.html

 Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

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Oben     —   Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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KOLUMNE Cash & Crash

Erstellt von Redaktion am 30. März 2023

Bankenkrise in der Schweiz – Illusion des sicheren Hafens

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Von Ulrike Herrmann

Die Krise der Credit Suisse und die Übernahme durch ihre Konkurrentin UBS demaskieren das Geschäftsmodell der Schweiz. Die Bankenkrise in der Schweiz hat das Geschäftsmodell des Landes mit dem völlig überteuerten Franlen demaskiert.

Die Schweiz wirkt stabil und reich. Doch plötzlich scheint dieses Bild nicht mehr zu stimmen: Die zweitgrößte Bank, die Credit ­Suisse, musste von der Konkurrentin UBS übernommen werden, um eine Pleite zu verhindern.

Die Schweiz ist eine wichtige Steueroase, Anleger halten sie für sicher. Eine Illusion

In der Schweiz wird dieses Desaster als Staatskrise empfunden. Zu Recht. Die Credit Suisse zeigt, dass das eidgenössische Geschäftsmodell nicht mehr funktioniert. Für das kleine Land ist es gefährlich, sich als Steueroase zu inszenieren und weltweit Gelder anzuziehen.

Aber von vorn: Zunächst wirkt die Pleite der Credit Suisse wenig spektakulär, schließlich geraten immer wieder Unternehmen in die Krise. So müssen in Deutschland diverse Filialen der Warenhauskette Galeria Karstadt Kaufhof schließen, weil sie Verluste schreiben. Ähnlich war es auch im Fall der Credit Suisse: Sie hatte hohe Kosten, aber kein profitables Geschäftsmodell. Der relevante Unterschied ist nur, dass die Bank keine Unterhosen verkauft, sondern mit Geld hantiert – was die Pleite brisant macht.

Der Untergang der Credit Suisse­ war langfristig unvermeidlich. Sie hätte nur überleben können, wenn sie ihre Vermögensverwaltung noch weiter ausgebaut hätte. Doch dieser Markt ist schon gefährlich überdehnt, weil auch alle anderen Schweizer Banken davon leben, internationale Gelder zu betreuen.

Wichtige Steueroase

Vor der Coronakrise sammelte sich bei den zehn größten Schweizer Banken ein Finanzvermögen von 3,8 Billionen Franken – obwohl die Wirtschaftsleistung des Landes nur bei 717 Milliarden Franken lag. Die Schweiz erinnert an einen riesigen Geldballon, der nur noch mit einer dünnen Leine am Boden verankert ist.

Die Schweiz ist die zweitwichtigste Steueroase der Welt, und Anleger drängen in das kleine Land, weil sie einen „sicheren Hafen“ suchen. Doch dieser Eindruck beruht auf einer Illusion. Da so viele Investoren Franken kaufen, steigt dessen Wert, woraus die Investoren messerscharf schließen, dass der Franken sehr wertvoll sein muss – weswegen sie noch mehr davon kaufen.#

File:Ulrike Herrmann W71 01.jpg

In Wahrheit ist der Franken ein Verlustgeschäft. In einem Züricher Restaurant kostet ein schlechtes Kartoffelgratin mit schlechtem Wein 60 Franken. In Berlin wäre das gleiche Essen schon mit 25 Euro zu teuer. Das Schweizer Statistikamt hat genau nachgerechnet: Im Jahr 2021 benötigte man 167 Franken, um einen Warenkorb zu kaufen, der in der EU nur 100 Euro gekostet hätte. Der richtige Wechselkurs wäre also 1,67 Franken für einen Euro gewesen. Stattdessen lagen Franken und Euro fast gleichauf.

Der überbewertete Franken ist eine schwere Bürde für die Schweiz, weil er die heimischen Waren auf dem Weltmarkt zu teuer macht. Von 2012 bis 2021 ist die Schweizer Wirtschaft pro Kopf um 4,5 Prozent gewachsen. Das ist nicht viel für ein Jahrzehnt.

Nur im Ausland reich

Quelle        :        TAZ-online           >>>>>        weuterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —     Protest vor der Credit Suisse auf dem Bundesplatz im Rahmen einer Klimakundgebung 2019

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Illusionen der Kleinbürger

Erstellt von Redaktion am 29. März 2023

Krieg in der Ukraine: Luxemburgs Legende

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Ein Schlagloch von Georg Seeßlen

Wo die Debatte über den Krieg zum politischen Spektakel eskaliert, gerät der gemeinsame Nenner rasch aus dem Fokus. Andersdenkende werden zu Feinden.

Mal persönlich gesprochen: Was die Positionen von Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer und ihren An­hän­ge­r*in­nen anbelangt, so geht meine Reaktion übers Anderer-Meinung-Sein deutlich hinaus.

Es bildet sich da, meiner bescheidenen Meinung nach, keine Diskursgemeinschaft, die nach Möglichkeiten zum Frieden sucht, sondern eine hybride, bewusstlose und ein klein wenig clowneske Gemeinschaft, die fatal an „Querdenker“ und „Coronaleugner“-Szenen erinnert, das Rechte und das Linke quergestrickt, die Verschwörungsphantasmen und die schwarzbraunen Immerdabeis, die berechtigte Opposition zur hegemonialen Mainstreamerzählung und der sektenhafte Bruch mit dem Common Sense, die Forderung nach Gehör und die Taubheit gegenüber Einwänden, die Mischung aus Aggression und Opferstatus, die Verbindung humanistischer Anliegen mit geradezu zynischem nationalem Interesse – diese Melange entzieht sich meiner Vorstellung von kritischem Denken.

Allerdings weiß ich auch nicht so recht, wovor ich mehr erschrecken soll, vor der offenbar in Kauf genommenen Attraktion, die solche Mixtur für – wie sagt man? – den „rechten Rand“ darstellt, oder über die allfällige moralische Entrüstung, die selbst in der noch nicht vollkommen heruntergekommenen Presse an Hysterie grenzt. Es geht da, scheint’s, weniger um das Bemühen, zu klarerem Denken zurückzufinden, als um die Konstruktion von Feindbildern und um Anlässe zur Empörung.

Wenn die so indizierten – wie sagt man? – „medienaffinen Personen“ freilich genau das am besten gebrauchen können, nämlich von der richtigen falschen Seite als „Feindbild“ behandelt zu werden, dann ist von der politischen Debatte tatsächlich nur der Spektakelwert geblieben. Und den lassen sich auch unsere – wie sagt man? – „Qualitätsmedien“ nicht entgehen.

Schwere Mission

Die Verspektakelung entwickelt sich exponentiell; am Ende gibt es zwischen den beiden rhetorisch aufgeblasenen Moralpredigten, die jeweils die andere Seite der Unmoral bezichtigen, keine Luft mehr zum Atmen, keinen Platz mehr für einen freien Gedanken. Und schnell ist dabei vergessen, dass es um zwei widersprüchliche und gleichwohl miteinander verbundene Dinge geht. Darum, ein Land und seine Gesellschaft gegen eine Aggression zu verteidigen, aber auch darum, das Leiden der Menschen in der Ukraine zu beenden.

(Und, nebenbei bemerkt, es gibt auch ein russisches Leiden.) Dieser Widerspruch ist nicht in einem politischen Spektakel aufzulösen, sondern nur durch kluges und moralisches Denken und Handeln. Wie aber sollte das gelingen, wenn wir uns das freie Denken abtrainieren lassen? Rosa Luxemburg hat uns eine ebenso schöne wie schwere Aufgabe hinterlassen: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“

Kleinbürgerliche Illusionen

In der Welt versucht Sven Felix Kellerhoff, „Leitender Redakteur Geschichte“, Rosa Luxemburg dieses Wort abspenstig zu machen, denn eine kommunistische Frau darf sich doch nicht an unserer Vorstellung von Freiheit vergreifen, nicht wahr? „Schon am 20. November 1918, der Kaiser war gerade erst seit elf Tagen gestürzt, positionierte sie sich im Leitartikel der Roten Fahne unmissverständlich. Die Nationalversammlung sei ‚ein überlebtes Erbstück bürgerlicher Revolutionen, eine Hülse ohne Inhalt, ein Requisit aus den Zeiten kleinbürgerlicher Illusionen vom ‚einigen Volk‘, von der ‚Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘ des bürgerlichen Staates.“ Unerhört! Bloß doof, dass sie mit ihrer Einschätzung der kleinbürgerlichen Illusionen auf so schreckliche Weise recht behalten sollte …

Memorial, close to lower lock, Berlin-Tiergarten

Welt-Leser*innen wissen so genau, was es mit der Freiheit von Andersdenkenden auf sich hat, dass sie in ihren Kommentaren gern noch was draufgeben, wie etwa dies hier: „R.L. und K.L. wollten unter dem Vorwand einer bürgerlichen Revolution den Bolschewismus als Staats-/Regierungsform. Mit Demokratie hatten sie wirklich nichts im Sinn. Das rechtfertigt natürlich nicht ihre Ermordung. Doch dem politischen Treiben, ihrer Agitation u.w. musste ein Ende bereitet werden.“

Mal abgesehen davon, dass Rosa Luxemburg alles andere als „Bolschewistin“ war – aber hier müsste man beginnen, eben genauer, fairer und „freier“ zu lesen und zu debattieren –, kann man durchaus erschrecken über solch rechtskonservatives Grundrauschen: Nicht gleich ermorden, die Andersdenkenden, aber ihrem Treiben muss doch ein Ende bereitet werden.

Rosa Luxemburgs Idee der Freiheit ist schon in „normalen“ Zeiten eine ganz schöne Zumutung. In Zeiten von Krise und Krieg – also mittlerweile fast immer – steht sie zur Disposition; jetzt kann es nur noch um „unsere“ Freiheit gehen, die von den anderen bedroht wird. Und jetzt wird die Grenze zwischen Andersdenkenden und Feinden obsolet.

Ringen um die richtige Erzählung

Quelle          :         TAZ-online             >>>>>         weiterlesen

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Oben     —       Sculpture of Rosa Luxemburg, made by Rolf Biebl, standing in front of the Neues Deutschland building, Franz-Mehring-Platz, FriedrichshainBerlin.

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Kommerzielle-Staatstrojaner

Erstellt von Redaktion am 29. März 2023

Bidens Verordnung ist nur der erste Schritt

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        :       

US-Behörden dürfen kommerzielle Staatstrojaner nur noch eingeschränkt nutzen. Das ist ein erster Schritt, darf aber nicht der letzte sein. Denn die Probleme mit staatlichem Hacken löst das nicht.

US-Behörden dürfen in Zukunft kommerzielle Staatstrojaner nur noch eingeschränkt nutzen. Das hat US-Präsident Joe Biden am Montag angeordnet. Ein Komplettverbot für die invasiven Hacking-Tools ist es nicht. Vor allem geht es um Staatstrojaner, von denen eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der USA ausgeht oder „ein erhebliches Risiko der missbräuchlichen Verwendung durch eine ausländische Regierung oder eine ausländische Person“. Dazu zählt laut der Anordnung, wenn ein Trojaner gegen US-Bürger:innen eingesetzt wurde oder damit Menschenrechtsverletzungen begangen werden.

Das dürfte das Aus für Staatstrojaner wie Pegasus oder Predator in den USA sein. Wie sie ist kaum ein größeres Trojaner-Unternehmen ohne Skandal. Regierungen überwachen mit den Staatstrojanern Dissident:innen oder setzen sie gegen Medienschaffende ein. Erst letzte Woche wurde bekannt, dass die griechische Regierung eine Managerin von Meta mit US-Staatsbürgerschaft abgehört haben soll. Schon vor zwei Jahren wurde bekannt, dass US-Diplomaten auf der Zielliste von Pegasus standen.

Was die Anordnung Bidens nicht verbietet: All die Hacking-Tools, die US-Behörden selbst entwickeln. Und Staatstrojaner von Herstellern, die noch nicht in autoritären Regimen gefunden wurden und die die USA als vertrauenswürdig einstufen.

Die Branche ist außer Kontrolle

Nicht nur der Pegasus-Skandal hat uns gezeigt: Die kommerzielle Staatstrojaner-Branche ist außer Kontrolle. Bidens Anordnung ist daher ein notwendiger erster Schritt, kann aber nicht der letzte sein.

Wenn wir nach Europa blicken, sehen wir: Ein Stopp für den Ankauf und Einsatz von Staatstrojanern ist überfällig. EU-Staaten hacken und überwachen damit ihre eigene Bevölkerung. Offenbar nicht immer nur, um Terrorist:innen zu fangen. In Polen oder Spanien etwa wurden Staatstrojaner bei politische Opponent:innen gefunden.

Doch selbst wenn alle Trojaner-Hersteller und die sie einsetzenden Regierungen Staatstrojaner stets nur zur Bekämpfung schwerster Verbrechen einsetzen würden: Das Grundproblem mit Staatstrojanern löst das nicht. Was bleibt, sind die Sicherheitslücken, die Hersteller nutzen, um Geräte zu infizieren und auszuspähen. Am wertvollsten dabei sind jene Lücken, die der Öffentlichkeit noch nicht bekannt sind. Und die Hersteller von Geräten und Software deshalb nicht schließen können.

Schwachstellen konsequent schließen

Sicherheitslücken offenhalten, um sie auszunutzen, gefährdet uns alle. Egal, wer das tut. Weder Staaten noch Staatstrojaner-Hersteller haben ein Monopol auf dieses Wissen. Sie können genausogut von gewöhnlichen Kriminellen gefunden und zum Schaden aller ausgenutzt werden. Der Handel mit Sicherheitslücken ist ein Markt. Und wer weiter Geld in dieses System spült, macht sich mitschuldig daran, dass es floriert.

Wenn der Pegasus-Ausschuss im Europaparlament seine Arbeit abschließt und einen Bericht und Empfehlungen vorlegen wird, muss ein Moratorium folgen. Und wir brauchen nicht nur ein Verbot kommerzieller Staatstrojaner, wir brauchen ein Verbot, Sicherheitslücken zu verschweigen – egal ob für staatliche oder kommerzielle Akteure.

Die Ampel hat sich vorgenommen, ein wirksames Schwachstellenmanagement einzuführen. Das darf nur heißen: Es muss verboten sein, Sicherheitslücken offenzuhalten. Alle Lücken, gleich wer sie findet, müssen schnellstmöglich geschlossen werden. Die Haltung von Bundesinnenministerin Faeser dazu ist nicht ganz so klar. Und das ist ein Problem. Die deutsche Regierung sollte es besser machen als die USA und Konsequenzen ziehen. Denn Staatstrojaner, die auf Sicherheitslücken beruhen, gefährden uns alle. Auch den Staat selbst.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquelle :

Oben     —     Senator Biden gives his opening statement and questions U.S. Ambassador to Iraq Ryan Crocker and General David H. Petraeus at the Senate Foreign Relations Committee Hearing on Iraq.

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 29. März 2023

Ja-Sagen in komplizierten Zeiten

KOLUMNE VON – Lukas Wallraff

Klima-Volksentscheid in Berlin. – In Berlin wurde am Sonntag abgestimmt, ob die Stadt bis 2030 klimaneutral werden soll. Ein Ziel, dem leicht zuzustimmen ist. Scheinbar.

Wer in diesen Tagen durch Berlin fährt, am besten natürlich mit dem Fahrrad, sieht überall ein „Ja!“. An jeder Ecke, auf kleinen und großen Plakaten, unübersehbar, rot auf grün, in Riesenlettern: „Ja!“, „Ja!“, „Ja!“. Das spricht mich durchaus an. Die Farben Rot und Grün finde ich beide relativ sympathisch. Und da ich mich zwischen beiden oft schwer entscheiden kann, freue ich mich, wenn jetzt offenbar ein zweifarbiges „Ja!“ reicht.

Ich sage generell gern Ja, zum Leben, zu den Menschen und wenn mich jemand freundlich fragt, etwa, ob ich noch ein Bier will. In meinem Leben habe ich schon sehr häufig freudig „Ja!“ gerufen, beim Pokalsieg des 1. FC Nürnberg, bei der Wahl von Barack Obama, beim Wanda-Konzert am letzten Freitag, am lautesten bei meiner Hochzeit. Und ich habe es nie bereut.

Auch bei dem Berliner Volksentscheid an diesem Sonntag ist es zweifelsohne sehr verlockend, einfach „Ja!“ zu sagen, beziehungsweise anzukreuzen. „Berlin klimaneutral 2030“ – Fantastisch! Noch viel sympathischer als Rot und Grün zusammen, die in ihrer gemeinsamen Regierungszeit auf dem Weg zum Traumziel einer klimaneutralen Hauptstadt als Vorbild für das ganze Land nur bis zur Friedrichstraße kamen.

Endlich Schluss mit der Verzagtheit. Und das nach einer Woche, in der passenderweise der Weltklimarat eindrücklich gefordert hat, dass auf die vielen schönen Worte endlich Taten folgen müssen. Also, Berlin first! Wer kann dazu schon Nein sagen? Nunja, nach längerer, ernsthafter Überlegung: ich.

Keine Ahnung, wo das Geld herkommen soll

Es wäre zwar irgendwie lustig und typisch Berlin, den Grünen erst bei der Wahl nur 18 Prozent zu geben und dann wenige Wochen später mehrheitlich für eine viel radikalere Klimapolitik zu stimmen als die Grünen. Und es ist gut möglich, weil viele das „Ja!“ zum Klimaziel vor allem als „Nein!“ zur geplanten großen Koalition verstehen. Klar, da juckt es auch mich. Wenn die CDU und die SPD unbedingt gemeinsam stillstehen möchten, dann wollen wir doch mal sehen, wie sie ein gesetzlich vorgeschriebenes Klimaziel 2030 hinbekommen.

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Leider können aber nicht einmal die BefürworterInnen des Volksentscheids triftig erklären, wo das Geld und die technischen Voraussetzungen her kämen, die für eine Klimaneutralität bis 2030 nötig wären. Wenn überhaupt, wäre das wohl nur halbwegs denkbar, wenn Berlin jeden, aber auch jeden Steuercent in Richtung Klimaschutz drehen würde. Was dann noch für Sozial-, Wohnungsbau-, Flüchtlings- und Bildungspolitik übrig bliebe, die jetzt schon im Argen liegen, erst recht bei einer CDU-Regierung?

Tja. Auch wenn ich den Auftrag sehr ernst nehme, dass wir bitte eine linke, radikale Zeitung bleiben sollen, wie es uns Christian Ströbele mitgegeben hat: „2 + 2 = 5“ kann ich nicht unterschreiben, sorry. Ein „Ja!“ am Sonntag scheint mir, leider, nicht erstrebenswert. Und auch nicht wirklich links. Weil ich fürchte, da eine wirklich linke Regierung nicht in Sicht ist, dass die Rechnung am Ende eher die Armen als die Reichen bezahlen würden.

Quelle       :       TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Her mit dem Unterhalt!

Erstellt von Redaktion am 28. März 2023

Unterstützung für Stiefmütter und -väter

Ein Debattenbeitrag von Elsa Koester

Als Stiefmutter trägt unsere Autorin Verantwortung für zwei kleine Menschen – auch finanziell. Doch der Staat behandelt sie, als sei sie kinderlos.

Was stimmt nicht mit meinem Kontostand? Da ist ein Minus, wo doch sonst immer ein Plus war? Ist das die Inflation? Denn meinen Lebensstil habe ich kaum geändert: Dieselbe Wohnung, kein Auto, und Restaurants, Bars und Reisen sind doch viel seltener geworden, seit der … richtig: Seit der Kids! Mein Kontostand leidet, seit ich Stiefmutter geworden bin. Wo ich vorher Miete nur für mein WG-Zimmer zahlte, zahle ich jetzt mehr Miete für eine Vierzimmerwohnung, in der mein Partner, ich und zeitweise die zwei Kinder leben. Wo ich vorher nur für meine Fischstäbchen zahlte, zahle ich jetzt Fischstäbchen für zwei kleine Menschen mit. Und der Staat? Gibt mir nichts dafür! Keine Stiefkinder-Freibeträge, keine Steuererleichterungen. Vom Kindergeld sehe ich nichts. Kinderzuschläge zahlt mir mein Arbeitgeber keine. Denn aus sozialstaatlicher Perspektive bin ich ja: kinderlos. Erklären Sie das mal meinem Konto.

Nun lässt sich das alles ja wunderbar erklären: Die Kinder, für die der Staat Unterstützung zahlt, sind ja nicht mehr geworden, es waren zwei, als sie nur zwei Eltern hatten, und es sind immer noch zwei, jetzt, wo sie zwei Eltern plus eine Stiefmutter haben. Die Freibeträge gelten also weiter für beide Eltern, und das Kindergeld geht an dasjenige „echte“ Elternteil, das das Kind gerade mehr betreut, und Kinderzuschläge gibt es bei den Arbeitgebern der Eltern meiner Stiefkinder eh keine. Ich mag zwar Stiefmutter geworden sein und immer mehr Verantwortung für die Kids tragen, aber finanziell bin ich aus der Elternsache raus: Das für die Kindersorge notwendige Geld landet bei den biologischen Eltern, also sollen sie auch zahlen.

Aber haben Sie mal mit einer Familie zusammengelebt? Das geht ja ungefähr so: Fünf Uhr abends, Heimweg, Whatsapp: „wir brauchen noch Fischstäbchen für heute Abend, ich schaff es nicht, hol noch den Kleinen ab“, „ok kauf ich“, „ah und Ketchup“, „ok“, dann die Stieftochter: „hey hab gehört du gehst einkaufen bitte sushipapier und die geilen onigiri und saft“, „ok“, „kaffee ist auch alle“, und guck mal, der Lieblingsjoghurt vom Kleinen, und ach ja, Klopapier und Olivenöl, zack, 40 Euro für einen ungeplanten Feierabendeinkauf. Und dann drei Tage später noch mal und dann noch mal. Machen Sie dann wirklich eine Liste? „1 Onigiri für Stieftochter, Saft“?

Und dann holen Sie sich das Geld von Ihrem Partner fein säuberlich wieder, wenn dieser gerade mit Kopfschmerzen auf dem Sofa liegt, weil sein Konto seit der Trennung ständig ins Minus rollt am Ende des Monats, seit zwei Eltern plötzlich zwei Wohnungen finanzieren müssen, und nicht mehr nur eine? Ich bringe das nicht übers Herz. Und ich bin ja auch Stiefmutter! Ich trage die emotionale Verantwortung für die kleinen Menschen, mit denen ich jetzt seit drei Jahren zusammenlebe. Warum sollte ich nicht auch finanziell Verantwortung übernehmen? Ich muss nach einer Trennung ja auch keinen Unterhalt für meine Stiefkids zahlen, heißt es. Ja, warum eigentlich nicht?

Das kleine Sorgerecht ist ein Witz: Wer es hat, darf gerade mal die Kleine von der Kita abholen

Mit Zeit. Anerkennung. Und Geld auf dem Konto

Diese Gesellschaft verändert ihr Familienleben. Die Ampelregierung hat das eigentlich längst verstanden: „Familien sind vielfältig. Sie sind überall dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, und brauchen Zeit und Anerkennung“, so steht es im Koalitionsvertrag. In Regenbogenfamilien tun sich häufig drei Eltern für ein Kind zusammen: Zwei Väter und eine Mutter, zwei Mütter und ein Vater. Und auch werdende Hetero-Eltern suchen sich manchmal eine dritte Elternperson, um die Familie für die Kinder zu vergrößern. Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP hat deshalb Pläne: Er möchte das „kleine Sorgerecht“ auf bis zu vier Elternpersonen ausweiten. Vier rechtliche Eltern? Wow!

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Leider ist es so: Außer auf dem Koalitionspapier verändert sich überhaupt nichts. Zum einen ist das „kleine Sorgerecht“ ein Witz: Wer es hat, darf gerade mal die Kleine von der Kita abholen (geht auch so) und entscheiden, was der Kleine auf sein Brot bekommt. Zum anderen geht es da um Rechte, nicht um Geld. Finanzielle Unterstützung der multiplen Elternschaft? Da wartet man bei einer Regierung mit FDP-Beteiligung lange. Auch queere Mütter warten noch immer auf ihr Elterngeld und ihre Kinderfreibeträge – auf die Gleichstellung zu Heteromüttern also.

Den Liberalen geht es weniger um soziale Sicherheit als mehr um liberale Freiheit: Alles muss möglich sein im Zusammenleben, aber bitte ohne Verbindlichkeit, und kosten darf es auch nichts. Ihr wollt zu dritt ein Kind? Bitteschön, wir ermöglichen euch alles, wir sind ja liberal! Aber wie ihr das finanziert bekommt, das schaut doch bitte selbst. Und so ist die Frage der Familiengründung, der Trennung und der Familienneugründung als Patchworkfamilie in dieser Gesellschaft leider weiterhin eine soziale Frage. Wer zu wenig Geld hat, kann keine zwei Wohnungen finanzieren und bleibt womöglich als sich hassendes Elternpaar zusammen. Wer zu wenig Geld hat, kann als Stiefelternteil weniger Verantwortung für die Kinder übernehmen, als sie oder er das vielleicht möchte.

Quelle        :          TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben        —          Hänsel und Gretel treffen die Hexe

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Bewegungen-Anarchismus

Erstellt von Redaktion am 28. März 2023

Ein Plädoyer für einen Bewegungsanarchismus und (Anti-)Politik

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :    Jonathan Eibisch

Mit dem folgenden Beitrag möchte ich eine kritische Debatte über unser Politikverständnis anregen, über das Verhältnis von Anarchismus und Bewegungslinke reflektieren und auf meine Tätigkeiten hinweisen.

Ausgangspunkt dafür sind unterschiedliche Transformationsverständnisse, welche es zu diskutieren gilt. Eine Voraussetzung bei der Entstehung des Anarchismus als eigenständige sozialistische Strömung war die Verwerfung der politischen Reform, als Ausdruck der Sozialdemokratie einerseits und der politischen Revolution als Horizont des Parteikommunismus, andererseits. Statt ersterer wurden Ansätze entwickelt, in welchen auf mutualistische Selbststorganisation gesetzt wird, um die Gesellschaft graswurzelartig zu verändern. Die Ablehnung letzterer mündete in die Befürwortung von Aufstand und alltäglicher Subversion.

Transformationsansätze

Darüber hinaus entstanden das Transformationskonzept des autonomen Protestes, mit welchem auf die Radikalisierung und Selbstorganisation in sozialen Bewegungen gesetzt wurde, und schliesslich jenes der sozialen Revolution. Bei sozialer Revolution geht es nicht um die Übernahme der Staatsmacht, sondern um die grundlegende Transformation politischer Strukturen hin zu Föderationen dezentraler autonomer Kommunen. Die Vergesellschaftung von Privateigentum und Produktionsmitteln soll durch die Arbeiter*innen selbst und direkt geschehen.

Darüber hinaus sollen mit sozialer Revolution die verschiedenen Dimensionen der Herrschaftsordnung (z.B. Geschlechter- und Naturverhältnisse, Kultur und Ethik) zugleich überwunden werden. Und sie geschieht prozesshaft, entwickelt konstruktiv neue Organisations- und Gemeinschaftsformen und orientiert sich präfigurativ an konkreten Utopien. Im Bewegungs-Anarchismus wird insbesondere auf die beiden letzten Konzepte Bezug genommen. Wenn Simon Sutterlütti die Transformation als »Konstruktion« befürwortet, welche zur »Aufhebung« führe, meint er damit (implizit und unbegriffen) das Nachdenken über anarchistische Transformationsstrategien.

In der Vorstellung der »Keimformtheorie« wird dies sogar dem Wort nach aus dem Anarchismus entlehnt. Leider geschieht dies aber verkürzt, weil komischerweise darauf insistiert wird, das Rad mit den Commons-Ansätzen auf idealistische Weise neu zu erfinden, statt konsequenterweise einen Beitrag zu formulieren, um den Anarchismus theoretisch zu erneuern. Den anarchistischen Kern dieser Theoriestränge zu verdecken, bringt für die Debatte über zeitgemässe, sinnvolle Transformationsansätze nicht weiter.

Für die Bewegungslinke hilfreich ist in diesem Zusammenhang eher ein Denken wie jenes von John Holloway (2010) oder Eric Olin Wright. Letzterer versucht dabei die Transformation durch Bruch (Parteikommunismus), durch Freiräume (Anarchismus) und durch Symbiose (Sozialdemokratie) zu verbinden, um ein gemeinsames sozialistisches Projekt denkbar zu machen (Wright 2017: 375-485).

Dabei argumentiert Wright, echte Gesellschaftstransformation könne nur ermöglicht werden, wenn alle drei Ansätze zusammengeführt werden. Mit seiner Betonung konkreter Utopien, der Annahme, dass der Sozialismus nicht aus dem Kapitalismus herauswächst, dass es eine gesellschaftliche Ermächtigung braucht und mehrere Strategien für eine grundlegende Gesellschaftstransformation zusammenwirken müssen, wirkt insbesondere der Schluss seines Buches direkt anarchistisch (Wright 2017: 486-496), ist es sein Transformationskonzept nur teilweise. Und eben darin liegt die Stärke einer Konzeption, welche unterschiedliche Ansätze zusammen denkt. Dies setzt allerdings voraus, dass die Anhänger*innen der jeweiligen Strömungen, Flügel oder Spektren, ihre eigenen Grundlagen, Fähigkeiten und Schwierigkeiten kennenlernen und weiter entwickeln. Im Übrigen ist dies auch die Voraussetzung für Streit, der solidarisch und konstruktiv geführt wird, statt dogmatisch und spalterisch. Letzteres bedeutet aber nicht, auf radikalen Zweifel zu verzichten, wo er notwendig ist…

Kritik der Politik und (Anti-)Politik im Anarchismus

Die Besonderheit des Anarchismus innerhalb der Bewegungslinken besteht in seiner Betonung der Autonomie, Dezentralität und Selbstorganisation sozialer Bewegungen, statt Vorfeldorganisationen von Parteien oder gar künstlich geschaffene Pseudo-Bewegungen zu sein. Mit dem Anarchismus wird auch die Präfiguration stark gemacht, also das Anliegen, mit den eigenen Organisations- und Aktionsformen bereits die Gesellschaftsform zu verkörpern, welche angestrebt und verallgemeinert werden soll.

Auch die eigene Ethik und die soziale Dimension unter den Aktiven gewinnt damit einen wichtigen Stellenwert: Die eigene Bewegung soll konkret emanzipierend wirken. Darüber wird die Konfrontation mit den Strukturen der Herrschaft gesucht, statt diese nur provokativ einzusetzen, um in Verhandlungen mit den politisch Machthabenden zu treten. Und es soll sich Initiative angeeignet werden, anstatt lediglich dem Tagesgeschäft der politischen Agenda gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen bzw. deren Rahmung durch Regierungspolitik hinterher zu eilen.

Zu dieser Sichtweise gelangen Anarchist*innen durch eine spezifische Kritik der Politik. Um zu begründen, weswegen Anarchist*innen zu dieser Haltung gelangen, ist der Begriff »Politik« zu definieren. Denn seine Verwendung im alltäglichen Sprachgebrauch ist sehr diffus. Weiterhin ist die Definition von »Politik« hochgradig umstritten – und damit selbst ein politischer Akt: Entsprechend der Weise, wie wir »Politik« erfassen, ergibt sich unser Umgang mit ihr. Darüber lohnt es sich, genauer nachzudenken, damit wir selbstbestimmt Inhalte und Positionen entwickeln können. Im konservativen Denken hat Politik vor allem die Aufgabe des Erhalts einer »guten« (d.h. beständigen) gesellschaftlichen Ordnung.

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Verkürzte staatssozialistische Ansätze sehen in der Politik lediglich das Ergebnis von ökonomischen Konstellationen. Das liberal-demokratische Denken erfasst die politische Sphäre in einem Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft und nimmt an, dass verschiedene Prozesse zur Öffnung oder Schliessung von Politik führen. Dagegen richtet sich die radikal-demokratische Tradition, in welcher der verfestigten Politik, »das Politische« gegenüber gestellt wird. Letzteres ist die prozesshafte Infragestellung von Herrschaftsordnungen durch selbstorganisierte Gruppen, etwa in den Platzbesetzungsbewegungen.Dagegen beziehe ich mich an dieser Stelle aus strategischen Gründen auf ein bestimmtes anarchistisches Verständnis, mit welchem Politik stets an das Regieren gekoppelt ist (»gouvernemental«). Politik ist dieser Definition nach immer mit Konflikt verbunden (»konfliktorientiert«), aber es wird bezweifelt, dass sie vor allem die Herstellung einer »guten Ordnung« (für alle) zum Ziel hat (»negativ-normativ«). Schliesslich kann Politik auch so verstanden werden, dass es in ihr immer um oft blutige und intrigante Machtkämpfe und Machterhalt zwischen meist äusserst ungleichen Akteur*innen geht (»ultra-realistisch«).Selbstverständlich ist Politik nicht nur dies. In ihr geht es auch um Verhandlungen, manchmal erscheint sie unumgänglich, vor allem, wenn wir den Anspruch erheben, die Gesellschaftsform insgesamt zu verändern – und damit auch die Gestalt dessen, was Politik in einer bestimmten Herrschaftsordnung ist. Aber wenn wir diese Definition annehmen (und es gibt zahlreiche Menschen weltweit und in der Geschichte, denen Politik so erscheint), lässt sich von einem emanzipatorischen Standpunkt zurecht in Frage stellen, ob sich das Politikmachen lohnt. Wie gesagt geht es hierbei nicht um vermeintlich richtige oder falsche Begriffe, sondern um die lohnenswerte Hinterfragung und Verschiebung unserer Sichtweise.

Anarchist*innen haben also eine grössere Skepsis gegenüber dem Politikmachen, als sie in anderen sozialistischen Strömungen vorhanden ist, welche dieser Ansicht nach unterschätzen, wie stark Staatlichkeit politisches Handeln vereinnahmt und monopolisiert. Weiterhin sind es aber auch Aktive in anderen Strömungen sozialer Bewegungen, welche ihr politisches Handeln dem Staat zuordnen (indem sie bspw. ganz bestimmte Gesetze vorschlagen und als unrealistisch erachtete Anliegen zurückstellen). Zum Beispiel neigen Mitglieder von Parteien dazu, die Autonomie einer sozialen Bewegung zu beschränken, um sie ihren eigenen Interessen zuzuführen.

Ähnliches gilt für NGOs, welche durch neue Regierungstechniken (»neoliberale Gouvernementalität«) teilweise eine sehr staatstragende Funktion übernehmen. Doch auch Menschen, die sich wie bei Fridays for Future neu politisieren, glauben häufig daran, dass »die Politik« doch angesichts eindeutiger Erkenntnisse endlich handeln sollte und appellieren daher an sie. Linksradikale Gruppen gehen dagegen nicht davon aus, dass sie mit ihrem Handeln Regierungspolitik beeinflussen können, bleiben aber häufig dennoch an Rudimenten des Schemas von politischer Revolution orientiert.

Als libertär-sozialistischer Flügel nach Autonomie streben

Doch das anarchistische Denken funktioniert anders, als einen Widerspruch zwischen »Reform« und »Revolution« zu konstatieren, welcher durch »radikale Realpolitik« zu überbrücken wäre – und sei es im Verständnis von Rosa Luxemburg. Wie bereits angedeutet, wird dagegen angestrebt, diesen Gegensatz mit dem Verständnis von sozialer Revolution zu überwinden. Damit wird das Terrain der durch die herrschende Ordnung definierten Politik bewusst verlassen. Politik muss deswegen aber nicht als »schlecht« oder »böse« angesehen werden.

Es reicht, sich vor Augen zu führen, dass wir in vielen anderen Sphären mindestens ebenso wirkmächtig handeln können, wenn wir die Gesellschaft grundlegend verändern wollen. Diese anderen Sphären, in denen in einer Doppelbewegung von Herrschaftsverhältnissen weg und nach Autonomie gestrebt wird, findet sich in vielen Aspekten, welche uns aus linken Szenen und Lebenswelten bekannt sind. Sie haben ihre Bezugspunkte in den Individuen (Die Selbstbestimmung und -entfaltung aller Einzelnen), im Sozialen (z.B. Nachbarschaftsversammlungen), in »der« Gesellschaft (z.B. Gegenmacht von unten aufbauen), in der Ökonomie (autonome Gewerkschaften) und der Gemeinschaft (Kommunen und Alternativszenen). Darüber hinaus werden Kunst, Ethik und Utopie als Gegenpole zur politischen Sphäre verstanden.

Dies führt Anarchist*innen jedoch nicht zu einer apolitischen oder unpolitischen Haltung, sondern zu einem gelebten Widerspruch mit dem politischen Feld, welches sich unter Bedingungen der bestehenden Herrschaftsordnung als staatliches Herrschaftsverhältnis konstituiert. Auch die Anrufung der sogenannten »Zivilgesellschaft« und die Bezugnahme auf sie gilt es demnach zu hinterfragen, weil sie – mit Gramsci – der dem Staat vorgelagerte Raum ist. Dies schliesst keineswegs aus, mit verschiedenen Personen zusammen zu arbeiten, welche keine dezidiert »linken« Überzeugungen und Hintergründe haben. Mehr Menschen als wir glauben durchschauen die »politische Illusion«, also die Vorstellung, dass es sinnvoll ist, seine Energie und Zeit mit Tätigkeiten auf dem eingehegten politischen Terrain zu verbringen. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht auch danach streben können, die Gesellschaft grundlegend zu verändern.

Wenn sich die Bewegungslinke stärker an ihrem (potenziellen) libertär-sozialistischen Flügel ausrichten würde, müsste sie sich konsequenter danach orientieren, was sie wirklich verändern und vorleben, wo sie hin will. Ein Ansatzpunkt dafür ist, nicht in die »Falle der Politik« zu tappen – wie sie Emma Goldman nannte –, sondern die eigenen Perspektiven, Handlungsansätze und Gruppen zu stärken und zu vermitteln.

Beispiele dafür sind bekannte Projekte wie die Autonomiebestrebungen in Rojava und Chiapas, ebenso wie die historische Selbstorganisation der Arbeiter*innen, die autonome Bewegung der 70er/80er Jahre oder munizipalistische/kommunalistische Bewegungen heute. Dabei geht es nicht darum, z.B. diese Bewegungen zu verklären oder als besser darzustellen, sondern die Unterschiede in den Politikverständnissen herauszuarbeiten, um sie weiter zu diskutieren. Wie immer gibt es dazu verschiedene Positionen und gilt es die Auseinandersetzungen und Debatten darum weiterzuführen.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —     Thomas Rowlandson (1756–1827), Breaking Up of the Blue Stocking Club. Etching, hand-colored (London: Thomas Tegg, 1815. NYPL, The Carl H. Pforzheimer Collection of Shelley and His Circle)

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Fall Credit Suisse

Erstellt von Redaktion am 28. März 2023

Zitate für die Geschichtsbücher zum Fall Credit Suisse

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von        :      Urs P. Gasche / 

Es gab Schönredner, die heute nicht gern an ihre Aussagen erinnert werden. Und es gab Warner, die jetzt zu wenig zu Wort kommen.

Trotz der weltweiten Finanzkrise von 2008 hatten Behörden und Politiker die Eigenkapitalvorschriften für Banken zu wenig verschärft und unzulängliche Notfallpläne erarbeitet. Das genügte jedoch, dass einige Politiker und Experten der Öffentlichkeit Sand in die Augen streuten und zuliessen, dass Grossbanken mit Hilfe ihrer einflussreichen Lobby noch heute mit Fremd- und Eigenkapital weitgehend unbehindert hochriskante Wettgeschäfte eingehen können – auch unkontrolliert ausserhalb der Börsen (siehe «150 Billionen Franken Spekulationsgelder sind ausser Kontrolle»).

Unter anderem dies führte jetzt zum günstigen Verkauf der Credit Suisse an die Grossbank UBS, um damit «eine internationale Finanzkrise zu verhindern» (Urban Angehrn, Direktor der Finanzaufsicht Finma, am 26.3.2023 in der Sonntags-Zeitung).

Neben verharmlosenden Stimmen fehlten auch warnende nicht, aber die Politik überhörte sie. Infosperber dokumentiert eine Auswahl davon. Die Reihenfolge ist chronologisch und die Quellen geben den Ort der Zitate an.

Einige Verharmloser und Beruhiger

Thomas Jordan, Nationalbankpräsident:

«Um Staaten und Steuerzahler aus der Geiselhaft von Grossbanken zu befreien, gibt es grosse Fortschritte zu verzeichnen. Das betrifft zum Beispiel die Kapitalaufschläge.»

22.11.2012, Tages-Anzeiger

Markus Rohner, Chef Notfallplanung bei der UBS:

«Für die Abwicklungsfähigkeit gibt es ein sehr detailliertes Drehbuch. Es zeigt, wie man das systemkritische Geschäft in der Schweiz weiterführen kann, selbst wenn andere Teile des Konzerns abgewickelt werden müssten.»

6.6.2017, NZZ

Kommission der EU:

Die EU-Kommission zieht ihren Vorschlag für ein Trennbankensystem zurück, wonach die grössten Banken in der EU keinen Eigenhandel mehr hätten betreiben dürfen und diesen in eine selbständige Einheit ausgliedern müssen. Die Mehrheit im EU-Parlament habe argumentiert, dass die Finanzstabilität «mit anderen Massnahmen» angegangen worden sei.

26.10.2017, NZZ

Aymo Brunetti, Wirtschaftsprofessor an der Universität Bern:

«Für die Grossbanken UBS und CS ist das ‹Too big to fail›-Problem stark eingedämmt. Sie können in Konkurs gehen, ohne die ganze Volkswirtschaft mit in den Abgrund zu ziehen […] Bei den Grossbanken sollte technisch nun bald alles aufgegleist sein, dass man sie nicht mehr retten muss.»

1.9.2018, Tages-Anzeiger

Tobias Straumann, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich:

«Bei den Banken ist es recht gut gelungen, die Konsequenzen für die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu ziehen, auch wenn man die Anforderungen an die Reserven ruhig noch verschärfen könnte.»

9.10.2022, Tages-Anzeiger

Aymo Brunetti, Wirtschaftsprofessor an der Universität Bern

«Wir befinden uns jetzt in einer fundamental anderen Situation als 2008: Die systemrelevanten Banken sind heute aufgrund der gesetzlichen Regulierung viel widerstandskräftiger. Und es existiert ein Rettungsplan für die systemrelevanten Teile im Falle eines Konkurses […] Dann muss der Staat nicht wieder eingreifen.»

10.10.2022 St. Galler Tagblatt

Stellungnahme von Professor Aymo Brunetti (erst am 27. März um 16.00 Uhr eingetroffen)

Die Frage, wie er heute zu diesem Zitat stehe, beantwortete Brunetti wie folgt:

«Zu dieser Aussage stehe ich. Dank der going concern Vorgaben, das heisst den deutlich erhöhten Kapital- und Liquiditätsvorschriften, wenn die Bank lebt, sind sie heute deutlich widerstandskräftiger. Das heisst nicht, dass sie jede Krise überleben können, aber dass sie deutlich mehr Krisen überstehen können als noch 2008. Ohne diese Vorgaben hätte es wohl schon in der Pandemie Finanzturbulenzen grösseren Ausmasses gegeben und die CS hätte den Sturm vom Herbst 2022 nicht überstanden. Der Rettungsplan für den gone concern, also wenn die Bank stirbt, existiert und ist von der FINMA für die Abspaltung des systemrelevanten Schweizer Teils akzeptiert, aber er wurde nicht aktiviert, weil sich eine weniger destabilisierende Lösung fand, als die Aufspaltung und Abwicklung. Damit hat der Staat in einer Güterabwägung hauptsächlich mit Liquiditätsstützung tatsächlich eingegriffen. Auf jeden Fall braucht es jetzt eine genaue Analyse, inwieweit eine Auslösung des Notfallplanes aus Sicht der globalen Finanzstabilität akzeptabel gewesen wäre und je nach Ergebnis deutliche oder weniger weitgehende, zusätzliche Regulierungen.»

Aufsichtsbehörde Finma und Schweizerische Nationalbankam 15. März, vier Tage vor dem Verkauf der CS an die UBS

«Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht FINMA und die Schweizerische Nationalbank SNB informieren, dass von den Problemen gewisser Bankinstitute in den USA keine direkte Ansteckungsgefahr für den Schweizer Finanzmarkt ausgeht. Die für die Schweizer Finanzinstitute geltenden strengen Kapital- und Liquiditätsanforderungen sorgen für die Stabilität der Institute. Die Credit Suisse erfüllt die an systemrelevante Banken gestellten Anforderungen an Kapital und Liquidität.»

15.3.2023, Communiqué der Finma und der Nationalbank

Tobias Straumann, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich, zwei Tage vor der CS-Pleite, nachdem die SNB 50 Milliarden-Franken Liquiditätshilfe sprach:

«Die Credit Suisse hat bis jetzt lediglich eine kurzfristige Liquiditätshilfe – einen Kredit – erhalten […] Die Regulierungen wurden ausgebaut, da haben wir sicher unsere Lehren gezogen […] Ich glaube nicht, dass es zu mehr Regulierungen kommen wird. Es gibt ja – anders als etwa im Nachgang der Finanzkrise von 2008 – kein systemisches Problem. Unter anderem dank den Regulierungen, die damals beschlossen wurden.»

18.3.2023, NZZ

Stellungnahme von Professor Tobias Straumann

Die Frage, wie er heute zu diesem Zitat stehe, beantwortete Straumann wie folgt:

«Während eines Bankruns sollte man nicht Öl ins Feuer giessen, vor allem wenn man nicht weiss, wie schlimm der Bankrun ist. Die Schweizer Behörden haben uns damals mit guten Gründen im Dunkeln gelassen, um die Situation bis zum Wochenende zu stabilisieren.

Weitere Regulierungen bringen meines Erachtens nichts. Man sollte den Leuten endlich mal ehrlich sagen, dass sich Bankenkrisen nicht verhindern lassen. Wir werden früher oder später auch mit der neuen UBS ein Problem haben. Es braucht kein neues Gesetz, sondern einen konkreten Plan, wie man in einer künftigen Krise umgehen muss. Wahrscheinlich muss man die UBS verstaatlichen und zerlegen.»

Etliche Warner

Peter V. Kunz, Wirtschaftsprofessor an der Universität Bern:

«Eine sinnvolle Regulierung der Finanzindustrie erscheint unerlässlich […] Doch ich war lange genug in der Wirtschaftsadvokatur tätig, um aus eigener Erfahrung zu wissen, dass eine detaillierte Regulierung die Rechtsunterworfenen (und deren Berater) umso mehr anspornt, Lücken zu finden oder zu erfinden. Keine Regulierung wird jemals so effizient sein wie die Kreativität der Wirtschaftsjuristen!»

2010, UniPress

Rudolf H. Strahm, früherer Preisübewacher:

«Man muss den spekulativen Eigenhandel der Grossbanken einschränken. Eigenhandel ist volkswirtschaftlich schädlich und dient nur dazu, die Boni der Investmentbanker aufzufetten. Und weiter muss man das Schattenbanking ausserhalb der Banken mit Hedgefonds und anderen hochspekulativen Finanz-Massenvernichtungswaffen der Finanzmarktaufsicht unterstellen. Denn sie stellen heute das global grösste Systemrisiko dar.»

20.9.2011, Tages-Anzeiger

Peter A. Fischer, Wirtschaftsredaktor NZZ:

«Das europaweit zu beobachtende Fehlen des politischen Willens, unsolide Institute abzuwickeln, ist viel gefährlicher als Mängel bei der Aufsicht […] Die Eigenkapitalausstattung der meisten Banken wirkt […] immer noch recht dünn. Bei den Grossbanken beträgt sie nun rund 5 Prozent.»

31.3.2012, NZZ

Harvay Rosenblum, Forschungschef der Federal Reserve Bank of Dallas:

«Die Problematik ‹Too big to fail› ist die grösste Gefahr für den Wohlstand Amerikas […] Die Grösse erhöht die Komplexität und diese dient letztlich der Verschleierung, so dass weder Geschäftsleitung noch Aufsichtsbehörden Schritt halten können. Als Folge davon sind Bilanzen der Grossbanken noch immer voller toxischen Aktiven […] Das Phänomen von ‹Too big to fail› ist eine Abart des Kapitalismus. Die Wahrnehmung, Marktregeln gälten nicht für die Reichen, Mächtigen und gut Vernetzten hat fatale Auswirkungen. Weder Rechenschaft abzulegen noch Verantwortung zu übernehmen, hat nichts mit Kapitalismus zu tun […] Die Lösung, Grossbanken zu verkleinern, ist günstiger als das Festhalten am Status quo.»

19.5.2012, NZZ

Donato Masciandaro, Wirtschaftsprofessor und Regulierungsspezialist an der Mailänder Elite-Universität Bocconi:

«Die Finanzbranche ist zu gross und zu sehr ineinander verwoben. Dagegen müsste man erstens die Finanzwelt kleiner machen und die Hebeleffekte verringern. Weil es unmöglich ist, die Risiken zu messen, muss die Dimension der Finanzaktivitäten verringert werden.»

27.6.2012, NZZ-Beilage

Gar Alperovitz, Professor für politische Ökonomie an der University of Maryland:

«Hochbezahlte Bank-Lobbyisten sorgen dafür, dass Grossbanken nie wirksam kontrolliert werden können wie andere Unternehmen […] Sehr grosse Konzerne (wie Grossbanken) können Regulierungen und Anti-Trust-Gesetze leicht umgehen. Henry C. Simons, führender Vertreter der Chicagoer Schule, sagte schon 1948, dass die meisten Konzerne ihre Grösse nicht damit rechtfertigen können, dass sie eine höhere Produktivität möglich machen. Simons folgerte: ‹Jeder Grosskonzern sollte entweder harten Wettbewerbsbedingungen unterworfen sein oder dann verstaatlicht werden›. Ich erinnere daran, dass die USA General Motors im Jahr 2009 verstaatlicht haben (Heute gehört GM mehrheitlich Investmentgesellschaften wie Blackrock, Vanguard u.a. Red.). Auch die AIG, eine der grössten Versicherungskonzerne, wurde nationalisiert (Heute gehört GM mehrheitlich Investmentgesellschaften wie Blackrock, Vanguard u.a. Red.).»

23.7.2012, New York Times

Rudolf H. Strahm, früherer Preisübewacher:

«Gewerkschafter Corrado Pardini und Christoph Blocher schlagen gemeinsam eine Trennung der Bankgeschäfte vor: in eine Geschäftsbank, welche die Volkswirtschaft mit Krediten versorgt, und eine Investmentbank, die spekulative Geschäfte mit Derivaten und Devisengeschäften abwickelt. Die USA praktizierten dies von 1933 bis 1999.»

17.9.2013, Tages-Anzeiger

Marc Chesney, Finanzprofessor an der Universität Zürich:

«Grossbanken sind zu wenig reguliert und in ein hochriskantes Wett-Casino verstrickt. Sie sollten im Rahmen eines Trennbankensystems in Investment- und Geschäftsbanken aufgetrennt werden. Die Eigenkapitalanforderungen für Banken sollten mindestens 20 bis 30 Prozent betragen. Over-the-Counter-Transaktionen sollten verboten sein. Sie schaffen zusätzliche Risiken. Derivative Produkte sollten über organisierte Börsen mit zentraler Clearingstelle gehandelt werden, wo sie kontrolliert, registriert und öffentlich gemacht würden. Der Kauf eines CDS (zur Risikoabsicherung) sollte das Halten eines darauf basierenden Wertschriftentitels bedingen. Rating-Agenturen sollten unter öffentlicher Kontrolle stehen.»

10.10.2013, Infosperber

Martin Hellwig, Direktor des Max-Planck-Instituts und Autor des Buches «Des Bankers neue Kleider»:

«Die neuen Mindestanforderungen der Banken nach ‹Basel III› sind völlig ungenügend, Banken sollten eine ungewichtete Eigenkapitalquote von 20 bis 30 Prozent vorweisen müssen.»

19.11.2013, Tages-Anzeiger

Martin Hellwig, Direktor des Max-Planck-Instituts und Autor des Buches «Des Bankers neue Kleider»:

«Die deutlich erhöhten risikogewichteten Eigenkapitalquoten sind manipulierbar […] Ganz wichtige Risiken werden überhaupt nicht erfasst […] Beispielsweise haben Kredite an Regierungen, also Staatsanleihen, die auf die lokalen Währungen lauten, ein Risikogewicht von null.»

29.8.2014, Tages-Anzeiger

Mark Dittli, Chefredaktor der «Finanz und Wirtschaft»:

«Es ist eine Utopie, dass man Banken einfach untergehen lassen kann wie jedes andere Unternehmen. Sie geniessen eine implizite Staatsgarantie […] Die beste Regulierung ist eine überdurchschnittlich robuste Eigenkapitaldecke. Sie wird an der Börse belohnt.»

Mark Dittli, Chefredaktor der «Finanz und Wirtschaft»

Robert U. Vogler, ehemaliger Pressesprecher der SGB (heute UBS):

«Wer glaubt, man könne im Zeitalter des weltweiten computergestützten Börsenhandels, rund um die Uhr, in letzter Minute noch einen Schutzschild vor den systemrelevanten Banken aufbauen, irrt gewaltig […] Ein Sockel massiver Eigenmittel ist dringende Voraussetzung für solide Banken (wohl mindestens ungewichtete 10 Prozent, besser noch etwas darüber).»

20.11.2015, NZZ

Neel Kashkari, Präsident der Federal Reserve Bank of Minneapolis:

«Genügend hohe Eigenkapitalpolster sind der einzige sichere erprobte Wert im Kampf gegen Krisen. Ich schlage eine ungewichtete Eigenkapitalquote von 25 Prozent vor.»

19.2.2016, NZZ / New York Times

Thorsten Polleit, Chefökonom von Degussa Goldhandel und Honorarprofessor an der Universität Bayreuth:

«In den Bilanzen der Banken in Europa stehen Verbindlichkeiten über rund 5400 Milliarden Euro, während deren liquide Mittel auf den Konten bei der EZB lediglich 680 Milliarden Euro betragen […] Das Problem ist so gross, dass es sich nicht mit den ‹bail-in›-Regeln lösen lässt.»

15.4.2016, NZZ

Hans Gersbach, Makroökonomie-Professor an der ETH Zürich:

«Es ist eine absolute Illusion zu glauben, dass sich internationale Grossbanken wie die UBS oder die Credit Suisse in einer Krise geordnet beerdigen lassen.»

21.12.2016, NZZ

Didier Sornette, Professor für Entrepreneurial Disks an der ETH Zürich:

«Ein wahnhafter Glaube an endloses Wachstum hat zu einer extremen Abhängigkeit der Realwirtschaft von der Finanzwelt geführt.»

9.8.2017, NZZ

Michael Ferber, Börsenredaktor der NZZ:

«Es ist davon auszugehen, dass der Markt auch zehn Jahre nach dem Beginn der Finanz- und Schuldenkrise voll ist mit komplexen, wenig transparenten Finanzinstrumenten […] Die Finanzhäuser verdienen an diesen komplexen und exotischen Instrumenten gut, weil sie diese bei Kunden als Innovation vermarkten und die Kosten verschleiern können.»

8.2.2018, NZZ

Hansueli Schöchli, NZZ-Wirtschaftsredaktor:

«Notfallpläne bedeuten nicht, dass sie in der Krise auch sicher funktionieren würden […] Aber es mag bedeuten, dass die Notfallpläne unter Umständen mit einer Wahrscheinlichkeit von deutlich mehr als 10 oder 20 Prozent funktionieren könnten.»

26.2.2020, NZZ

Monika Roth, frühere Bankverein-Vizedirektorin und dann Professorin für Compliance und Finanzmarktrecht an der Hochschule Luzern:

«Die CS-Skandale sind ein Desaster für den Schweizer Finanzplatz. Es ist völlig unklar, ob die Bank sich wieder aufrichten kann … Leider ist heute sogar die Abwicklung ein realistisches Szenario.»

31.7.2022, Blick

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Oben      —    Occupy movement at Paradeplatz in Zürich (Switzerland)

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Knapp überm Boulevard

Erstellt von Redaktion am 28. März 2023

Demokratie als Handelsware

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Welch freier Mensch würde sich von dieser Ware einparken lassen ?

Eine Kolumne von Isolde Charim

In einem Essay in der Zeit stellte Albrecht Koschorke kürzlich fest: Die Tage des Westens sind gezählt. Auch wenn Russland seinen brutalen Angriffskrieg in der Ukraine aufgrund der Hilfe des Westens nicht gewinnt. Der politische Liberalismus befindet sich im Untergang.

Jener Liberalismus, der versprach, Fortschritt, Demokratie und Marktwirtschaft zu verbinden. Die letzte Version dieses Glaubens sei die Formel „Wandel durch Handel“ gewesen. Jene Vorstellung habe Russland ja unmissverständlich widerlegt.

Ganz woanders – in Israel – zeigt sich nun, dass dies nicht die letzte Version war. Die Lage ist kompliziert. Das erste, gänzlich rechtsgerichtete Kabinett in der Geschichte des Landes unter Führung des unter Korruptionsverdachts stehenden Benjamin Netanjahu spielt das gesamte Repertoire des politischen Anti-Liberalismus durch: Ein groß angelegter Angriff auf Rechtsstaatlichkeit, Gewaltentrennung und Bürgerrechte. Im Zentrum steht ein Umbau des Rechtswesen, der darauf zielt, juristische Unabhängigkeit einzuschränken. Das betrifft zum einen die Bestellung der Höchstrichter, die nunmehr unter Regierungskontrolle stehen soll. Zum anderen ermöglicht es dem Parlament, Entscheidungen des Obersten Gerichts zu widerrufen – also de facto Gesetze zu beschließen, die als verfassungswidrig abgelehnt wurden. Damit wird das Oberste Gericht als Kontrollinstanz und wichtigster Gegenspieler der Regierung ausgehebelt.

Dagegen erhebt sich seit Wochen massenhafter und eindrucksvoller Protest. Die Zivilgesellschaft hat auf der Straße den Druck auf die Regierung erhöht. Neben anhaltenden Protesten der israelischen Bevölkerung tritt aber noch etwas anderes zutage: leiser, aber nicht weniger wirkmächtig. Es ist das, was die israelische Zeitung Ha’aretz die „Achillesferse“ der amtierenden Regierung genannt hat: die Wirtschaft. Zahlreiche namhafte Ökonomen warnen in einem offenen Brief vor den Folgen dieser autoritären Politik für die israelische Wirtschaft. Der Staatsumbau schade dem Ansehen des Landes und schrecke Investoren ab. Es gebe internationale Befürchtungen. Eine Herabstufung des Kreditrankings drohe. Auch die Währung sei betroffen.

Vor allem die wichtige Hightechbranche spürt die Folgen des Imageschadens. Geldgeber drohen sich abzuwenden. Erste Unternehmen haben ihre Investitionen abgezogen – unter explizitem Hinweis auf den Justizumbau. Andere folgen. Die USA warnen vor einer Politik, die nicht im Einklang mit ihren Interessen und Werten stehe. Das ist die entscheidende Verquickung: die Durchdringung von Interessen und Werten. Genau dies wird an den Stellungnahmen seitens der Ökonomie deutlich.

Schafherde mit Schäfer.jpg

Die Wirtschaft wird hier zu einem wirkmächtigen politischen Akteur. Nicht in dem alten Sinne, dass sie im Stillen sogenannte Lobbyarbeit betreibt – also Druck auf die Politik ausübt, um ihre Interessen durchzusetzen. Nein, die Ökonomie wird in Israel zum politischen Akteur, indem sie gewissermaßen als „Hüterin“ der Demokratie auftritt.

Das gegenwärtige Konfusionsspiel der politischen Kategorien – wie etwa jenes zwischen links und rechts – wird hier auf die Spitze getrieben: Wirtschaft setzt sich für demokratische „Werte“ ein, um ihre ökonomischen Interessen zu schützen. Ist das nun gut oder schlecht? Fortschritt oder nicht?

Quelle          :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben      —   Paris – Boulevard Saint-Denis mit der Porte Saint-Denis (September 2014)

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Mensch und Maschine

Erstellt von Redaktion am 27. März 2023

Die KI orientiert sich ausschließlich an Wahrscheinlichkeiten

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Sehen wir so die Politiker auf ihren Parteibühnen oder im Reichstag ?

Ein Debattenbeitrag von Nicolaus Wilder

Die Angst, die Maschine könne den Mensch ersetzen, ist so alt wie die Maschine. Bewahrheitet hat sie sich nie, und das wird sie auch bei der KI nicht. Wahrheit ist für sie kein orientierungsstiftendes Konzept.

Stellen Sie sich Folgendes vor: Eine künstliche textgenerierende Intelligenz – nennen wir sie Skynet – bringt die Menschheit im Jahre 2050 dazu, sich selbst auszurotten. Nun wurde sie aber von den Menschen darauf programmiert, sich weiterzuentwickeln, also zu lernen. Die hinter der KI stehende Logik ist dabei kein Hexenwerk, denn letztlich reagiert sie auf einen gegebenen Input mit einer Aussage, die sich anhand ihrer Trainingsdaten als die wahrscheinlichste ableiten lässt. Jetzt ist die KI so leistungsstark, dass alle von ihr generierten Outputs automatisch in den Trainingsdatensatz einfließen. Dadurch entsteht dann folgender Zirkel: Aus den vielfältigen theoretischen Antwortmöglichkeiten wählt sie die wahrscheinlichste aus. Diese wahrscheinlichste Antwort fließt dann wieder in den Trainingsdatensatz ein und erhöht dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass diese Antwort bei der nächsten Anfrage wieder ausgespuckt wird, da diese Wortreihenfolge im Trainingsdatensatz nun noch häufiger vorkommt, damit also wahrscheinlicher wird.

Das bedeutet, dass mit jeder Trainingsrunde die unwahrscheinlichen Möglichkeiten unwahrscheinlicher werden und die wahrscheinlichen wahrscheinlicher. Dieser Prozess führt aufgrund der Hebb’schen Lernregel neuronaler Netze notwendigerweise – metaphorisch gesprochen – zum Big Freeze der Textgenerierung, dem absoluten Stillstand, weil alle zunächst gegebenen Möglichkeiten auf eine einzige reduziert werden. Wenn textgenerierende KIs also anfangen, sich selbst zu trainieren, dann landen am Ende Input, Output und Trainingsdaten alle bei 42, die Antwort auf die – um es mit Douglas Adams Worten zu sagen – „endgültige Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“.

Was aus diesem Gedankenexperiment folgt, soll im Folgenden exemplarisch für Wissenschaft und Journalismus skizziert werden. Generative KIs sind bei der Weiterentwicklung notwendigerweise angewiesen auf menschlichen Input. Sie reproduzieren stets das Wahrscheinlichste, erhalten damit zwingend den Mainstream und können so nicht grundlegend innovativ sein. Eine KI, die ausschließlich mit Daten trainiert wurde, die sagen, dass die Welt eine Scheibe ist, kommt von sich aus nicht auf die Idee, dass sie vielleicht doch eine Kugel sein könnte. Noch weniger macht sie sich mit einem Schiff auf den Weg, um das zu beweisen, denn Wahrheit ist für sie nur eine Zeichenreihenfolge und kein orientierungsstiftendes Konzept. Die KI orientiert sich ausschließlich an Wahrscheinlichkeiten.

Für die Wissenschaft heißt das, dass viele Dinge von KIs übernommen werden können, die in der Auseinandersetzung mit dem Bestehenden liegen: recherchieren, zusammenfassen, sortieren, gewichten sowie mitunter das Verfassen von Standardlehrbüchern oder Rezensionen. Dem Menschen schafft sie dadurch Zeit und Raum, sich auf das Innovative, das im gegenwärtigen Paradigma Unwahrscheinliche, dem Denken in alternativen Möglichkeiten zu konzentrieren. Das ist das Wesen des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts, die Suche nach dem einen schwarzen Schwan.

Ähnliches gilt für den Journalismus. Niemand muss sich noch mit undankbaren Aufgaben aufhalten, Meldungen großer Nachrichtenagenturen umzuschreiben. Stattdessen wird Raum geschaffen für investigativen und oder lokalen Qualitätsjournalismus, der sich genau darin widerspiegelt, dass er nicht das Übliche reproduziert, sondern das Unbekannte aufdeckt oder über das Einzelne, das lokal Besondere berichtet, was der KI egal ist.

KI richtig eingesetzt hat also das Potenzial, uns von einigen leidigen Dingen des Alltags zu befreien oder zumindest die dafür aufzuwendende Zeit zu verkürzen und uns damit den Raum zu geben, den viele aus ihrem eigenen Berufsverständnis heraus in der Vergangenheit schmerzlich vermisst haben. Richtig eingesetzt können KIs uns sowohl für innovative und kreative Schaffens­prozesse als auch für Reflexionsprozesse Zeit verschaffen, was zweifelsfrei beiden oben genannten Beispielen zugutekäme. Ein derartiger Einsatz von KIs kann aber nur dann gelingen, wenn wir anfangen, die jahrhundertelang etablierte dystopisch-dichotome Logik von Mensch gegen Maschine zu überwinden hin zu einer komplementären Logik, deren Fruchtbarkeit genau in der Interaktion von Mensch mit Maschine besteht.

Quelle       :         TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Assistenzroboter FRIEND

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Kapitalismus-Kannibalismus

Erstellt von Redaktion am 27. März 2023

Die multidimensionale Krise und der Sozialismus des 21. Jahrhunderts

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Von Nancy Fraser

Seit dem Ende der Systemkonkurrenz, dem Untergang des realexistierenden Sozialismus, gibt es auf der Welt nur noch ein herrschendes System, wenn auch in durchaus unterschiedlicher Ausprägung, nämlich den Kapitalismus. Da aber die globalen Krisen nicht ab-, sondern zunehmen und sich wechselseitig verstärken, stellt sich eine entscheidende Frage: Was stimmt nicht mit dem Kapitalismus? Kritiker, die den Kapitalismus aus einem eher eng gefassten Blickwinkel, als bloße Wirtschaftsform, betrachten, erkennen an ihm drei wesentliche Fehler: Ungerechtigkeit, Irrationalität und Unfreiheit.

Erstens sehen sie die zentrale Ungerechtigkeit des Systems in der Ausbeutung der Klasse der freien, eigentumslosen Arbeiter durch das Kapital. Letztere arbeiten viele Stunden umsonst und produzieren enormen Reichtum, an dem sie keinen Anteil haben. Der Nutzen fließt vielmehr der Kapitalistenklasse zu, die sich die überschüssige Arbeit und den dadurch erzeugten Mehrwert aneignet und letzteren für ihren eigenen, vom System diktierten Zweck reinvestiert – nämlich um immer mehr davon zu akkumulieren. Die noch schwererwiegendere Folge ist das unerbittliche exponenzielle Wachstum des Kapitals als feindselige Macht, die genau die Arbeiter beherrscht, die es produzieren. Schauplatz dieser Ausbeutung ist die Sphäre der Produktion.

Zweitens besteht nach dieser Sichtweise eine der entscheidenden Irrationalitäten des Kapitalismus in seiner eingebauten Tendenz zu wirtschaftlichen Krisen. Ein Wirtschaftssystem, das auf die unbegrenzte Akkumulation von Mehrwert ausgerichtet ist, der von profitorientierten Unternehmen privat angeeignet wird, ist von Natur aus selbstdestabilisierend. Das Streben nach Kapitalvermehrung durch Produktivitätssteigerung mittels technischen Fortschritts führt immer wieder zu einem Fall der Profitrate, zur Überproduktion von Waren und zur Überakkumulation von Kapital. Reparaturversuche wie die Finanzialisierung schieben den Tag der Abrechnung nur hinaus und sorgen dafür, dass er umso schlimmer ausfällt, wenn er denn kommt. Im Allgemeinen wird der Verlauf der kapitalistischen Entwicklung von periodischen Wirtschaftskrisen unterbrochen: von Boom-Bust-Zyklen, Börsencrashs, Finanzpaniken, Pleitewellen, massiver Wertvernichtung und Massenarbeitslosigkeit.

Und schließlich drittens besagt die eher enge Sichtweise, dass der Kapitalismus zutiefst unfrei und damit konstitutiv undemokratisch ist. Zugegeben, er verspricht oftmals – gerade in seiner europäischen Ausprägung – Demokratie im politischen Bereich. Dieses Versprechen wird jedoch systematisch im Ökonomischen durch soziale Ungleichheit einerseits und durch Klassenmacht andererseits unterlaufen. Insbesondere der kapitalistische Arbeitsplatz ist in den meisten Ländern von jeglichem Anspruch auf demokratische Selbstverwaltung ausgenommen. In dieser Sphäre befiehlt das Kapital und die Arbeiter gehorchen.

Die Probleme des Kapitalismus ergeben sich gemäß dieser Perspektive aus der inneren Dynamik der kapitalistischen Wirtschaft, seine Fehler liegen also primär in seiner wirtschaftlichen Organisation. Dieses Bild ist keineswegs falsch, aber unvollständig. Es zeigt vor allem die dem System inhärenten wirtschaftlichen Übel korrekt auf, versäumt es aber zugleich, eine Reihe von nichtökonomischen Ungerechtigkeiten, Irrationalitäten und Unfreiheiten zu erfassen, die ebenso konstitutiv für das System sind. Um diese zu identifizieren, verlangt der Begriff „Kapitalismus“ nach einer grundsätzlichen Klärung. Mit dem Wort wird gemeinhin ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das auf Privateigentum und Markttausch, auf Lohnarbeit und gewinnorientierter Produktion beruht. Aber diese Definition ist zu eng gefasst und verschleiert eher das wahre Wesen des Systems, als dass sie es offenlegt.

„Kapitalismus“, so werde ich im Folgenden argumentieren, bezeichnet etwas weit Größeres, Umfassenderes, nämlich eine Gesellschaftsordnung, die eine profitorientierte Wirtschaft dazu befähigt, die außerökonomischen Stützen, die sie zum Funktionieren braucht, auszuplündern: Reichtum, der der Natur und unterworfenen Bevölkerungen entzogen wird; vielfältige Formen von Care-Arbeit, die chronisch unterbewertet, wenn nicht gar völlig verleugnet werden; öffentliche Güter und staatliche Befugnisse, die das Kapital sowohl benötigt als auch zu beschneiden versucht; die Energie und Kreativität der arbeitenden Menschen. Obwohl sie nicht in den Unternehmensbilanzen auftauchen, sind diese Formen des Reichtums wesentliche Voraussetzungen für die Profite und Gewinne, die dort sehr wohl verzeichnet sind. Als wesentliche Grundlagen der Akkumulation stellen auch sie konstitutive Bestandteile der kapitalistischen Ordnung dar.

Kapitalismus bezeichnet also nicht nur eine Wirtschaftsform, sondern eine Gesellschaftsform, die es einer offiziell als kapitalistisch bezeichneten Wirtschaft erlaubt, monetären Wert für Investoren und Eigentümer anzuhäufen, während sie den nicht ökonomisierten Reichtum aller anderen verschlingt. Indem sie diesen Reichtum den Konzernen auf dem Silbertablett serviert, lädt sie diese ein, sich an unseren kreativen Fähigkeiten und an der Erde, die uns ernährt, zu laben – ohne die Verpflichtung, das, was sie verbrauchen, wieder aufzufüllen, oder das, was sie beschädigen, zu reparieren.

Damit aber sind den verschiedensten Problemen Tür und Tor geöffnet. Zugespitzt gesagt: Wie der Ouroboros, das alte Bildsymbol einer den eigenen Schwanz fressenden Schlange, ist die kapitalistische Gesellschaft darauf ausgerichtet, ihre eigene Substanz zu verschlingen. Sie ist ein wahrer Dynamo der Selbstdestabilisierung, der regelmäßig Krisen auslöst, während er routinemäßig die Grundlagen unserer Existenz auffrisst.

Eine seltene Art von Krise in Form mehrerer Fressanfälle

Der Kapitalismus ist also ein kannibalistisches System, dem wir die gegenwärtige globale Krise verdanken. Offen gesagt, handelt es sich um eine seltene Art von Krise, in der mehrere Fressanfälle zusammentreffen. Was wir dank der jahrzehntelangen Finanzialisierung erleben, ist nicht „bloß“ eine Krise der grassierenden Ungleichheit und der prekären Niedriglohnarbeit; auch nicht „bloß“ eine Krise der Fürsorge oder der sozialen Reproduktion; auch nicht „bloß“ eine Krise der Migration und der rassistischen Gewalt. Es handelt sich auch nicht „einfach“ um eine ökologische Krise, in der ein sich aufheizender Planet tödliche Seuchen ausspuckt, und nicht „nur“ um eine politische Krise, die sich durch eine ausgehöhlte Infrastruktur, einen verstärkten Militarismus und dadurch auszeichnet, dass überall auf dem Globus Politiker Erfolg haben, die sich als starke Männer (strong men) gerieren. Oh nein, es ist viel schlimmer: Wir haben es mit einer allgemeinen Krise der gesamten Gesellschaftsordnung zu tun, in der all diese Katastrophen konvergieren, sich gegenseitig verschärfen und uns zu verschlingen drohen. Legt man dieses „kannibalische“ Verständnis des Kapitalismus zugrunde, kommen diese fundamentalen Probleme klar zum Vorschein.

Erstens fördert die kannibalische Sicht auf den Kapitalismus einen erweiterten Katalog von Ungerechtigkeiten zutage. Diese sind aber eben nicht ausschließlich in der Ökonomie des Systems begründet, sondern in den Beziehungen zwischen der kapitalistischen Ökonomie und ihren nichtökonomischen Bedingungen. Ein Beispiel dafür ist die Trennung zwischen wirtschaftlicher Produktion, bei der die notwendige Arbeitszeit in Form von Geldlöhnen vergütet wird, und sozialer Reproduktion, bei der die Arbeit unbezahlt oder unterbezahlt ist, naturalisiert oder sentimentalisiert und zum Teil mit Liebe vergütet wird. Diese historisch geschlechtsspezifische Aufteilung verankert wichtige Formen der Herrschaft im Herzen der kapitalistischen Gesellschaften: die Unterordnung der Frau, die Geschlechterbinarität und die Heteronormativität. In ähnlicher Weise errichten kapitalistische Gesellschaften eine strukturelle Trennung zwischen freien „Arbeitern“, die ihre Arbeitskraft gegen Lohn zur Deckung ihrer Reproduktionskosten eintauschen können, und abhängigen „Anderen“, deren Körper, Land und Arbeitskraft einfach beschlagnahmt werden können. Diese Teilung fällt mit der globalen colour line zusammen. Sie trennt die „bloß“ Ausbeutbaren von den offen Enteigenbaren und rassifiziert letztere Gruppe als von Natur aus verletzlich. Das Ergebnis ist die Verfestigung einer Reihe von strukturellen Ungerechtigkeiten, darunter rassistisch motivierte Unterdrückung, (alter und neuer) Imperialismus, die Enteignung von Indigenen und Völkermord.Schließlich führen kapitalistische Gesellschaften eine scharfe Trennung zwischen Menschen und nichtmenschlicher Natur ein, die nicht mehr demselben ontologischen Universum angehören. Die nichtmenschliche Natur fungiert allein als Zapfhahn und Senke, weshalb sie sich brutaler Instrumentalisierung ausgesetzt sieht. Selbst wenn man dies nicht als Ungerechtigkeit gegen die „Natur“ (oder gegen nichtmenschliche Tiere) betrachten will, ist es doch zumindest eine Ungerechtigkeit gegen bestehende und künftige Generationen von Menschen, denen ein zunehmend unbewohnbarer Planet hinterlassen wird. Generell macht also eine erweiterte Sicht der kapitalistischen Gesellschaft einen erweiterten Katalog struktureller Ungerechtigkeiten sichtbar, der die Klassenausbeutung einschließt, aber weit darüber hinausgeht.

Die systematische Zerstörung der eigenen Grundlagen

Eine sozialistische Alternative zum Kapitalismus müsste neben den ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen auch diese anderen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten beseitigen. Sie darf sich nicht darauf beschränken, die Organisation der wirtschaftlichen Produktion zu verändern, sondern muss auch deren Verhältnis zur gesellschaftlichen Reproduktion und damit die Geschlechter- und Sexualordnung transformieren. Ebenso muss sie der Mitnahmementalität des Kapitals mit Blick auf die Natur und der Enteignung des Reichtums der unterjochten Bevölkerungen und damit der rassistischen und imperialistischen Unterdrückung ein Ende machen. Kurz gesagt: Wenn der Sozialismus die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus beseitigen soll, muss er nicht „nur“ die kapitalistische Wirtschaft, sondern die gesamte institutionalisierte Ordnung der kapitalistischen Gesellschaft verändern.

Aber damit noch nicht genug. Das erweiterte Konzept weitet auch unseren Blick darauf, was als kapitalistische Krise gilt. Wir können auf diese Weise einige eingebaute selbstdestabilisierende Tendenzen erkennen, die über die der kapitalistischen Wirtschaft innewohnenden Dynamiken hinausgehen.

Erstens gibt es eine systemische Tendenz, die soziale Reproduktion zu kannibalisieren – und damit Fürsorgekrisen zu provozieren. In dem Maße, in dem das Kapital versucht, die Bezahlung der unbezahlten Care-Arbeit, von der es abhängig ist, zu vermeiden, übt es regelmäßig enormen Druck auf diejenigen aus, die diese Arbeit in erster Linie leisten: Familien, Gemeinschaften und vor allem Frauen. Die gegenwärtige, finanzialisierte Form der kapitalistischen Gesellschaft erzeugt heute genau eine solche Krise, da sie sowohl eine Kürzung der öffentlichen Bereitstellung sozialer Dienstleistungen als auch eine Erhöhung der Lohnarbeitsstunden pro Haushalt, also gerade auch von Frauen, fordert.

Die erweiterte Sichtweise macht zweitens eine inhärente Tendenz zur ökologischen Krise sichtbar. Da das Kapital es vermeidet, auch nur annähernd die wahren Wiederbeschaffungskosten für die Inputs zu zahlen, die es der nichtmenschlichen Natur entnimmt, laugt es die Böden aus, verschmutzt es die Meere, überflutet es Kohlenstoffsenken und überfordert ganz allgemein die Kohlenstoffspeicherkapazität des Planeten. Es bedient sich kannibalisch am natürlichen Reichtum und verleugnet dessen Reparatur- und Ersatzkosten, wodurch es die metabolische Interaktion zwischen den menschlichen und nichtmenschlichen Komponenten der Natur regelmäßig destabilisiert. Die Folgen sind heute unübersehbar: Was den Planeten zu verbrennen droht, ist nämlich nicht, wie in fast jeder UN-Deklaration bemüht, „die Menschheit“, sondern der Kapitalismus.

Die Tendenzen des Kapitalismus zur ökologischen und sozial-reproduktiven Krise sind drittens untrennbar mit seinem konstitutiven Bedarf an enteignetem Reichtum rassifizierter Bevölkerungen verbunden: seine Abhängigkeit von gestohlenem Land, erzwungener Arbeit und geplünderten Rohstoffen; seine Abhängigkeit von rassifizierten Zonen als Deponien für Giftmüll und von rassifizierten Gruppen als Lieferanten von unterbezahlter Care-Arbeit, die zunehmend in globalen Betreuungsketten organisiert wird. Das Ergebnis ist eine Verflechtung von wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Krise mit Imperialismus und rassistisch-ethnischem Antagonismus.

Von der Krise des Regierens zur Untergrabung der Demokratie

Viertens offenbart der erweiterte Blick auf den Kapitalismus eine strukturelle Tendenz zur politischen Krise. In diesem Bereich will das Kapital ebenfalls beides zugleich haben: öffentliche Güter und eine Freistellung von ihrer Finanzierung. Durch die Hinterziehung von Steuern und die Schwächung staatlicher Regulierungen neigt es dazu, die öffentliche Gewalt auszuhöhlen, von der es doch zugleich abhängig ist. Die aktuelle, finanzialisierte Form des Kapitalismus hebt dieses Spiel auf eine ganz neue Ebene. Die Megakonzerne sind den territorial gebundenen öffentlichen Mächten weit überlegen, indem die globale Finanzwelt die Staaten diszipliniert; indem sie Wahlergebnisse, die nicht in ihrem Sinne ausfallen, lächerlich macht und antikapitalistische Regierungen daran hindert, auf die Forderungen der Bevölkerung einzugehen. Das Ergebnis ist eine große Krise des Regierens, die nun mit einer Krise der Hegemonie einhergeht, da sich die Menschen auf der ganzen Welt massenhaft von den etablierten politischen Parteien und dem neoliberalen Common Sense abwenden.

Und schließlich ist da noch das eingebaute Demokratiedefizit des Kapitalismus. Auch dieser Fehler erscheint weitaus größer, wenn wir uns eine erweiterte Sichtweise dieses Gesellschaftssystems zu eigen machen. Das Problem besteht nicht nur darin, dass die Bosse in den Fabriken das Sagen haben. Es geht auch nicht nur darum, dass wirtschaftliche Ungleichheit und Klassenmacht jeden Anspruch auf gleiche demokratische Mitsprache im politischen Bereich zunichtemachen. Ebenso wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger ist, dass dieser Bereich von Anfang an stark beschnitten wurde.

Tatsächlich wird durch die Trennung von Wirtschaft und Gemeinwesen der Spielraum für demokratische Entscheidungen von vornherein radikal verkleinert. Wenn die Produktion an private Unternehmen übertragen wird, sind es nicht wir, die unser Verhältnis zur Natur und das Schicksal des Planeten kontrollieren, sondern die Klasse der Kapitalisten. Ebenso entscheiden nicht wir, sondern sie über die Form unseres Arbeits- und Nichtarbeitslebens – wie wir unsere Energien und unsere Zeit aufteilen, wie wir unsere Bedürfnisse interpretieren und befriedigen. Indem sie die private Aneignung des gesellschaftlichen Überschusses gestattet, ermächtigt die spezifische Verbindung von Wirtschaft und Gemeinwesen schließlich die Kapitalisten, den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung zu gestalten und damit unsere Zukunft zu bestimmen. Die zentralen gesellschaftlichen Fragen werden in kapitalistischen Gesellschaften also von vornherein von der politischen Agenda gestrichen. Investoren, die auf maximale Akkumulation aus sind, entscheiden sie hinter unserem Rücken. Kurzum: Der Kapitalismus kannibalisiert nicht nur sich selbst, sondern auch uns – er raubt uns die kollektive Freiheit, gemeinsam zu entscheiden, wie wir leben wollen.

Wie hätte ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert auszusehen?

Quelle         :         Blätter-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben     —     Großbaustelle der Blöcke F und G des Braunkohlekraftwerks mit optimierter Anlagentechnik (BoA) Neurath bei Grevenbroich

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Der Spielejournalismus

Erstellt von Redaktion am 27. März 2023

Das neue Feigenblatt des Spielejournalismus

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Ein Infokasten wird zum Schleichweg einer Branche: Statt Verantwortung zu übernehmen, drücken sich Redaktionen vor der Diskussion, wie moderner Journalismus aussehen muss.

Die gute Nachricht zuerst: Der Fachjournalismus hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ebenso weiterentwickelt wie die Spiele, über die er berichtet. Die schlechte Nachricht: Diese Entwicklung scheint nun an einer besonders sensiblen Stelle zu stagnieren. Ein moralisches Schlupfloch ist zur Stolperfalle für den modernen Spielejournalismus geworden – und ich hoffe, dass ich mich mit dieser Beobachtung täusche.

Auf den ersten Blick alles rosig

Wenn ich mich heute durch die wichtigsten Websites klicke oder die letzten verbliebenen Printmagazine aufschlage, kann ich mehr Reportagen, mehr Hintergrundberichte, mehr Experimentierfreude entdecken als jemals in den fast vierzig Jahren davor. Dabei wird längst immer weiter über die Grenzen der eigenen Branche geblickt: Wissenschaftler*innen, Lehrer*innen, Historiker*innen und viele weitere Expert*innen beantworten Fragen, ordnen ein, kommentieren und erläutern, was der Spielejournalismus selbst nicht weiß. Das Nachfragen bei Menschen, die sich auskennen, ist en vogue.

Aber nicht nur die Riege der Fachleute hat sich vergrößert, auch die Redaktionen selbst sehen heute anders aus: diverser, jünger, weiblicher. Eine überfällige Veränderung, die endlich die bunte Zielgruppe der eigenen Berichterstattung spiegelt. Reine Männertrupps gelten als überholt und altmodisch.

Auch an einer anderen Stelle hat sich der moralische Branchenkompass neu ausgerichtet: Fotostrecken von dickbrüstigen Spielfiguren (industrie-intern poetisch „Tittenklickstrecken“ getauft), Nacktpatch-Anleitungen und Best-ofs der heißesten Messebabes waren einst Eckpfeiler des Klickjournalismus. Sie sind heute fast ausnahmslos aus dem deutschen Spielejournalismus verschwunden. Nicht, weil sie sich nicht mehr lohnen würden, sondern weil sie unhaltbar aus der Zeit gefallen sind (oder saftige Abmahnungen nach sich gezogen haben).

All das sind Umwälzungen, die Kraft und Geld gekostet haben und Lob verdienen. Von dieser Modernisierung auf so vielen unterschiedlichen Ebenen profitieren Redaktionen, ihr Publikum und die Berichterstattung über das Medium selbst. Und doch scheint diese steigende Kurve der Weiterentwicklung nun ein Plateau erreicht zu haben – einen kritischen Punkt, der zu bequem, zu sicher erscheint, um ihn unter neuerlichem Aufwand von Kraft und Geld hinter sich zu lassen. Nach außen könnte es nicht harmloser erscheinen: Ich spreche von einem speziellen Infokasten, der in den vergangenen Wochen immer häufiger zwischen Schlagzeilen und Reportage-Absätzen auftauchte.

Das neue Feigenblatt des Spielejournalismus

Dieser Infokasten, der je nach Website auch als redaktioneller Einschub oder kurzer Absatz entdeckt werden kann, hängt mit einem Spiel zusammen, das noch in diesem Jahr erscheinen soll: Diablo 4, die Fortsetzung eines der bekanntesten und langlebigsten Franchises der Gamingwelt.

Die Vorfreude der Fans ist riesig, die Aufmerksamkeit der Presse für dieses Spiel dem Anschein nach uneingeschränkt. Überall buhlen derzeit News, Vorschauen und Kolumnen über diesen Titel um Klicks und Aufmerksamkeit. Und zwischen all der Vorfreude und Aufregung? Ein kleiner Vermerk, ein kurzer Einschub, der auf das hinweist, womit sich das Entwicklerteam von Diablo 4 in den letzten Monaten herumschlagen musste. Es geht um den Riesenkonzern Blizzard, Missbrauchsvorwürfe von ehemaligen Mitarbeiterinnen, Kündigungswellen und Klagen von Angestellten.

Hier hat der Fachjournalismus im ersten Schritt gute Arbeit geleistet, seinen Job gemacht: Alle wichtigen Redaktionen haben diese Meldungen um Blizzard aufgegriffen, sie eingeordnet und teilweise sogar zum Anlass genommen, größere Reportagen über Sexismus in der Spielebranche und Arbeitsrechte von Angestellten zu veröffentlichen. Aber wie zuletzt bei Hogwarts: Legacy, das untrennbar mit Joanne K. Rowling und ihren transphoben Äußerungen zusammenhängt, stellt sich auch bei Diablo 4 die große Sinnfrage: Wie umgehen mit einem Spiel, das von einem Studio entwickelt wird, gegen das derart schwere Vorwürfe von sexueller Belästigungen und Diskriminierungen erhoben werden?

Es ist absehbar, dass sich diese Frage nach der Trennung von Urheber und Spiel in Zukunft leider immer wieder stellen wird. Eine Antwort, ein Verhaltensmuster für diese Fälle muss also her. Und die Antwort, die nun offenbar redaktionsübergreifend gefunden wurde, ist denkbar unelegant, ethisch fragwürdig – und hoffentlich nur eine vorübergehende Lösung.

Ein Infokasten als Antwort

Diese Antwort ist der Infokasten, ein aufklärender Einschub: Fast alle Berichte über Diablo 4 werden von einem kurzen Hinweis auf die vergangene Berichterstattung zu den Vorwürfen gegen Blizzard unterbrochen. Ein bis drei Zeilen, die mit Links auf bereits geschriebene Statements und Kolumnen verweisen. Danach? Weiter im Text, weiter mit der Vorfreude auf ein Riesenspiel, das getrennt von den Vorwürfen gegen das Entwicklerteam besprochen werden soll.

Dieser formalistische Clou wirkt leider wie ein fauler Spagat zwischen notgedrungen wahrgenommener Verantwortung vor dem Riesenthema „Sexismus“ und der SEO-Gier, einen so großen Titel nicht einfach ignorieren zu können. Der Infokasten mutiert zum Hinweis auf eine Fleißarbeit, die leidig getätigt wurde und nun als erledigt gilt.

Postbriefkasten (Österreich) der Österreichischen Post AG

Offizielle Begründungen wirken mitunter vorgeschoben und überschätzen den aktuellen Einfluss der Fachpresse, wie zum Beispiel jene des GameStar, wonach mit einem „Boykott“ des Spiels auch Entwickler*innen „bestraft“ würden, die nichts mit den Vorwürfen zu tun haben. Ein herbei gezerrtes Feigenblatt, das die eigene Blöße bedecken soll.

Dabei gäbe es Zwischentöne, die die Existenz des Spiels weder ignorieren noch jegliche Verantwortung auf einen Querverweis-Dreizeiler abschieben: Eine bewusst eingeschränkte Berichterstattung etwa, die nicht über zentrale Formate wie einen Test hinausgeht und die somit ein deutliches Zeichen setzen würde. Oder das Ende einer Trennung von „Spielbesprechung“ auf der einen Seite und Einordnungen von Vorwürfen gegen das Studio auf der anderen Seite, um so der Tatsache gerecht zu werden, dass Werk und Urheber miteinander verbunden sind. Und ich bin mir sicher: Es gibt noch klügere, noch bessere Antworten, die ein Redaktionsteam finden kann, das an anderen Stellen hochwertige Reportagen und Berichte auf den Weg bringt.

Presse, zeige Haltung!

Ohne Haltung ist Journalismus zahnlos. Und mit dem neuen Feigenblatt haben sich Redaktionen vorerst die Möglichkeit genommen, ernste Vorwürfe innerhalb der Industrie auch mit Konsequenzen in der Berichterstattung zu versehen. Stattdessen soll der Mittelweg die Google-Suchanfragen und den Druck zur Positionierung gleichermaßen befriedigen. Das Ergebnis?

Eine Lösung, die bequem erscheint, aber den Spielejournalismus um eine dringend notwendige Gelegenheit beraubt, Rückgrat zu zeigen. Wenn nicht in diesem Fall, wann dann?

Vielleicht tue ich mit diesem Urteil den Redaktionen Unrecht, die sich nicht bewusst sind, wie ihre Lösung für die obige Sinnfrage nach außen hin wirken kann. Denn leicht ist diese Diskussion und die Suche nach einem Umgang mit dem beschriebenen Dilemma in der Tat nicht. Und vielleicht gehöre ich nur zu der verschwindend kleinen Minderheit, die sich am beschriebenen Umgang mit der Causa Blizzard & Co. stört und mehr Konsequenz verlangt.

Vielleicht aber auch nicht. Und dieser Gedanke sollte zum Anstoß genommen werden, schleunigst wieder das Plateau zu verlassen, auf dem es sich zu viele Redaktionen gerade erst gemütlich gemacht haben.

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Grafikquelle :

Oben     —       [1] Adam und Eva bedecken ihre Geschlechtsteile mit einem Feigenblatt; Gemälde von Lucas Cranach d. Ä.

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Xi Jinping in Moskau

Erstellt von Redaktion am 26. März 2023

Eine bessere Welt durch geteilte Zukunft

Putin-Xi meeting (2023).jpg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Die Begenung von Xi Jinping und Vladimir Putin in Moskau war so spektakulär, dass sie von den parteihörigen Medien nicht unter den Teppich gekehrt werden konnte. Also gab es wilde Spekulationen und Phantasien über das Warum der Begegnung, ohnerichtig hinzuhören oder nachzulesen, was dort wirklich gesagt und getan worden ist. Man krallte sich lieber und wie immer an eigene Vorurteile.

Entgegen der westlichen Behauptung, dass bei dem Treffen das Thema Ukraine kaum oder nur am Rande angesprochen worden sei, haben Xi und Putin eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet und veröffentlicht, wonach die Krise in der Ukraine durch Dialog gelöst werden soll. Putin bekräftigte seine Bereitschaft, so schnell wie möglich einen Dialog mit der Ukraine aufzunehmen, und Xi betonte zum wiederholten Mal,dass er immer für einen Dialog eingetreten ist. Warum schweigen die westlichen Medien über dieses wichtige Ergebnis der Begegnung?

Über das eigentliche Thema der Begegnung schweigen sich die Politik und Medien ganz aus oder äußern sichnur verächtlich: die Friedenspolitik von Xi Jinping. Nachder Ankündigung auf der MünchnerSicherheitskonferenz und der Veröffentlicheung der GSI (Globale Sicherheitsinitiative) am 24. Februar und vo rdem Hintergrund der diplomatischen Vermittlung zwischen Iran und Saudi-Arabien demonstrierte Xi ohne Umschweif die schon deutlich gewordene Multipolarität der Weltordnung im Gegensatz zur Hegemonie der USA. China positioniert sich klar für eine bessere Welt durch eine geteilte Zukunft aller Menschen und Völker.

Anders als die USA, die jedes Problem und jeden Konflikt mit Waffengewalt angegangen und dann jämmerlich gescheitert sind, will China der Menschheit zu einer friedvollen, geteilten Zukunft verhelfen und kann das auch durch Taten belegen. Alle Realisationen im Rahmen der alten und der neuen Seidenstrasse sind friedvoll und zum Nutzen beider Vertragspartner. Die markantesten Beispiele in Europa sind Duisburg und Piräus als zukunftsrächtige Infrastrukturmaßnahmen zum Wohl der lokalen und regionalen Volkswirtschaft.

Sehen wur hier das wirkliche Foto aus Moskau ?

Das ist für China der Lösungsansatz für dieHerausforderungen in unserer Welt und für eine bessere Zukunft durch konzertierte Aktionen einer internationalen Gemeinschaft. „Das gemeinsame Interesse derMenschheit ist eine in Frieden geeinte und nicht geteilte und volatileame Welt“, sagt Xi seit nunmehr zehn Jahren. Und keiner im Westen hörte hin.So nutzt Xi die Bühne in Moskau, um deutlich zumachen, dass China mit befreundeten Staaten einen harmonischen Gegenpol zur Hegemonie der USA und ihrer Vasallen im Weltgeschehen bildet. Dabei ist das Leitmotiv einer Menscheit mit geteilter Zukunft so neu nicht, wenn man an Karl Marx mit seiner Aufforderungdenkt: Bürger aller Länder vereinigt euch! Und die Forderung nach Harmonie ist der chinesischen Kultur seit Konfuzius eigen. Die Gedanken dieser beidenAutoren sind heute Grundsäulen chinesischer Politik. Seit Moskau ist klar, dass die Weltornung nur noch multipolarkonzertiert wird und hoffentlich für eine bessere Welt mitgeteilter Zukunft.

Urheberrecht
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Grafikquellen       :

Oben       —      President of the People’s Republic of China Xi Jinping meets with President of Russia Vladimir Putin at the official welcoming ceremony in the Grand Kremlin Palace in Moscow.

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von Redaktion am 26. März 2023

Tiktok-Format „Unverlangt eingesandt“: – Lustiger Literaturbetrieb

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Kolumne von Fatma Aydemir

Ein Mensch schickt einen Text zur Veröffentlichung an einen Verlag – und der stellt ihn dann öffentlich bloß. Humor ist immer so eine Sache.

Alle müssen Content machen. Auch bei deutschen Literaturverlagen, deren Marken sich ja meist eher aus der eigenen Tradition generieren, ist angekommen: Wer neue Zielgruppen erreichen will, muss auf Social Media. Und zwar nicht einfach nur mit einer nüchternen Bewerbung des eigenen Programms, sondern mit Verlosungen, Behind-the-scene-Material und witzigen Videos.

Humor ist hierzulande, wenn nach unten getreten wird.

Nun ist Humor natürlich immer so eine Sache. Hierzulande funktioniert er augenscheinlich am besten, wenn nach unten getreten wird. Folgerichtig hat sich der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch (KiWi) das Tiktok-Format „Unverlangt eingesandt“ ausgedacht, bei dem sich in Kurzvideos über Manuskript-Einreichungen lustig gemacht wird. Also ein Mensch schreibt da jahrelang an einem Text, fasst sich irgendwann ein Herz, sendet ihn an einen Verlag und der guckt dann bloß rein, um daraus pseudolustigen Content zu generieren.

Für Lacher soll in „Unverlangt eingesandt“ der selbstsichere Ton der Anschreiben sorgen sowie die Formfehler und Forderungen der unbekannten Autor_innen. In einer Einsendung etwa verlangt der_die Autor_in 10.000 Euro Vorschuss für das beiliegende Manuskript und gibt an, dass der Text noch vier weiteren Verlagen zum Angebot vorliegt. Was den Zuschauer_innen aber unausgesprochen als lächerliche, weil dreiste Forderung verkauft wird, ist in Wahrheit ein sehr realistisches Angebot für einen Konzernverlag wie KiWi. Und für die schreibende Person sowieso: Angenommen in einem Romanmanuskript stecken zwölf Monate Arbeit, dann sind das zehn Riesen durch zwölf brutto – was daran ist nochmal dreist und funny?

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Ein Verkehrszeichen, das vor Kiwis warnt

Es verwundert kaum, dass wir in dem Format nichts über die Textqualität der Manuskripte erfahren, sondern lediglich von den Anschreiben. Denn das unfreiwillig Komische an „Unverlangt eingesandt“ ist, dass suggeriert wird, irgendein Großverlag schaue sich 2023 noch die unverlangt eingesandten Manuskripte an. Dabei treffen doch längst Literaturagenturen die Vorauswahl, lektorieren Manuskripte vor, bieten sie den Verlagen an. Der Verlag braucht sich somit gar nicht mehr durch Texte wühlen, die abseits von diesen Strukturen entstehen, er bietet einfach mit anderen Verlagen um jene Texte und Autor_innen, die ihm irgendwie „gut verkäuflich“ vorkommen, gemessen an einem chronisch verspäteten Trendverständnis. Und beschwert sich anschließend darüber, dass die Agenturen den Markt kaputt machen. Kurz: Es ist eigentlich genauso wie überall.

Branchenübliche Codes

Nur dass in einer anderen Branche vielleicht die Hemmung größer wäre, sich öffentlich über Jobbewerbungen lustig zu machen. Denn nichts anderes ist eine Manuskripteinreichung: eine Bewerbung. Und nichts anderes ist das Autor_innendasein: ein Job. Der kapitalistische Blick auf (noch) nicht kommerziell erfolgreiche Autor_innen und generell Künstler_innen ist dagegen ein mitleidiger bis verächtlicher: „Haha, guck mal, der Spinner denkt, er sei was Besseres. Geh mal arbeiten.“

Quelle        :           TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten      —       Ein Verkehrszeichen, das vor Kiwis warnt, welche die Straße überqueren

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Demokratie mit Lücken

Erstellt von Redaktion am 25. März 2023

Israel und die fehlende Verfassung des Landes

Jeder Politiker findet immer noch Mitschuldige welche sie hofieren. Würden solche – z.B. von der westlichen Welt ignoriert werden, würden sich die Situationen sehr schnell ändern. 

Von Joseph Croitoru

Die Kampagne der israelischen Rechten gegen den Obersten Gerichtshof begann lange vor der letzten Wahl. Ein Problem ist die fehlende Verfassung des Landes. In der „konstitutionellen Revolution“ sehen liberale Kreise bis heute die angemessene Umsetzung eines spezifisch jüdischen Gerechtigkeitsempfinden.

Israel erlebt derzeit eine tiefe konstitutionelle Krise. In ihrem Kern steht ein Autoritätskonflikt zwischen Parlament und Exekutive einerseits und dem sich als juristische Kontrollinstanz begreifenden Obersten Gerichtshof (OGH) andererseits. Seine Wurzeln liegen in der Gründerzeit des israelischen Staates. Dessen Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948 folgte der Vorgabe des UN-Teilungsplans für Palästina vom November 1947, die vorsah, dass die zu wählende „verfassungsgebende Versammlung“ des jüdischen Staates eine Verfassung verabschiedet. Das Gremium wurde wegen des noch andauernden arabisch-israelischen Kriegs erst Anfang 1949 gewählt und erklärte sich im Februar zum israelischen Parlament (Knesset). Zur Verabschiedung einer Verfassung kam es indes nicht, weil sich die Abgeordneten über ihren Charakter nicht einigen konnten – oder wollten. Nicht unähnlich zu heute war die damals tonangebende Regierungspartei – David Ben Gurions sozialistische „Partei der Arbeiter Eretz Israels“ (MAPAI) – nicht gewillt, ihre Vollmachten von grundlegenden Rechtsnormen einschränken zu lassen. Ben Gurions Haltung wurde von seinen religiösen Koalitionspartnern mitgetragen, für die als Verfassungsgrundlage nur das jüdische Religionsgesetz in Frage kam. Dagegen wehrten sich Säkulare von links wie rechts. Im Juni 1950 kam es schließlich zu einer Kompromisslösung, als die Knesset entschied, verfassungsähnliche Strukturen in Form von einzelnen Grundgesetzen zu schaffen. Bis heute wurden dreizehn solcher Gesetze verabschiedet.

Das Fehlen einer Verfassung hatte weitreichende Folgen. Der junge israelische Staat übernahm große Teile des britisch-kolonialen Mandatsrechts, das teilweise auf osmanischem Recht gründete. Mit diesen übernommenen Gesetzeswerken war das Selbstverständnis des Staates Israel als Demokratie aber nur begrenzt vereinbar. Eine weitere Konfliktquelle stellte der doppelte Anspruch des Staates dar, demokratisch und zugleich exklusiv jüdisch zu sein. Diese Widersprüche sollte der Oberste Gerichtshof lösen. Dieser wurde schon im Sommer 1948 vom provisorischen israelischen Staatsrat ins Leben gerufen; die anfängliche Zahl von fünf amtierenden Oberrichtern wurde mit den Jahren sukzessive erhöht, zuletzt 2009 auf fünfzehn. Die vom OGH ausgeübte Normenkontrolle sollte Gesetzesmissbrauch durch den Staat verhindern. Allerdings unterwarfen sich die Oberrichter bis in die sechziger Jahre weitgehend dem Primat der nationalen Sicherheit und stellten sich auch dann hinter die Regierung, wenn die sich nicht gerade demokratiekonform verhielt. So etwa bei der sogenannten administrativen Haft ohne Strafverfahren – ein Erbe des britischen Mandatsrechts, von dem vor allem Palästinenser bis heute betroffen sind.

Weil sich die Oberrichter bei ihren Entscheidungen in Ermangelung einer Verfassung auf die Gleichheit postulierende israelische Unabhängigkeitserklärung wie auch auf die Rechtsprechung in westlichen Demokratien oder sogar auf die Bibel beriefen, kam es gelegentlich doch zu Konflikten mit dem Gesetzgeber. So beispielsweise, als der OGH 1969 ein Parteifinanzierungsgesetz für ungültig erklärte und die regierende Arbeitspartei auf der Vormacht des Parlaments bestand. Den Richtern warf sie Inkonsequenz vor mit dem Argument, dass sie die Regierung doch bei weit problematischeren Fällen wie Hauszerstörungen oder der Ausweisung palästinensischer Terroristen unterstützten. Die Ultraorthodoxen standen mit den meist säkularen Oberrichtern ohnehin laufend auf Kriegsfuß, besonders dann, wenn sie in die Rechtsprechung der religiösen Gerichte eingriffen.

Die bislang bedeutendste Wende in Israels Rechtskultur vollzog sich zu Beginn der neunziger Jahre. Als es in der Zeit der großen Koalition von Arbeitspartei und Likud in den späten achtziger Jahren zum politischen Stillstand kam, formierte sich im Land eine Protestbewegung, die strukturelle Reformen forderte. Mit ihrer Initiative „Verfassung für Israel“ verfolgten damals mehrere Rechtsprofessoren das Ziel, einen umfangreichen Grundrechtskatalog zur Verabschiedung zu bringen. Zwar scheiterten sie am Widerstand der Ultraorthodoxen, doch gelang es schließlich ihrem Mitstreiter Amnon Rubinstein, Juraprofessor und Abgeordneter der liberalen „Shinui“-Partei, 1992 zwei neue Grundgesetze mit verfassungsähnlichem Charakter einzubringen: Sie wachen über die Berufsfreiheit und die „Würde und Freiheit des Menschen“.

Berlin and Israel walls

Willige Helfer gesucht und gefunden! 

Damit lag ein konstitutioneller Referenzrahmen für Menschenrechte vor, auf den der OGH zurückgreifen konnte, was er auch energisch tat. Konservative israelische Juristen beklagten sich schon bald über dieses Vorgehen. Sie warfen den Oberrichtern „richterlichen Aktivismus“ vor, über dessen Nutzen und Nachteil in Israels juristischen Zeitschriften nun kontrovers diskutiert wurde. Zu den Befürwortern eines selbstbewussteren Auftretens des OGH gehörte auch der international angesehene und damals an der Hebräischen Universität in Jerusalem lehrende Rechtsprofessor Aharon Barak. 1993 vertrat er in einer wegweisenden Abhandlung die Ansicht, dass der OGH sich nicht mit der Rolle eines punktuellen Korrektivs des Gesetzgebers begnügen sollte. Weil es keine Verfassung gebe, sollten die Oberrichter die gesamte israelische Rechtsprechung Schritt für Schritt der Lebensrealität im Land anpassen und überall dort korrigierend eingreifen, wo die Gesetzgebung Lücken aufweise.

Die Fachdebatten der Juristen wuchsen sich zu regelrechten Grabenkämpfen aus, als 1995 Aharon Barak zum Präsidenten des OGH gewählt wurde. Moshe Landau, Amtsvorgänger und Zionist der alten Garde, warnte die Oberrichter schon damals davor, die neuen Grundgesetze dazu zu nutzen, die Rechte des Individuums über die Interessen der Allgemeinheit zu stellen und so den Egoismus in der israelischen Gesellschaft zu stärken. Ungeachtet solcher Bedenken wuchs die Bedeutung des OGH kontinuierlich. In dieser in Israel als „konstitutionelle Revolution“ bezeichneten Entwicklung sehen liberale Kreise bis heute die angemessene Umsetzung eines aus ihrer Sicht spezifisch jüdischen Gerechtigkeitsempfindens. Der OGH war aber schon unter seinem Präsidenten Barak, dessen Amtszeit bis 2006 dauerte, von unterschiedlichsten Seiten heftiger Kritik ausgesetzt. So warfen Menschenrechtler und Besatzungsgegner dem Gericht Verrat an den eigenen Prinzipien vor, weil es willkürliche Internierungen und auch Folter von Palästinensern wiederholt abgesegnet hatte. Für die ultranationalistischen Siedler und auch die Ultraorthodoxen verkörpert der OGH bis heute eine „Rechtsdiktatur“ – und nicht nur für sie.

Quelle       :         TAZ-online           >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —     President Donald J. Trump delivers remarks with Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu Tuesday, Jan. 28, 2020, in the East Room of the White House to unveil details of the Trump administration’s Middle East Peace Plan. (Official White House Photo by Shealah Craighead)

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Politik und Banken

Erstellt von Redaktion am 25. März 2023

 Beruhigende Worte von Scholz und Macron sind wenig wert

File:2021-08-21 Olaf Scholz 0309.JPG

Es war immer schwer politischen Trollen zuzuhören, welche von Banken rein gar nichts verstehen – ansonsten wären sie Banker geworben.

Quelle      :        INFOsperber CH.

Urs P. Gasche /   

Um das Vertrauen in Grossbanken zu bewahren, müssen Behörden und Banker lügen. Sie würden lieber das labile Geldsystem fixieren.

Nach dem Zwangsverkauf der Credit Suisse an die UBS «herrscht nach wie vor Unsicherheit an den Börsen», meldete gestern Freitag, 24. März, die Schweizer Tagesschau. Die Aktien der Deutschen Bank beispielsweis hätten am Freitag 8,5 Prozent ihres Wertes verloren. Die Regierungschefs würden «versuchen zu beruhigen».

In Brüssel versammelte Regierungschefs sahen sich veranlasst, die Öffentlichkeit am Fernsehen zu beruhigen.

Olaf Scholz erklärte in der ARD-Tagesschau:

«Die Deutsche Bank hat ihr Geschäft grundlegend modernisiert und neu organisiert und ist eine sehr profitable Bank. Es gibt keinen Anlass, sich irgendwelche Gedanken zu machen.»

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zur gleichen Zeit im Fernsehen:

«Wir haben aus vergangenen Krisen gelernt. In der Eurozone sind die Banken heute am Solidesten, weil sie die Vorgaben für Solvenz und Liquidität, die nach der Finanzkrise von 2008 entstanden, am Gewissenhaftesten befolgen.»

Wie hiess es doch zum Kollaps der Credit Suisse: Sie habe überhaupt keine Liquiditätskrise gehabt. Es seien vielmehr die gestiegenen Zinsen gewesen, Probleme von US-Banken und Gerüchte in Social Media, welche die Grossbank ins Schleudern gebracht hätten.

Falls dies zutrifft, wäre dies ein Beleg dafür, auf wie wackeligen Füssen das gesamte Finanzsystem beruht. Denn steigende Zinsen waren längst vorauszusehen. Ebenso, dass etwa in den USA, Italien, Spanien oder Griechenland einzelne Banken ins Taumeln kommen können. Und Gerüchte in Social Media sollten abermilliardenschweren Grossbanken wohl nichts anhaben können.

Doch dies ist offensichtlich tatsächlich möglich, weil das Bankensystem ein klappriges Kartenhaus ist, das auf nahezu blindes Vertrauen der Sparer, Anleger und Investoren angewiesen ist. Aus diesem Grund dürfen Regierungen, Behörden – und natürlich auch die Banken selbst – nie reinen Wein einschenken.

Auch zu viele Experten befolgen dieses Gebot und warnen nicht rechtzeitig, wenn sie Schwachstellen und Gefahren analysieren. In der ARD-Tagesschau äusserte sich Hans-Peter Burghof, Finanzökonom an der Universität Hohenheim:

«Ich sehe keinen Grund für eine allgemeine Bankenkrise […] Die Banken werden von den Märkten schlecht behandelt.»

Vielleicht haben Experte Burghof, Macron und Scholz recht. Es wäre jedenfalls zu hoffen.

Aber ihre beruhigenden Worte sind nichts wert, weil sie auch so reden müssten, fallls es wirklich ernsthafte Anzeichen einer Bankenkrise gäbe.

Aus diesem Grund sollten die Medien solch beruhigende Aussagen von Behörden, Experten und Banker nicht zum Nennwert weiterverbreiten, sondern stets darauf hinweisen, dass keiner dieser Exponenten je die Wahrheit sagen würde, falls am Bankenhimmel düstere Wolken aufziehen.

Erst nach einem Kollaps können alle Fehler und vergangenen Warnzeichen aufgezählt werden.

Das Vertrauen, das nicht erschüttert werden darf

Das fast blinde Vertrauen in Grossbanken – und damit das Schönreden – muss heute aus folgenden Gründen unzumutbar gross sein:

  • weil Grossbanken nur fünf Prozent ihrer Milliarden-Verpflichtungen mit Eigenkapital gedeckt haben. Es braucht deshalb nur wenige Gross- oder Kleinkunden, die ihre Guthaben in kurzer Zeit zurückziehen.
  • weil Grossbanken mit ihrem eigenen bescheidenen Kapital und mit Kundengeldern hochspekulative Wettgeschäfte betreiben, deren Exzess der computerisierte Millisekunden-Handel darstellt.
  • weil Grossbanken viele riskante Geschäfte über Schattenbanken abwickeln. Weltweit seien 150 Billionen Dollar in spekulative Geschäfte investiert, die ausserhalb der Bilanzen und ohne jegliche Kontrollen abgewickelt würden, erklärte Finanzjournalistin und Buchautorin Myret Zaki in der Sendung «Infrarouge» des Westschweizer Fernsehens. Die Nominalwerte von sogenannten Derivaten, darunter unzählige sogenannte strukturierte Produkte, würden jetzt bei der UBS und CS zusammen etwa das Vierzigfache des Schweizer Bruttoinlandprodukts erreichen. Das sagte der Zürcher Finanzprofessor Marc Chesney in der gleichen Sendung.

Manifestation - Besançon - réforme des retraites - 19-01-2023 - Toufik-de-Planoise.jpg

Massnahmen die sich aufdrängen, damit fehlendes Vertrauen nicht so rasch zu einem Crash führt

Professor Chesney hat notwendige Massnahmen bereits vor zehn Jahren auch auf Infosperber aufgezählt. Keine davon wurde seither umgesetzt. Sie drängen sich mehr denn je auf, damit die Märkte wieder normal funktionieren:

  1. Die Eigenkapitalanforderungen für Banken sollten mindestens 20% bis 30% betragen.
  2. Die Banken sollten im Rahmen eines Trennbankensystems in Investment- und Geschäftsbanken aufgetrennt werden, wie dies durch den Glass-Steagall Act von 1933 während Jahrzehnten der Fall war und womit durchaus eine gewisse ökonomische Stabilität gewährleistet werden konnte.
  3. Die Finanzprodukte sollten, bevor sie auf den Markt kommen, zertifiziert werden, so wie dies bei anderen Produkten der Fall ist, wie zum Beispiel im Industrie-, Nahrungs- und Pharmasektor. Die Finanzüberwachungsbehörden sollten für die Vergabe solcher Zertifikate verantwortlich sein. Auf diese Weise würde die Verbreitung «giftiger» Produkte begrenzt.
  4. Die Verbriefungs-Praktiken sollten eingegrenzt werden.
  5. Die Verbreitung «giftiger» Produkte sollte ein Finanzdelikt darstellen, so wie es in allen anderen Wirtschaftszweigen der Fall ist oder zumindest sein sollte. Es würde sich um eine Straftat handeln, welche die wirtschaftliche und finanzielle Sicherheit verletzt.
  6. Das riesige Volumen von Derivaten erzeugt Systemrisiken für die Wirtschaft. Es sollte kontrolliert und drastisch reduziert werden. So könnte man vermeiden, dass die Absicherung bestimmter Produkte zu Wetten auf den Zusammenbruch von Unternehmen werden. Das ist bei den Kreditderivaten Credit Default Swaps oder CDS der Fall. Die meisten sichern keine Risiken ab, sondern sind reine Wettgeschäfte.
  7. Der Kauf eines CDS sollte das Halten eines darauf basierenden Wertschriftentitels voraussetzen, der gegen Verlust abgesichert werden soll.
  8. Die Aktivitäten von Hedge-Fonds oder von Private-Equity-Fonds sollten kontrolliert werden.
  9. Für die Führungskräfte von Banken sollten die Entschädigungssysteme auf der Grundlage von Bonuszahlungen durch Systeme ersetzt werden, die auch wirkliche Bestrafungen (malus) beinhalten. Heute sind es Aktienoptionen und hohe Abfindungen, die den Anreiz zum Eingehen von Risiken schaffen, die letztlich von anderen Teilen der Gesellschaft getragen werden: von Aktionären, Kunden, Arbeitnehmern, Rentnern und schliesslich von den Steuerzahlenden.
  10. Die Effektivität des Risikomanagements und des Risiko-Controllings der Banken sollte stark verbessert werden. Boni für Risiko-Controller wären viel nützlicher als solche für Händler.
  11. Eine Mikrosteuer auf allen elektronischen Zahlungen sollte eingeführt werden. Es geht nicht nur darum, dem Staat mehr Geld zukommen zu lassen, sondern darum, die Spekulation und die Volatilität durch Verteuerung einzudämmen. Wettgeschäfte mit High Frequency Trading würden dadurch begrenzt. (Siehe Dossier Mikrosteuer auf alle Geldflüsse.)
  12. Die Grösse der Banken sollte begrenzt werden. Das Problem des «too big to fail» ist gefährlich, weil es falsche Anreize erzeugt. Finanzinstitute gehen Risiken ein, ohne deren Konsequenzen tragen zu müssen, weil der Steuerzahler im Notfall zur Kasse gebeten wird. Es handelt sich dabei um eine Gratisversicherung auf Kosten der allgemeinen Bevölkerung statt auf Kosten der Verantwortlichen.
  13. Rating-Agenturen sollten unter öffentlicher Kontrolle stehen, weil ihre Macht der demokratischen Funktionsweise der Staaten schadet. Die 2008-Finanzkrise hat gezeigt, dass sie gescheitert sind, da sie Zombi-Banken mit guten Noten bewertet haben. Sie wurden von diesen Geschäftsbanken dafür gut entlöhnt.
  14. Der Inhalt des Unterrichts in Volkswirtschaftslehre und Finance muss gründlich überprüft werden.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.

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Oben      —     Olaf Scholz, Politiker (SPD) – Zur Zeit Vizekanzler und Bundesminister der Finanzen der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem ist er Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestagswahl 2021. Hier während einer SPD-Wahlkampfveranstaltung im August 2021 in München. Titel des Werks: „Olaf Scholz – August 2021 (Wahlkampf)“

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Einigung: Post – Ver.di

Erstellt von Redaktion am 25. März 2023

Tarifabschluss bei der Post – ein Abschluss, der Fragen aufwirft

La grève des mineurs du Pas-de-Calais, 1906.jpg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von  :    Suitbert Cechura

Ein harter Job und schlechte Bezahlung: Auch wenn der Laden brummt, darf man sich nicht zu viel erwarten – die schweren Zeiten verbieten es!

Zu Beginn der Tarifrunde mit dem Post-Konzern – noch vor der ersten Verhandlungsrunde – gab die Verdi-Gewerkschaft ihr Ziel bekannt: „Die Beschäftigten brauchen dringend einen Inflationsausgleich und sie erwarten darüber hinaus eine Beteiligung am Unternehmenserfolg.“ (Pressemitteilung Verdi, 5.1.23)

Die Vorbereitung auf die Tarifrunde lief vorbildlich, mit großer Mobilisierung und Warnstreiks. Die Mitglieder stellten sich mit 85,9 Prozent bei der Urabstimmung hinter ihre Gewerkschaft und stimmten für einen Streik. Statt zu streiken, setzte sich Verdi dann aber mit den Arbeitgebern zusammen und schloss ganz rasch einen Tarifvertrag ab, der weder einen Reallohnverlust verhindert noch eine Beteiligung am 8-Milliardengewinn der Post beinhaltet. Dieses Verhalten der Tarifkommission, die sich für ihren schnellen Erfolg lobte, wirft eine Reihe von Fragen auf.

Von Beginn an ein Abschluss á la IG-Metall oder IG BCE angestrebt?

Auffällig ist, dass die Tarifkommission nach dem Abschluss von den ursprünglichen Zielen offenbar nichts mehr wissen will, wenn sie das Ergebnis schönrechnet und den Erfolg daran festmacht, dass die Gegenseite ihre Angebote verbesserte habe: „Positiv sind die hohe Einmalzahlung im April, die Erhöhung der monatlichen Inflationsausgleichssonderzahlung um 20 Prozent gegenüber dem letzten Angebot der Arbeitgeber und das Vorziehen der tabellenwirksamen Festbetragserhöhung um acht Monate. Mit diesem Tarifergebnis wird unser wichtigstes Ziel, einen Inflationsausgleich insbesondere für die unteren Einkommensgruppen zu schaffen, nach den aktuellen Prognosen der zu erwartenden Preissteigerungsrate erreicht.“ (Andrea Kocsis, Verdi Pressemitteilung, 11.3.23)

Die Inflationsausgleichssonderzahlung von 1020 € gleicht aber den Reallohnverlust des letzten Jahres in keiner Weise aus. Über den teilt Verdi selber mit: „Die Tariferhöhungen in 2021 und 2022 blieben zusammen um fünf bis sieben Prozent hinter der Inflationsrate zurück.“(Verdi, WiPo-Informationen, 1/23) Jetzt mag zwar rechnerisch die ab Mai vereinbarte Ausgleichssonderzahlung von 180 € der offiziellen Inflationsrate entsprechen, nur weiß auch die Gewerkschaft, dass die offiziellen Inflationsraten Durchschnittswerte darstellen und gerade Menschen mit geringem Einkommen, wie viele Postzusteller, von der Inflation stärker betroffen sind: „Inflation ist nicht für alle gleich. Die hohen und weiter steigenden Preise treffen Haushalte mit kleinen Einkommen und mit Kindern besonders stark.“ (WiPo, 1/23)

Hinzu kommt: „Die ‚Inflationsprämien‘ sind zudem – ebenso wie die in den letzten Jahren vereinbarten Corona-Prämien und sonstigen Einmalzahlungen – nicht tabellenwirksam, das heißt sie erhöhen nicht die Ausgangsbasis für künftige Tariferhöhungen und mindern so dauerhaft die Lohnentwicklung und die Kaufkraft. Die Einmalzahlungen fallen weg, aber auch wenn die Inflationsraten in den kommenden Jahren wieder geringer werden, sinkt das Preisniveau insgesamt nicht.“ (WiPo, 1/23)

Also stellen die Sonderzahlungen keine Erhöhung der Tariflöhne dar, ein dauerhafter Reallohnverlust wird damit festgeschrieben. Denn die Tariferhöhung von 15 Prozent war ja auf ein Jahr berechnet und nicht auf zwei Jahre. Eine Verlängerung der Laufzeit hatte Kocsis noch nach der dritten Verhandlungsrunde abgelehnt (Pressemitteilung Verdi, 10.2.23). Nun erfolgt die Tariferhöhung erst im nächsten Jahr und bemisst sich an Prognosen und nicht an den Notwendigkeiten der Beschäftigten.

Mit ihren unterschiedlichen Sonderzahlungen folgt Verdi jetzt ganz der Regierungslinie, an die sich auch die Schwestergewerkschaften von IG Metall und IG BCE gehalten haben. Mit den Steuer- und Sozialabgaben-freien 3000 € als Abfindung für den Verzicht auf Lohnerhöhungen hat die Regierung die Maßstäbe für die deutschen Tarifrunde vorgegeben, die offenbar auch Verdi umsetzen will. Sonst könnten ja noch – man stelle sich das vor – Verhältnisse wie in Frankreich oder Großbritannien einreißen, wo sich die Arbeitervertretungen um die Interessen ihrer Mitglieder kümmern, statt sich an die Regierungslinie zu halten.

Das Wort Abfindung ist hier übrigens wörtlich zu nehmen, sollen sich doch die Arbeitnehmer mit den Reallohnverlusten abfinden und auf einen Ausgleich verzichten, der den Reallohn auf Dauer sichert. Die Gewerkschaften stellen sich so ihrer nationalen Verantwortung bei der Verhinderung des neuerdings wieder aufgetauchten Gespenstes einer „Lohn-Preis-Spirale“. Diese Bezeichnung stellt – man erinnere sich nur an die beiden letzten Jahre – die Welt auf den Kopf, denn es waren die Preise, die auf breitere Front stiegen, und nicht die Löhne, die vielmehr der Entwicklung hinterherhinkten.

Warnstreiks usw.: ein Tariftheater zur Mitgliedergewinnung?

Ging es hier also wieder einmal um ein Tariftheater? Dies vermuteten schon einige Medien im Vorfeld und der Abschluss scheint ihnen Recht zu geben. Offenbar war die ganze Tarifauseinandersetzung nicht auf die Durchsetzung der anfangs formulierten Forderungen gerichtet. Verdi wollte sich vielmehr unübersehbar als die kämpferische Alternative zu den anderen Gewerkschaften präsentieren und so Mitglieder für sich gewinnen. Verdi-Chef Werneke verkündete stolz, „rund 45.000 Neueintritte bei der Gewerkschaft seien nicht zuletzt auf die Tarifauseinandersetzungen beim ehemals staatlichen Unternehmen zurückzuführen“ (Junge Welt, 17.3.23).

Mitglieder und Sympathisanten sollten sich bei den Streikaktionen anscheinend im Gemeinschaftsgefühl ergehen. Man war in der Öffentlichkeit präsent, erntete auch Anerkennung, das war’s dann. Damit die aktivierten Mitglieder nicht auf die Idee der Durchsetzung ihrer Forderungen kommen, wurde der Streik abgeblasen und eine schnelle Vereinbarung präsentiert.

Und jetzt der Abschluss im Öffentlichen Dienst?

Zu erwarten ist, dass Verdi hier seine Mitglieder genauso verschaukelt wie beim Postabschluss und eine Vereinbarung akzeptiert, die statt Reallohnsicherung einen Strauß von Sonderzahlungen bietet – ebenfalls in Übereinstimmung mit der Regierungslinie. Vor der Tarifrunde im Öffentlichen Dienst wurde anscheinend auch kein Abschluss angestrebt, der bei den Mitgliedern zu große Erwartungen weckt.

Schließlich wird bei Verdi-Mitgliedern der Spruch des ehemaligen Vorsitzenden Bsirske kolportiert, der gewarnt haben soll: Wer die Mitglieder auf die Bäume treibt, müsse sie auch wieder runterholen können. Solchen Warnungen kann man entnehmen, dass die Verdi-Funktionäre ihre Mitglieder offenbar als Tarifstatisten behandeln, die sich auf Kommando als Streikkomparsen aufführen, bei Bedarf aber auch wieder brav arbeiten gehen. Das Problem scheint die Tarifkommission zur Zeit wieder bei ihren Mitgliedern zu sehen.

Denn die prekäre Lage ist auch aus Verdi-Sicht klar: „Die zentrale Herausforderung für die Tarifpolitik besteht in diesen Zeiten darin, trotz der starken Preissteigerungen die Realeinkommen der Beschäftigten und ihrer Familien zu sichern. Im Jahr 2022 ist dieses Ziel deutlich verfehlt worden, die preisbereinigten Reallöhne sanken um über drei Prozent, nach der ‚alten‘ Berechnung der Inflationsrate um über vier Prozent. Dies kann der Tarifpolitik allerdings nicht angelastet werden, da ganz überwiegend noch Tarifverträge galten, die in Zeiten der Pandemie bei viel geringeren Inflationsraten abgeschlossen worden waren.“ (WiPo, 1/23)

Und die Verdi-Mitglieder?

Das muss die Gewerkschaft natürlich herausstellen: Die Misserfolge kann man ihr nicht anlasten. Und die Mitglieder müssen es glauben. Aber werden sie sich dieses Ergebnis jetzt bieten lassen? Es liegt an ihnen, in der Urabstimmung zum Tarifabschluss, die noch bis zum 30. März läuft, diese Vermutung entweder zu bestätigen, indem sie Ruhe geben, oder zu dementieren, indem sie dagegen stimmen. Unmut gibt es an der Verdi-Basis durchaus. David Maiwald (JW, 17.3.) hat sich dort erkundigt. „Viele Kollegen wissen“, so äußerte sich ein Postzusteller, „und zwar weil Verdi das kommuniziert hat, dass diese Sonderzahlung langfristig weniger Geld in der Tasche bedeutet. Außerdem wird anteilig auf die Arbeitszeit ausgezahlt“, was gerade bei den Teilzeit- und Abrufkräften weitere Einbußen bedeutet.

Kritische Gewerkschafter (siehe die Homepage: netzwerk-verdi.de) fürchten auch, dass der jetzige Abschluss von der Arbeitgeberseite propagandistisch genutzt wird und die Behauptung untermauert, dass mehr einfach nicht drin ist. Darauf sollte man nicht hereinfallen! Wer natürlich schon beim Aufstellen der Forderung davon ausging, dass wie gewöhnlich bloß die Hälfte und damit ein Reallohnverlust rauskommen wird, der liegt mit diesem Abschluss richtig. Wer sich gegen den Reallohnverlust stemmen will, muss sich mit der Gewerkschaftsführung anlegen.

Zuerst erschienen bei Telepolis

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von Redaktion am 25. März 2023

Bei aller Verbitterung Mut und Hoffnung nicht verlieren

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Kaum hatte der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen gegen Wladimir Putin verhängt, schon machte sich Chinas KP-Chef Xi Jinping auf nach Moskau zum Freundschaftsbesuch.

Mit Chinas Unterstützung für Putin wird die Internationale Gemeinschaft erst recht keine Chance haben, den Haftbefehl jemals umzusetzen. Es wäre ohnehin eine Weltpremiere, auf die wir wohl lange warten müssen.

Doch nicht nur Putin drohen die Richter. Auch gegen den Ex-Präsidenten der USA, Donald Trump, steht vermutlich ein baldiges Verfahren an. Ein gefundenes Fressen für die KP-Propaganda. China werde niemals das westliche Modell, darunter unabhängige Justiz, kopieren. Man kenne eine bessere Demokratie, bei der das Volk von Anfang bis Ende demokratisch lebe. Seltsam nur: Gewählt wird niemals. Nicht ein Gericht, sondern die Partei bestimmt, wer aufgrund welchen Verbrechens mit welchem Strafmaß verurteilt wird. Noch wissen wir nicht, was Trump bevorsteht. Sicher ist jedoch, dass Xi davon wenig erfahren möchte, schon gar nicht am eigenen Leibe.

Doch die Welt ist unbezwingbarer, als Autokraten es sich offensichtlich einbilden. Noch so mächtig mögen diese Männer in der Vergangenheit gewesen oder noch immer sein. Einer grundmenschlichen Beurteilung, ob sie Verbrechen begangen haben oder nicht, entkommen sie nicht. Nicht einmal in dieser verunsicherten Welt, wo so viele schon davon reden, dass es nicht nur keine Kategorie „richtig“ oder „falsch“ mehr gebe, sondern auch kein „faktisch“ oder „fake“. Trump wie Putin sind verrufen auch für ihre Dreistigkeit, Tatsachen zu verdrehen: Aus Aggression gegen die Ukraine wurde laut Putin ein Feldzug gegen den Faschismus und gegen eine Osterweiterung der Nato. Aus blanker Missachtung der Rechtstaatlichkeit durch einen Massenmob gegen das legitime Parlament wurde laut Trump ein „patriotischer“ Aufstand derer, die fürchteten, ihnen würde ihr Land genommen werden. Nun wird klar, dass dieser Dreistigkeit Einhalt geboten werden sollte. Wichtiger noch: Der Dreistigkeit wird Einhalt geboten.

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Nicht, dass die pure Moralität obsiegt. Eine politische Realität erzwingt den Etappenerfolg. Putin erleidet auf dem Schlachtfeld in der Ukraine Niederlagen. Mittlerweile positioniert sich in Europa Russlands letzter slawischer Bruder Serbien gegen Moskau und liefert Raketen an die Ukraine, um die Aggressoren zurückzuschlagen. In Asien ist es Pakistan, das die Ukraine mit Militärhilfe unterstützt.

Quelle         :       TAZ-online            weiterlesen

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Reise zu Protest verweigert:

Erstellt von Redaktion am 24. März 2023

Innenministerium mauert bei politischem Reiseverbot

Wer fragt in einen freien Land vor der Ausreise nach einer Erlaubnis an? 

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von    :    

Die Bundespolizei verweigerte im Februar dem Vorsitzenden eines antifaschistischen Verbandes die Ausreise zu einer Demo nach Bulgarien. Auf eine schriftliche parlamentarische Frage zu dem Vorfall antwortet das Innenministerium ausgesprochen schmallippig.

Am 24. Februar verweigerte die Bundespolizei dem Vorsitzenden der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), Florian Gutsche, am Flughafen in Berlin die Ausreise nach Bulgarien. Dort wollte der 34-jährige an einer Demo gegen einen Nazi-Aufmarsch teilnehmen. Stattdessen erwartete ihn am Flughafen ein Zivilpolizist, später durchsuchten und befragten Gutsche Beamte und erteilten ihm ein sechstägiges Reiseverbot – nicht nur nach Bulgarien.

Nach Informationen des VVN-BdA wurde die Verfügung damit begründet, dass damit zu rechnen sei, dass Gutsche „das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland erheblich schädigen“ würde. Indizien sah die Polizei in „mitgeführter Kleidung und Utensilien, die klar dem linken Phänomenbereich zuzuordnen sind“. Laut Pressemitteilung des VVN-BdA waren diese Gegenstände ein schwarzer Pulli, eine schwarze Jacke, eine Fahne und eine Broschüre der Organisation. Auf dieser Grundlage unterstellte die Polizei Gutsche eine mögliche Teilnahme an gewalttätigen Protesten. Gutsche selbst sagt der taz, dass er nie für irgendetwas verurteilt wurde in seinem Leben.

Wurden PNR-Daten genutzt?

Fraglich ist, wie die Polizei überhaupt dazu kam, dass sie Gutsches Reise auf dem Radar hatte. Denkbar ist, dass Gutsche – ohne Verurteilung – in einer Datei für politisch motivierte Gewalttäter gelandet ist und seine Reise mittels der Vorratsdatenspeicherung von Flugdaten (PNR) den Behörden bekannt wurde. Die Bundespolizei hat auf Presseanfragen von taz und nd bislang nicht geantwortet.

Im Jahr 2020 hat das Bundespolizeipräsidium 25.280 Personendaten aus der Fluggastdatenspeicherung vom Bundeskriminalamt (BKA) mit einer Aufforderung für sogenannte Folgemaßnahmen erhalten. Diese Maßnahmen sind hoch umstritten: Das Verwaltungsgericht Wiesbaden hatte die Fluggastdatenspeicherung im vergangenen Dezember für rechtswidrig erklärt: Dem BKA fehle eine grundrechtskonforme Rechtsgrundlage. Zuvor hatte schon der Europäische Gerichtshof die Datensammlung moniert.

Zugeknöpfte Antwort

Auf eine schriftliche Frage der linken Bundestagsabgeordneten Martina Renner antwortete das Bundesinnenministerium nur mit einer allgemeinen Antwort zur Rechtsgrundlage (§ 10 Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit § 7 Absatz 1 Nummer 1 des Passgesetzes) und verweigerte sonst jede Auskunft zum Fall Gutsche. In der Antwort heißt es:

Die mit der Fragestellung gewünschten Auskünfte zu etwaigen durch die Bundespolizei bei der Ausreise einer Person festgestellten die vorgenannte Gefahr begründenden Tatsachen berühren das Persönlichkeitsrecht Dritter. Unter Abwägung des parlamentarischen Fragerechts und des damit einhergehenden öffentlichen Informationsinteresses mit dem gleichzeitig hier notwendigen Schutz der Persönlichkeitsrechte des Betroffenen kommt die Bundesregierung vorliegend zu dem Ergebnis, dass diesbezügliche Auskünfte nicht und – wegen des höchstpersönlichen Charakters der angefragten Daten – auch nicht eingestuft übermittelt werden können. Ob und inwieweit eine Auskunft an den Betroffenen möglich ist, obliegt auf dessen Anfrage der Entscheidung der zuständigen Sicherheitsbehörde im konkreten Einzelfall.

Weiter heißt es: Die Bundespolizei prüfe bei allen Personen, d. h. auch aus allen Phänomenbereichen der Politisch Motivierten Kriminalität, soweit diese bei der Ausreise angetroffen werden, ob einzelfallspezifisch gefahrenbegründende Erkenntnisse vorliegen, die in der Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Rechtsgüterabwägung Ausreiseuntersagungen an der Grenze erforderlich machen würden.

Gutsche selbst erwägt laut dem nd eine Klage gegen das Ausreiseverbot.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Verteidigung des Pazifismus

Erstellt von Redaktion am 23. März 2023

Argumente für einen konstituierenden Frieden

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von         :          Hanna Mittelstädt

Raúl Sánchez Cedillo: Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine. Der spanische Philosoph und Aktivist Raúl Sánchez Cedillo schrieb eine Verteidigung des Pazifismus als kommunistisches Projekt gegen den Kapitalismus und seine Kriegsgestalt.

Es ist gleichzeitig ein Aufruf für die ökologische Bewegung als transnationaler Klassenkampf und alternatives Projekt gegen die Logik des Kapitals. Das Buch ist gerade erschienen.Ich halte es für einen wichtigen und klaren Beitrag für die notwendige gesellschaftliche, emanzipative Entwicklung gegen diesen/jeden Krieg. Unter der Voraussetzung, dass der Kapitalismus nur noch im Modus von Krieg und Krise überleben kann und uns in rasantem Tempo immer mehr Rechte und Möglichkeiten für ein „gutes Leben“ abschneidet, sei es durch direkten Krieg oder die im Rahmen eines Kriegsregimes zu erbringenden Opfer, reflektiert der Autor den eigenen Weg „der Subalternen“ und die Konstruktion einer Gegenmacht von unten.Die Voraussetzung für diesen Aufbau ist ein tiefgreifender Friedensprozess (der nicht auf die Ukraine beschränkt ist) und die Klarheit über die eigenen Wünsche und Ziele. Ein konstitutiver Frieden bedeutet Waffenstillstand mit einem gleichzeitigen Prozess der globalen Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, mit Vorstellungen für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Herrschaft, für eine Produktionsweise ohne Kommando, die auf Teilhabe und Kooperation beruht, für eine umweltbezogene soziale und mentale Ökologie.

Internationalismus oder Barbarei

In Abwandlung der Parole „Sozialismus oder Barbarei“ von Rosa Luxemburg oder des Namens der anti-stalinistischen Gruppierung der frühen Nachkriegszeit Socialisme ou Barbarie (1949 bis 1967) formuliert Raúl Sánchez Cedillo eine ausführliche und fundierte anti-nationale Kritik des aktuellen Kriegsregimes, wie es durch den Krieg in der Ukraine durchgesetzt wurde und weiter wird. Er sieht dieses Regime in der Folge des Endes des Kalten Krieges, des nach dem 11.September 2001 erklärten „Kriegs gegen den Terror“ und den verschäften Krisen nach 2008: ein Herrschaftsmodell von Krieg und Polizei, Militarisierung der Auseinandersetzungen innerhalb und ausserhalb von Staatsgebilden, medialem Lagerdenken sowie einer Verschärfung der gesellschaftlichen Kontrolle mithilfe der Digitalisierung.

Der Krieg, die Barbarei, wird flankiert von ständig beschleunigter Kriegspropaganda und Disziplinierungsmassnahmen. Das Freund-Feind-Schema wird nicht nur auf dem Kriegsschauplatz angewandt, sondern in allen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Das ist die erpresserische Macht der finanziellen, korporativen und politischen Oligarchien, und zwar überall, wo sie herrschen, in Russland wie in der Ukraine, in Europa wie in den USA, in China wie in anderen Staaten.

Durch die fortgesetzte Enteignung der „Subalternen“, durch ihre immer weitergehende Zurichtung auf die Bedürfnisse der herrschenden Regimes entstehen neue Formen des Faschismus. Die oligarchische Hyperkonzentration von Kapital und Macht nutzt über die Arbeitskraft hinaus die Subjektivität der Menschen, ihre Sprachen, Gefühle, Affekte als Produktionsmittel. Sehr hilfreich für die aktuelle Einschätzung und den missbräuchlichen Propagandadiskurs über die faschistischen Kräfte hier wie dort ist Sánchez Cedillos Charakterisierung des Faschismus anhand von „generativen Matrizen“: Erlebnis des Krieges, Pathos der Nation, Legende des Verrats, Antagonismus gegenüber dem Klassen- und Geschlechterkampf, Einsatz der Kriegsmaschine als Form von Zerstörung, Tod und schwarzem Loch. Durch die in Gang gesetzten Kriegsmaschinen ist ein neuer Faschismus, der nie aus den Gesellschaften verschwunden war, erstarkt. Er nährt erneut das Pathos: das des Krieges, der Nation, des Opfers, der Kathastrophe, des Kampfes …

Den aktuellen Krieg in der Ukraine analysiert Sánchez Cedillo als bewaffnet ausgetragenen Konflikt zwischen imperialistischen Formationen und antagonistischen Hegemonien im Weltsystem. Durch deren Rhetorik und Logik werden die subjektiven und politischen Prozesse erzeugt, die faschistische Regierungsformen und Befehlsmacht wieder vorstellbar machen.

In wichtigen Exkursen untersucht Sánchez Cedillo die historischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Ukraine und Russlands im 20. Jahrhundert und wie es zu den aktuellen Akkumulationsformen der russischen und ukrainischen oligarchischen Eliten kam. Wie die autonomen Subjekte der russischen Revolutionen durch Pathologisierung der politischen Dissidenz, katastrophalen Extraktivismus, Ausplünderung der Arbeitskraft und des Planeten, Aufspaltung der Nomenklatura in oligarchische Clans, strategischen Nationalismus etc. entmachtet wurden und das nationalistische, patriarchale, homophobe Regime Putin mit seinem stalinistischen Pathos entstehen konnte. Die Ukraine wird deutlich als ein Gebiet, das durch Krieg, Faschismus, Antisemitismus, Stalinismus, Kapitalismus und Atomenergie verwüstet wurde. Der Krieg in der Ukraine wird als multidimensionaler Krieg sichtbar, der eine Periode entfesselter Gewalt in den sozialen, politischen Beziehungen auf der ganzen Welt eröffnet.

Das Narrativ des Westens, das Demokratie gleichsetzt mit neoliberaler Konterrevolution, definiert eine eurozentristische „Wertegemeinschaft“, die sich für „die Zivilisation“ schlechthin hält. Es verschweigt selbstredend, dass der Kapitalismus aus Sklaverei, Proletarisierung der bäuerlichen Lebensgrundlagen, Zerstörung der Ökosysteme, Kolonialismus, Rassismus, Segregation, Faschismen, Stalinismen etc. besteht und dass im Regime der Akkumulation von Kapital und Macht Politik und Krieg ununterscheidbar sind.

Konstruktion einer Gegenmacht

Wir müssen dem mit dem Aufbau von transnationalen Gegenmächten entgegentreten, einen Friedenprozess mit konstituierenden emanzipativen Praxen verbinden, um das Kriegsregime direkt am Ort des Kriegsschauplatzes, aber auch in den diesen Krieg unterstützenden Gesellschaften auszuhebeln. Dafür braucht es eine Praxis, die Subjekte und Kämpfe nicht trennt, sondern verbindet, so dass sie an die „Produktion des Gemeinsamen“ gehen können: ein Leben in Würde und Sicherheit auf dem Planeten Erde für alle.

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Ein Staat kann immer nur so stark sein, wie die Machtpolitiker schwach sind. 

Der Klassenkampf der Vielen ist transformatorisch und dekonstruierend, betrifft die Form der Produktion wie das Soziale und das Mentale. Es geht um ein Netzwerk von internationalen politischen und sozialen Bewegungen, um Klassenautonomie, und nicht um einen Kampf in einer nationalen und patriotischen Armee. Der nationale Diskurs ist Teil der Kriegsmaschine.

Sánchez Cedillos Plädoyer für den Pazifismus (konstituierend, revolutionär, intelligent, die Angst überwindend) richtet sich gegen die paranoiden Pole der globalen kapitalistischen Macht in Ost wie West, Nord wie Süd. Als historisches Beispiel führt er die IWW (Industrial Workers of the World) an, die zu Beginn des 20.Jahrhunderts keine nationale, sondern eine unmittelbar globale Gewerkschaft war: trans- und multinational, räteorientiert, antirassistisch, kriegsgegnerisch, revolutionär. Eine solche Ausrichtung auf die Klassenautonomie, d.h. die Fähigkeit zum Streik, zum Kampf um Arbeits- und soziale Rechte, für die Strukturen einer Gegenmacht gegen die neoliberalen Eigentumsdemokratien: das ist heute in der Ukraine wie in Russland unmöglich, und selbstverständlich in allen kapitalistischen Staaten der Welt ebenso, in gradueller Abstufung der Repression.

Für einen emanzipatorischen, transnationalen Internationalismus von Bewegungen, Gruppen und Individuen anstelle von Regierungen, Regimen, Machteliten ist der zapatistische Aufstand von 1994 ein wichtiger Bezugspunkt. Hier entstand wieder eine globale revolutionäre Politik, die den Bruch mit den staatszentrierten Projekten vollzog und die Praktiken und Diskurse der sozialen Bewegungen erneuerte.

Das digitale Zeitalter ermöglicht die vollständige Ausbeutung der menschlichen Subjektivität in der kapitalistischen Wertschöpfungskette. Körpermaschinen, die wie Prozessoren immer weiter in eine Netzwerkarchitektur integriert werden, eine maschinische Knechtschaft, in der die faschistische Ausprägung Bestandteil der zeitgenössischen Subjektivität geworden ist. Die Unterdrückung und Einbindung der Subjektivität erfolgt durch die Erzeugung existenzieller Unsicherheit, Prekarität, nukleare Bedrohung und die Erpressung durch Angst. Durch die lange Periode der Niederschlagung und Verdrängung von Klassenkämpfen erscheint der Staat als zentraler Retter, dabei ist er nur die zentrale Aufsicht über den Verteilungsmechanismus von Geldern an Unternehmen und Konzerne.

Kommunismus versteht Sánchez Cedillo als Projekt, das Gemeinsame zu konstruieren, wobei die Zwecke und Formen der Kooperation im kollektiven Handeln entstehen. Es ist also ein Kommunismus als Werden, der Schaffungsprozess einer kooperativen und kollektiven Macht, einschliesslich der gemeinsamen Erfindung von Lebensformen.

Der Kapitalismus endet, wenn die ausgebeuteten Klassen ihn begraben: durch ihre Kämpfe, Erfindungen, Strukturen der Kooperation ohne Kommando, durch Imagination und Erfahrungen. Im Prozess der Rückeroberung der Kämpfe wird es eine Explosion der Wünsche und Bedürfnisse, der Selbstorganisation und der Strukturen von Gegenmächten geben. Die emanzipativen Kämpfe richten sich auf eine Produktionsweise des Gemeinsamen gegen die kapitalistische Arbeitsteilung. Sie werden eine Heterogenisierung und Vervielfältigung hervorbringen, wie die demokratische Produktion und Bewirtschaftung der Gemeingüter gegen den Tauschwert organisiert werden können.

Das Kriegsregime ist ein Beschleuniger faschistischer Subjektivierungs-, Organisations- und Handlungsprozesse. Der Krieg ist die direkte Negation des Klassenkampfes von unten durch die Implantierung von identitären, nationalen, patriarchalen, rassistischen Narrativen. Und Klasse ist hier verstanden als ein Begriff des gesellschaftlichen Interesses und der Handlungsfähigkeit, des Antagonismus, nicht als soziologische oder kulturwissenschaftliche Kategorie.

Frieden ist Voraussetzung für jede emanzipative Politik. Frieden muss in massenhaften Akten der Kriegssabotage errungen werden. Er muss mit einem regionalen und globalen Entwurf für eine Gesellschaft ohne Krieg und Ausbeutung verbunden sein. Das ist konstituierender Frieden. Wirklichen Frieden können wir nicht durch Intervention von Staaten erwarten, denn der Staat ist eine strategische Organisation von Apparaten und Institutionen der Befehlsmacht, des Zwangs und der Hegemonie.

Der Autor schliesst mit einem Zitat von Gilles Deleuze:
„Der Glaube an die Welt ist das, was uns am meisten fehlt; wir haben die Welt völlig verloren, wir sind ihrer beraubt worden. An die Welt glauben, das heisst zum Beispiel, Ereignisse hervorzurufen, die der Kontrolle entgehen, auch wenn sie klein sind, oder neue Zeit-Räume in die Welt zu bringen, selbst mit kleiner Oberfläche oder reduziertem Volumen …“

In diesem Sinne verbreitet das Buch den Optimismus einer gemeinsamen Vernunft, ein aktives Vertrauen in unser Tun und Denkens als teilnehmende Akteurinnen und Akteure in gesellschaftlichen Veränderungen. Und darum sei dieses Buch, trotz seines etwas steifen Begriffsapparats, allen ans Herz gelegt, die sich in den herrschenden Kriegs- oder auch Antikriegsdiskursen zutiefst unwohl fühlen. Dieses Buch bricht die ewig selben, propagandistischen Narrative auf, es ermutigt zu neuen Perspektiven und zum Beharren auf der grundsätzlichen Feindschaft mit der globalen und totalen Welt des Kapitalismus.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —      Der spanische Philosoph und Aktivist Raúl Sánchez Cedillo (2. von links) an einer Lesung im März 2023 in Bergara, Spanien.

Verfasser Demonocrazy         /        Quelle      :     Eigene Arbeit      /       Datum      :      16.03.2923

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.

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Unten      —       Frontispiz des Leviathan von Thomas Hobbes, eines Grundlagenwerks zur Theorie des modernen Staates

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Nord Stream Pipelines

Erstellt von Redaktion am 23. März 2023

«Biden gab der CIA eine Cover-Up-Story in Auftrag»

President Joe Biden greets German Chancellor Olaf Scholz, Friday, March 3, 2023.

Quelle      :        INFOsperber CH.

Red. /   

Laut Seymour Hersh versorgten US- und deutsche Geheimdienste Medien mit alternativer Version zur Zerstörung von Nord-Stream-2.

upg. Die Biden-Administration tue alles, um von der Verantwortung der USA abzulenken, schreibt Investigativjournalist Seymour Hersh in einer Stellungnahme vom 22. März. Er beruft sich auf eine Quelle, die Zugang zu diplomatischen Geheimdienstinformationen habe. Nach dem Besuch von Kanzler Olaf Scholz am 3. März im Weissen Haus seien Leute des Geheimdienstes CIA gebeten worden, «in Zusammenarbeit mit dem deutschen Geheimdienst eine Titelgeschichte vorzubereiten, welche die amerikanische und deutsche Presse mit einer alternativen Version für die Zerstörung von Nord Stream 2 versorgen soll». Die CIA sollte die Darstellung widerlegen, Biden habe die Zerstörung der Pipelines angeordnet.

Ein paar Tage später machte die wenig glaubwürdige Story die Runde, eine sechsköpfige Besatzung einer gemieteten Jacht habe die drei Nord-Stream-Pipelines gesprengt. «Spuren der Täter führen in die Ukraine», titelten Medien.

Kritische Medien vermuteten schon damals, es könnte sich um ein «False Flag»-Narrativ handeln. Ein solches legt bewusst Spuren, die auf einen [falschen] Verursacher deuten. Infosperber stellte am 9. März fest: «Falls die USA zusammen mit Norwegen die Sabotage organisierten, haben die US-Geheimdienste jedes Interesse daran, falsche Fährten zu legen.»

Scholz und Biden schweigen

Als Präsident Biden am 3. März den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz in Washington empfing, gab es nur zwei öffentliche Auftritte: erstens einen kurzen Austausch von Komplimenten zwischen Biden und Scholz vor dem Pressekorps des Weissen Hauses. Fragen waren keine erlaubt. Und zweitens ein CNN-Interview mit Scholz, während dem keine Fragen zu den Pipeline-Vorwürfen gestellt wurden.

Der Bundeskanzler war ohne Pressebegleitung nach Washington geflogen. Und dort wollten die beiden Staats- und Regierungschefs keine Pressekonferenz abhalten, wie es bei solchen Treffen üblich ist.

Gemäss Hersh sei später berichtet worden, dass Biden und Scholz ein 80-minütiges Treffen hatten, die meiste Zeit ohne Berater.

Biden gab keinen Auftrag zur Abklärung des Terrorakts bekannt

Die Medien in Washington hätten sich mit den «Pro-forma-Dementis» des Weissen Hauses zufriedengegeben. Kein Journalist habe den Pressesprecher je gefragt, «ob Biden das getan hat, was jeder ernstzunehmende Regierungschef tun würde: den US-Geheimdienst formell beauftragen, eine gründliche Untersuchung mit allen seinen Mitteln durchzuführen und herauszufinden, wer die Tat in der Ostsee begangen hat». Hersh zitiert eine Quelle innerhalb der Geheimdienstgemeinschaft, wonach der Präsident dies nicht tat und auch nicht tun werde. «Warum nicht?», fragt Hersh. «Weil er die Antwort kennt.»

Unter dem Titel «How America Took Out The Nord Stream Pipeline» hatte Hersh am 8. Februar beschrieben, wie die USA die Geheimaktion von langer Hand vorbereitet und dann zusammen mit norwegischen Spezialeinheiten durchgeführt haben sollen.

Es sei Präsident Biden gewesen, der die mysteriöse Zerstörung der neuen 11-Milliarden-Dollar-Pipeline anordnete.

Die Medien in den USA hätten seine Recherchen nahezu totgeschwiegen, sagt Hersh. Nach dem Besuch von Olaf Scholz in Washington hätten Geheimdienste der USA und Deutschlands dafür gesorgt, dass eine falsche Verdachtsstory zur New York Times und zur deutschen Wochenzeitung Die Zeit gelangt, um den Verdacht zu entkräften, dass Biden und US-Agenten für die Zerstörung der Pipelines verantwortlich waren.

Deutschland und Europa mit hohen Gaspreisen konfrontiert

Sarah Miller, eine Energieexpertin und Redaktorin bei Energy Intelligence erklärte Hersh in einem Interview, warum seine Recherchen in Deutschland und Westeuropa für Schlagzeilen sorgten: «Die Zerstörung der Nord Stream-Pipelines erhöhte die Erdgaspreise, die das Sechs- oder Mehrfache des Vorkrisenniveaus erreichten.» Einen Monat nach dem Sabotageakt hätten die Preise das Zehnfache des Vorkrisenniveaus erreicht, mit Folgen für die Strompreise. Regierungen hätten schätzungsweise bis zu 800 Milliarden Euro ausgegeben, um Haushalte und Unternehmen vor den Auswirkungen zu schützen.

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Aufgrund des milden Winters in Europa seien die Gaspreise zwar etwa auf einen Viertel des Höchststandes vom Oktober zurückgegangen, lägen aber immer noch zwei- bis dreimal so hoch wie vor der Krise. Und sie seien mehr als dreimal so hoch wie die aktuellen Preise in den USA. Europa bemühe sich um den Aufbau von Solar- und Windenergiekapazitäten, aber es könne sein, dass diese nicht schnell genug realisiert seien, um grosse Teile der deutschen Industrie zu retten.

Die Vermutung von Seymour Hersh: Die USA hätten die Nord-Stream-Pipelines zerstört, damit Kanzler Scholz keine Wahl mehr habe und über die Pipelines endgültig kein Gas mehr von Russland beziehen könne.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.

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Grafikquellen        :

Oben      —     President Joe Biden greets German Chancellor Olaf Scholz, Friday, March 3, 2023, in the Oval Office of the White House. (Official White House Photo by Adam Schultz)

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Kein Deutsches schämen

Erstellt von Redaktion am 22. März 2023

Deutsch-israelische Beziehungen

Gegen Israel ist keine Kritik erlaubt, sagt der Deutsche Jagdschein.

Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Schuld und Universalismus. –  Israels Demokratiebewegung setzt auch auf deutsche Rückendeckung. Bedenken als Nachfahren der Täter sollten uns dabei nicht im Weg stehen.

Nun gab es also eine jüdisch-israelische Protestkundgebung in Berlin, klein, bunt und laut, wie zuvor in anderen Städten der Welt. Nur ist in Deutschland eben nichts wie anderswo, wenn es um Israel geht. Um mit dem Subjektiven zu beginnen: Kann sich eine nichtjüdische Deutsche am Protest gegen Rechtsextremismus in Israel beteiligen? Antworten, die ich hörte, reichten von „auf keinen Fall“ bis „ja, klar“.

Gleiche, universelle Werte zu postulieren, jenseits von Herkunft, ist hier ungleich schwieriger als in der Gegnerschaft zu Autoritarismus anderswo, in Gestalt von Trump, Orbán oder Erdoğan. Die Nachkommen der Täter sollen sich gegenüber den Nachkommen der Opfer nicht als Lehrmeister in Demokratie aufspielen – die Ermahnung hallt weiter nach.

Und am Ort des Geschehens, dem Pariser Platz zu Berlin, genügte ein Blick auf einige der handgemalten Plakate, um zu wissen: Sprecherposition hat Bedeutung. Das Schild „We know what fascism can do“, sollte ich eher nicht tragen. Es gab allerlei NS-Anspielungen; sie reflektierten die Inanspruchnahme des moralischen Kapitals der Holocaust-Erinnerung durch den Gegner, Netanjahu & Co., wie auch den (deutschen) Ort des Geschehens. Ich fand da für mich keinen adäquaten Platz.

Vielmehr warf die Erfahrung dieses Tages einen Strauß von Fragen auf, die um die Begriffe Schuld und Universalismus kreisen. Was sagt uns die vielzitierte Lehre aus der Geschichte, wenn es um ein vibrierendes jüdisches Anliegen der Gegenwart geht? Lähmt uns richtigerweise ein Schuldgefühl, bindet es Deutschen die Hände – oder ist das nur eine billige Ausrede?

Palästinensisch-jüdischer Dialog

Weil es unbequemer wäre, sich der universalistischen Herausforderung zu stellen und von Israel Demokratie und Menschenrechte für alle, Juden wie Palästinenser, zu fordern? Letztere waren auf dem Pariser Platz nur Randfiguren, sollten eher unsichtbar sein, damit die Kundgebung nicht in Verdacht geriete, antiisraelisch zu sein. Die Sorge ist einerseits verständlich – hier trat eine jüdische Zivilgesellschaft in Aktion, ohne das Dach der Gemeinde und jenseits der sonst sorgfältig abgesteckten Grenzen, folglich angreifbar. Da war Vorsicht berechtigt.

Andererseits spiegelt diese Vorsicht wiederum ein sehr deutsches Setting. Selbst nachdem führende israelische Militärs den Siedler-Angriff auf die Ortschaft Huwara ein Pogrom nannten, gelten Palästinenser bei uns nicht als Stimme Betroffener und Gefährdeter, nicht als rechtmäßig Beteiligte am öffentlichen Diskurs. In den USA spricht dieser Tage der palästinensische Rechtsphilosoph Raef Zreik an der Universität Harvard zur israelischen Verfassungskrise, in Dialog mit dem jüdischen Juristen Noah Feldman.

Warum ist dergleichen hier so schwer denkbar? Will dafür ernsthaft jemand die deutsche Schuld bemühen? Bevor Kanzler Scholz und sein Gast Netanjahu am Deportationsmahnmal Gleis 17 des S-Bahnhofs Grunewald der Schoah-Opfer gedachten, waren dort, mit weißen Rosen, Protestbotschaften hinterlegt worden: Die Holocaust-Erinnerung nicht für politische Zwecke missbrauchen!

Beschämendes Schweigen

Einer der Beteiligten, der israelische Historiker Arie Dubnov, erklärte gegenüber der Zeitung Haaretz, die Zeremonie an Gleis 17 verleihe dem unkoscheren Besuch Netanjahus einen koscheren Anstrich. Eben noch ein Angeklagter, der daheim ein Verräter genannt wird, ein Spalter und Zerstörer seines Landes, stand er hier nun als unanfechtbarer Repräsentant der Opfer. Was, wenn demnächst noch schlimmere Gestalten seines Kabinetts auf solch einem Gedenkakt bestehen?

Deutsche Politiker-innen führen bei ihren besuchen immer ihre eigene Staatsräson mit sich

Die deutsche Politik steckt in einem hausgemachten Dilemma fest: schon zu lange Schoah-Verantwortung und die Haltung zu israelischem Regierungshandeln nicht getrennt zu haben. Darauf ist der ganze Apparat, die gesamte Diplomatie geeicht. Gewiss, umsteuern ist möglich, aber unter Beachtung eines Risikos: Das Israel-Bild in deutschen Meinungsumfragen ist seit Langem kritischer, negativer als bei der Elite, bis hin zu jenen 20 Prozent mit dezidiert antisemitischen Überzeugungen. Und diese Marke steigt bei akuten politischen Konflikten.

Die Angst von Juden und Jüdinnen in Deutschland, dass negative Schlagzeilen über Israel sie selbst gefährden könnten, ist also ernst zu nehmen. Aber wäre es dem Kampf gegen Antisemitismus nicht gerade dienlich, wenn das Verhältnis zu den verschiedenen Kräften im heutigen Israel und ihre jeweilige Bedeutung für die Erinnerungskultur demokratisch verhandelt würde? Die jetzige Situation erzwingt das geradezu, mit allen neuen, schwierigen Facetten.

Die prodemokratische Bewegung in Israel erwartet von Deutschland ein Signal des Beistands. Darüber sollte der Bundestag debattieren, ohne Fraktionszwang und jenseits üblicher Floskelstarre. Oder ist die moralische Trägheit zu groß, um zum Thema deutsche Verantwortung einmal eigene, frische Gedanken zu formulieren? In der Zivilgesellschaft gibt es genug antifaschistisch motivierte Kräfte, um eine solche Debatte einzufordern. Das deutsche Schweigen als Antwort auf die Rufe aus Tel Aviv, Haifa und Jerusalem ist beschämend.

Quelle         :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen 

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Banken und Politik

Erstellt von Redaktion am 22. März 2023

Die Silicon Valley Bank als das schwächste Glied

Der Hauptsitz der Silicon Valley Bank in Santa Clara, Kalifornien (2023).

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Die aktuellen Verwerfungen in der Finanzsphäre bilden nur das jüngste Kapitel der spätkapitalistischen Systemkrise.

Auf ein Neues? Der Zusammenbruch der Hausbank der IT-Industrie, der kalifornischen Silicon Valley Bank (SVB),1 scheint auf den ersten Blick eine neue Finanzkrise einzuleiten, die Erinnerungen an den Zusammenbruch der transatlantischen Immobilienblase in den Jahren 2007-09 wachruft.2 Mit dem kurz zuvor in Abwicklung übergegangenen Finanzinstitut Silvergate Capital, das sich auf Kryptowährungen spezialisierte, sowie der ebenfalls strauchelnden Signature Bank, droht dem gesamten Finanzsystem ein Flächenbrand, der durch eine umfassende Intervention der US-Politik – die in den vergangenen Jahrzehnten reichlich Erfahrungen beim Krisenmanagement sammeln konnte – abgewendet werden soll.3

Diese Bankenkrise schien somit zuerst vor allem Geldinstitute mit Verbindungen zur IT-Branche zu erfassen. Die SVB spezialisierte sich darauf, Startups der kalifornischen Technikbranche zu finanzieren. Die Bank geriet in Schieflage, nachdem sie Verluste im Umfang von 1,8 Milliarden Dollar beim Verkauf von Wertpapieren akkumulierte.4 Nachdem eine Notkapitalerhöhung gescheitert war und die Bank faktisch zahlungsunfähig wurde, übernahm die Absicherungs- und Aufsichtsbehörde „Department of Financial Protection and Innovation (FDIC) die Kontrolle über das Finanzinstitut. Die Krypto-Bank Silvergate Capital, die ebenfalls neue Technikunternehmen finanzierte, befindet sich ebenso in Liquidation.

US-Präsident Joe Biden und Finanzministerin Janet Yellen gaben sich in ersten öffentlichen Reaktionen alle Mühe, die derzeitigen Krisenmaßnahmen von der Herangehensweise Washingtons nach dem Platzen der Immobilienblase 2008 klar abzugrenzen.5 Yellen schloss eine staatliche Rettung der betroffenen Banken, ähnlich den berüchtigten Bailouts während der Finanzkrise 2008, in einem Fernsehinterview kategorisch aus. Das Bankensystem sei wirklich sicher und widerstandsfähig, erklärte die Finanzministerin unter Verweis auf die Finanzmarktreformen und zusätzlichen Regelungen, die in Reaktion auf die Finanzkrise 2008 implementiert worden sind – obwohl die Trump-Administration einen Teil dieser Regelungen wieder ausgesetzt hat.6

Präsident Biden versicherte in einer Ansprache, dass die US-Bürger sich auf ihr Finanzsystem verlassen könnten, da alle Bankkunden Zugang zu ihren Ersparnissen erhalten würden. In den Vereinigten Staaten sichert die FDIC Einlagen bis zu 250.000 US-Dollar ab, doch Biden kündigte an, alle Bankguthaben in unbegrenzter Höhe abzusichern und deren Auszahlung zu garantieren. Hierdurch will Washington offensichtlich einen Bankensturm verhindern. Der US-Präsident versprach, dass dem Steuerzahler infolge dieser Krisenmaßnahmen keinerlei Kosten entstehen würden, da der Einlagensicherungsfonds, in den die Finanzinstitute einzahlen, hierfür verantwortlich sei. Die Investoren hingegen, die in die betroffenen Finanzinstitute Kapital investiert hätten, seien ein Risiko angegangen und müssten nun ihre Verluste tragen. Das Management der in Abwicklung übergehenden Banken solle zudem entlassen werden, so der US-Präsident.

Die konkreten Krisenmaßnahmen Washingtons fallen indes bei Weitem nicht so populistisch aus, wie es der US-Präsident bei seiner Ansprache versprach. Washington muss dem strauchelnden Bankensektor irgendeine Art von Rettungsanker zuwerfen, um eine unkontrollierbare Eskalation zu vermeiden, wie sie nach der Pleite der Großbank Lehman Brothers 2008 in Form des “Einfrierens” der Finanzsphäre sich entfaltete (Die Kreditvergabe im Interbankenhandel kam damals nahezu zum Erliegen, da die Finanzmarktakteure sich untereinander nicht mehr trauten).7

File:Silicon Valley Bank, Temple, Arizona.jpg

Die Rettungsschnur, die von der Krisenpolitik diesmal dem zerrütteten spätkapitalistischen Finanzsektor zugeworfen wird, trägt den klangvollen Namen Bank Term Funding Program (BTFP).8 Im Kern handelt es sich hierbei um ein Kreditprogramm der US-Notenbank, im Rahmen dessen Banken auch bei manifesten Marktturbulenzen gegen Sicherheiten schnell mit Notkrediten versorgt werden sollen, um Zahlungsausfälle und Liquiditätsengpässe im Finanzsektor zu verhindern. Als Sicherheiten sollen von den Banken vor allem Staatsanleihen, aber auch hypothekenbesicherte Wertpapiere hinterlegt werden können. Der Clou an der ganzen Sache: die Papiere sollen zu ihrem Nennwert, nicht zu ihrem derzeitigen Marktwert als Sicherheiten fungieren.9 Für gewöhnlich müssen Banken ihre Wertpapiere zum Marktwert als Sicherheit hinterlegen, wenn sie von der Notenbank zusätzliche Liquidität erhalten wollen. Die Notenbank setzt somit faktisch den Marktmechanismus außer Kraft, um den zerrütteten Finanzsektor zu stabilisieren. Überdies können Banken das als Diskontfenster bezeichnete Krisenprogramm der Notenbank nutzen, bei dem Anleihen ohne die üblichen Abschläge als Sicherheiten für Kredite hinterlegt werden können.

Staatsanleihen werden, ähnlich wie Aktien, zu einem Marktwert gehandelt, der von ihrem Nennwert bei deren Begebung abweichen kann. Zinsentwicklung und Marktwert der Staatsanleihen verhalten sich dabei umgekehrt proportional. Bei sinkenden Zinsen steigen die Kurse der Anleihen. Umgekehrt verhält es sich bei einem steigenden Zinsniveau, bei dem die Anleihekurse sinken. Und dies ist ja auch logisch: Anleihen, die in einer Phase von Niedrigzinsen begeben worden sind, verlieren aufgrund ihrer niedrigeren Verzinsung in einer Hochzinsphase an Marktwert. Und genau diese Hochzinsphase, die die Notenbanken zwecks Inflationsbekämpfung angeleitet haben, hat zu einem massiven Wertverlust von Staatsanleihen geführt.

Abweichungen zwischen Nennwert und Marktwert von Staatsanleihen sind so lange unproblematisch, wie diese nicht vorzeitig veräußert werden müssen. Staatsanleihen werden ja für gewöhnlich als sichere Anlagen für niedrig verzinste, langfristige Investitionen verwendet. Problematisch wird es nur, wenn Banken aufgrund von Liquiditätsengpässen diese Wertpapiere vorzeitig in einer Hochzinsphase abstoßen müssen. Bei der im Silicon Valley tätigen SVB, wo besonders viele Unternehmen unter der Hochzinspolitik der Fed leiden und überdurchschnittlich oft auf ihre Einlagen zurückgreifen müssen, war gerade dies der Fall. Es waren somit verlustreiche Notverkäufe von US-Staatsanleihen,10 die zur Pleite der SVB führten. Gerüchte über Liquiditätsprobleme bei der IT-Bank lösten dann einen Bankensturm aus, bei dem Kunden binnen eines Tages 42 Milliarden Dollar abhoben.11

Die kalifornische IT-Bank bildete somit nur das schwächste Glied in einem labilen Finanzsektor, da sehr viele Finanzinstitute sich in einer ähnlichen Zwangslage befinden. Sie halten Unmengen von Staatsanleihen in ihren Bilanzen, die aufgrund der Inflationsbekämpfung der Notenbanken rasch an Wert verlieren. Wie groß ist das Problem? Die potenziellen Verluste bei Anleihen, die durch die zunehmende Diskrepanz zwischen Nennwert und Marktwert entstehen könnten, summieren sich laut der Financial Times gegenwärtig allein in den USA auf rund 600 Milliarden Dollar.12

Inzwischen zeichnen sich weitere Krisenkandidaten ab, wie etwa die US-Bank First Republic, die von mehreren Großbanken mit einer Liquiditätsspritze von 30 Milliarden Dollar stabilisiert werden musste.13 Zugleich griffen US-Banken massiv auf die Krisenkreditprogramme der US-Notenbank zurück. Die Fed pumpte über ihr Diskontfenster in einer Woche 152 Milliarden Dollar in den Finanzsektor, womit der bisherige wöchentliche Rekordwert von 111 Milliarden, kurz nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers 2008 erreicht, klar überboten wurde.14 Zum Vergleich: in der Woche vor der Pleite der Silicon-Valley-Bank haben US-Finanzhäuser nur 4,58 Milliarden Dollar über das Diskontfenster der Fed beansprucht.

Somit sind die massiven Wertverluste von Bankaktien in den vergangenen Tagen nur Ausdruck des akkumulierten Krisenpotentials, das zu einer entsprechenden Kapitalflucht führt. Der drohende Bankrott der Credit Suisse zeigt überdies, dass dieses latente Krisenpotenzial nicht auf die USA beschränkt ist. Die Aktien des angeschlagenen Schweizer Bankhauses sind regelrecht eingebrochen, es leidet unter massivem Kapitalabfluss,15 sodass es sich genötigt sah, bei der Schweizer Notenbank um ein “Zeichen der Unterstützung” zu ersuchen.16 Die Schweizer Währungshüter ließen sich nicht lumpen: 50 Milliarden Franken werden in das marode Finanzhaus gepumpt, um es vorläufig zu stabilisieren. Auch bei der eidgenössischen Nobelbank handelte es sich gewissermaßen um ein angeschlagenes Finanzinstitut, das im Gefolge einer Reihe von Skandalen und schlichten kriminellen Machenschaften schon vor einiger Zeit in schweres Fahrwasser geriet.

Damit scheint sich ein wichtiger Unterschied zwischen den gegenwärtigen Verwerfungen und dem Krisenschub von 2007-09 abzuzeichnen. Die große transatlantische Immobilienspekulation ging ja mit der massenhaften Emittierung zwielichtiger Subprime-Hypothekenverbriefungen einher, die nach dem Platzen der Blase ab 2007 sich als toxisch erwiesen und das Weltfinanzsystem gefährdeten. Diesmal sind es biedere, als risikolos geltende Staatsanleihen, die den betroffenen Banken zum Verhängnis zu werden drohen. Diese Papiere werden nicht zwecks Spekulation gekauft, wie es bei den zu “Wertpapieren” gebündelten Hypotheken während der Immobilienblase der Fall war, sondern als Sicherheiten – gerade in unsicheren Zeiten.

Und dennoch: Eigentlich handelt es sich bei diesem jüngsten „Finanzbeben“ bloß um das neuste Kapitel eines lang anhaltenden, systemischen Krisenprozesses,17 bei dem sich latente und manifeste Stadien abwechseln.18 Der starke Wertverfall bei Staatsanleihen ist einfach darauf zurückzuführen, dass sehr viele dieser Wertpapiere in einer lang anhaltenden Phase sehr niedriger Zinsen emittiert worden sind. Mit kurzen Unterbrechungen befand sich das Weltfinanzsystem seit 2008, seit dem Platzen der Immobilienblasen in den USA und der EU, in einer historisch einmaligen Nullzinsphase. Mit dieser Politik des „billigen Geldes“ haben die Notenbanken die Finanzsphäre stabilisiert, wobei die Nullzinspolitik mit umfassenden Aufkäufen von Schrottpapieren, den erwähnten, „toxischen“ Hypothekenverbriefungen, einherging.

Die Notenbanken sind somit zu Sondermülldeponien des Weltfinanzsystems verkommen, was an ihren aufgeblähten Bilanzen ersichtlich wird. Die EZB und die Fed haben in den vergangenen Jahren Wertpapiere im Billionenumfang aufgekauft,19 und somit faktisch Geld gedruckt. Diese „Liquidität“ der Notenbanken führte zur Ausbildung einer entsprechenden Liquiditätsblase,20 was die Weltwirtschaft stabilisierte und den Boom in der Finanzsphäre befeuerte, der in seiner überhitzten Endphase zu Absurditäten wie der Schwarmspekulation mit Meme-Aktien wie Gamestop21 führte. Die Krisenpolitik, mit der die Folgen der Immobilienblase bekämpft worden sind, legte somit die Grundlagen für die kommende Spekulationsdynamik.

Zudem wurden von den Notenbanken zunehmend schlicht Staatsanleihen aufgekauft, um die Defizitfinanzierung der Staaten – insbesondere in den USA und der Eurozone – zu ermöglichen. Staatsanleihen bilden das Rückgrat der Finanzsphäre, der „Markt“ dafür ist gigantisch, da die Staaten sich in den vergangenen Krisenschüben immer weiter verschulden mussten, um mittels Konjunkturprogrammen und sonstiger Krisenmaßnahmen das spätkapitalistische Weltsystem vor dem Kollaps zu bewahren. Allein der schon seit Monaten kriselnde Markt für US-Treasuries,22 der laut Financial Times unter latentem Liquiditätsentzug leidet (vulgo: Niemand will das Zeug kaufen), umfasst Papiere im Nennwert von rund 23,5 Billionen US-Dollar (Das sind 23 500 Milliarden!). Der aktuell drohende Krisenschub ist somit weitaus gefährlicher, als es den Anschein hat, da nun gewissermaßen das Fundament des Weltfinanzsystems, die Märkte für Staatsschulden der Zentrumsstaaten, brüchig geworden ist. (Näheres siehe: „Schuldenberge in Bewegung“)23

Und das ist eigentlich der springende Punkt: Es gibt hinsichtlich der konjunkturellen Auswirkungen keinen fundamentalen ökonomischen Unterschied zwischen den zwielichtigen Hypothekenverbriefungen aus der Ära der großen transatlantischen Immobilienspekulation und den drögen Staatspapieren, die nun dem Finanzsektor Probleme bereiten. Ob nun der private Sektor Subprime-Hypotheken aufnimmt, um hierdurch die Bauwirtschaft anzukurbeln und die Konjunktur zu befeuern, oder ob Staaten sich verschulden, um durch ihre Konjunkturprogramme und Investitionen die tolle „Wirtschaft“ am Leben zu halten, ist in dieser Hinsicht einerlei. In beiden Fällen wird Nachfrage im Hier und Jetzt generiert, wobei der Kredit einen Vorgriff auf künftige Kapitalverwertung darstellt. Der Hypothekennehmer muss seine Hypothek samt Zinsen genauso abstottern wie der Staat, vermittelst Steueraufkommen, seine Staatsanleihen bedienen muss. Wenn dies nicht mehr realistisch erscheint, dann platzen Spekulationsblasen, die entsprechenden Schuldenberge drohen einzustürzen – und es kommt zu Finanzkrisen.

Die immer wiederkehrenden Finanzkrisen sind somit Ausdruck eines krisengeplagten spätkapitalistischen Weltsystems, das zunehmend schlicht auf Pump läuft. Seit der Durchsetzung des Neoliberalismus in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts, die nur möglich war in Reaktion auf die Stagflationskrise der 70er,24 steigt die globale Verschuldung viel schneller an als die Weltwirtschaftsleistung.25 Gewissermaßen ist der Kapitalismus, der auf der Verwertung von Arbeitskraft in der Warenproduktion basiert, zu produktiv für sich selbst geworden; das System erstickt an seiner Produktivität, es fehlt ihm seit dem Aufkommen der IT-Industrie in den 80ern ein neues Akkumulationsregime, bei dem Lohnarbeit profitabel verwertet werden könnte. Die Produktivkräfte sprengen hierbei gewissermaßen die Fesseln der Produktionsverhältnisse, um Marx zu paraphrasieren.

Das Aufkommen eines globalisierten, neoliberalen Finanzmarktkapitalismus mitsamt einer regelrechten Finanzblasenökonomie ist somit eine Systemreaktion auf diese innere Schranke des Kapitals (Robert Kurz), das durch immer weitere Konkurrenz vermittelst Rationalisierung sich seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Arbeit in der Warenproduktion, entledigt. Die fehlende Nachfrage wird hierbei gewissermaßen auf Pump generiert, was immer größere Instabilitäten und die an Intensität zunehmenden Krisen mit sich bringt. Bei diesem historischen Verschuldungs- und Krisenprozess spielen die Staaten als Krisenmanager eine immer wichtigere Rolle. Zum einen vermittelst der vielfachen Konjunkturprogramme, wie auch durch die Aufkäufe von Staatsanleihen und sonstigen Wertpapieren durch die Notenbanken, mit denen die Finanzsphäre stabilisiert und faktisch Geld gedruckt wurde. Die expansive Geldpolitik der Notenbanken ermöglichte die Ausbildung der entsprechenden Liquiditätsblase, bei der die in die Märkte gepumpte Liquidität zu einer Inflation der Wertpapierpreise führte. Bis die Inflation in der realen Wirtschaft kam.26

Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine fungierten letztendlich als äußere Trigger, die diese durch die lockere Geldpolitik der Notenbanken aufgepumpte Liquiditätsblase zum Platzen brachten. Die derzeitige Inflation speist sich somit aus mehreren Quellen: neben der Explosion der Preise für Energieträger im Gefolge des Ukraine-Krieges, den inflationären Folgen der voll einsetzenden Klimakrise (vor allem bei Nahrungsmitteln) und den Versorgungsengpässen während der Pandemie, ist der Preisauftrieb auch auf die Gelddruckerei der vergangenen Jahre zurückzuführen, die nach dem Platzen der Everything-Bubble in der Finanzsphäre sich nun in Form der reellen Teuerung manifestiert.27

Die Geldpolitik sah sich somit zu einem Kurswechsel genötigt, um die Inflation bekämpfen zu können. Die Zinsen wurden sukzessive angehoben, zumindest in den USA wurden die Anleiheaufkäufe durch die Notenbank zurückgeschraubt. Dass diese Politik des knappen Geldes, isoliert betrachtet, einigermaßen erfolgreich war, belegen die jüngsten Inflationszahlen aus den USA, wo die Teuerung inzwischen auf sechs Prozent gesenkt werden konnte – vor wenigen Monaten drohte den Vereinigten Staaten noch eine zweistellige Inflationsdynamik. Die mit 5,5 Prozent nur unwesentlich niedrigere Kerninflationsrate, bei der die Preise für Energieträger und Nahrungsmittel herausgerechnet werden, verdeutlicht überdies, dass der Preisauftrieb nicht nur durch die Schocks im Gefolge des Ukraine-Krieges und der Pandemie befeuert wird.28

Mit der Inflationsbekämpfung wurde aber zugleich der Finanzsphäre die Liquidität abgeschnitten und die im Spätkapitalismus systemisch notwendige Defizitbildung erschwert. Salopp gesagt, kann das System jetzt nicht mehr so einfach auf Pump laufen (Im vergangenen Jahr ist das globale Verschuldungsniveau sogar deutlich zurückgegangen, wie der IWF meldete.).29 Wenige Monate nach der großen geldpolitischen Wende zu einer restriktiven Geldpolitik befindet sich somit die Finanzsphäre wieder am Rande einer ausgewachsenen Bankenkrise, was nur auf den oben skizzierten, systemisch notwendigen Verschuldungszwang des hyperproduktiven spätkapitalistischen Weltsystems verweist.

Dieser Verschuldungszwang des krisengeplagten Spätkapitalismus lässt sich ganz konkret anhand der Bilanzen der Notenbanken nachvollziehen, die, wie dargelegt, immer mehr Wertpapiere und Staatsanleihen aufkaufen mussten, um durch diese indirekte Gelddruckerei das Weltfinanzsystem zu stabilisieren. Mit dem Aufkommen der Inflation und der geldpolitischen Wende zu einer Hochzinspolitik sollte damit Schluss sein. die Bilanzsumme der US-Notenbank ist in der Tat innerhalb der letzten Monate rasch zurückgegangen, da kaum noch neue Anleihen und Wertpapiere aufgekauft wurden. Die Bilanzsumme der Fed sank von ihrem Mitte 2022 erreichten Höchstwert von knapp neun Billionen US-Dollar auf 8,3 Billionen. Doch nach der Bankpanik der vergangenen Tage musste im Rahmen der oben geschilderten Krisenprogramme wieder massiv Liquidität in die Märkte gepumpt werden, sodass die Bilanz der Fed auf mehr als 8,6 Billionen anschwoll. Wenige Krisentage reichten somit aus, um Monate des graduellen Abbau der langsam auslaufenden Wertpapiere in der Notenbankbilanz zu revidieren. Die Notenbanken werden ihre Funktion als Sondermülldeponieren des spätkapitalistischen Finanzsystems einfach nicht los.30

In dieser sich immer deutlicher abzeichnenden geldpolitischen Sackgasse manifestiert sich die langfristige Ausweglosigkeit kapitalistischer Krisenverwaltung. Es ist eine regelrechte Krisenfalle,31 in der sich die Geldpolitik befindet, die faktisch nur den weiteren Weg in die unausweichliche Krisenentfaltung bestimmen kann: Deflation oder Inflation? Entweder lässt man der Inflation freien Lauf, um Konjunktur und Finanzmärkte zu stabilisieren, oder man wählt den Weg der Deflation, der mit einem Finanzmarktbeben eingeleitet würde – wovor etwa das Wall Street Journal jüngst warnte.32

Diese Aporie kapitalistischer Krisenpolitik,33 die nur auf die innere Schranke des an seiner Produktivität erstickenden Kapitalverhältnisses verweist, konnte bislang durch den anhaltenden globalen Schuldenturmbau überbrückt werden, dem die aktuellen Inflationsschübe nun ein Ende zu setzen drohen. Die Politik kann somit letztendlich nur die Form der unausweichlich anstehenden Entwertung des Werts bestimmen: entweder über den Weg der Inflation, der das Geld als allgemeines Wertäquivalent entwerten würde, oder über den Weg der Deflation, bei dem Kapital in seinen konstanten (Fabriken, Maschinen, Produktionsstandorte) und variablen Aggregatzuständen (Lohnarbeitende) entwertet würde.

https://www.patreon.com/user?u=57464083

https://konicz.substack.com/

1 https://www.ft.com/content/b556badb-8e98-42fa-b88e-6e7e0ca758b8

2 https://www.konicz.info/2007/03/05/vor-dem-tsunami/

3 https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-03/usa-silicon-valley-bank-janet-yellen-signature-bank-notenbank?utm_referrer=https%3A%2F%2Fnews.google.com%2F

4 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/finanzen/kursrutsch-cryptobanken-101.html

5 https://www.dw.com/de/us-regierung-sichert-einlagen-bei-pleite-banken/a-64964942

6 https://edition.cnn.com/2023/03/14/politics/facts-on-trump-2018-banking-deregulation/index.html

7 https://www.konicz.info/2009/09/11/produkt-der-krise/

8 https://www.ft.com/content/72c25414-aabe-432a-a785-a8b2bd6887f9

9 https://www.finanzen.net/nachricht/zinsen/mitteilung-us-notenbank-fed-wirft-rettungsleine-aus-kreditlinie-soll-banksystem-stabil-halten-yellen-optimistisch-biden-verspricht-einlagensicherheit-12249312

10 https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-03/usa-silicon-valley-bank-janet-yellen-signature-bank-notenbank/seite-2

11 https://edition.cnn.com/2023/03/14/tech/viral-bank-run/index.html

12 https://www.ft.com/content/5e444ba2-0afc-49e8-bfec-5fc17ef7ee39

13 https://www.faz.net/aktuell/finanzen/us-banken-stuetzen-first-republic-bank-mit-30-milliarden-dollar-18754703.html

14 https://www.manager-magazin.de/unternehmen/banken/bankenkrise-fed-gibt-ueber-notfallprogramme-derzeit-mehr-geld-aus-als-nach-lehman-pleite-a-ef292d06-47de-40eb-b8ee-e5ebb999d2db

15 https://www.ft.com/content/85f6768d-0a01-41a3-8925-1c636d3f7dbc

16 https://www.ft.com/content/0324c5a6-cecd-4fb3-85b3-7cdc99a33e4e

17 https://www.konicz.info/2021/11/16/zurueck-zur-stagflation/

18 https://www.konicz.info/2019/01/28/die-urspruenge-der-krise/

19 https://www.konicz.info/2022/12/09/geldpolitik-vor-dem-bankrott/

20 https://www.konicz.info/2015/08/26/die-grosse-liquiditaetsblase/

21 https://www.konicz.info/2021/01/30/hedge-fonds-gamestop-und-reddit-kleinanleger-die-grosse-blackrock-bonanza/

22 https://www.ft.com/content/bc7271f9-a0aa-4643-bed3-40d2d5ec80d1

23 https://www.konicz.info/2022/07/22/schuldenberge-in-bewegung/

24 https://www.konicz.info/2021/11/16/zurueck-zur-stagflation/

25 https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2022/12/12/riding-the-global-debt-rollercoaster

26 https://www.konicz.info/2021/08/08/dreierlei-inflation/

27 https://www.konicz.info/2022/09/03/the-walking-debt/

28 https://edition.cnn.com/2023/03/14/economy/cpi-inflation-february/index.html

29 https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2022/12/12/riding-the-global-debt-rollercoaster

30 https://www.federalreserve.gov/monetarypolicy/bst_recenttrends.htm

31 https://www.konicz.info/2022/12/09/geldpolitik-vor-dem-bankrott/

32 https://www.wsj.com/articles/bank-failures-like-earlier-shocks-raise-odds-of-recession-beb1e376

33 https://www.konicz.info/2011/08/15/politik-in-der-krisenfalle/

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 22. März 2023

Immer diese Verbotsparteien

KOLUMNE VON – Silke Mertins

Unionsparteien gegen Tempolimit. –  Die CDU will kein Gendern an Schulen, keine Abtreibungen, kein Tempolimit – und Kiffen schon gar nicht. Wie gut, dass sie nicht mehr regiert.

Die Minderjährige, die zu meiner Infektionsgemeinschaft gehört, findet mich übellaunig. Ich stelle hierzu fest: Es stimmt. Die Pandemie ist vorbei, die Testzentren geschlossen und die Masken entsorgt. Nur das Corona­virus scheint die politische Beschlusslage nicht mitbekommen zu haben und hat eines der wenigen Exemplare Mensch angefallen, die sich bisher der kollektiven Krankheitserfahrung entzogen haben: mich.

In der unmittelbaren Folge muss man sich als Vegetarierin nicht nur mit Hühnersuppe auseinandersetzen, die einem ungefragt von allen Seiten kredenzt wird, sondern auch mit Sorgen, für die man normalerweise keine Zeit hat. Ich sorge mich insbesondere um die Union. Wie gefährlich ist es für die Demokratie in unserem Land, wenn CDU und CSU beständig als übellaunige Verbotspartei auftreten?

Gendern in Schulen beispielsweise gehört nach Ansicht der Union verboten. Denn wo kämen wir hin, wenn Schü­le­r*in­nen selbst bestimmen könnten, wie gendergerecht sie schreiben wollen?, fragen sich die C-Parteien. Zu einer freiheitlichen Demokratie gehöre schließlich nicht, dass Halbstarke ihren eigenen Willen entwickeln. Obwohl mir Letzteres persönlich auch schwer auf die Nerven geht, ist die Ideologie, mit der die Union an das Thema Gendern herangeht, doch überaus besorgniserregend.

Natürlich würden CDU-Chef Friedrich Merz und sein bayrischer Bierzelt-Cowboy Markus Söder auch gern den Klimawandel untersagen. Weil das bisher nicht gelungen ist, würden sie gern die „Letzte Generation“ verbieten oder wenigstens vom Verfassungsschutz als „extremistisch“ einstufen und mit geheimdienstlichen Mitteln beobachten lassen. Wen kümmert es, dass der Präsident des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, das diese Woche ausdrücklich ablehnte?

Überholte Wertvorstellung

Auch ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen steht für die Union auf der Verbotsliste sehr weit oben. Es kostet zwar nichts und könnte ganz einfach zwischen 6 und 11 Millionen Tonnen CO2 im Jahr einsparen. Doch den konservativen Parteien fällt es schwer, ihre Selbstwahrnehmung der tatsächlichen Lage in unserem Land anzupassen. Für unsere Werte und freiheitliche Grundordnung ist diese radikale Haltung eine große Herausforderung.

Als Verbotsparteien haben CDU und CSU eine lange Geschichte. Das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen gehört beispielsweise zur DNA der konservativen Parteien. Wäre die Union noch an der Macht, wären selbst Informationen von Ärz­t*in­nen über Abtreibungen noch immer verboten. Sie ist in diesem Zusammenhang nicht in der Lage, die Konsequenzen ihres politischen Handels realistisch einzuschätzen.

Auch zu Cannabis hat die Union ein allein von Verboten geprägtes Verhältnis. Dabei würde sich ein Slogan wie „Kiffen, Küche, Kinder“ oder „Morgens einen Joint und der Tag ist dein Freund“ hervorragend für den bayrischen Wahlkampf eignen. Söder verbindet doch so gern Tradition und Moderne, Laptop und Lederhose. Er könnte dabei sogar einen Baum umarmen und keiner würde sich wundern.

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Krise, welche Krise ?

Erstellt von Redaktion am 21. März 2023

Die Situation ähnelt der „Flüchtlingskrise“ von 2015.

Die EU erschwert es zwischen Verbrecher und Politikrt-innen zu Unterscheiden

Ein Debattenbeitrag von Daniel Bax

Doch die Debatte über ukrainische Geflüchtete verläuft völlig anders. Der Grund dafür ist Rassismus. Ein Zwei-Klassen-Asyl widerspricht den Werten, für die Europa sich sonst so gerne rühmt.

Was für einen Unterschied die Herkunft geflüchteter Menschen doch macht! Deutschland sieht sich zum zweiten Mal in kurzer Zeit mit einer großen Fluchtbewegung konfrontiert. Doch es geht damit völlig anders um als beim letzten Mal. Bis vor einem Jahr lautete das Mantra noch, „2015“ dürfe sich nicht wiederholen. Nun erleben wir mit der Massenflucht aus der Ukraine eine vergleichbare Krise wie zwischen 2014 und 2016, als Hunderttausende vor den Kriegen in Syrien, Irak und Afghanistan nach Europa flohen. Aber niemand kritisiert, Scholz habe „die Grenzen geöffnet“, oder zieht in Zweifel, dass ihre Aufnahme grundsätzlich „zu schaffen“ ist. Niemand fordert eine „Obergrenze“ für Geflüchtete aus der Ukraine. Nicht einmal von einer „Flüchtlingskrise“ ist die Rede – und das, obwohl allein aus der Ukraine schon jetzt mehr neue Flüchtlinge in Deutschland gezählt wurden als zwischen 2014 und 2016 zusammen.

Gewiss: Auch jetzt ächzen Städte und Kommunen unter dem Andrang so vieler Menschen, die Schutz und ein Dach über den Kopf brauchen. Auch jetzt lud die Regierung deshalb wieder zu einem „Flüchtlingsgipfel“, wo um Geld und die gerechte Verteilung von Geflüchteten gestritten wurde. Und auch jetzt regt sich mancherorts Unmut und rechter Protest. Aber im Vergleich zu 2015 verläuft die Debatte vernünftig, rational und gesittet – ganz anders als zwischen 2014 und 2016, als Gewalt und Untergangsstimmung herrschten. Damals hetzte die rechtsradikale Pegida-Bewegung auf den Straßen gegen „Bahnhofsklatscher“ und „Invasoren“. Mehr als Tausend Angriffe auf Flüchtlingsheime registrierten die Behörden 2015, im Jahr darauf nochmals genauso viele.

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Ich bin der Gauck – ich verspritze meine eigene Jauche

Namhafte Publizisten wie Rüdiger Safranski warfen der Regierung vor, Deutschland mit Flüchtlingen zu „fluten“. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck salbaderte, unsere Herzen seien zwar weit, doch unsere Möglichkeiten begrenzt. Und Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo entschuldigte sich quasi dafür, dass die Medien anfangs zu viel Mitgefühl gezeigt hätten.

Jetzt, wo noch mehr Flüchtlinge als damals in Deutschland Zuflucht suchen, nur diesmal aus der Ukraine, sind diese Stimmen verstummt. Selbst der spärliche Rest der Pegida-Bewegung demonstrierte zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine nur noch für „Frieden“ und hetzte nicht gegen die Menschen, die von dort flüchten.

Es ist nun nicht so, dass Menschen aus der Ukrai­ne keinen Rassismus kennen würden. Vorbehalte gegen Ost­eu­ro­päe­r*in­nen haben in Deutschland eine lange Tradition. Noch im Jahr 2004 musste sich die damalige rot-grüne Bundesregierung von der CSU vorwerfen lassen, „Schwarzarbeit, Prostitution und Menschenhandel“ begünstigt zu haben, weil sie die Visa-Vergabe für Ukrai­ne­r*in­nen erleichtert hatte. Seit 2017 dürfen ukrainische Bür­ge­r*in­nen sogar visumsfrei nach Europa reisen.

Die geopolitische Lage ist der Grund dafür, dass sich der Wind gedreht hat. Seit dem 24. Februar vergangenen Jahres gehört die Ukraine zu Europa, wenn man der offiziellen Rhetorik glauben mag. Auf Grundlage der „Massenzustrom-Richtlinie“ der EU dürfen Flüchtlinge von dort seit dem 3. März 2022 frei nach Europa reisen. Dieser humanitären Willkommenskultur möchten sich nur wenige verschließen. Und anders als 2015, als die Hilfsbereitschaft in breiten Teilen der Bevölkerung nur anfangs sehr groß war, ist die positive Stimmung gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine auch nach einem Jahr noch fast immer ungetrübt.

Natürlich spielt es eine Rolle, dass vor allem Frauen und Kinder nach Deutschland kommen und sie vor einem Krieg in der Nähe fliehen. Aber der Hauptgrund, warum sie anders aufgenommen werden als viele Flüchtlinge vor ihnen, ist schlicht: Rassismus. Nirgendwo zeigt sich das so krass wie im Nachbarland Polen. 2015 wehrte sich Polen strikt dagegen, nur ein paar Tausend Flüchtlinge aufzunehmen, und wollte höchstens Christen Asyl gewähren. Noch im Herbst 2021 verhängte die Regierung an ihrer Ost-Grenze den Ausnahmezustand, weil dort ein paar Tausend Menschen aus dem Irak und Afghanistan campierten, die aus Belarus nach Europa gelangen wollten. Nun hat Polen in kurzer Zeit über 1,5 Millionen Menschen aus der Ukraine aufgenommen, so viel wie kein anderes Land in Europa. Polen kann also, wenn es will. Plötzlich ist es auch okay, dass Flüchtlinge einfach von dort aus weiterziehen, wohin sie wollen. Ukrainische Staats­bür­ge­r*in­nen dürfen sich frei in Europa bewegen und niederlassen. Selbst Ungarn, Tschechien oder Dänemark, die Flüchtlinge bisher mit Schikanen oder gar Stacheldraht abschreckten, nehmen jetzt Ukrai­ne­r*in­nen auf.

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« Jetzt ist die Zeit ! »

Erstellt von Redaktion am 21. März 2023

Der Deutsche Evangelische Kirchentag übt Zensur aus

Auf schwarze Seelen fällt kein Segen

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von        :        Andreas Zumach /   

Die Vertreibung und Flucht von 750’000 Palästinenserinnen und Palästinensern 1948 darf man am Kirchentag nicht thematisieren.

«Jetzt ist die Zeit!» – unter diesem biblischen Motto aus dem Markus-Evangelium findet vom 7. bis 11. Juni in Nürnberg der Deutsche Evangelische Kirchentag (DEKT) statt. Erwartet werden bis zu 100’000 TeilnehmerInnen.  «Wichtige Themen der Zeit werden diskutiert, Fragen nach Frieden und Gerechtigkeit… und der Würde des Menschen gestellt», kündigt der DEKT in seinen Einladungen und Werbematerialien für die Grossveranstaltung an.

Der Präsident des Kirchentages, Bundesminister a.D. (Verteidigung und Innen) Thomas de Maizière (CDU) betont: «Wir brauchen einen offenen, ehrlichen Austausch untereinander, um der Zeit gerecht zu werden und gemeinsame Schritte zu gehen.»

Die Ausstellung wurde schon in über 150 Städten gezeigt

Diese wohlklingenden Ankündigungen gelten allerdings nicht für das Konfliktthema Israel/Palästina. Die Wanderausstellung «Die Nakba – Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948» thematisiert die Vertreibung und Flucht von rund 750’000 PalästinenserInnen im Jahr 1948 – zunächst durch jüdisch-zionistische Milizen und nach der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948 durch die Streitkräfte des Landes – darf ausgerechnet zum 75. Jahrestag dieses Geschehens auf dem Kirchentag DEKT in Nürnberg nicht gezeigt werden.

Nur mit dieser Verbotsauflage erhielt der Verein «Flüchtlingskinder im Libanon» (FiL) e.V., der die Nakba-Ausstellung im Jahr 2008 aus Quellen israelischer Historiker konzipiert hatte, von der DEKT-Geschäftsstelle in Fulda die Zulassung für einen Stand auf dem Markt der Möglichkeiten beim Nürnberger DEKT.

Dieses von DEKT-Generalsekretärin Kristin Jahn und der für das Kirchentagsprogramm verantwortlichen Studienleiterin Stefanie Rentsch im November letzten Jahres übermittelte Verbot kam sehr überraschend. Denn auf vergangenen Kirchentagen seit 2010 wurde die Nakba-Ausstellung ohne Probleme gezeigt. Ebenfalls seit 2008 in über 150 Städten im In-und Ausland, auch in Basel, Bern, Biel, St. Gallen, Zürich und Bülach sowie bei der EU in Brüssel und der UNO in Genf.

Die Verantwortlichen drücken sich um eine Begründung

Für die Verbotsentscheidung gaben Jahn und Rentsch auch auf mehrfache Nachfragen hin keine Begründung. Die Entscheidung habe das für «das Programm des Kirchentages gesamtverantwortliche DEKT-Präsidium» getroffen «nach vorheriger Durchsicht und Prüfung» der Bewerbung des Vereins Flüchtlingskinder im Libanon «durch ein vom Präsidium eingesetztes Expertengremium».

Auch zahlreiche schriftliche Nachfragen bei dem «gesamtverantwortlichen» Präsidium nach den Gründen für das Verbot seit November letzten Jahres wurden bis Ende Februar nicht beantwortet. Selbst langjährige ehemalige Mitglieder des Präsidiums wie die frühere Kirchentagspräsidentin Elisabeth Raiser und ihr Mann, der ehemalige Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Konrad Raiser, erhielten keine Antwort.

Photo of the village or town

Der aktuelle Kirchentagspräsident Thomas de Maizière reagiert auf Briefpost an seine Dresdner Anschrift bisher nicht. Anfragen per E-Mail-Schreiben an sein Büro lässt der Kirchentagspräsident durch seine Mitarbeiterin, die Flensburger CDU-Landtagsabgeordnete Uta Wentzel mit diesen Worten abwimmeln: «Das Schreiben wurde gar nicht gelesen und daran besteht auch überhaupt kein Interesse. Wenn Sie vom DEKT keine Antwort auf Ihre Frage erhalten, müssen Sie sich halt damit abfinden.»

Von den übrigen 30 Mitgliedern des Präsidums (darunter Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, BWI-Staatssekretär und ATTAC-Mitbegründer Sven Gigold sowie BGH-Präsidentin Bettina Limperg) und den acht «ständigen Gästen» des Präsidiums aus der für den DEKT in Nürnberg gastgebenden Bayerischen Landeskirche, darunter Bischof Heinrich Bedford Strohm, antworteten nur wenige, die an die DEKT-Geschäftsstelle in Fulda verwiesen.

Auffällig viele der Angefragten erklärten zudem, sie seien gar nicht auskunftsfähig. Denn sie hätten an der Präsidiumssitzung, auf der das Verbot der Nakba-Ausstellung beschlossen wurde, gar nicht teilgenommen. Das wirft Fragen auf: Gab es überhaupt eine solche Sitzung? Und wenn ja: Existiert ein ordentliches Sitzungsprotokoll, aus dem Beschlüsse und ihre Begründungen hervorgehen? Wenn nicht: Von welchem Personenkreis wurde das Verbot tatsächlich beschlossen?

Wer die Mitglieder des «Expertengremiums» waren, das zum Verbot der Nakba-Ausstellung geraten hat, hält der DEKT bislang ebenfalls geheim. Nach informellen Informationen aus Kirchentagskreisen soll ein Experte (möglicherweise der einzige?) Christian Staffa gewesen sein, der Antisemitismusbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Staffa ist auch im Vorstand der seit 1961 bestehenden «AG Juden und Christen» beim DEKT.

Der Deutsche Evangelische Kirchentag ist auskunftspflichtig

Das Verbot der Nakba-Ausstellung auf dem Nürnberger Kirchentag ist ein unakzeptabler Akt der Zensur und des Eingriffs in die Meinungsfreiheit. Der DEKT verhindert damit den demokratischen Dialog. Der bisherige Umgang des DEKT mit Fragen nach einer Begündung des Verbots ist willkürlich und selbstherrlich. Und das DEKT-interne Verfahren, das zu dem Verbot geführt hat, ist offensichtlich nicht einmal für Mitglieder des «gesamtverantwortlichen» Präsidiums transparent.

Der DEKT ist zwar ein Verein. Aber die Grossveranstaltung in Nürnberg ist keine Privatveranstaltung. Sie wird ausser durch Ticketverkäufe, Spenden und Sponsoring ganz wesentlich mit öffentlichen Geldern (Kirchensteuern und anderen Zuschüssen) finanziert. Aus diesem Grund ist der DEKT auskunftspflichtig.

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Zwischen Kriege und Krisen

Erstellt von Redaktion am 21. März 2023

Krisenkeynesianismus der blinden Tat

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von       :     Tomasz Konicz

Während im Krisenalltag viele Elemente keynesianischer Wirtschaftspolitik zum Einsatz kommen, verwildert der Postkeynesianismus in der deutschen Linken zur Ideologie.

Ob stockkonservative Marktjünger1 oder bieder-sozialdemokratische Gewerkschaftler2: In Krisenzeiten sind sie alle Keynesianer. Bei jedem Krisenschub der letzten Jahre, als es mal wieder galt, den dahinsiechenden Spätkapitalismus mittels billionenschwerer Konjunkturprogramme und gigantischer Gelddruckerei vor dem Kollaps zu bewahren, erlebte der britische Ökonom, dessen nachfrageorientierte Konjunkturpolitik bis zur Ablösung durch den Neoliberalismus in den 1980er Jahren dominant war, eine flüchtige öffentliche Konjunktur. Nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase 2008 oder dem pandemiebedingten Einbruch 2020 sprachen plötzlich alle über John Maynard Keynes, der als Hofökonom der alten staatsgläubigen Sozialdemokratie eine aktive Rolle des Staates bei Investitionsprogrammen und Geldpolitik propagierte. Bis es, nach den üblichen Abnutzungserscheinungen im Medienzirkus, keiner mehr tat und der Kapitalismus nach der „keynesianischen“ Stabilisierungsphase wieder zum „Business as usual“ überzugehen schien.

Übrig blieben nur die im neoliberalen Zeitalter aus dem politischen und akademischen Mainstream verdrängten, beständig jammernden Keynesianer, mit denen sich nun die Linke jenseits der Sozialdemokratie herumplagen darf. Doch die beständige Klage aus dem Spektrum der Neokeynesianer und der Modernen Monetären „Theorie“ (MMT), wonach es mehr Keynesianismus brauche, damit alles wieder besser werde und der Spätkapitalismus an die Ära des Wirtschaftswunders anknüpfe, ist angesichts der politischen Realitäten – gelinde gesagt – deplatziert. Viele Instrumente des Keynesianismus kommen bei der Krisenverwaltung weiterhin zu Einsatz, sie werden nur nicht als solche thematisiert und wahrgenommen. Keynes ist längst pragmatischer Krisenalltag, etliche der Krisenmaßnahmen und -Programme, die das System seit 2008 stabilisieren, tragen seine Handschrift.

Und dies ist nur logisch vor dem Hintergrund der historischen Genese dieser Ökonomieschule: Der Keynesianismus erfuhr seinen Durchmarsch zum kapitalistischen Mainstream nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gerade als große „Lehre“ aus der 1929 einsetzenden Krisenphase – und die kapitalistischen Funktionseliten greifen in Krisenzeiten quasi reflexartig zu dessen Instrumentarium. Konsequente Regulierung der Währungs- und Finanzmärkte, der Staat als wirtschaftlicher Ordnungs- und Leitfaktor, der eine aktive Investitionspolitik betreibt, die nachfrageorientierte Lohn- und Sozialpolitik, bei der die Lohnabhängigen der Wirtschaftswunderzeit auch als Konsument*innen begriffen wurden und eine kontrazyklische Konjunkturpolitik, die mittels schuldenfinanzierter Konjunkturprogramme Rezessionen verhindern sollte, um in Boomphasen diese Schulden dann abzutragen – dies waren die inzwischen idealisierten Grundzüge der keynesianischen Wirtschaftsordnung bis zum Durchmarsch des Neoliberalismus unter Thatcher und Reagan, zu der die Neokeynesianer zurückkehren wollen.

Billiger geht’s nicht

Der pragmatische Rückgriff auf das Instrumentarium des Keynesianismus findet seinen klarsten Ausdruck in all den Konjunkturprogrammen, die im Gefolge der an Intensität gewinnenden Krisenschübe aufgelegt wurden. Folglich gewannen auch diese staatlichen Subventions- und Investitionspakete bei jedem Krisenschub an Umfang,3 wie die berüchtigte Unternehmensberatung McKinsey anhand der Weltfinanzkrise 2008/09 und des Pandemieeinbruchs 2020 darlegte.4 Schon Mitte 2020 summierten sich die globalen staatlichen Krisenaufwendungen, mit denen die Folgen des durch die Pandemie getriggerten Krisenschubs minimiert werden sollten, auf rund zehn Billionen Dollar – das Dreifache der Krisenprogramme von 2008/09.

Und es war gerade die 2008 konjunkturpolitisch zurückhaltende Bundesregierung, die damals nur mit der berüchtigten, klimapolitisch verheerenden Abwrackprämie für PKWs Negativschlagzeilen machte, die 2020 besonders weitreichende Krisenprogramme auflegte. In Relation zum deutschen Bruttoinlandsprodukt hat Berlin sogar das größte Konjunkturpaket aller westlichen Industrieländer aufgelegt: es umfasste 33 Prozent des BIP. Zudem leitete die Regierung Merkel auch in der „deutschen“ Eurozone eine graduelle Abkehr vom schäublerischen Austeritätsregime ein, indem sie Mitte 2020 einem europäischen Konjunkturprogramm im Rahmen des europäischen Haushalts zustimmte, das bei einem Volumen von 750 Milliarden immerhin Hilfszahlungen an die Peripherie von 380 Milliarden Euro beinhaltet.5

Und auch bei der Geldpolitik galt bis vor Kurzem bei Europäischer Zentralbank (EZB) wie Federal Reserve (Fed) die Devise, dass es billiger kaum noch gehen könne. Die Leitzinsen aller westlichen Währungsräume sind im 21. Jahrhundert in der Tendenz immer weiter gefallen. Zwischen 2009 und 2021 herrschte – mit kurzem Unterbrechungen – eine Nullzinspolitik, mit der Konjunktur und Finanzsphäre gestützt wurden. Zudem gingen die Notenbanken nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase zur schlichten Gelddruckerei über, indem sie zuerst Hypothekenpapiere und später zunehmend Staatsanleihen aufkauften – und so der Finanzsphäre zusätzliche Liquidität zuführten, die zur Inflation der Wertpapierpreise im Rahmen der großen, 2020 platzenden Liquiditätsblase führten. Im Laufe des 21. Jahrhunderts haben Fed und EZB ihre Bilanzsummen nahezu verzehnfacht, sie sind zu Mülldeponien des zum Dauerboom verurteilten spätkapitalistischen Finanzsystems und den größten Eigentümern von Schuldtiteln ihrer Staaten geworden.

Hyperaktiver Zentralbankkapitalismus

Die Notenbanken sind somit im Verlauf des Krisenprozesses zu zentralen ökonomischen Akteuren aufgestiegen, da ohne deren Intervention sowohl die Finanzsphäre wie die Staatsfinanzierung kollabiert wären. Es ließe sich von einem Zentralbankkapitalismus sprechen, wie es der Politökonom Joscha Wullweber in einem Buch mit diesem Titel tut, in dem die Abhängigkeit eines Teils der Finanzsphäre, des weitgehend unregulierten Marktes für Rückkaufversicherungen (Repos), von der Gelddruckerei der Notenbanken beleuchtet wird.6 Der derzeit aufgrund zweistelliger Inflationsraten unternommene Versuch von EZB und Fed (Einzig die Bank of Japan stemmt sich verzweifelt gegen den Trend),7 mit der Wende zu einer restriktiven Geldpolitik die auf mehrere Ursachen zurückzuführende Inflation (Pandemie, Krieg, geplatzte Liquiditätsblase, Klimakrise)8 einzudämmen, geht aber nicht zwangsläufig mit einem Ende der Aufkäufe von Staatsanleihen einher.

In der Eurozone wurde mit PEPP (Pandemic emergency purchase programme) eigens ein Krisenprogramm in Umfang von 1.850 Milliarden Euro geschaffen, mit dem zwecks Stabilisierung der Eurozone Staatsanleihen bei gleichzeitigen Leitzinsanhebungen aufgekauft werden (Nettozukäufe sollen im kommenden März ausgesetzt werden)9, wodurch die Inflationsbekämpfung faktisch unterminiert wird – und was wiederum die ökonomische Rolle des Staates stärkt, da dieser weiterhin im Rahmen von PEPP sein Haushaltsdefizit finanzieren kann. Zudem sind auch Schritte zu einer aktiven Wirtschaftspolitik des Staates erkennbar, vor allem hinsichtlich des Green New Deals. Neoliberale Hardliner10 klagen im Handelsblatt inzwischen laut über die staatlichen Bestrebungen zur ökologischen „Kreditlenkung“, die vor allem in der Einführung der EU-Taxonomieverordnung zur Definition nachhaltiger Investitionen zum Ausdruck kämen (Ironischerweise gelten dabei auch Investitionen in Erdgas und Atomkraft als „nachhaltig“). Überdies sprach sich Habecks Staatssekretär Sven Giegold – ein Attac-Aktivist der ersten Stunde – schon vor einem Jahr gegenüber der Financial Times (FT) für eine „aktive Industriepolitik“ Berlins aus, die „Innovationen unterstützen“ solle, um aus der BRD eine „ökologische und soziale Marktökonomie“ zu machen.11

Diese von zunehmender Staatstätigkeit geprägte Struktur des Krisenkapitalismus ist aber nicht Folge einer kohärenten Strategie, sondern Ausdruck der jeweiligen Bemühungen, während der akuten Krisenschübe einen Kollaps der Weltwirtschaft zu verhindern. Es ist ein Keynesianismus der blinden Tat, bei dem Funktionseliten quasi reflexartig agierten. Die oftmals als Provisorium eingeführten Notprogramme und Politikwechsel verstetigen sich dann im Krisenverlauf, sie gerinnen zu neuen Strukturen und Dynamiken in latenten Krisenphasen. Man „fährt auf Sicht“, so der damalige Finanzminister Schäuble über das Agieren der Bundesregierung während der Weltfinanzkrise 2009.12 Die Maßnahmepakete bauen schlicht aufeinander auf. Habecks aktive Industriepolitik etwa, für die Giegold in der FT die Werbetrommel rührte, hat ihren Vorläufer in der staatlichen Förderung „nationaler Champions“ unter seinem Vorgänger Peter Altmaier, der angesichts zunehmender Krisenkonkurrenz und informeller Staatssubventionen in China und den USA auch Deutschlands Exportindustrie gezielt fördern wollte.13

Dieses „Fahren auf Sicht“ der Funktionseliten in manifesten Krisenzeiten, bei dem in Reaktion auf Krisenschübe immer neue Elemente staatskapitalistischer Krisenverwaltung zur Anwendung gelangen, verleiht dieser Formation alle Züge eines Übergangsstadiums innerhalb der spätkapitalistischen Krisenentfaltung. Die ökonomischen und ökologischen Krisen, die die Politik zum Krisenkeynesianismus nötigen, sind ja nicht Ausdruck einer „falschen“ Wirtschaftspolitik, sondern der eskalierenden inneren und äußeren Widersprüche des Kapitalverhältnisses, die sich ganz konkret in beständig schneller steigenden Schulden (als die Weltwirtschaftsleistung) und einer unablässig ansteigenden CO2-Konzentration manifestieren.

Aufgrund eines fortwährend steigenden globalen Produktivitätsniveaus unfähig, einen neuen industriellen Leitsektor, ein neues Akkumulationsregime zu erschließen, in dem massenhaft Lohnarbeit verwertet würde, läuft das Weltsystem faktisch immer mehr auf Pump. Der Staat fungiert hierbei durch Gelddruckerei und Deficit Spending zunehmend als letzte Instanz der Krisenverschleppung, nachdem die Defizitbildung im Rahmen der neoliberalen Finanzblasenökonomie (Dot-Com-Blase, Immobilienblase, Liquiditätsblase) auf den heiß gelaufenen Finanzmärkten sich weitgehend erschöpft hat. So ist etwa der breit angelegte US-Aktienindex S&P 500 nach seinem historischen Höchststand von mehr als 4700 Punkten Ende 2021 inzwischen um rund Tausend Punkte eingebrochen.

Moderne Monetäre Ideologie

Die Spätphase des globalisierten Finanzblasenkapitalismus, in der die expansive Geldpolitik der Notenbanken zur Inflation der Wertpapierpreise in der Finanzsphäre beitrug – bis hin zum Schwarminvestmet und den flüchtigen Boom von Meme-Aktien wie GameStop14 – ließ auch eine extreme Form spät- und postkeynesianischer Wirtschaftsideologie aufkommen, die unter Ausblendung jeglicher systemischen Krisenanalyse – insbesondere des Zusammenhangs zwischen Blasenbildung und den offenen Geldschleusen der Notenbanken – behaupten konnte, dass alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Spätkapitalismus durch Gelddruckerei gelöst werden konnten. Die Zinsen und die Inflation blieben ja zwischen 2008 und 2020 niedrig.

Der Modern Monetary Theory (MMT) schien die Quadratur des kapitalistischen Kreises geglückt. Vollbeschäftigung, Sozialstaat, Wirtschaftswachstum und die ökologische Wende – all dies sei nur eine Frage der expansiven Geldpolitik, so die zentrale These der MMT. Dieser neokeynesianischen, in der sozialistischen Linken der Vereinigten Staaten sehr populären Geldtheorie zufolge können Regierungen, die ihre Währung kontrollieren, die Staatsausgaben frei erhöhen, ohne sich um Defizite sorgen zu müssen. Denn sie können jederzeit genug Geld drucken, um ihre Staatsschulden in ihrer Währung abzuzahlen. Inflation sei dieser Theorie zufolge so lange kein Problem, wie die Ökonomie nicht an natürliche Wachstumsgrenzen stoße oder es ungenutzte ökonomische Kapazitäten gebe, wie etwa Arbeitslosigkeit.

Gelddrucken bis zur Vollbeschäftigung – darauf zielt diese spätkeynesianische nachfrageorientierte Wirtschaftsideologie ab, die sich im Windschaden der von ihr unverstandenen, heißlaufenden Finanzialisierung des Kapitalismus ausbildete. Zumeist verweisen Befürworter der MMT auf die expansive Geldpolitik der US-Notenbank Fed, die von 2007 bis 2009 und ab 2020 mit Billionenbeträgen die strauchelnden Finanzmärkte stützte. Da die als „Quantitative Lockerungen“ bezeichnete Gelddruckerei anscheinend keine Inflationsschübe nach sich zog, will die MMT diese Krisenmaßnahmen gewissermaßen zur Leitlinie neo-sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik erheben. Durch expansive Geldpolitik soll das Angebot der Ware Geld so lange erhöht werden, bis eben die Nachfrage gedeckt sei, die Arbeitslosigkeit verschwunden und die Wirtschaft ordentlich brumme. Die historisch beispiellosen Aufkaufprogramme der Notenbanken, mit denen ein auf Pump laufender Spätkapitalismus mühsam stabilisiert wird, will die MMT letztlich zur neuen Normalität erklären – und somit in Ideologie, in die Rechtfertigung des Bestehenden übergehen.

Es ist auch kein Zufall, dass die MMT ihre politische Heimat in den USA hat, die mit dem US-Dollar die Weltleitwährung kontrolliert. Damit kann sich Washington im globalen Wertmaß aller Warendinge verschulden. Wie es aussieht, wenn Staaten der Peripherie dazu übergehen, ihre eigene Währung nach Gutdünken zu drucken, die im US-Dollar ihren globalen Wertmaßstab finden, kann aktuell etwa an der Türkei des „Zinskritikers“ Erdogen studiert werden, wo die Inflationsrate in den dreistelligen Bereich zu beschleunigen droht.15 Die MMT stellt somit nicht nur eine sehr exklusive Ideologie dar, die eventuell noch in der Eurozone Anhänger finden kann, sich aber anhand der Erfahrungen in der Peripherie und Semiperipherie schlicht blamiert.

Der Neokeynesianismus sieht also die Ursache der gegenwärtigen kapitalistischen Malaise hauptsächlich in mangelnder Geldversorgung. Deren tatsächliche Krisenursache bildet aber ein fehlender ökonomischer Leitsektor, ein fehlendes neues Akkumulationsregime, das massenhaft Lohnarbeit verwertete – und das aufgrund des hohen globalen Produktivitätsniveaus nie wieder errichtet werden wird. Irrationaler Selbstzweck des Kapital ist ja seine höchstmögliche Verwertung mittels der Ausbeutung von Lohnarbeit – der einzigen Ware, die als Substanz des Kapitals Mehrwert produzieren kann – in der Warenproduktion. Die keynesianische Nachfragepolitik tut hingegen so, als ob der Kapitalismus schon überwunden wäre, als ob die Bedürfnisbefriedigung – und nicht uferlose Kapitalverwertung – den Zweck der kapitalistischen Wirtschaft bildete. Es ist der übliche keynesianische Taschenspielertrick, der die Irrationalität kapitalistischer Vergesellschaftung einfach ausblendet.

Es ist eine einfache, seit den 1980er Jahren zu beobachtende Krisenregel: Wenn die Akkumulation des Kapitals der realen Wirtschaft stottert, dann setzt ein spekulatives Wachstum der Finanzsphäre ein. Ignoriert wird von der MMT hierbei der Zusammenhang zwischen den quantitativen Lockerungen und dem Wachstum des aufgeblähten spätkapitalistischen Finanzsektors. Die Gelddruckerei der Fed (wie die der Europäischen Zentralbank) führte sehr wohl zu einer Inflation – zur Inflation der Wertpapierpreise auf den Finanzmärkten. Ausgerechnet der von den Keynesianern verteufelte, aufgeblähte Finanzsektor – Fundament der als Konjunkturmotor fungierenden globalen Verschuldungsdynamik – bildete somit den entscheidenden Faktor, der eine Stagflationsperiode verhindere, wie sie in den 1970ern dem Keynesianismus das Rückgrat brach und den Weg für den Neoliberalismus öffnete. Der Neoliberalismus entfesselte die Finanzsphäre gerade in Reaktion auf die Krisenphase der Stagflation, was als Form der Krisenverzögerung zur Ausbildung des auf Pump laufenden, von Blase zur Blase taumelnden Zombie-Kapitalismus16 führte.

Die Rückkehr der deflationären Vergangenheit

Das Kapital geht somit in der Warenproduktion seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Arbeit, verlustig, was die mit immer größeren Schuldenbergen konfrontierte Politik in eine Sackgasse treibt: Inflation oder Deflation? Konkret wird die aus der inneren Schranke des Kapitals resultierende Aporie der kapitalistischen Krisenpolitik anhand des öden, seit Jahren gepflegten Streits17 über die Prioritäten der Wirtschaftspolitik zwischen angebotsorientierten Neoliberalen und nachfrageorientierten Keynesianern sichtbar. Der Twitter-Keynesianer Maurice Höfgen praktiziert gerne dieses stupide Schattenboxen.18 Es ist immer dieselbe Leier, abgespult in tausend Variationen: Der neoliberalen Warnung vor Überschuldung und Inflation bei Konjunkturprogrammen wird von den Keynesianern die Mahnung vor der deflationären Abwärtsspirale, ausgelöst durch Sparprogramme, entgegengehalten. Beide Streitparteien haben dabei mit ihren Diagnosen recht, was nur durch die Finanzblasenökonomie des neoliberalen Zeitalters überdeckt wurde. Nun, in der Ära der Stagflation wird es offensichtlich, dass gerade die Geldpolitik der Notenbanken sich in einer Krisenfalle befindet.19 Die Notenbanken müssten der Inflation wegen die Zinsen anheben, und zugleich die Zinsen senken, um eine Rezession zu verhindern.

Übrigens: an eben der oben skizzierten, historischen Stagflationsperiode der 1970er Jahre – zu der das spätkapitalistische Weltsystem auf einem viel höheren Krisenniveau derzeit quasi zurückkehrt20 – ist der Keynesianismus tatsächlich fulminant gescheitert. Nach dem Auslaufen des großen Nachkriegsbooms, der von dem fordistischen Akkumulationsregime getragen wurde, versagten alle Politikrezepte der Keynesianer. Der Neoliberalismus konnte ich also in den 1980ern nur deswegen durchsetzen, weil der Keynesianismus krachend – mit zweistelligen Inflationsquoten, häufigen Rezessionen und Massenarbeitslosigkeit – gescheitert ist. Wenn ein abgehalfterter Keynesianer wie Heiner Flassbeck – stilecht im Querfrontmagazin Telepolis21 – behauptet, dass es nur die Energie- und Ölpreiskrise war, die damals wie heute den Krisen- und Inflationsschub auslöste, dann lügt er sich selbst in die Tasche. Der Keynesianismus konnte trotz aller Konjunkturprogramme kein neues Akkumulationsregime aus dem Boden stampfen – und er wird es auch jetzt nicht schaffen, neue Märkte hervorzuzaubern, bei deren Erschließung massenhaft Lohnarbeit auf dem globalen Produktivitätsniveau verwertet werden könnte.

Der Neoliberalismus „löste“ das Problem durch das spekulative Abheben der Finanzsphäre, der Finanzialisierung des Kapitalismus, also durch Krisenverschleppung im Rahmen einer regelrechten Finanzblasenökonomie, die durch drei Dekaden hindurch dem Kapital eine Art Zombieleben auf Pump ermöglichte. Dies ist auch der fundamentale Unterschied zwischen der Stagflation der 1970er und der jetzigen Stagflationsphase. Das Krisenniveau ist viel höher – und es läßt sich ganz einfach anhand der Relation zwischen Gesamtverschuldung und Wirtschaftsleistung ablesen, die von rund 110 Prozent zu Beginn des neoliberalen Zeitalters 1980, auf inzwischen 256 Prozent kletterte (ohne Finanzsektor).22

Und ein nachhaltiger Abbau dieses Schuldenbergs ist nur um den Preis einer Rezession möglich – also längerfristig eigentlich gar nicht. Ganz abgesehen davon, dass es ökologischer Wahnsinn ist, auf Rezessionen mit keynesianischen Konjunkturprogrammen zu reagieren. Die Rezessionen von 2009 und 2020, die im Gefolge der damaligen Krisenschübe ausbrachen, hatten die einzigen Jahre im 21. Jahrhundert zur Folge, in denen die CO2-Emissionen zurückgingen. Doch die oben geschilderten Konjunkturpakete führten in den Folgejahren zu den höchsten Emissionsanstiegen dieses Jahrhunderts. 2009 fiel der Ausstoß von Treibhausgasen um 1,4 Prozent,23 um 2010 dank keynesianischer Konjunkturprogramme um 5,9 Prozent24 zuzulegen! 2020 sanken die Emissionen pandemiebedingt wiederum um 4,4 Prozent, während sie 2021 aufgrund vielfacher Konjunkturmaßnahmen um 5,3 Prozent zulegten.25 Verelendung in der Rezession oder Klimatod? Hierin äußert sich die ökologische Aporie kapitalistischer Krisenpolitik.

Ideologisches Material für linken Krisenopportunismus

Verstockte Altkeynesianer wie Flassbeck, wie auch der vollkommen abgedrehte Nachwuchs rund um die MMT ignorieren diese simplen Zusammenhänge verbissen, die schlicht auf die Notwendigkeit der Systemtransformation verweisen. Immer noch wird das Märchen verbreitet, wonach eine falsche Politik zur Finanzialisierung, zum Abheben der Finanzmärkte in der neoliberalen Ära führte – und es nur darum gehen müsse, diese „einzuhegen“. Und selbstverständlich spulen sie routiniert ihr dumpfes Programm ab, um trotz zweistelliger Inflation vor einer restriktiven Geldpolitik zu warnen. Auch wenn es langsam schlicht peinlich wird, mit welcher Akrobatik die Evidenz der Krisenfalle bürgerlicher Politik geleugnet wird, um immer wieder die Inflation als eine „Anomalie“ abzutun, die mit „wahrer“ keynesianischer Politik bekämpft werden solle. Es gibt im rasch in Regression übergehenden Keynesianismus schlicht kein Schamgefühl, selbst wenn die eigenen Vorhersagen sich an der Krisenrealität dermaßen deutlich blamieren wie in der derzeitigen Stagflationsphase.

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Bei Flassbeck, dem notorischen Höfgen, wie bei vielen anderen Keyensianern, die absolut blind gegenüber der Weltkrise des Kapitals sind, gibt es einen Reflex, um alle Evidenz der ideologischen Sackgasse, in der sie sich befinden, abzustreiten. So wie die Inflation keine „echte“ Inflation sei, fordern sie bei der Krisenpolitik den „wahren“ Keynes, da alles, was bislang an Methoden zum Einsatz komme, dem Idealbild nicht entspreche. In aller deprimierenden Offenheit wird dies beim Autor des oben erwähnten Buches über den Zentralbankkapitalismus evident, der ellenlang beschreibt, wie die Notenbanken das aufgeblähte Finanzsystem stützen müssen, um dann zu behaupten, dies sei kein Keynesianismus, da Finanzmärkte nicht an die Kandarre genommen würden:26 „Das derzeitige starke Eingreifen der Zentralbanken in das Finanzsystem und selbst die Unterstützungsmaßnahmen der Regierungen während der Corona-Pandemie sind also kein Zurück zum starken Staat oder ein neuer Keynesianismus. Trotz der Schwere der Krisen ist es zu keinen weitreichenden wirtschafts- und finanzpolitischen Kursänderungen gekommen. Es ist eine Regierungsweise, die sich innerhalb der weiterhin vorherrschenden marktliberalen Wirtschaftsordnung vollzieht. Weder die Funktionsweise des Finanzsystems im Allgemeinen noch die des Schattenbankensystems im Speziellen werden infrage gestellt. Genau das müsste aber passieren, um die Krisenhaftigkeit des Systems zu überwinden.“

Tatsächlich kann der heutige Krisenkeynesianismus nicht dem alten Idealbild entsprechen, da er als Form prekärer Krisenverwaltung mit den Folgen der dekadenlangen Finanzialisierung des Kapitalismus konfrontiert ist. Es ist deprimierend: Joscha Wullweber beschreibt die Folgen dieser Finanzialisierung anhand der von ihm als „Schattenbanksystem“ bezeichnenden Repo-Geschäfte27 und beklagt die Folgen der raschen Expansion der Finanzsphäre, um dann im kapitalistischen Gedankengefängnis zu verbleiben und die strukturellen Dynamiken zur bloßen Frage einer falschen der Politik zu erklären. Und eben dieses Denken macht den Keynesianismus zu einem gern benutzten ideologischen Vehikel für linken Opportunismus.28 Keynesianer werden vor allem in der „Linkspartei“ hofiert, da sie die Systemkrise zu einer bloßen Politikfrage umlügen, was die intendierte Mitmacherei bei der Krisenverwaltung ganzer Linkspartei-Rackets von linksliberal bis rechtsnational legitimiert. Die verkürzte Kapitalismuskritik der Keyesianer ist längst zur Ideologie geronnen.

Postkeynesianische Kriegswirtschaft

Der Keynesianismus mit seinem drögen Deficit Spending und seiner Staatsgeilheit kann die sich zuspitzende innere und äußere Krise des Kapitals selbstverständlich nicht lösen, er kann aber als Übergang in eine neue Krisenqualität fungieren. Keynes kann aber – gerade bei Funktionseliten, die des Öfteren „auf Sicht“ agieren – einen brauchbaren Bootloader, ein Übergangsvehikel, zu einer qualitativ neuen Form autoritärer Krisenverwaltung abgeben. Das haben ideologisch avancierte Postkeynesianerinnen, wie die Taz-Redakteurin Ulrike Herrmann, längst begriffen:29 In ihrem jüngsten Buch über das „Ende des Kapitalismus“, das eine weitgehend von der Wertkritik abgeschriebene Darstellung der äußeren Schranke des Kapitals mit einem Bekenntnis zur Kriegswirtschaft koppelt – inklusive Ukas (Erlass, russ.) und Rationierung. Dem auf dem rechten Auge blinden, von rechten Seilschaften durchsetzten deutschen Staat will die Taz-Redakteurin mit ungeheurer Machtfülle ausstatten und zur zentralen Instanz der gesellschaftlichen Reproduktion in der Krise machen. Frau Herrmann baut auch hier natürlich auf keynesianisch verkürzter Kapitalismuskritik auf, wo der Staat als großer Gegenspieler zum Kapital erscheint – und nicht als Teil des kapitalistischen Systems, das mit diesem untergeht, wie es reihenweise in den „Failed States“ der Peripherie bereits der Fall ist.

Darauf, auf autoritäre, postdemokratische Krisenverwaltung, exekutiert von erodierenden, mitunter offen verwildernden Staatsapparaten, läuft der Krisengang hinaus. Die Keynesianer spielen nur die – dummen oder perfiden – Jubelperser dieser objektiven Krisentendenz zum anomischen Autoritarismus. Der Keynesianismus, der nur aufgrund der absurden Rechtsverschiebung des gesamten politischen Spektrums als Teil der Linken links der Sozialdemokratie gilt, verkommt somit auch hier zur Ideologie in ihrem reinsten Sinn: Zur Rechtfertigung der drohenden autoritären staatskapitalistischen Krisenverwaltung, die das genaue Gegenteil der überlebensnotwendigen Emanzipation vom kollabierenden spätkapitalistischen Sachzwangregime wäre. Die Linke sollte folglich endlich dazu übergehen, die Keynesianer als das zu betrachten, was sie objektiv sind: als Ideologen.

Zuerst erschienen in: oekumenisches-netz.de, Netz-Telegramm Februar 2023.

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https://konicz.substack.com/

1 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/der-volks-und-betriebswirt/volkswirtschaftslehre-sind-wir-jetzt-alle-keynesianer-1775435.html

2 https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/in-der-krise-sind-alle-keynesianer

3 https://www.konicz.info/2020/10/27/vergleich-der-krisen-2020-vs-2008/

4 https://www.mckinsey.com/featured-insights/coronavirus-leading-through-the-crisis/charting-the-path-to-the-next-normal/total-stimulus-for-the-covid-19-crisis-already-triple-that-for-the-entire-2008-09-recession

5 https://www.sueddeutsche.de/politik/eu-sondergipfel-haushalt-1.4973847

6 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geldpolitik-2022/507732/zentralbankkapitalismus/

7 https://www.konicz.info/2022/12/30/japan-in-der-krise-mehr-alkoholismus-wagen/

8 https://www.konicz.info/2021/08/08/dreierlei-inflation/

9 https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/pepp/html/index.en.html

10 https://www.handelsblatt.com/meinung/homo-oeconomicus/gastkommentar-homo-oeconomicus-kreditlenkung-ist-kein-gutes-rezept-fuer-klimaschutz/27974940.html

11 https://www.ft.com/content/fa740376-da98-4067-92b4-85d315bbb6e2

12 https://wolfgang-schaeuble.de/wir-fahren-auf-sicht-dazu-muss-man-sich-offen-bekennen/

13 https://www.ifo.de/publikationen/2005/aufsatz-zeitschrift/nationale-industriepolitik-brauchen-wir-nationale-champions

14 https://www.konicz.info/2021/01/30/hedge-fonds-gamestop-und-reddit-kleinanleger-die-grosse-blackrock-bonanza/

15 https://www.konicz.info/2022/01/31/werteverfall/

16 https://www.streifzuege.org/2017/wir-sind-zombie/

17 https://www.konicz.info/2011/08/15/politik-in-der-krisenfalle/

18 https://twitter.com/MauriceHoefgen/status/1610588756754534400

19 https://www.konicz.info/2011/08/15/politik-in-der-krisenfalle/

20 https://www.xn--untergrund-blttle-2qb.ch/wirtschaft/theorie/stagflation-inflationsrate-6794.html

21 https://www.telepolis.de/features/Die-Welt-vor-der-Rezession-Diese-alten-Fehler-werden-die-Lage-verschaerfen-7286773.html?seite=all

22 https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2021/12/15/blog-global-debt-reaches-a-record-226-trillion

23 https://www.reuters.com/article/us-climate-emissions-idUSTRE6AK1OU20101121

24 https://www.reuters.com/article/us-iea-co2-idUSTRE74T4K220110530

25 https://joint-research-centre.ec.europa.eu/jrc-news/global-co2-emissions-rebound-2021-after-temporary-reduction-during-covid19-lockdown-2022-10-14_en#:~:text=In%202021%2C%20global%20anthropogenic%20fossil,the%20world’s%20largest%20CO2%20emitters.

26 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/geldpolitik-2022/507732/zentralbankkapitalismus/

27 Repurchase Agreements (Repos) sind Rückkaufvereinbarungen. Hierzu Wullweber (Quelle in Fußnote Nr. 26): „Repos sind Verträge, bei denen Wertpapiere zu einem bestimmten Preis verkauft werden, um diese nach einer definierten Zeit zu einem vorher festgesetzten Preis plus Zinsen wieder zurückzukaufen. … Im Prinzip ist ein Repo nichts anderes als eine Pfandleihe: Die eine Seite benötigt Geld und hinterlegt als Sicherheit ein Pfand in Form eines Wertpapiers. Die andere Seite besitzt Geld und verleiht dieses gegen diese Sicherheit. … Ganz allgemein gibt es im Schattenbankensystem einerseits Finanzakteure wie Hedgefonds und Geschäftsbanken, die Geldmittel benötigen, um durch Geschäfte mit unterschiedlichen Risikoprofilen kurzfristig Profit erzielen zu können oder auch, um eine Unterdeckung von Kapitalreserven aufzufangen. … Auf der anderen Seite finden sich Geldmarktfonds, Vermögensverwalter, Pensionsfonds und andere institutionelle Investoren oder auch Unternehmen, die ihr überschüssiges Kapital mit verhältnismäßig geringen Risiken und vergleichsweise hohen Renditen anlegen möchten.“

28 https://www.untergrund-blättle.ch/politik/deutschland/linkspartei-opportunismus-in-der-krise-7288.html

29 https://www.konicz.info/2022/12/14/rebranding-des-kapitalismus/

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Besser gewappnet sein

Erstellt von Redaktion am 20. März 2023

Europa muss es besser machen als China:

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Kohlemine in der Inneren Mongolei; 2005

Ein Debattenbeitrag von :    ELEONORA EVI, SANDRA DETZER, JORIS THIJSSEN, MARIE-PIERRE VEDRENNE

Echte Partner-schaften bilden und Industrien vor Ort aufbauen. Die EU-Kommission stellt ein neues Gesetz über kritische Rohstoffe vor. Ziel ist es, Krisen vorzubeugen sowie unabhängiger und nachhaltiger zu wirtschaften.

Wir alle in der Europäischen Union haben eine Vorstellung von Öl- und Gaskrisen. Die Älteren erinnern sich an die Ölkrise 1973, als arabische Länder ihre Öllieferungen einstellten. Die Jüngeren erleben gerade, wie Russland im Zuge des Angriffskrieges gegen die Ukraine Gas als Waffe einsetzt. Aber wer von uns hat je an eine Nickel-, Lithium- oder Kobalt-Krise als möglichen historischen Einschnitt gedacht? Was wäre, wenn uns China oder einige afrikanische Länder diese Metalle nicht länger lieferten? Spannen wir dann wieder Rettungsschirme und fragen uns, wie wir so naiv in sichtbare Abhängigkeiten geraten konnten?

Damit solche Krisen erst gar nicht entstehen, muss Europa für die Zukunft besser gewappnet sein. Darum ist es richtig, dass die EU-Kommission in Person von Binnenmarktkommissar Thierry Breton jetzt sein neues Vorhaben vorstellte: ein europäisches Gesetz über kritische Rohstoffe. Es soll uns helfen, über ausreichend kritische Rohstoffe wie Nickel, Lithium, Kobalt oder seltene Erden zu verfügen, damit nie ein europäisches Windrad oder eine europäische Solaranlage aus Rohstoffmangel keinen Strom liefert.

Noch kennen wir es nicht anders. Mangel an diesen kritischen Metallen, die wir meist in weiterverarbeiteter Form aus China beziehen, gab es bisher nicht. Das ist allerdings auch der Grund, warum wir in Europa nicht auf eine Rohstoffkrise vorbereitet sind.

Das neue europäische Gesetz markiert deshalb einen echten Neustart. Zum ersten Mal gibt sich Europa eine gemeinsame Strategie für kritische Rohstoffe. Es geht hier um elementarste Vorkehrungen für die eigene Sicherheit und den Klimaschutz.

Gerade für den Ausbau von Sonnen- und Windenergie als vorherrschende Energieträger ebenso wie für die Elektromobilität brauchen wir große Mengen kritischer Rohstoffe. Um sie über Jahre zuverlässig zu beschaffen, gibt uns der Raw Materials Act die nötigen Regeln. Das neue Gesetz schafft ein gemeinsames Verständnis für die Bedeutung kritischer Rohstoffen für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaften. Es führt zu einem gemeinsamen Handeln der europäischen Akteure für sichere und diversifizierte Lieferketten. Es soll uns auf hohe ökologische und soziale Standards bei Bergbau und Weiterverarbeitung verpflichten.

Um damit erfolgreich zu sein, muss das Gesetz echte Partnerschaften zwischen den Ländern des Globalen Südens und der EU ermöglichen. Mit Investitionen in die Infrastruktur und die weiterverarbeitende Industrie vor Ort können wir echte Win-win-Situationen schaffen. Dabei sollte das Gesetz auch im Ausland hohe Umweltstandards und menschenwürdige Arbeitsplätze sicherstellen.

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Wer lernt Heute noch das lügen – wird auch Morgen noch betrügen. Die Luft in der EU wird besser, da der Dreck in China anwächst?

Europa muss seine strategische und industrielle Unabhängigkeit stärken. Es muss in der Lage sein, Wertschöpfungsketten für den Abbau und die Nutzung von Ressourcen innerhalb Europas zu schaffen. Das erfordert eine Reform der nationalen Gesetze, um kluge Bergbau-Regeln für die Einhaltung unserer Umweltambitionen umzusetzen und gleichzeitig bei der Rohstoffsouveränität voranzukommen. Mehr Unabhängigkeit müssen wir auch durch die Wiederverwendung von Rohstoffen gewinnen, die bereits im Umlauf sind. Das Gesetz setzt hier die richtigen Ziele: 10 Prozent der benötigten kritischen Rohstoffe sollen bis 2030 innerhalb der EU gefördert werden, 15 Prozent recycelt und 40 Prozent in der EU veredelt werden. Um diese Ziele zu erreichen, muss unser gesamter europäischer Industrieapparat in die Umgestaltungen einbezogen werden. Nur dann können wir Rohstoffe direkt in Europa nachhaltig nutzen, verarbeiten und wiederverwenden.

In der Vergangenheit verfügte bei der Rohstoffbeschaffung jedes europäische Land über seine eigenen Methoden. In Paris und Rom ließ man alte Verbindungen spielen, in Berlin vertraute man der Kraft der eigenen Großunternehmen. Das alles wird nun nicht mehr reichen.

Vor Ort in Ländern wie Simbabwe und dem Kongo haben chinesische Staatsunternehmen bereits umfangreich investiert und wollen es auch in Zukunft tun. Das ist grundsätzlich zu begrüßen, denn auch China investiert damit in Energiewende und Klimaschutz. Doch wir Europäer müssen hier nicht nur mit China gleichziehen, sondern es besser machen: Nämlich indem wir die weiterverarbeitende Industrie, die sich heute oft in China befindet, vor Ort aufbauen. Nicht umsonst hat Simbabwe gerade den Export von unverarbeiteten Lithium verboten. Das Land wartet auf die Investoren vor Ort.

Quelle         :        TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Eine Frage der Öffentlichkeit

Erstellt von Redaktion am 20. März 2023

Strafen für rechtsextreme Polizei-Chats

Sehr viel Haus für wenig Kopf – wer fasst Denen am Schopf ?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von      :     

Frankfurter Polizist:innen schickten sich in einer Messenger-Gruppe Hakenkreuze und machten sich über Minderheiten lustig. Es könnte sein, dass sie nicht strafrechtlich belangt werden, denn die Hürden dafür sind hoch. Wir erklären die Rechtslage.

Deutschland hat ein Problem mit Rechtsextremen bei der Polizei. Inzwischen vergeht kaum ein Monat, indem nicht rechtsextreme Umtriebe von Polizist:innen Schlagzeilen machen. Das hat oft auch eine digitale Komponente: Beamte geben Daten an Nazis herausschreiben selbst Drohbriefe an Linke oder schicken sich in Chatgruppen Hakenkreuze und rassistische oder antisemitische Sprüche.

Währen Innenminister:innen versprechen, mit aller Härte gegen Verfassungsfeinde in den Reihen der Polizei vorgehen zu wollen, bleibt die juristische Aufarbeitung bislang oft hinter den Erwartungen der Öffentlichkeit zurück. Wir haben zwei Expert:innen zur Rechtslage befragt: Sind rechtsextreme Chats von Polizist:innen wirklich nicht strafbar?

Hakenkreuze und Hitlerbilder

Anstoß für diese Recherche gab eine Entscheidung des Landgerichts Frankfurt zu einer rechtsextremen Chatgruppe von Polizist:innen. Mehrere Jahre lang hatten fünf Beamt:innen aus dem 1. Polizeirevier in Frankfurt und die Lebensgefährtin eines Beamten in der Messenger-Gruppe „Itiotentreff“ unter anderem Hakenkreuze, Hitlerbilder und Verharmlosungen des Holocausts ausgetauscht. Auch über Menschen mit Behinderung und People of Colour machten sie sich lustig und verleumdeten diese. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen zudem Gewaltdarstellungen und Besitz sowie Verbreitung pornographischer Schriften vor.

Die Gruppe flog nur durch Zufall auf: Diensthandys der Angestellten wurden untersucht, weil die Daten der Anwältin Seda Başay-Yıldız von einem Computer im 1. Polizeirevier abgerufen wurden, unmittelbar bevor sie einen rassistischen NSU2.0-Drohbrief erhielt.

Im Februar entschied nun das Landgericht, das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafverfahren gegen die Gruppe gar nicht erst zu eröffnen. Dabei besteht offenbar kein Zweifel daran, dass die Polizist:innen verbotene Kennzeichen geteilt und den Holocaust verharmlost haben.

Die Rechtslage ist kompliziert

Fälle wie dieser würden das „Vertrauen in die politische Integrität der Polizei stark beschädigen“, konstatiert im Gespräch mit netzpolitik.org Josephine Ballon von HateAid. Die Organisation unterstützt Opfer von Hasskriminalität. Immer wieder komme es vor, dass Betroffene von digitaler Gewalt die Taten nicht zur Anzeige bringen würden – aus Angst vor der Polizei. „Diese Menschen sorgen sich, dass sie bei der Polizei auf Täter:innen treffen.“ Auch die Angst davor, dass Polizist:innen Schindluder mit den Daten der Opfer treiben könnten, wie es in der Vergangenheit passierte, spiele eine Rolle.

Die Rechtslage ist in Hinblick auf Chatnachrichten durchaus kompliziert. Grundsätzlich können sowohl die Verwendung von Hakenkreuzen als auch die Verharmlosung des Holocausts in Deutschland strafbar sein. Relevante Paragrafen des Strafgesetzbuches sind hier § 86a zum Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen sowie § 130 zu Volksverhetzung. Ob die Straftatbestände bei rechtsextremen Chats tatsächlich zutreffen, hängt vom konkreten Fall ab.

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„Ist so kalt der Winter !“

Besonders komme es darauf, ob die fraglichen Äußerungen öffentlich oder in einer Versammlung getätigt wurden, erklärt der Düsseldorfer Rechtsanwalt Eren Basar. „Die Abgrenzung, was als Öffentlichkeit und was als Versammlung gilt, kann im Einzelfall sehr filigran sein.“ So habe der Bundesgerichtshof in der Vergangenheit zum Beispiel entschieden, dass das Posten eines Hakenkreuzes im Freunde-Feed auf Facebook mit mehreren hundert Kontakten durchaus als öffentliche Verbreitung gelte. Ein Mann, der ein Hakenkreuz in seinem Hausflur anbrachte, kam jedoch straffrei davon.

Wann ist eine Chatgruppe öffentlich?

„Das Strafrecht ist grundsätzlich sehr zurückhaltend, was Äußerungen und Haltungen angeht“, erklärt Basar, der sich als Mitglied des Deutschen Anwaltvereins regelmäßig mit den Themen Polizei, Sicherheit und öffentliche Ordnung auseinandersetzt. Auch wenn es manchmal schwer auszuhalten sei: Das sei ein wichtiger Grundsatz der liberalen Demokratie, „weil wir sonst Gefahr laufen, unliebsame Meinungen unter Strafe zu stellen.“

Im Fall des „Itiontreffs“ gehe das Landgericht Frankfurt offenbar von einer eindeutig nicht-öffentlichen Verbreitung aus und sehe den Chat auch nicht als Versammlung an, so Basar. Tatsächlich schreibt die FAZ, dass das Gericht in seiner nicht veröffentlichten Entscheidung darauf abstelle, dass die Chatgruppe exklusiv und jederzeit kleiner als zehn Personen gewesen sei. Offenbar haben sich die Polizisten in der Gruppe sogar darüber ausgetauscht, dass ihr Verhalten strafbar wäre, wenn es einer größeren Öffentlichkeit zugänglich wäre. Von einer öffentlichen Verbreitung könne deshalb nicht die Rede sein, so das Landgericht. Teile der Äußerungen seien zudem satirisch und von der Kunstfreiheit gedeckt.

Auch Josephine Ballon von HateAid räumt ein, dass die Voraussetzungen für eine Verurteilung wegen Messengernachrichten hoch seien. Im Fall der Frankfurter Nazi-Chats sieht sie die Sache jedoch nicht ganz so eindeutig wie das Landgericht. Die Juristin verweist auf mehrere Gerichtsentscheidungen, die Menschen wegen Volksverhetzung in kleinen und nicht-öffentlichen Chatgruppen verurteilten. Der erste Absatz des Volksverhetzungsparagrafen setze nämlich weder Öffentlichkeit noch Verbreitung voraus, sondern stelle auf die Störung des öffentlichen Friedens ab.

Wichtiger als die Frage der Öffentlichkeit sei hier die Frage der Diskretion. Also: Ob sich die Kommunikationsteilnehmer:innen darauf verlassen können, dass die Inhalte nicht den Kreis der Chat-Gruppe verlassen und dann den öffentlichen Frieden beeinträchtigen. Ein Familienchat sei zum Beispiel vertraulicher als einer mit Kolleg:innen. So wurde kürzlich in Fulda ein junger Mann wegen rassistischer Bilder in einem Chat mit zehn Freunden verurteilt und 2020 ein Würzburger Faschingsfunktionär, der volksverhetzende Inhalte in einer 20-köpfingen Chat-Gruppe mit Vereinskolleg:innen geteilt hatte.

Gleiche Maßstäbe für alle

Klar sei jedenfalls, dass Polizeibeamte sich grundsätzlich nicht mit vermeintlicher Unwissenheit herausreden könnten. „Sie bringen eine Vorbildung mit und sind auf die Verfassung vereidigt“, so Ballon. Dass die Chats der Frankfurter Polizist:innen von der Kunstfreiheit gedeckt sein könnten, hält Ballon für unwahrscheinlich. „Hier geht es ja offenbar um eine Gruppe, die dem regelmäßigen Austausch rechtsextremer Inhalte diente.“

Wie es in dem Fall weitergeht, muss nun das Oberlandesgericht entschieden. Die Staatsanwaltschaft hat Beschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts eingelegt, das Verfahren nicht zu eröffnen. „Für die Öffentlichkeit wäre das kein gutes Signal, wenn diese Polizist:innen straffrei bleiben“, findet Josephine Ballon, „auch wenn die öffentliche Signalwirkung natürlich kein Bemessungsmaßstab für Strafen ist.“

Müssten dann vielleicht für die Chatgruppen von Polizist:innen andere Maßstäbe gelten? Das halten weder Ballon noch Basar für eine gute Idee. Einer der Grundsätze des Strafrechts sei es, dass alle Menschen gleich behandelt werden. „Polizist:innen sind auch Bürger:innen“, sagt Ballon. „Daran sollten wir nicht rütteln“, sagt Basar.

Rechtsextreme aus dem Dienst entfernen

Handlungsbedarf sehen die beiden trotzdem: In der konsequenten Anwendung des Disziplinarrechts. Denn unabhängig von Strafverfahren müssten rechtsextreme Beamte dienstrechtliche Konsequenzen zu spüren bekommen. „Im Endeffekt geht es doch darum, dass wir keine Leute als Beamte haben wollen, die eine rechtsextreme Haltung teilen oder mit deren Kennzeichen spielen“, so Basar. „Schon gar nicht als Beamte, die über die rechtliche Befugnis zur Ausübung physischer Gewalt verfügen.“ Wer Volksverhetzung verharmlose, müsse aus dem Dienst entfernt werden.

Basar verweist hier auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Es hatte im Fall eines Soldaten entschieden, dass dieser aufgrund rechtsextremer WhatsApp-Nachrichten aus dem Dienst entfernt werden könne. Dessen Verteidigung, es habe sich lediglich um geschmacklose Witze gehandelt, hatte das Gericht nicht gelten lassen.

Im Fall der Frankfurter Polizist:innen liegt das Disziplinarverfahren derzeit noch auf Eis. Aus juristischen Gründen muss erst der Ausgang eines möglichen Strafverfahrens abgewartet werden, die Entscheidung des Landgerichts ist wegen der Beschwerde der Staatsanwaltschaft noch nicht rechtskräftig.

Unterdessen bringt Josephine Ballon einen weitere Verbesserungsmöglichkeit ins Spiel: Die Polizei müsse deutlich stärker für Aufklärung unter Polizist:innen sorgen. Regelmäßig veranstalte HateAid Workshops und Vorträge bei der Polizei. Hier nehme sie insgesamt ein gesteigertes Problembewusstsein für Rechtsextremismus in den eigenen Reihen wahr. Von einer ganzheitlichen Antidiskriminierungsbildung und vor allem Sensibilisierung für Extremismus im digitalen Raum sei die Polizei aber noch weit entfernt. 

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben     —    Frankfurt Police HQ. Main entrance at Adickes Avenue.

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Zu Ostern für Frieden

Erstellt von Redaktion am 20. März 2023

Abrüstung und ein Ende des Krieges in der Ukraine aktiv werden!

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Kleiner Markt in Saarlouis, Blick in die Französische Straße

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von  :   Waltraut Andruet

Frieden muss verhandelt werden. –  Mahnwache mit Infostand am Mittwoch: 29. März 2023 17.00 bis 18.00 Uhr Saarlouis, auf dem Kleinen Markt vor Peek & Cloppenburg.

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat zu unzähligen Toten und Verletzten sowie zu Millionen Geflüchteten geführt. Infolge des Krieges sind die Beziehungen zwischen NATO und Russland an einem besorgniserregenden Tiefpunkt angelangt, wodurch auch die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs zugenommen hat. Zusätzlich zu den riesigen Rüstungsetats planen Deutschland und andere Staaten weitere Milliarden Euro in Aufrüstungsprojekte zu stecken. Wir warnen: Die ungehemmte Aufrüstung, immer mehr Krieg, zunehmende soziale Ungleichheit sowie Umweltzerstörung und Klimakrise führen die Menschheit in den Abgrund!

Wir fordern die Staaten und Regierungen weltweit zum Umdenken auf. In Kooperation, nicht in Konfrontation liegt die Lösung der globalen Probleme. Nur durch internationale Zusammenarbeit werden Abrüstung, eine atomwaffenfreie Welt und die Bewältigung der Klimakrise möglich! Von Russland fordern wir das Ende des Krieges gegen die Ukraine! Die Bundesregierung fordern wir auf, endlich wieder Friedensinitiativen zur Beendigung des Krieges zu starten und die Verhandlungsbereitschaft aller involvierten Parteien zu fördern. Die Menschen in der Ukraine brauchen dringend Friedensperspektiven. Immer mehr Waffenlieferungen schaffen keinen Frieden und werden die Spirale der Gewalt nicht durchbrechen. Dies ist nur durch einen Waffenstillstand, Verhandlungen und langfristig durch Versöhnung möglich – in der Ukraine und den Konflikten weltweit!

Wir zeigen uns solidarisch mit allen von Kriegen und Konflikten betroffenen Menschen, wie etwa in Afghanistan, Äthiopien, Irak, Jemen, Mali, Myanmar, Syrien oder der Ukraine. Daher fordern wir die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen sowie Asyl und Schutz für alle Menschen, die vor Kriegen fliehen, den Kriegsdienst verweigern oder desertieren.

Für Frieden, Abrüstung und Gerechtigkeit gehen wir Ostern auf die Straße und rufen alle zur Teilnahme an den Ostermärschen auf. Selten war es dringender!

Waltraud Andruet, FriedensNetz Saar und pax christi Saar Infos.: www.friedensnetzsaar.com

Urheberrecht
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Oben       —    Kleiner Markt in Saarlouis, Blick in die Französische Straße

Author Xocolatl (talk) 18:42, 11 April 2010 (UTC)       /       Source   :  Self-photographed      /      Date    :  2010

I, the copyright holder of this work, release this work into the public domain. This applies worldwide.
In some countries this may not be legally possible; if so:
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ChatGPT löst Krise aus

Erstellt von Redaktion am 19. März 2023

Hausaufgaben aus der Maschine

Tote Augen – leerer Sinn, welche Rergierung steuert von innen ?

Von Philipp Brandstädter

Schüler überlassen das Schreiben ganzer Aufsätze einer künstlichen Intelligenz. Kritiker fürchten, dass der Persönlichkeitsentwicklung dadurch etwas Zentrales verlorengeht. Stimmt das?

Die ersten Videos liefen zum Jahreswechsel auf Sihams Smartphone ein. Von da an folgte ein Tiktok-Kurzclip auf den nächsten, neben Kosmetik-, Tanz- und Tiervideos immer wieder ChatGPT, die geniale Erfindung. „Ständig erzählte irgendjemand, wie einfach man damit Hausaufgaben machen kann und wie es das ganze Schulleben auf den Kopf stellen würde“, sagt die Schülerin aus der Fritz-Karsen-Schule in Berlin-Neukölln. „Also habe ich es selbst ausprobiert.“

Seit ChatGPT Ende November 2022 gestartet ist, drehen sich die Diskussionen in sozialen Netzwerken oft um das auf einer künstlichen Intelligenz (KI) basierende Sprachsystem. Und SpiegelZeitFAZ machen KI zum Titelthema. Was KI bereits alles kann, wo KI schon überall eingesetzt wird, wann KI unsere Arbeit übernimmt. Wöchentlich gibt es neue Experteninterviews, oder die KI schreibt die Kolumnen gleich selbst – wie einmal im Monat in der wochentaz, wo die künstliche Intelligenz Anic T. Waed Autorin der Kolumne „Intelligenzbestie“ ist.

ChatGPT, so heißt es, könne komplexe Fragen beantworten, gebe Erklärungen und Tipps, helfe genauso schnell bei der Reiseplanung, wie sie einen Computercode oder ein neues Theaterstück schreibt.

„Zuerst habe ich die Englischaufgaben damit gemacht“, sagt Siham. „Frage eingeben und die Antwort kopieren. Das geht total einfach, wenn man mal faul ist oder keine Zeit hat.“ Auch bei grundsätzlichem Lernstoff, für den im Unterricht der Oberstufe mal wieder nicht genug Zeit blieb, hilft ChatGPT nach. Dadurch wurde die KI zum Standard-Tool der 17-Jährigen. „Wenn mir die Antwort nicht ausreicht, schreibe ich:,Erkläre das genauer‘, oder ich stelle meine Frage anders. Schon bekomme ich einen neuen, detaillierteren Text, der mir beim Lernen hilft.“

War das jetzt schon gemogelt?

In diesen Tagen macht sich mal Begeisterung breit, mal Besorgnis. Dabei hätten wir auch schon vor Jahren von KI überwältigt sein können: Erst bezwingt ein Computer den Weltmeister im Schach, dann helfen Navis beim Autofahren, später empfehlen uns Algorithmen personalisierte Inhalte wie Bücher, Musik, Filme und Schnäppchen. Aber so richtig von den Socken sind wir erst, als eine KI beginnt, auf Zuruf verrückte Bilder zu zeichnen oder in einem Chatfenster mit uns zu plaudern. Faszinierend und gruselig zugleich.

Gruselig vor allem für Schulen und Universitäten. Denn dort, wo Schreiben eine Persönlichkeit ausbilden, kritisches Denken fördern und junge Menschen zu mündigen BürgerInnen erziehen soll, beginnen die jungen Menschen, das Schreiben einer Maschine zu überlassen.

Wenn dieser Schritt aber von einem Computer übernommen wird, geht in der Persönlichkeitsentwicklung nicht etwas Zentrales verloren? Muss das Bildungswesen einschreiten? Kann man das überhaupt verhindern?

Gerade wurde Siham von ihrem Lehrer erwischt. Was heißt schon „erwischt“: „Warum soll ich nicht ChatGPT benutzen? Ist doch auch nicht groß anders als Googeln.“ Siham sucht in ihrem Chatverlauf mit ChatGPT, um welches Thema es ging, kann den Dialog mit der Sprach-KI aber auf die Schnelle nicht finden. Es war im Politikkurs, die Hausaufgabe hatte irgendwas mit Verfassungsorganen und dem Bundesrat zu tun. „ChatGPT hat da auch ganz gute Antworten geliefert, aber dann ist mein Lehrer stutzig geworden.“

„Das war Zufall“, sagt Lehrer Friedemann Gürtler. „Ich hatte mit ChatGPT gespielt und viele dieser typischen, abwägenden Antworten erhalten.“ Si­hams Sätze in der Hausaufgabe hatten einen ganz ähnlichen Ton. „Die abwägende Antwort hat nicht so recht zu der eindeutigen Fragestellung gepasst.“

Hat Siham etwas Verbotenes getan? Hat sie getäuscht? Plagiiert? Friedemann Gürtler war sich da auch nicht so ganz sicher. Also hat er Siham gebeten, ein Referat über ChatGPT zu halten. Da hatten schon die meisten SchülerInnen in Sihams Oberstufe von dem Programm mitbekommen. „Inzwischen nutzt jeder ChatGPT für die Schule“, sagt Siham. „Das ist total nützlich und auch richtig so. Nur wird es ab jetzt für die Lehrkräfte schwierig werden, die schriftlichen Leistungen zu bewerten.“

ChatGPT soll in Minnesota eine Juraprüfung bestanden haben

Dass Computer Fließtexte generieren, die sich nicht von jenen unterscheiden lassen, die Menschen verfassen, ist für die Lehre ein Riesenproblem. ChatGPT soll an der Uni von Minnesota sogar schon eine Juraprüfung bestanden haben. Auch im Theo­rieteil, den MedizinerInnen ablegen müssen, um in den USA praktizieren zu dürfen, hat ChatGPT locker die vorgeschriebene Mindestpunktzahl erreicht.

Warum also nicht einfach ChatGPT verbieten?

In den USA ist das teilweise schon geschehen, der Schulbezirk in New York hat sich dazu entschieden. In der EU feilen Kommission und Parlament seit zwei Jahren am Artificial Intelligence Act, dem ersten Regelwerk für KI. Sogenannte Hochrisikoanwendungen sollen dabei eingeschränkt werden wie die Gesichtserkennung oder die Prüfung der Kreditwürdigkeit. ChatGPT ist per Definition auch ein Hochrisiko, solange die generierten Texte nicht einer Person zugeschrieben werden. Irgendjemand muss ja dafür gerade­stehen, sollte die Maschine sexistischen, rassistischen, manipulativen, zusammengelogenen Mist verzapfen. Kann man Schulen so eine Maschine zumuten?

Berliner Firma bringt eigene Version heraus

Gerade einmal fünf Tage brauchte ChatGPT, um weltweit eine Million NutzerInnen zu erreichen. Kein anderer Onlinedienst hat diese Marke so schnell geknackt. Instagram brauchte knapp drei Monate, Twitter zwei Jahre. Der irrwitzige Hype überrascht auch Fachkreise, denn Sprachmodelle wie GPT, die bei Google LaMDA und bei Face­book OPT-175B und jetzt LLaMA heißen, gibt es schon etwas länger, auch wenn sie noch nicht frei nutzbar sind.

GPT steht für Generative Pretrained Transformer und ist ein neuronales Netz, dessen Verbindungen sich zwischen den Rechenknoten bei Erfolg verstärken. Dadurch lernt das Netzwerk, ähnlich wie unser Gehirn es tut. Die künstliche Intelligenz wurde mit massenhaft Textdaten trainiert: Artikel, Aufsätze, Blogeinträge, wissenschaftliche Papers, Belletristik, Kochrezepte – Millionen Texte, größtenteils aus dem Internet und ein beträchtlicher Stapel Fachbücher.

Es ist in etwa so, als hätte man ein Kind in eine Bibliothek gesperrt, wo es sich mit der Zeit einen Sinn aus den Texten zusammengereimt hat. Welcher Buchstabe folgt mit welcher Wahrscheinlichkeit auf den anderen? Welches Wort folgt auf welches Wort? Welche Wortfolgen passen grammatikalisch und inhaltlich zusammen? Auf der Grundlage von erlernten statistischen Wahrscheinlichkeiten imitiert ChatGPT menschliche Sprache und erzeugt mit jeder Anfrage einen neuen Text. In seiner inzwischen dritten Version macht das Programm das so gut, dass unsereins in der Regel die Luft wegbleibt.

Für ChatGPT wurde das bestehende Sprachmodell lediglich mit einer Chatfunktion garniert. Das macht es leicht, das Programm zu benutzen, und bringt auch noch Spaß mit ins Spiel. So können alle „prompten“, also eine Anfrage an das Programm richten. Und die Erfinder von ChatGPT konnten ihr Monster auf die ganze Welt loslassen, das seitdem durch die Prompts von derzeit weit über 100 Millionen Menschen weiter trainiert und verbessert wird.

Dass diese kostbaren Daten gerade Sekunde für Sekunde den Internet­riesen durch die Lappen gehen, macht ChatGPT zu dem großen Ding, das es gerade ist. Zum ersten Mal spurtet Google nicht vorweg, sondern muss nachziehen. Hastig hat es sein eigenes künstliches Sprachmodell namens Bard veröffentlicht, das bei dessen Vorstellung gleich mal eine falsche Info verbreitete und die Aktie von Googles Mutterkonzern Alphabet absacken ließ. Chinas Suchmaschine Baidu antwortet derweil mit ihrem Chatbot Ernie.

Ernie und Bard, kein Witz. Und ausnahmsweise gibt es mit dem Heidelberger Unternehmen Aleph Alpha auch einen deutschen Player, der in Sachen KI auf Augenhöhe mitmischt.

Andere Firmen nutzen GPT3 für ihre Produkte, alle können die Sprach-KI kostenfrei in ihre Software einbauen. Zu diesen Firmen gehört auch Mindverse aus Berlin-Spandau. Geschäftsführer Noel Lorenz, 25 Jahre alt, spaziert durch die neuen Räume, in die er vor Kurzem mit seinem Team eingezogen ist. Sein Personal verdoppelt sich gerade, der hintere Trakt der Etage ist noch eine Baustelle.

„Von GPT3 war ich schon fasziniert, als es noch in der Beta­phase steckte“, erzählt Lorenz. Da war das Modell endlich in der Lage, selbstständig Muster in seinen Daten zu erkennen und menschenähnliche Texte zu erstellen. Das gelang, weil die KI mit einer Datenmenge trainiert wurde, die bald 1.500-mal so groß war wie die der Vorgängerversion.

Vor zwei Jahren gegründet, surft Mindverse nun auf der Erfolgswelle von ChatGPT mit. „Im Vergleich zu GPT kann Mindverse besser Deutsch und ist dank seiner Livedaten aus dem Internet moderner“, sagt Lorenz. ChatGPT greift nur auf Datensätze bis zum Jahr 2021 zurück. Seit zehn Jahren programmiert Lorenz, vor sieben Jahren hat er seine erste Firma gegründet, dann verkauft. Er hat ein bisschen Medizin studiert, ist aber lieber zu BWL gewechselt. Der schwarze Steve-Jobs-Rolli unter dem Sakko lässt erahnen, welche Richtung seine Karriere einschlagen soll.

Neben der Chatfunktion bietet Mindverse zusätzliche Feintuning-Modelle, die sich gezielter auf die Datensätze beziehen als bei ChatGPT. „Das neuronale Netzwerk antwortet nur so gut, wie es gefragt wird. Daher konkretisieren wir die Anfragen mit unserer Software.“ Eine Funktion ist dafür gemacht, Stichpunkte in Fließtext zu verwandeln, eine andere soll Aufsätze mit Thesen und Argumenten schreiben, die nächste werbewirksame Überschriften erfinden oder Songtexte dichten.

„Die KI wird ständig von unseren Power­usern trainiert und bewertet“, sagt Lorenz. Das bedeutet, dass das Sprachmodell weiter lernt und umso menschlicher wird, während es den Gesprächspartner spielt. Außerdem bezieht die Maschine Formeln ein, die die Lesbarkeit von Texten berechnen: das Flesch-Kincaid-Grade-Level, den Gunning-Fog-Index, den Coleman-Liau-Index. Diese Formeln zählen Buchstaben, Silben und Wörter und berechnen, wie verständlich ein Satz sein muss. Unabhängig von dessen Inhalt ist das wichtig für die Suchmaschinenoptimierung. Je besser die berechnete Lesbarkeit, desto höher das Ranking bei Google und Co.

Im Gegensatz zur ersten Version von ChatGPT gibt Mindverse auch die Websites an, die die KI als Quelle genutzt hat. Das könnte bei Hausarbeiten ein entscheidender Vorteil sein. „Wir haben bestimmte offizielle Websites als seriös eingestuft und bewerten Quellen höher, je häufiger sie verlinkt werden“, sagt Noel Lorenz. Außerdem hat der Mindverse-Kopf auch an den Datenschutz gedacht. Die Prompts und Entwürfe können über anonyme Konten verfasst werden.

Das hat Thomas Süße auf das Programm aufmerksam gemacht. Er steht vor einem Smartboard in den Räumen des Campus Gütersloh, einem schlichten weißen Gebäude hinter dem Bahnhof, auch „Gleis 13“ genannt. Die Studierenden machen hier hauptsächlich etwas mit Maschinen: Mechatronik, Engineering, Logistik, digitale Technologien. Sozialwissenschaftler Süße bringt die menschliche Komponente in die Maschinenwelt, indem er zur Transformation der Arbeit forscht. „Die Technisierung verändert, beschleunigt, erleichtert unsere Arbeit“, erklärt der Professor. „Sie setzt uns aber auch unter Druck.“

Technostress nennt Thomas Süße das, die Schattenseite der Digitalisierung. Er kritzelt blaue Pfeile und Kürzel an die Wand und denkt laut: „Bislang haben sowohl Hochschulen als auch Schulen nur sehr wenig wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie Schüler und Studierende die Sprach-KI sinnvoll nutzen.“ Es gibt noch keine gesicherten Antworten. Wie auch, ChatGPT ist zu neu – und das Bildungswesen zu langsam. „Darum brauchen wir jetzt Grundlagenforschung, und zwar schnell.“

Doch Lernerfolg lässt sich nicht so einfach nachweisen. Gelernte Kompetenz, das umfasst neben Fachwissen auch kreatives Schaffen, kritisches Denken, Zusammenarbeit, die Fähigkeit, sich mitzuteilen. „Das sind alles persönlich empfundene und eingeschätzte Werte“, sagt Süße. „Mein Job ist es, diese schwer erfassbaren Variablen besser messbar zu machen.“ Dazu will er eine große Gruppe SchülerInnen befragen, die regelmäßig eine Sprach-KI nutzt.

Der Plan: Eine Klassenstufe soll ihre Facharbeit schreiben und dabei Mindverse verwenden dürfen. „Wir wollen wissen, welche Rolle die Sprach-KI spielt: ob sie Ideen einbringt, als Sparringpartnerin im Schreibprozess hilft, oder Co-Autorin wird.“ An der ersten Untersuchung werden 120 junge Leute teilnehmen. Wie praktisch, dass die benötigte Kohorte quasi vor der Haustür des Professors lernt.

Den richtigen Umgang mit ChatGPT lernen

Das Evangelisch Stiftische Gymnasium (ESG) in Gütersloh ist ein bisschen besonders. Protestanten gründeten es, als die ersten Maschinen begannen, die Arbeitswelt auf den Kopf zu stellen, und die Aufgaben des Handwerks übernahmen. Es heißt, hier würden RichterInnen, ChirurgInnen und ManagerInnen von morgen die Schulbank drücken.

Der in Gütersloh ansässige Medienkonzern Bertelsmann hat den Backsteinbau der Schule um eine verspiegelte Mediothek mit Tonstudio und Videoschnittraum ergänzt. Seit einem Vierteljahrhundert sind Laptops hier Teil des Unterrichts. Dank Lernplattform und Endgeräten wechselte das ESG im Lockdown spielend in den Distanzunterricht. Und auch bei der Verwendung von Sprach-KIs gibt es an dieser Schule nur wenig Berührungsängste.

Deutschlehrer Hendrik Haverkamp hat seine 8. Klasse erst neulich gegen ChatGPT antreten lassen. Die Aufgabe war eine Gedichtanalyse. Nachdem die Schülerinnen und Schüler ihre Arbeiten abgegeben hatten, kam die KI an die Reihe. Sie brauchte nur ein paar Sekunden, um ihren Text abzuliefern: eine fein strukturierte Analyse mit aufeinander aufbauenden Argumenten und ohne einen Rechtschreibfehler. „Das sah auf den ersten Blick nach einer hervorragenden Arbeit aus“, erzählt Haverkamp. „Nur war der Text inhaltlich komplett falsch.“

Sprachmaschine statt Wissensmaschine

Die KI schrieb das Gedicht „Berliner Abend“ von Paul Boldt lieber Erich Kästner zu und erzählte etwas über hübsche Naturbeobachtungen, die in Boldts Schilderungen nicht wirklich vorkommen. Die Argumente der Maschine waren teils erzkonservativ, teils weltfremd. Das erste Urteil der Klasse über ChatGPT: „Boomer-Tool“. „ChatGPT ist wie ein Insidergag: Ich verstehe ihn nur dann, wenn ich genug darüber weiß“, sagt Haverkamp.

Es ist Mittwoch, ein eisiger Morgen, erste Stunde, Deutsch. In der 8. Klasse sind die Laptops aufgeklappt, kein Heft, kein Stift liegt auf den Tischen. Lehrer Haverkamp steht vor dem Bildschirm an der Wand, wo früher mal eine Kreidetafel hing, und schickt ein paar Meldungen über Elon Musk auf den Monitor. „Welche Nachricht ist Fake und von ChatGPT, welche ist echt?“ Es gibt erste Vermutungen, der Schreibstil der KI ist der Klasse längst vertraut.

„ChatGPT macht keine Umschreibungen wie ‚Der 51-Jährige‘.“ „Das Wort ‚Milliarden‘ würde nicht mit,Mrd.‘ abgekürzt.“ Haverkamp zeigt der Klasse ein Tool, das künstlich generierte und von Menschen verfasste Texte unterscheiden können soll. Kann es aber nicht. Die Sprach-KI ist zu weit entwickelt, das Prüfungsprogramm aufgeschmissen. Dann kopiert ein Schüler fix einen Textbaustein der menschengemachten Meldung aus der Zeitung, sucht im Netz und findet die Quelle.

„Mir wäre es lieber, wenn ChatGPT auch mal zugeben würde, dass es keine Ahnung hat“, sagt Lilli aus der 10. Klasse. „Eine eigene Meinung würde ihr auch gut stehen.“ Im Projektunterricht beschäftigt sich die 16-Jährige gerade mit den sogenannten Neuen Medien. „Die KI relativiert alle Argumente und geht nicht so richtig in die Tiefe. Man braucht eigenes Wissen und muss skeptisch bleiben, damit man keine Fehler übernimmt.“ Bei Themen, für die es kein Richtig oder Falsch gibt, sagt Lilli, wenn es ethisch, emotional oder persönlich wird, dann sei ChatGPT blank.

ChatGPT ist eine Sprachmaschine, keine Wissensmaschine. Das Programm schwafelt, immer selbstbewusst, immer wieder inhaltsarm. Es verwendet Worthülsen, bedient sich aus Quellen wie Blogs oder der Boulevardpresse, ignoriert direkte Zitate, liest nicht zwischen den Zeilen, erzählt lieber irgendetwas, als gar nichts zu texten. Viele Floskeln, inflationär verwurstete Fremdwörter, sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit, eine Illusion des Plausiblen.

Dennoch arbeitet auch Lillis Mitschüler Max viel mit dem Sprachtool. „Wenn ich einen Aufsatz schreibe oder etwas programmieren will. Die KI verkürzt die Zeit für die Fleißarbeit, damit ich mehr Zeit für die Denkarbeit habe.“ Wegen der Sache mit ChatGPT waren auch schon mehrere Medienleute am Gymnasium und haben mit ihm gesprochen. Gerade erst kam ein Fernsehteam vorbei, erzählt Max. Die hätten für ihren Beitrag aber mal schön seine Antworten verdreht. „Es kam so rüber, als würde ich die KI aus purer Faulheit alle Hausaufgaben erledigen lassen.“ Ganz so einfach sei das nun auch wieder nicht.

Im Mai werden Max und Lilli ihre Facharbeiten schreiben, KI-unterstützt, für die Studie von Thomas Süße. „Ich kann mir vorstellen, dass das Programm eine Inspirationsquelle sein wird“, sagt Lilli. „Es hat mir vorher schon gute Überschriften oder auch Argumente vorgeschlagen, auf die ich selbst nicht gekommen wäre. Warum sollte ich solche Ideen nicht benutzen.“

Für die meisten SchülerInnen und Studierenden ist das noch nicht so selbstverständlich wie für Lilli und Max. Künstliche Intelligenz für eine Abschlussarbeit zu verwenden ist zwar kein Plagiat. Dafür müsste das geistige Eigentum einer Person gestohlen werden, und noch machen wir zwischen Mensch und Maschine einen klaren Unterschied. Jedoch kann man die Texte einer KI auch schlecht als eigenes geistiges Eigentum ausgeben. Das wäre eher als Täuschungsversuch zu werten.

Was ist erlaubt, was verboten?

Diese Art der vermeintlichen Täuschung bringt zwei Probleme mit sich.

Erstens: Das ohnehin schon überlastete Lehrpersonal müsste nach maschinellem Ghostwriting fahnden. Aber wann? Und wie? Schon jetzt bekommt es kein Tool hin, zielsicher KI-Content zu erkennen. Das wird auch in Zukunft kaum gelingen, da die Sprach-KI ja ständig besser, menschenähnlicher wird.

Zweitens: Wo fängt die Täuschung an? Ganz sicher, wenn man ganze KI-generierte Absätze verwendet. Aber auch schon bei ein paar Worten? Oder bei einer Idee, die mir von allein nicht eingefallen ist? Oder wenn ich meinen Text durch ein Rechtschreibprogramm laufen lasse? Wenn ich einen Taschenrechner benutze?

Im Gegensatz zu den USA scheinen es die Bundesländer nicht auf ein Verbot von ChatGPT abzusehen. Auf der Bildungsmesse Didacta in Stuttgart hieß es gerade: Sprach-KI hat zu viel Potenzial, um sie zu verbieten.

Seitens des Hessischen Kultusministerium hieß es: KI-Anwendungen könnten „Schülerinnen und Schüler individuell in ihrem Lernprozess unterstützen“. Viel konkreter wird es bis dato nicht. Immerhin veröffentlichte das nordrhein-westfälische Schulministerium einen Leitfaden zum Umgang mit KI. Darin wird die Arbeit mit Textrobotern nicht verboten, stattdessen auf die Pflicht der Schulen hingewiesen, ­Medienkompetenz zu lehren.

Eine Richtlinie, wie die Lehrerinnen und Lehrer künftig Leistungen prüfen sollen, hat noch niemand geschrieben. Und so scheint es, als würden wir der künstlichen Intelligenz genauso begegnen wie den anderen Krisen der jüngeren Zeit auch. Klima, Corona, KI-Weltherrschaft: Wir sehen es kommen, wir wissen, dass wir handeln müssen – und sitzen es lieber aus.

„Die Angst ist vor allem so groß, weil es an Erfahrung fehlt“, sagt Anja Strobel. Die Psychologin forscht im Bereich „Hybrid Societies“ an der TU Chemnitz daran, wie der Mensch mit der Maschine interagiert und ein vertrauensvolles Miteinander in der Arbeitswelt möglich ist. Strobel hat Interviews ausgewertet, die der Gütersloher Sozialwissenschaftler Thomas Süße mit ArbeiterInnen in einer Fabrik geführt hat. Sie sprachen darin über ihre Erfahrung, eine künstliche Intelligenz wie einen Azubi anzulernen.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Output of Craiyon (formerly „DALL-E Mini“). See the model card for information on the model used. Specifically (from the title card): „Images are encoded through a VQGAN encoder, which turns images into a sequence of tokens. Descriptions are encoded through a BART encoder. The output of the BART encoder and encoded images are fed through the BART decoder, which is an auto-regressive model whose goal is to predict the next token. Loss is the softmax cross-entropy between the model prediction logits and the actual image encodings from the VQGAN.“ Upscaled using Real-ESRGAN.

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Unten        —     The Chromatics CT4100 graphics terminal displayed text and character-cell graphics in color.

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Wann fällt Macron ?

Erstellt von Redaktion am 19. März 2023

Frankreich: Rentenreform um jeden Preis?

Von Steffen Vogel

Es ist eine Kraftprobe mit ungewissem Ausgang: Mit seiner geplanten Rentenreform hat Emmanuel Macron große Teile des Landes gegen sich aufgebracht. Die Gewerkschaften rufen vereint wie lange nicht zu Streiks auf, Millionen Menschen strömen zu den Großdemonstrationen. Bereits zu Beginn waren die Proteste massiver, als es selbst die klassenkämpferische Gewerkschaft CGT erwartet hatte. In Umfragen lehnen drei Viertel der Französinnen und Franzosen das Vorhaben ab. Derzeit ist es sogar alles andere als ausgemacht, dass Macrons Reform bis zum geplanten Abschluss der parlamentarischen Beratungen am 27. März eine Mehrheit in der Nationalversammlung finden wird.

Das stellt den französischen Präsidenten vor ein gewaltiges, aber zu einem guten Teil selbstverschuldetes Dilemma: Macron hat seine politische Glaubwürdigkeit an das Gelingen dieser seiner wichtigsten innenpolitischen Reform geknüpft. Daher steht und fällt mit ihr auch seine Bilanz als Staatschef. Kapituliert Macron vor dem Volkszorn, wird er unweigerlich als gescheiterter Modernisierer gelten. Schaltet er hingegen auf stur und setzt die Reform gegen den Mehrheitswillen und am Ende nötigenfalls sogar per Dekret durch, riskiert er eine weitere Spaltung des Landes, zulasten der französischen Demokratie.

Die massive Ablehnung, die der Rentenreform allenthalben entgegenschlägt, selbst aus Teilen der Regierungsfraktion, erklärt sich nur zum Teil aus den konkreten Plänen von Macron und Premierministerin Élisabeth Borne. Diese sind weniger weitreichend als noch im ersten, durch die Pandemie gestoppten Anlauf von 2019.[1] So soll der Rentenbeginn nun von 62 auf 64 Jahre angehoben werden, statt wie ursprünglich geplant auf 65 Jahre. Da das Vorhaben aber Gruppen stärker belastet, die in der Arbeitswelt ohnehin benachteiligt sind, fügt es sich in den Augen vieler in das größere Panorama einer zunehmend von Ungleichheit und Ungerechtigkeit geprägten Gesellschaft – und in das Bild einer abgehobenen Elite, die blind ist für die soziale Lage einer Mehrheit der Französinnen und Franzosen. Damit sind alle Zutaten vorhanden, die es für eine harte Auseinandersetzung braucht – vor allem in einer politischen Kultur, in der Konflikt wichtiger ist als Konsens.

Von außen betrachtet mag die Empörung irritieren. Denn das französische Rentensystem ist überdurchschnittlich teuer und extrem komplex: Die jährlichen Kosten entsprechen knapp 14 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, in Deutschland sind es zehn, im OECD-Schnitt acht Prozent.[2] Zudem existieren gleich 42 Rentensysteme, die oft nur bestimmten Berufsgruppen offenstehen und teils hoch defizitär sind. Allein schon die von der Regierung geplante Abschaffung zumindest eines Teils der vielen Spezialkassen würde eine Reform rechtfertigen. Dass Millionen Menschen vermeintlich dafür demonstrieren, weiterhin mit 62 Jahren in den Ruhestand eintreten zu dürfen, erscheint gerade in Deutschland, wo schon die Rente mit 70 debattiert wird, wie aus der Zeit gefallen.

Tatsächlich aber gehen bereits jetzt viele Französinnen und Franzosen deutlich später in Rente, zumindest sofern ihr Körper es mitmacht. Denn um eine abschlagsfreie Rente erhalten zu können, müssen sie 42 Beitragsjahre vorweisen, künftig sollen es 43 Jahre sein. Genau diese zeitgleiche Erhöhung des Renteneintritts und der Beitragsjahre führt aber zu Ungerechtigkeiten, insbesondere mit Blick auf drei Gruppen. Das gilt erstens für Menschen, die nicht studiert haben: Wer mit 20 Jahren erwerbstätig wird, kann bisher mit 62 Jahren in den Ruhestand gehen. Nach der neuen Regelung hätte er hingegen erst mit 63 lange genug Beiträge eingezahlt und würde ein weiteres Jahr später das Renteneintrittsalter erreichen – müsste also zwei Jahre länger arbeiten. Für Akademiker hingegen ist die Altersgrenze schon jetzt ohne Belang, da sie aufgrund ihres Studiums ohnehin länger arbeiten müssen, um abschlagsfrei zu sein. Wer künftig beispielsweise mit 23 Jahren die Uni abschließt, hat nach dem neuen System die fälligen Beitragsjahre an seinem 66. Geburtstag beisammen, also nur ein Jahr später als zuvor. Und für alle, die noch länger studieren, greift wie bisher die Höchstgrenze von 67 Jahren, ab der jeder spätestens ohne Abzüge in Rente gehen darf. Akademiker leiden damit weniger unter der Reform als ihre geringer qualifizierten Altersgenossen – die überdies schon jetzt weniger von ihrer Rente haben. Denn nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsbedingungen stirbt statistisch gesehen beispielsweise eine Arbeiterin drei Jahre früher als eine Managerin, und ein Arbeiter lebt sogar über sechs Jahre kürzer als ein Manager.[3] Diese im wahrsten Sinne des Wortes existenzielle Ungleichheit würde durch die Reform noch verstärkt.

Ähnlich ergeht es, zweitens, den Müttern, für die sich die Anrechnung von Kindererziehungszeiten ungünstig auswirkt. Dadurch werden sie im Durchschnitt etwas länger zusätzlich arbeiten müssen als Männer. Auch in diesem Fall verschärfen die Regierungspläne bestehende Ungerechtigkeiten: Da Frauen im Schnitt deutlich weniger verdienen als Männer, fallen ihre Renten entsprechend um 40 Prozent niedriger aus – in deren Genuss sie nun obendrein später kommen würden.[4] Selbst der Minister für Parlamentsbeziehungen, Franck Riester, musste einräumen, Frauen würden durch die Reform „ein wenig bestraft“.[5]

So aber fühlen sich, drittens, insgesamt viele ältere Arbeitnehmer. Derzeit ist in Frankreich nur ein knappes Drittel der über 60jährigen noch im Beruf, in der EU liegt der Durchschnitt immerhin bei 45 Prozent.[6] Selbst wer körperlich fit genug und arbeitswillig ist, findet ab einem gewissen Alter in Frankreich schwerer einen Job als anderswo. Ein höheres Renteneintrittsalter bedeutet für viele daher nicht, dass sie länger im Beruf bleiben müssen, sondern dass sie länger arbeitslos sein werden. Auch das trifft geringer Qualifizierte häufiger als Akademiker. Es sind diese sozialen Unwuchten, die derzeit landesweit Menschen auf die Straße treiben.

Ungerecht, aber notwendig?

Die Befürworter von Macrons Plänen bemühen dagegen den Sachzwang. So erklärte der ehemalige Fraktionschef der Regierungspartei, Gilles Le Gendre ganz offen: „Ich sage nicht, dass diese Reform gerecht ist, sondern dass sie notwendig ist.“ Die Regierung argumentiert, angesichts der alternden Bevölkerung drohe den Rentenkassen ein Milliardendefizit, das früher oder später das Rentensystem gefährden werde. Ihre Reform sei daher unabdingbar, um den Solidarvertrag zu retten.[7]

Wie hoch dieses Defizit tatsächlich ausfallen wird, ist allerdings stark umstritten, auch weil es von schwer kalkulierbaren Faktoren wie der erwarteten Arbeitslosenquote abhängt. Macrons Kritiker werfen ihm vor, bewusst ein düsteres Bild zu zeichnen, tatsächlich gehe es ihm bei seiner Reform vor allem um die erwarteten Mehreinnahmen von 20 Mrd. Euro jährlich, die er unter anderem zur von der EU angemahnten Haushaltskonsolidierung einplanen könnte.[8]

Den Sozialstaat verteidigen

Quelle          :        Blätter-online            >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben        —     Manifestation contre la réforme des retraites au Mans, le 15 mars 2023

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Arbeitskraft als Mangelware:

Erstellt von Redaktion am 19. März 2023

Fachkräftemangel – mangelt es an Zwang zur Arbeit?

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Fachlräftemangel wird besonders in der Poltik sicht und hör-bar. Hirn zu klein-Maul zu groß!

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von    :    Suitbert Cechura

Arbeitskraft als Mangelware: Das freie Unternehmertum vermisst nachhaltige Planung auf dem Arbeitsmarkt.

Alle möglichen Branchen klagen über Fachkräfte- oder Personalmangel. Von der Gastronomie mit ihren Billigarbeitskräften über Pflege, Nahverkehr oder Handwerk bis hin zu Ingenieuren oder Lehrerinnen – überall sollen sie fehlen. Und das bei gut 2,6 Millionen arbeitslos gemeldeten Menschen im Februar 2023. Wie das zusammengeht und welche Begründungen dafür geliefert werden, ist bemerkenswert. Dazu hier ein paar Hinweise.

Demographischer Wandel

Als Begründung für den allseitigen Personalmangel wird regelmäßig der demographische Wandel bemüht. Telepolis hat sogar schon mit ChatGPT einen genuinen Vertreter der Künstlichen Intelligenz zu Wort kommen lassen, der mit seinen maschinell hergestellten Textbausteinen die ideologischen Standardargumente abspulen kann. Auch der KI liegt die marktwirtschaftlich interessierte Einbildung zugrunde, „dass zwischen Geburtenrate oder Altersstruktur und dem Bedarf an menschlichen Ressourcen des Wachstums eine Passung bestehen sollte“ (G. Schuster).

Diese Passung soll zur Zeit wieder schwer gestört sein. Es würden immer mehr Menschen altersbedingt aus dem Arbeitsleben ausscheiden, heißt es, während immer weniger junge Menschen in es einsteigen. Betont wird dabei, dass jetzt besonders die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. Als geburtenstark gelten die Jahrgänge nach dem Zweiten Weltkrieg, Höhepunkt war dabei laut Statistischem Bundesamt Destatis das Jahr 1964.

Das heißt aber: Sie scheiden schon seit einem Jahrzehnt aus dem Arbeitsleben aus, das ist kein neues Phänomen; und gleichzeitig gibt es so viele abhängig Beschäftigte wie noch nie, obgleich weniger junge Menschen nach ihrer Ausbildung ins Arbeitsleben eingemündet sind. So hat die Zahl der Beschäftigten, wie Destatis meldet, in den letzten zehn Jahren um mehr als zwei Millionen zugenommen. Fazit: Es hängt nicht von der Zahl der Geburten ab, ob ausreichend Menschen beschäftigt werden oder ob sie arbeitslos sind, das kann man schon der Arbeitsmarktstatistik entnehmen.

Attraktion und Repulsion

Bei der Aufrechnung der Arbeitslosenzahlen verweist die Bundesanstalt für Arbeit darauf, dass die Arbeitslosigkeit keinen monolithischen Block darstellt: „Arbeitslosigkeit ist kein fester Block, vielmehr gibt es unabhängig von der wirtschaftlichen Lage viel Bewegung. Dabei werden Zu- und Abgänge von Arbeitslosen im Zeitraum zwischen den Stichtagen jeweils zur Monatsmitte erfasst. So meldeten sich im Berichtsmonat Februar 2023 insgesamt 579 000 Menschen bei einer Arbeitsagentur oder Jobcenter arbeitslos, das waren 80 000 oder 16 Prozent mehr als vor einem Jahr… Gleichzeitig beendeten 575 000 Personen ihre Arbeitslosigkeit, 42 000 oder 8 Prozent mehr.“ (https://www.statistik.arbeitsagentur.de/Statistikdaten/Detail/202302/arbeitsmarktberichte/monatsbericht-monatsbericht/monatsbericht-d-0-202302-pdf.pdf?_blob=publicationFile&v=1 )

Diese Meldung soll wohl wie eine Beruhigung klingen, dabei ist sie alles andere als beruhigend. Schließlich drücken diese Zahlen aus, dass laufend Entlassungen stattfinden und dass im letzten Monat mehr als eine halbe Millionen Menschen, die gezwungen sind, von dem Verkauf ihrer Arbeitskraft zu leben, in die Arbeitslosigkeit geschickt wurden, also in eine Lage, die von vornherein mit Einkommensverlusten verbunden ist.

Die Lage dieser Menschen soll man aber nicht so tragisch nehmen, da andere ihrer Schicksalsgenossen – fast in gleichen Umfang – wieder eine Stelle gefunden haben. Das gehört zur Normalität im Kapitalismus, mit der man sich abfinden soll: Ständig werden Menschen entlassen und müssen sich dann auf die Suche begeben, möglicher Weise auch einen Ortswechsel in Kauf nehmen, um wieder eingestellt zu werden – alles in allem eine sehr unsicher Kiste, je nach dem Gang der Geschäfte derer, die durch die Beschäftigung von Menschen ihr Kapital vergrößern.

Zum Thema in der Öffentlichkeit werden solche Schicksale erst dann, wenn beeindruckende neue Zahlen zu vermelden sind, wenn es zu einem eklatanten Missverhältnis kommt und zu viele Menschen arbeitslos werden, d.h. im marktwirtschaftlichen Jargon: den Sozialkassen auf der Tasche liegen. Arbeitslosigkeit ist – politisch betrachtet – auch immer deshalb ein Missstand, weil zu viele Menschen ungenutzt bleiben, was der Nation schadet.

Gleichzeitig gilt aber auch das Gegenteil in gewisser Weise als normal, ja systemkonform: Dass es immer ein Potential an Menschen gibt, die (dauer-)arbeitslos sind, passt zu dieser Wirtschaftsweise. Schließlich können die Unternehmen sich so ihre Arbeitskräfte aussuchen und sind nicht erpressbar; eine Mehrzahl an Bewerbern für eine Stelle drückt die Preise für die Arbeitskräfte und erhöht den Leistungswillen derer, die einen Arbeitsplatz „besitzen“. Das ist dann doch wieder ganz im Sinne von Staat und Wirtschaft, schließlich dreht sich ja alles in dieser Gesellschaft darum, dem Wirtschaftswachstum, dem Wachstum des als Kapital angelegten Geldes, freie Bahn zu schaffen.

Die Bundesanstalt für Arbeit unterscheidet bei den Arbeitslosen genau nach Gesetzeslage: „Von den 2 620 000 Arbeitslosen im Februar wurden 910 000 oder 35 Prozent im Rechtskreis SGB III von der Arbeitsagentur für Arbeit und 171 0000 oder 65 Prozent im Rechtskreis SGB II von einem Jobcenter betreut.“ (Arbeitsagentur) Der Gesetzgeber sortiert eben das Potenzial. Es wird erstens ein Unterschied gemacht bei denjenigen, die ein Jahr (oder in besonderen Fällen bis zu zwei Jahren) arbeitslos sind und daher aus der Arbeitslosenversicherung ihr Geld erhalten, für das sie vorher zur Kasse gebeten wurden. Sie erhalten nicht ihren vorherigen Lohn, sondern 60 bzw. 67 Prozent ihres Nettolohns, je nachdem ob sie kinderlos sind oder Nachwuchs haben. Damit stehen die „Leistungsbezieher“ vor einem doppelten Problem: Sie müssen irgendwie mit dem gekürzten Einkommen zurecht kommen und sind unter diesen Bedingungen gezwungen, möglichst bald wieder einen Job zu finden.

Zweitens: Wer länger als ein Jahr – bei den Über-50-Jährigen: zwei Jahre – arbeitslos ist, gilt als Problemfall, bei dem der Druck, wieder in Arbeit zu kommen, neuerdings in Form des „Bürgergelds“ (siehe dazu „Hartz IV geht, das Bürgergeld kommt – die Notlagen bleiben“), erhöht wird, indem der Lebensunterhalt weiteren Kürzungen unterliegt. Den Betreffenden wird auf den Cent genau vorgerechnet, was sie wofür zum Leben ausgeben dürfen. Dabei bezieht sich die Rechengrundlage nicht auf die wirklich anfallenden Kosten, sondern auf ein Konstrukt aus der Vergangenheit, wodurch diese Menschen, auch nach offiziellen Ansagen, zusätzlich auf private Hilfen wie die Tafeln oder Kleiderkammern angewiesen sind. Die Betroffenen gelten allein deshalb als Problemfälle, weil sie schon lange kein Arbeitgeber mehr beschäftigen wollte. Das stellt ihre Brauchbarkeit grundsätzlich in Frage – das Urteil, das Arbeitgeber über sie gefällt haben, wird so zu ihrer Eigenschaft.

Wer über keine Ausbildung verfügt oder keinen Schulabschluss hat – aktuell sind es 50 000 Jugendliche pro Jahr –, dessen Tauglichkeit ist ebenfalls zweifelhaft. Denn er hat nicht nur den Erwerb bestimmter Fähigkeiten verpasst, sondern den Beweis nicht erbringen können, dass er über die entsprechende Arbeitsmoral verfügt. Alleinerziehende stehen ihrem Arbeitgeber nicht unbeschränkt und zu jeder Zeit zur Verfügung, weil sie sich eben auch noch um ihre Kinder kümmern müssen. Damit ist ihre Brauchbarkeit ebenso eingeschränkt wie die derjenigen Menschen, die körperliche oder psychische Handicaps aufweisen. Migranten oder Flüchtlinge, sofern sie denn überhaupt geduldet werden, verfügen oft nicht über die entsprechenden Sprachkenntnisse und kennen sich mit den rechtlichen und kulturellen Gegebenheiten nicht aus, stellen auch unter den Jugendlichen ohne Schulabschluss einen hohen Anteil. Also sind auch sie nur bedingt tauglich.

Der Sache nach bestätigt die Statistik, die das Phänomen Arbeitslosigkeit fast wie eine Schicksalsgegebenheit behandelt, die Analysen des alten Theoretikers Karl Marx. Der hat schon vor langer Zeit nachgewiesen, dass der Kapitalismus sich durch die ständige Attraktion und Repulsion von Arbeitskräften und einen dazugehörigen „Bodensatz“ von Menschen auszeichnet, die als überflüssig gelten, weil sie unbrauchbar sind. Maßgeblich sind hier die Konjunkturen des Geschäfts und nicht die Entscheidungen von Vati und Mutti, sich was Kleines zuzulegen, oder von Oma oder Opa, den Lebensabend möglichst in die Länge zu ziehen.

Hoffentlich erscheint bald ein Pascha – welcher das Gesäß des Hinterwäldlers mit einer Gesäßstreifen – Fahne der Republikaner reinigt.

Deutschland braucht Zuwanderer, aber die richtigen

Damit das Kapital immer ausreichend Arbeitskräfte mit der entsprechenden Qualifikation zur Verfügung hat und sie sich auch auswählen kann – sonst werden diese Leute noch zu anspruchsvoll –, braucht es Zuwanderung, von 400 000 pro Jahr, so das Urteil von Fachleuten. Nun mangelt es nicht an Leuten, die nach Deutschland wollen und dabei einige Gefahren auf sich nehmen, um in die bestens abgeschirmten europäischen Länder zu gelangen. Da unternimmt ja Deutschland in Gemeinschaft mit seinem Europa schon Einiges, um diese Menschen von den Grenzen fernzuhalten (https://www.overton-magazin.de/top-story/eu-migrationsgipfel-ein-gipfel-der-heuchler-und-der-heuchelei ).

Denn schließlich will ein Staat es nicht denjenigen überlassen, die Arbeit suchen, ob sie ins Land kommen oder nicht. Das bestimmt er schon selber; wer mit welcher Qualifikation die Grenzen überschreiten und für länger oder kürzer bleiben darf, ist eine Sache hoheitlicher Gewalt. Diese Klarstellung kostet regelmäßig Menschen das Leben – nicht nur im Mittelmeer, sondern z.B. auch an der Grenze von Polen zu Belarus oder der zwischen Griechenland und der Türkei. Da die Staaten sehr genau die Bedingungen der Einreise festlegen, gibt es auch immer wieder die Klage über zu viel Bürokratie, Unternehmen könnten sich da unternehmerfreundlichere Lösungen vorstellen.

Andererseits machen Arbeitgeber gerade von dem fehlenden Qualifikationsnachweis oder dessen fehlender Anerkennung Gebrauch, indem sie hochqualifizierte Kräfte als Billiglöhner einsetzen. Doch es bleibt das Problem, dass sowohl die anspruchsvollen Kriterien für eine Einreise in die EU bzw. nach Deutschland als auch die Praktiken im Umgang mit den hier beschäftigten Migranten Deutschland nicht gerade zum Zielland für qualifizierte Arbeitskräfte aus fremden Ländern machen, der „Brain Drain“ also weiterer Betreuung bedarf.

Der Zwang zur Arbeit – muss besser greifen

Politiker entdecken daher immer wieder ein noch nicht genutztes oder zu wenig genutztes Arbeitskräftepotential. So fordert der Wirtschaftsfunktionär Steffen Kampeter: „Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit“ (SZ, 1.3.23). Er meint damit, dass die Menschen nicht so sehr auf ihre Freizeit achten, sondern mehr den Betrieben zur Verfügung stehen sollten. Und das nicht einfach, weil sie bei Mehrarbeit auch ein Plus bei Lohn oder Gehalt verbuchen könnten. Es soll vielmehr aus purer Lust erfolgen. Und das passt genau in die Landschaft, Mehrarbeit bedeutet heutzutage ja nicht unbedingt, dass die Überstunden vergütet werden:

„Jedes Jahr machen Beschäftigte in Deutschland zahlreiche Überstunden – und mehr als ein Fünftel von ihnen wird dafür noch nicht einmal bezahlt. Zugenommen hat zuletzt die Bedeutung von Überstunden, die durch Freizeit ausgeglichen werden können. Das geht aus den aktuellen Daten des Statistischen Bundesamts (Destatis) und des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) hervor… Knapp jeder Dritte macht mehr als 15 Überstunden pro Woche.“ (https://www.haufe.de/personal/hr-management/arbeitszeit-ueberstunden-in-deutschland_80_412324.html )

So nutzen Arbeitgeber die Abhängigkeit ihrer Beschäftigten aus, um sie kostenlos für sich arbeiten zu lassen. Und wenn es heißt, dass Überstunden verstärkt durch Freizeit ausgeglichen werden können, dann bedeutet dies in der Praxis unter Umständen nur, dass die betreffenden Mitarbeiter ewig ein hohes Freizeitkonto vor sich herschieben. Denn betriebliche Belange haben immer Vorrang und stehen möglicher Weise einem Ausgleich entgegen. Es sei denn, die Geschäfte gehen schlecht, dann darf der Mitarbeiter gegebenenfalls die Freizeit in Anspruch nehmen, so lange, bis ein neues Kommando erfolgt.

Dass junge Arbeitnehmer bei ihrem Bewerbungsgespräch nach Überstundenregelungen fragen, hält übrigens die Chefin der Agentur für Arbeit und ehemalige Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) für eine Zumutung. „Arbeit ist kein Ponyhof“ gab sie zu Protokoll und machte damit deutlich, dass Arbeitszeitbegrenzungen zwar im Arbeitsvertrag geregelt sein mögen, aber darauf zu pochen komme für Arbeitnehmer eigentlich nicht in Frage. Sie haben eben dann und so lange zur Verfügung zu stehen, wenn und wie das Kapital sie braucht. Bild am Sonntag (5.3.23) ergreift auch gleich Partei für die ehemalige Ministerin, indem das Blatt Menschen vorführt, die aus lauter Lust an der Arbeit arbeiten und für die Geld nicht das Wichtigste ist. Sie können z.B., wie im Bild belegt, auch von Südafrika aus arbeiten oder haben das schon immer so gemacht. Wovon die zitierte Dame, der das Geld nicht so wichtig ist, die Reise nach Südafrika bezahlt hat, bleibt dabei allerdings offen.

Eine Verschleuderung von ungenutztem Arbeitskräftepotenzial entdeckt so mancher Politiker oder Journalist im Rentenalter und vor allem in der Möglichkeit der Frühverrentung mit 63 Jahren, wenn die Betreffenden die vollen Beitragsjahre geschafft haben. Natürlich haben vor allem die rot-grünen Politiker mit ihren Rentenkürzungen schon einiges erreicht, was den Zwang zu längerem Arbeiten auch nach dem Renteneintrittsalter anbetrifft. Und auch die folgenden Regierungen waren nicht müßig und haben das Rentenalter erhöht. Wer früher in Rente geht oder gehen muss, der hat erhebliche Abschläge von der sowieso schon reduzierten Rente in Kauf zu nehmen.

In der Diskussion ist jetzt, die Flexibilisierung des Rentenalters mit erhöhten Zuverdienstmöglichkeiten zu verbinden. Ein festes Datum für den Renteneintritt ist damit passé. Stattdessen ist noch einmal unterstrichen, dass von der Rente kaum noch einer leben kann, weswegen Arbeit im Alter ganz selbstverständlich die neue Perspektive ist. Und so haben denn auch investigative Journalisten der Süddeutschen einen 85 jährigen aufgespürt, der es zu Hause zu langweilig findet und begeistert zur Arbeit geht. (SZ 4.3.23) Eine echte Perspektive für alte Alleinstehende!

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Zuwenig genutzt ist auch noch die Arbeitskraft der Frauen. Wie der Missstand zu beheben wäre, weiß ein Kommentator der Süddeutschen: „Mehr Kinderbetreuung und weniger Fehlanreize wie das Ehegattensplitting ermutigen Mütter, mehr zu arbeiten als Mini-Teilzeit.“ (Alexander Hagelücken, SZ 1.3.23) Eltern sollen hier und heute eben Kinder in die Welt setzen, um sie möglichst schnell wegzugeben, denn Familienleben ist schließlich vergeudete Zeit, die nicht zum Wirtschaftswachstum beiträgt. An dieser Front haben Politik und Wirtschaft viel geleistet, um Frauen weg vom Herd hinein ins Büro, in die Fabrik oder hinter die Kasse zu bringen. Die Löhne der Männer wurden durch schleichende Inflation und zu geringen Ausgleich schrittweise entwertet und so die Frauen zu notwendigen Mietverdienerinnen gemacht. Der Versorgungsausgleich im Falle einer Scheidung wurde gesenkt, die Rente gekürzt und damit sind Frauen der Wahl weitgehend enthoben – frei zu entscheiden, ob sie sich lieber um Haus und Kinder kümmern wollen oder arbeiten gehen.

Das Doppelverdienerdasein ist zur Normalität geworden und damit das Familienleben auf den Feierabend und das Wochenende verkürzt. Und so gibt es jetzt die Diskussion um Work-Life-Balance, wobei die Alternative immer heißt, dass weniger Arbeit weniger Lebensstandard bedeutet, und in der Regel geben die Arbeitgeber vor, wie die Balance ausfällt. Dass viele Frauen nur Teilzeit arbeiten, lässt Politiker und Politikerinnen vor allem der Grünen keine Ruhe; sie bringen daher das Ehegattensplitting als Beschäftigungshindernis in die Diskussion. Die Beseitigung der bisher gültigen gemeinsamen Steuerveranlagung, die für das Paar zu niedrigeren Steuern führt, soll den Effekt haben, dass die Frauen stärker gezwungen werden, eine Arbeit anzunehmen.

Angepriesen wird dieser Druck als Befreiung der Frau. Bisher ist sie oft als Geringverdienerin in der ungünstigeren Steuerklasse eingestuft, um so die Steuerzahlung während des Jahres bereits niedrig zu halten. Mit dem Lohnsteuerjahresausgleich werden die unterschiedlichen Steuerleistungen verrechnet und beide Partner dann steuerlich gleich gestellt. Die Abschaffung des Ehegattensplitting, die als Vorteil verkauft wird, würde eine Schädigung darstellen, wenn Frauen wie Männer in der gleichen Steuerklasse gleichermaßen steuerlich gerupft werden. Ein gelungener Fall feministischer Steuerpolitik!

Der jungen Generation muss auch auf die Sprünge geholfen werden, damit sie sich so schnell wie möglich und so passend wie nötig für den Bedarf der Wirtschaft herrichtet, wobei eine neue Dienstpflicht – so die aktuelle Debatte über den deutschen Wehrwillen – vielleicht helfen könnte. Ein staatlicher Zwangsdienst käme natürlich zunächst dem Bedarf der Wirtschaft in die Quere, aber clevere Ideen sind, wie Telepolis berichtete, schon unterwegs. CDU-Verteidigungsexperte Kiesewetter ist klar, dass eine wieder eingeführte Wehrpflicht „im Spannungsfeld der Wirtschaft mit eklatantem Fachkräftemangel“ stehen würde . Daher favorisiert er das „norwegische Modell“, eine Kombination von allgemeiner Dienstverpflichtung mit einem nachfolgenden Auswahlverfahren, das die Spreu vom Weizen trennt und die zukünftigen Helden der Arbeit und des Schlachtfelds sauber sortiert.

So oder so, eins stellt die deutsche Politik hier klar: Sich wegen Alter oder Familienpflichten, wegen Aus- oder Fortbildungsbedarf, geschweige denn wegen dem Wunsch nach einer Auszeit, dem Arbeitsmarkt (und möglicher Weise demnächst einem neuen Dienst an der Waffe) zeitweise zu entziehen, geht gar nicht. Dafür sind die Insassen des hiesigen Standorts nicht vorgesehen. Ihr Dasein ist vielmehr für Wirtschaftswachstum und Mehrung der Staatsmacht verplant – auch wenn von Planung in dieser tollen Wirtschaftsordnung weit und breit nichts zu sehen ist.

Zuerst erschienen bei Telepolis

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Oben       —   Christian Lindner am Wahlabend der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 14. Mai 2017 in Düsseldorf

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KOLUMNE * ERNSTHAFT ?

Erstellt von Redaktion am 19. März 2023

Sollen Friedens­forscherInnen Waffenlieferungen fordern?

Wirkt vielleicht ein jeder Schanbel zu klein für Waffen ?

Eine Kolumne von Ulrike Winkelmann

Sie müssen verzeihen, dass ich an dieser Stelle manchmal Dinge wiederverwerte, die ich anderswo eingesammelt habe. Unsereins kommt ja selten raus, da beschäftigt es einen länger, wenn ExpertInnen Einblicke in ihre Arbeit geben – so geschehen in einem taz-Videotalk, den ich jüngst mit der Friedensforscherin Ursula Schröder hatte.

Schröder ist Direktorin des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg, und sie sagt, dass die Ukraine mehr Waffen vom Westen braucht. Sie ist damit in ihrer Berufsgruppe nicht allein: Die vier großen deutschen Friedensforschungsinstitute traten bei der Präsentation ihres Friedensgutachtens im vergangenen Juni geschlossen dafür ein, die Ukraine militärisch zu unterstützen.

Ich fragte, ob dadurch nicht Menschen enttäuscht würden, die denken, dass die Friedensforschungsinstitute zur Erforschung des Friedens und nicht für Waffenforderungen da sind. Schröder antwortete: „Es ist mein Job, Dinge zu verkomplizieren, wenn sie nicht einfach sind.“ Angriffskriege könnten es nötig machen, Frieden mit Waffengewalt herzustellen. „Wir haben nicht die gleiche Situation wie in den 80ern, als sich zwei hochgerüstete Blöcke gegenüberstanden, bei denen dann gefordert wurde, beide abzurüsten“ – was ja bis heute unterschreibbar sei, ergänzte sie.

Doch regt sich innerhalb der Friedensforschung Widerspruch dagegen, dass die Institute den Zeitenwende-Kurs der Bundesregierung so deutlich mittragen. In der Zeitschrift „Wissenschaft und Frieden“ versammelten sich jüngst irritierte Stimmen. Den HerausgeberInnen fiel dazu leider kein anderer Titel als „Quo vadis, Friedensforschung?“ ein, doch die Texte zeigen gut, wie es dem Antimilitarismus gerade geht.

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„Eine kritische Friedensforschung stellt die Kriegslogik und ihre vernunftwidrigen Konsequenzen in Frage“, schreibt Jürgen Scheffran. Das Dossier bietet viel Theorie über Krieg und Frieden anderswo und in der Vergangenheit – hat aber auch für den akuten Fall der Ukraine eine Idee: das Konzept der sozialen Verteidigung, gemeint sind zivile Widerstandsformen, Streik, Verweigerung, Untergrundorganisationen. Olaf L. Müller formuliert rückwirkend: „Wenn sich die Ukraine bereits unmittelbar nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 entschieden auf eine zivile Verteidigung gegen einen weitergehenden Überfall vorbereitet hätte“, wenn sie nicht in die Nato gewollt hätte, „wenn sie ihren Widerwillen gegen Fremdherrschaft aus Moskau durch millionenfache Demonstrationen mit Slogans wie ‚Ihr seid nicht willkommen‘ gezeigt hätte“ und der Westen all das auch finanziell unterstützt hätte, „dann hätte Putin seinen Truppen vielleicht keinen Einmarsch befohlen“.

Hm, vielleicht. Sehr vielleicht.

Quelle         :        TAZ-online        >>>>>         weiterlesen

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Unten       —     Ulrike Winkelmann bei einer öffentlichen Diskussion im April 2013

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Frag mal Clausewitz

Erstellt von Redaktion am 18. März 2023

Der Militärtheoretiker ist heute so aktuell wie zu seiner Zeit

File:Ostfriedhof Burg Grab von Clausewitz.jpg

Ostfriedhof Burg bei Magdebirg – Grab von Clausewitz

Von Christian Th. Müller

Beim Streit über Wege zur Beendigung des Kriegs kann ein Blick auf die Lehren des Carl von Clausewitz hilfreich sein. Ohne den Krieg politisch zu denken und die politischen Zwecke festzulegen, ist die Entwicklung einer Strategie nicht möglich.

Der preußische General Carl von Clausewitz ist neben Sunzi aus dem alten China vermutlich der weltweit bekannteste Theoretiker des Kriegs. Seit Beginn der offenen russischen Aggression gegen die Ukraine wird Clausewitz, der von 1780 bis 1831 lebte, wieder häufiger zitiert, aber leider immer noch kaum gelesen und noch weniger verstanden. Fast jeder kennt zwar seine berühmte „Formel“ vom Krieg als der „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Manche haben auch noch von der für sein Theoriegebäude grundlegenden Zweck-Mittel-Relation gehört. Seine Überlegungen zur Komplexität und Wandlungsfähigkeit des Phänomens Krieg, das er treffend als „wahres Chamäleon“ charakterisiert hatte, sind hingegen selbst im Kreis der mit Sicherheitsfragen befassten Politiker, Journalisten und Wissenschaftler kaum näher bekannt oder werden von vornherein als obsolet abgetan und ignoriert.

Unsere sicherheitspolitische Debatte leidet an einem grundlegenden Strategiedefizit, das seinen deutlichsten Ausdruck in der Tendenz zur eindimensionalen Betrachtung des nicht nur militärisch, sondern auch politisch hochkomplexen Konflikts um die Ukraine findet. Das zeigt sich seit einem Jahr in den seriellen Diskussionen zum Thema Waffenlieferungen. Egal ob es um westliche Artilleriesysteme, Schützenpanzer, Kampfpanzer oder derzeit Kampfflugzeuge geht, stets wird von den vehementen Lieferungsbefürwortern die große, wenn nicht gar entscheidende Bedeutung des jeweiligen Waffensystems betont. Immer wieder wird dann auch der Begriff des Gamechangers ins Feld geführt, der der Ukraine zum erhofften Sieg über die russischen Invasoren verhelfen könne. Hat sich die Bundesregierung dann in Abstimmung mit den Nato-Partnern zur Lieferung entschlossen, wird erstaunlicherweise sofort der nächste Gamechanger in die Diskussion gebracht.

Bei einer solchen Argumentation wird geflissentlich übersehen, dass noch kein Krieg in der Geschichte durch einen einzigen Waffentyp entschieden wurde. Das gilt umso mehr, wenn dieser nur in eher homöopathischer Dosis zur Verfügung steht und überdies nicht auch die für einen nachhaltigen Einsatz erforderlichen Munitions- und Reparaturkapazitäten bereitgestellt werden. Umso fragwürdiger sind die diskursiven Leerstellen dahingehend, welchen Effekt die westliche Militärhilfe im Hinblick auf die zeitnahe Beendigung des Kriegs und die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine realistischerweise haben kann.

Die Probleme des sicherheitspolitischen Diskurses in Deutschland ebenso wie im westlichen Bündnis insgesamt sind jedoch viel grundsätzlicherer Natur und haben inzwischen gewissermaßen jahrzehntelange Tradition. In den von den USA und ihren Verbündeten geführten Militäreinsätzen und Kriegen begegnet man von Vietnam bis Afghanistan immer wieder einem Syndrom aus drei Elementen.

Erstens sind die mit dem Einsatz verfolgten politischen Zwecke häufig unklar oder unter den Bündnispartnern umstritten, was dann wiederum mit Kompromissformeln kaschiert wird, die Interpretationsspielraum lassen. Wenn jedoch der politische Zweck des Kriegs nicht klar ist, gestaltet sich die Formulierung des strategischen Ziels im Krieg und die Entwicklung einer stringenten militärischen Strategie und ihre erfolgreiche Umsetzung als einigermaßen schwierig. Mit Blick auf die Afghanistan-Mission der Bundeswehr sprach der Historiker Klaus Naumann in diesem Zusammenhang treffend von einem „Einsatz ohne Ziel“.

Tatsächlich beschäftigen sich Politiker und Spitzenmilitärs zweitens kaum noch mit Strategie, sondern vor allem mit Ressourcenallokation. Statt darüber nachzudenken, was man auf welchem Weg und mit welchen Mitteln erreichen will, geht es dann vorzugsweise darum, wer wie viel Geld, Waffen und Truppen bereitstellt.

Hinzu kommt schließlich drittens das Ressortdenken der beteiligten militärischen und politischen Institutionen, die nicht selten geradezu eifersüchtig über ihre Kompetenzbereiche wachen. In der Folge fehlt dann zwischen der operativ-taktischen und der politischen Handlungsebene die Strategie als verbindendes Element.

Staatliche Uniformträger : Keine Zähne mehr im Maul – aber La-Paloma pfeifen !

Der französische Philosoph Raymond Aron hatte bereits in den 1970er Jahren – mit Blick auf den von den USA in Vietnam massiv geführten Luftkrieg – die verbreitete Tendenz kritisiert, Krieg vom Mittel und nicht vom verfolgten Zweck her zu denken. In den Jahren seit dem Ende des Kalten Kriegs hat sich dieser letztlich auch apolitische Blick auf das Phänomen Krieg eher noch verstärkt. Daran haben auch so einflussreiche Militärhistoriker wie John Keegan und Martin van Creveld einen großen Anteil. Beide setzten dem clausewitzschen Primat der Politik ein Primat des Kampfs entgegen. Creveld ging sogar so weit, dass er einen Großteil des Kriegsgeschehens jenseits der zwischenstaatlichen Kriege als „nichtpolitisch“ betrachtete. Dieses auf staatliche Akteure und Regierungen verengte Politikverständnis trug wesentlich dazu bei, dass die Rolle des politischen Faktors in den Kriegen gegen nichtstaatliche und irreguläre Akteure verkannt wurde und man sich stattdessen darauf konzentrierte, den Gegner auf dem Gefechtsfeld – auf der taktischen Ebene – zu besiegen. Von Vietnam über den Irak bis Afghanistan machten die USA und ihre Verbündeten dabei immer wieder die gleichen Erfahrungen. Zwar hatten ihre Truppen in allen größeren Gefechten gesiegt, doch am Ende des Kriegs war man auf der strategischen und der politischen Handlungsebene gescheitert.

Clausewitz hingegen erkennt die Komplexität, die Mehrdimensionalität ebenso wie die dem Phänomen Krieg eigene, unberechenbare Dynamik. Gleichzeitig bietet er mit klar gehaltenen Begriffen und einer, seine Theorie von der taktischen bis zur politischen Handlungsebene durchziehenden Hierarchie von Zwecken und Mitteln ein effektives Instrumentarium, um sich in diesem vordergründigen Wirrwarr widerstreitender Elemente zurechtfinden zu können. Ein wesentliches Plus seiner Theorie besteht außerdem darin, dass er die moralischen Kräfte, die Friktion und die umfassende politische Bedingtheit des Kriegs in seinen Überlegungen berücksichtigt.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Vom Seco zu Nestlé:

Erstellt von Redaktion am 18. März 2023

Um die 40’000 Franken pro Sitzung

Lobby-Ablösung gefunden

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von     :    Pascal Sigg /   

Die ehemalige Seco-Direktorin soll in den Nestlé-Verwaltungsrat. Sie hat jahrelang im Dienst des Konzerns lobbyiert.

Ende April soll Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch in den Nestlé-Verwaltungsrat gewählt werden. Ineichen-Fleisch war bis Juli 2022 elf Jahre Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) in Guy Parmelins Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung. Zuvor war sie vier Jahre Schweizer Botschafterin und Delegierte für Handelsabkommen sowie Chefunterhändlerin der Schweiz bei der Welthandelsorganisation (WTO).

Nun soll der Schritt in die Privatwirtschaft folgen. Und der ist lukrativ. Die Zeitung «work» der Gewerkschaft «unia» hat berichtete kürzlich: «Die Nestlé-Verwaltungsrätinnen und -räte haben sich 2022 zu 11 Sitzungen getroffen, die durchschnittlich 2 Stunden und 55 Minuten dauerten. Dafür bekommen sie 280’000 Franken Honorar und 15’000 Franken Spesen im Jahr. Für den Einsitz in einem der Verwaltungsratsausschüsse kommen minimal 70’000 Franken und maximal 300’000 Franken hinzu. Ebenfalls pro Jahr. Zum Vergleich: Das Lohnmaximum für einen 100-Prozent-Job beim Bund liegt bei knapp 400’000 Franken.»

Im Namen der Schweiz in Südamerika für Nestlé lobbyiert

Ineichen-Fleisch kennt Nestlé bereits gut. Denn ihr Seco lobbyierte im Ausland wiederholt für die Interessen des Grosskonzerns – im Namen der Schweizer Eidgenossenschaft. Dies machten letztes Jahr Recherchen der NGO «Public Eye» bekannt (Infosperber berichtete). Ihnen zufolge versuchte das Seco die Regulierung von Nahrungsmitteln in Ländern wie Chile, Peru oder Ecuador im Interesse Nestlés zu beeinflussen. Besonders gut dokumentiert ist die letztlich erfolglose Einflussnahme in Mexiko.

Wegen der grassierenden Fettleibigkeit hatte Mexiko im Herbst 2016 einen «nationalen epidemiologischen Notstand» ausgerufen. Die Zahlen einer Gesundheitsstudie von 2020 zeigten: Unter den fünf- bis elfjährigen Kindern sind 38 Prozent übergewichtig oder gar fettleibig. Und unter den MexikanerInnen ab 20 Jahren sind 74 Prozent zu dick. Über ein Drittel der Erwachsenen ist fettleibig.

Auch in der Schweiz droht Nestlé eine Regulierung

Als Massnahme schlug der Gesundheitsausschuss der mexikanischen Abgeordnetenkammer fünf schwarze Stoppschilder vor, mit dem Schriftzug «Exceso», also «Übermass» – an gesättigten Fetten, an Kalorien, an Salz, an Transfetten, an Zucker. Zudem sollten mit Warnhinweisen versehene Produkte nicht mehr mit Comic-Figuren, Spielzeugen oder Berühmtheiten beworben werden. Dagegen wehrte sich Nestlé mithilfe der offiziellen Schweiz. Doch im Herbst 2020 trat die Regelung trotzdem in Kraft.

Selbst ausströmender Lobbygestank von Lindner FDP und Klöckner CDU konnte Nestle nicht von einen Arrangement mit den-r Politiker-in abhalten.

Seither haben weitere Länder wie Brasilien oder Kolumbien nachgezogen. Und auch in Deutschland und der Schweiz laufen ähnliche Bestrebungen. Die Sprecherin des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) aus Alain Bersets Departement des Innern sagte der SonntagsZeitung (Paywall) kürzlich: «Das BLV hat ebenfalls Pläne für eine Regulierung der an Kinder gerichteten Werbung». Die Behörde habe jahrelang erfolglos versucht, die Produzenten dazu zu bringen, entsprechende Lebensmittel freiweillig gesünder zu machen (Infosperber berichtete).

Ineichen-Fleisch dürfte also wissen, was bei Nestlé auf sie zukommt. Letzten Frühling sagte sie öffentlich über ihre Arbeit im Auftrag der Schweizer BürgerInnen: «Eine Hauptaufgabe meiner letzten elf Jahre als Seco-Direktorin war es, mehr Regulierung abzuwehren.»

Weiterführende Informationen

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Oben      —

Day 2 of the 10th WTO Ministerial Conference, Nairobi, 16 December 2015. Photos may be reproduced provided attribution is given to the WTO and the WTO is informed. Photos: © WTO. Courtesy of Admedia Communication.

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Kolumne * FERNSICHT Polen

Erstellt von Redaktion am 18. März 2023

Beten und den Friseur fragen: – Auf Wohnungssuche

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Von  :  Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz

Sechs Monate, 147 Anfragen für Wohnungsbesichtigungen, vier Besichtigungstermine. Mietverträge: Null. Das ist unsere Erfolgsbilanz bei der Suche nach einer größeren Wohnung in Berlin. Im Moment haben wir 45 Quadratmeter und 2 Zimmer.

Freunde sagen, man brauche mehr Geduld. Man soll ein paar Jahre lang suchen, Tausende von Nachrichten schreiben und im unerwartetsten Moment wird es eine Wohnung geben, sagen sie. Man nimmt sie, denn sie ist zwar zu teuer, zu weit weg, in einem zu hässlichen Haus, aber drei beengte Zimmer statt zwei sind eine räumliche Revolution.

Anstelle von „beten und arbeiten“ müssen wir in Berlin also beten und E-Mails schreiben, Freunde fragen, die Verwaltung anrufen. Man sagt, Menschen täten auch andere Dinge. Zum Beispiel sechs Monatsmieten im Voraus zahlen. Oder bestechen.

Als wir Kinder waren, gab es im kommunistischen Polen einen Kultfilm. Er hieß „Miś“ (Bärchen). Darin gibt es eine Szene über einen Schwarzmarkt, auf dem Fleisch verkauft wird, das man nicht in einem normalen Geschäft bekommen konnte. Die Verkäuferin wirft einen hartnäckigen Kunden hinaus, indem sie ihn anschreit: „Was denken Sie denn, hier ist ein Zeitungskiosk, ich habe Fleisch hier!“.

In Rom Vor der Generalaudienz 2. Mai 2007

Vielleicht hilft hier der Himmelkomiker?

Unsere Generation wollte diesem System entfliehen. Nun haben wir das Gefühl, in Berlin hat es uns wieder. Es ist unmöglich, auf dem freien Markt eine Wohnung zu finden, es sei denn, man kann 3.000 Euro im Monat zahlen. Helfen soll angeblich ein Gespräch mit dem örtlichen Friseur. Auch an der Tür eines Gemüseladens in meiner Straße wurde kürzlich eine Wohnung inseriert. Freunde raten weiter: Eine Person mit einem deutsch klingenden Namen wird eher eine positive Antwort kriegen. Kein Kowalski oder Abdul – solche Namen haben keine Chance. Am besten ist es, Arzt oder Anwältin zu sein. Ist ein Philosoph etwa nicht in der Lage, die Miete pünktlich zu bezahlen?

In unserer Heimatstadt Warschau begann dieser Wahnsinn vor über einem Jahrzehnt. Die Preise stiegen von Tag zu Tag, und die schlechteste Wohnung mit Blick auf die Mülldeponie fand innerhalb von 15 Minuten einen Käufer. Heute kann man in Warschau keine Zweizimmerwohnung für weniger als 1.000 Euro mieten. Der Wohnungsmarkt wird eines der wichtigsten Themen des bevorstehenden Wahlkampfes sein.

In Warschau begann der Mieten-Wahnsinn schon vor einem Jahrzehnt

Quelles           :          TAZ-online           >>>>>         online

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Hass von oben

Erstellt von Redaktion am 17. März 2023

Gewalt gegen Schwarze aus Subsahara-Afrika

Wer Hass sät wird seine eigene Hinterlassenschaften ernten ! 

Ein Debattenbeutrag von Sadem Jebali

Der tunesische Präsident Kais Saied befeuert mit seiner Rhetorik Proteste und Hetze gegen Migration aus Subsahara-Afrika. Es kam auch zu Angriffen.

Eine Woche, nachdem ich in Tunis demonstriert hatte und nur Stunden nach meiner Ankunft in Berlin traf ich mich mit einer Gruppe Tunesier und Vertreter afrikanischer Einwandererorganisationen, die vor der tunesischen Botschaft in Charlottenburg protestierten. Die Polizeibeamten vor der Tür schienen sich zu wundern über die Slogans, die gerufen wurden: „Solidarität mit Migranten und papierlosen Migranten!“, „Die Diktatur von Kais Saied muss enden!“. Die tunesischen Diplomaten beobachteten das Spektakel von den Fenstern der Botschaft aus.

Die Wut der Demonstranten wurde von den Ereignissen des 21. Februar angestachelt. An diesem Tag verkündete der tunesische Präsident Kais Saied, dass der tunesische Sicherheitsrat über dringende Sicherheitsmaßnahmen gegen die große Zahl irregulärer Einwanderer aus Subsahara-Afrika berate. Nach Angaben der Organisation FTDES (Forum Tunisien des Droits économiques et sociaux) leben mehr als 20.000 Menschen aus Ländern südlich der Sahara in Tunesien, was weniger als 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Während des libyschen Bürgerkriegs 2011 fand eine Million Flüchtlinge in Tunesien Zuflucht und blieb länger im Land – es war also keineswegs die erste Situation dieser Art.

In seiner Rede betonte der Präsident, es handele sich um eine Ausnahmesituation; schon länger sei ein Plan im Gange, Tunesiens demografische Zusammensetzung zu ändern. Nach der Revolution von 2011 sei viel Geld geflossen für die Ansiedlung illegal Eingereister aus Subsahara-Afrika – eine Anspielung auf den Druck aus Italien und der EU, die Migrationsströme einzudämmen. Saied betonte die Notwendigkeit, die Migrationswelle schnell zu beenden, da die Abertausenden Migranten aus dem südlichen Afrika Gewalt, Kriminalität und inakzeptable Praktiken ins Land brächten.

Nur Stunden nach der Rede trendeten migrantenfeindliche Sprüche in den sozialen Medien – frisch legitimiert vom politischen Diskurs. Einen Tag später nahmen Sicherheitskräfte willkürlich Schwarze Menschen auf den Straßen und in öffentlichen Verkehrsmitteln fest. Videos machten die Runde, in denen Bürger Migranten angriffen und Familien aus ihren Wohnungen geräumt wurden. In den Regionen Tunis und Sfax wurden tätliche Angriffe gemeldet. In weniger als 48 Stunden waren die Schwarzen Communities gelähmt vor Angst. Man konnte stundenlang durch Tunis laufen, ohne auch nur eine Schwarze Person zu sehen. Auch Schwarze Tunesier wurden zum Ziel von Angriffen und in den sozialen Medien begannen Verleumdungskampagnen gegen tunesische Black-Rights-Aktivistinnen wie die Feministin Saadia Mesbah. In Guinea, Mali und der Elfenbeinküste wurden eilig Rückholflüge angesetzt für Menschen, die in den Botschaften in Tunis warteten.

Im Land begann eine lebhafte Debatte über Migration, in der sich die einfache Lesart durchsetzte, das Problem seien die durchreisenden Illegalen aus dem Süden, die in Tunesien lediglich ein Transitland sähen. Dass die vielen Flüchtenden etwas mit gescheiterten Wirtschaftsreformen, Inflation, Mangel an Grundnahrungsmitteln und Staatspleiten zu tun hatten, verschwand schnell aus dem öffentlichen Bewusstsein. Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das Thema Migration und ob der Präsident denn nun recht oder unrecht habe mit seiner Haltung. Mich erinnerte das an rechtsextreme Bewegungen anderswo, etwa an die AfD in Deutschland. Was in Tunesien geschah, ist wie ein Lehrbeispiel für Massenmanipulation – dafür, wie man als nicht besonders weise politische Führungsfigur die öffentliche Meinung von sich weglenken kann.

Am 6. März gab das Saied-Kabinett eine erneute Stellungnahme ab, die folgendermaßen begann: „Tunesien ist überrascht über die Kampagne gegen angeblichen Rassismus in Tunesien. Tunesien weist die Anschuldigungen gegen den tunesischen Staat zurück. Wir sind ein Gründungsmitglied der Organization of African Unity (OAU), der späteren Afrikanischen Union, und haben stets nationale Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt unterstützt, vor allem in Afrika.“

Quelle      :         TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     President of Tunisia, H.E. Kais Saied and I met while I was in Tunisia and had productive discussions regarding the partnership between @USAID and the Government of Tunisia. We are committed to helping implement their ambitious democratic and economic reform agenda.

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Aus eins mach zwei:

Erstellt von Redaktion am 17. März 2023

Neuer Anlauf für Whistleblowing-Schutz

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        :       

Der Schutz für Hinweisgeber:innen war an der Union im Bundesrat gescheitert. Nun versucht es die Ampelkoalition erneut und will der Union dabei den Teppich unter den Füßen wegziehen.

Diesmal soll es endlich klappen: Die Ampelkoalition unternimmt einen erneuten Anlauf, um Whistleblower:innen gesetzlich besser zu schützen. Erreichen will sie das mit einem waghalsigen Manöver, das die Union im Bundesrat ausbooten soll.

Eigentlich hatte der Bundestag bereits letztes Jahr ein Hinweisgeberschutzgesetz beschlossen. Doch weil das geplante Gesetz teils auch die Länder betroffen hat, war die Zustimmung des Bundesrats notwendig. Dort stellten sich die unionsgeführten Länder quer und blockierten das Gesetz. Es schieße weit über das Ziel hinaus und belaste vor allem kleine und mittlere Betriebe, begründete etwa der bayerische Justizminister Georg Eisenreich seine Ablehnung.

Mit den selben Argumenten hatte die Union noch zu Zeiten der Großen Koalition die längst überfälligen Regelungen verhindert. Bereits Ende 2019 trat die EU-Whistleblowing-Richtlinie in Kraft, umgesetzt ist sie hierzulande aber weiterhin nicht – trotz eines inzwischen laufenden Vertragsverletzungsverfahrens der EU-Kommission samt einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH).

Aus eins mach zwei

Die Pattsituation soll nun ein neuer Ansatz auflösen. Hierfür hat die Regierung das Vorhaben in zwei Gesetze aufgeteilt, die heute in den Bundestag eingebracht werden: Das erste davon bleibt im Vergleich zum im Februar gescheiterten Entwurf praktisch unverändert. Es klammert aber alles aus, wofür die Zustimmung des Bundesrats erforderlich ist: etwa den Anwendungsbereich auf Landesbedienstete oder auf Körperschaften, die der Aufsicht eines Landes unterstehen.

Somit sollte sich der Löwenanteil des Gesetzes mit einer simplen Stimmenmehrheit im Bundestag beschließen lassen, hofft die Regierung. Es handle sich um ein Einspruchsgesetz, das könne die Union nicht verhindern, sagt eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums (BMJ).

Das zweite Gesetz ist nur ganz kurz gehalten und dient allein dazu, die obigen Ausnahmen gleich wieder aufzuheben. Zwar könnte es der Bundesrat – voraussichtlich Ende März – erneut durchfallen lassen, aber immerhin bliebe der Schaden verhältnismäßig begrenzt.

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Vor allem aber würden die bisherigen Argumente der Union nicht mehr greifen, sagt der SPD-Abgeordnete Sebastian Fiedler: „Die wesentliche Kritik der Union hat sich ja nur auf Fragen der Wirtschaft bezogen“. Etwaige Kosten für die Wirtschaft oder ob es sinnvoll ist, auch anonyme Meldungen zuzulassen, sei in diesem Gesetzentwurf kein Thema. „Die Union müsste sich neue Argumente einfallen lassen, um das wieder abzulehnen“, sagt Fiedler.

Union hält sich bedeckt

Ob es dazu kommt, bleibt vorerst offen. Aus dem bayerischen Justizministerium heißt es auf Anfrage, dass „zum Abstimmungsverhalten Bayerns im Plenum des Bundesrates vor der Bundesratssitzung grundsätzlich keine Auskunft gegeben werden kann“. Auch Hessen, das zuletzt seine Zustimmung verweigert hat, hält sich bedeckt. Da Justizminister Roman Poseck „selbst im Bundestag dazu sprechen wird, möchte ich seiner Rede nicht vorweggreifen und verweise zunächst auf die morgige Debatte“, beschied gestern eine Sprecherin des Ministeriums.

Druck auf die Union könnte auch von anderer Seite kommen. Denn sollte die Länderkammer das abgespeckte Gesetz abermals zurückweisen, dann würde das schlicht darauf hinauslaufen, dass „die Länder ihre Mitarbeiter schlechter stellen“ als den Rest der Bevölkerung, der unter bestimmten Umständen Rechtsverstöße geschützt melden kann, sagt Kosmas Zittel vom Whistleblower-Netzwerk. „Es wäre geradezu absurd, wenn die Blockadehaltung der Unionsparteien im Bundesrat für ein Zwei-Klassen-Recht im öffentlichen Dienst sorgen würde“, heißt es in einem Blogbeitrag der Nichtregierungsorganisation.

Vertreter:innen der Ampel zeigen sich derweil zuversichtlich. „Es gibt für den Bundesrat keine inhaltlichen Kritikpunkte in diesem Gesetz, sodass es nur aufgrund sachfremder Erwägungen aufgehalten werden könnte“, teilt der Grünen-Abgeordnete Till Steffen mit. Ein solches Vorgehen habe es noch nie gegeben. „Es liegt an der Union, das Gesetz nicht weiter zu blockieren“, so Steffen. Sollte wider Erwarten das Ergänzungsgesetz ohne tatsächliche Begründung abgelehnt werden, „werden wir das weitere Vorgehen erneut diskutieren müssen“.

Denn vom Tisch wäre das Thema dann nicht: Eine Ausklammerung von Landesbeamt:innen vom Anwendungsbereich würde bedeuten, dass Deutschland die EU-Richtlinie weiterhin nicht vollständig umgesetzt hat. Das von der EU-Kommission angestrengte Verfahren würde also weiterlaufen, im Falle einer Verurteilung würde eine saftige Geldstrafe auf Deutschland zukommen. Das findet der SPD-Abgeordnete Fiedler nicht fair. Rechtlich habe er es selbst noch nicht geprüft, aber „wenn sie trotzdem dagegen stimmen, dann könnte man die Strafzahlungen theoretisch an die Länder weiterreichen“, sagt Fiedler.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben     —     Günter Wallraff bei einer Lesung während seiner Anti-Bild-Kampagne 1981

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Ein Kurt für alle Fälle

Erstellt von Redaktion am 17. März 2023

Berlins Top-Kopfgeldjäger auf Jagd nach Mandatsdrückeberger-innen

Heute mit staatlichen Verdienstkreuz ?

Die Wahrheit von Patric Hemgesberg

Unterwegs mit Berlins Top-Kopfgeldjäger für Abgeordnete aller Art in freier Wildbahn. Ein gefährliches Unterfangen, eine exklusive Wahrheit-Recherche.

Auf der Inspektionsrunde durch das Berliner Zentrum hat Kurt Sievers plötzlich etwas gesehen. Der bärtige Mann mit der kugelsicheren Weste und dem muskulösen Oberkörper reißt das Steuer herum. Begleitet von wütendem Motorengeheul durchbricht sein wuchtiger SUV den Zaun vor dem Volkspark Friedrichshain und schlingert zwischen Spaziergängern und Sonnenanbetern über das Gras. In der Nähe des Märchenbrunnens kommt das 350 PS starke Gefährt schließlich mit einer letzten Drehung zum Stehen.

Sievers steigt aus und steuert zielstrebig auf einen am Boden kauernden Mittdreißiger zu, der beim Abbeißen von seinem Döner vor Entsetzen erstarrt ist. Bevor der arme Kerl überhaupt weiß, wie ihm geschieht, klicken schon die Handschellen. Wenig später wartet der Delinquent über die Motorhaube des SUV gebeugt auf die Überprüfung seiner Personalien.

„Kai-Malte Steffens, Bündnis 90/Die Grünen“, fasst Spürnase Sievers für uns noch mal die Eckdaten seiner „Person of Interest“ zusammen. „Sollte sich genau in diesem Moment in einer Abstimmung des Deutschen Bundestages zum ‚Chancen-Aufenthaltsrecht‘ befinden und wurde vor zehn Minuten als ‚unentschuldigt fehlend‘ gemeldet. Tja, Pech gehabt, Freundchen!“

Der gebürtige Spandauer Sievers verfrachtet seinen jüngsten Fang unsanft auf die Rückbank. Direkt daneben schmollt bereits eine Delegierte der CSU, die Sievers gerade erst bei Weißwurst und Hefeweizen in einem Biergarten erwischt hatte. Der 49-jährige „Bounty Hunter“ ist direkt der Bundestagspräsidentin unterstellt und treibt im Auftrag des Parlaments sitzungsmüde Abgeordnete sämtlicher Parteien im Berliner Stadtgebiet auf. Am heutigen Freitag hat er besonders viel zu tun.

Beschämte Mandatsdrückeberger

„Mit einem langen Wochenende vor der Nase möchte sich so mancher schon früher ins Privatleben verabschieden“, bellt Sievers in Richtung der beschämten Mandatsdrückeberger. „Aber nicht in meiner Schicht, verstanden?“

Nachdem wir die schwarz-grünen Ausreißer an der Bundestagspforte dem Sicherheitsdienst übergeben haben, dürfen wir die Streifenfahrt mit Sievers fortsetzen. Wie er uns erzählt, bezahlen geschnappte Volksvertreter die Prämie, die auf ihre Ergreifung ausgesetzt ist, bis auf den letzten Cent selbst.

„Die genaue Summe ergibt sich aus dem Betrag im persönlichen Fehlstundenkonto, multipliziert mit dem Faktor 100“, plaudert der Kopfgeldjäger bei der Tour durch die quirlige Hauptstadt aus dem Nähkästchen. Sein großer Traum sei es daher, nur ein einziges Mal die ständig abgängige Sahra Wagenknecht dingfest zu machen. Vom fürstlichen „Finderlohn“ könnte Sievers anschließend in Saus und Braus auf den Bahamas leben.

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Beth Chapman war eine US-amerikanische Kopfgeldjägerin und Reality-TV-Darstellerin.

Als wir bei Rot vor einer Fußgängerampel halten, watschelt zufällig Franziska Giffey mit einem Eis in der einen und einem Bündel bunter Tragetaschen in der anderen Hand über die Fahrbahn. Bedauerlicherweise sei er in diesem Fall nicht zuständig, seufzt der Abgeordnetenhäscher. Während wir weiterfahren, verständigt er netterweise per Funk den Kollegen in Diensten des Berliner Senats, damit er die SPD-Politikerin gleich vor ihrem Lieblingscafé in Berlin-Mitte einkassieren kann.

„Unter allen 736 Mitgliedern des Bundestags ist Armin Laschet übrigens der einzige Abgeordnete mit Dauerfreigang“, füttert uns der Fugitive Recovery Agent weiter mit Insiderwissen. „Aufgrund der bestehenden Härtefallregelung und des erlittenen Söder-Traumas während seiner Kanzlerkandidatur darf er kommen und gehen, wann er will.“

Sahra Wagenknecht einfach so auf einer Bank

Sievers würde uns gern noch mehr Geschichten aus dem Politbetrieb erzählen, doch plötzlich wird er Zeuge von etwas Unglaublichem. Sahra Wagenknecht, Berlins unangefochtene Blaumacherkönigin, sitzt in der Nähe des ZDF-Hauptstadtstudios einfach so auf einer Bank und blättert seelenruhig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ob der linke Friedensengel gerade ein Interview gegeben oder zum tausendsten Mal an einer Talkshow teilgenommen hat, ist dem Staatsdiener wurscht. Er will das schmale Zeitfenster für eine Frührente im sonnigen Süden unbedingt nutzen und fährt vorsichtig rechts ran.

Quelle        :           TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Foto: DIE LINKE NRW / Irina Neszeri

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Gelernte Lektion anwenden

Erstellt von Redaktion am 16. März 2023

Deutschland steht in der Pflicht

Sind nicht viele Bürger-innen in der gähnenden 16 jährigen Schläfrigkeit sehr alt geworden ?

Ein Debattenbeitrag von Roee Kibrik aus Jerusalem

Kein Weg führt an einer Konfrontation mit der Regierung in Jerusalem vorbei, will man ein demokratisches Israel retten. In Israel verändern sich die Dinge auf eine Art, die ein politisches Umdenken erfordert.

Die Reise von Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu nach Berlin ist eine gute Gelegenheit für die Bundesrepublik, ihn auf den Platz zu verweisen, der ihm zusteht.

Bundesjustizminister Marco Buschmann besuchte im vergangenen Monat Israel und erinnerte behutsam an Demokratien, die sich in der Geschichte der Menschheit selbst zu zerstören wussten, und dass der Macht der Mehrheit keine Grenzen gesetzt seien. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock traf jüngst mit ihrem Amtskollegen Eli Cohen in Berlin zusammen und brachte ihm gegenüber ihre Sorge vor einer Beeinträchtigung der „Unabhängigkeit der Justiz“ zum Ausdruck. Und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärte bei einem Empfang im Schloss Bellevue anlässlich des 50. Gründungsjubiläums der Universität Haifa, er sei besorgt über den „Umbau des Rechtsstaats“, den die Regierung in Jerusalem plant.

Das ist sehr nett, dass der Präsident und die Minister besorgt sind. Aber es ist keineswegs ausreichend. Dass Deutschland aus dem Zweiten Weltkrieg und den Ruinen der Konzentrationslager gebrochen, zerschlagen, geächtet und auf ewig beschämt hervorgeht, war nur gerecht. Der Weg zurück zur Völkerfamilie führte völlig klar über die bedingungslose Annahme des Prinzips: Nie wieder! Nie wieder Holocaust! Nie wieder Krieg! Nie wieder eine Diktatur!

Deutschland hat den Holocaust als Teil seiner Identität angenommen und weder die Geschichte ausgelöscht noch davon abgesehen, sich mit diesem düsteren Kapitel auseinanderzusetzen. Deutschland hat mit großer Klugheit den Holocaust zu einem Teil der Identität des Volkes gemacht, kann so in den Spiegel sehen und sich der Scham stellen und aus dieser Scham heraus kommende Generationen erziehen.

Aus der geschichtlichen Verpflichtung heraus hat sich Deutschland selbst außenpolitische Schranken errichtet und für eine Außenpolitik der Kooperation entschieden, die auf Sicherheit und Stabilität setzt, auf Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit. Anstelle eines unabhängigen Handelns strebt die Bundesregierung ein Agieren im Rahmen einer Koalition westlich-liberaler Staaten an. Deutschland unterhält enge Beziehungen zu den USA, ist Mitgliedsstaat der Nato und federführend in der Europäischen Union.

Hand in Hand mit Frankreich treibt Deutschland innerhalb der EU Menschenrechte und Frieden voran, dient als Modell für den Umgang mit Flüchtenden, Menschen mit Behinderung und LGBTQ. All das ist ein komplettes Gegenstück zu den Gräueltaten der Nazis.

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Roee Kibrik ist Forschungsdirektor der israelischen Denkfabrik Mitvim und Dozent für Internationale Beziehungen an der Hebräischen Universität Jerusalem. Zu seinen Schwerpunkten gehören der israelisch-palästinensische Konflikt, die Theorie der Internationalen Beziehungen, Politische Psychologie, Politisches Denken und Konzeptgeschichte. Kibrik ist zudem Mitglied im Kibbuz Mizra.

Deutschland hat sich zum Existenzrecht und der Sicherheit Israels verpflichtet. Die besondere Sorge gilt dem jüdischen Volk und dem Staat Israel. Reparationszahlungen, die Rückendeckung auf internationaler Bühne, Waffenlieferungen und Vermittlungen bei Verhandlungen mit Drittstaaten haben die Beziehungen beider Staaten über Jahre gefestigt.

Nicht, dass alles perfekt wäre in Deutschland, das vor Korruption oder auch wachsendem Rassismus nicht gefeit ist. Und doch hat die verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und die Umsetzung dieser Lektion in politisches und staatliches Handeln Deutschland nicht nur in die Arme der Völkerfamilie zurückgeführt, sondern einen zentralen Platz unter den führenden liberalen Demokratien der Welt einnehmen lassen.

Die Welt verändert sich, und die Politik muss der sich wandelnden Realität angepasst werden. Auch in Israel verändern sich die Dinge – auf eine Art, die ein politisches Umdenken erfordert. Lange Jahre hat Deutschland dem Besatzungsstaat Israel viele Verbrechen verziehen. Der Umgang mit Minderheiten und Fremden, die Menschenrechtsverletzungen und die massiven Einschränkungen für Menschenrechtsorganisationen – all das steht in direktem Gegensatz zu den Prinzipien, die die deutsche Politik leiten, von der einen Verpflichtung, Israel zur Seite zu stehen, abgesehen. Doch jetzt ändern sich die Vorzeichen auf eine Weise, die es Deutschland ermöglicht, beide Komponenten unter einen Hut zu bringen: die Verpflichtung Israel gegenüber und der Kampf gegen die Diktatur. Israel wird heute angegriffen von einer extrem rechten Regierung, die sich zusammensetzt aus Kriminellen, Korrupten und Messianern, die sich die Zerschlagung des Justizapparats zum Ziel setzt und die Machtkonzentration in den Händen der Exekutive. Wie kaum ein anderes Land müsste Deutschland wissen, was dabei herauskommen kann.

Die Regierung in Berlin muss diese Entwicklungen nicht tatenlos beobachten. Schließlich hat sich Deutschland in der Vergangenheit bisweilen deutlicher gegenüber Israel positioniert. So wurde die Lieferung der deutschen U-Boote so lange aufgehalten, bis Israel zurückgehaltene Gelder an die Palästinensische Autonomiebehörde überwies. Auch heute gäbe es Möglichkeiten – ein verändertes Abstimmungsverhalten in New York oder die schärfere Verurteilung der Besetzung.

Deutschland kann und muss signalisieren, dass die Handelsbeziehungen so wenig in Stein gemeißelt sind wie die Sicherheitskooperation oder Rüstungslieferungen. Deutschland kann und muss Menschenrechtsorganisationen unterstützen, die für Demokratie und Frieden in Israel kämpfen und auf jede nur mögliche Hilfe – sei es finanzieller, politischer oder organisatorischer Art – angewiesen sind.

Quelle         :         TAZ-online          >>>>>           weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben     —     Catrinas – Day of the Dead Ladies

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Unten          —     Members of the transgender family organisation Brit HaLeviot in the Red Line for Hate protest against the anti-lgbt coalition agreements of the upcoming 37th Government of Israel, Tel Aviv, 29 December 2022

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EuGH – Verhandlung :

Erstellt von Redaktion am 16. März 2023

Braucht der Perso Fingerabdrücke?

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von         :     

Der Zwang zur Abgabe von Fingerabdrücken für den Personalausweis ist umstritten. In Luxemburg fand gestern eine Sitzung dazu vor dem Europäischen Gerichtshof statt. Ein Bürgerrechtler hatte geklagt.

Schon deutsche Gerichte hatten darauf hingewiesen, jetzt zeichnet sich auch vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein ähnliches Bild ab: Der Fingerabdruckzwang steht auf wackeligen Rechtsbeinen. Gestern wurde der Fall mündlich in Luxemburg verhandelt.

Geklagt hatte Detlev Sieber von der Bürgerrechtsorganisation Digitalcourage, zunächst vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden: Sieber verlangte von der Stadt einen Personalausweis ohne dafür biometrische Daten in Form von Fingerabdrücken zu hinterlassen. Die Richter hatten den Fall dann an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) weitergegeben.

Dass die rechtlichen Bedenken aus Wiesbaden kein Einzelfall sind, hat sich in der Zwischenzeit bestätigt: Das Verwaltungsgericht Hamburg hat Ende Februar angeordnet, dass einer Person ein Personalausweis ohne gespeicherte Fingerabdrücke ausgestellt werden soll.

Zweifel aus den eigenen Reihen

Die Sitzung am EuGH fand nun vor der Großen Kammer statt – ein Zeichen, dass das Gericht sich der Dimension bewusst ist. Mehr als 300 Millionen EU-Bürger:innen sind von der Verordnung 2019/1157 betroffen. Sie verpflichtet seit 2021 alle EU-Bürger:innen, zwei Fingerabdrücke abzugeben, sobald sie einen neuen Personalausweis beantragen. Die biometrischen Daten werden anschließen auf einem Chip im Personalausweis gespeichert.

Die EU sagt, die Verordnung diene dem Fälschungsschutz und soll es den Behörden einfacher machen, eine verlässliche Verbindung zwischen einer Person und ihrem Ausweis herzustellen. Laut dem Europäischen Datenschutzbeauftragten ist das allerdings nicht notwendig. Schon 2018 hat dieser empfohlen, auf Alternativen zurückzugreifen, die in gleichem Maße Fälschungen vorbeugen – dabei aber das Grundrecht auf Datenschutz schonen.

Neben dem Fälschungsschutz gibt es noch eine zweites Argument: Mit dem neuen Perso könnten sie EU-Bürger:innen frei in und zwischen den Staaten bewegen. Für Kritiker:innen ist auch diese Begründung vorgeschoben. Schließlich besitzen die meisten EU-Bürger:innen bereits einen Reisepass. Und bei Reisen innerhalb der EU wird der Perso ohnehin kaum kontrolliert.

Vorgeschobene Gründe

Jetzt also Luxemburg. Die Parteien trugen ihre Rechtsansicht am Dienstagvormittag im Grande Salle Palais vor den 15 anwesenden Richter:innen vor. Wilhelm Achelpöhler, der Anwalt des Klägers, begann mit seinem Hauptangriffspunkt: Die Fingerabdrücke dienten nicht ausschließlich dem Zweck, dass sich Unionsbürger:innen frei in und zwischen den Staaten bewegen könnten. Im Gegenteil: Die Verordnung ließe es ausdrücklich zu, dass nationale Behörden aus beliebigen Gründen – beispielsweise für die Strafverfolgung – auf die biometrischen Daten zugreifen. „Die Verordnung begrenzt die Verwendung der Daten nicht auf das erforderliche Maß“, sagte Achelpöhler.

Der Anwalt erklärte auch noch mal, welchen Weg die Daten nehmen. Sobald EU-Bürger:innen einen Antrag für einen neuen Personalausweis stellen, nimmt die zuständige Behörde biometrische Daten in Form von zwei Fingerabdrücken. Danach verbleiben die hochsensiblen Daten bis zu 90 Tage bei der Behörde sowie beim Unternehmen, das den Ausweis anschließend erstellt. Im Regelfall sollen die Daten zwar schon bei Abholung des Ausweises gelöscht werden. Doch auf der Grundlage von nationalen Gesetzen kann der Staat in diesem Zeitraum auf die Daten zugreifen.

Nach 90 Tagen verringert sich die Gefahr eines Zugriffs: Die Daten sind dann nur noch auf einem kleinen Chip im Personalausweis. Auf diesen können Behörden nur noch mit einem speziellen Lesegerät zugreifen. Und nur zu dem Zweck, um den Ausweis und die Identität der Person auf Echtheit zu überprüfen.

90 Tage Wilder Westen

90 Tage sind dennoch eine lange Zeit für die EU, die sich sonst gerne als Vorreiter in Fragen des Datenschutzes positioniert. Achelpöhler sagt in der Verhandlung dazu: „Warum soll man bei der Ausstellung eines Personalausweises Fingerabdrücke der Bürger erheben und diese für 90 Tage zu jedem potentiellen Zweck des nationalen Rechts verwenden?“ Ein solche Regelung verunsichere die Bürger:innen und führe zu der Befürchtung, dass der Staat anlasslos die Daten gegen sie verwendet.

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Konstantin Macher, ein Sprecher von Digitalcourage, erhob in einer Pressemitteilung nach der Verhandlung noch einmal ganz grundsätzliche Kritik: „Auch auf mehrere Nachfragen hin konnten EU-Kommission und Rat nicht erklären, wie eine Gefahr für die biometrischen Daten der betroffenen Bürger.innen ausgeschlossen werden soll. Das lässt sich auch gar nicht verhindern: wenn die Daten einmal erhoben werden besteht das Risiko des Datenlecks und des Missbrauchs. Darum sollte es erst gar keine Fingerabdruckpflicht geben.“

Vertreter:innen von Kommission, Parlament und Rat verteidigten den Fingerabdruckzwang vor dem EuGH vehement. Das ist wenig überraschend, schließlich geht die Verordnung auf diese Institutionen zurück. Eine Vertreterin des Rats der Europäischen Union betonte in ihrem Statement immer wieder, dass die Daten vor Zugriff sicher seien.

Der nächste Schritt im Verfahren ist jetzt die Veröffentlichung der Schlussanträge der Generalanwältin am 29. Juni. In den allermeisten Fällen folgt das Gericht diesen Anträgen. Ein Termin für die endgültige Urteilsverkündung steht noch nicht fest.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben     —       Sitzungssaal des EuGH

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Es gibt die Wahrheit.

Erstellt von Redaktion am 16. März 2023

Es gibt Stolz. Es gibt Mut. – Kontertext:

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von      :     Nika Parkhomowskaia und Inna Rozowa /

Wo bleibt die russische Opposition gegen Krieg und Putin?

Am 10. März 2023 veröffentlichte die berühmte russische Rocksängerin Zemfira, die sich derzeit im französischen Exil befindet und ein modernes, europäisch geprägtes Russland verkörpert, ihren neuen Song «Motherland». Der Hauptgedanke dieses Liedes ist, dass niemand gezwungen werden kann, sein/ihr Heimatland zu lieben. Unmittelbar danach wurde sie von «Patrioten», die eine totale russische Invasion der Ukraine unterstützen, als Verräterin beschimpft, und Parlamentsmitglieder forderten die Beschlagnahmung ihrer Moskauer Wohnung und ihrer zwei Autos.

Nun ist die Forderung, denen, die den Krieg kritisiert und das Land verlassen haben, ihre Immobilien zu entziehen, keineswegs neu, und die schärfsten Propagandisten drohen auch damit, den Exilierten, die sich dem Regime weiterhin widersetzen, die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Der besonders grimmige Ex-Präsident Medwedew versucht sogar, sie mit physischer Gewalt einzuschüchtern.

Doch die russischen Journalisten, Künstler und Politiker, die sich inzwischen in der ganzen Welt niedergelassen haben, vertreten weiterhin ihre Positionen. Viele von ihnen wurden als «ausländische Agenten» bezeichnet, was bedeutet, dass sie automatisch in ihren sozialen und menschlichen Rechten eingeschränkt werden. Jegliche Zusammenarbeit mit russischen Institutionen oder etwa die Unterrichtung russischer Kinder via Zoom ist ihnen verunmöglicht. Viele von ihnen werden auch immer wieder in absentia mit Geldstrafen belegt oder wegen Diskreditierung der russischen Armee verurteilt. Das heisst: sie werden verurteilt, weil sie die Wahrheit sagen und nicht der offiziellen Linie des Kremls folgen.

Nicht erst seit gestern

Diejenigen, die in Russland bleiben, befinden sich jedoch in einer viel gefährlicheren Lage. Jede Äusserung gegen den Krieg kann zur Verhaftung und zu Prozessen führen. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass die Verfolgung wegen der Teilnahme an Versammlungen und Mahnwachen nicht erst heute begonnen hat, sondern bereits seit mehr als zehn Jahren stattfindet. Es gab in den letzten Jahren nicht nur die riesigen Protestkundgebungen gegen die gefälschten Parlamentswahlen im Jahre 2011, sondern auch Hunderte von anderen Demonstrationen, von denen am ehesten noch die Proteste gegen die neue Amtszeit von Präsident Putin anno 2012 in Erinnerung geblieben sind.

Diese Demonstrationen führten zu Verhaftungen und langjährigen Haftstrafen. Die Situation wird dadurch verschärft, dass die Justiz in Russland bekanntlich abhängig und ungerecht ist: Man kann leicht für etwas verurteilt werden, das man gar nicht begangen hat, und kein Anwalt kann einen in diesem Fall schützen. Die meisten Menschen in Russland haben wirklich Angst davor, verhaftet zu werden, denn die Polizei verhält sich sehr aggressiv, und jeder weiss, dass in russischen Gefängnissen Folterungen vorkommen, die zwar offiziell verboten, aber in der Realität weit verbreitet sind. Verhaftet zu werden ist gefährlich für Leib und – manchmal – Leben. Es bedeutet zumeist, unter sehr schlechten Bedingungen existieren zu müssen.

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Es gibt andere Gründe Menschen umzubringen !

In letzter Zeit haben die russischen Behörden begonnen, Kinder von ihren Eltern zu trennen: So haben die Medien viel über den Fall Alexey Moskalev berichtet. Der Arbeitslose aus einer Kleinstadt unweit von Moskau schrieb in den sozialen Medien gegen den Krieg, und seine 13-jährige Tochter malte ein Bild mit der Aufschrift «Kein Krieg». Die Lehrerin zeigte sie an, und nun befindet sich das Mädchen in einem Waisenhaus, während ihr Vater in Haft ist.

Geld und Propaganda

Der Staat bestraft seine Bürger nicht nur, er provoziert sie auch. Und er erkauft sich Loyalität, indem er denjenigen, die am Krieg teilnehmen, hohe Gehälter zahlt – viele Menschen in Russland hatten nie die Möglichkeit, mit ehrlicher Arbeit so viel Geld zu verdienen wie nun mit Krieg. Die traurige Wahrheit ist, dass das Land in Arm und Reich gespalten ist, und einige Menschen ziehen aus Armut in den Krieg und nicht weil sie kriegsbegeistert sind oder etwas gegen die Ukraine haben. Um ihre Moral zu heben, setzen die Behörden massive Propaganda ein, auch in den nationalen Fernsehkanälen. Die Vorstellung, dass Russland ein altes, spirituelles Land sei, das die «wahren» Werte bewahre und gefährliche Feinde bekämpfen müsse, wird den Menschen erfolgreich eingepflanzt. Diese verrückten Ideen sind beliebt, denn leider ist Russland in seinem Kern immer noch sehr patriarchalisch. Während fast alle unabhängigen Medien geschlossen sind und Youtube als alternative Informationsquelle ständig Gefahr läuft, komplett verboten zu werden, sind die Menschen – vor allem diejenigen, die nicht in der Lage sind, selbst zu denken – bereit, jeden Unsinn zu glauben.

Die Macht des Faktischen

Alle Soziologen erklären jedoch, dass von denjenigen, die im Lande bleiben, mindestens 20 Prozent den Krieg nicht unterstützen. Wenn man bedenkt, wie gross Russland ist, bedeutet das, dass nicht weniger als 20 Millionen Menschen gegen den Krieg sind. Sie protestieren nicht unbedingt offen – sowohl aus Angst als auch aus dem Gefühl heraus, dass es absolut nutzlos ist –, schliesslich war in den Jahren der Putin-Regierung keine der Demonstrationen erfolgreich.

Wer politische Situationen, wie sie heute in Russland herrschen, aus Erfahrung kennt, kann das verstehen. Der litauische Ex-Premierminister Andrius Kubilius beispielsweise, der fest an die demokratische Zukunft Russlands glaubt, sagt, dass selbst das freiheitsliebende Litauen sich nicht gegen das Sowjetregime stellen konnte, weil das System zu stark war. Dennoch finden die Menschen Mittel und Wege, um ihre Haltung zu aktuellen Ereignissen zum Ausdruck zu bringen. So begannen die Russen nach dem Bombenanschlag auf ein Gebäude voller Menschen im ukrainischen Dnipro, Blumen niederzulegen – zunächst an den Denkmälern, die mit der Ukraine in Verbindung stehen, und dann an Gedenkstätten, die mit politischen Repressionen im ganzen Land in Verbindung gebracht werden. Die Behörden versuchten, diese unschuldigen Aktionen zu verbieten und leiteten einige Verwaltungsverfahren ein, aber es entstanden immer wieder spontane Gedenkstätten. Mit Grund singt Zemfira in ihrem neuen Lied: «Es gibt die Wahrheit. Es gibt Stolz. Es gibt Mut.»

Aus dem Englischen übersetzt von Felix Schneider 

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Grafikquellen        :

Oben      —     ‚Chain of Protest‘ in Moscow by Fair Elections Movement / White Ribbons

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Hungary-Serbia border barrier

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Lob der Umerziehung

Erstellt von Redaktion am 15. März 2023

Angebliche Bevormundung durch Linke

Ein Schlagloch von Robert Misik

Linke Selbstveränderung und Kritik an überholten Lebensformen und Werten ist nicht überheblich. Im Gegenteil: Sie ist ein nobles Anliegen.

Linken wird heute gern vorgeworfen, sie wollten die Menschen „umerziehen“. Der Vorwurf kommt von hartleibigen Konservativen, im Chor mit Rechtsextremen. Es ist ein Vorwurf, der auf subtile Weise ins Mark trifft, weil die Linken darauf ja nicht „Genau, das wollen wir“ antworten können. Schließlich hat der Begriff der „Umerziehung“ einen autoritären Beiklang, es schwingt die totalitäre Konzeption einer „Menschenzüchtung“ mit, oder zumindest deren freundlichere Schwester, der Paternalismus: Wir sind gut, aufgeklärt und liberal, und ihr seid es nicht, weshalb wir euch ein bisschen verbessern müssen, natürlich zu eurem eigenen Vorteil. Der Vorwurf sitzt, weil viele Linke insgeheim das Gefühl haben, dass die Rechten vielleicht irgendwie recht haben könnten.

Tatsächlich ist das nicht völlig falsch, zumindest auf den ersten Blick. Denn die Linken haben sowohl eine große Tradition als auch das Selbstbild, auf der Seite der einfachen Leute zu stehen, die es schwer im Leben haben, nicht mit goldenen Löffeln im Mund geboren oder in verzärtelten Mittelschichtsfamilien aufgewachsen sind, die den Restbeständen einer traditionellen, plebejischen Kultur entstammen, und die, sagen wir es mit einem Modewort, nicht immer vollständig woke sind. Und jetzt kommen die Linken daher und sagen ihnen: Es ist nicht okay, wie ihr seid.

Zumindest haben manche Leute das Gefühl, dass die Linken das von ihnen denken. Stimmt ja auch: Wer den Rassismus, die Engstirnigkeit, die Dominanz traditioneller Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Teilen plebejischer Milieus kennt, der weiß, dass es auch die Quelle von viel Leid ist, des Leids jener, die Diskriminierung, Mobbing oder Tätlichkeiten ausgesetzt sind. All das führt dazu, dass die Linken einerseits auf der Seite der einfachen Leute stehen, andererseits ihnen aber zu verstehen geben, dass sie ihr Verhalten missbilligen. Und dann kommen die Rechten und sagen diesen Gruppen: „Es ist okay, wie ihr seid.“ Es ist nicht verwunderlich, dass einige diese Botschaft lieber hören als Kritik an Lebensstilen und Werthaltungen.

Bildergebnis für Wikimedia Commons Bilder Bundeswehr in Schulen Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Aber das ist erst der Beginn der Kompliziertheiten. Oft kommt als Ergänzung der Vorwurf, dass die Linken früher noch in der konkreten Lebensrealität des einfachen Volkes verwurzelt waren, ihnen heute aber „von oben“ mit dem Zeigefinger kommen. Nun wollten Sozialisten, Sozialdemokraten und alle anderen Linken schon früher die arbeitenden Klassen einerseits ermächtigen, aber andererseits immer auch verändern. Weltverbesserung und Selbstverbesserung waren stets untrennbar miteinander verbunden. Der Ursprung der Arbeiterbewegung lag oft in Arbeiterbildungsvereinen. Die Idee dahinter war, dass man den ungebildeten, analphabetischen Arbeitern Wissen vermittelt, denn, so hieß die Parole, „Wissen ist Macht“. Mit dem Wissen, Lesen und Schreiben wurden auch Werte vermittelt, die an die Vernunftvorstellungen der Aufklärung angelehnt waren. Die Anführer der Sozialisten legten beispielsweise den männlichen Arbeitern nahe, ihren Wochenlohn nicht prompt am Samstagabend zu versaufen, sie ermahnten sie, ihre Frauen anständig zu behandeln, sie propagierten neue Partnerschaftsmodelle, sie hatten sogar die Frechheit, die Männer aufzufordern, sich gelegentlich um die Kinder zu kümmern, damit die Frauen auch in Parteiversammlungen gehen könnten. Ärger noch: Man erklärte ihnen die Vorteile von Sanitärinstallationen, die Sozialisten druckten in ihren Zeitungen Anleitungen, wie man sich die Zähne putzt, und dass man die Wohnungen nicht nur fegen solle, sondern auch feucht mit dem Mopp wischen. Mit einem Wort: Man hat die Menschen verändern wollen, und niemand wäre damals auf die Idee gekommen, dass daran etwas schlecht sein könnte.

Sozialisten legten den Arbeitern nahe, ihren Wochenlohn nicht zu versaufen und ihre Frauen anständig zu behandeln

Es ist auch gar nichts Schlechtes daran, sich umzumontieren, was ja nichts anderes heißt, als sich zu verändern. Ich bin ein anderer als vor dreißig Jahren – Gott sei Dank. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, war ich zwar auch als zarter Teenager schon ziemlich woke, aber dass bestimmte Verhaltensweisen, auf die ich keine großen Gedanken verschwendete, andere verletzen könnten, habe ich wahrscheinlich erst nach und nach dazugelernt. Mein Freund, der Falter-Chefredakteur Florian Klenk, hat unlängst in einem schönen Text beschrieben, wie ihn Freundinnen und Kolleginnen allmählich zum Feministen umwandelten, und dass das nicht ohne innere Konflikte für ihn abging, weil er sich gelegentlich auch angegriffen gefühlt habe. Selbstredend wird man nicht immerzu völlig nach seinen Werten leben, wir Menschen sind nicht fehlerfrei, ich nenne das selbstironisch meine „Woke-Life-Balance“.

Quelle        :       TAZ-online            >>>>>          weiterlesen    

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Politik, News, Bundesparteitag Die Linke: die neu gewählten Parteivorsitzenden Martin Schirdewan und Janine Wissler

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Unten       —        Autor Lupus in Saxonia / Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

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DIE ERDE BEBT

Erstellt von Redaktion am 15. März 2023

– UND WAS MACHT ERDOĞAN?

von Ariane Bonzon

Während sich der türkische Präsident mit der Nothilfe sichtlich schwertat, war die Opposition sofort zur Stelle. Sie organisierte schnelle Unterstützung, wo staatliche Stellen versagten, und kritisierte sehr vernehmlich die Baupolitik. Trotzdem könnte der Langzeitherrscher auch diese Katastrophe überstehen.

Am 6. Februar 2022 erschütterten zwei gewaltige Erdbeben die Türkei und Syrien. In zehn türkischen Provinzen und in den vor allem von Kurden besiedelten Regionen in Nordsyrien gab es mehr als 50 000 Tote (Stand 6. März), von denen viele nicht mehr identifiziert werden konnten. Fast 2 Mil­lio­nen Menschen verloren ihr Zuhause, viele blieben mehrere Tage ohne Hilfe. Ganze Stadtviertel sind zerstört, die Bewohner auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Infrastruktur ist in weiten Gebieten schwer beschädigt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan spricht von der „Katastrophe des Jahrhunderts“.

Nach dieser Katastrophe stellt sich allerdings auch die Frage nach der politischen Verantwortung Erdoğans und nach dem diplomatischen Einfluss, den sein Land künftig genießen wird. Wenige Monate vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai haben diese Fragen besonderes Gewicht.

Erdoğan hat allen Grund, eine Niederlage zu fürchten. Denn dann müsste er sich, nach 20 Jahren an der Macht, mitsamt seiner Entourage für zahllose in den letzten zehn Jahren begangene Verletzungen des Rechtsstaats verantworten und mit Anklagen wegen Betrug und Korruption rechnen. „Er­do­ğan weiß, dass er wegen Verrat und Unterschlagung vor dem obersten Gerichtshof landen wird, wenn er verliert“, erklärt Bayram Balci, Politikwissenschaftler am Centre de recherches internationales (Ceri).

Auch wenn der Präsident vor dem 6. Februar in Umfragen hinter den potentiellen Kandidaten der Republikanischen Volkspartei (CHP, Mitte-­links, laizistisch) zurücklag, stand es für ihn gar nicht so schlecht – obwohl klar war, dass Erdoğans großspurige Ankündigungen – 2023 sollte die Türkei zu den zehn stärksten Wirtschaftsmächten der Welt aufsteigen, mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 25 000 US-Dollar pro Einwohner – nicht eintreffen werden.

Alles offen vor den Wahlen

Anfang Oktober 2022 erreichte die Inflation mit über 83 Prozent ihren Höchststand, bei Lebensmitteln stiegen die Preise sogar um 93 Prozent. Im letzten Jahrzehnt ist das BIP um 1903 US-Dollar auf 9327 US-Dollar gesunken, und auf der Weltrangliste der 50 größten Volkswirtschaften stand das Land 2021 auf Platz 19.

Aber der Präsident hatte noch ein paar Trümpfe im Ärmel. Im September 2022 versprach er, 500 000 Sozialwohnungen zu bauen; vier Monate später kündigte er die Erhöhung des Mindestlohns um 50 Prozent an. Damit legte er in den Umfragen ein paar Prozentpunkte zu. Eine weitere populäre Maßnahme war die Abschaffung des Mindestalters für den Renteneintritt. Bisher wurde fast 2 Millionen türkischen Beschäftigten eine Rente auch dann verwehrt, wenn sie die nötigen Beitragsjahre vorweisen konnten.

Erdoğans offensive Außenpolitik im Kaukasus und in Afrika oder die Bombardierung der autonomen Kurdengebiete in Nordsyrien wird auch nur im Westen kritisch gesehen. In der Türkei stößt diese Politik eher auf Zustimmung; auch die Oppositionsparteien sind mit Ausnahme der Demokratischen Partei der Völker (HDP, links, für kurdische Autonomie) dafür.

Konsens besteht auch hinsichtlich der Entscheidung, die Millionen syrischen Flüchtlinge abzuschieben, die einst als „Gäste“ kamen und nun unerwünscht sind.1 Und dass die Türkei erkennbar davon profitiert, dass sie die Sanktionen gegen Russland nicht mitmacht, stellt viele Wählerinnen und Wähler ebenfalls zufrieden. Vor dem 6. Februar war der Wahlausgang zwar keineswegs sicher, aber Erdoğan hatte durchaus eine Chance – zumal im Hohen Wahlausschuss (YSK) vor allem regimefreundliche Richter sitzen und das Fernsehen „fast ausnahmslos unter Kontrolle der Regierung steht“2 .

Und nun? Das zerstörerische Erdbeben hat auch die türkische Gesellschaft erschüttert. 14 Millionen Menschen sind unmittelbar betroffen. Tagelang saß das ganze Land vor dem Fernseher, in dem rund um die Uhr und live über die Such- und Rettungsarbeiten berichtet und zu Spenden und Hilfen aufgerufen wurde. Zwei Tage nach der

Katastrophe sprach der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu in einer nüchternen und sehr ernsten Videoansprache den Opfern seine Anteilnahme aus, prangerte zugleich aber die Inkompetenz der Behörden an und auch die Desinformationskampagnen der Regierung. Am Ende erklärte Kılıçdaroğlu, es gebe einen großen Verantwortlichen für die Katastrophe, und das sei Er­do­ğan: „Zwanzig Jahre lang hat seine Regierung das Land nicht auf ein Erdbeben vorbereitet.“

Dieser Frontalangriff bedeutete eine radikale Wende. Damit brach der CHP-Vorsitzende die ungeschriebene Regel, an die sich seine Partei in der Vergangenheit im Namen der nationalen Einheit bei jedem Attentat und jeder militärischen Auslands­ope­ra­tion gehalten hatte, aber auch bei dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 oder bei der Verfolgung und Verhaftung kurdischer HDP-Abgeordneter in den vergangenen Jahren.

Die Opposition hat sehr rasch auf die Katastrophe reagiert, stellt der Sozialgeograf und Turkologe Jean-François Pérouse fest, der seit 1999 in Istanbul lebt. Sie eröffnete umgehend die Diskussion über den Umgang mit der Krise und das hyperzentralisierte Machtsystem, über die Günstlingswirtschaft und das Schneckentempo der Armee beim Einsatz in den Katastrophengebieten. Der Istanbuler CHP-Bürgermeister Ekrem İmamoğlu fuhr sofort ins Katastrophengebiet. In der schwer betroffenen Region Hatay habe die CHP mit beispielhafter Effizienz geholfen, berichtet Pérouse, und „quasi anstelle des Staats die Infrastruktur wiederhergestellt“.

Auch Selahattin Demirtaş, der frühere Co-Vorsitzende der prokurdischen HDP3 , der sich seit November 2016 in Edirne in Untersuchungshaft befindet, hat aus dem Gefängnis heraus den Staatspräsidenten für die nationale Katastrophe verantwortlich gemacht. Und darüber hinaus eine Wahlempfehlung für den CHP-Kandidaten Kılıçdaroğlu ausgesprochen. Sollte die kurdische Basis der HDP auf ihren Vorsitzenden hören, könnte das Erdoğans Wahlniederlage besiegeln.

Für den Präsidenten geht es jetzt vor allem darum, von seiner politischen Verantwortung abzulenken und sich als „Retter“ und „Organisationsgenie“ zu inszenieren. Nur wenn ihm das gelingt, kann er noch auf einen Wahlsieg hoffen. Das ist auch das Leitthema von Erdoğans PR-Feldzug, für den er alle staatlichen Ressourcen mobilisiert.

Bei seinem ersten Besuch im Erdbebengebiet sprach er zuerst von der Hand des Schicksals, gegen das der Mensch machtlos sei, und gab lediglich „Lücken“ zu, da man „unmöglich auf so eine Katastrophe vorbereitet sein“ könne. Erst nach drei Wochen, am 27. Februar, hat sich Erdoğan in Adiyaman wegen der verspäteten Rettungseinsätze entschuldigt: „Wegen der verheerenden Auswirkungen der Beben und des schlechten Wetters konnten wir in Adiyaman in den ersten Tagen nicht so arbeiten, wie wir wollten. Dafür bitte ich um Entschuldigung.“

Quelle     :     LE MONDE diplomatie-online

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Oben     —        Aid collected in Eyüpsultan, Istanbul for the 2023 Gaziantep-Kahramanmaraş earthquakes

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Kolumne Materie

Erstellt von Redaktion am 15. März 2023

Anschlag auf Nord-Stream-Pipelines: – Danke! Danke! Danke!

Eine Kolumne von Kersten Augustin

Eigentlich ist es egal, wer es war: Wer auch immer die Nord-Stream-Pipeline gesprengt hat, hat drei Preise verdient.

Wer hat die Nord-Stream-Pipeline gesprengt? Die Ostsee liegt zwar wieder so ruhig und langweilig da, wie es ihre Art ist, aber die Gerüchteküche blubbert. Einer Recherche verschiedener Medien zufolge soll eine Gruppe von sechs Personen mit gefälschten Pässen an der deutschen Ostseeküste eine Jacht gemietet haben und mit einem Sprengsatz zur Pipeline geschippert sein.

Das ist natürlich wahnsinnig aufregend, aber schlauer ist man nach dieser Recherche nicht – außer, dass es ein Wieck auf dem Darß und ein Wiek auf Rügen gibt und die Jacht an einem der beiden Häfen ein Päuschen gemacht hat. Ob die Sprengung aber von Ukrainern oder Russen ausgeführt wurde, ob die ukrainische Regierung informiert oder involviert war oder gar die Amerikaner – nichts davon ist heute klarer als vor einer Woche.

Einige Hinterbänkler sehen trotzdem die Chance, aus den Vermutungen Profit zu schlagen. Über „Terrorismus mit Staatshilfe“ spekuliert etwa Ralf Stegner und behauptet, die Medienberichte legten nahe, dass „Putin es nicht war“. Er raunt über „politische Turbulenzen, die sich gewaschen haben dürften“. Die Hoffnung, einen Grund zu finden, die Waffenlieferungen an die Ukraine endlich einzustellen, ist in Bordesholm so stark spürbar, da braucht man keinen Seismografen.

Ich muss Sie enttäuschen, auch diese Kolumne wird das Rätsel nicht lösen. Aber ich werde es herausfinden, mit einer investigativen Methode, einem Preisausschreiben. Denn egal, wer für die Zerstörung der Pipeline verantwortlich ist und woher die Täter kommen, ihnen gehören sämtliche Orden angebunden.

So geht sozial-ökologische Transformation

Zunächst der ARD-Vorabend-Preis für den besten Krimiplot: Man muss sich das nur mal vorstellen, wie diese Jacht, bis oben hin vollgepackt mit Sprengstoff, in den beschaulichen Hafen Wiek auf Rügen einfährt, neben der Jacht eines Rostocker Zahnarztes vertäut wird und etwas später weiterfährt. James Bond kann einpacken, bei dieser Geschichte stimmt einfach alles.

James Bond kann einpacken, hier stimmt einfach alles

File:Nord Stream gas leaks 2022.svg

Die Pipeline-Helden verdienen außerdem den Footprint-Award für sozialökologische Transformation: Sie haben für das Ende des fossilen Albtraums mehr geleistet als jeder vegane Nachtzugfahrer. Ohne ihren heldenhaften Einsatz wäre die Wärmepumpe immer noch ein Kapitel im grünen Parteiprogramm. Jetzt ist sogar dem letzten aus Aserbaidschan bezahlten CDU-Politiker klar: Es gibt keinen Weg zurück zum russischen Billiggas.

Womit wir beim dritten Preis wären: Dem Gerhard-Schröder-Preis für Verdienste gegen die deutsche Sozialdemokratie. Denn seien wir ehrlich, spätestens im nächsten Winter, wenn es wieder kalt wird, aber Christian Lindner sich weigert, Olaf Scholz’ Finanzbazooka nachzuladen, wird es ungemütlich werden in Deutschland. Und wenn es in der Ukraine dann etwas gäbe, das man aus der Ferne mit zusammengekniffenen Augen als Waffenstillstand bezeichnen könnte, wären die ersten Sozialdemokraten aus ihren norddeutschen Villen gekrochen und hätten gefordert, dass wir doch bitte Nord Stream 2 endlich in Betrieb nehmen.

Quelle          :       TAZ-online

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Unten        —    Karte der Explosion, die an den Nord-Stream-Pipelines am 26. September 2022 verursacht wurden.

https://www.berria.eus/albisteak/218737/berlinek-eta-moskuk-laquosabotajetzatraquo-jo-dituzte-nord-streameko-isuriak.htm

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Ungenutzte Bildungszeit

Erstellt von Redaktion am 14. März 2023

Weiterbildung und Arbeitsrealität

File:Deutscher Bundestag Plenarsaal Seitenansicht.jpg

Keine Lehrer kein Volk

Ein Debattenbeitrag von :   Lara Körber

Die von Hubertus Heil vorgeschlagene Bildungszeit ist ein schöner Ansatz. Nur häufig steht die Unternehmenskultur der Weiterbildung im Weg.

Die von Arbeitsminister Hubertus Heil geplante Bildungszeit wäre – wenn das Finanzministerium nicht zuvorgekommen wäre – spätestens in den meisten Unternehmen selbst gescheitert. Konkret an den dort vorherrschenden Unternehmenskulturen. Denn Weiterbildung ist viel zu oft keine Sprosse der Karriereleiter, sondern sie verkommt zur Posse im Angesicht der firmenintern bestimmenden Strukturen. Ein Realitäts-Check zeigt, warum das so ist.

In der Arbeitswelt wird oft das Märchen vom lebenslangen Lernen erzählt, doch das fristet eher einen Dornröschenschlaf

Per Gesetz – und das ist weitgehend viel zu wenig bekannt – haben 27 Millionen Arbeitnehmende in Deutschland Anspruch auf Bildungsurlaub. Dahinter verbergen sich fünf bis zehn Tage bezahlte Freistellung für als Bildungsurlaub anerkannte Weiterbildungen – von Führungskräftetraining über Sprachkurse bis Burn-out-Prävention. Kurz: zertifizierte Auszeiten, die Arbeitnehmende ganz individuell fachlich, persönlich und gesundheitlich fördern.

Trotzdem nehmen nur rund 2 Prozent der Anspruchsberechtigten ihr Recht auf Bildungsurlaub aktuell in Anspruch – und das, obwohl es das Gesetz zum Beispiel in Hamburg bereits seit 1974 gibt. Warum ist das so? Als Mitgründerin des mittlerweile größten Aufklärungs- und Buchungsportals für gesetzlichen Bildungsurlaub in Deutschland bin ich täglich mit weiterbildungsinteressierten Ar­beit­neh­me­r:in­nen im Austausch, die sich nicht trauen, ihr Recht auf „Bildungsurlaub“ in Anspruch zu nehmen.

Ein entscheidender Grund dafür ist der oftmals große Unterschied zwischen extern groß gelobter und intern klein gelebter Unternehmenskultur. Zwar wird in der Arbeitswelt oft das Märchen vom lebenslangen Lernen erzählt, doch das fristet eher einen Dornröschenschlaf – während die Prinzessin oder der Prinz zum Wachküssen sich ganz schön vergaloppiert hat.

Angst vor den Che­f:in­nen

In der Hel­d:in­nen­ge­schich­te von Unternehmen heißt es nämlich leicht: „Wir sind offen gegenüber Weiterbildung!“ Die externe Unternehmenskultur steht damit gut da. Allerdings zeigt sich hinter geschlossenen Bürotüren oft ein ganz anderes Bild. Die Forderung nach Förderung kommt dort oft gar nicht gut an, und die auf diese Weisen geprägte interne Unternehmenskultur reguliert somit den Weiterbildungsmarkt.

Es gibt also firmenkulturelle Hindernisse, die es erschweren, für das eigene Recht auf Weiterbildung einzustehen. Fehlendes Vertrauen und mangelhafte Kommunikation sind hier zentral zu nennen. Um Weiterbildungen wahrzunehmen, braucht es die Zustimmung des Unternehmens. Wir beobachten allerdings sehr stark, dass viele Beschäftigte sich schon gar nicht erst trauen, den Dialog mit ihren Che­f:in­nen aufzunehmen, um über ihre individuellen (Weiterbildungs)Bedürfnisse zu sprechen.

Wer aber nichts anspricht, dem kann man auch nichts absprechen. Was beim Ansprechen hemmt, ist, dass zu viele Arbeitgebende in Weiterbildungen immer noch viel zu oft Fehlzeit statt Förderung sehen. Damit begünstigen sie eine Fehlinterpretation von Leistung als Präsenz statt Produktivität. Ein weiterer Grund, der Mitarbeitende zögern lässt, eine Fortbildung in Erwägung zu ziehen, ist die generelle Überlastung.

Zu viele Arbeitnehmende sind oft am Limit und möchten in dieser Ausnahmesituation ihr Team nicht allein lassen beziehungsweise diesem noch mehr Arbeit zumuten. Das ist verständlich. Leider ist der Ausnahmefall zu oft die Regel. Wer als Unternehmen wirklich will, dass Weiterbildungsangebote angenommen werden, muss ein Arbeitsumfeld schaffen, das Entfaltungsspielraum bietet.

Sozialer Druck und Neid

Nicht selten wirkt auch der Mangel an Gönnungskultur als Hindernis auf dem Weg zur Weiterbildung. Leider ist es so, dass viele Kol­le­g:in­nen einander Weiterbildungen nicht gönnen oder sich schnell benachteiligt oder abgehängt fühlen. Dieser soziale Druck erhöht die Hürde, nach Weiterbildung zu fragen – und ist eine „Red Flag“ im Hinblick auf eine gesunde Arbeitskultur in einem Unternehmen.

Statt Misstrauen brauchen wir ein Team-Miteinander, eine „Gönnungskultur“ – in der je­de:r Einzelne weiß, dass sie oder er nicht zu kurz kommen wird. Wichtigster Schlüssel dafür auch hier wieder: transparente Kommunikation von oben. Die Message der Unternehmen sollte dabei sein: „Wir wollen deine Weiterentwicklung. Und die der anderen.“

Quelle       :        TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben         —      Plenarsaal des Deutschen Bundestages

Author Times        /    Source    :   Iwn worh       /     Date      :      12 September 2010

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European Health Data Space

Erstellt von Redaktion am 14. März 2023

Ein Datenraum voller Ungereimtheiten

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von         :       

Rezepte EU-weit einlösen, mehr Daten für die medizinische Forschung: Das und noch viel mehr soll der Europäische Gesundheitsdatenraum bringen. Aber es gibt da noch viele offene Fragen, findet Bianca Kastl.

Ab und zu finde ich mich deutsche Digitalisierungskartoffel in Diskussionen wieder, in denen geradezu sehnsüchtig gelungene Digitalvorhaben anderer Länder angehimmelt werden. So eine Patientenakte wie in Estland oder Finnland, das wär doch was, oder? Und als Silberstreif am Horizont so ein großer gemeinsamer Europäischer Gesundheitsdatenraum, der EHDS.

All das wird nur Wunschdenken bleiben, wenn wir nicht die vielen Ungereimtheiten auflösen, die darunter verborgen sind.

Die Pandemie-Phrase

Des Weiteren hat die COVID‑19-Pandemie noch stärker gezeigt, wie wichtig elektronische Gesundheitsdaten für die Entwicklung von Strategien zur Bewältigung von Gesundheitskrisen sind.

Dieser Satz steht in der Präambel des ersten Vorschlags der Europäischen Kommission zum Europäischen Raum für Gesundheitsdaten. Worum geht es da und ist das alles so in sich stimmig?

Der EHDS ist erst einmal vordergründig eine rechtliche Initiative, die europaweit Gesundheitsdaten und Leistungen digital harmonisieren soll.

Die Forderung nach Harmonisierung ist im Kern nicht schlecht. Elektronische Rezepte, die europaweit funktionieren, sind durchaus hilfreich. Wenn Gesundheitsdaten aus Spanien deutschen Ärzt*innen besser nicht mehr spanisch vorkommen und nach internationalen Standards auswertbar sind, ist das auch durchaus hilfreich.

Nun steht im Entwurf zum EHDS aber nicht nur der Wunsch nach stärkerer Interoperabilität und Standardisierung, sondern es geht auch ganz klar um einfacheren Zugang zu Daten. Dabei geht es nicht nur um den sogenannten „primary use“, sondern es gibt noch einen „secondary use“ – also eine Verwendung von Gesundheitsdaten über den eigentlich Primärzweck der Behandlung und Versorgung hinaus. Das kann für die Forschung sein, aber auch zu kommerziellen Zwecken, sofern dies in die möglichen zugelassenen Formen der Datennutzung passt.

Da der EHDS europaweit gedacht ist, ist das Ziel auch ganz klar die Schaffung eines einzigen großen Datenraums im Sinne eines europäischen digitalen Binnenmarktes, des sogenannten Digital Single Market.

Probleme im Schlepptau

Die erste Fassung des EHDS-Vorschlags war – gelinde gesagt – nicht so wirklich auf die Rechte der betroffenen Personen ausgerichtet.

Für die Zweitnutzung gab es im ersten Entwurf keinerlei Widerspruchsmöglichkeit. Also gar keine. Aktuell bewegt sich die Diskussion zwar in diese Richtung, es ist aber noch in Verhandlung, ob als Opt-Out oder Opt-In. Also ob die Betroffenen der Nutzung aktiv widersprechen oder ob sie explizit einwilligen müssen, bevor ihre Daten verwendet werden.

Der Witz an der Sache von Seiten der medizinischen Leistungserbringer ist auch, dass der Entwurf darauf abzielt, dass sogenannte Dateninhaber („Data Holders“) Gesundheitsdaten auch bereitstellen müssen, zumindest ab einer bestimmten Größe. Darunter fallen quasi alle Kliniken.

Nun ist die Forschung an Daten auf verschiedenen Wegen vorstellbar. Idealerweise wäre Forschung mit komplett anonymisierten Daten möglich. Das geht aber leider gar nicht mal so häufig, weil manche Datenpunkte, speziell mehrere miteinander kombinierte, eine so individuelle „Daten-Signatur“ haben, dass Personen auch anhand der Datenpunkte allein wieder eindeutig identifiziert werden können.

Je seltener bestimmte Werte innerhalb eines Datensets vorkommen, desto schneller lässt sich eine Person einwandfrei auch aus dann pseudonymen Daten wiedererkennen.
Menschen mit einer seltenen Erkrankung – manche davon kommen im Bereich von 1:1.000.000 vor – und einer bestimmten Blutgruppe gibt es in der Kombination in ganz Deutschland oder Europa gar nicht mal so viele.

Das Problem ist so ähnlich wie bei der Nutzung der Abrechnungsdaten von gesetzlichen Krankenkassen. Dort ruht in Deutschland gerade das Verfahren der Gesellschaft für Freiheitsrechte gegen eine solche Verarbeitung ohne Widerspruchsmöglichkeit – zufriedenstellend gelöst ist das Problem aber noch nicht. Mit dem EHDS könnte das Problem sogar wiederkommen.

Breite Definition von Gesundheitsdaten

Was genau im Sinne des EHDS unter den Begriff Gesundheitsdaten fällt, ist aktuell sehr weit auslegbar. In der ersten Fassung stehen da etwa auch „Wellness-Anwendungen“, deren Daten verfügbar gemacht werden sollen. Oder um es mit den Worten des Netzwerk Datenschutzexpertise zu sagen: „Man kann den Eindruck haben, dass alle Daten, die auch im entferntesten einen Gesundheitsbezug haben, von der Bereitstellungpflicht erfasst sein sollen“.

Neben der sehr großzügigen Definition der Daten selbst, ist auch die erste Definition von Zwecken, zu denen diese Daten genutzt werden können, sagen wir mal, bei kreativer Anwendung für so ziemlich alles anwendbar.

Unter „Training, Erprobung und Bewertung von Algorithmen, auch in Medizinprodukten, KI-Systemen und digitalen Gesundheitsanwendungen, die zur öffentlichen Gesundheit oder sozialen Sicherheit beitragen“ lässt sich dann doch einiges unterbringen. Wenn zwar das „Treffen von Entscheidungen zum Schaden einer natürlichen Person“ verboten ist, stellt sich die Frage, ob das vielleicht vorher erst durch Bewertung von Algorithmen herausgefunden werden müsste.

Da ist also rechtlich noch einiges klar zu fassen und genauer zu definieren. Inklusive der zentralen Frage, inwieweit sich Forschung im Sinne der Allgemeinheit an Daten klar trennen lässt von kommerziellen Interessen.

Die Forderungen des Handelsverbands der Medizintechnikindustrie etwa, Handelsgeheimnisse und geistiges Eigentum durch den EHDS nicht zu gefährden, lassen doch auch eher auf starke kommerzielle Interessen schließen.

Erschwerend dazu kommt, dass der EHDS nach Plan Mitte 2023 verabschiedet werden sollte. Mit der Zielsetzung, dass die Mitgliedstaaten 2025 diesem Datenraum quasi beitreten sollen, wird das aus rein technischer Sicht selbst für digital weiter entwickelte Länder nicht unbedingt einfach. Die Aussichten, dass das alles in Deutschland funktioniert, stehen damit nicht unbedingt gut.

Viele schlecht umgesetzte EU-Initiativen auf einmal

Obwohl der EHDS und seine rechtlichen Grundlagen uns alle in Europa betreffen, bleibt das Thema aktuell noch etwas arg unter dem Radar. Der EHDS ist als Vorschlag digitalpolitisch leider etwas neben den Themenfeldern Chatkontrolle und digitale Identitäten untergegangen. Wenn es digitalpolitisch überall brennt, ist es schwer, alles gleichzeitig zu löschen.

Wer sich aus zivilgesellschaftlicher Sicht auf EU-Ebene mehr mit dem EHDS beschäftigen möchte, dem sei das Positionspapier von EDRi empfohlen.

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Grafikquelle :

Oben     —   Coronavirus-Pandemie 2019/20 in Busan

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