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Archiv für die 'Positionen' Kategorie

Gutes aus Kranenburg

Erstellt von Redaktion am 5. Juli 2023

Kranenburg – Niederrhein

Die alte Schule

Von Jimmy Bulanik

Die Menschen definieren mit ihrem Eigenschaften wie dem menschlichen Wesen den Raum in dem sie Leben und Wirken. So auch im Landkreis Kleve. Mit seinen sechzehn Gemeinden.

So weit westlich gelegen ist dies ein von seiner Geographischen Lage, darunter der Topographie die niederrheinische Gemeinde de.wikipedia.org/wiki/Kranenburg_(Niederrhein) welches ein unmittelbarer Grenzort zu den Niederlanden mit der Provinz Gelderland ist, im Alltag ein niederländisch geprägter Teil innerhalb des Niederrhein. Dort wo die Lebensqualität hoch ist, kommen entsprechende Produktionsgüter her. Wie die hochwertigen, in Bio Qualität zertifizierte Naturprodukte.

Aktuell hat der Ostaras Morgenröte Rotkultur Käse welcher Bioland zertifiziert ist die Auszeichnung der Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft mit DLG Gold 2023 verliehen bekommen. Das erfreut naturgemäß auf beiden Seiten der Grenze viele Menschen. Dies ist ein pittoreskes Beispiel dafür das der grenzüberschreitende Zusammenhalt zwischen den Menschen, die Kooperation zwischen dem Königreich der Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland ausschlaggebend für den gemeinsamen Erfolg ist.

Europa bleibt Trumpf

aurora-kaas.com/de

aurora-kaas.com/de/gold-fur-ostara

Weil die Aurora Kaas GmbH aus Kranenburg so gut sind, wie es er Fall ist dürfen sich die interessierten Menschen im Rahmen eines Besuches am Niederrhein wie der Landkreis Kleve diese Gesellschaft besuchen. Dazu sich für den 06. September 2023 für 10 Uhr anmelden. Der Besuch ist gratis.

aurora-kaas.com/de/kaesereifuehrung-biowochen-nrw

Bei dieser Gelegenheit gibt es einen Transfer von Wissen und dem persönlichem Bezug. Von der regionalen Gesellschaft an die geneigte Kundschaft, sowie die Interessentinnen und Interessierten. Dies ist geeignet junge Menschen für das ehrliche Handwerk zu begeistern, zukünftig die Mittel zum Leben selber als Manufaktur herzustellen.

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Nützliche Links im Internet:

Wir sind Kleve (nach Johannes Oerding):

soundboxstudio.de/wp-content/uploads/2020/05/Musikvideo_WirsindKleve_5MBits-Web.mp4

Ein niederländischer Großmeister der epischen Musik ist Boudewijn de Groot: Land van Maas en Waal

www.youtube.com/watch?v=7RrndbK4ztA

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Grafikquellen          :

Oben     —     Die alte Schule

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von Redaktion am 5. Juli 2023

„Krieg und Frieden“
Der Angst zum Trotz: Rückkehr nach Russland

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Aus Moskau XENIA BABICH

Mein Bekannter, der Moskau im vergangenen September über Kasachstan Richtung Tbilissi verlassen hatte, gab damals seine ganzen Ersparnisse für Flugtickets aus.

Immerhin ging es ihm darum, der Mobilmachung Russlands zu entfliehen. Ein halbes Jahr später kehrte er jedoch zurück. Ich habe davon nur erfahren, weil wir uns zufällig auf einer Geburtstagsfeier gemeinsamer Bekannter trafen. Auf Social Media tut er alles, damit es so aussieht, als halte er sich weiter nicht in der russischen Hauptstadt auf.

Über seinen Umzug und seine Rückkehr erzählte er, dass er Georgien liebe und den Mut der Georgier bewundere, die gegen das Ausländische-Agenten-Gesetz auf die Straße gegangen waren. Aber er könne nicht länger dort bleiben, da er in Moskau leben wolle. Als die russischen Behörden bekannt gaben, dass die Grenzen für diejenigen geschlossen würden, die eine Vorladung zur Einberufung bekommen haben, schrieb er mir, dass er einen Job in Moskau suche und zu Vorstellungsgesprächen gehe. Er war immer gegen Putins Krieg. Auch jetzt beteuert er, dass er ihn ablehne. Dennoch ist er zurückgekommen.

Ein paar Wochen später erfuhr ich, dass ein anderer Bekannter, der vor der Mobilmachung geflohen war, ebenfalls wieder in die russische Hauptstadt zurückgekehrt ist, aus dem georgischen Batumi. Er versuche, nicht groß an seine Emigration zu denken und zu leben wie in der Zeit davor, sagt er; in Bars und Cafés gehen und sich mit Freunden treffen.

Es sind Männer im wehrpflichtigen Alter, die jetzt zur „Risikogruppe“ gehören und jeden Tag einberufen werden könnten. Aber sie sagen mir auf Nachfrage, dass sie jetzt einfach „nicht darüber nachdenken“ und sich stattdessen Arbeit suchten, durch die Straßen ihrer geliebten Stadt liefen und ihre Freunde treffen wollten. Und nur leise miteinander über Politik sprächen.

Noch im Februar 2023 hatten russische Beamte erklärt, dass 60 Prozent derer, die wegen des Krieges das Land verlassen haben, zurückkehren würden. Auch wenn bis heute darüber keine genaue Zahlen oder statistischen Erhebungen veröffentlicht wurden, ist der Trend im Sommer 2023 klar: Die Zahl der Rückkehrer aus anderen Ländern wächst – trotz des Risikos der Mobilmachung, trotz neuer repressiver Gesetze, trotz schwieriger Wirtschaftslage in Russland.

Quelle         :          TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Hessens Spitzenkandidatin

Erstellt von Redaktion am 4. Juli 2023

Nancy Faeser und der Koalitionsvertrag

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von         :     

Für Innenministerin Nancy Faeser scheint der Koalitionsvertrag eher ein lästiges Stück Papier zu sein. Ein Einblick in das schwierige Verhältnis der hessischen Spitzenkandidatin zu Vereinbarungen der eigenen Partei.

Nancy Faeser ist die aktuelle Bundesinnenministerin. Und Nancy Faeser möchte Ministerpräsidentin in Hessen werden. Kürzlich hat ihre Partei, die SPD, sie zur Spitzenkandidatin für die Landtagswahl im Oktober gewählt. Frei nach dem Motto „Wenn’s in Hessen nicht klappt, für’n Bund reichts“ möchte Faeser aber Innenministerin bleiben, wenn die Wahlergebnisse für ein Landesregieren nicht genügen.

Derzeit liegt die CDU in Hessen sieben Prozentpunkte vorn, was das Szenario wahrscheinlich macht. Dennoch ist zu Beginn des Hessenwahlkampfs ein guter Zeitpunkt zurückzublicken und zu schauen, was die Hessen vielleicht erwartet. Oder wie es im Bund weitergeht. Ein Einblick in das schwierige Verhältnis von Nancy Faeser zum eigenen Koalitionsvertrag.

Faeser und die Vorratsdatenspeicherung

Im Koalitionsvertrag steht, dass die Ampelregierung Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten will, „dass Daten rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können“. Dass die bisherige deutsche Regelung durch den Europäischen Gerichtshof zu Fall gebracht werden würde, war damals bereits absehbar und bestätigte sich durch das Urteil im September 2022.

Doch bereits vor dem Urteil trat Faeser mit der Forderung auf, IP-Adressen anlasslos von Allen zu speichern. Und auch noch dem Urteil hielt sie daran fest, dass es eine neue Vorratsdatenspeicherung für die Internetadressen brauche. Damit stellte sie sich gegen die Regierungskollegen aus dem Justizministerium, die eine Quick-Freeze-Lösung als grundrechtsschonende Alternative vorstellten.

„Finden sie es wirklich richtig, dass wir uns als Sicherheitsbehörden wegducken?“, warb sie im März betont emotional für die anlasslose Massenspeicherung. Die Folge ist Stillstand: Während das Innenministerium auf anlassloser Speicherung von IP-Adressen besteht, beharrt das Justizministerium auf dem Gegenteil. Der Koalitionsvertrag ist klar.

Faeser und die Chatkontrolle

Im Koalitionsvertrag steht: „Allgemeine Überwachungspflichten, Maßnahmen zum Scannen privater Kommunikation und eine Identifizierungspflicht lehnen wir ab.“ Ein Gesetzentwurf der EU-Kommission, der Minderjährige vor sexualisierter Gewalt im Netz schützen soll, steht dem diametral entgegen. Denn er fordert, dass Anbieter auf Anordnung private Chats und Daten der Nutzenden scannen sollen, um nach Hinweisen für Missbrauchsmaterial und Kontaktanbahnung von Erwachsenen an Kinder zu suchen.

Der selbst von vielen Kinderschutzorganisationen kritisierte Entwurf führte zu einem langandauernden Streit in der Koalition. Das Innenministerium führt in der EU die Verhandlungen im Rat und wollte sich über die Koalitionsvertragsvereinbarungen hinwegsetzen. Sie überschritt damit sämtliche rote Linien, die FDP-geführte Ministerien zuvor formuliert hatten.

In der anschließenden „Einigung“ entschied man sich schließlich dazu, etwa verschlüsselte oder Audio-Kommunikation von den Scanpflichten auszunehmen. Doch in anderen wesentlichen Punkten setzte sich Faesers Haus durch: beim Scannen unverschlüsselter Inhalte und bei der Altersverifikation.

Faeser und die Hackbacks

Im Koalitionsvertrag steht: „Hackbacks lehnen wir als Mittel der Cyberabwehr grundsätzlich ab.“ Und dafür gibt es gute Gründe. Die digitalen Gegenangriffe sind ineffektiv, gefährlich und können zu Kollateralschäden führen. Im digitalen Raum bleibt Verteidigung die beste Verteidigung.

Faeser will das Wort „Hackback“ nicht benutzen, stattdessen redet sie von „Gegenmaßnahmen bei Cyberangriffen“ oder „aktiver Gefahrenabwehr“. Im Angesicht des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sei man gut beraten, „Fragen unserer Sicherheit nicht ideologisch, sondern realistisch zu betrachten“, sagte sie dem Spiegel.

Dafür will Faeser auch das Grundgesetz ändern und betreibt Wortklauberei. Wenn deutsche Beamte sich in einen Server im Ausland hacken, um ihn lahmzulegen, sei das „kein aktiver Gegenschlag, sondern die Abwehr eines Angriffs.“

Faeser und das Schwachstellenmanagement

Im Koalitionsvertrag steht, der Staat wird „keine Sicherheitslücken ankaufen oder offenhalten, sondern sich in einem Schwachstellenmanagement […] immer um die schnellstmögliche Schließung bemühen“. Das bedeutet: Keine Lücken mehr zurückhalten, weil man sie etwa für Staatstrojaner noch nutzen könnte.

Von dieser konsequenten Haltung ist Faeser weit abgerückt und befindet sich auf Abwägungskurs. Statt konsequenter Schließung, um die IT-Sicherheit aller Menschen zu erhöhen, will Faeser offenbar von Fall zu Fall entscheiden lassen, ob man eine Lücke lieber ausnutzt oder schließt.

Faeser und das Bundesamt für IT-Sicherheit

Im Koalitionsvertrag steht, man wolle das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik „unabhängiger“ aufstellen. Es untersteht dem Innenministerium und genau aus jenem Haus kam ein Gesetz, das in genau die entgegengesetzte Richtung zeigt.

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit war im „Gesetz zur Änderung des Bevölkerungsstatistikgesetzes, des Infektionsschutzgesetzes und personenstands- und dienstrechtlicher Regelungen sowie der Medizinprodukte-Abgabeverordnung“ ein Passus versteckt. Der reiht die zukünftigen Präsident:innen des Bundesamts in eine Reihe mit politischen Beamt:innen ein. Damit können sie leichter gefeuert werden als bisher.

Gerade in Anbetracht der Querelen um die Versetzung des früheren BSI-Chefs Arne Schönbohm ist es ein schwieriges Signal, das BSI weiter abhängig von politischen Gnaden zu machen.

Faeser und der Rest

Die obigen Beispiele sind ausschließlich Themen mit netzpolitischem Bezug. Faeser hat sich auch in anderen Bereichen Kritik ausgesetzt, weil sie die Linie ihres CSU-Vorgängers Horst Seehofer beinahe nahtlos fortführt. Ein Beispiel dafür sind Asylverschärfungen.

Sollte es die SPD bei der hessischen Landtagswahl tatsächlich Erfolg haben, wird unter einer Führung Faesers fraglich, wie viel sich vom derzeit schwarz-grünen Hardlinerkurs im Land ändert. Sollte die SPD nicht die stärkste Partei werden, würde sich eine andere Frage stellen: Kann sich eine Innenministerin auf ihrem Posten halten, die zum einen bei einer Landtagswahl scheitert und zum andern mit ihrer Missachtung des Koalitionsvertrags schon viel Unmut auf sich gezogen hat?

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —     Konstituierende Sitzung des Hessischen Landtages am 18. Januar 2019 in Wiesbaden.

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Putin wurde gestärkt

Erstellt von Redaktion am 4. Juli 2023

Die Wagner-Revolte wurde gefeiert – und falsch interpretiert

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von                :         Seymour Hersh /   

Der inner-russische Aufstand, der nicht stattgefunden hat, stärke die Position Putins. Das sagen Informanten von Geheimdiensten.

upg. Aufgrund seiner Kontakte zu Geheimdiensten schätzt US-Investigativjournalist Seymour Hersh die Revolte des Wagner-Chefs Prigoschin anders ein als grosse Medien. Im Folgenden eine gekürzte Version des Beitrags auf seiner Substack-Webseite. Mit der Darstellung von Seymour Hersh ergänzt Infosperber, was bereits aus grossen Medien zu erfahren war.

Die anhaltende Katastrophe in der Ukraine geriet einige Tage aus den Schlagzeilen, weil diese dominiert waren von der «Revolte» Jewgeni Prigoschins, dem Chef der Söldnergruppe Wagner. Angeblich bedrohte Prigoschin Putins Macht.

Eine Schlagzeile in der «New York Times» lautete: «Revolte wirft brennende Frage auf: Könnte Putin die Macht verlieren?». Und «Washington Post»-Kolumnist David Ignatius meinte: «Putin blickte am Samstag in den Abgrund – und blinzelte.»

[Red. In Brüssel meinte die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock: «Wir sehen massive Risse in der russischen Propaganda. Die Moderatorin von ARD/WDR ergänzte: «Die Schwäche Putins könnte für die Ukraine durchaus eine Chance sein.» In der Schweiz titelte Ulrich Speck in der NZZ: «Die Rebellion deckt Putins Schwäche auf – das wird den Niedergang Russlands auf der internationalen Bühne beschleunigen.»]

Aussenminister Antony Blinken, der vor Wochen stolz verkündete, in der Ukraine keinen Waffenstillstand anzustreben, trat in der CBS-Sendung Face the Nation mit seiner eigenen Version der Realität auf: «Vor sechzehn Monaten dachten die russischen Streitkräfte, sie würden die Ukraine als unabhängiges Land von der Landkarte tilgen […] Jetzt mussten sie Russlands Hauptstadt Moskau gegen Söldner verteidigen, die Putin selbst geschaffen hat […] Das ist eine direkte Herausforderung an Putins Autorität […] Diese zeigt echte Risse.»

Interviewerin Margaret Brennan liess Blinken ohne direkte Gegenfragen reden. Blinken wusste dies – warum wäre er sonst in der Sendung aufgetreten. Er fuhr fort: «In dem Masse, in dem dies [die Revolte Progoschins] eine echte Ablenkung für Putin und die russischen Generäle darstellt, die mit der Gegenoffensive in der Ukraine beschäftigt sein müssen, glaube ich, dass dies den Ukrainern noch mehr Möglichkeiten eröffnet, vor Ort erfolgreich zu sein.»

Der Wagner-Putsch war ein schnell verloschenes Strohfeuer

Hat Blinken an dieser Stelle für Joe Biden gesprochen? Glaubt der Präsident, der das Sagen hat, das ebenfalls?

Heute wissen wir, dass der Aufstand des chronisch labilen Prigoschin innerhalb eines Tages im Sande verlief. Er flüchtete nach Weissrussland, wo ihm keine Strafverfolgung droht. Seine Söldnerarmee wurde in die russische Armee integriert. Es gab weder einen [ernst zu nehmenden] Marsch auf Moskau noch eine nennenswerte Bedrohung für Putins Herrschaft.

[Es wurde nie darüber informiert, wie viele Jeeps oder Panzer bis 200 Kilometer vor Moskau fahren konnten, obwohl dies auf Satellitenbildern ersichtlich sein musste.]

Die Washingtoner Kolumnisten und Korrespondenten für nationale Sicherheit verlassen sich offensichtlich zu stark auf offizielle Hintergrundgespräche mit Beamten des Weissen Hauses und des Aussenministeriums. Angesichts der veröffentlichten Ergebnisse solcher Hintergrundgespräche scheinen diese Beamten nicht in der Lage zu sein, die Realität der letzten Wochen oder das Desaster der Gegenoffensive des ukrainischen Militärs zu erkennen.

Im Folgenden möchte ich einen Blick auf die tatsächlichen Vorgänge werfen, die mir von einer sachkundigen Quelle in US-Geheimdienstkreisen mitgeteilt wurden.

Putin geht gestärkt aus diesem Konflikt hervor

Entscheidend ist, dass sich Putin jetzt in einer viel stärkeren Position befindet. Bereits im Januar 2023 war ein Showdown absehbar zwischen den Generälen, die von Putin unterstützt werden, und Prigoschin, der von Extremisten unterstützt wird. Es ist der alte Konflikt zwischen «besonderen» Kriegskämpfern, den Spezialeinheiten (SF), und einer grossen, langsamen, schwerfälligen und phantasielosen regulären Armee.

Die Armee gewinnt immer, weil sie über die notwendigen Mittel verfügt, die einen Sieg, sei es offensiv oder defensiv, möglich machen. Am wichtigsten ist, dass sie die Logistik kontrollieren.

Die SF sehen sich selbst als wichtigste Offensivkraft. Solange die Gesamtstrategie offensiv ist, toleriert die grosse Armee die Hybris und das öffentliche Schenkelklopfen der SF, weil diese bereit sind, ein hohes Risiko einzugehen und einen hohen Preis zu zahlen.

«Wagner-Mitglieder waren die Speerspitze der ursprünglichen russischen Ukraine-Offensive. Sie waren die ‹kleinen grünen Männchen›. Als sich die Offensive zu einem umfassenden Angriff der regulären Armee ausweitete, unterstützte diese die Wagner-Mitglieder. Eine erfolgreiche Offensive erfordert einen hohen Aufwand an Männern und Ausrüstung.»

Strategieänderung von der Offensive zur Defensive

Doch in der Zwischenzeit änderten die grosse Armee und Putin langsam ihre Strategie von der offensiven Eroberung zur Verteidigung dessen, was sie bereits hatten. Eine erfolgreiche Verteidigung erfordert einen sparsamen Umgang mit den Mitteln. Das hiess für die Wagner-Einheiten, in der folgenden Zeit der Neuausrichtung widerwillig in den Hintergrund zu treten. Prigoschin, kein schüchternes Wesen, wollte darauf seine Streitkräfte verstärken und seinen Sektor stabilisieren.

Prigoschin weigerte sich, auf Verteidigung umzustellen und setzte die Offensive gegen die Stadt Bachmut fort. Dort lag der Knackpunkt. Anstatt eine öffentliche Krise heraufzubeschwören und Prigoschin vor ein Kriegsgericht zu stellen, hielt Moskau einfach die Ressourcen zurück und liess Prigoschin seine Personal- und Feuerkraftreserven aufbrauchen. Prigoschin protestierte öffentlich, doch er war zum Aufgeben verdammt.

Die Medien berichteten nicht darüber, dass Wagner vor drei Monaten von der Bachmut-Front abgezogen und zur Demobilisierung in eine verlassene Kaserne nördlich von Rostow am Don [im Süden Russlands] gebracht wurde. Die schwere Ausrüstung wurde grösstenteils umverteilt. Die Truppe wurde auf etwa 8000 Mann reduziert. Von diesen gingen dann 2000 in Begleitung der örtlichen Polizei nach Rostow [und nahmen die Stadt kurz in Beschlag].

Putin stellte sich voll und ganz hinter die Armee, die es zuliess, dass Prigoschin sich lächerlich machte und nun in der Versenkung verschwindet. Und das alles, ohne militärisch ins Schwitzen zu geraten oder Putin in eine politische Pattsituation mit den Fundamentalisten zu bringen, die glühende Verehrer Prigoschins sind. Das scheint ziemlich schlau zu sein.

Informations-Diskrepanz zwischen den Geheimdienstfachleuten und dem Weissen Haus – und der Presse, die sich als Regierungsorgan versteht

Es besteht eine enorme Diskrepanz zwischen der Einschätzung der Lage durch Fachleute der US-Geheimdienste und dem, was das Weisse Haus und die Washingtoner Presse der Öffentlichkeit vorgaukeln, indem sie die Aussagen von Blinken und seinen Falken-Kohorten unkritisch wiedergeben.

Die aktuellen Statistiken über die Kampfhandlungen, die mir zugetragen wurden, deuten darauf hin, dass die Aussenpolitik der Regierung Biden in der Ukraine gefährdet sein könnte. Sie werfen Fragen über die Beteiligung des NATO-Bündnisses auf, das die ukrainischen Streitkräfte mit Ausbildung und Waffen für die derzeitige Gegenoffensive versorgte. Ich erfuhr, dass das ukrainische Militär in den ersten zwei Wochen der Gegenoffensive nur 44 Quadratmeilen des zuvor von der russischen Armee gehaltenen Gebiets eroberte, einen Grossteil davon auf offenem Gelände. Im Gegensatz dazu kontrolliert Russland 40’000 Quadratmeilen ukrainischen Territoriums. Mir wurde gesagt, dass sich die ukrainischen Streitkräfte in den letzten zehn Tagen keinen nennenswerten Weg durch die russischen Verteidigungsanlagen bahnen konnten. Sie haben nur zwei weitere Quadratmeilen des von Russland besetzten Gebiets zurückerobert. Bei diesem Tempo, so sagte ein informierter Beamter scherzhaft, würde Selenskys Militär 117 Jahre brauchen, um das Land von der russischen Besatzung zu befreien.

Grossoffensive der ukrainischen Streitkräfte erst im Spätsommer?

«Ukrainische Offensive kommt trotz westlichen Waffen nur langsam voran», titelte die NZZ am heutigen 3. Juli. Sie zitiert den österreichischen Generalstabsoffizier Markus Reisner, der Anzeichen dafür sieht, dass sich die Ukrainer zunächst konsolidieren, um im Spätsommer noch einmal eine neue Offensive zu starten.

Mehrere Videos würden den «katastrophalen Verlauf der ukrainischen Angriffe» dokumentieren, schreibt der verteidigungspolitische Redaktor der NZZ in Deutschland, Marco Seliger. Die Ukrainer könnten sich gegen Angriffe aus der Luft zu wenig wehren und hätten nach Angaben der niederländischen Dokumentationsplattform «Oryx» bisher 13 Prozent ihrer Leopard-Kampfpanzer und 22 Prozent der amerikanischen Bradley-Panzer verloren.
Die russische Armee habe ausgedehnte Minenfelder und gestaffelte Verteidigungelinien errichtet. Seliger schildert dramatische Folgen: «Soldaten, teilweise verletzt, verlassen die Panzer, geraten unter Feuer und suchen Deckung in Gebieten ausserhalb der [geräumten] Minengasse. Dort geraten sie in Felder aus Antipersonenminen. Sie sterben qualvoll mit abgerissenen Gliedmassen, während ihre Kameraden kaum helfen können, weil sie sich dazu selbst in das Minenfeld begeben müssten.»

Hoffnung bringe den Ukrainern von den USA versprochene weitere 30 Bradley- sowie 25 Radpanzer vom Typ Stryker. Und Rheinmetall wolle bis Anfang nächsten Jahres im Auftrag der Niederlande und Dänemarks 14 weitere Leopard-2A4 an die Ukraine liefern. Die deutsche Regierung beabsichtige, in den kommenden Monaten bis zu 100 ältere Kampfpanzer von Typ Leopard-1 in die Ukraine zu schicken.

Gibt es ein Aufwachen – im Weissen Haus und in der Presse?

Die Washingtoner Medien scheinen in den letzten Tagen das Ausmass der Katastrophe langsam zu begreifen. Doch es gibt keine öffentlichen Anzeichen dafür, dass Präsident Biden und seine ranghohen Berater im Weissen Haus und die Mitarbeiter des Aussenministeriums die Situation realisieren.

Putin hat nun die fast vollständige Kontrolle über die vier ukrainischen Oblaste Donezk, Cherson, Lubansk und Saporischschja, die er am 30. September 2022, sieben Monate nach Beginn des Krieges, öffentlich annektiert hat. Der nächste Schritt, vorausgesetzt, es geschieht kein Wunder auf dem Schlachtfeld, liegt in Putins Hand. Er könnte einfach stehen bleiben und abwarten, ob die militärische Realität vom Weissen Haus akzeptiert wird und ob ein Waffenstillstand angestrebt und formelle Gespräche über das Ende des Krieges aufgenommen werden.

Im April nächsten Jahres stehen in der Ukraine Präsidentschaftswahlen an. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky könnte sich zurückhalten und diese abwarten – wenn sie denn überhaupt stattfinden. Selensky erklärte, dass es keine Wahlen geben werde, solange das Land unter Kriegsrecht steht.

Bidens politische Probleme im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr sind akut und offensichtlich. Am 20. Juni veröffentlichte die Washington Post einen Artikel auf der Grundlage einer Gallup-Umfrage unter der Überschrift «Biden sollte nicht so unbeliebt sein wie Trump – aber er ist es». In dem Artikel zur Umfrage hiess es, Biden habe «fast universelle Unterstützung innerhalb seiner eigenen Partei, praktisch keine von der Oppositionspartei und schreckliche Zahlen bei den unabhängigen Wählern». Wie frühere demokratische Präsidenten kämpfe Biden damit, «jüngere und weniger engagierte Wähler anzusprechen». Allerdings hatte die Umfrage offenbar keine Fragen zur Aussenpolitik der Regierung gestellt.

Die Demokraten verlieren ihre klassische Anhängerschaft, wenn sie nicht auf die Finanzierung dieses Krieges verzichten

Die drohende Katastrophe in der Ukraine und ihre politischen Auswirkungen sollten ein Weckruf für jene demokratischen Kongressmitglieder sein, die den Präsidenten unterstützen, aber nicht damit einverstanden sind, in der Hoffnung auf ein Wunder viele Milliarden guter Gelder in die Ukraine zu stecken.

Die Unterstützung der Demokraten für den Krieg ist ein weiteres Beispiel für die zunehmende Abkehr der Partei von der Arbeiterklasse. Es sind die Kinder der Arbeiterklasse, die in den Kriegen der jüngsten Vergangenheit kämpften und möglicherweise in jedem künftigen Krieg kämpfen werden. Diese Wählerschicht hat sich in zunehmender Zahl abgewandt, da sich die Demokraten den intellektuellen und wohlhabenden Klassen annähern.

Es wäre wahrscheinlich klug von Joe Biden, offen über den Krieg und seine verschiedenen Probleme für die USA zu sprechen. Er sollte erklären, warum die geschätzten mehr als 150 Milliarden Dollar, die seine Regierung für die Ukraine bisher aufwendete, nicht besser anderweitig hätten ausgegeben werden sollen.

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Übersetzung aus dem Englischen: Erich Becker/upg

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Oben      —        Wladimir Putin und Jewgeni Prigoschin (2010)

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Blast from the Past

Erstellt von Redaktion am 4. Juli 2023

„Party till you die!“: Kein englischer Sommernachtstraum

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Von Karina Urbach

In München findet das Oktoberfest ab 16. September statt, im englischen Cambridge wird die „May Week“ im Juni gefeiert. Dieses Jahr wählten die Studenten des Cambridger Pembroke College das Partymotto „In der Tiefe“. Es gab U-Boot Pizzas, Meeresdekora­tionen mit Taucherhelm, und natürlich wurde Céline Dions „Titanic“-Song „My Heart Will Go On“ gespielt.

Das Problem dabei: Zum Zeitpunkt des Festes lief eine Suchaktion nach der „Titan“, dem Mini-U-Boot, das Tauchfahrten zum Wrack der „Titanic“ anbot. In der „Titan“ saß auch ein ehemaliger Pembroke-Student, der Milliardär Hamish Harding. Seine Cousine sagte der britischen Presse, sie wäre entsetzt darüber, dass ausgerechnet Hardings ehemaliges College diese Party ausgerichtet habe und sie hoffe, man hätte nicht auch noch „We all live in a yellow submarine“ gespielt.

Den richtigen Ton zu finden ist nicht immer einfach. Der junge Oxford-Student Boris Johnson feierte 1985 seinen College-Ball unter dem Motto „Party till you die!“. 35 Jahre später erneuerte er dieses Versprechen. Die Partys, die er in der Downing Street während der Pandemie feierte, brachten ihm einen Aufenthalt auf einer Covid-Intensivstation ein und führten 2022 zu seinem Rücktritt als Premierminister. Im Juni 2023 trat er dann auch noch als Abgeordneter zurück und wurde Kolumnist der Daily Mail.

In seinem ersten Artikel sinnierte er über seine fatale Leidenschaft für Käse. Wie aufmerksame Leser sofort erkannten, handelte es sich um eine recycelte Geschichte. Seine Käse-Cholesterin-Sorgen hatte er bereits 2001, 2004 und 2008 in Artikeln für den Daily Telegraph beschrieben. Aber trotz dieser Käsemanie sollte man sein Potenzial, weiterhin Ärger zu verursachen, nicht unterschätzen:

Jeder Premierminister darf nach seinem Abgang eine „resignation list“ einreichen. Es ist eine Art Dankesliste, mit der man ehemaligen Mitarbeitern und Parteispendern eine besondere Ehrung verschafft: einen Order of the British Empire (OBE); eine Ritterwürde oder einen Sitz im Oberhaus.

Das Haloc-Komitee des House of Lords, muss jedoch die Liste der Vorgeschlagenen überprüfen und gutheißen. Boris Johnson hatte schon in der Vergangenheit Probleme mit Haloc. Seinem Bruder Jo konnte er zwar einen Sitz im Oberhaus verschaffen, aber als er 2020 den russischen Geschäftsmann Evgeny Lebedev zum Lord machen wollte, stellten sich die britischen Nachrichtendienste quer. Sie misstrauten Lebedev, dessen Vater ein ehemaliger KGB-Agent mit Milliardenvermögen ist. Johnson setzte sich am Ende durch.

Die Gunst von Lebedev junior war ihm wichtig, denn der besitzt zwei Zeitungen in Großbritannien: den Evening Standard und Anteile am Independent. Während seiner Zeit als Bürgermeister von London wurde Boris vor allem vom Evening Standard mit freundlichen Artikeln unterstützt.

Boris und Lebedevs transaktionale Beziehung folgte einer langen Tradition: Schon der Labour-Premier Toni Blair hieß reiche Oligarchen in London willkommen, und die gesamte britische Kultur- und Politikelite feierte bis zum Überfall auf die Ukraine gerne mit Lebedev und Co.

Johnsons „resignation list“ forderte keine Ehrungen mehr für russische Freunde. Aber sie überraschte auf andere Weise: Zuerst einmal wurde seine Friseurin Kelly Dodge mit dem OBE, einen Orden für besondere Verdienste um seine Haare, ausgezeichnet. Tatsächlich hat sie damit eine beneidenswerte Marke geschaffen. Selbst Boris-Kritiker Michael Gove bewertet die Ehrung als fair. Kelly habe schließlich „mehr Schnitte gemacht als jeder Minister“.

Umstrittener ist jedoch die Erhebung einer 29-jährigen Boris-Mitarbeiterin in das Oberhaus. Charlotte Owen wird demnächst als jüngstes Mitglied des House of Lords über britische Gesetze debattieren dürfen. Laut Guardian war sie vermutlich nur eine Mutterschaftsvertretung in Downing Street, die jedoch in ihrer kurzen Karriere Boris politisch beraten dürfte.

Weniger Glück als Charlotte hatte die ehemalige Kultusministerin Nadine Dorries. Boris und Dorries waren jahrelang ein Bonnie-und-Clyde-Dreamteam. Und er hatte seiner alten Kampfgefährtin ebenfalls den Einzug ins Oberhaus versprochen. Das Haloc-Komitee lehnte Dorries jedoch ab (insgesamt wurden 8 von 15 Vorgeschlagenen abgelehnt, darunter auch Boris’ Vater, der ebenfalls ein Lord werden sollte).

Quelle         :           TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Die königliche Familie beobachtet das Vorbeifliegen, Trooping the Colour Juni 2013

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Die progressive Regierung

Erstellt von Redaktion am 3. Juli 2023

Konfliktlinien und ihre Zuspitzung

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von       :        Jonathan Eibisch

Eine umfassende Gesellschaftstransformation. In der letzten Zeit kam es zur Remilitarisierung, zur Verschlimmerung des Asylstatus und Prekarisierung der Lebensverhältnisse. Das geschah unter einer „progressiven“ Regierung, nicht gegen sie, sondern durch sie.

Dennoch zeigt sich zu Beispiel beim Heizungsgesetz, dass die in die Regierungspolitik eingebauten Klimaschutzbestrebungen auf massiven Gegenwind des konservativen Bürgertums stossen, welche die Wahrung von Besitzstandsinteressen setzen – und dazu auch den ärmeren Bevölkerungsgruppen Angst davor machen, dass es ihnen jetzt an die Heizung ginge. Klar, man könnte auch den Verkehr, die Transportwege, die Industrie oder Landwirtschaft nach ökologischen Gesichtspunkten umgestalten. Insofern ist das Ansetzen bei den Privatbürger*innen eine Verlagerung des Problems. Zugleich wäre die Verringerung des Gas-, Strom- und Wärmebedarfs langfristig nicht alleine aus ökologischen, sondern ebenso aus sozialen Gründen ein Gewinn für viele.

Doch in der Bundespolitik wird diese Reformmassnahme zu einem unglaublichen Einschnitt aufgebauscht, obwohl er dem notwendigen Erneuerungsbedarf ja ohnehin nur ansatzweise entspricht. Schuld daran sind diesmal nicht die Partei-Grünen, sondern das Besitzbürgertum, dessen Vertreter*innen sich massiv gegen Reformen stemmen. Doch wenn heute nicht umgesteuert wird bedeutet dies, dass fossile Energieträger über weitere Jahrzehnte aus der Erde gegraben und verheizt werden. Und dies zu einem Zeitpunkt, wo der ganze Kram komplett im Boden bleiben müsste, um noch ein Abmildern der Auswirkungen des Klimawandels zu ermöglichen. Deswegen lässt sich eine lebenswerte Zukunft für alle lässt sich nur durch die Überwindung des Privateigentums und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel realisieren.

Inzwischen greifen in den westeuropäischen Ländern auch US-amerikanische Verhältnisse um sich, was den Kulturkampf hinsichtlich feministischer Anliegen und Geschlechterdiversität angeht. Die Themen sexuelle Selbstbestimmung und Aufklärung, alternative Beziehungskonzepte, Hinterfragung von Gender-Rollen, Beachtung der Existenz und Rechte von Transpersonen usw., welche mit einer zaghaften Liberalisierung und jahrzehntelangem Graswurzelaktivitäten vorangebracht wurden, werden massiv als satanisches und subversives Projekt des Kulturmarxismus von rechten Akteur*innen bekämpft – was nicht zuletzt zu einer Zunahme der direkten Gewalt gegenüber Menschen führt, die von der heteronormativen Zwangsmatrix abweichen.

Monate vor der Unterwerfung der antifaschistischen Szene am dritten Juni in Leipzig, wurde eine systematische Hetzkampagne gegen Antifaschist*innen lanciert, welche die Repression und die mit ihr verbundenen weiteren Eingriffe in Grundrechte vorbereiteten. Das hat es zwar bereits vorher gegeben. Aber in Sachsen, wo die AfD in Umfragen auf 32,5% kommt, während sie im Bund bald bei 20% liegt, zielt das Aufbauschen des legitimen und notwendigen Antifaschismus als Staatsfeind letztendlich auf die vollständige Zerschlagung dieser sozialen Bewegung. Im Idiotenbewusstsein faseln sie dagegen weiter von der Ablehnung der Gewalt „von links und rechts“, von der Bekämpfung jeden Extremismus‘ – während eine im Kern neofaschistische Partei bald die Regierung anführen wird.

Wer hauptsächlich auf die politische Ebene und die Akteur*innen schaut, wird jedoch nie begreifen, was vor sich geht, sondern sich in weiter in politischen Illusionen bewegen. Es gilt zu verstehen, dass wir uns in einer umfassenden Gesellschaftstransformation befinden – und die Systemfrage zu stellen. Die damit verbundenen Entwicklungen sind altbekannt und verschärfen sich lediglich mit der multiplen Krisen, in welcher die bestehende Gesellschaftsform sich befindet:

Die wohlhabenden Ländern ziehen ihre Mauern vor den Flüchtlingsströmen hoch. In ihrem Inneren wird der Anteil prekär und elend lebender Menschen grösser, während die öffentliche Infrastruktur weiter zurückgebaut und privatisiert wird. Die Strassengewalt nimmt zu, um den angestauten Hass an Anders-gelesenen zu entladen und die eigene Verrohung zu kanalisieren. Und dabei brennt die Erde und die Ausbeutung von Natur und Menschen wird fortgesetzt. Sich dieses Szenario vorzustellen ist keine Kunst, sondern lediglich die Verlängerung der gegenwärtigen Entwicklungen. Staatliche Reformen mögen sie teilweise regulieren und für die Privilegierteren einen Ausgleich schaffen. Grundlegende Veränderungen sind durch sie aber keineswegs zu erwarten.

Aus diesen sehr pragmatischen Gründen gilt es sich auf etwas Besseres zu fokussieren als die Abwehr und Abmilderung der Verelendung und Zerstörung. Selbstverständlich ist es eine Frage der Kräfteverhältnisse, ob wir eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform erkämpfen und aufbauen können. Ohne eine solche Orientierung können emanzipatorische Akteur*innen ihre Kräfte aber auch nicht bündeln und ausweiten.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —        Anarquía

Verfasser Saraclaroscuro       /   Qielle   :  Eigene Arbeit       /     Datum      :    10. 09. 2014

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Von DIE LINKE

Erstellt von Redaktion am 3. Juli 2023

Bundesregierung reißt Frist zur Evaluierung des Strukturwandels
in den Kohlerevieren.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von DIE LINKE. im Kreistag Rhein-Erft

LINKE Abgeordnete aus den Revieren veröffentlichen Positionspapier.

Zum 30. Juni 2023 ist es gesetzlich vorgeschrieben, den Strukturwandel in den Kohlerevieren mitFokus auf Wertschöpfung, Arbeitsmarktsituation und das kommunale Steueraufkommen zuevaluieren (Investitionsgesetz Kohleregionen, § 26). Die Federführung liegt beim Bundesministeriumfür Wirtschaft und Energie. Aus diesem Anlass präsentieren die Fraktionen der LINKEN in denKohlerevieren pünktlich zum Stichtag ein gemeinsames Positionspapier. Darin fordern sie mehr Bürgerbeteiligung, schärfere Förderkulissen zugunsten nachhaltiger und tarifgebundenerIndustriearbeits- und -ausbildungsplätze sowie eine dezentrale Energieerzeugung mit Stärkung derkommunalen Familie.

Bereits zum 15. August 2022 hatte die Bundesregierung eine Evaluierungsfrist verstreichen lassen. In§ 54 fordert das Kohleverstromungsbeendigungsgesetz eine Zwischenbilanz zu den Konsequenzendes Kohleausstiegs für die Versorgungssicherheit, die Zahl und installierte Leistung der von Kohle aufGas umgerüsteten Anlagen, die Wärmeversorgung sowie die Strompreise.

Martin Schirdewan, Co-Vorsitzender der Fraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament,erklärt:„Es markiert ein wirtschafts- und sozialpolitisches Versagen der Bundesregierung, dass sie erneut diegesetzlichen Fristen reißt und es offenbar nicht für nötig hält, die Öffentlichkeit rechtzeitig über denStand und die Auswirkungen des Strukturwandels im Hinblick auf die Kommunen, die Wirtschaft unddie Arbeitsplätze zu informieren. Die Verunsicherung wächst und die extreme Rechte kocht daraufihre braune Suppe. Umso dringender ist es, dass der nötige Umbau in den Braunkohlerevieren sozialgerecht gelingt und die Menschen dabei mitbestimmen können – schließlich geht es um ihre Arbeitund ihre Zukunft. Ein gelingender Strukturwandel wäre auch ein starkes Mitteln zur Sicherung unsererDemokratie. Daher ist die Politik hier in der Verantwortung: Da sozialer Zusammenhalt undKlimaschutz für die ganze Gesellschaft wichtig sind, muss der Umbau auch öffentlich organisiertwerden – und jetzt politische Priorität haben.“

Hans Decruppe, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Kreistag Rhein-Erft, fügt hinzu:„Als langjähriger Lokalpolitiker muss ich zum Stand des Strukturwandelprozesses im RheinischenRevier feststellen, dass eine transparente und veränderungswirksame Beteiligung der kommunalenEbene, der Bürgerinnen und Bürger und der Zivilgesellschaft nicht erfahrbar ist. Der Wandel vollziehtsich über den Köpfen der Menschen. Dieser Eindruck wurde inzwischen auch wissenschaftlichbestätigt.Als Gewerkschafter blicke ich natürlich auf soziale Sicherheit und auf die wirtschaftliche Entwicklungunserer Region. Dass die milliardenschwere Projektförderung gute, d.h. tarifgebundene,mitbestimmte und zukunftsfähige Arbeitsplätze insbesondere im Industriebereich schafft, ist zumjetzigen Stichtag spekulativ. Zu widersprüchlich und völlig unkonkret sind die Aussagen der grünenWirtschaftsministerin in Nordrhein-Westfalen. Und selbst der Umstieg auf erneuerbare Energiequellenist viel zu lahm. Dabei benötigt die Region mit ihren energieintensiven Branchen – wie Chemie undAluminium – Energieversorgungssicherheit. Von einer ‚Europäischen Modellregion fürEnergieversorgungs- und Ressourcensicherheit‘, wie es im Gesetz heißt, ist das Rheinische Revierjedenfalls meilenweit entfernt.“

Antonia Mertsching, Sprecherin der Linksfraktion im Sächsischen Landtag für Strukturwandel,Nachhaltigkeit und Umwelt, sagt:„Der Freistaat Sachsen hat es verpasst, eine erfolgreiche Regionalentwicklung anzustoßen undgemeinsam mit den Ländern Sachsen-Anhalt und Brandenburg eine länderübergreifende Strategiefür das Lausitzer und das Mitteldeutsche Revier zu entwickeln. Stattdessen wurde ein Verfahren zurVerteilung der Strukturwandelmittel auf den Weg gebracht, das intransparent, wenigbeteiligungsorientiert und zu wenig auf die Bedürfnisse der kernbetroffenen Gemeinden ausgerichtetist. Ökologische Ziele spielen leider auch überhaupt keine Rolle. Wir fordern daher einen Neustart imStrukturwandel! Nötig sind eine konkrete Strategie, eine gerechtere Verteilung der Mittel, mehrBeteiligung – vor allem von Kindern und Jugendlichen –, sowie bessere Planungs- undPersonalressourcen in den Gemeinden. Sonst wird es nichts mit dem eigenen Anspruch, europäischeModellregion der Transformation zu werden!“

Anke Schwarzenberg, Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Landtag Brandenburg fürStrukturwandel in der Lausitz, ländliche Entwicklung, Regionalplanung und Raumordnung,fügt hinzu:„Wir müssen Vertrauen in Veränderung schaffen, Fachkräfte sichern und die weichenStandortfaktoren künftig stärker fördern, damit der Strukturwandel in der Brandenburger Lausitzgelingt. Die finanziellen Mittel vom Bund sind eine riesige Chance. Es braucht aber mehr Transparenzund Bürgerbeteiligung, damit die Menschen in der Lausitz den Strukturwandel selbst gestalten undnicht über ihre Köpfe hinweg erleben. Das schwächt auch rechtsextreme Strukturen und stärkt dieDemokratie. Dem Fachkräftemangel setzen wir gute Arbeitsbedingungen, Tarifbindung undMitbestimmung entgegen. Hieran sollte die Fördermittelvergabe künftig geknüpft werden.Entscheidend sind zudem die weichen Standortfaktoren wie Schulen, Kitas und eine funktionierendeGesundheitsversorgung. Wir können mit den Fördergeldern eine lebenswerte Lausitz für alleBürgerinnen und Bürger schaffen. Lassen wir sie viel stärker mitreden, mitdiskutieren undmitentscheiden.“

Kerstin Eisenreich, Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Landtag von Sachsen-Anhalt fürStrukturwandel, Agrar-, Energie-, Verbraucherschutzpolitik und ländliche Räume, sagt:„Der Start in die Umsetzung der Gesetze zum Strukturwandel in Sachsen-Anhalt wurde ziemlichverstolpert. Sehr spät wurden auf der Landesebene die Richtlinie erlassen undEntscheidungsstrukturen geschaffen, eine parlamentarische Begleitung fehlt bis heute. FehlendeBeteiligung der betroffenen Beschäftigten und Menschen im Revier vermitteln ihnen das Gefühl, dasserneut Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen werden, der Strukturwandel als bedrohlichempfunden wird und das Vertrauen in den Erfolg des notwendigen Transformationsprozesses geringist. Das muss sich aus unserer Sicht dringend ändern, auch weil die Prozesse weder transparentnoch nachvollziehbar und damit nicht geeignet sind, diese als Vorbild für andereTransformationsprozesse zu nutzen.Als Abgeordnete und Kommunalpolitikerin sehe ich in den Menschen und Kommunen das wichtigstePotenzial für den Strukturwandel. Ihre kreativen Ideen für die künftige Arbeits- und Lebensweltmüssen einfließen können. Das gilt insbesondere für die jungen Menschen, die eine Perspektive fürihre Zukunft in der Region brauchen und dabei selbst mit anpacken wollen. Nutzen wir diesesPotenzial!“

Andreas Schubert, Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag für Wirtschaft,erklärt abschließend:„Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet ist eine Verpflichtung aus demGrundgesetz und begründet somit die Notwendigkeit, den Strukturwandels in den Braunkohlerevierenmit dem Investitionsgesetz Kohleregionen aktiv politisch zu begleiten. Die Fehler aus derNachwendezeit mit tiefgreifenden Strukturbrüchen infolge der Deindustrialisierung ganzer Landstrichein Ostdeutschland haben jahrzehntelang abgehängte Regionen wie Ostthüringen hinterlassen. Dasdarf sich nicht wiederholen. Infrastruktur, zum Beispiel eine gute Bahnanbindung, spielt eine Schlüsselrolle für die Entwicklung neuer Wertschöpfungsketten mit zukunftssicherenIndustriearbeitsplätzen auch für das Altenburger Land, das Teil des mitteldeutschen Reviers ist.Deshalb ist die durchgehende Elektrifizierung der Mitte-Deutschland-Schienenverbindung einSchwerpunktprojekt für Thüringen. In Verbindung mit der Elektrifizierung der Strecke zwischen Zeitzund Gera kann die Anbindung des gesamten Ostthüringer Raums auch an den Fernverkehrverbessert werden.“

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Oben      —    Westlicher Ortseingang aus Richtung Landstraße 277 im Januar 2023

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DIE * WOCHE

Erstellt von Redaktion am 3. Juli 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Sonneberg – Ein AfD-Mann als Landrat und keiner weiß, was der macht. Frankreich und der pure Horror wobei die Polizei den Jugendlichen Nahel M. erschossen und es gibt Proteste. Die Deutschen liefern ein Heizungsgesetz welchees kaum jemand versteht.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Trotz „Wagner“-Implosion kein Frieden.

Und was wird besser in dieser?

Gern weiterimplodieren.

In Sonneberg wird erstmals ein AfD-Kandidat zum Landrat gewählt. Was hilft jetzt?

Unaufgeregtheit. Die AfD hat Alarm kassiert bis hin zur New York Times; das letzte Mal der Corona-Ausbruch nach einer Karnevalsfeier hatte so geschallert. Beides nicht so lustig. Beruhigend für eine Partei, die sich notorisch medial übergangen sieht. Außerhalb einer harten Nerdszene weiß kein Schwein, was einen guten Landrat von einem schlechten unterscheidet, ob der vaterländische Verwalter jetzt Rassentrennung auf Radwegen einführt oder kurz telefonisch mit Putin diese leidige Ukrainesache klärt. Hilfreich wird also, nüchtern zu gucken, ob der Neue liefert. Was er auf Plakaten versprach, liegt außerhalb seiner Amtsgewalt. Aus dieser sachlichen Perspektive heraus wäre Sonneberg kein Multispreader-Event, sondern ein Wahlkreis, der sich tüchtig vertan haben könnte. Helfen hilft nix, die wollen Autorität.

Der ­Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte bei einem Auftritt in Weimar zum Sieg der AfD: „Das größte Standortrisiko für Ostdeutschland ist die AfD.“ Kämen Sie als Fachkraft noch nach Deutschland?

Der Klassiker „Was sollen denn die anderen denken“ lenkt hilfreich davon ab, es selbst zu tun. Versuchen wir’s trotzdem: Sonneberg zum Beispiel hat unterdurchschnittliche 5 Prozent Arbeitslose, unter Nichtstaatsbürgern jedoch über 11 Prozent. Der Landkreis ist nationaler Rekordhalter im Mindestlohn, nirgends ist der Anteil an Mindestlöhnern höher als hier. Kümmerstaat mal Perspektivlosigkeit gleich Langeweile. Erz-, Glas- und Spielzeugindustrie starben nacheinander weg, hier bräuchte es erst mal Ansiedlung, damit man sich dann drüber ärgern kann, wenn keine Fachkräfte folgen. Genau genommen müsste der FDP-Chef also standortscheue Unternehmer kritisieren. Dann wäre Lindner aber selbst ein Standortrisiko.

In Frankreich erschoss ein Polizist am Dienstagmorgen den 17-Jährigen Nahel M. in Nanterre. Mehrere Nächte in Folge kam es zu Ausschreitungen. Die Polizei, gegen die sich die Krawalle richten, soll die Lage beruhigen. Geht so De­eskalation?

Man mag die Revolution, Barrikaden und „An die Laterne!“ als Frankreichs staatsbegründende Folklore lesen heute – um den Horror der bürgerkriegsähnlichen Bilder einzusortieren. Wenn man damit fertig ist, bleibt Horror. Ein Gesetz von 2017 erlaubt es der Polizei, bei „Befehlsverweigerung“ zu schießen. Das führte zu 13 Toten bei Verkehrskontrollen 2022. Der Todesschütze diesmal ist Afghanistanveteran und ordensgeschmückter Gelbwestenbekämpfer. Die Eskalation hat einen Trumpf – auf sie ist Verlass. Beide Seiten sind drauf verabredet. Deeskalation fängt damit an, dass jemand sie will.

Die Ampel feierte die Einigung zum Heizungsgesetz. Die Sonderregel für über 80-Jährige wurde nun gestrichen. Ist das Altersdiskriminierung?

Die Greisenklausel war ein gut gemeinter Selbstmordanschlag: Klimawandel jetzt mit vermindertem Eintritt für Rentner, Schüler und Kriegsversehrte. Vulgo: Was da vor uns liegt und die Ampel verlangt, ist nur was für starke Gemüter, Leistungsfähige. Deutlicher kann man „Zumutung“ nicht formulieren.

Das Gebäudeenergiegesetz sei ein „Meilenstein für den Klimaschutz“, sagen die Grünen. Wer kann die Novelle nach all dem Streit noch feiern?

Quelle           :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Von der Stasi zu den Nazis?

Erstellt von Redaktion am 2. Juli 2023

„Das waren die 90er Jahre, ja?“

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Aus Wernigerode von Aron Boks

Kurz nach der Wende war Werningerode eine rechtsextreme Hochburg. Unser Autor wurde dort 1997 geboren und wusste lange nichts über diese Zeit. Eine Spurensuche zu den Punks und Nazis von einst.

Als meine Mutter im Frühjahr 2022 ihren 50. Geburtstag feiert, sehen wir uns gemeinsam mit meinem Vater in ihrem Haus in Wernigerode alte Fotos an. Ich entdecke eines, von dem ich zunächst glaube, dass ich darauf zu sehen bin. Doch es ist mein Vater, Anfang der 90er Jahre. Schließlich entwickelt sich daraus ein Gespräch über den 20. Geburtstag meiner Mutter. Es war der 25. April 1992. Ein Tag, an dem eine ganze Horde Neonazis nach einem Rechtsrockkonzert durch die Stadt stürmte, erzählen meine Eltern nebenbei. Meine Mutter feierte währenddessen mit ihren Schul­freund:in­nen etwas abseits der Stadt.

„Ich weiß gar nicht, warum ich nicht bei deiner Party war …“, sagt mein Vater, während er die weiteren Fotos durchsieht.

„Weil ich dich nicht eingeladen habe“, antwortet meine Mutter.

„Das stimmt doch gar nicht.“

„Doch!“

„Neonazis in Wernigerode?“, frage ich, um das wirklich Erstaunliche hier zu klären.

Eigentlich sollte ich nicht überrascht sein. Dass es im Osten Deutschlands haufenweise Rechtsextreme gab und gibt, ist nun wirklich nichts Neues. Gerade in den neunziger Jahren. Genauso wenig verblüffend ist es, dass sich damals überall Linksautonome als politisches Gegengewicht mobilisierten. Aber in Wernigerode? Dieser heute so biederen Fachwerkstadt, die, seit ich denken kann, vor allem von Tou­ris­t:in­nen und Rent­ne­r:in­nen bevölkert ist?

„Aron, früher war hier jeden Tag 1. Mai“, sagt mein Vater aufgeregt und erzählt von rechten Jugendlichen mit Baseballschlägern, von Linken, die diese bekämpften und in einem besetzten Haus lebten – dem Schlachthof, den es heute nicht mehr gibt.

Warum wusste ich so gar nichts davon?

Der Geschichtsunterricht meiner Schulzeit endete mit dem Mauerfall und Bildern von Menschen, die mit Deutschlandfahnen durch DDR-Städte liefen. Danach war Schluss. Kein Wort über Neonazis im wiedervereinigten Deutschland. Ich will mehr über die Rechtsextremen in Wernigerode und dieses gut 30 Jahre zurückliegende Neonazikonzert wissen.

Alles geht auf einen Mann und Veranstalter zurück, der nach dem Konzert häufiger Gast der Stadt sein wird: Thorsten Heise. Ein immer noch aktiver militanter Neonazi, Veranstalter von Rechtsrockkonzerten in Thüringen und Freund von Björn Höcke. Damals ist Heise 23 Jahre alt und einer der Köpfe der 1995 verbotenen rechtsextremen Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP). So erzählt es mir Rechtsextremismusexperte David Begrich.

Über 600 Neonazis aus unterschiedlichen Städten folgen an diesem Tag seiner Einladung. Sie treffen sich im Gasthof Salzbergtal, grölen Songzeilen der Bands Tonstörung („Blut muss fließen knüppeldick“) und Kraftschlag („Scheiß Punks“). Und laufen, angestachelt durch Musik und Alkohol, auf den Schlachthof zu. Sie wollen ihn stürmen. Doch um das besetzte Haus hat sich eine Polizeikette gebildet, die die Nazis abhält.

Dieses Konzert ist nicht irgendein Konzert. Vielmehr ist es der Beginn einer Zeit, in der Wernigerode zu einer Hochburg der FAP wird, wie der Soziologe und Publizist Eberhard Seidel 1995 in „Stinos, Glatzen und Trinker: Jugend auf der Suche nach neuen Normen und Umgangsformen“ schreibt. Allein im Jahr 1992 werden mehr als zehn Anschläge auf Asyl­be­wer­be­r:in­nen im Umkreis der Stadt verübt.

Mein Vater, damals gelegentlich Besucher des besetzten Hauses, versucht Kontakte für mich herzustellen. Er verließ Wernigerode nach dem Abitur im Jahr 1990, wie auch meine Mutter, kehrte jedoch Anfang der 2000er mit der Familie – mit mir – zurück. Er lebt bis heute dort, während ich seit 2016 in Berlin lebe. Erst seit Kurzem erforsche ich, wie so viele Nachwendekinder, welche Rolle der Osten in meinem Leben spielt. Meist beschränkt sich das auf die DDR-Zeit. Von der Zeit danach habe ich kaum eine Vorstellung. Meine Eltern können dazu nichts sagen, sie waren in den Neunzigern nicht vor Ort. Klar, da sind Bücher, die ich gelesen habe, „Wir waren wie Brüder“ von Daniel Schulz oder „Aus unseren Feuern“ von Domenico Müllensiefen. Doch Wernigerode kommt darin nicht vor. Die meisten Zeit­zeu­g:­in­nen aber leben ja noch hier. Ich will mit ihnen sprechen. Wie fühlte es sich an, in diesem komplett umgekrempelten Land erwachsen zu werden? Was hat im Osten vor und während meiner Kindheit stattgefunden? Wie konnte es zu den Gewaltexzessen kommen?

Über die Linksautonomen finde ich recht schnell heraus, wer früher zu den Neonazis der Stadt gehörte. Ich rufe diese an. Es fühlt sich komisch an, bei ehemaligen Neonazis anzurufen. Die meisten seien „selbstverständlich“ auf dem Konzert gewesen, könnten aber nicht darüber reden, sagen sie mir. Nicht einmal anonymisiert.

Irgendwann schickt mir mein Vater eine Nummer aus seiner Kontaktliste: Maik – einer der Urbesetzer des Schlachthofs. Er sei nicht nur bereit zu sprechen, sondern habe darüber hinaus auch Kalle zu sich eingeladen, um mir etwas über die Zeit vor 30 Jahren zu berichten. Der große Vorteil: Kalle und er seien heute gute Bekannte, damals aber sei Kalle bei den Rechten gewesen. Beide heißen in Wirklichkeit anders, sie wollen nicht mit ihrem Namen genannt werden. Auch alle anderen Personen wollen nur mit mir sprechen, wenn sie in dieser Geschichte ano­nym bleiben. Ich willige trotzdem ein. Vieles, was sie mir erzählen, lässt sich durch das Stadtarchiv, durch Zeitungsberichte oder Ausgaben des Antifaschistischen Infoblatts prüfen. Andere Darstellungen bleiben Behauptung – vollständig verifizieren kann ich sie nicht.

An Maiks Haustür hängt heute ein Schild, auf dem eine Persiflage der Antifa-Flagge zu sehen ist. „Prokrastinistische Aktion“, steht darauf. Als ich klingele, öffnet mir ein drahtiger Mann mit langem braunem Haar und Trainingsanzug. Hinter ihm steht eine weitere Person, die sich nicht als Kalle, sondern Anja vorstellt – eine mittelgroße Frau mit blonden Locken. Maik hatte auch sie eingeladen. Vor 30 Jahren war auch sie Stammgast im besetzten Haus. Wer nicht da ist: Kalle. „Er musste absagen, sein Sohn ist krank“, sagt Maik.

Maik arbeitet seit einiger Zeit im Tourismusbereich. Anja ist So­zial­pä­da­go­gin. Beide sind Anfang 50. Es riecht nach Räucherstäbchen, überall im Haus stehen Buddhafiguren. „Meinen Baseballschläger habe ich noch“, erzählt er, als wir über die Kämpfe zwischen Punks und Nazis sprechen.

Wir reden über das Konzert.

„Wir waren gewohnt, dass Nazis in der Stadt waren. Aber so viele auf einem Haufen wie an dem Tag hatten wir noch nicht gesehen.“ – „Ich weiß noch, was für eine scheiß Angst ich damals hatte“, sagt Anja leise.

Als ich ins Behördenarchiv schaue, sehe ich, dass Faschismusbekämpfung schon damals nicht zu den Stärken der Regierung Sachsen-Anhalts gehörte. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage des Landtagsabgeordneten Gerd Schuster von der PDS im September 1992, ob der Regierung erstens klar wäre, dass die FAP gerade dabei wäre, ein echtes neonazistisches Zentrum in Wernigerode aufzubauen, was man zweitens jetzt tun müsste und ob es drittens noch weitere Problemherde dieser Art gäbe, erklärte die Landesregierung zu Punkt eins, nichts zu wissen, verwies zu Punkt zwei auf Punkt eins und erklärte überdies, keine Ahnung von weiteren Neonazizentren zu haben.

Aber als das Konzert im April 1992 stattfindet, hat die Polizei wohl eine Vorahnung. Jedenfalls will sie die Neonazis vom Schlachthof fernhalten. „In dem Moment haben wir uns gut mit den Cops verstanden. ‚Wenn ihr uns schützt, benehmen wir uns natürlich‘, haben wir ihnen gesagt“, erklärt Maik. Und weiter: „Wir haben auch mal als Erste zugeschlagen, klar. Wenn du immer wieder von Faschos angegriffen wirst, dann wirst du irgendwann aggressiv.“

„Krass, dass sich dieses Links-­gegen-rechts überhaupt wieder beruhigt hatte“, sagt Anja.

Aber wie kam es dazu?

Irgendwann wären eben alle älter geworden. Irgendwann hätte es Technopartys im Schlachthof gegeben, irgendwann hätten alle Ecstasy entdeckt, und irgendwann hätten die Neonazis unter diesen Umständen gern mit den Linksautonomen gefeiert.

„Wie bitte?“, frage ich.

„Nur wenn die Rechten friedlich waren, durften sie auch mitfeiern“, sagt Maik.

Bis zu ihrem Verbot 1995 kann die FAP in Wernigerode weiter Fuß fassen. Durch die Partei radikalisieren sich viele Jugendliche. Die Stadt immerhin merkt, dass sie etwas tun muss. Die „Lösung“: Sie gibt den linksautonomen Haus­be­set­ze­r:in­nen feste Wohnungen. Und den Rechtsextremen einen Jugendclub zum Musikmachen und als Freizeittreff: den Harzblick. Vielerorts wird die sogenannte akzeptierende Jugendarbeit praktiziert – dieses Modell war schon für die Sozialarbeit mit Suchtmittelabhängigen anerkannt, in den Neunzigern wird es im Osten auch bei Rechtsextremen angewendet. Manche Kids kommen erst in den Jugendtreffs in Berührung mit der Naziszene.

Auch in München wurde marschiert !

Der Schlachthof fungiert nur noch als linkes Veranstaltungszentrum. 1994 zünden Neonazis das Gebäude an, es brennt nieder. Es ist niemand im Haus, Verletzte gibt es nicht. Die Täter bezeichnen es als Racheakt an den Linken.

Über meinen Vater lerne ich auch Fabian kennen. Fabian lebt bis 1994 in Wernigerode, ehe er zum Studium nach Berlin geht. Wir treffen uns in einer Kneipe in Leipzig, wo Fabian heute lebt. Er trägt ein Jackett, sein Haar ist adrett kurz geschnitten und gegelt. Damals habe er zerfranstes Haar gehabt, Jeansjacke getragen, einen Aufnäher mit durchgestrichenem Hakenkreuz darauf. Am Tag des Konzerts im Salzbergtal ist er 16 Jahre alt. Eigentlich will er an dem Tag ein anderes Konzert – das eines Schulchors – besuchen. „Als die Faschos mich an dem Tag entdeckt haben, habe ich den schnellsten Sprint meines Lebens hingelegt“, sagt er. „Wir waren nur blasse, dünne Gymnasiasten. Ich bin aber irgendwann nur noch mit meiner Schreckschusspistole und einem Butterflymesser aus dem Haus gegangen.“ Am Tag des Konzerts hätten die Nazis ihn überfallen. „Als ich dann Anzeige bei der Polizei gestellt habe, hat mich der Polizist, der die Anzeige aufnahm, angeschaut und fast väterlich zu mir gesagt, dass ich mich doch besser unauffälliger kleiden solle; so sei es doch kein Wunder, dass so etwas passiere.“ Fabian erzählt von der Überforderung der Erwachsenen damals. Die Ausschreitungen „der Jugend“ bekommen sie zwar mit, doch sie können sich kaum in deren Lebenswelten hineinversetzen.

„Insgesamt war das einfach auch die Folge eines gewaltigen Staatsversagens“, sagt er, als wir die Kneipe verlassen.

In der Zeit, als Fabian und ich uns zum ersten Mal treffen, erscheinen kurz nacheinander drei Bücher zu den sogenannten Baseballschlägerjahren, darunter jene von Schulz und Müllensiefen. Schon zwei Jahre zuvor zeigt die Journalistin und Soziologin Katharina Warda in ihrem Essay „Der Ort, aus dem ich komme, heißt Dunkeldeutschland“ auf, wie es war, als Schwarze Person in der ostdeutschen Provinz groß zu werden. Sie wurde 1985 in Wernigerode geboren, sie war früher Punk. Mir erzählt sie, wie sie so gut wie keinen Schutzraum gehabt und sich jeden Tag potenziell in Lebensgefahr gebracht hätte, sobald sie das Haus verlassen hätte. Als Ecstasy angeblich die Baseballschlägerjahre beendet haben soll, lebte sie nicht mehr in Wernigerode. „Die Neonazis können einfach über all das sprechen, weil sie keine großen Konsequenzen zu befürchten haben“, sagt sie mir am Telefon. Und: Wer nicht entschlossen und dezidiert aussteige, sei für sie auch „nicht richtig raus“.

Ende 2019 kursiert der Hashtag #baseballschlägerjahre erstmals im Netz. Zahlreiche Erfahrungsberichte folgen, in denen über rechten Terror im Osten berichtet wird. Für mich bleibt die Gewalt immer noch schwer zu greifen. Ihre Selbstverständlichkeit, ihre Allgegenwart. Wieso manifestierte sich der Hass in kleinen, scheinbar idyllischen Städten wie Wernigerode, wo je­de:r je­de:n kennt? Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, wie ein paar Leute, die ihr ganzes Leben in der gleichen kleinen Stadt verbringen, sich auf einmal dazu entscheiden, jene Menschen, mit denen sie noch ein paar Jahre zuvor die Schulbank gedrückt haben, zu verprügeln.

Hakenkreuzflaggen und Bomberjacke

Sommer 2023, die Recherche zieht sich. Ich rufe Kalle wieder an. Wieder vereinbaren wir ein Treffen. Und wieder sagt er kurzfristig ab. Maik ist nicht erstaunt, als ich ihm davon erzähle. Er schlägt mir jemand anderen vor, mit dem ich mich treffen könne: Sven. Der war damals bei den Faschos, dann regelmäßiger Gast auf Technopartys.

Ich treffe Sven in seinem Haus in Wernigerode, auch Maik ist dabei. Sven ist spindeldürr, trägt ein weißes-T-Shirt, Shorts und Badelatschen. An seinen Wänden hängen Sauerteigrezepte, Sinnsprüche wie: „Alles ist verbunden. Trage die Botschaft weiter“, und wieder stehen Buddhafiguren rum.

Sven ist 13, als er beim Salzbergtal sein erstes „Glatzenkonzert“ besucht. Wie es dann weiterging? „Ziemlich wild“, sagt er, sieht zu Maik. Beide beginnen zu lachen. Sven war immer dabei, wenn es zu Schlägereien zwischen links und rechts in der Stadt kam, aber eher in der zweiten Reihe. Auch habe er keine echte Faschoideologie verfolgt – dass ihm in der DDR nicht alles über den Zweiten Weltkrieg erzählt wurde, dass sein Opa der liebste Mensch war und so weiter, das habe er schon geglaubt. Sven rasiert sich zu dieser Zeit den Kopf, hat Hakenkreuzflaggen und Bomberjacken im Kinderzimmer. Mehr als Provokation, wie er sagt. Mir fällt es schwer, das zu glauben. Aber seinen Nazilifestyle beschreibt Sven ausführlich und genau. Natürlich habe er auch den Hitlergruß gemacht, der habe dazugehört. „Die Polizei hier in Wernigerode war aber von allem überfordert“, sagt Sven. Maik nickt: „Ja, das haben wir alle ausgenutzt. Auch wenn wir uns von unserer Seite so einen politischen Anstrich gaben, ging es da auch um das Adrenalin – das war schon’ne geile Droge“, sagt er. Die beiden lachen. Ich konfrontiere sie mit den rassistischen, gewaltgeilen Texten, die da auf den Konzerten gesungen wurden. „Man ist da irgendwie reingerutscht. Das darfst du nicht so engstirnig sehen. Du hattest hier nur die Wahl, links oder rechts zu sein, wenn du irgendwie anders sein wolltest.“

„Wieso wolltest du anders sein?“

„Na, das will doch jeder, oder nicht?“, sagt er, sieht mich an und beginnt zu grinsen. „Oder willst du so der grobe Durchschnitt sein?“

Sven hatte damals noch ein anderes soziales Umfeld als die Rechts­ex­tre­men. „Zum Glück!“, sagt er heute. Er sei nur bei den „gemäßigteren“ Rechten im Jugendclub Center gewesen.

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Immer wieder beginne ich einen Satz, bringe ihn nicht zu Ende, entschuldige mich für die Fragen, bevor ich sie überhaupt stelle. Dann frage ich ihn, ob er auch Aus­län­de­r:in­nen gejagt habe. Er schüttelt den Kopf. So sei es nur bei den „richtigen Faschos“ zugegangen.

Ich weiß nicht, was die Unterscheidung zwischen „richtigem Fascho“ und „gemäßigt“ überhaupt bedeuten soll. Und vor allem, wieso man als Jugendlicher mit den Neonazis rumhängen wollte, von denen jeder wusste, dass sie herumzogen und Menschen verdroschen, weil sie anders aussahen.

Eine Spiegel-TV-Reportage aus dem Jahr 1993, die über die ständigen Aus­einandersetzungen zwischen Linken und Rechten in Wernigerode berichtet, zeigt einen speziellen Fall. Ein Mann, völlig normal und unauffällig gekleidet, läuft durch die nächtliche Stadt und berichtet davon, wie er von zwei Faschohorden angegriffen wurde. Der Moderator sagt, ein Verbot des Sonderparteitags der FAP durch das Ordnungsamt sei der Grund für die Krawalle gewesen. Ein Video wird eingeblendet: Die Faschos stürmen auf den Typen los, schlagen und treten auf ihn ein, brechen ihm den Schädel. Einfach so.

Einen Tag später klingelt mein Handy. Es ist Kalle. Sven hat ihm von unserem Treffen erzählt. Will er doch reden?

Noch am gleichen Tag fahre ich nach Wernigerode und stehe vor Kalles Wohnung in der Innenstadt. Er wartet vor seiner Tür. Scheiße, denke ich. Da steht dieser Schrank mit Glatze, voll tätowiertem Kopf und einem bulligen Kampfhund. Kalle winkt mich fröhlich heran. „Lass uns vielleicht doch lieber zu mir zum Reden gehen, was?“

Kalle sagt, er sei Oi!-Skin geblieben, das sei ein Lifestyle, und er schäme sich auch nicht dafür. Heute besuche er Hardcore- und eben Oi!-Punk-Konzerte. Unpolitisch, sagt er. Aber wenn jemand „Nazis raus!“ rufe, gehe ihm das auch auf die Nerven. „Aus beiden Richtungen“ möge er keine Phrasen. Wählen gehe er nicht, sei er nie, werde er auch nie, sagt er. Er werde sich nie einem System anpassen. Was ihm wichtig ist zu sagen: Diese ganze Fascho­ideologie liege hinter ihm, er habe sich davon gelöst. Meine Recherchen ergeben, dass Kalle bis in die nuller Jahre noch mit Nazis zu tun hatte, danach aber nicht mehr.

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Grafikquelle :

Oben      —         Menschenmengen auf der Berliner Mauer Ende 1989 nach dem historischen Mauerfall. Im Hintergrund das Brandenburger Tor, Symbol der Wiedervereinigung Deutschlands

Neonazi-Demonstration am 2. April 2005 in München

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Inflation, mehr Arbeitslose

Erstellt von Redaktion am 2. Juli 2023

Hinter der linken Fassade mehr Profit

Das selber Fressen hat den Politiker-innen immer volle Mägen beschert.

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor        :    Uli Gellermann

Pünktlich zu den allgemeinen sozialen Deformationen im Rahmen der Wirtschaftskrise bietet der Staat ein Beruhigungs-Geld in Form einer Rentenerhöhung an. Dass die Rentenerhöhung an die Erhöhung des Beitrags der Pflegeversicherung gekoppelt ist, mindert den Reklame-Effekt erheblich.

Dass die Rentenerhöhung deutlich hinter der Inflationsrate zurückbleibt, sagt sogar das Bundessozialministerium. Dem steht Hubertus Heil vor: Ein sozialdemokratisches Symbol für den Beamtenspeck. Deutlich dicker wurde auch die SPD-Frau Nahles – versorgt mit einem Job bei der Bundesagentur für Arbeit. Sie weiß zu sagen: „Die schwierigeren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen spüren wir nun auch auf dem Arbeitsmarkt“. Sie selbst spürt natürlich gar nichts.

Maden im Speck

Nichts spürt auch Yasmin Fahimi, die Chefin des DGB. Von der hört man zur wachsenden Arbeitslosigkeit gar nichts. Klar, die Sozialdemokratin Fahimi war schon mal Generalsekretärin der SPD, Mitglied des Bundestages und Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Da ist die Rente schon mal sicher. Die Maden im Speck würden sich überfressen fühlen, wenn sie so gut versorgt würden, wie die staatlichen Sozialdemokraten. Fahimi gilt als links. Die ganze SPD gilt als links, die Grünen auch; wann wird die CDU ihre linken Ansprüche anmelden?

Notopfer für die Ukraine

Es sind solche „Linke“, die zur Zeit das Land in die Krise steuern, weil sie sich im Kampf gegen die Russen weigern, deren preiswerte Energie zu kaufen. Zwei bedeutenden Sektoren der Wirtschaft, der Chemie- und der Energie-Industrie, wird die Grundlage beschädigt. Man muß nicht Wirtschaftswissenschaftler sein, um zu wissen, dass ein solcher Crash-Kurs zu Arbeitslosigkeit und Inflation führt. Aber wer in den deutschen Medien sitzt, der darf das nicht wissen, der verkauft diese Sabotage der Ökonomie als Kampf für die Menschenrechte, als Notopfer für die Ukraine.

Wohltätigkeitsorganisation NATO

Spätestens seit dem SPD-Kanzler Schröder, der den Bürgern „Hartz Vier“ als „Reform“ verkauft hat, werden die Medien von einem perversen Neusprech beherrscht. Ein Sprech, der Ursachen verhüllen und soziale Gemeinheiten als Wohltaten verkaufen soll. Mit der Behauptung, die Ukraine sei ein Opfer und die NATO eine Wohltätigkeitsorganisation zur Friedenssicherung, ist ein neuer Höhepunkt erreicht: Die Waffen-Lieferungen in die Ukraine sollen dem Frieden dienen. Davon, dass sie der Waffenindustrie Rekordgewinne bescheren, ist nicht die Rede.

Rüstung gegen Kinder

Dem nächsten SPD Specknacken sprengt der Kehlkopf auch bald Kragen und Schlips !

Von der Inflation und der Arbeitslosigkeit sind die Kinder besonders betroffen: In Deutschland leben rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche „in relativer Einkommensarmut“, erzählt die Bundesfamilienministerin Lisa Paus von den GRÜNEN mit spitzem Mündchen. Zwölf Milliarden Euro will die Bundesregierung vielleicht für eine „Kindergrundsicherung“ ausgeben. Dass 100 Milliarden „Sondervermögen“ für die Bundeswehr eine absolute „Grundsicherung“ für die Kriegsvorbereitung bedeuten und dass die 100 Milliarden, dem wirtschaftlichen Kreislauf entzogen, einen wesentlichen Beitrag zur schäbigen sozialen Lage im Land leisten, das findet im Neusprech einfach nicht statt. Die eleganteste Form der Manipulation ist immer noch das Schweigen.

Idelogische Energiepreise

Immer mehr Firmen ziehen so viel Geld aus Deutschland ab wie noch nie und investieren im Ausland. Das geht aus Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) hervor. Das ist das Resultat einer De-Industrialisierung, die im Wesentlichen ein Ergebnis der ideologisch motivierten Erhöhung der Energiepreise ist. Hinzu kommt eine marode Infrastruktur. Wer mit der Deutschen Bahn fährt, kann ein Lied davon singen. Der Verschleiß der Deutschen Bahn hat ebenfalls ideologische Ursachen: „Privat geht vor Staat“ war der Hauptslogan der sozialdemokratischen Modernisierer, der von CDU, GRÜNEN und FDP bis heute beklatscht wird.

„Profit“ kommt im Neusprech kaum vor

Das Wort „Profit“ kommt im Neusprech kaum vor. Dass von der Rüstung ebenso profitiert wird wie von der Privatisierung, wollen die Medienregisseure nicht wissen lassen. Die immer ärmer werdenden und vom Krieg bedrohten Menschen könnten ja die Ursachen für ihrer prekäre Situation begreifen. Das wäre eine gefährliche Erkenntnis für das Machtgefüge. Aber solange die Legende von „linken“, also sozial und pazifistisch orientierten Parteien geglaubt wird, ist das Land vom Begreifen weit entfernt.

Urheberrecht

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Grafikquelle :

Oben      —         Bundesminister Hubertus Heil während einer Plenarsitzung des Deutschen Bundestages am 2. Juli 2020 in Berlin.

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Unten       —          Secretary of Defense Lloyd J. Austin III is greeted upon arrival to the Ministry of Defense in Berlin by German Defense Minister Boris Pistorius and Ambassador Amy Gutmann Jan 19, 2023. (DoD photo by U.S. Air Force Tech. Sgt. Jack Sanders)

U.S. Secretary of Defense – 230119-D-XI929-1011

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Die Politik der Inlandsspione

Erstellt von Redaktion am 2. Juli 2023

Kritik am deutschen Verfassungsschutz

Von Till Schmidt

Der Journalist Ronen Steinke nimmt in seinem Buch den Verfassungsschutz ins Visier – vor allem dessen große Macht, im Inland Personen auszuspionieren.

Im Vergleich zu anderen liberalen Demokratien ist der deutsche Verfassungsschutz ein Unikum. Trotz ähnlicher Bedrohungen, wie sie etwa in den USA, Frankreich oder in Österreich vor allem von Rechtsextremen ausgehen. Das FBI, der Inlandsgeheimdienst DGSI oder die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst sind anders konzipiert.

Ronen Steinke hat nun ein neues Buch veröffentlicht, das sich mit den Aufgaben und der Funktionsweise der hiesigen Verfassungsschutzämter beschäftigt. Man könnte auch von einem pointierten Profil sprechen, das der Jurist, Journalist und Buchautor angelegt hat: Auf knapp 200 Seiten geht Steinke mit den gewachsenen Strukturen, dem Selbstverständnis und dem konkreten Agieren der Verfassungsschutzämter ins Gericht – und das mitunter sehr hart.

Steinke schildert anschaulich, wie folgenreich etwa eine Nennung in den Verfassungsschutzberichten für Organisationen und ihnen angehörende Einzelpersonen ist. Ein bekanntes Beispiel aus den letzten Jahren ist der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Anti­faschisten), dem durch eine später wieder rückgängig gemachte Aberkennung seiner Gemeinnützigkeit exis­tenzgefährdende Steuernachzahlungen drohten.

Oder Klimaaktivist:innen, die von manchen Ämtern gar nicht wegen ihrer Protestmethoden, sondern schon wegen politisch relativ gemäßigter Forderungen als „Verfassungsfeinde“ gelten.

An den Grundrechten rütteln

Die Argumentationen, die zu solchen Einschätzungen seitens der Behörden führen, sind häufig alles andere als stichhaltig. Bei genauerem Hinsehen würden die als Beweis für eine Verfassungsfeindlichkeit angeführten Aussagen häufig sogar solide auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Denn wirtschaftspolitisch ist das Grundgesetz eigentlich „ziemlich offen“, schreibt Steinke. Zentral sei vielmehr die politische Diskreditierung von unliebsamen politischen Akteuren.

Zentral sei vielmehr die politische Diskreditierung

Seehofer musste gehen und ließ den Haldenwang allein im Regen stehen ?

Steinke geht es nicht unbedingt darum, politisch Partei zu ergreifen für die von den Behörden ins Visier genommenen Gruppen. Als Verteidiger eines liberalen Rechtsstaates stört er sich vor allem daran, wie stark mitunter an Grundrechten wie Meinungsfreiheit und Pressefreiheit gerüttelt wird sowie linke und rechte Gruppierungen mit Doppelstandards beurteilt werden. Steinke kritisiert die deutschen Verfassungsschutzämter als „Politik-Beobachtungs-Geheimdienst“.

Aspekte wie behördliche NS-Kontinuitäten, die Zeit des „Radikalenerlasses“ oder die Mordserie des NSU behandelt Steinke relativ knapp. Besonders spannend sind die Kapitel zur digitalen Quellen-Überwachung und der Präsenz der Ämter in den sozialen Medien. Hierfür hat sich Steinke auch mit Agenten und ehemaligen Mitarbeitern getroffen. An diesen Stellen liest sich das Buch teils wie eine Reportage.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>       weiterlesen 

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Grafikquellen          :

Oben     —     Buildung of the Federal Office for the Protection of the Constitution in Berlin

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Geist aus der Flasche

Erstellt von Redaktion am 1. Juli 2023

Prigoschins Aufstand hat gezeigt,
wie fragil das scheinbar stabile autoritäre System Putins ist.

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Von Sarah Pagong

Prigoschins Aufstand hat gezeigt, wie fragil das scheinbar stabile autoritäre System Putins ist. Eben weil es auf einem ständigen Ausgleichen verschiedener Machtgruppen basiert. Die Elitenkonkurrenz, die das System eigentlich in der Balance hält, hat sich gegen das System gewendet.

Am 24. September 2011 kündigte Wladimir Putin seine erneute Kandidatur für die Präsidentschaft an. Es ist der Beginn einer autoritären Wende in Russland, die das Land in den Folgejahren immer repressiver und immer diktatorischer werden lässt.

Dmitri Medwedjew, der vier Jahre lang das Präsidentenamt bekleidet hatte, trat nicht wieder an. Er galt als Vertreter der liberal orientierten Gruppen in Russlands Elite; jemand, der Russland vermeintlich nach innen modernisieren wollte, nach außen Ausgleich mit den USA suchte und der den aggressiven Einfluss von Russlands Sicherheitsdiensten ausbalancieren konnte. Im September 2011 wurde deutlich, dass er nur ein Instrument des Machtsystems des zurückkehrenden Präsidenten Putin war. Die vermeintliche Alternative war Schall und Rauch.

Dieses Machtsystem basiert auf der Konkurrenz unterschiedlicher Eliten und Interessengruppen. Informelle Netzwerke binden diese Personen an das System: persönliche Beziehungen, die Möglichkeit, finanziell zu profitieren, oder schlicht Komplizenschaft. Jede dieser Gruppen und Personen erfüllt einen Zweck für das System Putins und den russischen Staat. Sie kontrollieren Ressourcen oder Medien, sie mehren Putins persönlichen Reichtum oder mimen eine vermeintliche Opposition oder Alternative. Jewgeni Prigoschin war Teil dieses Systems. Im Unterschied zu Medwedjew jedoch drohte die Konkurrenz zwischen Prigoschin und anderen Teilen der Elite in letzter Zeit das System zu sprengen.

Prigoschin verbrachte zu Sowjetzeiten neun Jahre im Gefängnis. Er war verurteilt worden für Raub und Diebstahl. 1990, in den Zeiten des Umbruchs, kam er frei. In den Wirren der neunziger Jahre verkaufte er Hotdogs und gründete Restaurants. Reich wurde er durch staatliche Cateringaufträge, die ihm den Namen „Putins Koch“ einbrachten.

Er hat diesen Reichtum eingesetzt im Dienste des Systems. Prigoschin finanziert Trollfrabriken in Sankt Petersburg, und er hat die Gruppe Wagner zu dem gemacht, was sie heute ist: einem privaten Militärunternehmen, das russische Interessen in der Ukraine, im Nahen Osten und in Afrika mit immenser Brutalität durchsetzt. Mit engen Verbindungen zur extremen Rechten und guten Kontakten zum russischen Staat agiert die Gruppe Wagner dort, wo Russland offiziell nicht eingreifen kann oder will.

Das Militärunternehmen erfüllt somit eine Funktion für den russischen Staat. Prigoschin hat es dabei nicht versäumt, seine eigene Macht und Bedeutung im russischen System zu steigern und sich neue Geldquellen zu sichern. Die Gruppe Wagner war immer auch ein Instrument der Ressourcenabschöpfung in ihren Zielländern. Der Einsatz für russische Interessen in Ländern wie Mali, Sudan oder Syrien kostet Prigoschin Geld, bringt ihm aber auch neuen Reichtum in Form von Gold oder Silizium.

Die Verbindung zwischen dem Machtsystem und Prigoschin war eine Symbiose, eine informelle Beziehung zu beiderseitigem Vorteil. Putin hat stets darauf geachtet, dass keine der Elitengruppen und -personen zu mächtig wird. Die Stabilität wurde gewahrt durch Konkurrenz zwischen den Eliten: um Ressourcen, Aufmerksamkeit, Informationen. Putin garantiert und symbolisiert dieses System als oberster Schiedsrichter.

Der Streit zwischen Prigoschin und der Führung des Verteidigungsministeriums, vor allem Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow, stellte genau solch eine Rivalität dar. Sie hat sich jedoch unter dem Einfluss von Russlands Krieg gegen die Ukraine radikalisiert. Für Prigoschin und die Gruppe Wagner war der Krieg eine Chance auf mehr Macht und Einfluss. Gleichzeitig hat der Krieg den Bedarf an Ressourcen für dieses Machtstreben – militärische Ausrüstung, Munition, Personal – potenziert. Es reicht nicht mehr für alle. Putin hat diese Radikalisierung lange laufen und Prigoschin mit seinen zunehmend spitzen Kommentaren gewähren lassen. Letztlich hat diese Radikalisierung das System zu sprengen gedroht.

Die Elitenkonkurrenz, die das System eigentlich in der Balance hält, hat sich gegen das System gewendet.

Das Ergebnis ist ein für alle sichtbares Moment der Schwäche und des Kontrollverlusts des russischen Staats. Einmal mehr zeigt sich, dass scheinbar stabile autoritäre Systeme fragil sind. Sie basieren auf einem ständigen Ausgleichen verschiedener Machtgruppen. Diese Balance ist anfällig, da sie auf informellen Arrangements aufbaut und nicht auf allgemein anerkannten und rechtsstaatlich durchgesetzten Regeln. Diese Schwäche hat sich am Wochenende des 23./24. Juni an drei Faktoren gezeigt: einem Verlust der Kontrolle über Information sowie einem über Teile des Territoriums und in mangelndem Strafvermögen.

Der Kreml und Putin verloren am Freitagabend die Kontrolle über die Information und das Narrativ. Prigoschin hat sich über soziale Medien und vor allem Telegram in den letzten Monaten einen eigenen Zugang zur russischen Bevölkerung geschaffen. Er ist nicht abhängig von staatlichen oder staatlich kontrollierten Medien, sondern er spricht die Menschen direkt, unmittelbar und auf authentisch wirkende Weise an. Der russische Staat konnte die Nachrichten über die Kontrolle von Rostow am Don und den anschließenden Vorstoß der Gruppe Wagner Richtung Moskau nicht kontrollieren oder gar leugnen. Putin war in einem Dilemma: Sagt er nichts, überlässt er Prigoschin das Feld. Äußert er sich, verleiht er Prigoschin weitere Reichweite und dessen Handeln Bedeutung. Er musste sich für Letzteres entscheiden, zu deutlich war das Schweigen wahrzunehmen. Die Rede Putins, mit der er am Samstagmorgen schließlich reagierte und die Prigoschin als Verräter brandmarkte, hat den Wagner-Chef in seinen Aussagen noch radikalisiert. Er griff Putin nun persönlich an. Die sich überhitzende Elitenkonkurrenz entwickelte sich von der Stütze des Systems nun endgültig zu dessen größtem Problem.

Das Machtsystem Russlands verlor auch die Kontrolle über Teile seines Territoriums. Die Gruppe Wagner konnte gegen nur begrenzten Widerstand Rostow am Don kontrollieren, einen zentralen Logistikknotenpunkt für den Krieg gegen die Ukraine, und über Woronesch weiter Richtung Moskau vordringen. In den Medien verbreiteten sich statt Bildern einer gezielten und massiven militärischen Antwort seitens des Staats vor allem solche von Baggern, die die Schnellstraße Richtung Moskau aufrissen. Das Ende dieses Aufstands wurde schließlich nicht militärisch herbeigeführt, sondern durch einen vom belarussischen Präsidenten vermittelten Deal. Der Brandmarkung Prigoschins als Verräter folgte nicht etwa eine machtvolle Reaktion, sondern eine Verhandlung, die dem Systemsprenger einen Kompromiss unterbreitete.

Den dritte Kontrollverlust bildet das unmittelbare Ausbleiben einer existenziellen Strafe. Das Machtsystem hat Kontrolle – neben der Belohnung von Gefolgschaft – auch immer über die Bestrafung von Abtrünnigen ausgeübt. Die zahlreichen getöteten, ins Exil getriebenen und in Lagern sitzenden Jour­na­lis­t:in­nen und Oppositionellen sind Zeugen solcher Strafen. Prigoschin jedoch hat genau dieses Schicksal zunächst einmal nicht ereilt. Sein „Marsch auf Moskau“ wurde nicht ultimativ bestraft – auch wenn berechtigte Zweifel bleiben, ob Prigoschin nicht doch noch einen hohen Preis zahlen wird. Die Verhandlung bescherte dem belarussischen Präsidenten Lukaschenko dagegen ein unerwartetes Comeback. Er und Belarus bleiben von Russland abhängig, aber der Aufstand hat ihm nicht nur die Gelegenheit geboten, sich medienwirksam als Vermittler darzustellen, sondern auch als dem russischen Staat und der Sicherheit des Lands verschriebenen Verbündeten, der in der Krise zur Hilfe eilt.

Seit dem letzten Wochenende hat das Machtsystem Risse. Die Idee eines omnipotenten russischen Staats, eines allmächtigen russischen Präsidenten hat auch vorher nicht der Wahrheit entsprochen, aber nun ist die Sache für alle erkennbar, innerhalb und außerhalb Russlands. Putins Politik, seine Handlungen, seine Worte werden nun auf Anzeichen von Schwäche geprüft werden. Anstatt sich auf den Nimbus der Macht verlassen zu können, wird er stetig versuchen müssen, ihn wiederherzustellen.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen  

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Grafikquellen     :

Oben       —     Wladimir Putin und Jewgeni Prigoschin (2010)

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Der posthume Demokrat:

Erstellt von Redaktion am 1. Juli 2023

Fritz Bauer, die CDU und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen

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Quelle        :     Berliner Gazette

Von            :     

Vor 55 Jahren, am 1. Juli 1968, starb Fritz Bauer. Wie kein anderer Jurist in der Bundesrepublik hat er als hessischer Generalstaatsanwalt nach dem Krieg die NS-Verbrechen verfolgt. Dafür wurde er von vielen bekämpft und geschmäht – vor allem von der CDU. Ende des letzten Jahres hat Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) ihn posthum mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille geehrt. Fritz Bauer konnte sich dagegen nicht mehr wehren. Der Autor Helmut Ortner blickt zurück.

Jährlich am Verfassungstag des Landes Hessen, dem 1. Dezember, wird im Rahmen eines Festakts die Wilhelm-Leuschner-Medaille verliehen. Wer sie bekommt, darüber entscheidet der Hessische Ministerpräsident. Die Auszeichnung ist nach Wilhelm Leuschner (1890-1944) benannt, dem früheren hessischen Innenminister. Er zählt zu den bekanntesten Persönlichkeiten des in Deutschland organisierten Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Schon in den 1930er-Jahren trug Leuschner maßgeblich dazu bei, den Widerstand zu organisieren. Im Anschluss an das gescheiterte Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde Leuschner zum Tode verurteilt und am 29. September 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Zum seinem 20. Todestag, am 29. September 1964, verlieh der damalige hessische Ministerpräsident Georg August Zinn (SPD) erstmals die nach Wilhelm Leuschner benannte Medaille. Seither wird Jahr für Jahr eine Persönlichkeit ausgezeichnet, „die sich aus dem Geist Wilhelm Leuschners hervorragende Verdienste um die demokratische Gesellschaft und ihre Einrichtungen erworben hat“.

Wer einen Blick auf die lange Geehrten-Liste wirft, findet ehrenwerte Namen aus allen gesellschaftlichen Bereichen, freilich auch einige, deren demokratische Verdienste nicht unumstritten sind. Beispielsweise Roland Koch, ehemals CDU-Ministerpräsident in Hessen, der einst mit einer schäbigen Kampagne gegen junge Ausländer*innen Stimmung im Wahlkampf machte, was ihm zwar wenig nutzte, doch vielen als populistisches Schurkenstück im Gedächtnis blieb. Und war Koch nicht auch Vorsitzender einer christdemokratischen Schwarze-Kassen-Partei, die Millionenzuwendungen – die in Wirklichkeit aus schwarzen Auslandskonten der CDU stammten – als „Vermächtnisse von Juden aus Europa“ umetikettieren wollte? Als die dreiste Legende im Spenden-Sumpf versank, inszenierte sich der CDU-Mann als „brutalstmöglicher Aufklärer“. Eine demokratieverachtende Posse.

Zur Causa Koch hätte Fritz Bauer ganz bestimmt eine Meinung gehabt. Sein Name findet sich seit Ende letzten Jahres ebenfalls auf der Preisträger-Liste. Hessens aktueller Ministerpräsident Boris Rhein hat den ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalt posthum geehrt. Der forsche CDU-Politiker lobte den 1968 verstorbenen Bauer, als einen „Kämpfer für Humanität und Demokratie mit Hingabe, Ausdauer und Leidenschaft für eine freie Gesellschaft“. Eine überfällige Anerkennung – doch mit schalem Beigeschmack. Es war Rheins Partei, die Bauer viele Jahre das Leben schwer gemacht, ihn geschmäht und bekämpft hat.

Als „Ketzer“ geächtet, bekämpft und bedroht

Fritz Bauer, ein Sozialdemokrat jüdischer Herkunft, gehörte zu den wenigen unbelasteten Jurist*innen, die in der jungen Bundesrepublik eine Führungsposition einnahmen und der nichts so hasste wie die gängigen Verteidigungs- und Verharmlosungsformeln der Nazi-Vergangenheit. Bauer war der personifizierte Gegenpart der konservativen Adenauer-Jurist*innen, die nur wenig Neigung zeigten, ehemalige NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen, zumal dort bekanntlich eine besonders starke personelle Kontinuität zur NS-Zeit gegeben war. Die Bereitschaft, in NS-Strafsachen zu ermitteln und zu handeln, ging nahezu gegen null. Damit war Bauer nicht einverstanden. Er erkannte klarsichtig, dass der NS-Staat kein Betriebsunfall der Geschichte war und wies auf die geschichtlich gewachsenen Strukturen und Mentalitäten hin, die den NS-Verbrechen so sehr entgegenkamen und die aufzubrechen mehr erfordern würde als Gerichtsprozesse. Er setzte die Aufhebung der Verjährungsfrist für NS-Morde durch; ohne ihn hätte es 1963 den großen Ausschwitzprozess nicht gegeben.

Damit handelte er sich nicht nur den Zorn konservativer Kreise ein. Bauer wurde gemieden, verunglimpft und bedroht. In der Nachkriegsjustiz galt er vielen als „Ketzer“. In der hessischen CDU, in der Hardliner wie Alfred Dregger und Manfred Kanther jahrzehntelang das politische Weltbild vorgaben, galt Bauer beinahe schon als Staatsfeind. Die Schmähungen steigerten sich noch, nachdem es ihm gegen starke Widerstände gelungen war, die Frankfurter Auschwitzprozesse gegen einstige Bewacher des Vernichtungslagers tatsächlich auf den Weg zu bringen. Die Prozesse erfüllten in ihrer Durchführung und in ihren Ergebnissen ein tieferes Anliegen Bauers:

„Wenn etwas befohlen wird, sei es Gesetz oder Befehl, was rechtswidrig ist, was also im Widerspruch steht mit den Zehn Geboten, dann musst Du ‚Nein‘ sagen! Es bedarf Mut und Courage in jeder Richtung gegenüber dem äußeren Feind. Man hat völlig übersehen, dass die Zivilcourage, der Mut vor dem Feind im eigenen Volk genauso groß, wahrscheinlich größer ist – und nicht weniger verlangt wird. Dass es ehrenhaft ist, dass es Pflicht des Einzelnen ist, auch in seinem eigenen Staat für das Recht zu sorgen. Und deswegen ist das A und O dieser Prozesse zu sagen: Ihr hättet ‚Nein‘ sagen müssen!“

Bauer zwang die Öffentlichkeit in Deutschland zum Hinsehen. Eine Gesellschaft, die sich mühte, das zu vergessen, was sie verschwieg: die Bereitschaft zur Teilnahme an einem System der Barbarei. Aus der Politik gab es keine zwingenden Gesetzesvorgaben. Unter diesem Eindruck zeigte vor allem die Justiz nur wenig Neigung, ehemalige NS-Täter*innen zur Verantwortung zu ziehen. Die Nichtverfolgung von NS-Verbrechen: eine skandalöse, jahrzehntelange Verweigerung von Strafverfolgung, eine konsequente Strafvereitelung im Amt. Bauer wollte sich damit nicht abfinden.

Gegen die Integration der Täter*innen

Geboren 1903 in Stuttgart, war Bauer einer der wenigen Unbelasteten im Justizapparat der BRD. 1930 wird er mit 26 Jahren jüngster Amtsrichter Deutschlands. 1933 kommt er nach der Machtübernahme der Nazis in Haft. 1936 flieht er nach Dänemark, später nach Schweden. Mit Willy Brandt gründet er dort eine Exil-Zeitschrift. 1949 kehrt Bauer zurück, um ein demokratisches Justizwesen mitaufzubauen. Er wird Generalstaatsanwalt in Niedersachsen, 1956 holt ihn Hessens Regierungschef August Zinn in dieser Funktion nach Frankfurt. Hier lässt er von seinen Mitarbeiter*innen über 1000 Zeugen vernehmen und bereitet den Auschwitzprozess gegen die SS-Wachmannschaften vor. Als oberster Staatsanwalt in Hessen hat er das Verfahren bundesweit an sich gezogen – gegen alle Widerstände. Er muss sich mit Richter*innen und Staatsanwält*innen aus der Nazi-Zeit herumschlagen, die nach 1945 weiter im Staatsdienst blieben und oft seine Arbeit sabotieren. „Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich feindliches Ausland“, beschrieb er später einmal seine Lage in einem Fernseh-Interview.

Dass Fritz Bauer schon früh die Rolle eines Außenseiters hat, zeichnet sich bereits im September 1949 ab, als Bundeskanzler Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung sagt, man soll in Deutschland „Vergangenes vergangen sein lassen“ und damit auch eine Amnestie für NS-Täter*innen meint. Adenauers Politik hatte den Aufbau demokratischer Institution und eine Demokratisierung der Gesellschaft durch stillschweigende Integration der ehemaligen Anhänger*innen, Mitläufer*innen und auch der Täter*innen des Nationalsozialismus zum Ziel. Nicht nur im konservativen Juristen-Milieu galt der hessische Generalstaatsanwalt als Störenfried, als eine umstrittene, ja verhasste Figur. Politisch ist Jurist Bauer weiterhin enormen Widerständen ausgesetzt. Vor allem die CDU bringt sich gegen ihn in Stellung.

Im Oktober 1960 hält Fritz Bauer im Rahmen einer vom Landesjugendring Rheinland-Pfalz veranstalteten Tagung einen Vortrag über die „Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“ in dem er sich mit den sozialen Ursachen des Nationalsozialismus beschäftigt. Bauer geht der Frage nach, wie es möglich geworden war, dass Menschen andere Menschen ausgrenzten, verfolgten und ermordeten. Ein Vorschlag des rheinland-pfälzischen Landesjugendrings, den Text Oberstufengymnasien und Berufsschulen als Broschüre zur Verfügung zu stellen, wird vom Kultusministerium des Bundeslandes abgelehnt. Kultusminister Eduard Orth (CDU) verteidigt seine Entscheidung mit der Begründung, Bauers Text produziere „Fehlurteile“ über die deutsche Geschichte. Die Ablehnung wird 1962 auch von einem jungen ehrgeizigen CDU-Abgeordneten begrüßt, der moniert, der zeitliche Abstand vom Nationalsozialismus sei zu gering, um sich darüber ein abschließendes Urteil bilden zu können. Sein Name: Helmut Kohl.

Im hessischen Landtag fordern Abgeordnete der CDU im April 1963 gar Bauers Ablösung als Generalsstaatsanwalt, weil er im Ausland schlecht über Deutschland rede. Einige machen ihn sogar seinen Status als NS-Verfolgter und Emigrant zum Vorwurf, weil er dadurch „befangen und unsachlich“ sei. Eine perfide, abstruse Argumentation.

Späte Würdigung, überfällige Rehabilitierung

Mitte der 1960er Jahre trübt sich Bauers Stimmung immer mehr ein. Wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner Kritik an den alten Nazi-Seilschaften erhält er Schmähbriefe und Morddrohungen.An zwei seiner Freunde schreibt er: „Die Strafanzeigen hageln, alles ist gegen mich verschworen.“ Bauer kämpft einen mühsamen, einsamen Kampf: Gegen das Verdrängen und Vergessen, gegen Ignoranz und Gleichgültigkeit. Neben seinem Engagement für die Aufarbeitung der NS-Zeit ist er einer der bedeutendsten Vorkämpfer für Strafrechts- und Strafvollzugsreformen und Resozialisierung. An den Gebäuden der Landgerichte Braunschweig und Frankfurt wird auf sein Betreiben als Inschrift der Anfang des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ angebracht.

Es dauert länger als ein halbes Jahrhundert, bis die Partei, die ihn einst als Gegner geschmäht und bekämpft hat, im Dezember 2022 als demokratischen Aufklärer würdigt. Eine „Schlüsselfigur der jungen deutschen Demokratie“ nennt CDU-Ministerpräsident Rhein nun Bauer bei der Verleihung auf dem Campus Westend der Frankfurter Goethe-Universität. „Ohne Fritz Bauer wäre unsere Geschichtsaufarbeitung nicht die, die sie heute ist“. Eine späte, eine überfällige Rehabilitierung.

Wir wissen nicht, wie Fritz Bauer auf diese späte Form der Würdigung reagiert hätte. Vielleicht hätte er die Annahme der Medaille verweigert und stattdessen dem Ministerpräsidenten vorgeschlagen, couragierte Menschen der Gegenwart auszuzeichnen, die sich in Hessen etwa bei der Aufklärung des Skandals um den „NSU 2.0“ verdient gemacht und dabei einen hohen Preis gezahlt haben. Es hätte zu ihm gepasst.

Nun also steht sein Name auf der langen Liste der Preisträger und es gibt nicht wenige, die dem CDU-Chef unterstellen, die posthume Auszeichnung Bauers sei ein ganz und gar eigennütziger Coup, sich als überparteilicher Erneuerer und Versöhner zu inszenieren. Im Oktober wird in Hessen gewählt. Freundlichere Stimmen verweisen darauf, die Preisträger-Wahl konterkariere die jahrzehntelange brüchige Erzählung, Bauer sei ein Anti-Demokrat gewesen. Das immerhin verdiene Respekt.

Apropos Preisträger*innen: 2015 bekam die Medaille Heinz Riesenhuber, der unter Helmut Kohl Bundesforschungsminister war und Fritz Bauer einmal persönlich begegnet ist. Die beiden hatten in den 1960er-Jahren einen gemeinsamen TV-Auftritt in der HR-Talkshow „Kellerclub“, wo Bauer mit Studierenden über den Umgang mit NS-Verbrechern diskutierte. Der junge Heinz Riesenhuber, damals in der Jungen Union, hat Bauer entgegengehalten, dass doch zum Teil auch einfach nur brave Bürger*innen auf bestimmte Posten gestellt worden seien und diese ausgefüllt hätten. Das hat Fritz Bauer sprachlos gemacht. Es war genau die rechtfertigende Denkweise, gegen die er Zeit seines Lebens gekämpft hat.

In der Nacht zum 1. Juli 1968 wurde Fritz Bauer tot in der Badewanne seiner Frankfurter Wohnung aufgefunden. Beigesetzt wurde er in Göteborg im Grab seiner Eltern.

Anm.d.Red.: Mehr Information zu Fritz Bauer finden sich hier. Lese-Tipp: Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, Berlin 2013. Film-Tipp: Der Staat gegen Fritz Bauer, Regie Lars Kraume, u.a. mit Burghardt Klaußner, Deutschland 2015.

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Grafikquellen     :

Oben       —     Gedenktafel am letzten Wohnhaus von Fritz Bauer. 2017 in der Feldbergstraße in Frankfurt am Main.

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Causa Wagenknecht

Erstellt von Redaktion am 1. Juli 2023

Ein Wort zu Causa Wagenknecht und anderen Pusteblumen

File:Pusteblumen Wiese.jpg

Quelle      :        AKL

Von          :        Thies Gleiss

1.

Der Beschluss des Parteivorstandes der LINKEN (PV) in der Causa Wagenknecht vom vergangenen Wochenende tappt in einer Weise in die vom Büro Wagenknecht aufgestellte Falle, dass es schon beim Lesen mit schmerzt.

Der PV plustert sich in der organisatorischen Frage auf, ohne die minimale praktische Konsequenz ziehen zu wollen oder zu können. Ein formaler Ausschlussantrag an die Schiedskommission, die allein darüber zu befinden hat, wird nicht gestellt. Der PV übernimmt damit ganz nach Wunsch von Sahra Wagenknecht die Rolle des „Spalters“ und überreicht ihr auf dem Silbertablett eine letzte Chance, mit der LlNKEN als Parteiprojekt zu pokern.

2.

Sahra Wagenknecht IST schon lange aus der Partei DIE LINKE ausgeschert. Kein PV-Beschluss und auch kein Entscheid einer Schiedskommission könnten den Bruch noch toppen, den Sahra Wagenknecht selbst schon lange vollzogen hat. Wer ein 400-seitiges „Gegenprogramm“ (so die Selbsteinschätzung) zur LINKEN schreibt und es hunderttausendfach verkauft, dafür 800.000 Euro oder noch mehr mehr als persönlichen Verräterinnen-Lohn einkassiert, ist meilenweit von der Partei, die sie dennoch noch einmal für die Bundestagswahl aufgestellt hat, entfernt. Nicht die Zukunft, wie Janine Wissler und Martin Schirdewan es erklären, wird ohne Wagenknecht sein, die Gegenwart ist es schon lange. Die Gegenwart von Sahra Wagenkencht ist durch eine eindeutige Rolle in jedem Interview, in jeder Talkshow und in jedem Eintrag in die digitalen Welten geprägt: Sie ist nichts als eine Kronzeugin gegen DIE LINKE. Und die Feinde der LINKEN, überwiegend rechtes Pack, bejubeln sie für diese Rolle.

3.

Inhaltlich, programmatisch und strategisch wird Sahra Wagenknecht durch den PV-Beschluss stattdessen komplett geschont und damit die einzige Angriffsfläche im Sinn der Verteidigung der LINKEN PARTEI unfassbar ausgelassen

Der PV hätte lieber freundlich mit einem oder zwei Sätzen feststellen sollen, dass Sahra Wagenknecht faktisch die LINKE verlassen hat (soll doch Sahra dann das Gegenteil beweisen).

Der ganze lange Rest des Beschlusses hätte sich dann scharf und klar mit den programmatischen Positionen von Sahra beschäftigen sollen, ihrem seit Langem verkündeten „Gegenprogramm“.

4.

Das Interview von Sahra mit der „Welt“ und ihr Beitrag in „Bild-TV“ zeigen doch noch einmal in aller Pracht ihr Weltbild auf. Nichts daran ist „links“:

– sie möchte eine noch mehr deutschnationale Außenpolitik als es Frau Baerbock macht.

– sie verteidigt deutsche Kapitalinteressen („unsere Wirtschaft“) als angeblich linke Leitbilder (dem gegenüber ist der „Feminismus der Außenpolitik“ vergleichsweise noch nett und freundlich)

– Sie relativiert und verteidigt die kriminelle Politik gegenüber Geflüchteten und geht zusammen mit der gesamten herrschenden Politik in der EU über Leichen.

– Sie diffamiert die vielen oppositionellen Auf- und Ausbrüche gegen die kapitalistische Normalität als Öko-Gedöns, womit sie nicht nur ihre zum Fremdschämen reizende Unkenntnis in der Sache demonstriert, sondern nur Flankenschutz für die herrschende Politik gibt.

– Ihr Kampf für „Vernunft“ und „Normalität“ ist dumpfer, kleinbürgerlicher Müll.

Im Wahlkampf 2021 hieß die zentrale Parole der AfD: „Deutschland – aber normal“.

Wenn kein Urheberrecht darauf beansprucht wird, ist damit die Losung der „Wagenknecht-Partei“ in 2024 und 2025 bereits vorgegeben.

5.

Ach ja, zum Ersten: All ihr Quo Vadis Leute, Sozialistische Linke, Populäre Linke und wer noch so alles rumläuft. Mit diesem kleinbürgerlichen Müll wollt ihr ganz sicher keine Partei aufbauen. Ihr trefft euch jetzt tapfer und denkt der böse „Parteivorstand“ würde die Partei zerstören. Was für ein selbstbetrügerischer Unsinn. Der „Parteivorstand“ – egal von wem besetzt – hat in einer Partei wie der LINKEN, in der wie in so vielen linken Parteien vor ihr, die Mitglieder gar nichts, die Vorstände wenig und die Fraktionen alles zu sagen haben, seit langem keine Entscheidungsmacht. Verantwortlich für den heutigen Kurs der Partei, für ihre Fehler und Irrtümer sind in erster Linie und mit großem Vorsprung die Parlamentsfraktionen und solche Leute, die in Regierungen dahinkriechen.

Ihr schaut mit großen Augen auf die Talkshowqueen und hofft, irgendetwas von ihrem Einfluss für eure eigenen Parteibemühungen einfangen zu können. Das, jede Wette, wird aber nicht funktionieren.

Ach ja, zum Zweiten: Wenn der PV etwas spaßvögelich aufgelegt wäre, hätte er Sahra Wagenknecht viel Erfolg mit ihrer Liste bei der Europawahl gewünscht. Das wäre es doch: Sahra geht als „Spitzenkandidatin“ einer EU-Liste zurück in das Europaparlament. Dann wäre sie zwar in einem teuren goldenen Käfig, aber aus der reaktionären Dauerpräsenz in der deutschen Politik erst einmal heraus.

6.

EIN NACHTRAG ZUR CAUSA WAGENKNECHT

Wenn ich noch einen Nachtrag liefern darf zur Frage, ob Sahra Wagenknecht eine neue Partei gründen will:
Natürlich diskutiert Sahra über eine solche Parteineugründung. Ich diskutiere auch über Alternativen zur LINKEN, was bei deren Zustand ja auch sehr angemessen und gerechtfertigt ist.

Fraktion vor Ort in Bochum (8404145869).jpg

Aber Sahra hat ein unlösbares Problem: Ihr gesamter medialer Erfolg beruht – neben den zweifellos vorhandenen persönlichen Talenten und neben der Fleißarbeit der Partei DIE LINKE, die ihr die bezahlte politische Hauptamtlichkeit ermöglicht – auf einem Widerspruch. Der öffentliche Hype um sie ist nicht „von links“ zu untermauern. Sie wird zur Ikone erklärt, nicht weil sie links ist, sondern weil sie nicht-links ist, eine Kronzeugin gegen die Linken und die LINKE. Ihre Fangemeinde ist konservativ, spießig und sieht keine Alternative zum Kapitalismus, will diese auch nicht.

Sahra ist in dieser Hinsicht die Getriebene und nicht die Treibende. Ihr Anhang ist nicht politisch links einzubinden. Durch ein schräges, undemokratisches Konzept der One-woman-show, zu dem ihre politischen Berater:innen und wohl auch sie selbst neigen, schon gar nicht.
Nicht Sahra selbst ist von AfD-Positionen getrieben, aber der einzige Horizont ihres medialen Anhangs besteht darin.
(Wer die Bücher und Aufsätze, auch ihre parteiinterne Entwicklung ähnlich eng verfolgt wie ich, wird zudem feststellen, dass Sahra anfänglich mit populistisch-spekulativen Ambivalenzen in Richtung Rechts und AfD nur spielte, auch um sie zu entlarven, aber dass ihr das völlig entglitten ist. Heute drückt ihr nach rechts offener Populismus vor allem ihre eigenen Ängste aus, zu denen sie als Popstar der Medien sich öffentlich verhalten muss)

Die diversen Treffen und Diskussionen innerhalb der LINKEN, die angeblich im Sinne von Sahra eine neue Partei schaffen wollen, haben mit dem speziellen Problem von Sahra deshalb auch nichts zu tun. „An einigen dieser Diskussionen bin ich persönlich involviert“ sagt sie selbst. Auf den anderen Treffen wird über eine Neuauflage einer linkssozialdemokratischen, klassisch etatistischen Partei diskutiert, die nichts mit dem „Gegenprogramm“ von Sahra zu tun hat. Auch dieses Parteimodell ist konservativ, aber im Sinne von reformistischer Langweiligkeit, Konzepten von Stellvertreterpolitik und Etappentheorien statt Dialektik.

Diese grundsätzliche Konstellation gegenüber Sahra erzeugt diesen kuriosen „Warten-auf-Godot“-Effekt. Sahra wird für ein Kaleidoskop unterschiedlicher Projekte und Erwartungen in Haftung und Hoffnung genommen, die alle irgendwie auf das Kommen und „die Entscheidung“ starren. Aber Godot kommt nicht. Die realen operativen Anstrengungen, eine neue Partei aufzubauen (was ja auch keine einfache Übung ist, wie es selbst Sahra erkennt) laufen ohne Sahra, und Sahras Diskussionen laufen ohne reale politische Kräfte der Umsetzung.

„Was machen wir nun?“, heißt es bei Becketts „Warten auf Godot“. Und dann: „Wenden wir uns der Natur zu“…

akl - Antikapitalistische Linke

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Oben     —    Eine Wiese voll Taraxacum

Author Robert.photography              /      Source      :     Own work          /      Date     :      13 May 2020,

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Unten           —         Bundestagsfraktion solidarisch mit Opelanern von Bochum

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von Redaktion am 1. Juli 2023

Grübelei über Prigoschin à la chinoise

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Nichts erregt die Gemüter rund um die Welt heute mehr als Jewgeni Prigoschins kurzlebige Rebellion gegen den Kreml. Das gilt auch für China. Scheinbar unaufgeregt gab eine Außenamtssprecherin in Peking zu verstehen, Peking sei für eine schnelle Wiederherstellung der Ordnung in Russland. Kein Wort zu Wladimir Putin, Xi Jinpings gutem Freund. Kein Glückwunsch, dass die unverschämte Rebellion niedergeschlagen wurde. Der klare Subtext: Egal wie, Hauptsache, es stört uns in China nicht.

Daraufhin erregen sich die Gemüter umso buntscheckiger: „Egal wie, geht schon mal gar nicht“, schrieb einer, der mit dem Prinzip in China hochzufrieden ist, schließlich „herrscht bei uns die Doktrin: Immer beherrscht die Partei die Gewehre, niemals umgekehrt. Jetzt seht ihr, was passiert, wenn die Gewehre die Partei beherrschen würden. Wie dumm sind die Russen?“

Und ein anderer schießt zurück: „Wie naiv bist du? Versuch mal, unsere Soldaten nicht zu bezahlen, da wirst du sehen, was daraus wird. Es geht ums Geld. Wie heißt es noch einmal: Mit Geld kannst du nicht alles machen. Ohne kannst du nichts machen. Nichts, du Idiot. Prigoschin will mehr Geld.“

Der Dritte wirkt etwas ausbalancierter: „Wichtig ist aber: Was wird daraus? Wird die Ukraine die Rebellion zu ihrem Nutzen ausschlachten, die Krim zurückholen? Wenn ich Selenski wäre: Ich würde es tun.“ Ihn ermutigt der Vierte: „Na dann, mach unserer Führung den Vorschlag, wir Chinesen sollen versuchen, die Schwäche von Putin auszuschlachten – wie wäre es damit, Wladiwostok zurückzuholen? Das liegt gut 8.000 Kilometer weit weg von Moskau und dürfte Putin wesentlich weniger wehtun als Prigoschin. Der Bursche war schon mal wesentlich näher dran.“

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Ein Fünfter protestiert: „Ach, unsre Schlafmützen da oben. Die haben noch nicht mal bemerkt, dass Putin in der Krise zuerst Nordkorea und Kasachstan angerufen hat, nicht unser Politbüro? Der beste Freund von Putin ist China ja nicht. Der Zar kann sich auf uns nicht verlassen. Und wir sollten uns selbst auch nicht allzu ernst nehmen – der Russen wegen schon mal gar nicht.“ Von allen ist der Sechste der Tollkühnste. Er fragt, was passieren würde, „wenn inmitten eines sagen wir Krieges gegen Taiwan auch bei uns so einer daherkommt und verlangt, den Verteidigungsminister und Generalstabschef einen Kopf kürzer zu machen, quasi so ein Prigoschin à la chinoise?“

Keiner antwortet auf ihn, oder keine Antwort auf ihn, wie auch immer sie aussehen mag, schafft es, im chinesischen Internet zu erscheinen. Nur hörbarer kocht die Gerüchteküche um den angeschlagenen Kremlchef. „Wenn der Großkaiser Putin keinem mehr befehligen kann?“ „Würde der Großkaiser nun doch seinen Verteidigungsminister abservieren?“ Und: „Weiter kommt er in der Ukraine dennoch nicht?“ Hier entsteht der Eindruck, dass es schlecht aussieht für Putin und seinen Krieg. Vielsagend ist, dass kein Kommentar wegen ablehnender Haltung gegenüber Putin zensiert wird, obschon der doch ausdrücklich ein guter Freund von Xi Jinping sei.

Quelle     :          TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Detonation-Oberhausen

Erstellt von Redaktion am 30. Juni 2023

Vigilia pretium libertatis!

Von: Jimmy Bulanik

Oberhausen – Am 05. Juli 2022 um 03:20 Uhr ereignete sich dem Büro „Die Linke . Liste Oberhausen an der Elsässer Straße 20 eine Detonation. Das Sprengmittel hatte eine Wirkung gehabt das die Fensterscheiben sowohl am dem politischen Büro, als auch bei den unternehmerischen Gesellschaften gegenüber die Scheiben zerstört worden sind. Der persönlich bekannte Mitarbeiter der Ratsfraktion Die Linke, Henning von Stolzenberg sagte in einem Fernsehinterview gegenüber dem Westdeutschen Rundfunk, Aktuelle Stunde das es zuvor immer wieder politisch motivierte Straftaten von Rechts im näheren Umfeld des Büro der Die Linke gekommen ist.

Alle diese Offizialdelikte von Rechts ob nach § 86a StGB, § 130 StGB sind durch Die Linke in Oberhausen gegenüber den Justizbehörden in Nordrhein – Westfalen zur Strafanzeige gebracht worden. Der Weg dafür ist kurz. Zwischen der Elsässer Straße 20 und der Polizeiwache auf dem Friedensplatz 2 – 5 liegen liegen gerade einmal 169 Meter, was mit einem PKW einer Fahrt von nur vierzig Sekunden bedarf.

So mutig ist die Täterschaft. Das erinnert an die Kapitalstraftaten von Rechtsterroristen wie das Oktoberfestattentat am 26. September 1980 in München, der Sprengstoffanschlag am 27. Juli 2000 in Düsseldorf an der S – Bahn Haltestelle Wehrhahn weshalb dadurch ein ungeborenes Leben im Mutterleib gestorben ist, die Sprengstoffanschläge durch das Geflecht an internationalen Netzwerken von Rechtsterroristen durch Blood & Honor, dessen Derivat in Thüringen der Nationalsozialistische Untergrund gewesen ist. Davon ist mit Köln in Köln – Ehrenfeld und Köln – Mülheim zwei Mal das Bundesland Nordrhein – Westfalen betroffen worden.

Wieder tangiert dies politische Verbrechen die öffentliche Sicherheit im Bundesland Nordrhein – Westfalen. Die zuständige Herrin des Verfahrens war und ist die Staatsanwaltschaft in Duisburg. Ohne Ergebnis, das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.

Das Schreiben der Staatsanwaltschaft Duisburg vom 29. Juni 2023, um 09:14 Uhr an meine Person lautet:

Sehr geehrter Bulanik,

vielen Dank für Ihre Anfrage.

Das Ermittlungsverfahren betreffend die Sprengstoffstoffexplosion am Parteibüro „DieLinke“ in Oberhausen wurde nunmehr gemäß § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung eingestellt, da kein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte.

Nach der Durchführung der nachfolgend genannten und umfangreichen Ermittlungen konnten keine weiteren erfolgsversprechenden Ermittlungsansätze erlangt werden:

Die Ermittlungen ergaben, dass an dem Griff an der Eingangstür des Parteibüros ein angebrachter Sprengsatz zur Explosion gebracht wurde. Aufgrund der Wucht der Explosion entstand ein erheblicher Sachschaden an dem Gebäude und den angrenzenden Nebengebäuden. Menschen kamen nicht zu Schaden. Es handelte sich nach Auswertungen des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen um eine Sprengvorrichtung mit Blitzknallsatz. Hinweise auf einen Täter wurden nicht erlangt.

Da Polizeibeamte der in Nähe des Tatorts auf dem Friedensplatz 2-5 gelegenen Polizeiwache Alt-Oberhausen die laustarke Detonation wahrgenommen hatten und im Anschluss aufsteigende Rauchschwaden im Bereich der Elsässer Straße bemerkten, ist unmittelbar nach der Tat eine Nahbereichsfahndung eingeleitet worden, die allerdings erfolglos blieb.

Auf Befragen vermochten weder der Fraktionsvorsitzende der Partei „DieLinke“ in Oberhausen noch ein täglich in dem betroffenen Büro anwesendes Parteimitglied Personen zu benennen, die als Tatverdächtige in Betracht kämen. Nach ihren Bekundungen habe es im Vorfeld des Anschlags weder Drohschreiben noch sonstige Hinweise auf eine solche Tat gegeben. Das Parteibüro sei bislang kein Ziel von Anschlägen oder auch nur Vandalismus gewesen.

Die durchgeführten Anwohnerbefragungen blieben ebenfalls ohne Ergebnis. Durch die Auswertungen der Aufnahmen von diversen Überwachungskameras und anderer Aufzeichnungssysteme im Nahbereich zum Parteibüro konnten keine sachdienlichen Erkenntnisse erlangt werden. Auch ein mittels einer öffentlichen Fahndung ermittelter Zeuge konnte weder sachdienliche Hinweise geben, noch kommt er als möglicher Tatverdächtiger in Betracht.

Die erlangten Verkehrsdaten im Rahmen einer Funkzelle brachten ebenfalls nach polizeilicher Auswertung keine Hinweise, die in einem möglichen Tatzusammenhang zur hiesigen Tat stehen.

Die serologische Untersuchung des am Tatort aufgefundenen Spurenmaterials sowie die daktyloskopische Auswertung der durch das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen ausgewerteten Asservate blieb ebenfalls ohne Ergebnis.

Da keine weiteren Ermittlungsansätze vorlagen, war das Verfahren nach § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung einzustellen.

Für weitere Rückfragen stehen wir Ihnen selbstverständlich gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Marieluise Hepe

Staatsanwältin

Pressesprecherin

Staatsanwaltschaft Duisburg

Koloniestr.72, 47057 Duisburg

Tel.: 0203 9938-810, Fax: 0203 9938-888

E-mail: Marieluise.Hepe@sta-duisburg.nrw.de

Internet: www.sta-duisburg.nrw.de

Hinweis:

Informationen zur Verarbeitung personenbezogener Daten in Rechtssachen finden Sie in dem Informationsblatt zum Datenschutz in Rechtssachen.

Informationen zur Verarbeitung personenbezogener Daten in Angelegenheiten der Justizverwaltung finden Sie in dem Informationsblatt zum Datenschutz.

Es ist evident das Rechtsextremisten, Rechtsterroristen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, innerhalb der Europäischen Union und in Übersee miteinander vernetzt sind. Oftmals sind politische Verbrechen wie Kapitalstraftaten von Rechtsterroristen begangen worden mit nachrichtendienstliche Verbindungspersonen als Mittäterschaft. Das jene welche für dieses politische Verbrechen verantwortlich sind nicht ermittelt worden sind, stellt eine andauernde öffentliche Gefahr dar.

Sie haben bereits die Erfahrung wie es ist solch ein Verbrechen mit einem Sprengsatz zu verüben. Sie könnten sich gestärkt erachten. Darüber hinaus sich enervieren und zu einem späteren Zeitpunkt im Bundesland Nordrhein – Westfalen oder darüber hinaus einen Terroranschlag zu begehen.

Dieses Verbrechen in Oberhausen verjährt erst am 06. Juli 2042. Es bleibt abzuwarten ob zu einem späteren Zeitpunkt die Staatsanwaltschaft Duisburg als Herrin des Verfahrens zu neuen Erkenntnissen gelangen werden wird. Gründe können dafür sein das es unter den politischen Verbrechern zu einem Bruch wegen Geld, Schulden, Alkohol, Drogen, Sexualität, Ausstieg kommt.

Oftmals sind ausländische Sicherheitsorgane leistungsfähiger als die in der Bundesrepublik Deutschland. Doch darauf darf nicht gewartet werden. Die demokratische Zivilgesellschaft darf zu ihrem Schutz proaktiv werden.

Wie das Nutzen des Rechtes auf Versammlung. Das können Demonstrationen sein. Veranstaltungen in den Räumlichkeiten einer Universität oder Volkshochschule zu dem Komplex der Gefahren von Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus. Geschädigte Personen von den politischen Verbrechen wie Kapitalstraftaten durch Rechtsextremisten und Rechtsterroristen können dabei persönlich gesehen und gehört werden.

Der Rechtsextremismus, Rechtsterrorismus ist eine akute, konkrete Gefahr für die natürlichen Personen in ihren Rechtsgütern wie das Recht auf Leben und das Recht auf die körperliche Unversehrtheit, sowie der Demokratie als ganzes

Auch ist es gerechtfertigt seine sakrosankt verbrieften Grundrechte aktiv die Initiative in die eigene Hände zu nehmen. Durch das Schreiben an die kommunale Verwaltung, das Mitglied des Landtages für den eigenen Wahlkreis, an die Obleute des Innenausschusses im Bundestag oder im Landtag, des Mitgliedes des Bundestages für den eigenen Wahlkreis. Wirksam ist es immer in einer Gemeinschaft vorbereitet eine öffentliche Sitzung des Innenausschusses des Landtages zu gehen, um die Obleute vor Ort zu sensibilisieren.

Diese gewählten Personen in den Verfassungsorganen dürfen Anfragen an die jeweilige Regierung stellen. Ob im Landtag oder im Bundestag. Die politischen Verantwortlichen haben sich gegenüber den Menschen in der Gesellschaft als eine wehrhafte Demokratie zu erweisen.

Je aktiver die Menschen im Inland sind, desto mehr wird die Landespolitik, Bundespolitik den Verfolgungsdruck auf die Rechtsextremisten, Rechtsterroristen erhöhen. Was diese dann verstärkt zu spüren bekommen werden.

Die Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit. Diese gilt es zu verteidigen. Bevor es mittels Mord wie an Dr. Walter Lübcke von der Christlichen Demokratischen Union nicht mehr möglich ist.

Vor sämtlichen Wahlen auf der Landesebene, Bundesebene gilt es die demokratischen Parteien auf dieses Wahlkampfthema hinzuweisen. Am Besten via Email. Es ist gratis und demokratisch zugleich.

Auch dringend benötigte Investoren aus demokratisch verfassten Ländern nehmen solche politischen Verbrechen hier zur Kenntnis. Gerade in den digitalisierten Zeiten des Internet. Es gilt die Attraktivität des eigenen Lebensraum hervorzuheben anstelle dies zu schmälern.

Gewiss dürfen alle gegenüber der Politik im Rathaus, Landtag und Bundestag öffentliche Fragen aufgreifen. Gibt es genug personelle Kapazitäten in den Sicherheitsorganen ? Bedarf es eine personelle Aufstockung ? Sind die Beamtinnen und Beamten bei der Polizei, Staatsanwaltschaften, Richterinnen und Richter gut genug geschult ?

Könnte der Austausch von Daten unter den international vernetzten Rechtsextremisten, Rechtsterroristen in der Wirklichkeit optimiert werden ? Sicherheitskooperationen sind das. Auch bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus, Rechtsterrorismus ist die internationale Vernetzung und Kooperation ist die Zusammenarbeit von entscheidender Wirkung.

Das Prinzip der Legalität ist dabei zu bevorzugen. In den Komplexen des innerstaatlichen Handelns muss im Auftrag der Bekämpfung des Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus zusammengehalten werden. Konflikte um die Kompetenzen müssen darin abgebaut werden.

Weil Rechtsextremisten, Rechtsterroristen sich oftmals im Segment der organisierten Kriminalität betätigen sollten insbesondere mit den Mafia Spezialisten aus Italien und den Vereinigten Staaten von Amerika eingebunden werden um von ihnen zu lernen.

Sie erwiesen sich oftmals als leistungsfähig. Über Finanzdelikte kann auch den Rechtsextremisten, Rechtsterroristen Anklagen vor Gericht bevorstehen. Je häufiger Rechtsextremisten, Rechtsterroristen zu langen Straften in Haft verurteilt werden, desto weniger werden die Menschen in der demokratischen Zivilgesellschaft von ihnen geschädigt werden.

Jimmy Bulanik

Nützliche Links im Internet:

Snow – Informer

www.youtube.com/watch?v=TSffz_bl6zo

Talk Talk – Such a shame

www.youtube.com/watch?v=lLdvpFIPReA

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Oben     —   „NRW hat Platz! Refugees welcome!“

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von Redaktion am 30. Juni 2023

Bei Boris Johnson gab es wenigstens Freigetränke

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Boris Johnson sitzt nicht mehr im britischen Parlament. Das sind doch mal good News! Es gibt allerdings auch eine schlechte Nachricht. Boris Johnson deliriert jetzt wieder als Journalist. Allerdings nicht mehr beim noblen Stock-im-Arsch Daily Telegraph, sondern als Kolumnist bei der für etwas schlichtere Gemüter gemachten Daily Mail.

Die Little Britain-Version von Donald Trump ist also erst mal weg aus der direkten Politik. Dass die Konservativen im Vereinigten Königreich nun in Sachen Umgang mit Jour­na­lis­t*in­nen vernünftiger werden, braucht aber keineR zu befürchten. Jüngstes Beispiel ist der Parteitag der Tories, der im Oktober in Manchester stattfinden soll. Wer sich dort als Medienmensch zur Berichterstattung akkreditiert, wird wie bei einem drittklassigen Kongress zur Kasse gebeten. Early Bird kostet 137 Pfund (umgerechnet 160 Euro), ab Ende Juli soll das auf wahnwitzige 880 Pfund (1.220 Euro) steigen.

Und dafür gibt’s nicht mal wie bei Boris Lockdown-Partys in Downing Street Booze for free. Die Gebühren werden vielmehr damit begründet, dass sich bei den Konservativen immer gaaaaanz viele Jour­na­lis­t*in­nen anmelden und dann einfach nicht kommen. Und damit die klamme Parteikasse nicht auf diesen immensen Verwaltungskosten sitzen bleibt, kostet’s jetzt Eintritt. „Kann denn nicht jedes Parteimitglied was Selbstgemachtes von zu Hause fürs Buffet mitbringen“, fragt die Mitbewohnerin. Nur die Pressefreiheit, die muss leider draußen bleiben.

Liebe Tories, dann sagt doch gleich, dass ihr keinen Bock auf Jour­na­lis­t*in­nen habt. Vor allem nicht auf solche, die kritisch berichten und harte Fragen stellen. Die anderen könnt ihr ja für lau einladen, die kommen bestimmt gerne und dann ist am Buffet auch nicht so viel Gedränge. Macht die AfD in Deutschland ja genauso.

Deren Parteitage sind Veranstaltungen privaten Charakters mit entsprechendem Hausrecht. Nasen, die nicht passen, dürfen nicht rein. Und was die Büffetfrage betrifft, hat das FDP-Chef Christian Lindner schon vor Jahren auf den Punkt gebracht. Die AfD sei an Sachdebatten gar nicht interessiert, so Lindner 2017. „Das sind die am Büffet, wenn die anderen über Sachfragen sprechen.“

Quelle        :          TAZ-online            >>>>>           weiterlesen

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Oben     —   Floaters caused by retinal detachments

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Der Glaube an die Medien

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2023

So verlor ich den Glauben an die etablierten Medien

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Helmut Scheben /   Wenn Nachrichten sich später als falsch erweisen, sind sie in der Erinnerung oft schon als «historische Wahrheit» eingebrannt.

Während und nach dem Golfkrieg von 1991 war es den Medien in den USA verboten, Bilder von Särgen toter US-Soldaten zu zeigen. Die Massnahme wurde erst im Februar 2009 aufgehoben. Auch das Filmen toter oder verwundeter US-Soldaten war verboten, und das Verbot wurde vor allem im Irak-Krieg mit extremer Härte durchgesetzt, wie Kameraleute berichteten. Als ich einmal im riesigen Archiv des Schweizer Fernsehens solche Aufnahmen suchte, fand ich eine einzige Sequenz, die etwa drei Sekunden dauerte. Ein amerikanischer Soldat versuchte da, aus einem brennenden Panzer zu klettern.

Drei Sekunden von tausenden Videos, die in diesem Krieg gedreht worden waren. Drei Sekunden, die – wie deutlich erkennbar – auf einen Fehler eines Cutters zurückzuführen waren, der ein IN oder OUT falsch gesetzt hatte, sodass Material sichtbar wurde, welches eigentlich der Zensur hätte anheimfallen sollen.

Szenen einer Niederlage werden seit Vietnam nicht mehr gezeigt. Also gibt es keine Niederlagen mehr, denn die auf zweieinhalb Minuten komprimierten TV-News sind es, die in unseren Köpfen Geschichte schreiben

In seinem Buch «Liberty and the News» konstatierte 1920 der US-amerikanische Journalist und Medientheoretiker Walter Lippmann:

«Die Zeitungsspalten sind öffentliche Informationsträger. Wenn diejenigen, die sie kontrollieren, sich das Recht herausnehmen, zu bestimmen, was zu welchem Zweck berichtet werden soll, dann kommt der demokratische Prozess zum Erliegen.»

(Lippmann S.24) 

Ich hätte mir noch vor ein paar Jahren nicht vorstellen können, dass mein morgendlicher Gang zum Briefkasten, um die Zeitungen zu holen, begleitet sei von einem leisen Kontrapunkt aus Widerwillen und Langeweile. Ich habe gern zum Morgenkaffee Papier in der Hand, statt auf einen Bildschirm zu schauen. Die Lektüre nimmt indessen von Jahr zu Jahr weniger Zeit in Anspruch. Das liegt zum einen daran, dass viele Themen mich nicht mehr interessieren, zum Beispiel die ewige Seifenoper britischer Royals, die täglich obligatorischen LGBTQ-Probleme, die Me-Too-Befindlichkeit von Groupies bei Rockkonzerten oder parlamentarische Untersuchungen, die herausfinden sollen, warum im Finanzkasino Banken an die Wand fahren.

Die wirklichen Probleme der meisten Menschen, der Krieg in der Ukraine, der eskalierende Konflikt zwischen USA und China, also Vorgänge, die das Leben von Millionen Steuerzahlenden derzeit verändern und künftige Generationen belasten (Aufrüstung, Inflation, Energiepolitik, Sanktionspolitik, Asylwesen etc.) werden aber in unseren führenden Medien mit einem derart reduzierten Blickwinkel dargestellt, dass es mich fassungslos macht. Die Realitätsverweigerung erfolgt mit einer an Tollwut grenzenden Selbstverständlichkeit.

Von 100 Artikeln gibt es keine 5 aus der Sicht der anderen Kriegspartei

Ich habe mir die Mühe gemacht, als Beispiel den Zürcher Tages-Anzeiger, den ich abonniert habe, auf Einseitigkeit zu prüfen. Vom Angriff Russlands im Februar 2022 bis zum Jahresende 2022 habe ich rund einhundert Artikel angeschaut, die direkt vom Ukraine-Krieg handeln.  Beim hundertsten Bericht war ich erschöpft von immer dem Gleichen. Fast alle schildern das Leid und das Heldentum der Westukraine in dem russischen Angriffskrieg und – in schrillen Farben – die Verbrechen Russlands.

Kenner von Waffensystemen und Geostrategie repetieren unaufhörlich, warum Russland besiegt werden muss, und die Investigativen kennen kaum mehr anderes als die Jagd nach irgendeinem Russen oder einer Russin, denen man noch das Vermögen enteignen könnte.

Auf hundert Artikel habe ich keine fünf gefunden, die informierten, was auf der anderen Seite der Front passiert. Das Leid der pro-russischen Ukrainer unter den Raketenangriffen und dem Artilleriefeuer der pro-westlichen Ukrainer ist keiner Erwähnung wert. Die Menschen hinter der Frontlinie scheinen für unsere grossen Medien nicht zu existieren. Berichtet wird ausschliesslich mit der Optik der NATO, also mit der Optik einer Rüstungs-Lobby, die weltweit als Brecheisen der Ordnungsmacht USA funktioniert.

Die Einseitigkeit der Berichte entspringt der Einseitigkeit der Quellen. Neben dem unausweichlichen britischen Geheimdienst (ob 007 mitarbeitet, bleibt bisher im Dunkel) sind die täglichen Quellen unserer «Benachrichtigung»:  Präsident Selensky und seine Entourage in Kiew sowie seine Freunde in Brüssel, London, Washington und die zugehörigen Experten und NATO-Denkfabriken. Die Russen erscheinen hauptsächlich als Verbrecher, die ihre Verbrechen leugnen.

Und wenn ein Damm bricht, der russische Verteidigungsstellungen und ein von Russland besetztes Gebiet weitgehend überschwemmt, dann finden alle deutschen Talkshows, aber auch das Schweizer Radiomagazin «Echo der Zeit», unverzüglich Experten, die wissen, dass es die Russen waren, die den Damm zerstörten. Wie es auch die Russen sind, die sich selbst in dem Atomkraftwerk beschiessen, welches sie besetzt halten. «Tis the times‘ plague, when madmen lead the blind«, heisst es bei Shakespeare im King Lear.

In den Jahren vor dem russischen Angriff registrierten die OECD-Beobachter täglich Detonationen der Artillerie, im Februar 2022 schliesslich hunderte Explosionen pro Tag. Weit mehr als zehntausend Tote haben die Kämpfe in der Ostukraine zwischen 2014 und 2022 gefordert. Dieser Krieg hat also nicht im Februar 2022 begonnen.

Haben unsere Zeitungen darüber berichtet? Sie haben es weitgehend unter den Teppich gekehrt. Sie sehen nur, was sie schon wissen. Das heisst: Sie wissen immer schon, was sie sehen werden. Also das, was ich jeden Morgen in den Zeitungen lesen kann. Und somit das, was ich nicht mehr lesen muss, weil ich schon weiss, was es ist, bevor ich die Zeitung aufschlage.

«Lasst euch nicht von den eigenen täuschen»

Im Herbst 1983 demonstrierten mehr als eine Million Menschen überall in der Bundesrepublik Deutschland gegen die Stationierung von Atombomben. Auch in mehreren Ländern, die Mitglieder der NATO waren, widersetzte sich eine Mehrheit der Menschen der weiteren atomaren Aufrüstung, denn es war klar, dass das vielbeschworene «Gleichgewicht des Schreckens» durch die britischen und französischen A-Bomben längst garantiert war. Bei der Debatte im Bundestag sagte Oppositionsführer Willy Brandt, seine Partei, die SPD, werde mit Protestbriefen zugeschüttet:

«Das sind Deutsche West und Deutsche Ost, das sind Europäer und Amerikaner, das sind Mütter und Väter, Grossmütter und Grossväter, Arbeiter und Unternehmer, Künstler und Soldaten, Hausfrauen, Rentner, und es sind Naturwissenschafter und Ingenieure aller akademischen Grade. Ich frage mich, wem es guttut, wenn das Engagement und der versammelte Sachverstand dieser Mitbürgerinnen und Mitbürger mit der ganzen Arroganz der Macht in den Abfall geräumt wird.»

Die FDP-CDU-Mehrheit des deutschen Parlamentes wählte für Volkes Stimme den Abfallkübel und beschloss die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen. Diese wurden zwar im Rahmen eines Abrüstungsabkommens abgeschafft, gleichwohl lagern im Fliegerhorst Büchel in der Eifel heute US-amerikanische Atomsprengköpfe. Deutsche Luftwaffenpiloten trainieren deren Einsatz im Rahmen der sogenannten «nuklearen Teilhabe». Es ist kein militärisches Geheimnis, dass Russland stets das Hauptangriffsziel war und nach wie vor ist.

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Im selben Jahr 1983 erscheint Christa Wolfs Buch «Kassandra», ein Text über eine Seherin, die vor ihrem Tod über den Untergang ihrer Heimat Troja nachdenkt:

«Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da? Da stünde unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den eigenen täuschen.»

Ich habe mich von den eigenen täuschen lassen, aber es hat lange gedauert, bis ich dessen gewahr wurde. Die «Süddeutsche», die «Frankfurter Rundschau», die «Neue Zürcher», der «Spiegel» und andere Blätter, das waren meine Leitmedien, als ich Journalismus lernte.

Die grossen Medien, sowohl die gebührenfinanzierten wie die der privaten Konzerne, haben in allen Kriegen, die ich beobachten konnte, krachend versagt. Ihre Aufgabe wäre gewesen, das Handeln der Regierungen in Frage zu stellen, aber sie haben sich in vielen Fällen als Lautsprecher der Regierungs-Propaganda und als Kriegstreiber in ungerechtfertigten und sinnlosen Kriegen erwiesen.

Die Balkankriege öffneten die Büchse der Pandora

Meine erste grosse Berufskrise kam, wenn ich mich recht erinnere, während der Balkankriege. Ich fand nachts keinen Schlaf mehr, als ich merkte, dass da das Blaue vom Himmel herunter gelogen wurde. Tuzla war damals mein Schlüsselerlebnis. Die Stadt in Bosnien war 1993 als Schutzzone definiert worden. Blauhelme waren dort stationiert. Die bosnisch-moslemische Bevölkerung sollte vor serbischen Angriffen geschützt werden. Die serbische Artillerie schoss aber gleichwohl auf die Stadt. Diese Angriffe waren Monate lang tägliche Meldung in den Radionachrichten. Die westlichen Medien flossen über vor Empörung über den Beschuss der «Safe Area».

Ich fiel aus den Wolken, als mir 1995 Blauhelm-Soldaten sagten: «Die Serben schiessen zwar manchmal da rein, aber die Artillerie in Tuzla schiesst auch jede Nacht raus auf die umliegenden serbischen Dörfer.»

Tuzla wurde bei Nacht und Nebel von den USA mit Waffen versorgt. Es gab dort militärische Sperrgebiete, wo UN-Einheiten der Zutritt verwehrt wurde. Dieselbe Regierung in Washington, die nach aussen hin die Rolle des «honest broker» spielte, um ein Ende des Krieges zu erreichen, organisierte im Geheimen sogenannte «black flights», um das bosniakische Militär aufzurüsten.

Als ein norwegischer Blauhelm-Offizier dies 1995 bemerkte und publik machte, bekam er den Befehl zu schweigen und wurde strafversetzt. Der britische Sender ITN/Channel 4 hatte einen Beitrag über die Sache gedreht, den ich für ein Magazin des SRG-Programms Schweiz 4 übernahm.

Meine Versuche, Schweizer Medien auf die Enthüllungen aufmerksam zu machen, stiessen auf Indifferenz. In Bosnien wie auch im Kosovo bestimmte die NATO, was man wissen durfte und was nicht. Carla Del Ponte, Chefanklägerin in Den Haag, beklagte sich später, dass sie mit ihrer Bitte um Einsicht in die Geheim-Operationen der NATO gegen eine Wand lief.

Erst viel später erfuhr ich, dass führende PR-Agenturen der USA damals die Presse mit Schauergeschichten über serbische Konzentrationslager und Holocaust-Pläne fütterten, welche ein gigantischer Medienapparat in Sekundenschnelle um die Welt jagte. Die Politikwissenschafter Jörg Becker und Mira Beham haben in ihrer Studie «Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod» in US-Archiven weit über hundert solcher PR-Verträge nachgewiesen. Der Auftrag hiess, die Serben als Täter und die andern als Opfer darzustellen. James Harff, Chef der PR-Agentur Ruder Finn, beschrieb seinen Job folgendermassen:

«Unser Handwerk besteht darin, Nachrichten auszustreuen, sie so schnell wie möglich in Umlauf zu bringen (…) Die Schnelligkeit ist entscheidend. Denn wir wissen genau, dass die erste Nachricht von Bedeutung ist. Ein Dementi hat keine Wirkung mehr.»

Mira Beham: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. 1996. S.172 ff.

PR-Agenturen liefern die Argumente für Krieg und Tod

Harff zeigte gegenüber Jacques Merlino, einem stellvertretenden Chefredaktor von France 2, einen gewissen Berufsstolz, wenn er in aller Offenheit beschrieb, wie seine Agentur «mit einem grossartigen Bluff» ihren Auftrag erledigte, indem sie drei mächtige jüdische Lobby-Organisationen der USA dazu brachte, in Inseraten in der «New York Times» vor einem drohenden Holocaust auf dem Balkan zu warnen.

«Mit einem Schachzug konnten wir die Sache vereinfachen und sie darstellen als Geschichte von den guten und den bösen Jungs (…) Und wir haben gewonnen, denn wir haben das richtige Ziel ausgewählt, das jüdische Publikum (targeting Jewish audience). Sofort stellte sich eine bemerkbare Veränderung des Sprachgebrauchs in den Medien ein, begleitet von der Verwendung solcher Begriffe, die eine starke emotionale Aufladung hatten, wie etwa ethnische Säuberung, Konzentrationslager und so weiter, und all das evoziert einen Vergleich mit Nazi-Deutschland, Gaskammern und Auschwitz. Die emotionale Aufladung war so mächtig, dass niemand wagte, dem zu widersprechen.»

Der deutsche Aussenminister Joschka Fischer tourte folgerichtig mit der Parole «Nie wieder Auschwitz» durch Europa und sein Verteidigungsminister Scharping brachte unters Volk, man wisse, dass die Serben «mit den abgeschnittenen Köpfen ihrer Feinde Fussball spielen.» Ein Foto, das als Beweis der serbischen Gräuel und als Argument für den NATO-Angriffskrieg um die Welt ging, zeigte einen entsetzlich abgemagerten Mann mit nacktem Oberkörper hinter Stacheldraht. Es erinnerte an die Fotos von deutschen Vernichtungslagern 1945. Die Aufnahme war – wie später nachgewiesen wurde – eine Fälschung. Das fragliche Flüchtlingszentrum Trnopolje war damals weder durch einen Stacheldrahtzaun abgesperrt noch gab es dort halb verhungerte Menschen.

Nichts hat sich geändert. Der Krieg generiert die ewig gleichen Propagandamittel. Ein in der Ukraine lebender «Schriftsteller aus Ostdeutschland» namens Christoph Brumme schrieb 2022 in der «NZZ am Sonntag» ein regelmässiges «Tagebuch», in dem er unter anderem vorhersagte, die Russen würden in der Ukraine Konzentrationslager einrichten und Putin sei ein zweiter Hitler. Er sei vermutlich schwer krank und werde mit einer Atombombe seinen Suizid inszenieren. Und dergleichen mehr.

Schon im Golfkrieg von 1991 war die Kategorie der «eingebetteten Journalisten» entstanden, und es gibt wohl kaum einen Begriff, der besser umschreibt, wie dieser Beruf zu einer Art Prostitution verkommen kann. Der US-Journalist John R. MacArthur hat in seiner Studie «Second Front: Censorship and propaganda in the 1991 Gulf War» (auf Deutsch bei dtv «Die Schlacht der Lügen») gezeigt, wie die Medien an der Leine geführt und wie die Öffentlichkeit getäuscht wurde.

Die Symbiose der grossen Medien und ihrer Regierungen wurde nach dem Anschlag von 9/11 vollends zur Selbstverständlichkeit. Dieser wurde als Angriff einer feindlichen Macht definiert und in dieser Logik erst Afghanistan, dann der Irak angegriffen. Weltweit wurde ein «Krieg gegen den Terror» begonnen, und da man einmal am Aufräumen war, wurden «by the way» auch in Libyen und Syrien «unterdrückte Völker befreit». Die Resultate sind in all diesen Ländern zu besichtigen.

Der renommierte Wissenschaftsjournalist und Friedensaktivist Norman Cousins hatte der ideologischen Mission der Supermacht USA schon 1987 einen Namen gegeben: «The Pathology of Power».

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Autor Helmut Scheben

Helmut Scheben (*1947 in Koblenz, Deutschland) studierte Romanistik in Mainz, Bonn, Salamanca und Lima. 1980 promovierte er zum Doktor phil. an der Universität Bonn. Von 1980 bis 1985 war er als Presseagentur-Reporter und Korrespondent für Printmedien in Mexiko und Zentralamerika tätig. Ab 1986 war er Redaktor der Wochenzeitung (WoZ) in Zürich, von 1993 bis 2012 Redaktor und Reporter im Schweizer Fernsehen SRF, davon 16 Jahre in der Tagesschau.

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Eine erfundene Vergewaltigungs-Story in Libyen 

Mir ist unverständlich, wie Journalisten, die so oft von Regierungen belogen wurden, weiterhin die politischen Vorgaben von oben weiterverbreiten, als wären es die Tafeln der Zehn Gebote. Im Juni 2011 sagte US-Aussenministerin Hillary Clinton vor laufenden Kameras, sie habe jetzt den Beweis, dass der libysche Herrscher Muammar al-Gaddafi «systematische Vergewaltigung» als Strategie einsetze. Zu diesem Zeitpunkt herrschte Bürgerkrieg in Libyen. Die libysche Armee versuchte, einen Aufstand niederzuschlagen, der im Sog des sogenannten «arabischen Frühlings» seit Februar 2011 eskalierte. Die USA und ihre NATO-Verbündeten bombardierten seit März 2011 das Land, um – so die offizielle Argumentation – dem von Gaddafi unterdrückten libyschen Volk zu helfen und «eine Flugverbotszone durchzusetzen».

Als lebender Beweis für den Vorwurf der Vergewaltigungen galt eine Libyerin namens Eman-al Obeidi. Die Frau hatte sich am 26. März 2011 Zugang zum Luxus-Hotel Rixos Al Nasr in Tripolis verschafft. Hotelpersonal und Security-Leute versuchten zu verhindern, dass sie Kontakt mit den Journalisten aufnahm, die dort beim Frühstück sassen. Die Frau schrie, sie sei drei Tage zuvor von Milizionären Gaddafis an einem Checkpoint entführt und vergewaltigt worden.

Der libysche Regierungssprecher Musa Ibrahim erklärte später, man habe Frau Obeidi zunächst für alkoholisiert und psychisch gestört gehalten. Dann habe man festgestellt, dass ihre Angaben glaubwürdig seien. Der Fall sei in den Händen der Justiz. Es handele sich um gewöhnliche Kriminalität und nicht um ein politisches Verbrechen.

Frau Obeidi wurde von CNN und zahlreichen anderen Medien interviewt. Sie figurierte als Beweis für die Verruchtheit des libyschen Staatsoberhauptes Gaddafi. Dabei schien den grossen Medien kaum erwähnenswert, dass libysche Ärzte die Frau betreut hatten, die Vergewaltigung bestätigt hatten und die libysche Polizei kurz darauf Tatverdächtige festgenommen hatte.

In einem Büro von Amnesty International in Zürich fragte ich 2011, was an den Vorwürfen dran sei. Ich erhielt die Auskunft, Amnesty habe mehrere Monate lang in Libyen ermittelt und keine Bestätigung für den Vorwurf der Massenvergewaltigung gefunden. Auch der Sprecher der libyschen Organisation «Human Rights Solidarity Libya», die den Aufständischen nahestand, sagte mir am Telefon: «Wir haben keine Beweise. Der einzige konkrete Fall ist der von Frau Obeidi.»

Der Mist war indessen gefahren und die Story erfuhr eine geradezu rasende Proliferation in praktisch sämtlichen westlichen Medien. Meine Google-Suche am Sonntag, 20. Juli 2011, zeigte 21 Millionen Ergebnisse. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, Luis Moreno Ocampo, lieferte ein vorzügliches Schmiermittel für den Medien-Apparat mit der Bemerkung, er habe tatsächlich «Informationen» über Massenvergewaltigungen. Auf die Frage eines Journalisten, was er von Berichten halte, Gaddafi lasse Viagra importieren, damit seine Soldaten vergewaltigen könnten, entgegnete der Chefankläger nicht etwa: «Lassen Sie mich mit solchem Blödsinn in Ruhe». Er sagte stattdessen den perfiden Satz, man sammle noch Beweise: «Yes, we are still collecting evidence.»

Das Phantasie-Gebilde wucherte wochenlang weiter. Die Schweizer Zeitung «Le Matin» trieb das kreative Story-Telling bis zu der Foto-Abbildung eines King Size Bettes samt Lampe und Nachttisch: angeblich ein Raum in einem unterirdischen Bunker, wo dem Blatt zufolge Gaddafi seine weiblichen Opfer missbrauchte. Ich habe in dieser Zeit keinen Journalisten getroffen, der sagte, er schäme sich dafür, dass er durch seine Berufswahl zu dieser Branche gehöre.

«Atrocity Management» ist so alt wie der Krieg selbst.

Die Verteufelung des Feindes ist ein bewährtes Instrument, welches so alt ist wie der Krieg selbst.

Der Historiker Gerhard Paul hat in seinem Standardwerk «Bilder des Krieges, Krieg der Bilder» anhand von über 200 Abbildungen dargestellt, wie die modernen Bildmedien den Krieg als Ikonographie in der kollektiven Erinnerung einbrannten. Dabei geht laut Gerhard Paul die Wirklichkeit in gleichem Mass verloren wie die Bilder perfektioniert und standardisiert werden.

Medienwirksam sind stets Verbrechen an Kindern. Das geht von der kuwaitischen «Pflegerin Najirah», die vor einem Menschenrechtskomitee des US-Kongresses sagte, sie habe gesehen, wie irakische Soldaten Brutkasten-Babies die Schläuche herausrissen, was sich später als eine Erfindung der PR-Agentur Hill & Knowlton erwies, bis zur Menschenrechtsbeauftragen Denissowa in Kiew, die im Juni 2022 ihren Job verlor, weil klar geworden war, dass sie Lügen verbreitet hatte. Darunter die Behauptung, sie habe Beweise, dass russische Soldaten Kleinkinder vergewaltigten.

Die Darstellung des Feindes als bestialisches Ungeheuer scheint unvermeidbares Stereotyp der Kriegspropaganda. Im Ersten Weltkrieg war die Story, deutsche Soldaten hätten einer belgischen Frau ihr Baby entrissen, diesem die Hände abgehackt und selbige dann verspeist, ein Dauerbrenner in der französischen und britischen Presse.

Wenn der Feind ein Ungeheuer ist, welches das Böse an sich verkörpert, sind Kriege leichter zu rechtfertigen. Ich habe in mehr als vierzig Jahren journalistischer Arbeit feststellen müssen, dass die grossen Medien solche Propaganda-Erzählungen meist unkritisch verbreiten und erst sehr spät oder nie bereit sind, ihre Fehler einzugestehen. Die «New York Times», die bei ihren Leserinnen und Lesern für die Falschinformation rund um den Irak-Krieg um Vergebung bat, ist der einzige mir bekannte Fall.

In 19 Arbeitsjahren beim Schweizer Fernsehen SRF ist mir kein Fall bekannt geworden, in dem eine Sendung sich für falsche Nachrichten entschuldigt hätte. Mit Ausnahme der Sendung Meteo, wenn die Wetterprognose falsch war.

2011 machte ich Amnesty International Schweiz darauf aufmerksam, dass es keine Fernsehbilder von den Zerstörungen der NATO-Luftangriffe in Libyen gab. Die Fernsehstudios der libyschen Regierung waren in der ersten Angriffswelle in Schutt und Asche gelegt worden. Die NATO-Kommandozentrale in Neapel konnte dadurch verhindern, dass emotionale Bilder von Opfern, die aus den Trümmern gezogen wurden, auf westlichen TV-Kanälen zu sehen waren. Das Problem war den grossen Medien nicht aufgefallen, oder sie haben es ignoriert.

Der Amnesty-Sprecher erwiderte mir damals, diese Einseitigkeit der Darstellung mache ihnen ebenfalls grosse Sorgen. Als ich abends mit dem Cutter am Schnittplatz den Beitrag für die Tagesschau fertiggestellt hatte, sagte der Tages-Chef bei der Abnahme, dieser Satz des Amnesty-Sprechers müsse raus aus dem Beitrag. Auf meine Frage nach der Begründung hiess es:  «Sonst könnten die Zuschauer ja denken, Gaddafi sei gar nicht so bös und am Ende noch im Recht.»

Eine neue Epoche der Zensur ist angebrochen

Die Konzernmedien und die gebührenfinanzierten Anstalten dominieren den Nachrichtenmarkt. Sie behaupten alle von sich, sie seien die Vierte Gewalt, die den Mächtigen auf die Finger schaue, und dadurch werde Demokratie erst ermöglicht. Meine Erfahrung ist: Sie sind viel mehr Gläubige in einer Art von Religionsgemeinschaft, die sich als Achse des Guten sieht. Wer ihre Weltsicht nicht teilen will, der wird totgeschwiegen, diffamiert oder schlicht verboten.

In diesem Sinne arbeiten die Regierungen und ihre zugewandten Medien effizient. Die 27 Länder der Europäischen Union haben die russischen Nachrichtensender RT und Sputnik verboten. Wer sie verbreitet oder empfängt, zahlt in Österreich sogar bis zu 50’000 Euro Strafe. So einfach glaubt man, die Meinungs-Einfalt durchsetzen zu können. Protest oder Kritik aus den grossen Redaktionen der Vierten Gewalt? Null.

Während in russischen Talkshows und in den russischen Social Media mit erstaunlicher Härte immer wieder kontrovers über diesen Krieg diskutiert wird, versuchen westliche Medien uns mit obsessiver Emsigkeit einzutrichtern, dass in Russland jeder eingesperrt wird, der etwas gegen diesen Krieg sagt. «Zehn Jahre Gefängnis fürs Denken» titelt die Neue Zürcher Zeitung (6. Juni 2023).

In Kiew sind oppositionelle Medien schlicht verboten. Muss man darüber berichten? Offensichtlich nicht. Das wird dann beiläufig, quasi als abschweifender Schlenker, in acht Wörtern abgehandelt: «Seit Kriegsbeginn zeigen die ukrainischen Sender ein Gemeinschaftsprogramm» (Zürcher Tagesanzeiger, 28. Juli 2022). Gemeinschaftsprogramm? Das tönt schon fast wie gemeinnützige Arbeit.

Das Verschweigen hat System. Nirgends wird das so sichtbar wie in dem Stillschweigen, welches unsere führenden Medien über die um sich greifende Zensur der Social Media bewahren. Wenige Wochen nachdem die EU die russischen Sender verboten hatte, kündigte Google an, weltweit alle mit Russland verbundenen Medien zu blockieren. Wie so oft bei Big Tech kam der Druck angeblich von der eigenen Belegschaft: «Mitarbeiter von Google hatten YouTube gedrängt, zusätzliche Strafmassnahmen gegen russische Kanäle zu ergreifen.»

Millionen von Beiträgen verschwinden von der Plattform. Der Investigativ-Journalist Glenn Greenwald, der an den Enthüllungen von Edward Snowden beteiligt war, hat auf diese extreme Zensurkampagne und die Dollarmilliarden hingewiesen, die dabei eine Rolle spielen:

«Es ist wenig überraschend, dass die Monopole des Silikon Valley ihre Zensurmacht in voller Übereinstimmung mit den aussenpolitischen Interessen der US-Regierung ausüben. Viele der wichtigsten Tech-Monopole – wie Google und Amazon – bemühen sich routinemässig um äusserst lukrative Verträge mit dem US-Sicherheitsapparat, einschliesslich der CIA und der NSA, und erhalten diese auch. Ihre Top-Manager unterhalten enge Beziehungen zu Spitzenvertretern der Demokratischen Partei. Und die Demokraten im Kongress haben wiederholt Führungskräfte aus der Tech-Branche vor ihre verschiedenen Ausschüsse zitiert , um ihnen mit rechtlichen und regulatorischen Repressalien zu drohen, falls sie die Zensur nicht stärker an die politischen Ziele und Interessen der Partei anpassen.»

Wer die Twitter Files liest, der weiss, wie das System funktioniert. Eine diskrete Intervention des FBI kann bewirken, dass führende Medien politisch heikle Themen solange auf Eis legen, bis die «Gefahr», in dem Fall eine Wahlniederlage des Kandidaten Joe Biden, gebannt ist.

Was mich damals schockierte und auch heute fassungslos macht, ist das Kesseltreiben, das von einer Medienmeute reflexartig in Gang gesetzt wird, wenn einige wenige es wagen, gegen den Strom zu schwimmen und die veröffentlichte Meinung in Frage zu stellen. Die Politologin Mira Beham hatte mir gesagt, sie habe in der «Süddeutschen Zeitung» Schreibverbot bekommen, weil sie zu argumentieren wagte, in den Balkankonflikten komme man nicht weiter mit dem Täter-Opfer-Schema, die Sache sei komplexer. Heutzutage verliert ein renommierter Journalist wie Patrick Baab seinen Lehrauftrag an der Universität Kiel, wenn er es wagt, aus dem Donbass «von der falschen Seite der Front» zu berichten.

Orwells dystopische Vision des «Newspeak» und der «Wahrheitsministerien» ist auf dem besten Weg, Realität zu werden. Wir erleben in dieser Hinsicht tatsächlich eine Zeitenwende, wenn auch der deutsche Kanzler etwas anderes meinte, als er den Begriff gebrauchte.

Das Wort Lügenpresse trifft die Sache nicht

Der Medien-Wissenschafter Uwe Krüger hat dokumentiert, dass die meisten Alphatiere der etablierten Medien Mitglieder in NATO- und US-affinen Institutionen sind. Natürlich gibt es den Faktor Zwang und Anpassung, etwa die bekannte Tatsache, dass im Axel Springer Verlag («Bild», «Die Welt») jeder Mitarbeiter den Statuten zustimmen muss, die die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität mit den USA einfordern.

Gleichwohl sollte man vorsichtig sein mit dem Schmähwort «Lügenpresse». Die Sache ist unendlich komplizierter. Da ist zum einen, was die News-Gefässe angeht, ein System, das auf Verkürzung und überhöhten Drehzahlen beruht. Der Philosoph Paul Virilio sprach von einer «Industrie des Vergessens», die mit neuen Nachrichten unaufhörlich zuschüttet, was eben noch gemeldet wurde. Ein Nachrichten-Apparat, der stark zerkleinerte Bruchstücke von Ereignissen produziert, kann keine Zusammenhänge und Hintergründe liefern, selbst wenn wohlgesinnte Journalistinnen und Journalisten dies wollten.

Und sie wollen es. Ich habe in meinem ganzen Leben kaum Medienleute getroffen, die fälschen oder unredlich berichten wollten. Die Leute lügen nicht, sondern sie sind meist überzeugt von dem, was sie sagen und schreiben. Sie sind in ihrer ganzen Lebensgeschichte, in ihrer Ausbildung und in ihren sozialen Kontakten geprägt und eingebunden in der Weltsicht ihrer Umgebung.

Da ist dieser «riesige Brocken Wahrheit», den der israelische Historiker Shlomo Sand «implantiertes Gedächtnis» nannte: 

«Wir alle werden in ein Universum von Diskursfeldern hineingeboren, das die ideologischen Machtkämpfe früherer Generationen geformt haben. Noch ehe sich der Geschichtswissenschaftler das Rüstzeug zu einer kritischen Hinterfragung aneignen kann, formen all die Geschichts-, Politik- und Bibelstunden in der Schule, die Nationalfeiertage, Gedenktage, öffentlichen Zeremonien, Strassennamen, Mahnmale, Fernsehserien und sonstige Erinnerungssphären seine Vorstellungswelt. In seinem Kopf liegt ein riesiger Brocken ‹Wahrheit›, den er nicht einfach umgehen kann.» 

Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. S. 40

Das Problem einer Branche, die unter dem Namen Journalismus der täglichen Wahrheitsfindung dienen soll, ist jedem Zauberkünstler und Taschenspieler geläufig: Wahrnehmung wird nicht von tatsächlichen Ereignissen bestimmt, sondern von Erwartungshaltungen. Von einem riesigen Brocken «Wahrheit».

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Dieser Beitrag erschien am 13. Juni auf GlobalBridge.

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Frankreich tut weh

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2023

Polizist tötet Jugendlichen in Nanterre

Aus Paris von Rudolf Balmer

Im Pariser Vorort Nanterre hat ein Polizist einen Jugendlichen erschossen – schon wieder. Dieses Mal meldet sich auch Fußballstar Kylian Mbappé zu Wort.

Im Pariser Vorort Nanterre hat am Dienstagvormittag ein Verkehrs­polizist einen Jugendlichen im Verlauf einer Kontrolle mit seiner Dienstwaffe tödlich verletzt. Der 17-Jährige am Lenkrad eines Pkw habe versucht, sich einer polizeilichen Überprüfung seiner Papiere zu entziehen, und damit die beiden Beamten in Gefahr gebracht. Darum habe der Polizist zu seiner Verteidigung „in angemessener Weise“ reagiert, lautete dazu die erste offizielle Version. Suggeriert wurde damit, dass der Polizist zu seiner eigenen Verteidigung geschossen habe oder schießen musste.

Auf Druck der Polizeiverbände wurde 2016 der Waffeneinsatz gelockert. In der Folge haben die tödlichen Zwischenfälle sprunghaft zugenommen

Doch die Zweifel an dieser Notwehrthese sind erheblich: Im Internet war wenig später ein Video der Kontrolle zu sehen. Darauf ist deutlich zu erkennen, wie einer der Polizisten neben dem gestoppten gelben Mercedes den Fahrer mit seiner Pistole bedroht. Trotz des Verkehrslärms ist zu hören, wie einer der beiden Beamten unter anderem schreit: „Du bekommst eine Kugel in den Kopf!“ Daraufhin setzt sich das Fahrzeug im Schritttempo in Bewegung, und der verhängnisvolle Schuss fällt, der Wagen rollt noch ein paar Meter weiter, bis er an ein Verkehrsschild prallt. Der in der Herzgegend verletzte Jugendliche starb wenige Minuten später nach vergeblichen Wiederbelebungsbemühungen der Sanitäter einer Ambulanz.

Während Politiker des rechtspopulistischen Rassemblement national und der konservativen Partei Les Républicains sogleich das Vorgehen der Polizei in Nanterre verteidigten und deren Recht auf eine besondere Unschuldsvermutung in ihrem gefährlichen Kampf gegen Verbrecher unterstreichen, kommt von links scharfe Kritik an einer längst notorischen Polizeigewalt und dem laxen Umgang mit ihr von vorgesetzten Stellen und der Justiz.

Auf Druck der Polizeiverbände wurde 2016 der Waffeneinsatz gelockert. In der Folge haben die tödlichen Zwischenfälle sprunghaft zugenommen. Allein im Jahr 2022 sind 13 Personen von Polizisten getötet worden, weil sie sich angeblich der Kontrolle und einer eventuellen Festnahme entziehen wollten. Nur gegen fünf Beamte wurden Ermittlungen eingeleitet.

„Diese Situation ist unerträglich.“

Da sich diese Tragödien vor allem in konfliktreichen Außenquartieren ereignen und die Todesopfer meistens Jugendliche mit Migrationshintergrund sind, ist in Anspielung an den emblematischen Fall George Floyd von einer „Amerikanisierung der französischen Polizei“ die Rede. Der Fußballstar Kylian Mbappé, der sich früher schon zum Thema Polizeigewalt geäußert hatte, erklärte auf Twitter: „Mein Frankreich tut mir weh, diese Situation ist unerträglich.“

Ausnahmsweise hat sich diesmal nun selbst Innenminister Gérald Darmanin, der sich sonst immer hinter seine Polizisten stellt, entsetzt geäußert: Die Bilder auf dem fraglichen Video seien „extrem schockierend“ und könnten „eine solche Reaktion (des Polizeibeamten) keinesfalls rechtfertigen“, sagte er vor Abgeordneten der Nationalversammlung.

Quelle       :           TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben     —       Gare de Nanterre-Préfecture, Nanterre.

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Das eingehegte Denken

Erstellt von Redaktion am 28. Juni 2023

Die Entwicklung der Grünen

Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Eine globale Ethik der Gerechtigkeit hat bei den Grünen keine Heimat mehr. Notwendig ist eine politisch-philosophische Gegenkultur.

Was ist Gewalt – und für wen? Was ist Sicherheit – und vor wem? Antworten darauf sind für ein emanzipatorisches Denken essenziell. Und an den Antworten scheiden sich Weltentwürfe.

Es gibt Gründe, darüber gerade in diesen Tagen zu schreiben. Denn mir ist, als befände ich mich in einem sich ständig verkleinernden Raum. Die Wände rücken auf mich zu. Ich weiß, ich bin falsch in diesem Raum, es ist ein falscher Ort, aber ich scheine dort hineinzugehören, so sieht das Script es vor. Ich bin unentrinnbar Teil eines sich verengenden, verhärtenden, aufrüstenden Europas, und meine Hilflosigkeit schützt nicht davor, mitschuldig zu werden. Denn für das Kind in einem Grenzgefängnis ist mein Widerwille bedeutungslos.

„Nicht in meinem Namen!“, zu rufen, hätte nur Berechtigung, wenn es eine geistige, eine politisch-philosophische Gegenkultur gäbe, die sich der aufgezwungenen Versicherheitlichung unseres Lebens widersetzt. Doch scheint das Gespür für die ethische Unerträglichkeit bestimmter Verhältnisse verloren gegangen zu sein und damit die Voraussetzung, über diese Verhältnisse hinaus zu denken.

Die Entwicklung, welche die Grünen genommen haben (und lange zuvor die Sozialdemokratie), hat zur Folge, dass radikal fortschrittliche Politik in essentiellen Fragen keine organisierte Stimme mehr hat. Kompromissloser Schutz von Menschenrechten, eine universalistische Ethik der Gerechtigkeit und die Überzeugung: „Eine andere Welt ist möglich“, haben bei den Grünen keine Heimat mehr.

Wo bleibt die Rebellion auf der Straße?

Dieser Zustand verlangt nach einer ungebärdigen außerparlamentarischen Opposition, gerade zu den Anliegen einer globalen Ethik, wozu Klimaschutz ebenso wie der Schutz Geflüchteter gehören. Das grüne Führungspersonal scheint gar nicht mehr zu begreifen, dass es andere Auffassungen dessen gibt, was politisch ist, etwa bei der Letzten Generation: Stören wollen, provozieren, irritieren, den kapitalistischen Lebensalltag unterbrechen.

Dabei lehrt alle Erfahrung, wie der politische Betrieb von außen her zu beeinflussen ist; der Aufstieg der Grünen wäre anders gar nicht vorstellbar. Heute sind sie indes eine Kraft der Disziplinierung, der Einhegung geworden, der Betäubung und Verbravung des Denkens. Während sich andere verzweifelt ans Pflaster kleben, sind die Grünen mit den herrschenden Verhältnissen verleimt. In der Ampelregierung hat sich diese politische Degeneration in ungeahnter Weise beschleunigt.

Gerade zu einer Zeit, wo radikales Andersdenken und -handeln so nötig ist, wird Radikalität nun bekämpft, diffamiert, inhaftiert. Jüngst sprachen territoriale Demonstrationsverbote in mehreren Städten trotz ganz verschiedener Anlässe eine gemeinsame Sprache: Ganze Gruppen der Bevölkerung werden pauschal der Neigung zu Gewalttätigkeit bezichtigt, weswegen ihre Grundrechte außer Kraft gesetzt werden können.

Die Präventivhaft, die mittlerweile gegen Klimaschützer angewandt wird, damit sie sich einem geplanten Protest gar nicht erst nähern können, ist die kleine Schwester der präventiven Internierung von Asyl­be­wer­be­r:in­nen an den EU-Grenzen. Die Politik der Versicherheitlichung setzt Grundrechte außer Kraft, die Allgemeinheit nimmt daran keinen Anstoß, und bestimmte Medien hetzen zuverlässig gegen jene, denen die Rechte genommen werden.

Die Grünen stehen auf der falschen Seite

Der Polizeikessel jüngst in Leipzig erinnerte mich an den ersten bundesdeutschen Kessel dieser Art; Hamburg 1986. Danach protestierten 50.000 Menschen gegen die Polizeigewalt; ein Gericht erklärte den Kessel später für rechtswidrig. 37 Jahre ist das her. Die Grünen waren damals ein verlässliches Element in einem Milieu, das einen Begriff von Solidarität, Bürgerrechten und Widerstand hatte. Heute stehen sie häufig eher auf der anderen Seite.

Wie sich die Definitionen von Gewalt und Sicherheit sukzessive verschieben, das markiert durchaus den Geländegewinn rechter Gesellschaftskonzepte – und wenn sie nun gegendert daherkommt, ändert das nicht ihren Charakter. Während die Angriffe gegen Geflüchteten-Unterkünfte steigen, denkt sich die Bundesinnenministerin ein Verbot von Küchenmessern in Bussen und Bahnen aus, mit „stichpunktartigen Kon­trol­len“ – mit anderen Worten: Racial Profiling. Die „Messermänner“ von Alice Weidel sind in der Sozialdemokratie angekommen, so wie Seehofers Grenzgefängnisse nun grün angestrichen Wirklichkeit werden.

Quelle        :        TAZ-online           >>>>>       weiterlesen

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Oben           —      Powstaje zapora na granicy polsko-białoruskiej. Dzisiaj już wszyscy na Zachodzie widzą, że my, chroniąc granicę polsko-białoruską, chronimy wschodnią flankę NATO – powiedział premier Mateusz Morawiecki w środę (16 lutego br.) podczas konferencji prasowej przy granicy z Białorusią. W konferencji wziął również udział wiceminister Maciej Wąsik oraz gen. dyw. SG Tomasz Praga – komendant główny Straży Granicznej.

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Nach Grün + SPD rot = Tot

Erstellt von Redaktion am 28. Juni 2023

Ein neuer Kompromiss in der europäischen Flüchtlingspolitik bahnt sich an

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Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Gruppen gegen Kapital und Nation

Grüne, Sozis und Rechtsradikale raufen sich zusammen

In einem älteren Text haben wir mal anlässlich des sogenannten Flüchtlingssommer 2015 aufgeschrieben, worum es wesentlich in der Flüchtlingspolitik geht.1 Die deutsche Flüchtlingspolitik ist auf EU-Ebene im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geregelt. Innerhalb der EU geraten aber die verschiedenen nationalen Standpunkte ständig aneinander, so dass das aktuell geltende Dublin-Verfahren praktisch nicht klappt. In unserem Text von 2015 wird erklärt, welche Standpunkte innerhalb der EU hier aneinander geraten. Der Text sei an dieser Stelle nochmal empfohlen, weil dort ausgeführt wird, was hier nur angerissen werden soll.

Lange Zeit hat sich in der EU-Asylpolitik nichts wesentlich geändert, doch derzeit arbeiten die EU-Staaten mit neuer Energie an einem neuen Kompromiss, der das alte Dublin-Verfahren im Februar 2024 ablösen soll. Dass ein Kompromiss überhaupt möglich scheint, hat schlicht mit dem Ukraine-Krieg zu tun. Seit Beginn des Krieges haben die EU-Staaten viele Flüchtlinge aufgenommen (allen voran Polen, dessen rechte Regierung lange Zeit schlicht keine Flüchtlinge aufnehmen wollte). Ukrainische Frauen, Kinder und alte Menschen sind willkommen und werden unbürokratisch in die Gesellschaften aufgenommen. Die Flüchtlinge aus der Ukraine erwartet eine echte staatliche Willkommenskultur und eine Grundversorgung ohne die sonst üblichen Schikanen. Das hat auch schon manche Flüchtlingsaktivist*in zur Verzweiflung gebracht: Warum geht hier umstandslos die staatliche Hilfe, während Flüchtlinge ohne ukrainischen Pass zugleich weiter schikaniert werden?

Der Grund ist einfach der, dass die ukrainischen Flüchtlinge einen klaren Nutzen für die EU-Staaten haben:

Über die Waffenhilfen an die Ukraine und über die Sanktionen führen die EU-Staaten (indirekt) Krieg gegen Russland. Das Interesse Russland ins moralische Abseits zu stellen, Russland als Verbrecherstaat darzustellen, hat daher absolute Priorität. Die Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge ist das Material für die Kritik der EU-Staaten an Russland: Das ist ein Staat, der in dieser Welt keinen Respekt verdient. Im Vergleich dazu merkt man, dass z.B. die Kritik des Assad-Regimes oder die Lage in Afghanistan nicht mehr die Hauptinteressen der EU-Staaten sind. Diesem sich veränderten staatlichen Interesse folgend sind syrische und afghanische Flüchtlinge zunehmend nicht mehr gewollt.

Zusätzlich gilt der Zusammenhang von ukrainischen Flüchtlingen mit dem gewollten Verlauf des Krieges: Wenn man sich z.B. die Bundestagsdebatte im März 2022 anschaut, dann kann man da durchweg bemerken, wie die Waffenhilfe für die Ukraine und die Hilfe für die ukrainischen Flüchtlinge in einem Atemzug benannt werden.2 Und das hat folgenden Grund: Ihre Umsorgung soll den ukrainischen wehrfähigen Männern und Frauen Kraft geben, ihr Leben im Krieg hinzugeben. Diesen Einsatz beschrieb die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen kürzlich so: „Die Ukrainer sind bereit, für die europäische Perspektive zu sterben“. Diese europäische Perspektive sieht derzeit so aus: In einen direkten Krieg mit Russland wollen die EU-Staaten nicht eintreten. Aber sie wollen Russland schwächen, indem man die Ukraine gerade mit so viel Waffen ausstattet, dass die Truppen dort Russland aufhalten und es somit in einen langen Abnutzungskrieg reinziehen. So will die EU, dass der Krieg verläuft und da ist es förderlich, wenn die kämpfenden Soldat*innen in der Ukraine sich ohne Rücksicht um den Verbleib der eigenen Familie und Verwandtschaft in den Kampf und Tod werfen können.3

Freilich: Die Unterstützung der ukrainischen Flüchtlinge kostet eine Menge und das wird dauerhaft so bleiben, zumindest solange die EU zusammen mit den USA den Krieg so gestalten wollen. In diesem Lichte fallen dann den EU-Staaten die weiteren Flüchtlinge, die gewohnheitsgemäß über die Balkan-Route und das Mittelmeer ankommen und sich überwiegend vorbei an bestehenden EU-Regeln, über die EU-Staaten verteilen, umso lästiger auf. Jetzt, da das Hauptinteresse auf die ukrainischen Flüchtlinge gerichtet ist und Flüchtlinge aus anderen Ländern weniger als nützliches politisches Mittel, sondern vor allem als Last auffallen, sind zumindest einige relevante EU-Staaten bereit, doch nochmal aufeinander zu zugehen.

Konkret heißt das Aufeinanderzugehen in der EU-Asypolitik:

Bislang konnten und wollten sich Italien und Griechenland nicht auf die Hot-Spot-Lösung verlassen. Die dort registrierten Flüchtlinge sollten in andere EU-Staaten weitergereicht werden, aber nur wenn die anderen Staaten freiwillig mitmachten. Das haben viele Staaten gar nicht gemacht. Selbst Deutschland, das diesen Mechanismus eingebracht hat, machte nur sehr zögerlich mit. Insofern haben Italien und Griechenland die Flüchtlinge einfach ohne Registrierung durchreisen lassen, zum Ärger von z.B. Österreich oder Deutschland. Jetzt sollen die Hot-Spots zu „Aufnahmeeinrichtungen“ werden. Über den Charakter dieser Anstalten wird kein Hehl gemacht. Die FAZ spricht von „haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen“, die taz von „Internierungslagern“. Hier sollen all diejenigen Flüchtlinge landen, die – wie es so schön heißt – keine „Bleibeperspektive“ haben, weil die EU-Staaten ihnen die schlicht nicht geben wollen. „Das betrifft Menschen aus Ländern, bei denen die durchschnittliche Anerkennungsrate der Asylanträge in der EU unter 20 Prozent liegt oder die aus sogenannten sicheren Herkunftsländern stammen. Die 20-Prozent-Quote greift etwa bei Ägypten, Bangladesch oder Nigeria. Als sichere Herkunftsländer dürften etwa Marokko, Tunesien oder Algerien eingestuft werden.“ (taz, 09.06.2023) Mit ihnen soll ein Schnellverfahren durchgezogen werden, dass 12 Wochen dauern soll. Ist dann das Urteil negativ, dann sollen sie abgeschoben werden und dafür bis zu 6 Monate im „Gefängnis“ bleiben. Die EU-Staaten legen freilich Wert darauf, dass dies kein echter Freiheitsentzug sei, denn schließlich könnten die Menschen jederzeit freiwillig ausreisen – nur nicht in die EU.

Die Abschiebung ist nicht immer einfach, weil dabei irgendwelche Länder zustimmen müssen, in die „zurückgeschickt“ wird. Der Clou des neuen Kompromisses ist hier: 1. Die Aufnahmezentren sollen quasi extraterritorial sein, d.h. nicht echtes EU-Land. Die Flüchtlinge sind somit offiziell gar nicht „eingereist“ und das soll bei der Abschiebung einige bürokratische Hürden nehmen. 2. Das Land, in das abgeschoben wird, braucht nicht mehr dasjenige der Staatsbürgerschaft des Flüchtlings sein. Es reicht eine „Verbindung“ des Staates zum Flüchtling diese darf jetzt auch einfach irgendein „Transitland“ sein, das Flüchtlinge durchquert haben. Und was alles eine „Verbindung“ ist, das darf jedes EU-Land selber interpretieren und auslegen. So macht die EU dann z.B. Italien mit seiner rechtsradikalen Regierung zur Entscheidungsinstanz in Sachen Abschiebung. Die rechtsradikale Regierung liebäugelt derzeit mit Tunesien und die EU unterstützt Italien dabei, einen Deal mit dem Land hinzubekommen.4

Diejenigen Flüchtlinge, die wider erwarten doch Asyl bekommen sollten, sollen in die anderen EU-Staaten verteilt werden, wobei sich ein Staat hier auch mit einer Kopfprämie von 22.000€ freikaufen können soll. Daran könnte der neue Kompromiss noch scheitern, weil Polen und Ungarn das ablehnen. Sie wollen keine Flüchtlinge, die zuvor woanders angekommen sind, basta. Sie wollen vor allem aber nicht die ihre Souveränität in der Entscheidung, wer in ihren Ländern Aufenthaltsrechte bekommt, an die EU abgeben. Spekuliert wird darüber, dass die anderen EU-Staaten sie noch ins Boot holen könnten, wenn die finanziellen Beiträge für Frontex hier mit den Kopfprämien verrechnet werden könnten.

In dem neuen EU-Kompromiss zur Flüchtlingspolitik sind weitere eklige Details enthalten, die hier nicht weiter besprochen werden sollen. Es bleibt vorerst festzuhalten, dass die EU-Staaten folgendes wollen und/oder in Kauf nehmen:

1. An einer Weltordnung, in der die Kapitale abgehängte Staaten als Rohstofflieferanten benutzen können, hält die EU fest. Ob mit oder ohne IWF werden ganze Staaten und Regionen auf ihre Funktion als Rohstofflieferanten für den kapitalistischen Westen festgelegt. Die Überlegenheit der Kapitale aus den kapitalistischen Zentren sorgt dafür, dass sich in den abgehängten Staaten keine aufblühende kapitalistische Produktion mit umfangreichen Arbeitsplätzen durchsetzt. Für die Staatsführung eines „Rohstofflandes“ ist ihre Bevölkerung – im Unterschied zu erfolgreichen kapitalistischen Staaten – dann keine brauchbare Ressource, die man in rentable Arbeit führen will, sondern weitgehend überflüssig. Sie steht im Weg, weil große Landesteile für die kapitalistischen Rohstoff-Unternehmen gebraucht werden (wozu zukünftig auch die geplanten Solarparks gehören). Der Staat ist in einem „Rohstoffland“ im Großen und Ganzen die einzige gute Einkommensquelle und so finden sich immer wieder Leute, die abgehängte Bevölkerungsteile mobilisieren, um sich an die Macht zu putschen. Daraus resultierende Bürgerkriege (siehe aktuell Sudan) oder abweichende Regierungsprogramme werden vom Westen als Ordnungsprobleme gesehen und die „Verantwortung für die Welt“ wird dann mit Kriegen oder Unterstützung von Bürgerkriegen wahrgenommen. Die meisten Leute, die aus diesen Zuständen fliehen, sollen aus der EU draußen gehalten oder durch zu erwartende miese Behandlungen abgeschreckt werden. Ausgewählte Flüchtlinge sollen Asyl bekommen. Und damit verschafft sich Deutschland (bzw. alle EU-Staaten) die moralischen Titel „Verantwortung, Pflicht und Recht“, um mit denen – und so schließt sich der Kreis – in der Welt Einfluss zu nehmen.

2. Die in der Staatenkonkurrenz abgehängten Staaten in Nord-Afrika sollen für die EU-Staaten die Flüchtlinge verwalten. Dafür bekommen sie neue Finanzzuschüsse. Dass die Staaten einigermaßen autoritär organisiert sind, geht dabei für die EU in Ordnung, weil damit immerhin der Staat funktioniert, der mit seiner Gewalt seinen Dienst für die EU erledigen kann.

3. Das Mittelmeer bleibt ein Massengrab, das anhaltend mit neuen ertrunkenen Flüchtlingen angereichert wird.

4. Damit der Krieg in der Ukraine so weiterlaufen kann, wie bislang, müssen Flüchtlinge mit ukrainischer Staatsbürgerschaft umstandslos versorgt werden.

Darauf können sich pi mal Daumen viele EU-Staaten einigen und insbesondere die verantwortlichen Grünen und Sozialdemokrat*innen in Deutschland mit der rechtsradikalen Regierung in Italien.

An dieser Stelle ein Liedtipp – Pisse, Scheiß DDR:

Scheiß DDR

Ach was für ein schönes Land
Alle war’n im Widerstand
Videorekorder und Bananen
Stand geschrieben auf den Fahnen
’89 war’s vorbei
Ach was wart ihr alle frei
Alle auf zum Flüchtlingsheim
Jeder haut ’nen Molli rein

Scheiß BRD

Videorekorder und Bananen
Und japanische Sportwagen
Soldaten in Berlin nicht mehr
Heute rund um’s Mittelmeer

Scheiß Europa

1Was „Merkels kurzer Sommer der Menschlichkeit“ über die deutsche Realität aussagt https://gegen-kapital-und-nation.org/was-merkels-kurzer-sommer-der-menschlichkeit-%C3%BCber-die-deutsche-realit%C3%A4t-aussagt/

2Siehe https://dserver.bundestag.de/btp/20/20020.pdf, S. 1404ff.

3Zum Krieg siehe die Themenseite der Gruppen gegen Kapital und Nation.

4Dänemark und Österreich plädieren dafür es UK gleich zu tun: Flüchtlinge werden sofort in irgendeinen Dritt-Welt-Staat verfrachtet und dort wird dann das Asylverfahren durchgeführt (sogenanntes „Ruanda-Modell“). Soweit ist es jetzt noch nicht gekommen – hier würde keine Verbindung bestehen.

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Oben      —   Hannelore Kraft (l.) und Sylvia Löhrmann (r.) bei der Unterzeichnung des rot-grünen Koalitionsvertrags im Juni 2012

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L – A armselige Skyline

Erstellt von Redaktion am 28. Juni 2023

In Los Angeles leben etwa 50.000 Menschen auf der Straße.

Downtown L.A.

Aus Los Angeles von Johannes Streek

Die demokratische Bürgermeisterin Karen Bass will das ändern. Wie das nachhaltig gelingen kann, ist unter sozialen Trägern jedoch umstritten. Ein Ortsbesuch in einer der ärmsten Gegenden der USA. An einem lauen Morgen im Juni ist es noch ruhig auf der San Pedro Street in Los Angeles. An einer Ecke frühstücken ein paar Leute aus Styroporbehältern, etwas weiter fegt jemand den Bürgersteig. Andere sitzen sind in Decken gehüllt am Straßenrand, ihnen ist die Kühle der vorherigen Nacht noch anzusehen.

„Skid Row“ heißt dieser Abschnitt der Stadt, der um einem mittlerweile stillgelegten Bahnhof entstanden ist. Rund 5.000 Menschen leben hier auf der Straße, in Autos oder Zelten. Andere wohnen vorübergehend in den Räumlichkeiten der hier ansässigen sozialen Einrichtungen. Diese gibt es zum Teil schon seit über 100 Jahren, so lange ist die Skid Row von Los Angeles schon ein Wohnort für all jene, die sonst kein Zuhause haben. Und die so schnell auch keins finden werden.

Der Name Skid Row bezeichnet ein Gebiet von 50 Wohnblocks inmitten der Innenstadt von Los Angeles. Es ist ein Ort, der wohl wie kein anderer zeigt, was Armut in den USA bedeutet. Seit Jahrzehnten ist das Stadtbild des Industrieviertels geprägt von Menschen, die auf der Straße leben, während im Hintergrund moderne Hochhäuser in der kalifornischen Sonne schimmern. Die Gegend ist eine Ansammlung trauriger Superlative. Laut einer im Jahr 2020 veröffentlichten Studie sind die drei gefährlichsten Nachbarschaften der USA auf der Skid Row zu finden. Krankheiten grassieren durch den mangelnden Zugang zu Wasser. Im Jahr 2017 brach in der Gegend eine Hepatitis-Epidemie aus, die auch in andere Stadtteile überschwappte. Eine längere Dürrezeit hatte zu einer Anhäufung von menschlichen Fäkalien auf den Bürgersteigen geführt, der lang erwartete Regen spülte sie in die Kanalisation. 2.201 Wohnungslose sind allein im Jahr 2021 in Los Angeles gestorben, fast jedes vierte Mordopfer ist eine Person ohne festen Wohnsitz.

Entgegen ihres anarchischen Rufes ist es auf der Skid Row weder besonders laut noch sehr viel schmutziger als in anderen Abschnitten der Innenstadt. Neben den vielen Wohnungslosen, die auf der Straße unterwegs sind, trifft man hier auch auf Streetworker verschiedener Organisationen, die Essen verteilen oder rudimentäre Gesundheitsversorgung anbieten und so staatliche Versorgungslücken schließen. Während viele in der Autostadt Los Angeles fast alle Wege mit ihrem Fahrzeug zurücklegen, sind auf der Skid Row die meisten Menschen zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs. Zwischen den gut befestigten Zelten, die vielerorts mit blauen Bauplanen verstärkt sind, schneiden sich Leute gegenseitig die Haare, lesen oder sitzen auf Klappstühlen und unterhalten sich. „Guten Morgen, wie geht’s?“ werden Besucher gefragt, die sich auf dem Bürgersteig einen Weg zwischen den Zelten bahnen.

Auch Brittany Robbins gehört zu den Menschen, die in und um die Skid Row ohne festen Wohnsitz leben. Die junge Frau mit dem strahlenden Lächeln sitzt auf einem kleinen Plastikhocker an einem Imbiss und erzählt von ihrem Alltag. „Ich wohne gleich da hinten im Weingart,“ sagt sie. Das ist eine der großen Herbergen, die Wohnungslosen auf der Skid Row Übergangszimmer, Essen und Duschen zur Verfügung stellen. „Ich mag es da, die Angestellten sind nett.“ Robbins erzählt ein wenig aus ihrem Leben, ihrer Zeit beim amerikanischen Militär, und, dass sie bereits in 49 der 51 Bundesstaaten war. Für den Stress der Streetworker und Stadtangestellten, mit denen sie zu tun hat, zeigt sie Verständnis. „Ich habe selber soziale Arbeit studiert, ich kenne also beide Seiten ein bisschen.“ Vom Elend der Skid Row ist Robbins nichts anzusehen, sie trägt saubere Kleidung und scheint unbeirrt vom Treiben um sie herum.

Gefragt, ob sie sich Sorgen um ihre Sicherheit auf der Skid Row mache, schüttelt sie energisch den Kopf. „Ich vertraue auf meinen Menschenverstand,“ sagt sie. „Wenn ich mich in einer Situation unwohl fühle, dann versuche ich einfach auf mein Bauchgefühl zu hören.“ Für Robbins ist zudem der christliche Glaube ein wichtiger Anker. „Ich glaube, ich werde durch Gott beschützt,“ sagt sie. „Mein Leben gehört mir sowieso nicht, und das gibt mir Kraft und nimmt mir ein wenig von der Angst.“ Bevor sie nach Los Angeles kam, war Robbins länger in Austin, Texas. Die Einrichtung, in der sie dort gelebt hat, habe ihr überhaupt nicht gefallen. Während ihrer Zeit hat sie mehrere Schießereien sowie einen Mord miterlebt, direkt vor ihrem Fenster. Durch ein Fernstudium bei der christilch-konservativen Liberty University macht Robbins nun ihren Master, größtenteils über ihr Handy und den Computerraum der nahegelegenen Stadtbücherei. „Ich versuche gerade, mit dem Wohnungsamt zusammenzuarbeiten, um hoffentlich eine längerfristige Lösung zu finden“, sagt sie lächelnd. Sie könnte sich vorstellen, später einmal ins Ausland zu gehen, um dort Englisch zu unterrichten, aber das sei alles noch nicht entschieden.

In Kalifornien, dem wirtschaftlich stärksten Bundesstaat der USA, ist die Wohnungslosigkeit besonders hoch. Rund 115.000 Menschen haben hier keine feste Bleibe, fast jeder dritte Mensch ohne Wohnsitz lebt in dem großen Staat am Pazifik. Das hängt auch mit den immensen Lebenskosten zusammen, eine Einraumwohnung in Los Angeles kostet rund 2.000 US Dollar Miete im Monat. Eine, die sich diesem schwierigen Thema annehmen will, ist Karen Bass. Sie wurde im letzten November zur Bürgermeisterin von Los Angeles gewählt. Mit dem Versprechen, durch umfangreiche Investitionen die grassierende Wohnungslosigkeit in der Stadt zu bekämpfen, hat sie Wahlkampf gemacht. 1,3 Milliarden Dollar sollen in den nächsten Jahren fließen, um temporären und festen Wohnraum zu schaffen. Kürzlich hat Bass bekanntgegeben, dass rund 14.000 Menschen seit ihrem Amtsantritt ein Zuhause finden konnten. Mindestens 50.000 bleiben damit im Bezirk Los Angeles noch auf der Straße.

Ein wesentlicher Dreh- und Angelpunkt in der Skid Row ist die Midnight Mission (dt. „Mitternachts-Mission“) auf der San Pedro Street. Georgia Berkovich leitet die Öffentlichkeitsarbeit der sozialen Einrichtung. Gerade führt sie zu einer Wandtafel, an der die Geschichte der Midnight Mission erzählt wird. 1914 begann der Geschäftsmann Tom Liddecoat mit nächtlichen Essensausgaben. Sie waren für die damals noch vorwiegend männlichen und weißen Menschen gedacht, die mittellos in der Innenstadt von L.A. landeten. „Vor dem Essen mussten sie sich aber zunächst seine Predigten anhören“, sagt Berkovich über den Gründer. „Der Name entstand, weil es oft schon Mitternacht war, bis sie endlich essen durften.“ Auf der Wandtafel sind Fotos von Männern in Anzügen und Hüten zu sehen, die über ihr Essen gebeugt sind. In den 30er Jahren wurde die Organisation hinter der Midnight Mission säkular und versorgte tausende Menschen durch die Brachzeiten der großen Wirtschaftskrise. Während Berkovich erzählt, führt sie auf den kleinen Vorhof der Einrichtung und erklärt, warum dieser eigentlich zu jeder Tageszeit voll ist. „Bis vor Kurzem hatte die Midnight Mission hier die einzigen Toi­letten, die 24 Stunden am Tag verfügbar waren,“ sagt sie und schüttelt dabei ungläubig den Kopf. „Eine Toilette für 5.000 Menschen.“ Zudem verfügt der Vorhof über große Ventilatoren, die an heißen Sommertagen für etwas Abkühlung sorgen. Für kalte Nächte gibt es Heizstrahler, an denen sich die Menschen aufwärmen können. „Die Leute wollen nicht glauben, dass es in Kalifornien Kältetote gibt, aber das passiert hier regelmäßig“, sagt Berkovich. Allein im Jahr 2022 starben in Los Angeles 14 Menschen an den Folgen von Kälte.

Hinter den schmucklosen Betonmauern des Gebäudes verbirgt sich die Infrastruktur einer Kleinstadt. Berkovich führt durch die vielen Etagen, in einen Musikraum, zu einer Bücherei und einem kleinen Friseursalon. Im Erdgeschoss findet gerade die Essensausgabe für all jene statt, die derzeit in der Midnight Mission leben und an einem der Rehabilitationsprogramme teilnehmen. „Jede Stadt in den USA hat eine eigene Skid Row,“ sagt die Mitarbeiterin, während hinterher Menschen in die Kantine strömen, um sich Salat, Kartoffeln und Fleisch auf ihre Tabletts geben zu lassen. Für sie ist das Ende der Obdachlosigkeit in Los Angeles das endgültige Ziel ihrer Einrichtung. „Wir versuchen uns seit dem Jahr 1914 die eigene Existenzgrundlage zu nehmen,“ sagt Berkovich über den Kampf gegen Wohnungslosigkeit, „aber ehrlich gesagt wird es immer schlimmer.“

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Kein braunes Wunder

Erstellt von Redaktion am 27. Juni 2023

Dort, wo die AfD normalisiert ist, feiert sie Erfolge:

Ein Debattenbeitrag von Gareth Joswig

AfD gewinnt Landratswahl in Sonneberg. Der Sieg der Landratswahl in Sonneberg sollte insbesondere der Union zu denken geben. Es sollte der Union zu denken geben, dass sie in Umfragen nicht von den Problemen der Ampel-Koalition profitiert.

Es ist ein Fiasko mit Ansage: Die extrem rechte AfD hat im thüringischen Sonneberg erstmals eine Landratswahl gewonnen. Die AfD in Thüringen ist mit ihrem Anführer Björn Höcke die Speerspitze der völkischen Strömung in der Partei. Sie verfolgt eine neofaschistische Agenda, hetzt gegen Minderheiten, verstößt damit gegen grundsätzliche Demokratieprinzipien, verharmlost den historischen Nationalsozialismus und will den völkisch-autoritären Umbau des Staates.

Die Wäh­le­r*in­nen aus dem 56.000-Einwohner-Landkreis Sonneberg in Thüringen haben bei der Stichwahl für den Landrat trotzdem und zu einem großen Teil sicher auch genau deswegen für den AfD-Kandidaten Robert Sesselmann gestimmt. Die Wahlbeteiligung lag bei 58,2 Prozent, Sesselmann kam auf 52,8 Prozent der Stimmen.

Es ist ein Landkreis, in dem die AfD weitgehend normalisiert ist und in dem auch der CDU-Kandidat Jürgen Köpper mit knallhart-populistischen Parolen gegen die Bundesregierung in Berlin in den Wahlkampf gezogen ist. Die CDU hat hier 2021 für den Bundestag den rechten Schwurbler Hans-Georg Maaßen aufgestellt und im Kreistag ist es normal, mit der AfD zusammenzuarbeiten. Die Brandmauer ist in Sonneberg nicht erst diesen Sonntag gefallen.

Vollumfänglich ausschlachten

Für die AfD ist die gewonnene Wahl ein lang ersehnter Meilenstein auf dem Weg zur Normalisierung. Obwohl es nur eine Landratswahl ist, werden die Rechten Sonneberg nun vollumfänglich ausschlachten, um sich vor der Landtagswahl 2024 in Stellung zu bringen: Die Parteispitze spricht vom „blauen Wunder“, das nur der Anfang sei und einer „Wende“ – absurde DDR-Vergleiche intendiert.

Tatsächlich wäre es dann auch eher ein „braunes Wunder“, denn kaum irgendwo ist die AfD so offen rechtsextrem wie in Thüringen. Dass sie ausgerechnet hier diesen in erster Linie symbolischen Erfolg einfährt, spricht dafür, wie weit in einigen Teilen insbesondere Ostdeutschlands die rechte Hegemonie – nicht nur durch die AfD – bereits etabliert ist.

Aber auch wenn sich die Wahl in Sonneberg nicht verallgemeinern lässt: Begünstigt wurde sie durch die Krise der Ampel und einen nach rechts kippenden öffentlichen Diskurs sowie multiple Krisen der Gegenwart: Eine im Geldbeutel spürbare Wirtschaftskrise und hohe Inflation infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine, keine gleichmäßige Verteilung der Krisenlast und zu wenig soziale Gegenmaßnahmen, ein Heizungsgesetz ohne soziale Abfederung und vermeintliche Christdemokrat*innen, die Stimmung mit rechtem Kulturkampf und plumpen Rassismus machen.

Trifft diese toxische Mischung dann noch auf vorhandene rassistische und systemfeindliche Einstellungsmuster, sorgt das für einen Aufschwung der AfD, wie er hier zu beobachten ist.

Insbesondere die CDU sollte aus der Gesamtlage endlich Lehren ziehen. Wenn schon nicht aus intrinsischen humanistischen oder gar christlichen Motiven, dann doch bitte zumindest aus strategischen: Die CDU gefährdet mit ihrem Larifari-Abgrenzungskurs und der Anbiederung an AfD-Positionen nicht weniger als die Demokratie und erweitert die Grenzen des Sagbaren.

Begünstigt wurde sie durch die Krise der Ampel und einen nach rechts kippenden öffentlichen Diskurs sowie multiple Krisen der Gegenwart

Es sollte der Union zu denken geben, dass sie in Umfragen nicht von den Problemen der Ampel-Koalition profitiert. Der aktuelle Rechtsdrall der Union stärkt allein die AfD. Die Christdemokraten sollten rigoros umlenken, mit dem rechten Kulturkampf aufhören, sich auf Sachthemen und vernünftige demokratische Oppositionspolitik konzentrieren – und nicht den Diskurs verrohen.

Eines sollte man nicht tun angesichts von Sonneberg: resignieren. Sonneberg sollte Anlass für kritische Selbstreflektion sein und eine Stärkung inhaltlich unterscheidbarer und vernünftiger Positionen nach sich ziehen. Die Parteien sollten ohne populistische Entgleisungen um reale Alternativen streiten.

Denn die AfD hat nichts außer Fundamentalopposition zu bieten, sie schürt Abstiegsängste, gibt auf soziale Verteilungsfragen nur rassistische Antworten und vergiftet den demokratischen Diskurs. Bundesregierung und demokratische Opposition sind gefordert, gerade in der Krise auf tatsächlich soziale Verwerfung geeignete und vernünftige Antworten finden.

Quelle       :         TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben           —     View of the AfD rally in Mödlareuth, including Björn Höcke and Robert Sesselmann.

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»Festung Europa«

Erstellt von Redaktion am 27. Juni 2023

Oder: Was die Mauern mit uns machen

Von Volker M. HeinsFrank Wolff

Erneut ist in Europa und speziell in Deutschland eine Debatte um die Kontrolle von Migration durch den Ausbau befestigter Grenzen entbrannt. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner drängt auf den „physischen Schutz der Außengrenze“ per Zaun.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser will gar ein „Momentum“ erkannt haben, um mögliche Asylansprüche nur noch an den Außengrenzen einer immer stärker abgeschotteten Europäischen Union zu prüfen. Was dabei in aller Regel übersehen wird: Schleichend und unauffällig beschädigen die neuen Mauern um Europa die demokratische Gesellschaft. Sie schaffen eine Situation, in der die liberale Demokratie ihre eigenen Regeln bricht. Und sie gewöhnen die Bevölkerung an Bilder notleidender, verletzter oder toter Migranten an Europas Grenzen – Grenzen, die angeblich dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger dieses Kontinents dienen.

Einige dieser Bilder sind längst ikonisch geworden und haben sich in unserem Gedächtnis festgesetzt: Das Bild des dreijährigen Alan Kurdi, leblos am Strand an der türkischen Mittelmeerküste. Das Bild zweier Golfer, deren Partie von einem Dutzend Flüchtlinge gestört wird, die jenen haushohen Zaun überwinden wollen, der nicht nur den Golfplatz rahmt, sondern der auch die spanische Exklave Melilla von Marokko trennt. Oder vielleicht auch jenes Bild von der polnisch-belarussischen Grenze, auf dem linksseitig des frisch errichteten Grenzzauns Dutzende Flüchtlinge zu sehen sind, die in der Kälte eng beieinander im Feuerrauch hocken, während rechts vom Nato-Zaun Grenzschützer in einem schweren Humvee-Geländewagen auf dem freigeräumten Kontrollweg patrouillieren.

Solche Schlüsselbilder erzählen wortlos ihre Geschichte. Eine Geschichte über extreme globale Ungleichheit, über Not und Verzweiflung und über das Antlitz der europäischen Abschottung. Diese Geschichte wiederholt sich vor dem Hintergrund wechselnder Landschaften, in Wäldern, auf freien Grünflächen, an Stränden oder auf dem offenen Meer.

Auch als im Herbst 2021 Gruppen von Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien, dem Jemen, Ägypten, dem Irak und dem Iran versuchten, über die Grenze von Belarus nach Polen in den Schengen-Raum zu gelangen, schlug ihnen massive Gewalt entgegen. Polnische Grenzbeamte trieben die Flüchtlinge – darunter auch Schwangere und Kinder – zurück über die Grenze nach Belarus. Hunde wurden auf sie gehetzt, Schlagstöcke flogen. Auf Twitter warfen die Verantwortlichen mit militärischen Begriffen um sich: „Angriff“, „Verteidigung“, „Vorstoß“, „Kampf“. Das Militär rückte an, Helfer wurden inhaftiert, Medienvertreter abgewehrt. Neue Gesetze wurden erlassen, Zäune errichtet. Gelder flossen. Unterdessen starben Menschen an Unterkühlung oder an Krankheiten. 28 Tote wurden im Zeitraum zwischen August 2021 und November 2022 an der Grenze zwischen Polen und Belarus bestätigt.[1] Die Europäische Union hielt sich mit rechtsstaatlichen Bedenken zurück und stellte Millionen an Hilfsgeldern bereit, sogar die Nato versprach ihren Beistand. Europa erklärte Menschen explizit zu Waffen in einem „hybriden Krieg“. Im öffentlichen Diskurs kollidierte eine militarisierte politische Sprache des Selbstschutzes mit den Bildern von Tod, Elend und roher Gewalt gegen unbewaffnete Zivilisten. Viele Menschen in Polen und im weiteren Europa reagierten mit Entsetzen und dem Ruf nach Wahrung der Menschenwürde, des internationalen Rechts und der europäischen Werte. Doch welche Seite steht für Europa?

Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, postete auf Twitter ein Foto von sich mit uniformierten polnischen Grenzschützern vor dem fünfeinhalb Meter hohen Stahlzaun an der Grenze zwischen Belarus und Polen mit dem Kommentar: „Unsere europäischen Werte zeigen sich auch daran, wie wir an unseren Grenzen agieren.“[2] Die Mehrdeutigkeit ihrer Worte vor dem Hintergrund eines Fotos, auf dem kein einziger Flüchtling zu sehen war, schien ihr dabei nicht bewusst zu sein.

Andere Politiker ließen dagegen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Sie zeigten sich offensiv gleichgültig gegenüber dem Elend der Geflüchteten und forderten andere dazu auf, ebenfalls gleichgültig zu sein. Wir dürften der Wirkung von Bildern notleidender Menschen an den Grenzen Europas „nicht nachgeben“, sagte der damalige sozialdemokratische deutsche Außenminister Heiko Maas im „Tagesthemen“-Interview im November 2021. Wir müssten sie „aushalten“, forderte der konservative sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer im selben Monat.[3] Diese Aussagen bezogen sich auf das Leiden an der europäischen Außengrenze, richteten sich aber allein nach innen, an die Bevölkerung in Deutschland. Zudem waren die Formulierungen ungenau. Gemeint war nicht, dass wir irgendwelche Bilder leidender Menschen aushalten sollten, sondern Bilder von Menschen, zu deren Leid wir selbst durch die Abschottung Europas beigetragen haben. So wie Maas und Kretschmer rechtfertigten viele Politiker in Europa die Gewalt polnischer Grenzschützer gegen Migranten und forderten den Bau einer Mauer an der Ostgrenze Polens, die inzwischen tatsächlich fertiggestellt wurde. Die Appelle an Härte und Unnachgiebigkeit sollten Machthaber jenseits der Grenze ebenso beeindrucken wie künftige Flüchtlinge. In erster Linie wird mit ihnen aber die eigene Gesellschaft hinter den zu errichtenden Mauern adressiert. Innerhalb weniger Tage und angesichts einiger Tausend Migranten wurde die ominöse rhetorische Figur der begrenzten „Aufnahmebereitschaft“ beschworen, begleitet von dem Ruf nach weiteren Maßnahmen zur Abschottung Europas gegenüber den anderen, die keine Europäer sind. Solche beispielhaften Nahaufnahmen illustrieren, wie die gewaltsame Abwehr unerwünschter Migranten auf die Gesellschaft einwirkt, die ebenfalls auf Abwehr umschwenken soll. Dass die Gewalt an den Grenzen den Abgewehrten tausendfach Leid zufügt, berichten viele kritische Beobachter und Journalisten. Die erwähnte Episode zeigt darüber hinaus aber, dass wir auch darauf schauen müssen, was auf unserer Seite der Grenze passiert. Stellvertretend für viele andere Politiker und Kommentatoren forderten Maas und Kretschmer nichts weniger als eine Gesellschaft, für die Tod und Elend an den Grenzen kein Grund zur Aufregung sein sollen.

Die Utopie Europas – als einer unberührten Insel

Oft wird so getan, als schützten Mauern eine Gesellschaft, die unberührt bliebe von den Grenzen, die sie umgeben. Das war die Vorstellung von Thomas Morus, dem Autor des Romans „Utopia“. Die erste Amtshandlung des Gründers seines fiktiven Reichs besteht darin, zwischen Utopia und dem Rest der Welt einen tiefen Graben ausheben zu lassen, der vom Meer geflutet wird, sodass das Land zur Insel wird und für „Ausländer“ nur noch schwer zugänglich ist.[4] Aber dieses Bild ist irreführend. In Wirklichkeit verkümmert die Gesellschaft, jedenfalls die demokratische Gesellschaft, wenn sie sich radikal nach außen abgrenzt. Mauern machen etwas mit denen, die sich hinter ihnen verschanzen und ängstlich auf die Welt jenseits der Grenzen blicken. Wer hinter Mauern lebt, lebt zunehmend von ihnen bestimmt. Eine Gesellschaft verändert sich, wenn sie durch gewalttätige, willkürliche und rassistische Grenzregimes von der Außenwelt getrennt und zugleich mit ihr verbunden ist.

Die Mördertruppe der Frotex gehört nicht in freie Länder

„Wir“, die Einheimischen, bleiben nicht unberührt von der Gewalt, die in unserem Namen „anderen“ an der europäischen Außengrenze zugefügt wird. Die westlichen Gesellschaften wandeln sich und nehmen selbst Schaden durch die gewaltsame Abwehr von Migranten. Die Gewalt gegen Menschen jenseits der Grenze wirkt auch auf die Menschen diesseits der Grenze. Diesseits der Grenze müssen Menschen ausgebildet und Apparate aufgebaut werden, die zur Ausübung von Gewalt an der Grenze bereit und fähig sind. Die rasant wachsenden Budgets für diese Apparate bedürfen – ob direkt beschlossen oder als Teil größerer Haushaltsposten – der parlamentarischen Zustimmung. In der Hoffnung, ihre Effizienz zu erhöhen, werden Grenzschutzakteure einer allzu strikten, unabhängigen Kontrolle entzogen. Dafür bedarf es diesseits der Grenze einer Öffentlichkeit, die entweder nichts über die Grenzgewalt und ihre Folgen für unschuldige Zivilisten erfährt oder die wegschaut, die Gewalt akzeptiert oder sie sogar aktiv begrüßt und unterstützt. Dies wiederum erfordert es, die kollektiven Affekte zu formen und der Bevölkerung einzureden, dass sie allen Grund hat, sich vor Migranten zu fürchten. All dies hat Folgen für den Rechtsstaat, die Medienberichterstattung und politische Mobilisierungen – Folgen, die in ihrer Summe eine Gefahr für die offene Gesellschaft darstellen.

Damit soll nicht gesagt werden, dass diese Gefährdung immer intendiert ist. Die Vordenker und Planer der neuen Mauern gegen unerwünschte Migration mögen vielmehr darauf setzen, dass die Gewalt an den Grenzen verbleibt und nicht in die zu schützende Gesellschaft diffundiert. Die Vorstellung wird gestützt durch das altbekannte literarisch-philosophische Motiv der „schmutzigen Hände“, also der Vorstellung, dass man gelegentlich illegale oder unmoralische Maßnahmen ergreifen müsse, um höhere moralische Ziele wie den Schutz der freien Gesellschaft zu gewährleisten. Dieses Motiv übersieht jedoch die mögliche „moralische Korrumpierung“[5] des Kerns der Gesellschaft durch die Gewalt an ihren Rändern oder, in einer anderen Theoriesprache, die „Spillover-Effekte“, durch die Handlungen oder Ideen von einem gesellschaftlichen Bereich auf andere Bereiche übergreifen.[6]

In der politischen Theorie wird häufig argumentiert, dass stabile liberale Demokratien auf eine umfassende Migrationskontrolle und „geschlossene Grenzen“ angewiesen seien.[7] Tatsächlich aber ist das Gegenteil der Fall, die liberale Demokratie wird durch die restriktiven Grenzregimes der Gegenwart beschädigt. Letztlich ist die Demokratie, wie als Erster der französische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Henri Bergson bereits vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb, die einzige politische Ordnung, die darauf angelegt ist, die Bedingungen einer nach innen und außen geschlossenen, abgeschotteten Gesellschaft zu überwinden.[8] Sie verträgt sich daher nicht mit geschlossenen Grenzen.

Hinzu kommt, dass die Grenzen nicht für alle gleichermaßen geschlossen und die Mauern nicht für alle gleich hoch und undurchlässig sind. Flüchtlinge aus der Ukraine wurden in Deutschland, Polen oder Litauen seit dem Frühjahr 2022 ausdrücklich und offiziell willkommen geheißen. Selbstverständlich zu Recht. Irritierend war allerdings, dass die Aufnahmebereitschaft bei jenen Flüchtlingen aus der Ukraine an ihre Grenzen stieß, die aus Afrika oder Asien stammten, aber in der Ukraine arbeiteten oder studierten.[9] Und ebenso irritierend waren viele implizit vergleichende Kommentare aus Politik und Medien. Den Ukrainern, bemerkte eine hochrangige deutsche Amtsperson, „muss nicht erklärt werden, wie eine Waschmaschine funktioniert, oder dass auf dem Zimmerboden nicht gekocht werden darf“.[10] Anders als den Barbaren, die 2015 ins Land drängten, so der leicht zu entziffernde Subtext.

Generell lässt sich festhalten, dass die Fluchtgründe weißer Flüchtlinge aus der Ukraine wesentlich weniger hinterfragt wurden als zum Beispiel die syrischer Flüchtlinge vor und nach 2015, obwohl oft sogar die Truppen desselben Landes, nämlich Russlands, die Herkunftsstädte der Geflohenen in Schutt und Asche bombten.[11] Auf diese Unterschiede angesprochen, die die Betroffenen vom Grenzübertritt bis zu Registrierung und Aufnahme zu spüren bekommen, entgegnete der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis schlicht, die Ukrainer seien eben „die echten Flüchtlinge“.[12]

Solche Stimmen ignorieren, dass einige europäische Gesellschaften auch dann sehr wohl in der Lage sind, mit hohen Zahlen von Migranten konstruktiv umzugehen, wenn sich die Zuwanderung ungeplant vollzieht. Außerdem erinnern sie uns daran, dass wir über Rassismus sprechen müssen.

Die Grenzregimes der Gegenwart sind ohne den Begriff des Rassismus nicht zu verstehen. Aber der Rassismus an den Grenzen verharrt nicht dort, sondern speist sich aus einer entsprechenden Gesellschaft und wandert von den befestigten Grenzen gestärkt in die Gesellschaft zurück. Die Gewalt an der Grenze greift nach innen aus und korrumpiert die Gesellschaft, indem sie zum einen die Institutionen des Rechtsstaats und der Demokratie beschädigt und zum anderen eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral fördert durch die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und Rechtsbrüche.[13] Die gewaltsame Migrationsabwehr ist nicht zu haben ohne eine Enthemmung der Machtausübung an den Grenzen. Das „tödliche Gift hemmungsloser Macht“ beschädigt aber nicht nur seine Opfer, sondern auch die Täter und ihre Gesellschaft, wie bereits Frederick Douglass, der große Vorkämpfer für die Abschaffung der Sklaverei in den USA, schrieb.[14]

In Europa entfalten sich die Konflikte um Migration und Grenzregimes vor dem Hintergrund des europäischen Einigungsprozesses. Dieser Prozess führt einst verfeindete Staaten zusammen, setzt aber gleichzeitig mächtige Zentrifugalkräfte frei, die den Trend zur Abschottung Europas durch Ansätze einer nationalistischen Abschottung der Mitgliedsstaaten noch überbieten. Die offene Frage lautet also, wie die werdende europäische Gesellschaft aussehen wird. Wie offen wird diese Gesellschaft sein? Wie mächtig werden die neuen Mauern um Europa herum in unseren Köpfen werden? Und welche Bedeutung werden die „Würde des Menschen“ und die Menschenrechte haben, die dem europäischen Projekt zugrunde liegen?[15]

Die neue Militanz Europas

Quelle          :          Blätter-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben           —       Powstaje zapora na granicy polsko-białoruskiej. Dzisiaj już wszyscy na Zachodzie widzą, że my, chroniąc granicę polsko-białoruską, chronimy wschodnią flankę NATO – powiedział premier Mateusz Morawiecki w środę (16 lutego br.) podczas konferencji prasowej przy granicy z Białorusią. W konferencji wziął również udział wiceminister Maciej Wąsik oraz gen. dyw. SG Tomasz Praga – komendant główny Straży Granicznej.

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Fluggastdatenrasterung :

Erstellt von Redaktion am 27. Juni 2023

KI-Modelle zur Terrorismusabwehr ungeeignet

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von           :         

In einer kürzlich veröffentlichten wissenschaftlichen Forschung kritisiert Jura-Professor Douwe Korff den Einsatz von KI-Modellen zur Terrorismusabwehr im Rahmen der EU-Richtlinie zur Verarbeitung von Fluggastdaten. Mindestens 500.000 Personen würden demnach jedes Jahr zu Unrecht verdächtigt.

Die EU-Richtlinie zu Fluggastdatensätzen (PNR-Richtlinie) verpflichtet die EU-Mitgliedsstaaten seit 2016 dazu, europaweit Daten über Fluggäste zu erheben und untereinander auszutauschen. Ein EuGH-Urteil im Jahr 2022 beschränkte diese Massenüberwachung bei Flugreisen und legte auch ein Diskriminierungsverbot fest. Die PNR-Richtlinie blieb jedoch bestehen.

Die PNR-Daten sollen vor allem sogenannte terroristische Gefährder identifizieren – unter anderem mit Hilfe sogenannter Künstlicher Intelligenz (KI). Mehrere europäische Länder (pdf) – darunter auch Deutschland – setzen KI bereits für die Strafverfolgung und die Vorhersage von Verbrechen ein.

Ebendies kritisiert Douwe Korff, Jura-Professor an der London Metropolitan University und Anwalt für Menschenrechte, in seiner kürzlich veröffentlichten wissenschaftlichen Forschung. Er zählt drei grundlegende Probleme auf, die all jenen algorithmischen Verfahren gemein sind, die dem Profiling von potenziellen Gefährder:innen dienen.

500.000 potenzielle Terrorist:innen

Als Erstes benennt er einen statistischen Fehlschluss, den sogenannten Prävalenzfehler. Dieser Fehler beschreibt, dass vermeintlich zuverlässige statistische Modelle dazu neigen, besonders unwahrscheinliche Ereignisse disproportional häufig vorherzusagen.

Selbst wenn beispielsweise ein KI-Modell Terrorist:innen in 99,9 Prozent der Fälle frühzeitig erkennen könnte, würde das Modell viele Unschuldige gleichermaßen verdächtigen, da die absolute Häufigkeit von Terrorist:innen in der Bevölkerung außerordentlich gering ist. Dieses Problem ist weitgehend unabhängig vom Anwendungsfall und beschreibt eine grundlegende Eigenschaft statistischer Verfahren.

Die Auswertung der Fluggastdaten in der EU würde nach Einschätzung des Wissenschaftlers – selbst bei dieser unrealistisch hohen Trefferquote – jedes Jahr etwa 500.000 Personen fälschlicherweise als potenzielle Terrorist:innen kennzeichnen. Bei einer plausibleren Trefferquote geriete eine noch höhere Zahl Unschuldiger ins Visier der Ermittler:innen. Bereits in der Vergangenheit hatte Korff die EU-Kommission auf diesen Umstand hingewiesen, allerdings sei die Warnung folgenlos geblieben.

Software erbt unsere Verzerrungen

Darüber hinaus neigt Profiling-Software dazu, gesellschaftliche Vorurteile zu replizieren und zu verstärken. Ein solcher Bias (Verzerrung) sei allerdings laut EU-Kommission bei der Analyse von Fluggastdaten ausgeschlossen, da Eigenschaften wie Ethnie oder politische Einstellung ignoriert würden. Diese zu verwenden sei gesetzlich auch verboten.

Korff widerspricht und weist erstens darauf hin, dass die entsprechende Richtlinie es den Mitgliedsstaaten erlaube, auch umfangreiche Datenbanken anderer Behörden in die Analyse einzubeziehen. Diese enthielten durchaus auch sensible personenbezogene Daten.

Zweitens wiesen auch Datensätze ohne sensible personenbezogene Daten starke Verzerrungen auf, die dann die statistische Auswertung beeinflussen würden, so Korff. Besonders marginalisierte Gruppen müssten damit rechnen, disproportional häufig und ohne nachvollziehbare Gründe verdächtigt zu werden.

Software ist intransparent

Denn, so kritisiert Korff schließlich, Behörden könnten selbst die Details solcher Software nicht einsehen. Aus diesem Grund seien sie außerstande, die Ergebnisse der Datenanalyse zu hinterfragen. Ihre Verdachtsfälle könnten sie damit auch nur unzureichend begründen. Aus diesem Grund bezeichnet Korff die Profiling-Algorithmen aus wissenschaftlicher Sicht als fragwürdig und für den polizeilichen Gebrauch als ungeeignet.

Korffs Kritik richtet sich in dem wissenschaftlichen Artikel insbesondere gegen die PNR-Richtlinie der EU-Kommission. Sie sei jedoch auf alle KI-basierten Profiling-Verfahren anwendbar, etwa bei der Chatkontrolle.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —         Frankfurt Airport, Germany

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Wunder und Alltag

Erstellt von Redaktion am 27. Juni 2023

Indigene Bevölkerung in Kolumbien

Aus Bogata von Katharina Wojczenko

Vier Kinder überleben 40 Tage im Dschungel. Der Vorfall zeigt, wie wertvoll das Wissen Indigener ist – und wie ignorant der Staat.

40 Tage nach Absturz ihrer Propellermaschine über dem Amazonas hatte der Suchtrupp die vier indigenen Geschwister im Dschungel gefunden: Lesly (13), Soleiny (9), Tien (5) und Baby Cristin (1). Ausgehungert, abgemagert, dehydriert und zerstochen, aber ohne schwere Verletzungen. „Eine Freude für das ganze Land!“, schrieb Präsident Gustavo Petro auf Twitter. „Wunder, Wunder, Wunder, Wunder!“, jubelte die Luftwaffe. Es war der 9. Juni.

Drei Wochen zuvor war die abgestürzte Propellermaschine samt der drei erwachsenen Passagiere gefunden worden: der Pilot, ein indigener Anführer und die Mutter der Kinder, Magdalena Mucutuy Valencia, waren alle tot. „Das Wunder von Kolumbien“ war in der ganzen Welt eine Sensation. Ausländische Reporterteams standen tagelang vor den Toren des Militärkrankenhauses in Bogotá, wo die Kinder seitdem aufgepäppelt werden. Mitglieder der Familie erzählten ihre Sicht, ebenso der Kommandant der Operation, die indigenen Retter. Aber was bleibt nun von dem „Wunder“?

Kolumbien, weit entfernt vom Frieden, sehnt sich nach guten Nachrichten. Die Regierung des linken Präsidenten Gustavo Petro sowieso. Die steckt mitten in ihrer größten Krise: Abhörskandal, Verdacht auf illegale Wahlspenden, Reformblockade und auch noch ein toter Polizist, der hatte aussagen wollen.

Petro hatte sich Wochen zuvor mit der Falschmeldung blamiert, die Kinder seien gefunden worden. Das war alles plötzlich nebensächlich. Das ganze Land freute sich, über alle Gräben hinweg. Wohl auch deshalb haben Massenmedien und Armee immer wieder eine Nebenfigur in den Mittelpunkt gestellt: einen Rettungshund namens Wilson, der bei der Suche im Dschungel verloren ging – und zum Nationalhelden wurde. „Wir lassen keinen Kameraden zurück“, wiederholt die Armee und sucht mit Soldaten und einer Horde läufiger Hündinnen nach dem Schäferhund.

„Sie sind die Helden“

Dabei gäbe es nach der Rettung der Kinder in Kolumbien wichtigere Themen zu besprechen. Der Vorfall hat die Fähigkeiten und das Wissen der Indigenen ins Rampenlicht gerückt. Diese waren bisher am unteren Ende der Aufmerksamkeitsskala – und ganz oben bei den Opfern, egal ob im Krieg oder bei staatlicher Vernachlässigung. Doch waren es die Indigenen, die das Flugzeug mit den toten Erwachsenen fanden – und die lebendigen Kinder. Präsident Petro hat betont, dass der gemeinsame Einsatz von Armee und indigener Garde der Schlüssel zum Erfolg war.

Der Kommandant Pedro Sánchez, der die Militäroperation leitete, sagte über die Indigenen: „Sie sind die Helden.“ Henry Guerrero, einer der acht Indigenen, die bis zuletzt nach den Kindern suchten, sagte bei der Pressekonferenz der Nationale Organisation der indigenen kolumbianischen Amazonas-Völker (Opiac): „Die Armee weiß nicht, wie sie im Dschungel überlebt.“

Am 1. Mai war die Propellermaschine im Urwalddorf Araracuara gestartet mit Ziel San José del Guaviare. Nach allem, was bekannt ist, sollte die Familie von dort mit einem Flugzeug nach Bogotá fliegen. In der Region ist die bewaffnete Farc-Dissidenz aktiv. Der Vater der beiden jüngsten Kinder, Manuel Ranoque, sagte, dass er von der Farc-Front Carolina Ramírez bedroht wurde und deshalb nach Bogotá fliehen musste. Er habe mit der Familie in der Hauptstadt ein neues Leben beginnen wollen.

Doch die Propellermaschine stürzte im tiefsten Dschungel ab. Die Operation von rund 120 Spezialkräften der Armee und rund 80 Mitgliedern der indigenen Garde war einzigartig. Die Armee ist bei vielen Indigenen berüchtigt, weil sie diese im bewaffneten Konflikt im Stich ließ oder ermordete. Für die Suche hatten mehrere Amazonas-Völker und sogar Indigene Gemeinschaften aus der Pazifik-Region Cauca Hilfe geschickt.

Der mächtige Dschungel

Die Armee hatte Helikopter, Satellitenbilder, Wärmebilder, Lautsprecherdurchsagen. Am Ende brachte das alles nichts, zu dicht das Blätterdach, zu stark der Regen, zu mächtig der Wald. „Wir haben eure Technologie übertrumpft“, sagt Henry Guerrero. „Auch wir können für unser Land etwas tun.“ Wir, ihr – das zeigt, dass zwischen dem Kolumbien der Indigenen, der Regierung im fernen Bogotá und einem Großteil der Bevölkerung eine Kluft existiert.

Helden brauchen Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Die größte Herausforderung bei der Rettung der Kinder war la selva, der Urwald. Der Dschungel gilt für viele in Kolumbien als gefährlich, voller gefährlicher Tiere, als Versteck für Guerillas und Verbrecher. Zudem sitzt die Kolonialzeit tief: Das Terrain muss abgeholzt sein und sauber, um es kontrollieren, bewirtschaften, besitzen zu können. Für die Indigenen ist der Wald die Mutter, die Madre Selva. Die mächtige Mutter, der man mit Respekt begegnet, die ihre Kinder aber auch ernährt, in der Geister leben, die sie beschützen. Dass die Kinder am Leben waren, war für indigene Ex­per­t:in­nen deshalb kein „Wunder“. Lesly, die Älteste, hatte schließlich gelernt, wie der Wald für sie sorgt.

Irgendwann habe er, der Katholik, wie die Indigenen den Wald um Erlaubnis gebeten, ihn betreten zu dürfen, hat Kommandant Sánchez dem Fernsehpublikum erzählt. Wenn man die Berichterstattung verfolgt, muss man auch denken: Vielleicht trägt dieser Vorfall in Kolumbien auch zu einem besseren Verständnis des bedrohten Urwalds und seiner Be­woh­ne­r:in­nen bei. Zu mehr Respekt.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   esta imagen demuestra la creatividad y el aprendizaje trasmitido de nuestros mayores

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Unten        —        En cercanías de la cierra nevada del cocuy se encuentra el parque de los frailejones rodeado por formaciones rocosas y regados por agua proveniente del glacial

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Guatemala: Failed State

Erstellt von Redaktion am 26. Juni 2023

Am 25. Juni wurde in Guatemala gewählt.

Guatemala City

Menschenrechte – davon hat auch in Europa kaum jemand etwas von gehört.

Ein Debattenbeitrag von Knut Henkel

Doch das Land wird von einer korrupten Elite kontrolliert. Daran sind die USA und die EU nicht unbeteiligt. Die letzte unabhängige Bastion der Demokratie war die Ombudsstelle für Menschenrechte.

Ganze 40 Jahre Haft für den Gründer und ehemaligen Direktor der kritischen Tageszeitung elPeriódico hat Guatemalas Staatsanwaltschaft am 30. Mai gefordert. Geldwäsche, Korruption und Erpressung werden dem 66-jährigen José Rubén Zamora vorgeworfen – belastbare Beweise: Fehlanzeige.

Der Fall ist der jüngste in einer langen Kette von Strafprozessen, die dazu dienen, diejenigen hinter Gitter zu bringen oder außer Landes zu drängen, die für ein anderes Guatemala stehen. José Rubén Zamora ist ohne jeden Zweifel so einer. Der hagere Mann mit dem zurückgekämmten Haar hat sich sein ganzes Leben lang für ein kritisches Mediensystem in Guatemala engagiert. Nun droht ihm, für Jahre weggesperrt zu werden – wie so vielen anderen auch.

Guatemala, das größte Land Mittelamerikas, dass hierzulande vielen für guten Kaffee, die Rui­nen der Maya-Hochkultur und wenigen für den überaus blutigen Bürgerkrieg (1960–1996) bekannt ist, schmiert ab. In gerade acht Jahren ist das Land, das im September 2015 noch als Hoffnung für einen „mittelamerikanischen Frühling“ galt, zu einem autoritären Regime mutiert. Die Präsidentschaftswahlen vom Sonntag, 25. Juni, sind dafür das beste Beispiel, denn erstmals wurde ganz offen manipuliert: nicht an der Urne und während der Stimmauszählung, sondern schon davor.

Indigene Kandidatin vorab ausgeschlossen

Schon vor der Wahl spielten sich zwei Gerichte, das Oberste Wahlgericht und das Verfassungsgericht, die Bälle zu: Drei Kandidat:innen, darunter die aussichtsreiche indigene Kandidatin Thelma Cabrera, waren von beiden Gerichten unter dubio­sen Begründungen von den Wahlen ausgeschlossen worden. Mit Edmond Mulet wartete am Ende ein vierter Kandidat auf sein endgültiges Urteil von der höchsten juristischen Instanz des Landes. Vieles deutete darauf hin, dass auch der ehemalige UN-Diplomat seine politischen Ambitionen beerdigen muss.

Thelma Cabrera.

Alles andere wäre eine Überraschung, denn viele der 17 Millionen Gua­te­mal­te­k:in­nen wissen, dass Richter und Richterinnen in Schlüsselpositionen in Guatemala mittlerweile handverlesen sind. Dafür sorgt ein intransparentes Nominierungssystem, das schon vor Jahren hätte reformiert werden sollen. Nun befindet es sich in den Händen einer korrupten und überaus mächtigen Allianz: des Pakts der Korrupten.

So wird das Bündnis aus Militärs, einflussreichen Unternehmerfamilien, korrupten Politikern und der organisierten Kriminalität genannt, das sich ab 2015 langsam reorganisierte und peu à peu die Institutionen übernahm. Die Justiz war zwischen 2007 und 2015 zu einem immer unbequemeren und unkalkulierbaren Faktor geworden.

Das hatte seinen Grund, denn seit dem Dezember 2006 war die UN-Kommission ­gegen Straflosigkeit in Guatemala (Cicig) im Einsatz und sorgte dafür, dass sich die Strukturen im Justizsektor spürbar änderten. Richter:innen, die die Hand aufhielten, wurden vor die Tür gesetzt, neue Gerichtshöfe eingerichtet. All das sorgte 2015 für eine demokratische Zäsur: den unfreiwilligen Rücktritt von Präsident Otto Pérez Molina.

Der ehemalige General des militärischen Geheimdiensts verlor, nachdem die Ermittlungsbehörden ordnerweise Beweise für Korruption ins Parlament gekarrt hatten, am 1. September 2015 seine Immunität. Am nächsten Tag trat er zurück, und 150.000 Menschen ­feierten vor dem Nationalpalast die für Guatemala vollkommen ungewohnte Sternstunde der Demo­kratie. Selbst Experten wie der Menschenrechtsanwalt Edgar Pérez witterten Morgenluft und sahen ein Land auf der Kippe: zwischen Demokratie und dem Rückfall in autoritäre Strukturen.

Zwei Jahre später, im Sommer 2017, sorgte Präsident Jimmy Morales für eine Zäsur: er attackierte die international hochgelobte UN-Kommission Cicig. Zentraler Grund für die Attacken aus dem Präsidentenpalast war die Tatsache, dass die Cicig nicht nur gegen einen Sohn und den Bruder des Präsidenten, sondern auch gegen Morales selbst wegen illegaler Wahlkampffinanzierung er­mittelte.

An den Parallelstrukturen gescheitert

Das war zu viel für den korrupten Präsidenten, der für eine mit ehemaligen Militärs durchsetze national-konservative Partei ange­treten war. Erst erklärte er den damaligen Direktor der Cicig, den kolumbianischen Richter und heutigen kolumbianischen Verteidigungsminister Iván Velásquez, zur unerwünschten Person und entzog dann der Cicig im September 2019 ihr Mandat.

Quelle         :        TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —      Guatemala City

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PRIGOZHIN via PUTIN

Erstellt von Redaktion am 26. Juni 2023

PRIGOZHINS MEUTEREI GEGEN MOSKAU

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Von der Washington Post angekündigt

Es war ausgerechnet die Washington Post (s.Link), die im Mai behauptete, dass der Inhaber des Söldnerunternehmens, das unter dem Namen „Wagner-Gruppe“ bekannt ist, der aktuellen ukrainischen Regierung strategische Unterlagen der russischen Armee angeboten haben soll. In einem Krieg der Oligarchen – der Chef der Wagner-Gruppe Yevgeny Prigozhin gehört auch zu dieser einflußreichen Gruppe in Russland – spielt Geld nicht nur eine Rolle für den Waffenkauf, sondern auch für die jeweilige Loyalität. Es ist denkbar, dass die Ukraine-Oligarchen Prigozhin einfach genug für den Seitenwechsel geboten haben: Seine Truppe marschiert jetzt gegen Russland.

Kapitalisten kennen kein Vaterland

Schwer vorstellbar ist, dass die russische Regierung die Information ignoriert hat. Doch offenkundig war sie vor der Ankündigung der Washington Post einer Meuterei gegen die russische Militärführung nicht informiert genug, um rechtzeitig vorbeugende Maßnahmen zu treffen. Dieser Mangel wiegt um so schwerer, als Prigozhin seit seinen Sankt Petersburger Tagen in der Umgebung von Wladimir Putin verortet wurde: Er erhielt eine Reihe von Staatsaufträgen, unter anderem lieferte er Essen an die Russische Armee. Die Meuterei Prigozhins bestätigt die marxistische Erkenntnis, dass Kapitalisten kein Vaterland kennen, ihre Heimat ist der Profit. Die Meuterei, da darf man sicher sein, war nicht billig.

Ukraine als Aufmarschgebiet gegen Russland

Bisher gelang es Wladimir Putin, den Ukraine-Krieg unter der Flagge der Nation zu führen. Tatsächlich soll der Krieg die nationalen Interessen sichern. Denn solange es den USA und ihrer NATO gelingt, die Ukraine als Aufmarschgebiet gegen Russland zu formieren, solange ist die internationale Position Russlands erheblich geschwächt. Diese Schwäche würde sich auf Dauer auch auf die russischen Handelsbedingungen auswirken, von der Verteidigungsfähigkeit des Landes ganz zu schweigen.

Vorbereitung eines Putsches gegen die russische Regierung

Prigozhins Meuterei muß als Vorbereitung eines Putsches gegen die russische Regierung gewertet werden. Die erfahrenen britischen Imperialisten lassen Prigoschins Meuterei durch ihr Verteidigungsministerium als „die größte Herausforderung für den russischen Staat in jüngster Zeit“ einschätzen. Wladimir Putin selbst bestätigt diese Wertung, wenn er sagt, der Aufstand sei „genau die Art von Schlag gewesen, der Russland 1917 zugefügt wurde, als das Land den Ersten Weltkrieg führte, aber der Sieg wurde ihm genommen. Intrigen, Streitereien, Politik hinter dem Rücken der Armee und des Volkes führten zum größten Schock: der Zerstörung der Armee und dem Zusammenbruch des Staates, dem Verlust riesiger Gebiete. Am Ende – die Tragödie des Bürgerkriegs.“

Niederlage Russlands wäre ein schwerer Schlag für freie Nationen

In den nächsten Tagen und Wochen wird sich das Schicksal Russlands entscheiden. Und mit ihm die Frage, ob Europa komplett unter die Stiefel der USA gerät. Falls die Russen den Kampf gegen die USA nicht gewinnen würden, kann das auch die Chinesen nicht unberührt lassen: Ein Sieg der USA würde das internationale Kräfteverhältnis zugunsten der westlichen Kräfte verschieben. Für die Handlungsspielräume aller Nationen, die ihre Selbstständigkeit, ihre Freiheit und Unabhängigkeit schätzen, wäre eine Niederlage Russlands ein schwerer Schlag.

https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/05/14/prigozhin-wagner-ukraine-leaked-documents/

Urheberrecht

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Grafikquelle :

Oben      —       Prime Minister Vladimir Putin looked over the factory’s production chain and was shown new vending machines that accept cards. The factory’s director, Yevgeny Prigozhin, remarked that they are produced by companies that previously manufactured slot machines. „They have been retrofitted,“ Prime Minister Putin said. „It’s very good and useful.“ He asked Leningrad Region Governor Valery Serdyukov whether the parents of school students are satisfied with the meals. The governor replied that it took some time for them to get used to the new meal system but all issues have been resolved and the students are satisfied. Mr Prigozhin said that his factory does not use frozen food products or preservatives. The cost of an adult meal produced by Concord is 32 roubles.

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Irgendwas mit Internet:

Erstellt von Redaktion am 26. Juni 2023

Der Schlüssel für Open Source in den Verwaltungen ist das Vergaberecht

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Ein Grund für zu wenig Open-Source in der Verwaltung ist das Vergaberecht. Es muss auch eine politische Entscheidung sein, welche digitalen Infrastrukturen man betreibt und nutzt.

Wir haben 2023 und die meisten von uns haben, abgesehen von ELSTER, in der Regel noch nie eine funktionierende digitale Behördenanwendung in freier Wildbahn gesehen. Dabei sollte längst alles digitalisiert sein und zwar schon seit Jahrzehnten. Aber das ist nicht das Thema meiner Kolumne und Lilith Wittmann hat auf der vergangenen re:publica schon viel zu diesem Aspekt gesagt.

Mir geht es um den Einsatz von Open-Source-Software in der Verwaltung, einem Thema, das mich schon länger beschäftigt als es dieses Blog mit der passenden Domain gibt. Denn schon am Anfang dieses Jahrtausends gab es eine Debatte darüber, dass der Einsatz von Open-Source-Software bei der Digitalisierung der Verwaltungen viele Chancen biete. Das Bundesinnenministerium hatte dazu sogar einmal ein Referat eingerichtet.

Diskutiert wurde vor allem über den Umstieg bei den Betriebssystemen und Office-Programmen, um unabhängiger von Microsoft zu werden. Das Unternehmen dominierte damals den Markt wie kein anderes und verdiente gut durch die Abhängigkeit und damit verbundene Lizenzgebühren für die Nutzung ihrer Software von der Stange. Vom Unternehmen angeworbene ehemalige CDU-Politiker machten Lobbying für Microsoft gegen Linux und sorgten für viele Jahre dafür, dass sich unter der Merkel-geführten Bundesregierung nichts änderte.

Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag umsetzen

Die Ampel-Koalition überraschte mit einem ambitionierten Koalitionsvertrag, der zumindest kurzfristig etwas Hoffnung gab. Diese ist mittlerweile bei den meisten Beobachter:innen weitgehend verschwunden, aber noch immer finden sich spannende Versprechungen im Koalitionsvertrag, die man mal mit Leben füllen könnte, wie z.B.

„Für öffentliche IT-Projekte schreiben wir offene Standards fest. Entwicklungsaufträge werden in der Regel als Open Source beauftragt, die entsprechende Software wird grundsätzlich öffentlich gemacht.“

Das war und ist eine Forderung, die bereits 25 Jahre alt ist und immer wieder aus der Open-Source-Welt und der digitalen Zivilgesellschaft in die Politik reingebracht wurde. „Public Money, Public Code“ heißt die passende Kampagne der Free Software Foundation Europe dazu, hinter der alle stehen. In Kurzform heißt das einfach: Öffentlich-finanzierte Software, also durch Steuergeld finanzierte Software sollte möglichst allen wieder zur Verfügung stehen. Und das als Default und nicht als mögliche Option.

Bisher ist es anders herum und nur in Einzelfällen war es hochmotivierten Menschen manchmal möglich, viele Widerstände zu umgehen. Dabei lagen die Vorteile von Open-Source-Software schon lange auf der Hand: Der Aufbau von Ökosystemen wird erleichtert, Verwaltungen auf allen Ebenen können sich zusammenschließen, gemeinsame Infrastrukturen betreiben und Weiterentwicklungen finanzieren. Daraus ergibt sich auch eine Herstellerunabhängigkeit – oder auf Neudeutsch ganz viel „digitale Souveränität“.

Public Money, Public Code

Eine der größten Hürden war und ist das Vergaberecht. Gegner von Open-Source-Software bezogen sich immer darauf, dass man ja niemand benachteiligen dürfe, der keine Open-Source-Software nutzt und verkauft. Und damit wurde immer das Steuerungselement boykottiert, denn es ist einfach eine politische Frage, auf welcher Basis die eigenen digitalen Infrastrukturen funktionieren sollen!

Die Diskussion über eine Reform des Vergaberechts ist alt und geht weit zurück hinter der Münchener Linux-Entscheidung. In den Nuller-Jahren gab es dazu auch Anhörungen im Bundestag, aber die Microsoft-nahe CDU/CSU verhinderte jede Reform.

Die Folgen kennen wir: Massive Lock-In-Effekte und Abhängigkeiten von Microsoft, das die Lizenzkosten immer weiter anhebt. Es gibt in den Verwaltungen kaum Personal, dass auch mal in anderen IT-Infrastrukturen außerhalb der Windows-Welt denken und klicken kann. Das zusammen ist ein Teufelskreis.

Aber Microsoft ist auch nur ein Nutznießer, wenn auch der mit Abstand absolut Größte. Im vergangenen Sommer veranschaulichten Ulf Buermeyer und Philip Banse in ihrem Podcast Lage der Nation, wie es um Teile unserer eGovernment-Infrastruktur steht: „Keine weiteren Fragen“. Sie besuchten im Rahmen eines Roadtrips für zwei Podcast-Folgen Verwaltungen und ließen sich zeigen, wie die Software vor Ort funktioniert und welche Abläufe damit abgebildet werden.

Eines der Hauptprobleme: Softwareunternehmen verkaufen geschlossene Lösungen für ein Problem und haben bisher kein Interesse, dass ihre Software durch Offene Standards mit anderen Lösungen kommuniziert. Die Folgen sind Ausdrucken und Einscannen zwischen Fachanwendungen. Das klingt wie Realsatire, beschreibt aber den Status Quo in Deutschland in Sachen eGovernment im Jahre 2023.

Man ist nicht mal auf den Gedanken gekommen, die Hersteller solcher Fachanwendungen zu offenen Standards zu verpflichten, was das mindesteste hätte sein müssen!

Das Vergaberecht richtig reformieren

Das muss sind endlich ändern. Die CDU/CSU ist gerade nicht mehr in der Bundesregierung, die Debatte ist wieder eröffnet und das Wirtschaftsministerium arbeitet gerade an einer Reform des Vergaberechts. Im vergangenen Monat zeichnete die Open Source Business Alliance in einem in Auftrag gegebenen Gutachten verschiedene Optionen auf, wo der Gesetzgeber an welchen Stellschrauben drehen könnte. Einige Bundesländer wie Thüringen und Schleswig-Holstein sind da schon weiter und haben das schon längst geregelt.

Der grüne Bundestagsabgeordnete Maik Außendorf beauftragte den wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, in einem Gutachten aufzuarbeiten, wie diese Frage, die ja auch eine europarechtliche Frage ist, in unseren EU-Partnerstaaten gelöst wird. Das Ergebnis gibt Hoffnung, es gibt sehr viele Möglichkeiten, der Tenor ist: Man muss es nur wollen und dann machen.

Was klar ist: Es gibt nicht die einzelne große Schraube, aber der Status Quo muss nicht bleiben. Was fehlt ist erst mal der politische Wille auf allen Ebenen, das Versprechen des Koalitionsvertrages und vieler anderer aktueller Papiere zur Verwaltungsmodernisierung auch umzusetzen. Und Open-Source-Software und Offene Standards überall dort zu bevorzugen, wo es geht. Vielleicht wird es dann auch mal was mit der Digitalisierung der Verwaltung – wenn man parallel den Kompetenzaufbau innerhalb der Behörden nicht vergisst.

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DIE * WOCHE

Erstellt von Redaktion am 26. Juni 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

U-Boot, Inflation, Yacht-feindliche Orcas: Meeresbiologen vermuten Rache. In den Freibädern gehts wieder rund. Musk will sich mit Zuckerberg kloppen. Und Arme bekommen ein „Stellt euch mal nicht so an“.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Helene Fischer hat Nasenbluten.

Und was wird besser in dieser?

Erste singende KI.

In den Freibädern gibt es mal wieder Schlägereien. Sorgt Claudia Pechstein dort bald für Recht und Ordnung?

Die heißen Tage könnten den polizeilichen Wasserwerfern einen enormen Popularitätsschub bringen. Einfach mal in die schwitzende Masse halten. Vielleicht wäre Schwimmmeister nicht nur ein tolles Wort mit drei M hintereinander, sondern auch eine weitere Option für die Sportförderung: In deutschen Olympiateams arbeiten formal zwei Drittel der Teilnehmenden bei Bundeswehr und Bundespolizei. Wenn der Staat auch die Bademeister noch rekrutiert, bekommen sie eine imponierende Uniform, Übung an der Waffe und im Freibad weht ein Hauch von CDU-Parteitag. Das schreckt ab.

Australien kündigt an, stärker gegen Hassreden auf Twitter vorzugehen. Mehr oder weniger gleichzeitig wollen dessen Besitzer Elon Musk und Meta-CEO Mark Zuckerberg sich zu einem Käfigkampf treffen. Wie lange noch, bis Musk k. o. geht?

„Über­durch­schnitt­lich intelligent, Gruppenwesen und aus Daffke mal was kaputtmachen – hallo Geschwister“

Zerrissene Visitenkarte: Unter Burschenschaftern die Forderung zur scharfen Mensur. In Deutschland dürften die beiden Hochleistungsflegel einander legal blaue Häkchen ins Gesicht metzgern, in Österreich mit einigem Stolz in die Narbe ein Pferdehaar einnähen lassen: Das gibt eine stattliche Wulst. Es sind also noch schöne Stei­gerungen möglich, bis endlich ein demokratisch legitimiertes und kuratiertes Netzwerk entsteht.

Die gefühlte Inflation in Deutschland liegt laut einer Studie des Kreditversicherers Allianz Trade bei 18 Prozent, die tatsächliche bei 6 Prozent. Fühlt sich Ihre Realität eher nach 6 oder 18 an?

Wenn ich das Zwingende und das Häufige – Steuern, Energie, Lebensmittel – bezahlt habe, ist noch ein kleiner, schmelzender Puffer übrig. Wer dagegen dann schon blank ist, empfindet die Inflation höher als wer dann noch reichlich hat. Paradox: Wer viel Geld hat, dem macht viel Geldentwertung wenig. Die allgemeine Inflationsrate ist ein Mittelwert, der finanziell Schwächeren ein herzliches „Stellt euch mal nicht so an“ vorhält. Aus Sicht derer, die sich nicht so anstellen müssen.

Die Orcas spielen vor der spanischen Küste „Schiffe versenken“. Rächt sich jetzt die Tierwelt an uns Menschen?

Meeresbiologen vermuten tatsächlich Rache einer notorischen Gruppe von Schwertwalen, die schon mehrere Boote und dort jeweils das Ruder angegriffen haben. Die Anführerin der Gruppe könnte ein Junges an einem Ruder verloren haben, wird spekuliert. Andere führen Beispiele an, dass Orcas gern spielen – mit Algen, Quallen oder eben mal einem Boot. Überdurchschnittlich intelligent, Gruppenwesen und aus Daffke mal was kaputtmachen – hallo Geschwister.

Deutschland ist im Gleichstellungsranking des Weltwirtschaftsforums von Platz 10 auf Platz 6 vorgerückt. Können wir uns darauf ausruhen?

Wenn wir die Klimakatastrophe lindern und überleben können, winkt deutschen Frauen in weiteren 67 Jahren eine ausgewogene Balance zwischen den Geschlechtern. Vielleicht erklärt das, warum es männerdominierte Parteien mit der Klimapolitik nicht so eilig haben: Lieber versaften als in der Weibertyrannei vegetieren. Deutschlands Verbesserung bezieht sich aus Politik, Bildung und Gesundheitswesen. Das kaschiert Rückschritte in der Wirtschaft. Also der Equal Pay Gap und der Mangel an Frauen in Führungspositionen. Da wir bei den „generations“ eh gerade bei „Z“ angekommen sind, mag man zuversichtlich schauen auf die „Generation Merkels Enkelinnen“.

Die Passagiere des U-Bootes „Titan“ sind wohl tot. Ein Tauchroboter habe Trümmerteile gefunden. Was bedeutet das für die Zukunft des Risikotourismus?

Quelle         :        TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

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Die Letzte Generation

Erstellt von Redaktion am 25. Juni 2023

„Schluss mit der Präventivhaft“

Von    : Herta Däubler-Gmelin als Gastbeitrag

Herta Däubler-Gmelins Expertise ist gefragt: als Vorsitzende der Berliner Kommission „Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen“ ebenso wie zur Kriminalisierung der Letzten Generation. Die Ex-Bundesjustizministerin (SPD) in einem Exklusiv-Beitrag für Kontext.

Die Aktionen der Letzten Generation spalten die Öffentlichkeit. Viele von uns unterstützen ihre Ziele mit gutem Grund: Wir wissen längst, dass nur noch wenig Zeit bleibt, um die Klimakrise nicht vollends zur Klimakatastrophe zu machen. Wir alle sehen auch, dass die Verantwortlichen in Regierungen und Parlamenten die notwendigen Veränderungen zu zögerlich vorantreiben können, weil der Einfluss der Lobby zu stark und die Trägheit vieler Bürgerinnen und Bürger zu groß ist. Viele lassen sich auch allzu gern von populistischen Beschwichtigern einlullen, obwohl wir jeden Tag mehr erleben, dass jedes weitere Verschieben der längst bekannten überfälligen Entscheidungen doppelt kostet und sich rächen wird.

Also: Alle müssen mehr tun, wir müssen unsere gewohnte Lebensweise verändern. Und zwar bald. Darauf muss immer wieder aufmerksam gemacht werden. Durch bessere politische Kommunikation – das ist eine wichtige Aufgabe nicht nur für Politiker:innen und Parteien, sondern auch für Journalisten, die sich heute viel zu viel darauf begrenzen, genüsslich den Streit und die Konflikte in der Regierung zu beschreiben.

Demonstrationen und Aktionen der Zivilgesellschaft gehören dazu. Die gibt es glücklicherweise, und sie sind, ebenso wie Kritik, nicht nur erlaubt, sondern geradezu Bürgerpflicht. Sie können Öffentlichkeit und Druck erzeugen und auf diese Weise mithelfen, die längst als erforderlich erkannten Änderungen gerade noch rechtzeitig genug umzusetzen.

Mehr Kreativität und Hirn

Das muss gelingen. Die Nachdenklichen unter den jungen Leuten wissen, was alle spüren: Heute wird über ihre Zukunft entschieden. Meine Enkelinnen und Enkel und weitere Generationen müssen die Chance bekommen, auch künftig selbstbestimmt in einer Gemeinschaft mit Freiheit, Schutz und Solidarität leben zu können. Das fordern sie in vielen Demonstrationen und Aktionen, von denen die meisten beeindruckend kreativ sind und bemerkenswert wenig über die Stränge schlagen.

Nicht so manche Aktivitäten der Letzten Generation: Deren Aktionen des zivilen Ungehorsams verletzen häufig Vorschriften, auch Gesetze. Das ist ein Problem, ohne Zweifel; in jedem Einzelfall müssen Ziel und Mittel in rechtsstaatlicher Balance stehen. Ihre Klebeaktionen beispielsweise sind ein Grenzfall. Sie nerven nicht nur die für die Trägheit politisch Verantwortlichen, sondern auch viele „normale“ Bürger, die sich ungern behelligen lassen, obwohl auch sie aufgerüttelt werden müssen: Wer, wie ich, im E-Auto in Berlin (nicht in Tübingen, da hat sich OB Palmer vernünftigerweise mit den Aktivisten auseinandergesetzt) mehr als eine Stunde in einem Kleber-Stau stand, hat für den Zorn vieler Aufgestauter durchaus Verständnis. Allerdings bleibt die Frage unbeantwortet, ob die Empörten, die bei solchen Gelegenheiten am liebsten in die Reporter-Mikrofone beißen würden, sich in den heute normalen verkehrsbedingten Staus vergleichbar echauffieren.

Ich finde auch die Farb- oder Kartoffelbreiattacken auf berühmte Museumsbilder und manches andere schlicht blöd und wünsche mir mehr Kreativität und Hirn, um durch bessere Demonstrationsformen die notwendige Klimapolitik im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu halten und nicht durch die Aufregung über zweifelhafte Methoden abzulenken. Die Forderung der Letzten Generation nach „Bürgerräten“ halte ich für politisch falsch und für eher naiv. Zwar sehe ich, dass damit die Zuständigkeit der verfassungsgemäß gewählten Parlamente keineswegs verdrängt werden soll. Ich sehe jedoch nicht, warum und wie Bürgerräte eine weniger träge oder weniger durch Lobbyisten beeinflusste Klimapolitik durchsetzen könnten. Vorgeschaltete Beratungen von Bürgerräten würden die Willensbildung nur weiter verlängern. Tempo 30 in Ortschaften und Tempo 100 im Übrigen wäre konsequenter und wirksamer.

Söder sollte besser Bäume umarmen

Söder – Holz zu Holz und Hirn zu Hirn

Kritik ist also nicht nur an der Trägheit der Regierenden und unserer Gesellschaft geboten; ich halte auch die Auseinandersetzung über manche Aktivitäten der Letzten Generation für völlig berechtigt!

Aber ist es deshalb vertretbar oder gar richtig, diese Gruppe als „Terroristen“, „Ökoterroristen“ oder Kriminelle abzustempeln, wie das von besonders prägnanten Lautsprechern der politischen Rechten mittlerweile geschieht? Und ist es zulässig, Mitglieder dieser Gruppe durch Polizei und Justiz entsprechend strafrechtlich zu verfolgen? Klare Antwort: nein, ganz sicher nicht.

Quelle       :          KONTEXT-Wochenzeung-online        >>>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     — Mehr Infos: www.mehr-demokratie.de/erfahrungsbericht-karlsruhe.html

2.) von Oben      —     Der Aufstand der Letzten Generation blockiert Straße am Hauptbahnhof, stehend Lina Eichler, Berlin, 28.01.22

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Unten       —

Letzte Generation Löwenbräukeller Munich Dachauer Strasse 2023-06-12

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Die Lobby der Rüstung

Erstellt von Redaktion am 25. Juni 2023

Wer den Krieg anheizt und von ihm profitiert

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Matthew Hoh /   

Wie der militärisch-industrielle Komplex Politik und Medien beeinflusst – Die Kosten und Risiken des Kriegs werden verdrängt.

upg. Keine westliche Provokation rechtfertigt den brutalen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Trotzdem stellt sich die Frage, ob das unermessliche Elend und die flächendeckenden Verwüstungen hätten vermieden werden können.
In einem ersten Teil erinnerte Matthew Hoh an Warnungen schon vor Jahren. In diesem zweiten Teil geht es darum, wer vom Krieg profitiert, wer auf westlicher Seite die Information beeinflusst, welche Kosten und Risiken der Krieg verursacht und wie es um einen Frieden steht.
Neue Märkte für den militärisch-industriellen Komplex

Hinter dem diplomatischen Fehlverhalten und dem damit einhergehenden Grössenwahn (siehe 1. Teil) steht der militärisch-industrielle Komplex der USA (hier und hier und hier).

Vor mehr als 60 Jahren hatte Präsident Dwight Eisenhower in seiner Abschiedsrede vor «dem Potenzial für den verhängnisvollen Aufstieg einer fehlgeleiteten Macht» gewarnt. Er beschrieb damit den immer grösser werdenden Einfluss, wenn nicht gar die Kontrolle der Politik des militärisch-industriellen Komplexes.

Am Ende des Kalten Krieges befand sich der militärisch-industrielle Komplex in einer existenziellen Krise. Ohne einen Gegner wie die Sowjetunion wäre es schwierig gewesen, die massiven Rüstungsausgaben der USA zu rechtfertigen. Die NATO-Erweiterung eröffnete neue Märkte. Die osteuropäischen und baltischen Länder, die der NATO beitraten, mussten ihre Streitkräfte aufrüsten und ihre Bestände aus der Sowjetzeit durch westliche Waffen, Munition, Maschinen, Hardware und Software ersetzen, die mit den Armeen der NATO kompatibel waren. Ganze Armeen, Seestreitkräfte und Luftstreitkräfte mussten neu aufgestellt werden. Die NATO-Erweiterung war ein Geldsegen für eine Waffenindustrie, die ursprünglich die Not als Frucht des Endes des Kalten Krieges sah.

Von 1996 bis 1998 gaben die US-Rüstungsunternehmen 51 Millionen Dollar (heute 94 Millionen Dollar) für Lobbyarbeit im Kongress aus. Weitere Millionen wurden für Wahlkampfspenden ausgegeben. Als die Waffenindustrie das Versprechen der osteuropäischen Märkte erkannte, war es vorbei mit dem Wunsch, die Schwerter zu Pflugscharen zu schlagen.

In einem zirkulären und sich gegenseitig verstärkenden Kreislauf stellt der Kongress dem Pentagon Geld zur Verfügung. Das Pentagon finanziert die Rüstungsindustrie, die wiederum Think Tanks und Lobbyisten finanziert, um den Kongress zu weiteren Ausgaben für das Pentagon zu bewegen. Wahlkampfspenden der Waffenindustrie begleiten diese Lobbyarbeit. Das Pentagon, die CIA, der Nationale Sicherheitsrat, das Aussenministerium und andere Glieder des nationalen Sicherheitsstaates finanzieren direkt die Denkfabriken und sorgen dafür, dass jede Politik, die gefördert wird, die Politik ist, welche die staatlichen Institutionen selbst wollen.

Präsenz in Medien, ohne Interessenkonflikte offenzulegen

Nicht nur der Kongress steht unter dem Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes. Die gleichen Rüstungsunternehmen, die Kongressabgeordnete bestechen und Think Tanks finanzieren, beschäftigen oft direkt oder indirekt die Experten, die in Cable News zu sehen sind und denen in Medienberichten viel Platz eingeräumt wird.

Selten wird dieser Interessenkonflikt von den amerikanischen Medien erkannt. So treten in den Medien Männer und Frauen auf, die ihre Gehaltsschecks Lockheed, Raytheon oder General Dynamics verdanken, und plädieren für mehr Krieg und mehr Waffen. Diese Kommentatoren und Experten geben nur selten zu, dass ihre Wohltäter immens von der Politik für mehr Krieg und mehr Waffen profitieren.

Drehscheibe zwischen Rüstungsindustrie und Regierung

Die Korruption reicht bis in die Exekutive hinein, da der militärisch-industrielle Komplex viele Verwaltungsbeamte beschäftigt. Ausserhalb der Regierung wechseln republikanische und demokratische Beamte vom Pentagon, der CIA und dem Aussenministerium zu Rüstungsunternehmen, Denkfabriken und Beratungsfirmen.

Wenn ihre Partei das Weisse Haus zurückerobert, kehren sie in die Regierung zurück. Dafür, dass sie ihre Rotationskartei mitbringen, erhalten sie üppige Gehälter und Vergünstigungen. In ähnlicher Weise gehen US-Generäle und Admiräle, die aus dem Pentagon ausscheiden, direkt zu Rüstungsunternehmen.

Diese Drehtür erreicht die höchste Ebene. Bevor sie Verteidigungsminister, Aussenminister und Direktor des Nationalen Nachrichtendienstes wurden, waren Lloyd Austin, Antony Blinken und Avril Haines für den militärisch-industriellen Komplex tätig. Im Fall von Minister Blinken gründete er eine Firma, WestExec Advisors, die sich dem Handel und der Vermittlung von Einfluss für Waffenverträge widmete.

Interessen auch der Öl- und Gasindustrie nicht ausblenden

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg gibt es eine breitere Ebene der kommerziellen Gier, die nicht abgetan oder ignoriert werden kann. Die USA versorgen die Welt mit fossilen Brennstoffen und Waffen. Die US-Exporte von Erdölprodukten und Waffen übersteigen inzwischen die Exporte von landwirtschaftlichen und industriellen Erzeugnissen.

Der Wettbewerb um den europäischen Brennstoffmarkt, insbesondere um Flüssigerdgas, war in den letzten zehn Jahren ein Hauptanliegen sowohl der demokratischen als auch der republikanischen Regierungen. Die Beseitigung Russlands als wichtigster Energielieferant für Europa und die Begrenzung der weltweiten Ausfuhren fossiler Brennstoffe aus Russland haben amerikanischen Öl- und Gasunternehmen grosse Gewinne gebracht. Neben umfassenderen kommerziellen Handelsinteressen sind die schieren Geldbeträge, die das amerikanische Geschäft mit fossilen Brennstoffen einbringt, nicht zu vernachlässigen.

Die Kosten des Krieges

Hunderttausende sind wohl bei den Kämpfen getötet und verwundet worden. Die nachhaltigen psychologischen Schäden sowohl bei den Kämpfern als auch bei der Zivilbevölkerung könnten noch grösser sein. Millionen von Menschen wurden obdachlos und leben nun als Flüchtlinge.

Die Umweltschäden sind unabsehbar, und die wirtschaftlichen Zerstörungen beschränken sich nicht nur auf das Kriegsgebiet, sondern haben sich auf die ganze Welt ausgeweitet, die Inflation angeheizt, die Energieversorgung destabilisiert und die Ernährungssicherheit beeinträchtigt. Der Anstieg der Energie- und Lebensmittelkosten führte zweifellos zu einer Vielzahl von Todesfällen weit über die geografischen Grenzen des Krieges hinaus.

Der Krieg wird sich wahrscheinlich zu einer langwierigen Pattsituation mit sinnlosem Töten und Zerstörung entwickeln. Am Schlimmsten wäre es, wenn der Krieg eskaliert – vielleicht unkontrolliert zu einem Weltkrieg und möglicherweise zu einem Atomkonflikt. Egal, was die verrückten Realisten in Washington, London, Brüssel, Kiew und Moskau sagen mögen, ein Atomkrieg ist nicht kontrollierbar und schon gar nicht zu gewinnen. Selbst ein begrenzter Atomkrieg, bei dem vielleicht jede Seite zehn Prozent ihrer Arsenale abfeuert, wird zu einem nuklearen Winter führen, in dem wir zusehen müssen, wie unsere Kinder verhungern. Alle unsere Bemühungen sollten darauf gerichtet sein, eine solche Apokalypse zu vermeiden.

Das Potenzial für Frieden

Die beiden Teile dieser Analyse sollten darlegen, wie Russland die bewussten Provokationen der USA und der NATO wahrnimmt. Russland ist eine Nation, deren derzeitige geopolitische Ängste von der Erinnerung an die Invasionen durch Karl XII., Napoleon, den Earl of Aberdeen, den Kaiser und Hitler geprägt sind.

Karikatur der Lobby im House of Commons (Vanity Fair, ca. 1886)

US-Truppen gehörten zu den alliierten Invasionstruppen, die im russischen Bürgerkrieg nach dem Ersten Weltkrieg erfolglos gegen die siegreiche Seite intervenierten. Historische Zusammenhänge zu kennen, den Feind zu verstehen und strategisches Einfühlungsvermögen für den Gegner zu haben, ist weder hinterlistig noch schwach, sondern klug und weise. Dies wird uns auf allen Ebenen des US-Militärs beigebracht.

Es ist auch nicht unpatriotisch oder unaufrichtig, sich gegen die Fortsetzung dieses Krieges auszusprechen und sich zu weigern, Partei zu ergreifen.

Präsident Bidens Versprechen, die Ukraine «so lange wie nötig» zu unterstützen, darf kein Freibrief für die Verfolgung unklarer oder unerreichbarer Ziele sein. Eine solche Politik könnte sich als ebenso katastrophal erweisen wie die Entscheidung von Präsident Putin im letzten Jahr, seine kriminelle Invasion und Besetzung zu starten.

Es ist moralisch nicht vertretbar, die Strategie zu unterstützen, Russland bis zum letzten Ukrainer zu bekämpfen. Und es ist auch nicht moralisch zu schweigen, wenn die USA Strategien und Politiken verfolgen, welche die erklärten Ziele nicht erreichen können. Dieses sinnlose Streben nach einer Niederlage Russlands im Geiste einer Art von imperialem Sieg aus dem 19. Jahrhundert ist unerreichbar.

Nur ein sinnvolles und echtes Bekenntnis zur Diplomatie mit dem Ziel eines sofortigen Waffenstillstandes sowie Verhandlungen ohne disqualifizierende oder prohibitive Vorbedingungen werden diesen Krieg und das damit verbundene Leid beenden, Europa Stabilität bringen und das Risiko eines nuklearen Krieg ausschliessen.

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Dieser Beitrag erschien am 6. Juni in Substack und in Scheerpost am 9. Juni. Übersetzt und leicht gekürzt von Infosperber, auch mit Unterstützung von Deepl.

Autor Matthew Hoh

Hoh ist seit 2010 Senior Fellow am Center for International Policy in Washington. Im Jahr 2009 trat er aus Protest gegen die Entwicklung des Krieges in Afghanistan von seinem dortigen Posten zurück. Zuvor beteiligte sich Matthew an der Besetzung des Irak, zunächst 2004/5 in der Provinz Salah ad Din mit einem Team des Aussenministeriums für Wiederaufbau und Regierungsführung und dann 2006/7 in der Provinz Anbar als Kompaniechef des Marine Corps. Wenn er nicht im Einsatz war, beschäftigte sich Hoh bis 2008 im Pentagon und im US-Aussenministerium mit den US-Einsätzen in Afghanistan und in Irak.
2022 kandidierte Hoh als Aussenseiter der Green Party für einen Senatssitz in Washington, erhielt aber nur 1 Prozent der Stimmen.

Am 16. Mai 2023 veröffentlichte er als stellvertretender Direktor des Eisenhower Media Network in der NYT einen ganzseitigen offenen Brief unter dem Titel «The U.S. Should Be a Force for Peace in the World». Unterzeichnet hatten ihn 14 ehemalige US-Sicherheitsbeamte, darunter der US-Botschafter in Moskau unter Ronald Reagan. Sie forderten in der Ukraine eine diplomatische Lösung «bevor es zu einer nuklearen Konfrontation kommt». Kurz vorher hatte die Biden-Regierung jegliche Verhandlungen abgelehnt. Zuerst müsse die Gegenoffensive der Ukraine erfolgreich sein.

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Grafikquellen        :

Oben      —     Karikatur von 1891 zur Lobbyarbeit für Gesetzesentwürfe (engl. bill) bei einem US-amerikanischen Abgeordneten

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KOLUMNE Cash & Crash

Erstellt von Redaktion am 25. Juni 2023

Nur Rationierung ist gerecht

Von Ulrike Herrmann

Wassermangel im Dürresommer. Angeblich leben wir in einer Marktwirtschaft. Doch wenn wichtige Güter knapp werden, hilft die nicht weiter. Dann muss rationiert werden.

Wer bekommt wie viel Wasser? Und wofür? Wie lange darf man noch den Rasen sprengen oder Pools füllen? Solche Fragen werden auch in Deutschland relevanter. In den vergangenen Wochen hat es kaum geregnet, ein Ende der Dürre ist nicht abzusehen. Vor allem im Osten Deutschlands sind die Dürrekarten tiefrot eingefärbt.

Es steht ein Wort im Raum, das eigentlich nur aus Kriegszeiten bekannt ist, wenn alles knapp wird: Rationierung. Ganz selbstverständlich arbeitet die Berliner Umweltsenatorin schon an einem Notfallplan, und auch die BürgerInnen staunen nicht, dass Wasser demnächst staatlich zugeteilt werden könnte.

Diese allgemeine Erwartung an den Staat, dass er die Regie übernehmen soll, ist jedoch längst nicht so naheliegend, wie die meisten BürgerInnen offenbar intuitiv annehmen. Denn angeblich leben wir in einer „Marktwirtschaft“. Zumindest FDP und Union sind davon fest überzeugt. In einer „Marktwirtschaft“ würde jedoch der Preis regeln­, wer wie viel Wasser bekommt. Marktwirtschaft wäre: Wenn Wasser knapp ist, wird es eben teuer. Der Effekt wäre, dass die Reichen weiter ihre Pools füllen und Golfplätze bewässern lassen, weil sie sich die erhöhten Wasserpreise mühelos leisten können. Dafür würde es dann in den armen Quartieren nicht mehr für eine Wassertoilette reichen.

Doch offenbar sind die Deutschen keine Marktwirtschaftler, wenn wichtige Güter wie Wasser knapp werden. Dann soll nicht mehr der Preis regieren – sondern die Gerechtigkeit. Jede soll mehr oder minder das Gleiche bekommen. Wenn die Reichen dann auf Pools und Golf verzichten müssen, haben sie eben Pech gehabt.

Das hat einen sehr rationalen Kern: Deutschland ist eine Demokratie, geht also davon aus, dass alle Menschen gleich sind und daher jeder eine Stimme hat. Dieser fundamentale Gleichheitsgedanke wird auch ökonomisch zentral, wenn es darum geht, wichtige Güter zu verteilen, sobald sie knapp werden.

File:Ulrike Herrmann W71 01.jpg

Nun ist Wasser ein Extrembeispiel, weil Menschen nicht lange überleben können, wenn sie nicht regelmäßig trinken. Da liegt es nahe, auf Rationierung zu setzen, damit alle versorgt sind. Spannend wird es bei Gütern, die nicht unentbehrlich sind. Werden auch sie irgendwann rationiert? Da ist zum Beispiel das Fliegen, ein Lieblingshobby der Deutschen. Schon jetzt ist klar, dass es der Luftfahrt in den nächsten Jahrzehnten nicht gelingen wird, klimaneutral zu werden. Klimaneutralität ist nur möglich, wenn man aufs Fliegen verzichtet. Software-Milliardär Bill Gates weiß auch schon, wie er dieses Problem gern lösen würde: Kerosin muss eben sehr teuer werden. Dann könnte er weiterhin mit seinen Privatjets fliegen, während der große Rest finanziell überfordert wäre und am Boden bleiben muss.

Quelle        :       TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —     Left: „Um, gee… how many people came up trying to pass off little scribbled notes saying, „I.O.U. $3.00. Sincerely, Jon Doe?!“ Well, at least I thought it was funny.

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Eine bittere Kiwi Ernte

Erstellt von Redaktion am 24. Juni 2023

Die pontinische Ebene gehört zu den fruchtbarsten Gegenden Italiens. 

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Von  :    CHARLOTTE AAGAARD   —   KUSUM ARORA  —  FRANCESCA CICCULLI   —   STEFANIA PRANDI

Hier werden Kiwis angebaut, die in ganz Europa gegessen werden. Auf den Feldern arbeiten viele Inder. Oft unter unwürdigen Bedingungen, gefan­gen in einem System aus Schulden und Angst.

Sie kamen am Morgen kurz vor Sonnenaufgang. Der abgelegene Bauernhof außerhalb von Borgo Sabotino, einer 2.000-Einwohnergemeinde südlich von Rom, lag noch in der Dunkelheit. Es war der 17. März 2017. Ein Datum, das Balbir Singh nie vergessen wird.

In der Dunkelheit tauchten zwölf bewaffnete Männer auf. „Ich hatte wirklich Angst“, erzählt Balbir Singh. „Der Hofbesitzer rief mir zu, ich solle weglaufen. Aber das tat ich nicht.“ Und darüber ist er heute froh.

Die Männer in Zivil zeigten ihm ihre Ausweise. Es waren italienische Polizisten. Sie baten Balbir Singh mitzukommen. „Meine Kleidung war schmutzig. Ich hatte tiefe Wunden an Händen und Füßen, meine Nägel bluteten. Aber es war ein großer Tag“, sagt Balbir Singh. „Kurz vor unserer Abfahrt sah ich, dass die Polizisten den Bauern und seine Frau verhaftet hatten.“

Sechs Jahre Ausbeutung mit Gewalt, Drohungen, ausbleibender Bezahlung, Hunger und Entbehrungen hatten für Balbir Singh, einen ehemaligen Englischlehrer und langjährigen Landarbeiter aus der indischen Region Punjab, damit ein Ende. „Sechs Jahre in der Hölle“, nennt er die Zeit heute.

Sie endete, als er über einen indischen Landsmann Kontakt zu dem italienischen Soziologen und Menschenrechtsaktivisten Marco Omizzolo bekam. Omizzolo lehrt Sozialanthropologie an der Universität La Sapienza in Rom. Er setzt sich seit Jahren für die Rechte indischer Landarbeiter in Italien ein, dokumentiert Missstände und bringt sie zur Anzeige. 2016 organisierte er den ersten größeren Streik indischer Arbeiter in Italien mit. Wegen seines Engagements erhält er oft anonyme Drohungen, sein Auto wurde mehrmals beschädigt. Seit Jahren steht Omizzolo unter Polizeischutz, aus Sicherheitsgründen wohnt er selbst heute nicht mehr in der Region.

Omizzolo sorgte dafür, dass Balbir Singh über seinen indischen Bekannten ein Handy bekam, mit dem er ihm die Zustände auf dem Bauernhof über mehrere Wochen immer wieder schildern konnte. Mit den Informationen ging Omizzolo schließlich zur Polizei.

„Ich habe jeden Tag 12 bis 13 Stunden gearbeitet, sieben Tage die Woche“, erzählt Balbir Singh im Gespräch. „Obwohl ich nie einen freien Tag hatte, wurde mein Lohn immer weiter gekürzt. Am Ende gab es mehrere Monate, in denen ich überhaupt kein Geld mehr bekam.“ Er habe sich aus Geldmangel lange Zeit von altem Brot ernähren müssen und Essen aus Resten gekocht, die die Familie weggeworfen hatte. Er wohnte in einem alten Wohnwagen ohne Strom oder Heizung. Wenn er duschen wollte, erzählt er, habe er das im Stall tun müssen, nachdem alle anderen auf dem Hof bereits zu Bett gegangen waren oder bevor sie morgens aufstanden.

Es mag ein extremer Fall sein, was Balbir Singh erlebte, aber seine Geschichte zeigt, wie verletzlich indische Landarbeiter sind, wenn sie auf der Suche nach Arbeit nach Italien kommen – ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse, oft mit hohen Schulden bei zwielichtigen Vermittlern und mit der ständigen Angst, ihre Aufenthaltserlaubnis wieder zu verlieren. Balbir Singh ist einer der wenigen, der sich wehrte und seinen ehemaligen Chef vor Gericht brachte.

Er ist der erste Migrant, dem in Italien eine Aufenthaltserlaubnis „aus Gründen der Gerechtigkeit“ erteilt wurde. Diese soll sicherstellen, dass er auf jeden Fall bis zum Ende des Gerichtsprozesses im Land bleiben kann. Ein rechtskräftiges Urteil steht in seinem Fall noch aus. Bei Prozessen mit Berufung kann es mehrere Jahre dauern, bis eine Entscheidung durch alle Instanzen gegangen ist.

In den vergangenen dreißig Jahren sind viele Inder auf der Suche nach Arbeit in die Agro Pontino, die pontinische Ebene, einem Gebiet südöstlich von Rom, gekommen. Offiziell gibt es in der Region Latina, in der die pontinische Ebene liegt, heute 9.500 indische Arbeiter. Nimmt man diejenigen dazu, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, die in benachbarten Regionen leben oder die noch nicht in der Statistik auftauchen, weil sie erst sehr kurz im Land sind, könnte die Zahl bei 30.000 liegen, schätzt Marco Omizzolo.

Auf den Straßen der Region sieht man oft indische Arbeiter mit bunten Turbanen, die mit ihren Fahrrädern von einem Feld zum nächsten fahren. Die meisten von ihnen sind als Arbeiter im Obst- und Gemüsesektor beschäftigt. Die Gegend ist eine der fruchtbarsten Italiens. Zu den beliebtesten Exportprodukten der pontinischen Ebene gehören Kiwis, die in Supermärkten in ganz Europa zu finden sind, auch in Deutschland.

Bei unseren Fahrten durch die Dörfer hören wir viele Geschichten über Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch. Aber nur wenige Betroffene trauen sich, offen zu sprechen, vor allem gegenüber Fremden und Journalisten sind sie zurückhaltend.

Durch zahlreiche anonymisierte Gespräche mit Arbeitern sowie Interviews mit Gewerkschaftern und Wissenschaftlern entsteht aber ein Bild: Die grünen Felder der pontinischen Ebene sind eine Landschaft, die geprägt ist von irregulären Verträgen und unzureichenden Löhnen.

Ein Opfer dieser Ausbeutung war Joban Singh. Sein Fall sorgte für Schlagzeilen. Er nahm sich im Juni 2020 das Leben. Wie viele indische Arbeiter war Joban Singh Opfer von Menschenhandel geworden. Er geriet in die Fänge eines kriminellen Netzes von Reise- und Arbeitsvermittlern, Mittelsmännern, Gemeindevorstehern und korrupten Beamten. Er soll 10.000 Euro Schulden aufgenommen haben, um nach Italien zu gelangen. Weil er – nach Aussage mehrerer Bekannter – nur schwarz beschäftigt wurde, sollen ihm immer wieder Teile seines Lohns vorenthalten worden sein.

Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Es gibt immer wieder Suizide. Erst im Oktober 2022 haben sich zwei indische Arbeiter, die noch nicht einmal 25 Jahre alt waren, auf den Bauernhöfen der Region das Leben genommen, wie Lokalzeitungen berichteten.

Um nach Italien zu gelangen, zahlen indische Arbeiter umgerechnet bis zu 15.000 Euro an indische Vermittler. Dafür müssen sie sich bei Bekannten und Verwandten Geld leihen oder – falls sie das besitzen – Land, Kühe und Familienschmuck verkaufen. Die meisten stammen aus dem indischen Bundesstaat Punjab. Der Monatslohn für Menschen, die körperlich arbeiten, liegt dort zwischen 80 und 120 Euro. Deshalb ist Italien, wo ein indischer Arbeiter im Durchschnitt 863 Euro pro Monat verdient, für viele attraktiv – trotz der Ausbeutung, trotz der hohen Schulden.

In den Sikh-Tempeln in den Städten Velletri, Cisterna und Pontinia trifft sich die indische Gemeinde sonntags. Das Wort „Schulden“ wird bei unseren Gesprächen, obwohl es sehr viele hier betrifft, nur verschämt geflüstert. Viele Tempel wurden in alten Lagerhallen eingerichtet, die später renoviert und zu Gotteshäusern umfunktioniert wurden. Der Tempel in Velletri zum Beispiel besteht aus einem einzigen großen Raum mit rosafarbenen Wänden, einem mit Teppichen bedeckten Boden und buntem Papier, das an der Decke hängt. Der Altar im hinteren Teil des Raumes ähnelt einem Himmelbett. Von dort aus liest der Gottesdiener – der Granthi – aus dem heiligen Buch.

Im Tempel werden tagsüber Mahlzeiten für die Gläubigen und Bedürftige zubereitet. Die Menschen essen gemeinsam auf dem Boden eines großen Raums. Junge Leute verteilen Essen und Trinken. Ein Arbeiter erzählt, er habe zwei Jahre lang im Tempel gelebt, weil er weder Miete, Essen noch Strom bezahlen konnte. Mittlerweile habe er eine eigene Unterkunft. In den zwanzig Jahren, die er in Italien verbracht hat, habe er aber Hunderte Menschen kennengelernt, die in der gleichen Situation waren wie er.

Sikh-Arbeiter werden auf den Feldern und Bauernhöfen der pontinischen Ebene oft durch die Strategie der „grauen Arbeit“ ausgebeutet. Dabei werde der Lohn in zwei Teile gesplittet – ein Teil gehe in die Lohntüte, der andere Teil werde schwarz in bar ausgezahlt, erklärt Marco Omizzolo. Die Landwirte würden so weniger Sozialbeiträge und Steuern zahlen.

Eine andere Methode der Ausbeutung ist das sogenannte Jo-Jo-Gehalt. „Manche Chefs überweisen den Lohn auf das Bankkonto der Arbeiter, zwingen sie aber dann, zu einem Geldautomaten zu gehen, 200 bis 300 Euro abzuheben und sie an den Arbeitgeber zurückzuzahlen“, sagt Omizzolo.

Außerdem gibt es Arbeiter, die gezwungen werden, sieben Tage in der Woche 10 bis 11 Stunden am Tag auf den Feldern zu arbeiten. Teils ohne Zugang zu richtigen Toiletten und ohne regelmäßige Pausen. Vorgeschriebene Schutzausrüstung wie Handschuhe und Masken für den Schutz vor Pestiziden fehlten oft, sagt Omizzolo.

Immer wieder gibt es Berichte über Fälle von physischer und psychischer Gewalt. Wer protestiert oder rebelliert, riskiert eine sofortige Entlassung und Vergeltungsmaßnahmen. Einige Sikh-Arbeiter wurden auf dem Weg zu den Feldern von Autos angefahren, andere ausgeraubt oder verprügelt.

Zu der Angst vor Gewalt tritt oft noch der Albtraum der Illegalität hinzu: Ohne einen regulären Arbeitsvertrag ist es nicht möglich, eine Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, um legal in Italien zu leben. Deshalb würden so viele Arbeiter die Ausbeutung über so viele Jahre akzeptieren, sagt der Generalsekretär des nationalen Gewerkschaftsbunds CGIL, Giovanni Gioia.

Nur langsam hätten sich in den vergangenen Jahren auch ein paar Dinge verbessert, sagen Omizzolo und Gewerkschaftsvertreter. Es gab zaghafte Ansätze eines Teils der indischen Arbeiter, mehr Rechte einzufordern. Beim ersten Streik der Sikh-Arbeiter 2016 gingen Tausende in der Provinz Latina auf die Straße, der Streik führte zu einer Erhöhung der Stundenlöhne von ursprünglich 2,50 auf jetzt 6 Euro pro Stunde.

Zudem wurden Organisationen wie „Tempi Moderni“ gegründet, die den Arbeitern kostenlosen rechtlichen und medizinischen Beistand anbieten. Auch ist in der Region Latina die Zahl der Prozesse gegen Unternehmer gestiegen, die der „caporalato“-Kriminalität, der Vermittlung und Beschäftigung von Schwarzarbeitern, angeklagt sind – auch wenn es noch wenige Urteile in dem Bereich gibt.

Die Agrarunternehmer fänden auch neue Wege, um das Ausbeutungssystem am Laufen zu halten, sagt Marco Omizzolo. Sie schalteten etwa Anwälte ein, die ihnen helfen würden, Gesetze und Arbeitsschutz zu umgehen. Und die Arbeiter haben weiterhin Angst, die Ausbeutung anzuprangern.

Auch Balbir Singh war zunächst zurückhaltend, mit uns zu sprechen. Das erste Mal trafen wir ihn im Sommer 2022 in einer Unterkunft, in der er damals mit drei indischen Landsleuten lebte. Er arbeitete nun auf Kiwifeldern. Wir trafen ihn in der Mittagspause, als ein kleiner Ventilator versuchte, die Luft zu kühlen, aber die schwüle Julihitze durch das offene Fenster hereinströmte. Er zeigte uns einen Korb mit kleinen unreifen Kiwis, die er am selben Morgen gepflückt hatte.

Zwischen Juli und Dezember sind die indischen Arbeiter in der pontinischen Ebene hauptsächlich mit Kiwis beschäftigt, die wegen ihrer rentablen Produktion auch als „grünes Gold“ bezeichnet werden. Italien produziert 320.000 Tonnen Kiwis pro Jahr und exportiert sie in fünfzig Länder. Das Land ist der größte europäische Kiwiproduzent und der drittgrößte weltweit, nach China und Neuseeland. Ein Markt, der insgesamt über 400 Millionen Euro wert ist.

Balbir Singh nahm drei Kiwis in die Hand und erklärte uns, wie man die Pflanze reinigt und worin der Unterschied zwischen den Kiwisorten besteht – grün, gelb und rot. Aber als wir ihn fragten, wie er und seine Kollegen jetzt auf den Plantagen, auf denen sie arbeiteten, behandelt werden, schaute er weg und gab nur vage Antworten.

Queller           :        TAZ-online         >>>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Der Süden der Pontischen Ebene bei Terracina (Parco Nazionale del Circeo)

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Down with the Crown

Erstellt von Redaktion am 24. Juni 2023

Graham Smith: Abolish the Monarchy

File:Coronation of Charles III and Camilla - King's Procession (02).jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von       :        Jonathan Eibisch

Ein besserer Verkaufs-Coup hätte Graham Smith für sein erst im Juni erscheinendes Buch Abolish the Monarchy nicht gelingen können.

Der Autor und Initiator einer Kampagne gegen das englische Könighaus wurde beim Protest gegen die Krönung von König Charles verhaftet.

Gewürdigt werde sollte so viel Raffinesse schon, zumal damit einer nach wie vor recht kleinen Protestbewegung gegen die Relikte vormoderner Herrschaft, Beachtung gezollt wird.

Schade allerdings, dass hier vor allem liberale Republikaner die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Viel schöner wäre es doch, wären in der ersten Reihe des Protestes gegen das Könighaus auch ausgewiesene Anarchist*innen. Andererseits haben diese weit weniger Ressourcen zur Selbstinszenierung und widmen sich wohl auch weit basaleren Auswüchsen der Herrschaftsordnung, als der lächerlichen Inszenierung einer vermeintlich guten, traditionell abgesicherten und weisen Führungsriege.

Schade, denn sonst hätte man statt Protest mit Schildern und den Rufen „Not my king“, lieber ein Parallelspektakel aufführen können: Im wahrsten Sinne, Karneval. Allernort wählen die Bewohner*innen jährlich den einfältigste Trottel ihrer Gemeinschaft, dem zugleich die Bauernschläune innewohnt, zum Dorfkönig. Der Ort der souveränen Macht wird entleert und entehrt, wenn das simpelste und närrischste Menschlein auf den Thron gehoben wird und bei Bedarf wieder ausgewechselt werden kann. – Das wäre doch mal eine nette Protestform gewesen, mit der über das Symbolische hinaus vielleicht sogar etwas Chaos hätte gestiftet werden können…

Die Argumentation des Geldes wegen verstehe ich nicht wirklich: Ob die Krönungszeremonie am 06. Mai 100 oder 25 Millionen Pfund gekostet haben soll, welche die steuerzahlenden Bürger*innen aufbringen, während der Hochadel ja ohnehin genug Geld zur Verfügung hat – wen interessiert es? Beziehungsweise, wen wundert es? Wenn es sich um einen echten König handelt, stellt sich doch gar nicht die Frage, ob die Kosten für die Produktion seines imaginären Status als Personifikation eines abstrakten Herrschaftsgefüges vom Volk getragen werden. Der König schöpft Souveränität aus sich selbst heraus, sowie der Adel seinen sozialen Status ja nicht begründen muss, sondern sich auf diesen als unhinterfragbaren Selbstzweck berufen kann. Der König schöpft seine Souveränität aus sich selbst heraus, so wie das Volk seine Souveränität daraus schöpft, den König zu enthaupten.

Und wenn ich hier „König“ sagen, meine ich heruntergebrochen eine, neben neuen dazugekommenen Dynastien, einflussreiche Kaste von privilegierten Reichen. Es wäre längst an der Zeit gewesen, diesen Humbug ihrer alberne Selbstinszenierung in den letzten Jahrzehnten abzuschaffen. Wenn nicht genug verlorene Seelen ihrem romantisch-verkitschtem Affekt folgen und ihrem herangezüchteten Idiotenbewusstsein nachgeben würden. Lieber wollen diese erleben, Teil einer verklärtem Geschichte zu sein, als die Anstrengung aufwenden, ihre Geschichten selbst zu schreiben. Das Volk ist ein jämmerlicher Haufen, dessen Phantasie in Schlaraffenländer abschweift, aber sich kaum vorstellen kann, dass es sich seine Regeln einfach selbst geben könnte. Häufig wollen die Leute ihren König wie ihr Bier, ihren Fussball, ihre Unterhaltung und ihre Kümmerer – ob Pfarrer, Sozialarbeiter, Yogalehrer, Friseur oder Psycho- oder Physiotherapeuten.

Graham Smith: Abolish the Monarchy. Transworld Digital 2023. 261 Seiten. ca. SFr. 12.00.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —        Charles und Camilla während der Krönungszeremonie am 6. Mai 2023.

Author Katie Chan        /       Source    : Own work        /         Date       :      6 May 2023,

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Klimaproduktion Bewegung

Erstellt von Redaktion am 24. Juni 2023

Die Überschneidungen von nomadischem Land und nomadischer Arbeit im Zeitalter des Sesshaftwerdens

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Quelle        :     Berliner Gazette

Von          :       · 20.06.2023

Das Schicksal nomadischer Kulturen offenbart den Geist des (Staats-)Kapitalismus besonders deutlich: Die erzwungene Eingliederung der Nomaden in soziale Strukturen, die die Sesshaftigkeit privilegieren, ist eng mit der Enteignung von Land und Arbeit verbunden. Der zerstörerische Charakter dieses Systems zeigt sich in der Verarmung der ehemaligen Nomaden sowie dem Erosion ihrer Werte und Praktiken, die andere, nachhaltige Formen der Arbeit und der Klimaproduktion ermöglichen würden, wie die Künstlerin und Forscherin Shuree Sarantuya in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe „Allied Grounds“ argumentiert und dabei auf die Kämpfe nomadischer Völker in China, Russland und der Mongolei eingeht.

Die Fabel „Drei kleine Schweinchen“ erzählt die Geschichte von drei Schweinen und einem großen bösen Wolf, der ihre Häuser angreift. Der Wolf zerstört die Häuser der ersten beiden Schweine, die aus Stroh und Stöcken gebaut sind, aber er kann das Haus des dritten Schweins, das aus Ziegeln besteht, nicht zerstören. Die Ideologie, die der Fabel zugrunde liegt, ist glasklar: Sie unterstützt die Standardisierung von Konzepten wie Obdachlosigkeit und entwertet die nomadische Logik, der zufolge Nomaden niemals obdachlos sein können, weil ihr Zuhause immer mit ihnen reist. Darüber hinaus bemäntelt die Ideologie der Fabel das rassische Kapitalozän, das durch die Ausbeutung von Arbeit und Natur als Werkzeuge der Assimilierung die Umwandlung von Weideland in unhaltbare Lebensräume und Industrien ermöglicht hat. So arbeiten Ex-Nomad*innen in großem Umfang in arbeitsintensiven Sektoren wie der mineralgewinnenden Industrie, dem Anbau/Pflanzung und militärischen Diensten, weil sie sich dadurch finanzielle Unabhängigkeit und Integration in eine sesshafte Gesellschaft versprechen.

Dies ist der toxische Rahmen, in dem sich die Kämpfe von noch Nicht-Sesshaften, ethnischen Minderheiten und indigenen Gemeinschaften abspielen. Die letzten nomadischen Völker Süd-, Zentral- und Nordasiens leben heute in Jurten, Tipis oder Holzhütten und nutzen moderne Technologien, um Komfort und Modernität zu erreichen. Diese Techno-Nomaden können mobil und autonom sein, mit ununterbrochenen Verbindungen zur menschlichen und nichtmenschlichen Welt. Die nomadische Landmobilität basiert auf einer geschickten Wahrnehmung der Ökosphäre und ihrer Ressourcen. So gründen nomadische Völker ihre Ehrfurcht (vor bewohnbarem Land) auf ihr Wissen um die Kommunikation zwischen den Arten und eine indigene Wahrnehmung der tiefen Zeit.

Das Nebeneinander von nomadischen und sesshaften Gesellschaften konnte durch die herrschende Klasse instrumentalisiert werden: Erfolgreich konnten immer wieder Ängste vor der „Unmoderne“ geschürt und Assimilationspolitik, Monokulturwirtschaft, Umweltrassismus und neokoloniale Probleme gefördert werden. Wenn wir uns mit den Konflikten der letzten nomadischen oder ehemals nomadischen Völker Chinas, der Mongolei und Russlands befassen, müssen wir ihre komplexe Geschichte der Sesshaftwerdung und Kolonisierung durch kommunistische und sozialistische Bewegungen im letzten Jahrhundert verstehen.

Landverlust und kulturelle Assimilierung in der Inneren Mongolei

Die Innere Mongolei, eine 1947 vom kommunistischen Regime Chinas eingerichtete autonome Region, blickt auf eine lange Geschichte von Konflikten zwischen nomadischen Hirten und sesshaften Bäuer*innen zurück. In diesem Konflikt ist die Enteignung und Einfriedung von Land eng mit kultureller Assimilation verbunden, wie nach der Besatzung durch Japan im Zweiten Weltkrieg deutlich wurde, als die Region zu einem Testgebiet für die Integration von Han-Chinesen und Mongolen wurde.

Die Innere Mongolei ist nicht nur für ihre Viehzucht bekannt, sondern auch für ihre riesigen Kohlevorkommen. Im Jahr 2011 führte die Ausweitung einer Kohlemine auf Weideland zu Protesten und Demonstrationen der Hirten in Bayannuur. Die Frustration und die Angst, ihr Land zu verlieren, motivierten auch 2020 Proteste, als die chinesische Regierung plante, das Weideland in Bairin Left Banner in ein Naturschutzprojekt umzuwandeln.

Später im selben Jahr wurde im Rahmen der „Zweisprachigen Erziehung der zweiten Generation“ der Mongolischunterricht an den Schulen der Inneren Mongolei verboten. Nach Angaben des südmongolischen Menschenrechtsinformationszentrums wird das Verbot im September dieses Jahres in Kraft treten; es verbietet den Lehrer*innen auch die Teilnahme an und die Organisation von Unterricht. Die systematische Assimilierung nomadischer, indigener und ethnischer Minderheiten durch die Auslöschung von Ökosystem und Kultur, vor allem von Sprache und Religion, findet nicht nur in der Inneren Mongolei statt, sondern auch in Gemeinschaften wie den Uiguren (und anderen muslimischen Gemeinschaften) und den Tibetern.

Die Bodendegradation in der Inneren Mongolei ist in erster Linie auf den übermäßigen Ressourcenverbrauch zurückzuführen, der durch immer exzessivere Produktionszyklen verursacht wurde, begleitet von Bevölkerungszuwachs und der Abkehr von der nomadischen Viehwirtschaft. Andererseits hat die Innere Mongolei laut der Bewertung der Landdegradation zwischen 2000 und 2020 eine Netto-Landdegradation von Null erreicht. Untersuchungen über die Auswirkungen des vom Wind verwehten Staubs zeigen, dass die Innere Mongolei über ein Ökosystem verfügt, das die Ausbreitung von Staub verhindert und als ökologische Barriere gegen die Bodendegradation wirkt.

Derweil haben Überkultivierung, Bergbau und Industrialisierung die nomadischen Völker in eine Wettbewerbswirtschaft gedrängt, in der der niedrigste Preis das Rennen macht. Die traditionell abgelegenen Minderheitengruppen sind heute in städtischen Gebieten konzentriert, wo sie aufgrund von Umweltrassismus und erzwungener Integration eine Monowirtschaft betreiben.

Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in der postkolonialen Mongolei

Nach dem Ende der Kolonisierung durch die Qing-Dynastie im Jahr 1911 kam die Äußere Mongolei bis zur demokratischen Revolution von 1990 unter sowjetische Kontrolle. Diese friedliche Revolution führte dazu, dass die Mongolei ein Mehrparteiensystem einführte, das die Beteiligung mehrerer politischer Parteien an der Regierung des Landes ermöglichte.

Das unerbittliche Streben nach Akkumulation durch die Oberschicht und die Mächtigen hat jedoch zu einer korrupten Wirtschaft und zur Ausbeutung derjenigen aus der Arbeiter*innenklasse geführt, die von Lohn zu Lohn oder von Schulden zu Schulden leben. Die Produktion von Raum bringt diese Ungleichheiten zum Ausdruck und verschärft sie noch: Während die ländlichen Gebiete außerhalb der Hauptstadt immer noch unterentwickelt sind, abgesehen von einigen wenigen Shangri-La-artigen Gemeinden, die sich um die Rohstoffsektoren herum ansiedeln, ist die Hauptstadt selbst eine neoliberale Mischung aus Jurtensiedlungen und hyperurbanen Gebieten, die einem „umgedrehten Topf“ ähnelt (ein mongolisches Sprichwort, das bedeutet, dass man in der Hölle unter einem riesigen Topf festsitzt).

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Im Dezember 2023 kam es in Ulaanbaatar (Mongolei) zu Protesten gegen die so genannte „Kohlemafia“, die 380.000 Tonnen Kohle für den Export nach China gestohlen hatte. Die Menschen brachten ihre Frustration mit gewalttätigen Ausbrüchen, friedlichen Demonstrationen und Sitzstreiks bei minus 25-30 Grad zum Ausdruck. Sie kritisierten die Staatsbeamt*innen und gaben ihnen die Schuld an der gestohlenen Zukunft der Mongolei.

Während die Menschen in der Mongolei geduldig auf die Verfolgung der Kohlediebe warten, stellt sich eine dringende Frage: Wen machen wir für die Nutzung unethischer fossiler Brennstoffe zur Energieversorgung der größten Umweltverschmutzer*innen der Welt verantwortlich? Im Rahmen des Engagements der Mongolei für die Ziele der nachhaltigen Entwicklung der Vereinten Nationen will das Land bis 2030 eine Milliarde Bäume in von Wüstenbildung betroffenen Regionen pflanzen. Dank der Spende der Unternehmen des Bergbaukonglomerats im Süden der Mongolei sind die Menschen gespannt auf die neuen Beschäftigungsmöglichkeiten, die das Milliarden-Baum-Projekt mit sich bringen wird.

Einige Gemeinschaften, die sich an den Rhythmus ihrer Umgebung angepasst haben, sehen sich jedoch mit den unbotmäßigen Anforderungen des rassischen Kapitalismus und dem Fehlen einer nachhaltigen Infrastruktur konfrontiert. Auf der Suche nach Stabilität und einem sicheren Einkommen sehen sich viele Ex-Nomad*innen mit der harten Realität der Armut oder sogar einer Rückkehr in die Zeiten der Kolonialherrschaft konfrontiert. Nomadisches Wissen und Traditionen werden als unvereinbar mit einem System angesehen, das Arbeit und Ressourcen in unhaltbarem Maße ausbeutet. Der Zusammenprall zwischen nomadischer Existenz und den Erfordernissen des rassischen Kapitalismus wirft Fragen nach der Vereinbarkeit verschiedener Lebensweisen und der Dringlichkeit des Widerstands gegen ein einzigartiges Arbeits- und Produktivitätsmodell auf.

Koloniales Erbe und Umweltkämpfe in Nordasien

Russlands Kolonisierung Nordasiens nahm im 19. und 20. Jahrhundert ihre endgültige Form an. Nomadische Stämme, die von Jagd, Viehzucht und Fischfang lebten, konnten nun mit Hilfe der Transsibirischen Eisenbahn ihren Übergang zu einer sesshaften Lebensweise durch Bergbau, Metallurgie, Maschinenbau, Holzfällerei und Landwirtschaft finanzieren. Es wurden Institutionen geschaffen, um die lokale Kultur, den Glauben und die Heilpraktiken auszurotten. Gleichzeitig schuf die russische Regierung Schutzgebiete für die indigenen Völker. Die nicht nachhaltigen Methoden der Klimaproduktion führen jedoch zu Umweltkatastrophen, die alle Ökosysteme rund um Nordasien und die arktischen Regionen betreffen.

Die teilweise militärische Mobilisierung der russischen Bevölkerung im Jahr 2022 erforderte hohe Einberufungsquoten in den Reihen ethnischer Minderheiten wie den türkischen, mongolischen, paläo-sibirischen und muslimischen Gemeinschaften. Die autonomen Regionen Russlands setzen sich aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammen, darunter nomadische (halbnomadische) und indigene Völker. In diesen Regionen und Krais gibt es sesshafte Siedlungen, die ein Überbleibsel der sowjetischen Moderne sind. In Gebieten wie Dagestan, Jakutien und Burjatien hat die Kombination aus Kriminalisierung von Kriegsgegnern und wirtschaftlicher Instabilität dazu geführt, dass die meisten Männer vor der Wahl stehen, entweder zu fliehen oder sich dem Militär anzuschließen, um an den laufenden Kriegsanstrengungen teilzunehmen. Diese einheimischen Männer Russlands und ihre Arbeitskraft werden im Zusammenhang mit dem Kriegsdienst geschätzt oder sogar als möglicher Sündenbock benutzt, wenn ein Kriegsverbrechen zu verantworten ist. Die heutigen rassistischen Regierungen und Institutionen, die rassifizierte und oft marginalisierte Gruppen in Kriegen einsetzen, erinnern uns nicht zuletzt daran, dass während des Ersten (und später des Zweiten) Weltkriegs Afroamerikaner im Militär dienten, um als Musterbürger in die Gesellschaft integriert zu werden.

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Es liegt auf der Hand, dass diese Art des Bevölkerungsmanagements auch eng mit der Enteignung und Einhegung von Land verbunden ist – und Russlands aktueller Angriffskrieg erinnert nur allzu deutlich an den Wert, den Land (hier als „Territorium“ valorisiert) seit der Wirtschafts-, Finanz- und Nahrungsmittelkrise von 2007 erlangt hat. Die Quintessenz ist, dass das heutige Wirtschaftswachstum eine homogene Zivilisation begünstigt, die einen immensen Wert auf Arbeitskräfte legt, die bereit sind, sich und/oder ihr Land zu opfern.

Wert aller Wesen, Dinge und Entitäten

Staatliche Rohstoffkonzerne üben einen großen Einfluss auf die so genannten ländlichen Gebiete Nordasiens aus. Eine Verwaltung, die den Wert von unbebautem Land missachtet, hat die Anhäufung von Macht auf Kosten ethnischer Minderheiten, nomadischer Gruppen und indigener Arbeiter*innen durchgesetzt und damit deren Rechte untergraben und ihre Lebensweise bedroht. Untersuchungen am Bolshoe-Toko-See haben ergeben, dass die Spuren der industriellen Tätigkeit selbst in den entlegensten Gebieten Russlands zu finden sind. Die durch kapitalistische Aktivitäten verursachte Umweltzerstörung beeinträchtigt die lokalen Gemeinschaften, die biologische Vielfalt und die langfristige Nachhaltigkeit des Landes. Ohne einheimische Praktiken der Rekultivierung und des ethischen Konsums werden die biotischen und abiotischen Wechselwirkungen irreparabel gestört, sowohl in der menschlichen Zeit als auch in der Zeit der Globalisierung.

Das Streben nach Wirtschaftswachstum, das oft auf Kosten von Randgruppen und der Umwelt geht, ist ein zentrales Politkum, das die zerstörerischen Folgen der Globalisierung und die Erosion kultureller Identitäten aufzeigt, die immer mit alternativen Arbeitsmodellen und dem Umgang mit der Umwelt verbunden sind. Dieser Prozess der Zerstörung und Erosion wird als unvermeidlich dargestellt, auch aufgrund imaginärer äußerer Bedrohungen. Die Geschichte „Die drei kleinen Schweinchen“ ist ein Beispiel für diese Tendenz. Der aggressive Wolf ist das Tier, das eine Gefahr von außen darstellt, nicht von innen. Und wir sollen das instinktive Bedürfnis verspüren, uns vor diesem räuberischen Außenseiter zu schützen, was den Wunsch widerspiegelt, Sicherheit und Schutz in unserem Zuhause zu finden. Aber leben heutzutage nicht sogar Vögel in ihren Vogelhäusern, weil sie ihr Territorium verloren haben und die Städte immer weiter wachsen?

In ehemaligen Nomadenländern und -gemeinschaften betonen kritische politische Stimmen, wie wichtig es ist, alternative Modelle zu begrüßen, die indigenes Wissen, ökologische Nachhaltigkeit, ethisches Ressourcenmanagement und gesellige Arbeitsweisen in den Vordergrund stellen. Indem wir indigene Praktiken der gegenseitigen Fürsorge, der Symbiose und der Regeneration zusammenführen, können wir eine „gaianische“ Ethik der nachhaltigen Arbeit fördern: eine, die die Verbundenheit verschiedener Welten anerkennt und wertschätzt. Um dies zu erreichen, müssen wir transnationale Allianzen bilden, die das vorherrschende Paradigma der Moderne in Frage stellen und die Folgen einer fremdenfeindlichen Politik angehen, die viele Gemeinschaften in eine Grenzsituation gebracht hat. Im unerbittlichen Streben nach Hypermodernität ist es wichtig, innezuhalten und die Integration indigener Perspektiven zu berücksichtigen. Aus einer solchen Haltung heraus können wir uns bemühen, eine neue Beziehung zu unserem Planeten zu entwickeln, indem wir den Wert aller Wesen, Dinge und Entitäten anerkennen und lernen wertzuschätzen. Dies ist eine Aufgabe, die wir alle bewältigen müssen. Denn, wenn wir im Zuge dessen unsere Rolle als Arbeiter*innen neu bewerten, ebnet dies den Weg für eine nachhaltige Klimaproduktion.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist ein Beitrag zur Textreihe „Allied Grounds“ der Berliner Gazette; die deutsche Version finden Sie hier. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen „Allied Grounds“-Website. Schauen Sie mal rein: https://allied-grounds.berlinergazette.de

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Oben       —       Chanten-Mädchen sammeln Beeren; früher nur zum eigenen Verzehr, heute auch zum direkten Verkauf.

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Kolumne-Fernsicht-Uganda

Erstellt von Redaktion am 24. Juni 2023

Zwei Gegner für Uganda: USA und Dschihadisten

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Von Joachim Buwembo

Seit Uganda 2007 eine afrikanische Militärintervention in Somalia anführte, die somalische Staatlichkeit wiederherstellte und die islamistischen al-Shabaab aus Mogadischu und anderen Landesteilen vertrieb, ist es zur Zielscheibe von Dschihadisten weltweit geworden.

Diese sehen in Uganda einen Statthalter der USA am Horn von Afrika. 2010 töteten Shabaab-Selbstmord­attentäter fast 100 Menschen, die in Ugandas Hauptstadt Kampala das Fußball-WM-Finale verfolgten. Das Bestreben, Uganda und seinen Präsidenten Yoweri Museveni zu bestrafen, hat nie nachgelassen.

Sechzehn Jahre sind eine lange Zeit. Heute sind die Beziehungen zwischen Uganda und den USA angespannt wegen des neuen ugandischen Gesetzes, das gleichgeschlechtliche Beziehungen kriminalisiert. Die USA haben gedroht, ihre Uganda-Hilfen in Höhe von einer Milliarde US-Dollar im Jahr – die Hälfte davon fließt in die Behandlung der 1,2 Millionen HIV-Kranken in Uganda – auszusetzen. Präsident Joe Biden hat sich persönlich zu Wort gemeldet, das US-Außenministerium hat eine Reisewarnung ausgesprochen, und US-Aktivistengruppen warnen vor Tourismus in Uganda und sagen, das Land sei nicht sicher.

Zugleich haben die Dschihadisten tödliche Schläge gegen Uganda ausgeführt. Sie überranten 120 Kilometer südlich von Mogadischu eine ugandische Armeebasis und behaupteten, 137 Soldaten getötet und viele andere gefangen genommen zu haben; Uganda spricht von 54 Toten. Noch schockierender war vor einer Woche der Angriff auf ein Internat im Westen Ugandas nahe der kongolesischen Grenze, wo die dschihadistische Gruppe ADF (Allied Democratic Forces) seit drei Jahrzehnten Ugandas Regierung bekämpft. 42 Teenager wurden bei lebendigem Leibe verbrannt und etwa 20 weitere verschleppt, vermutlich zum Zwangsdienst bei der ADF in Kongos Wäldern.

Der Angriff erfolgte genau 25 Jahre nach einem ADF-Angriff auf eine technische Hochschule im Westen Ugandas, bei dem rund 80 Teenager verbrannten. Die ADF hat bereits im vorletzten Jahr in Kampala Bomben hochgehen lassen.

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Waren nicht die Religionen schon immer der Anlass für die meisten Kriege Welt – weit?

Islamistische Dschihadisten bekämpfen Museveni seit dem ersten Tag seiner Machtergreifung 1986. Damals hatte er sich die Solidarität mit den schwarzen Nationalisten in Südsudan, die für die Befreiung Südsudans von der islamisch-fundamentalistischen Regierung in Sudans Hauptstadt Khartum kämpften, auf die Fahnen geschrieben. Ugandas militärische Unterstützung war entscheidend für den Erfolg der Unabhängigkeitskämpfer Südsudans. Khartum unterstützte im Gegenzug mehr als zwei Jahrzehnte lang die christlich-fundamentalistische LRA (Lord’s Resistance Army) von Joseph Kony in Norduganda und die islamisch-fundamentalistische ADF im Ostkongo.

Quelle       :        TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Auszeit vom realen Horror

Erstellt von Redaktion am 23. Juni 2023

Bevor das nächste Kind tot daliegt

Ein Debattenbeitrag von Shoko Bethke

Eine Studie stellt eine leicht wachsende Nachrichtenmüdigkeit fest. Doch es gibt Möglichkeiten, auf schlechte Nachrichten konstruktiv zu reagieren.

Das Bild des zweijährigen Alan Kurdi kehrt ins Gedächtnis zurück. Sein lebloser Körper am Strand, bekleidet mit einem roten T-Shirt, einer blauen Hose, an den Füßen dunkle Turnschuhe. Er liegt auf dem Bauch, seine Arme dicht am Körper, an das Gesicht klatschen wiederkehrende Wellen. Das Foto des toten syrischen Kindes am türkischen Strand war im September 2015 ein Weckruf für viele, für die der Krieg in Syrien wie ein Ereignis aus weiter Ferne wirkte. Die Bilder sorgten für Entsetzen und offene Münder – und für einen kurzen Augenblick für Empathie in der Politik und das Bedürfnis, den Geflüchteten doch noch irgendwie zu helfen.

Empörung ist kräfteraubend, aber wichtig, bevor das nächste Kind leblos am Strand liegt

Wenn Bootsunglücke wie jene in Griechenland oder vor den Kanaren zunehmen, wird es bald den nächsten Alan Kurdi geben. Am vergangenen Mittwoch sank ein Fischkutter mit vermutlich über 700 Menschen an Bord; sie wollten von Libyen nach Italien fahren. Zehn bis fünfzehn Minuten verblieb den Schutzsuchenden, ehe das Boot komplett unterging. Die griechische Küstenwache rettete 104 Menschen aus dem Wasser, 78 Tote wurden geborgen. Zwei Tage später stellte die Küstenwache die Suche nach weiteren Leichen ein.Unter den Passagieren sollen auch Menschen ohne jegliche Schwimmkenntnisse gewesen sein.

An diesem Mittwoch dann wieder: Vor der spanischen Inselgruppe kamen 39 Menschen ums Leben, die Küstenwache bestätigte den Tod eines Säuglings.

So eine Überfahrt macht niemand freiwillig. Wie gewaltig muss ihre Notlage gewesen sein, wie bedrohlich die Lage für ihre Familie, dort, wo sie zuvor gelebt hatten? Und wann begreift Europa das eigentlich?

Jeder zehnte Erwachsene meidet Nachrichten

Am vergangenen Mittwoch wurde auch der „Digital News Report 2023“ des Reuters-Institut für Journalismus-Studien in Oxford veröffentlicht. Ergebnis der Studie: In Deutschland meidet jeder zehnte internetnutzende Erwachsene Nachrichten. Die Befragung wurde im Januar dieses Jahres durchgeführt, doch da auch im Jahr 2022 jede zehnte Person aktiv Nachrichten aus dem Weg ging, dürfte sich die Zahl im halben Jahr nicht besonders verändert haben.

Insgesamt versuchen 65 Prozent der Deutschen mindestens gelegentlich Nachrichten auszuweichen. Fast ein Drittel geht gezielt bestimmten Themen aus dem Weg, am häufigsten werden Nachrichten zum Krieg in der Ukraine gemieden. Während im vergangenen Jahr noch 57 Prozent der Deutschen äußerst oder sehr an Nachrichten interessiert waren, sind es dieses Jahr nur noch 52 Prozent.

Das Bedürfnis, sich eine Auszeit von schrecklichen Meldungen nehmen zu wollen, ist nachvollziehbar. Denn zusammen mit Bildern des überfüllten Bootes kehren auch Ohnmachtsgefühle und Hilfslosigkeit zurück.

Ukraine, MeToo, Klimawandel und Rechtsruck

Dabei ist die Nachrichtenlage ohnehin schon schwer verdaulich: Der Krieg in der Ukraine ist seit fast anderthalb Jahren ein Dauerereignis, außerdem entflammt hierzulande eine neue #MeToo-Debatte. Was neue Gesetze zur Bekämpfung des Klimawandels angeht, tritt die Ampel praktisch auf der Stelle, und die AfD bekommt in neusten Umfragen mit 19 Prozent mehr Stimmen als die Partei des Bundeskanzlers. Außerdem ragt der Rechtsruck über nationale Grenzen hinaus und führte zur Einigung der EU, die Grenzen vor Geflüchteten zu „schützen“.

Unter anderem deshalb fühlen sich Politik und ihre Entscheidungen wie Beschlüsse aus der Ferne an, auf die man als Einzelperson keinen Einfluss nehmen kann. Für die Psyche kann es also gesund sein, sich eine Auszeit von Nachrichten zu nehmen, sei es, das Handy wegzulegen oder den Fernseher auszuschalten. Neu­ro­wis­sen­schaft­le­r:in­nen erklären, dass der permanente Konsum schlechter Nachrichten einen dauerhaften Stresszustand im Gehirn und Körper verursachen kann. Daraus resultierende Folgen können Gereiztheit, Schlafstörungen und in schlimmen Fällen auch Depressionen sein.

Deshalb ist es sinnvoll, sich gezielt eine Auszeit zu nehmen. Statt nach der Zeitung zu greifen, lieber einen Roman oder ein Kochbuch schnappen. Einen neuen Sport ausprobieren, vielleicht mal länger schlafen und allgemein auf die Bedürfnisse des Körpers hören.

Nachrichtenentzug darf kein Dauerzustand sein

Doch so wichtig Rückzug und Ablenkung auch sind, muss man sich bewusst machen, dass dies kein Dauerzustand sein kann. Die Weltlage vollständig auszublenden bringt die Toten nicht zurück, im Gegenteil. Denn wenn überhaupt jemand an der Lage etwas verändern kann, dann ein medialer und gesellschaftlicher Aufschrei – siehe die Debatte um Till Lindemann.

Quelle        :         TAZ-online         >>>>>         weiterlsen

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Grafikquellen     :

Oben         —         Graffiti-Kopie des Fotos der angeschwemmten Leiche von Alan Kurdi. Ein Werk der Künstler Justus „Cor“ Becker und Oguz Sen an der Osthafenmole in Frankfurt am Main, Titel „Europa tot – Der Tod und das Geld“

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Chatkontrolle :

Erstellt von Redaktion am 23. Juni 2023

Was du jetzt dagegen tun kannst

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von       :     

Die Kritik an der sogenannten Chatkontrolle reißt nicht ab, doch die Befürworter:innen bleiben stur. Einige Menschen lassen sich davon nicht entmutigen. Wir wollten von ihnen wissen: Wie können sich Interessierte politisch engagieren, um das Überwachungsgesetz zu stoppen?

Eigentlich will die EU-Kommission mit einem Gesetzesvorschlag aus dem letzten Jahr sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Netz bekämpfen. Doch auf der einen Seite zweifeln Expert:innen die Wirksamkeit des Vorschlags an, zum anderen schätzen sie die Pläne als grundrechtswidrig ein. Ein Teil des Vorschlags ist die sogenannte Chatkontrolle: Anbieter von Kommunikations- oder Hostingdiensten sollen auf Anordnung auch die privaten Daten ihrer Nutzenden nach Hinweisen auf mögliches Missbrauchsmaterial oder Grooming scannen. So nennt man es, wenn Erwachsene mit sexuellem Interesse Kontakt an Minderjährige anbahnen.

Seit mehr als einem Jahr bricht die Kritik an den Plänen der EU-Kommission nicht ab, doch die Befürworter:innen bleiben stur. Das ist für Gegner:innen frustrierend. Lässt sich der Kommissionsvorschlag überhaupt noch verändern oder sogar verhindern – und was können Menschen tun, die sich irgendwie engagieren wollen? Wir haben Aktivist:innen gefragt und konkrete Handlungswege aufgeschrieben.

Herausfinden, wo gerade verhandelt wird

Tom Jennissen engagiert sich beim Bündnis „Chatkontrolle stoppen“ und dem Verein Digitale Gesellschaft – und er ist optimistisch. „Wir haben auf jeden Fall noch die Möglichkeit, die Pläne zur Chatkontrolle zu verhindern“, schreibt er auf Anfrage von netzpolitik.org. „Dazu müssen wir jetzt den Druck erhöhen, denn die Zeit bis Ende September wird entscheidend sein.“

Bis Ende September werden die wichtigen Gremien im EU-Parlament ihre Positionen zum Kommissionsentwurf verhandeln. Dort beschäftigt sich federführend der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) mit dem Gesetzentwurf. Außerdem ist der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) relevant. Er hat eine beratende Rolle und will noch vor der parlamentarischen Sommerpause im August seine Position beschließen. LIBE plant, Ende September über die Änderungsanträge aus dem Ausschuss abzustimmen.

Auch Elina Eickstädt engagiert sich bei „Chatkontrolle stoppen“ und ist Sprecherin des Chaos Computer Clubs (CCC). Sie empfiehlt: „Vor der Abstimmung wäre es also sehr gut, nochmal dediziert IMCO-Mitglieder anzuschreiben, besonders die von der Fraktion Renew.“ Renew Europe ist eine Fraktion im EU-Parlament, in der unter anderem Abgeordnete der FDP vertreten sind. Während sich deutsche Renew-Abgeordnete wie Moritz Körner gegen die Chatkontrolle einsetzen, sehe das bei den Kolleg:innen aus anderen Mitgliedstaaten anders aus.

Europa-Abgeordnete identifizieren

Ein erster Entwurf für eine IMCO-Stellungnahme des maltesischen Sozialdemokraten Alex Agius Saliba aus dem Februar adressierte bereits viele kritische Punkte zur Chatkontrolle. Er wandte sich gegen die Schwächung verschlüsselter Kommunikation, gegen Alterskontrollen und gegen die Erkennung von Grooming.

Eickstädt schlägt vor: „Man kann deutlich machen, dass einem Bericht nicht zugestimmt werden darf, der nicht den Schutz von verschlüsselter Kommunikation gewährleistet und Aufdeckungsanordnungen in ihrer aktuellen Form unterstützt. Diese müssen immer gezielt und spezifisch sein.“ Sie gibt zu Bedenken: „Wenn der gute Report von Saliba in der Abstimmung scheitert, geht es wieder zum Kommissionstext zurück.“ Es könnte also helfen, die Abgeordneten auf diese oder andere kritische Punkte hinzuweisen.

Im LIBE-Ausschuss sehe es ähnlich aus, auch hier gehören viele Renew-Abgeordneten zu den Wackelkandidat:innen. Außerdem enttäuschte der erste Berichtsentwurf des konservativen Berichterstatters Javier Zarzalejos die Kritiker:innen. Da bis zur geplanten LIBE-Abstimmung am 21. September noch etwas Zeit ist, schlägt Eickstädt vor, sich zunächst auf die Berichterstatter:innen zu konzentrieren.

Für jeden Ausschuss gibt es eine:n Berichterstatter:in, diese Person leitet den Prozess bis zu einer finalen Ausschussposition. Von den anderen Fraktionen gibt es sogenannte Schattenberichterstatter:innen, die jeweils für ihre Fraktionen versuchen, Kompromisse auszuhandeln.

Europa-Abgeordnete kontaktieren

Alle Mitglieder der jeweiligen Ausschüsse sind auf den jeweiligen Ausschussseiten mit Angabe ihrer Fraktion gelistet. Ihre E-Mail-Adressen, Telefon- und Faxnummern erscheinen bei einem Klick auf ihr Foto in der Übersichtsseite.

Einen guten Überblick bietet auch die Seite Parltrack. Hier lassen sich auch leicht die Berichterstatter:innen und Schattenberichterstatter:innen der einzelnen Fraktionen herausfinden.

Falls man Abgeordnete per Telefon kontaktieren will, wird man meist bei ihren Mitarbeitenden landen. Sie sind aber auch gute Gesprächspartner:innen, weil sie die Positionen der Abgeordneten mit vorbereiten. Es ist gut, sich vorher ein paar Punkte zu notieren, die einem besonders wichtig sind. Ein Kontakt per E-Mail ist natürlich auch möglich. Anregungen für eine solche E-Mail gibt das Team von „Chatkontrolle stoppen!“.

Bundestagsabgeordnete ansprechen

Neben der EU spielt auch Deutschland eine wichtige Rolle. „Die deutsche Politik darf sich nicht wegducken“, schreibt Jennissen. „Die Bundesregierung hat sich immer noch nicht durchringen können, ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag als Position für die fast schon beendeten Verhandlungen im Rat festzulegen – das Scannen privater Kommunikation abzulehnen.“ Fast ein Jahr hatte die Bundesregierung über ihre Position zur Chatkontrolle gestritten. Nun lehnt sie zwar das Scannen verschlüsselter Nachrichten ab, bei unverschlüsselten Daten jedoch nicht.

Jennissen kritisiert, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) „weit davon entfernt“ sei, „die Chatkontrolle aktiv abzulehnen oder auch nur die Minimalposition der Bundesregierung zur Ablehnung von Client-Side-Scanning offensiv zu vertreten.“

Dass Faeser selbst zu einer solchen Ablehnung zu bewegen ist, bezweifelt Jennissen. Doch der Bundestag könne noch etwas tun: „Durch eine Erklärung gemäß Artikel 23 Grundgesetz kann er die Bundesregierung auffordern, die Chatkontrolle abzulehnen und diese Position auch aktiv in Brüssel zu vertreten.“

Schon im Dezember hatten FDP und Grüne im Bundestag einen Entwurf für eine solche Stellungnahme erstellt, doch besonders die Innenpolitiker:innen der SPD blockieren das Vorhaben. Die Position scheint sehr festgefahren. Dennoch gehört der Austausch mit Wähler:innen zum Alltag von Bundestagsabgeordneten. Eine Übersicht von Innenpolitiker:innen der SPD-Bundestagsfraktion gibt es auf der Seite zur Arbeitgruppe Inneres.

Mit ausreichend Druck aus dem Bundestag könnte Deutschland seine Position im Rat ändern. „Damit würde eine Sperrminorität im Rat in greifbare Nähe rücken“, schreibt Jennissen. Sperrminorität heißt: Eine Minderheit kann einen Vorschlag im Rat blockieren. Sie lässt sich etwa mit vier Staaten erreichen, die gemeinsam 35 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Mitgliedsländer, die Chatkontrolle kritisch sehen, sind Österreich und die Niederlande. Würden diese gemeinsam mit Deutschland gegen den Entwurf stimmen, bräuchte es nur noch ein weiteres Land.

Protest auf die Straße bringen

Neben der Möglichkeit, Abgeordnete zum Handeln aufzufordern, lässt sich auch noch anders für Aufmerksamkeit sorgen. „Solange es keine klare, ablehnende Position der Bundesregierung gibt, die sich auch in den Verhandlungen niederschlägt, müssen wir den Protest weiter auf die Straße tragen“, schreibt Jennissen. „Öffentliche Proteste und Demos – gerade auch außerhalb Berlins – können den Ampelparteien deutlich machen, dass es keine gute Idee ist, mit dem offenen Bruch eines Versprechens in die Europawahl im nächsten Jahr zu starten.“

Interessierte können dich dabei bestehenden Protesten anschließen oder auch selbst etwas auf die Beine stellen. Beim Organisieren der ersten eigenen Demo oder Kundgebung können vor allem 12 Tipps helfen. „Ohne öffentlichen Druck ist weder von den Abgeordneten noch der Regierung etwas zu erwarten“, schreibt Jennissen.

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Grafikquellen     :

Oben           —       File:Chatkontrolle Chatcontrol Berlin Innenministerium 2022-06-08 01.jpg

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Auslaufmodell-Greenwash

Erstellt von Redaktion am 23. Juni 2023

Die WM in Katar war nur ein Beispiel unter vielen.

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :    Patrik Berlinger /   

Viele Firmen behaupten, klimaneutral zu sein. Statt eigene Emissionen zu reduzieren, setzen sie oft auf Kompensationen im Ausland.

(Red.) Der Autor dieses Gastbeitrags ist verantwortlich für die politische Kommunikation bei Helvetas, einer Organisation der Entwicklungszusammenarbeit. Infosperber publiziert eine aktualisierte Version seines Artikels, der im entwicklungspolitischen Newsletter von Helvetas erschienen ist.  

Vor vier Jahren gab der Bundesrat bekannt, dass die Schweiz ab 2050 «unter dem Strich» keine Treibhausgasemissionen mehr ausstossen soll. Das Volk hat dieses Ziel mit dem deutlichen Ja zum Klimaschutz-Gesetz bestätigt und erste Massnahmen für die Reduktion der Emissionen beschlossen: innovative Unternehmen und Branchen stärken, Gebäude sanieren und Elektroöfen und Ölheizungen ersetzen. Wie die Schweiz allerdings gesamthaft und in allen Sektoren bis zur Mitte des Jahrhunderts auf Netto-Null kommen soll, bleibt Gegenstand politischer Debatten.

Wichtige Anhaltspunkte liefert die «Langfristige Klimastrategie der Schweiz» aus dem Jahr 2021. Die Strategie geht in die richtige Richtung und ist ambitioniert. Und doch reicht es nicht. Denn die Strategie sieht vor, dass für Netto-Null lediglich die Emissionen innerhalb der Schweizer Landesgrenzen berücksichtigt werden. Dies, obwohl bekannt ist, dass zwei Drittel der schweizerischen Emissionen im Ausland entstehen.

Zum anderen sollen CO2-Minderungen in anderen Ländern zugekauft werden. So fördert die Schweiz im Rahmen bilateraler Abkommen Klimaschutz-Projekte in ärmeren Ländern wie Ghana, Peru oder Dominica – und rechnet die erzielten Treibhausgas-Reduktionen dem eigenen nationalen Emissionsreduktionsziel an.

Immer mehr Firmen sind angeblich «klimaneutral» 

Diesen «buchhalterischen Trick», CO2-Emissionen via Klimaschutz in ärmeren Ländern zu kompensieren, wendet die Privatwirtschaft seit Jahren an. Die Versprechen, «klimaneutral» zu wirtschaften, haben allerdings immer absurdere Züge angenommen.

Jüngst behauptete die in Genf ansässige MKS PAMP, die eine Edelmetallraffinerie betreibt, den ersten «klimaneutralen Goldbarren» zu verkaufen. Obschon offensichtlich ist, dass der Abbau des Rohstoffs immense Umweltschäden anrichtet und viel CO2 freisetzt. Gemäss dem Unternehmen ist «klimaneutral» dennoch möglich – dank CO2-Kompensationen im Ausland.

Auch Fliegen geht heute ohne «Flugscham»: Bei der Schweizer Fluggesellschaft Swiss kann der Kunde bei der Reisebuchung für ein paar Franken seinen Flug «ausgleichen» – mittels Nutzung nachhaltiger Treibstoffe (Sustainable Aviation Fuel, SAF) und einem Beitrag an Klimaschutzprojekte. Als kleines Plus gewährt die Swiss dazu «extra Statusmeilen» sowie «flexible Umbuchungsmöglichkeiten». Die SAF-Technologie steckt allerdings in den Anfängen. Das synthetische Kerosin ist erst in sehr geringer Menge verfügbar und teuer. Weltweit liegt der Einsatz von SAF im Promille-Bereich.

Im Dezember behauptete Katar, erstmalig eine «klimaneutrale WM» durchzuführen. Selbstverständlich ist dies unsinnig. Laut Katar und der FIFA wurde zwar von der Bauphase bis zum Abbau des gesamten Wettbewerbs mehr CO2 in die Luft geblasen als jemals zuvor in der Geschichte der WM. Die Organisatoren beteuerten aber, dass sie sämtliche Emissionen durch die Finanzierung ökologisch nachhaltiger Projekte «in der ganzen Welt kompensieren» würden. Bereits im November reichten die Klima-Allianz sowie Verbände aus mehreren europäischen Ländern Beschwerde gegen die FIFA ein. In ihrem Urteil vom 6. Juni unterstützte die schweizerische Lauterkeitskommission die Beschwerdeträger und befand die FIFA wegen Greenwashing für schuldig.

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Schliesslich verkündete St. Moritz diesen Winter stolz, das erste «klimaneutrale Skigebiet» der Schweiz zu sein. Pisten- und Dienstfahrzeuge würden mit CO2-neutralem Diesel fahren. Gebäude und Restaurants würden mit CO2-neutralem Heizöl beheizt. Ein offensichtlicher Fall von Greenwashing, denn die alternativ eingesetzten Treib- und Brennstoffe sparen gerade mal 5 – 8,5 Prozent CO2 ein. Der Rest wird über Klimaschutz-Projekte in Indonesien und Peru «kompensiert». Durch das Schützen der Wälder soll zusätzliches CO2 reduziert werden. Allerdings ist dies laut einem ETH-Forscher und Greenpeace fragwürdig und umstritten.

Probleme mit Ausland-Kompensationen 

Die «Zeit», der «Guardian» und «SourceMaterial» (ein non-profit Zusammenschluss von Journalist:innen) konnte Anfang Jahr nach einer neunmonatigen Recherche zeigen, dass Waldschutz-Projekte in vielen Fällen weniger CO2 binden als versprochen: Hinter mehr als 90 Prozent der CO2-Zertifikate, die Verra (der weltweit führende Zertifizierer von Emissionsgutschriften) auf Projekten zum Schutz von Regenwäldern ausgegeben hatte, standen keine realen Emissionsminderungen. Mit anderen Worten: Millionen von Emissionszertifikate, die es nie hätte geben dürfen, gelangten auf den freien Markt. Firmen wie Gucci, BHP, Shell, Chevron, Disney, Samsung, easyJet oder Leon verliessen sich auf die Regenwald-Zertifikate und polierten damit die CO2-Bilanz ihrer Unternehmen auf.

Inzwischen hat die EU naturbasierte Kompensationen aus dem CO2-Emissionshandel ausgeschlossen. Das hat zwei Gründe: Zum einen muss ein Projekt tatsächlich «zusätzlich» CO2 mindern. Nur wenn ein Waldgebiet ohne ein Schutzprojekt tatsächlich gerodet würde, verhindert ein Schutzprojekt die Emissionen von CO2. Ist das Waldgebiet aber ohnehin geschützt, weil es z.B. in einem staatlichen Naturpark liegt, wird durch ein weiteres Schutzprojekt kaum zusätzliches CO2 eingespart. Anderseits kann nie ausgeschlossen werden, dass der geschützte Wald nicht in zehn oder zwanzig Jahren doch gerodet wird oder einem Brand zum Opfer fällt, wodurch das CO2 dann doch freigesetzt wird.

Selbstverständlich muss die Staatengemeinschaft weiterhin alles dafür tun, um die Regenwälder zu schützen und die weltweite Abholzungsrate zu reduzieren. Ohne dies ist die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens aus dem Jahr 2015 und des 1,5 Grad-Ziels nicht zu machen. Ob freiwillige CO2-Kompensationsprojekte das richtige Instrument sind, ist allerdings mehr als fraglich.

Seit die EU und einige europäische Länder im freiwilligen Emissionshandel mehr Transparenz fordern, bewegt sich nun auch in der Schweiz etwas. Dienstleister wie Climate Partner Switzerland oder MyClimate, die Unternehmen dabei helfen, ihre CO2-Emissionen zu senken, verzichten seit Ende Jahr auf das Label «klimaneutral» und stellen klar, dass die von ihnen unterstützten Projekte lediglich «nachhaltig wirken».

Unternehmen müssen selbst nachhaltigen Wandel vorantreiben 

Zu lange haben es sich viele Firmen einfach gemacht und über billige Zertifikate in CO2-Kompensationsprojekte investiert, anstatt sich auf die Reduktion von Treibhausgasen in ihrem Geschäftsgebaren zu konzentrieren und Geschäftsmodelle zu entwickeln, die auf einen raschen Ausstieg aus den fossilen Energien abzielen.

Unternehmen müssen ihre Klimastrategien überdenken und in erster Linie ihre eigenen betriebsinternen Emissionen und diejenigen entlang ihrer internationalen Wertschöpfungskette reduzieren.

Firmen dürfen darüber hinaus Klimaschutzprojekte im Ausland finanzieren – ja, sie sind dazu sogar eingeladen. Allerdings dürfen sie damit ihre eigene Emissionsbilanz nicht buchhalterisch aufhübschen und ihr Business dadurch besser darstellen als es in Tat und Wahrheit ist.

Konkret wäre es im Fall des Wintersports zum Beispiel zielführender, die Gebäude energetisch zu sanieren und mit Erdwärmepumpen auszustatten, PV-Anlagen zu installieren und den Fahrzeugpark zu elektrifizieren, nachhaltiges Essen in Restaurants anzubieten und Foodwaste zu reduzieren, und die Feriengäste dazu zu bringen, mit dem Zug anzureisen. Der schädliche Luxus-Privatjet-Verkehr ins Oberengadin müsste stark besteuert werden. Das Geld könnte in Klimaschutz in der Schweiz und in ärmeren Ländern investiert werden. «Greenwashing» hingegen können wir uns nicht mehr länger leisten.

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Oben      —     Al Bayt Stadium, Al Khor, Qatar

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Die Wutbürger-Republik

Erstellt von Redaktion am 22. Juni 2023

Oder: Alle spielen für die AfD

von Albrecht von Lucke

SPD 18, AfD 18: Als Anfang Juni die Prozentzahlen des jüngsten ARD-Deutschlandtrends publik wurden, war der Aufschrei gewaltig. Und tatsächlich muss es aufhorchen lassen, wenn die Kanzlerpartei, die soeben ihren 160. Geburtstag gefeiert hat, gleichauf liegt mit einer rechten Truppe, die vor gerade einmal zehn Jahren gegründet und seither immer radikaler, ja sogar in Teilen extremistisch geworden ist. Im politischen Berlin ist seither ein bemerkenswertes Schauspiel zu beobachten: Regierung und Opposition schieben sich im Wechselspiel den Schwarzen Peter zu – und tun damit faktisch alles, um der AfD zu neuen Höchstwerten zu verhelfen.

Was die Regierung betrifft, liegt ihre Verantwortung auf der Hand. Populisten und Antidemokraten wachsen nur unter zwei Voraussetzungen: erstens einer realen Krisenlage und zweitens einer demokratischen Regierung, die zur Lösung der Probleme offensichtlich nicht in der Lage ist. Beide Voraussetzungen sind derzeit im Übermaß erfüllt. Wir erleben Krisen in einer Häufung, wie sie die Bundesrepublik bisher noch nicht kannte: einen Krieg in der Ukraine, die sich verschärfende Klimakrise, daneben massive Inflation und schließlich von steigenden Migrationszahlen überforderte Kommunen, ein klassischer Wachstumstreiber aller Rechtspopulisten, der auch durch die avisierte Verschärfung des Asylrechts auf europäischer Ebene keineswegs beseitigt werden wird.

Diese Polykrise trifft auf eine Regierung, die nicht geschlossen, sondern hoch zerstritten auftritt und angesichts eines lange abgetauchten Bundeskanzlers über keine klare Führung verfügt, obwohl gerade das von tendenziell autoritären Charakteren, die den wesentlichen Teil der AfD-Wählerschaft ausmachen, erwartet wird. Insofern ist die Krise der Regierung ein echtes Wachstumsprogramm für ihre Gegner.

Das allerdings erklärt noch nicht, warum nicht primär CDU und CSU als die klassische Opposition von der Schwäche der Ampel profitieren. Zur Erinnerung: Die „Alternative für Deutschland“ wurde 2013 gegründet als eine Anti-Partei gegen die scheinbar endlose Merkel-Ära. Es war vor allem die faktische Alternativlosigkeit der Merkel-Union auf konservativer Seite, die damals für den Aufstieg der AfD sorgte. Der Scheitelpunkt schien vor exakt fünf Jahren erreicht, als die AfD angesichts blockierter Konservativer – auf dem Höhepunkt des Streits zwischen Seehofer/Söder-CSU und Merkel-CDU in der Fluchtfrage – schon einmal 18 Prozent erreichen konnte.

Insofern gibt es einen entscheidenden Unterschied zur Lage von 2018: Damals gab es keine konservative Alternative in der Opposition, war die AfD tatsächlich alternativlos als rechts-konservativer Protest gegen die Regierung. Daher wäre es nun die originäre Aufgabe der Union, auch nach ihrem Selbstverständnis, einen Teil der AfD-Sympathisanten wieder in das klassische, bürgerlich-konservativ Lager zu integrieren, wie es der Union in der gesamten Geschichte der alten Bundesrepublik geglückt war.

Doch davon kann aktuell keine Rede sein. Das alte Prinzip der kommunizierenden Röhren – verliert die SPD, dann gewinnt die Union – ist offensichtlich außer Kraft gesetzt. Die Repräsentationslücke auf der rechten Seite des Parteienspektrums, die sich in der Merkel-Ära aufgetan hat, wird derzeit eher größer als kleiner. Denn während die AfD wächst, stagniert die Merz-Union. Die knapp 30 Prozent, die sie in Umfragen erzielt, sind angesichts der desaströsen Lage der Regierung ein ausgesprochen schwaches Ergebnis. Die Union scheint weiter denn je davon entfernt, die Wählerschaft der AfD „zu halbieren“, wie es Friedrich Merz vor wenigen Jahren versprochen hatte. Und seine denkbar schwachen persönlichen Umfragewerte sind dabei auch nicht hilfreich. Bisher hat speziell der CDU-Chef kein Rezept gegen die AfD gefunden. Umso mehr nimmt die Unruhe in der Union zu, was wiederum zu erheblichen Fehlern führt, die sich als regelrechte Wachstumsspritzen für die AfD erweisen.

Insbesondere Merz‘ Satz „Mit jeder gegenderten Nachrichtensendung gehen ein paar hundert Stimmen mehr zur AfD“ lässt die Rechtspopulisten jubilieren und zugleich alle anderen massiv am strategischen Vermögen des CDU-Chefs zweifeln. Eine bessere Wahlempfehlung für die AfD – im Sinne einer selffulfillig prophecy – kann es kaum geben, bezeichnet Merz damit doch implizit die AfD als den originären Gegenpart der doch auch von seinen eigenen Strategen so stark angeprangerten angeblichen „Wokeness“-Dominanz im Lande.[1]

Nicht weniger fatal: Wenn Merz von einem dem normalen Leben der Menschen abgehobenen „Justemilieu“ der Berliner Regierungsparteien spricht, ist das eine Steilvorlage für die AfD, die mit Genuss darauf hinweist, dass die Union ja ihrerseits in zahllosen Bundesländern gemeinsam mit den Grünen regiert – und dies nach der letzten Bundestagswahl ja auch landesweit tun wollte. Insofern steckt in der Fundamentalkritik des politischen Gegners stets auch die Kritik der eigenen Politik. Zugleich bestärkt es das Kernargument der Rechtspopulisten, wonach wir es mit einer Krise des gesamten Partei-Establishments zu tun hätten. Und für diese stehen letztlich alle etablierten Parteien, die Ampel-Grünen sowieso, aber auch die im Osten an Regierungen beteiligte Linkspartei.

File:Keine AFD V1.svg

Die einzigen, die grundsätzlich dagegen sein können, sind die AfD und – möglicherweise in naher Zukunft – eine ebenfalls populistisch agierende Wagenknecht-Partei. Anders als die Regierungsparteien profitieren sie davon, dass sie für kein Versagen haftbar gemacht werden können. Getreu der Devise: Nur wer nichts macht, macht keine Fehler.

Jargon der Demokratie-Verachtung

Parallel zur Ratlosigkeit der anderen Parteien artikuliert sich daher ein neues Selbstbewusstsein der Rechtspopulisten. Denn sie, wie auch ihre Anhänger, haben längst begriffen: AfD wirkt, so oder so. Die Partei muss gar nicht regieren, denn sie bestimmt auch so den angstgetriebenen Kurs der anderen.

Zudem muss man der Partei konzedieren, dass sie aus ihrer Krise der letzten Jahre gelernt hat. Seit dem Abgang von Jörg Meuthen gibt sie sich, zumindest in der Öffentlichkeit, nicht mehr zerstritten. Und obwohl sie heute radikaler ist als je zuvor, tritt Björn Höcke als der heimliche Parteiführer kaum in Erscheinung, sondern lässt die beiden schwachen Parteivorsitzenden Tino Chrupalla und Alice Weidel agieren. Selbst die enorm hohen Umfragewerte werden bewusst nicht triumphalistisch kommentiert, um auf diese Weise zu verhindern, dass extreme Meinungen besonders augenfällig werden und sich dadurch die Öffentlichkeit gegen die Partei richten könnte. Die Strategie ist klar: Man hält sich selbst zurück und lässt stattdessen lieber andere für die AfD agieren. Und diese tun ihr leider allzu gerne den Gefallen. Denn längst hat sich auch in den angeblich bürgerlichen Parteien ein Jargon der Regierungs-, ja sogar der Demokratie-Verachtung etabliert, der das eigentliche Kernargument jedes Populisten bekräftigt, wonach nur er „Volkes Meinung“ gegen „die da oben“ vertritt, es sich also letztlich um eine Form autoritärer Herrschaft oder gar Diktatur der politischen Klasse handelt. Wenn etwa Thüringens CDU-Chef Mario Voigt das geplante Heizungsgesetz als „Energie-Stasi“ anprangert, relativiert er nicht „nur“ die DDR-Diktatur, sondern er bedient exakt die Narrative der AfD – und macht damit die Partei wählbar und gesellschaftsfähig.

Quelle        :        Blätter-online         >>>>>     weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —   Pressekonferenz der AfD-Bundestagsfraktion, am 11. April 2019 in Berlin.

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Unten     —     Keine Alternative für Deutschland. Aufkleber gegen die Partei Alternative für Deutschland, in SVG Format.

Source Own work
Author Weeping Angel

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von Redaktion am 22. Juni 2023

„Krieg und Frieden“
Einreiseverbot in Georgien: Franz Kafka lässt grüßen

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Aus Jerewan Filipp Dzyadko

Nur noch zwei Schritte, dann wäre ich zu Hause, bei meiner Familie. Doch der Grenzer sagt: „Ihnen wird die Einreise verweigert.“ Ohne Angabe von Gründen. Herzlich willkommen, nicht zu Hause, sondern in der Welt von Franz Kafka.

Georgien ist eines der Hauptziele russischer Migranten. Nach dem 24. Februar 2022 kamen überstürzt Zehntausende, die Putins Krieg nicht unterstützen. Auch ich habe mit meiner Familie ein Jahr lang in Georgien gelebt. Und erlebte dann für 24 Stunden so etwas wie der Protagonist im Spielberg-Film „Terminal“, gespielt von Tom Hanks. Als Bürger einer osteuropäischen Diktatur ist dieser gezwungen, auf einem Flughafen zu leben. Er wird dort als „unerwünschtes Element“ bezeichnet.

Ich kam von einer Dienstreise aus Berlin zurück. Bei der Passkontrolle in Tbilissi hieß es, es gäbe einen „Systemfehler“. Das Foto aus meinem Pass wurde irgendwem per WhatsApp geschickt. 23 Stunden verbrachte ich daraufhin in einer Arrestzelle, um dann zu hören: „Einreise verweigert“. Immer öfter können Menschen aus Russland nicht mehr nach Georgien einreisen. Vielleicht möchte das Land nicht als Hort von Putin-Gegnern gelten. Vielleicht liegen dort Listen des russischen Geheimdienstes aus. Oder die Regierung der Kaukasusrepublik weiß schlicht nicht, wie sie mit der neuen Realität umgehen soll.

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Mir wurde gleich am Flughafen vorgeschlagen, ich solle mir doch ein Flugticket „irgendwohin“ kaufen. Ich kaufte dann eins ins benachbarte Armenien, um in der Nähe meiner Familie zu sein, die in Georgien blieb. Und ich dachte: Wo sollen wir jetzt eigentlich neu anfangen? Meine Frau, meine Tochter, die das Schuljahr in ihrer georgischen Schule beenden muss.

Warum ich nicht einreisen durfte? Jemand meinte, es sei vielleicht wegen meines Romans „Radio Martyn“. Darin geht es um einen oppositionellen Piratensender und die Giganten, die Putins Welt und seine Propaganda zerstören. Eine andere Vermutung: Vor zehn Jahren war ich aktiv im „Koordinierungsrat der Opposition“. Oder: Weil mein Bruder Chefredakteur des oppositionellen russischen TV-Senders Doshd ist. Was immer auch die Erklärung sein mag, meine Einstellung zu Georgien ändert das nicht: Ich werde das Land weiter lieben. Denn ein Staat und die Menschen, die darin lieben, sind zwei unterschiedliche Dinge.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>     weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Die Linken Hasenfüße

Erstellt von Redaktion am 21. Juni 2023

Regierungen sind nicht in Stein gemeißelt

Ein Schlagloch von Robert Misik

Progressive Regierungen sollen auf die Meinungen der Mehrheit Rücksicht nehmen, heißt es. Doch die sind nicht in Stein gemeißelt. Wer nur darauf aus ist, in der Bubble der Überzeugten eine Heldin zu sein, tut niemandem einen Gefallen.

Häufig kursieren in den sozialen Medien lustige Memes von der Art: „Viele Zitate im Internet sind erfunden (Julius Cäsar)“. Gut, das ist deutlich erkennbar erfunden, obwohl auch darauf manche Leute reinfallen. Längst tut man sowieso gut daran, allen Zitaten zu misstrauen. Ehrlicherweise muss man aber auch einräumen, dass es nicht das Internet gebraucht hat, um Falschzitate zu verbreiten. Manchmal hilft das Internet sogar, verfestigtes Falschwissen zu untergraben.

Eines meiner Lieblingszitate des großen Ökonomen John Maynard Keynes ist seit vielen Jahren: „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und was machen Sie?“ Leider beging ich unlängst den Fehler, die Quelle zu googeln, was in der schockierenden Entdeckung mündete, dass auch das ein Falschzitat ist und nicht von Keynes ist. Sehr verdient um die Enttarnung von Falschzitaten hat sich der Wiener Literaturwissenschaftler und Karl-Kraus-Forscher Gerald Krieghofer gemacht. So fand er für ein kursierendes Zitat des legendären sozialistischen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky die Ursprungsquelle in einer Ausgabe der Salzburger Nachrichten vom Mai 1976. Der sagte: „Solange ich da bin, wird rechts regiert.“

Kreisky, der eine stark selbstironische Seite hatte, meinte damit: Man dürfe die Leute nicht mit gesellschaftlicher Progressivität, radikalen Plänen und wilder Rhetorik überfordern. Lieber solle man ein gemäßigter Sozialist sein, der dafür Mehrheiten hinter sich versammeln kann, als ein radikaler Sozialist, der wirkungslos bleibt, weil er keine Wahlen gewinnen kann. Damit hat er radikale ökonomische Forderungen seiner linken Parteifreunde gemeint (wie weitgehende Reichensteuern und Verstaatlichungen), aber auch gesellschaftspolitische Modernisierungen wie die Frauen­eman­zi­pation. Kreisky hat beispielsweise die Fristenlösung für den Schwangerschaftsabbruch eingeführt, aber im Grunde musste er von den kämpferischen Frauen in seiner Partei dazu gezwungen werden. Diese und andere progressive Gesetze hatten am Ende viel Unterstützung hinter sich, aber Kreisky hätte damit nicht gerechnet.

Ein bisschen Hasenfuß war er schon. Übrigens nicht viel anders als der legendäre Anführer der italienischen Eurokommunisten, Enrico Berlinguer. Der gewann eine Volksabstimmung über die Fristenlösung, die er eigentlich nicht wollte, weil er sicher war, diese niemals gewinnen zu können. Und das ist nur ein Beispiel einer einstmals sehr umkämpften gesellschaftspolitischen Reform. Man kann hier die vielen anderen Thematiken – Diversität einer Zuwanderergesellschaft, moderne Staatsbürgerschaftsgesetze, LGBTIQ-Rechte – dazu denken. Linke Regierungskunst heißt ja, den Königsweg zwischen ambitionierter Radikalität und beruhigender Mäßigung zu finden, und dieser Königsweg ist leider nicht auf Landkarten verzeichnet. Wenn Robert Habeck anmerkt, wie unlängst beim Kölner Philosophie-Festival, dass Ideen untauglicher Schrott sind, wenn sie so radikal seien, dass sie politisch nichts nützen, dann ist das wie ein moderner Nachklang des Kreisky-Aperçus. Der Realist will seine Ansichten so formulieren, dass sie an die vorherrschenden Meinungen in einer Gesellschaft zumindest anschlussfähig sind.

Völlige Zustimmung, nur gibt es eine kleine Kompliziertheit: „vorherrschende Meinungen“ oder Konventionen sind keine unveränderbaren Konstanten. Je furchtsamer man ist, umso weniger wird man sie vielleicht in eine progressive Richtung verändern. Auch bei Sozialdemokraten gab es in den vergangenen Jahrzehnten starke Stimmen, die drängten, man müsse sich an einen konservativen Zeitgeist anpassen, um stärker zu werden, was aber oft nur dazu geführt hat, dass die Sozialdemokratie schwächer und der rechte Zeitgeist stärker wurde.

Gern wird heute auch angeführt, dass die Progressiven die Wäh­le­r:in­nen mit sozialpolitischen und ökonomischen Themen gewinnen können, sie aber mit zu viel gesellschaftspolitischem Klimbim oder der Thematisierung von Trans-Toiletten abschrecken würden. Oft unterschätzt man jedoch die potenzielle Fortschrittlichkeit einer Gesellschaft, weil man kein präzises Bild vom wirklichen Meinungstohuwabohu der Leute hat. Und außerdem haben wir jetzt schon ein paar Jahre lang die Erfahrung gemacht: Wenn Linke in „die Mitte“ rücken, dann führt das nur dazu, dass sich diese „Mitte“ nach rechts verschiebt.

Quelle          :         TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      — Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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Kein Lust auf Nachrichten?

Erstellt von Redaktion am 21. Juni 2023

Medienkonzerne schlagen laut Alarm

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 Bundesvorsitzender des Deutscvhen Jounalistenverbandes ist seit 2015 der Journalist Frank Überall,

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Der „Reuters Institute Digital News Report“ ist eine hochmögende Einrichtung der Medienkonzerne. Seine Analyse ist weniger Teil der allgemeinen Dauermanipulation, sondern dient eher der nüchterneren Selbsteinschätzung zur Verbesserung der täglichen Bearbeitung des Massen-Bewusstseins. Insofern ist der Report von seltener Ehrlichkeit geprägt. Zwar legt auch diese Arbeit ihre Fragen nicht offen – nur wer die Fragen kennt, kann das Ziel der Befragung genau erkennen – aber weil der Report ein Arbeitsinstrument ist, ist in ihm die Lage der Medien in Deutschland deutlich zu begreifen: Das Vertrauen der Medien-Nutzer in ihre Medienkost ist weiter gesunken. Jeder Zehnte versucht sogar, den Nachrichtenkonsum aktiv zu vermeiden. Noch schlimmer ist dieser Satz des Reports für die Selbsterkenntnis der Manipulationsapparate: „Die Bedeutung Video-getriebener sozialer Netzwerke als Informationsquelle nimmt unterdessen weiter zu“.

Kein Vertrauen in Nachrichten

Nur noch 52 Prozent der erwachsenen Internetnutzer in Deutschland geben an, sehr an Nachrichten interessiert zu sein. Im Vorjahr waren es noch 57 Prozent. Die Frage nach dem WARUM der Nachrichten-Müdigkeit wird von jenem Teil der Studie der öffentlich zugänglich ist nicht beantwortet. Und doch findet sich ein klarer Hinweis in der Arbeit: „Mur 43 Prozent sind der Ansicht, man könne dem Großteil der Nachrichten in der Regel vertrauen. Das sind sieben Prozentpunkte weniger und gleichzeitig der niedrigste Wert, seitdem die Frage 2015 erstmals gestellt wurde“. Nur wer dem Wahrheitsgehalt der Nachrichten vertraut, kann auf Dauer ein Interesse an den Nachrichten haben. Dieses Interesse aber ist die Basis der Steuerungsmöglichkeit des Massen-Bewusstseins.

Alternative Medien ausgeblendet

Während die vorliegende Reuters-Studie die Wirkung der traditionellen Medien relativ kritisch reflektiert, werden die alternativen Medien ausgeblendet. Dass Informationsplattformen wie die „Nachdenkseiten“ oder „apolut“ die wesentlichen Voraussetzungen für die wachsende Distanz zu den üblichen Medien geschaffen haben, will die Reuters-Studie nicht erwähnen und verlegt sich so selbst den Weg zur Erkenntnis der eigenen Lage. Im Handbuch für Ausbildung und Praxis im Hörfunk des Springer-Verlags wird die Nachricht so definiert: „Die Nachricht ist eine direkte, auf das Wesentliche konzentrierte und möglichst objektive Mitteilung über ein neues Ereignis, das für die Öffentlichkeit wichtig und/oder interessant ist. „Neutral, nüchtern, parteilos“, wie das Synonym-Lexikon den Begriff „objektiv“ übersetzt, ist die Mehrheit der Nachrichten nicht.

Keine Rede von Objektivität

Spätestens während der Zeit des Corona-Regimes, als die deutschen Medien Gegenstimmen zum Kurs der Regierung komplett ausblendeten oder diffamierten, kann von Objektivität keine Rede mehr sein. Seit Beginn des Ukrainekriegs wurde diese Gleichschaltung der Mehrheits-Medien fortgesetzt. Von einer offenen, demokratischen Berichterstattung konnte und kann nicht mehr die Rede sein. So muß das das „gesunkene Vertrauen der Medien-Nutzer“ als verständliche Reaktion gewertet werden. Allerdings betreibt die Reuters-Untersuchung keine Ursachen-Forschung. Von den Gründen für das gesunkene Interesse an den Nachrichten ist nicht die Rede. Im Ergebnis dieses offensichtlichen Analyse-Mangels ist eine Änderung der Lage nicht zu erwarten. Man kann und muß sogar unterstellen, dass diese Verweigerung einer Ursachenforschung den Kurs der deutschen Medien eher weiter betoniert.

Gleichtakt von Mehrheitsmedien, Regierung und „YouTube“

An keiner Stelle schreibt die Reuters-Studie über die Löschungen bei „YouTube“. Obwohl die „Bedeutung Video-getriebener sozialer Netzwerke als Informationsquelle“ bei Reuters hervorgehoben wurde, findet die gezielte Zensur bei „YouTube“ nirgends eine Erwähnung. Aber gelöscht wurden genau jene Informationen, die dem Einheitskurs der Medien widersprachen. Zwar fehlt bisher jeder Beweis einer organisierten Zusammenarbeit zwischen Regierung und „YouTube“, aber dieser verschwiegene und verschweigende Gleichtakt von Mehrheitsmedien, Regierung und „YouTube“ kann kein Zufall sein. Gar keine Erwähnung findet die russisch inspirierte Plattform „RT Deutsch“. Die Plattform wird als Feindsender behandelt, so als sei Deutschland bereits offiziell in den Ukraine-Krieg verwickelt. Den Fall „RT Deutsch“ einfach nicht zu erwähnen, ist eine Verweigerung, die Wirklichkeit wahrzunehmen, die vor allem bei einer Medienanalyse mehr als befremdlich ist. Diese Weigerung ist geradezu eine stillschweigende Anerkennung der zentralen Steuerung von Zensur und stellt der Reuters-Studie ein erbärmliches Zeugnis aus.

Kampagne für Medienfreiheit?

Für die alternativen Medien ist die Lage nach der Reuters-Studie eindeutig: Sie wären die Rettung für den verbliebenen Rest von Presse- und Meinungsfreiheit. Wenn sie denn die zunehmend unzufriedeneren Medienkunden erreichen würden. Dem steht ihr mangelnder Bekanntheitsgrad im Wege: Selbst kritische Medienkonsumenten wissen häufig nicht, dass es Alternativen gibt und wo man sie erreichen kann. Es ist an der Zeit für eine gemeinsame Kraftanstrengung aller alternativer Medien, um deren Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Es ist an der Zeit für eine Kampagne für Medienfreiheit, die sich nicht im Appell erschöpft.

Die Original Reuters-Studie:
https://leibniz-hbi.de/de/publikationen/reuters-institute-digital-news-report-2022-ergebnisse-fuer-deutschland

Urheberrecht

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Oben      —     Frank Überall bei einer Diskussion in Köln-Mülheim (2008)

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Balken & Torten:

Erstellt von Redaktion am 21. Juni 2023

So schlecht argumentiert das BKA für die Vorratsdatenspeicherung

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Frage an Radio Eriwan: „Warum nehmen Politiker-innen einen solchen Job an, wenn sie eine so große Angst um ihre Sicherheit haben?“ Aus reiner Gier – einmal im Blick der Öffentlichkeit zu stehen ? Oder geht es ums Geld?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von       :         

Das Bundeskriminalamt macht mal wieder Stimmung für die Vorratsdatenspeicherung. Das geht aus Folien einer Präsentation hervor, die wir veröffentlichen. Sie enthält Ungereimtheiten und verschleiert Zusammenhänge.

Das Bundeskriminalamt (BKA) kämpft seit Jahren für die Vorratsdatenspeicherung. Die Begründung wechselt von Terrorismus über Organisierte Kriminalität zu (seit einiger Zeit) Kindesmissbrauch.

Bei einem Fachgespräch im Familienausschuss des Bundestages am Mittwoch wird BKA-Vizepräsidentin Martina Link eine Präsentation mit dem Titel „Bedeutung der IP-Adresse in der Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen“ halten. Die Polizeibehörde wirbt damit wieder für die derzeit rechtswidrige Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen. Wir haben uns die Folien, die wir an dieser Stelle veröffentlichen (PDF), angeschaut und haben irreführende Aussagen gefunden. Nicht zum ersten Mal.

In der ersten inhaltlichen Folie wird skizziert, wie sich die Fallzahlen bei verschiedenen Straftaten entwickeln. Hier vermischt das BKA Straftaten, die Kinder unmittelbar betreffen – etwa Tötungsdelikte und Missbrauchsfälle – und Straftaten, die mit einer Verbreitung von Inhalten im Internet zu tun haben. Aber nur für manche dieser Straftaten ist eine IP-Adresse relevant.

Aufhellung Dunkelfeld unterschlagen

Eine Grafik sticht besonders hervor. Sie betrifft den Zeitraum zwischen 2016 und 2022 und beschreibt Verdachtsfälle von „Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung kinderpornographischer Schriften § 184b StGB“. Hierzu gebe es eine Steigerung von 640 Prozent. Diese Zahl braucht eine genaue Einordnung. Ansonsten entsteht der Eindruck, dass hier ein Kriminalitätsfeld mit unglaublicher Geschwindigkeit wachse. Folgende Einordnungen fehlen auf der Folie:

Die vom NCMEC veröffentlichten Zahlen werden oftmals falsch wiedergegeben oder in einen falschen Kontext gesetzt, wie unsere Analyse aus dem vergangenen Jahr gezeigt hat. Das heißt: Auch eine höhere Anzahl von Meldungen des NCMEC an das BKA muss nicht bedeuten, dass es wirklich mehr Straftaten gibt.

Erfolgreich ohne Vorratsdatenspeicherung

In der vierten Folie wird präsentiert, mit welchen Fahndungsmethoden das BKA in Folge einer NCMEC-Meldung Erfolg hat. Demnach machen IP-Adressen – auch ohne Vorratsdatenspeicherung – 41 Prozent der erfolgreichen Ermittlungen aus, es folgen Telefonnummern mit 28 Prozent und E-Mail-Adressen mit 6 Prozent. 25 Prozent aller NCMEC-Meldungen führen demnach nicht zu einem Ermittlungserfolg. Die Erfolgsquote nach einer NCMEC-Meldung liegt nach der präsentierten Statistik also bei 75 Prozent. Damit liegt diese Quote um knapp 20 Prozentpunkte höher als der Durchschnitt aller Straftaten: Laut Polizeilicher Kriminalstatistik werden allgemein nämlich 57,3 Prozent aller Fälle aufgeklärt.

In der fünften Folie werden die Erfolgsquoten anderer Fahndungsansätze wie Telefonnummern und E-Mail-Adressen näher untersucht. Sie kommen demnach zum Einsatz, wenn der Ansatz per IP-Adresse nicht funktioniert. Telefonnummern können zum Beispiel bei der Verbreitung von Materialien über Messenger wie WhatsApp oder Signal als Fahndungsmerkmal dienen. Spannend ist hier die niedrige Erfolgsquote von nur 49 Prozent. Immerhin lässt sich über die Telefonnummer per Bestandsdatenabfrage herausfinden, auf welchen Namen der Telefonvertrag läuft. Diese Ermittlungsmethode ist aber nur knapp erfolgreicher als die über eine IP-Adresse, die nach dem Ende der Vorratsdatenspeicherung oftmals nur sieben Tage lang gespeichert wird.

Längere Speicherung bringt nur geringe Vorteile

Die sechste Folie lässt sich ohne weiteren Kontext nicht mit Sicherheit deuten. Eine Tabelle listet das „Alter“ einer IP-Adresse in Tagen auf und ordnet diesem Alter einen Ermittlungserfolg in Prozent zu.

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Wir interpretieren das so, dass mit dem „Alter“ der IP-Adresse die Speicherdauer der Adresse beim Provider gemeint ist. In diesem Fall würde die Folie zeigen: Auch wenn Provider die Daten nach sieben Tagen löschen, wären ihre Ermittlungen in mehr als drei Vierteln der Fälle erfolgreich. Eine Verdoppelung der Speicherfrist auf 14 Tage brächte gerade 8 Prozentpunkte mehr Fahndungserfolg. Eine weitere Erhöhung der Speicherfrist auf 26 Tage brächte dann noch einmal 6 Prozentpunkte. Das zeigt: Die längere, grundrechtlich bedenkliche Vorratsdatenspeicherung würde nur minimale höhere Erfolgsquoten erzielen.

Das ist schon lange bekannt; auch eine wissenschaftliche Studie belegt, dass der Wegfall der Vorratsdatenspeicherung nicht zu nennenswert schlechteren Ermittlungserfolgen führt. Einschränkungen für die Polizei, ob nun durch Verschlüsselung oder durch fehlende IP-Adressen, haben bislang immer dazu geführt, dass die Polizei auf alternative Ermittlungsmethoden zurückgegriffen hat und damit auch erfolgreich war. Hinzu kommt, dass die Polizei aufgrund der Digitalisierung auf eine noch nie dagewesene Fülle von Daten zurückgreifen kann.

In der Ampel gibt es weiterhin Streit um die Vorratsdatenspeicherung. Während das Justizministerium von Marco Buschmann (FDP) die Vorratsdatenspeicherung ablehnt und stattdessen schon einen Entwurf für das Quick-Freeze-Verfahren vorgelegt hat, will Innenministerin Nancy Feaser (SPD) eine neue Vorratsdatenspeicherung und an das Äußerste gehen, was das Urteil des Europäischen Gerichtshofes zulässt.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —   Bundeskanzlerin Merkel mit Personenschützern des BKA

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Vom Nildelta in den Tod

Erstellt von Redaktion am 21. Juni 2023

Bootsunglück im Mittelmeer

Aus Kairo von Karim El-Gawhary

Viele der auf dem letzte Woche verunglückten Boot kamen aus Ägypten. Im Nildelta beginnt eine der Routen eines perfiden Schmugglersystems.

Der Untergang des Schiffes voller Migranten vorige Woche im Mittelmeer ist eine griechische Tragödie. Doch es ist auch ein ägyptisches Drama. 43 der 104 Überlebenden sind Ägypter, enthüllte die ägyptische Migrationsministerin Soha Gindi am Montag. Neun der Überlebenden, die wegen Verdachts der Schlepperei festgenommen und dem Haftrichter vorgeführt wurden, sind ebenfalls Ägypter. Auch unter den restlichen Menschen an Bord – insgesamt waren es Schätzungen zufolge rund 750 – soll sich eine hohe Zahl an Ägyptern befunden haben. Sie wurden entweder bereits tot geborgen oder gelten als vermisst.

Inwieweit die neun verhafteten Ägypter als Schlepper gearbeitet haben, ist jetzt eine Frage für die griechische Justiz. Vor dem Haftrichter erklärten die Männer ihre Unschuld. „Mein Mandant sagt, er sei auch nur ein Opfer und habe eine erhebliche Summe für eine Reise von Ägypten nach Italien gezahlt“, erklärte Dimitris Drakopoulos, ein Pflichtverteidiger eines Angeklagten. Er sei von sich aus ins Meer gesprungen, um Wasserflaschen zu holen, die ein Frachter zuvor abgeworfen hatte, nachdem auf dem Migrantenschiff das Wasser ausgegangen sei.

Wenn es sich bei den Verhafteten tatsächlich um Schlepper handelt, dann wohl nur um die ganz kleinen Fische. Es ist üblich, dass die Organisatoren der Schiffe günstigere Preise machen, wenn man an Bord Handlangerdienste leistet. Laut der unabhängigen ägyptischen Nachrichtenplattform Mada Masr berichteten Angehörige zweier der Festgenommenen, dass diese erst vor wenigen Wochen Ägypten verlassen hätten, um nach Europa zu reisen.

Die Hinterleute sitzen woanders. Einer der Namen, die im Zusammenhang mit der Tragödie genannt werden, ist der des Libyers Muhammad Abu Sultan, genannt „Kaiser des Meeres“, der auch der Besitzer des gesunkenen Boots sein soll. Mit seinen Brüdern Salem Abu Sultan, auch genannt „der Führer“, und Ali Abu Sultan unterhält er einen Schmugglerring in Tobruk, schreibt die ägyptische Nachrichtenseite Veto. In der ostlibyschen Stadt war das Boot gestartet.

Tausende Euro für eine Überfahrt

Doch das gesamte System der Schmuggler lässt sich nicht an einigen Namen festmachen, die auf lokaler Ebene zu Schmugglergrößen geworden sind. Es ist ein riesiger Schmugglerring, der sich aus dem Inneren Afrikas über Ägypten, Libyen und Tunesien bis nach Europa zieht. Von einem „gigantischen Spinnennetz“ spricht Gamal Gohar, der für die überregionale arabische Tageszeitung Asharq al-Awsat als Investigativreporter in Sachen Migration und Libyen arbeitet. „Das ist wie ein Markt mit Angebot und Nachfrage, und die Nachfrage wächst immer mehr.“

Die Menschen würden von einer Schlepperbande an die nächste übergeben, bis sie ihr Ziel erreicht haben. „Das ist wie ein Bewässerungssystem im Nildelta. Eine Pumpe transportiert das Wasser in einen Kanal und von dort wird es über andere Pumpen in weiter entfernte Kanäle geleitet“, beschreibt Gohar das System gegenüber der taz.

Im Nildelta in Ägypten befindet sich auch einer der Anfangspunkte des Systems. In den ärmlichen Dörfern sprechen sich die Namen der Ansprechpartner der Schlepper herum, auch über sozialen Medien. Sie fungieren unter falschem Namen, meist als „Hagg soundso“. Hagg ist im Arabischen die Anrede für einen ehemaligen Pilger nach Mekka, eine perfekte anonyme Anrede.

Auf den Weg machen sich vor allem junge Männer, aber auch Kinder und Minderjährige. Er kenne viele 13- oder 14-Jährige, die die Reise angetreten haben, oftmals mit einem älteren Bruder, sagt der ägyptische Investigativjournalist. Armut sei fast immer das Hauptmotiv.

Laut Weltbank leben zwei von drei Ägyptern unter der Armutsgrenze oder drohen in diese abzustürzen. Im ländlichen Nildelta sind die Zahlen noch höher. Die Inflationsrate im Vergleich zum Vorjahr liegt offiziell bei 33 Prozent, bei Nahrungsmitteln ist die Preissteigerung zum Teil noch höher. Das ägyptische Pfund hat seit März letzten Jahres die Hälfte seines Wertes verloren. Viele Familien stehen mit dem Rücken zur Wand. Oft erscheint die Fahrt übers Mittelmeer trotz aller Risiken als einzige Perspektive.

Der Preis für die Überfahrt nach Europa ist Verhandlungssache. Bis zu umgerechnet 4.500 Euro werden bezahlt. Viele Familien können sich das nur leisten, wenn sie ihr Vieh verkaufen oder sich massiv verschulden. „Sie versuchen, alles, was sie besitzen, zu Geld zu machen, um eines ihrer Kinder nach Europa zu schicken“, sagt Gohar.

Drogen für die Kinder

Kommt man ins Geschäft, liegt das erste Ziel hinter der libyschen Grenze. Dort werden die Menschen an eine andere Bande übergeben und in entlegenen Häusern „zwischengelagert“, wie es im Schmugglerjargon heiße, erzählt Gohar. Jetzt kommt es darauf an, in wessen Hände sie geraten sind. Handelt es sich um einen „ehrlichen Schlepper“, werden die Menschen nachts auf zehn- bis zwölfstündige Fußmärsche durch die Wüste geschickt.

Die nächtlichen Wanderungen wiederholen sich, bis die Gruppe ihr Ziel erreicht hat. Kindern wird dabei oft Tramadol verabreicht, ein Opioid, das eigentlich ein starkes Schmerzmittel ist. In Ägypten ist Tramadol zu einem Suchtproblem geworden, weil es oft bei schweren Arbeiten eingesetzt wird, etwa in Marmor-Steinbrüchen. Manchmal haben die Wanderungen durch die Wüste Westlibyen zum Ziel. In letzter Zeit geht es oft aber nur bis ins ostlibysche Tobruk, von wo die Gruppen dann nach Europa ablegen. Bei der Ankunft in Europa wird die zweite Hälfte des vereinbarten Geldes bezahlt.

Handelt es sich jedoch um eine Schlepperbande, die auf anderem Wege zu schnellem Geld kommen möchte, dann endet die Reise in Libyen in einem der Zwischenlager. Besonders verwundbar sind die Kinder. Die werden an andere Banden verkauft und enden als Feldarbeiter, Bettler oder in der Prostitution in Libyen. „Die Liste der in Libyen vermissten Kinder und Minderjährigen im ägyptischen Außenministerium ist lang“, sagt Gohar. Von so manchen hörten die Angehörigen nie wieder etwas, entweder weil sie in Libyen als Zwangsarbeiter eingesetzt würden oder weil sie im Mittelmeer ertrunken seien.

Quelle        :         TAZ-online        >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Afrika, Nildelta und Landenge von Sues (3 Punkte=Ruine, Dreieck=Pyramide)

Title
Lange-Diercke – Sächsischer Schulatlas       /   Publisher    :      Georg Westermann (Braunschweig)
Carl Adlers Buchhandlung (Dresden)

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Unten     —     Tubruk

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Linke wohin des Weges?

Erstellt von Redaktion am 20. Juni 2023

Beitrag zur Wagenknechts – Neue Partei 

Von Wolfgang Gerecht, 19. 06.2023

Von den Super-Politik-Expert-innen ist noch kein konstruktiver Beitrag zur Stärkung der darniederliegenden Partei (Nicht nur im Saarland) zu lesen.

Frau Wißler und Herr Schirdewan könnten, Stand heute, lediglich ein Mitglieder-Rückgang auf ca. 50.000 vermelden. So jedenfalls war es im TAZ-Interview (23.04.23) mit dem (noch) parlamentarischen Geschäftsführer, Korte, unwidersprochen benannt worden. BdZ ließ verlauten, dass die von ihm ermittelten Zahlen sich auf etwa 52.600 belaufen würden.

Wer auch immer näher an der „Wahrheit“ liegt, Frau Wißler hat vor kurzer Zeit trotzig verkündete, es seien schon wieder – nach dem verkündeten Wagenknecht-Aus – die ersten Neueintritte zu vermelden. Wieviele es sein sollen, hat sie vorsorglich noch für sich behalten.

DIE „LINKE“ im Saarland, so wurde im KLH geraunt, soll jetzt gerade noch etwa 1.350 Mitglieder zählen, wobei die Altersstruktur der Mitgliedschaft Sorge bereitet.

Statt dem ausführlichen und sehr zahlreichen Gemecker über das Ehepaar Lafontaine-Wagenknecht, wäre es „zielführender“ wenn die selbsternannten „echten“ LINKEN im DL-Saarland den geschäftsführenden LAVO mit Frau Spaniol an der Spitze und ihren weiblichen Mitstreiter Innen, Neumann, Ensch-Engel, Geißinger und den Herren Mannschatz, Bierth und Neumann tatkräftig vor Ort zu unterstützen, um die Zeit bis zur bevorstehenden Kommunalwahl im Jahr 2024 konstruktiv für ein gutes Ergebnis zu nutzen.

Selbstredend würden die „echten“ LINKEN dadurch auch ein zufriedenstellendes Wahlergebnis bei den gleichzeitig stattfindenden Europawahlen schaffen können. Vielleicht sogar in Konkurrenz zu einer – wenn es sie bis dahin gibt – Wagenknecht-Partei.

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Politik, News, Bundesparteitag Die Linke: die neu gewählten Parteivorsitzenden Martin Schirdewan und Janine Wissler

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Süd- und Mittelamerika:

Erstellt von Redaktion am 20. Juni 2023

 Was in vielen unserer Medien unterging

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :     Romeo Rey /   

Linke Reformpolitik hat in vielen Ländern keine Chance, weil sich konservativ dominierte Parlamente mit aller Kraft dagegenstemmen.

In mehreren Ländern Lateinamerikas, wo linksgerichtete Kandidaten in letzter Zeit die Präsidentschaftswahlen gewonnen haben, erweisen sich konservative Mehrheiten in den Parlamenten wie erwartet als entscheidende Bremsklötze. Gesetzes- und Verfassungsprojekte, die auf strukturelle Reformen hinauslaufen sollten, prallen an einer Wand des Widerstands ab. Allerdings kann man auch nicht übersehen, dass die Anhänger des Wandels mangels politischer Erfahrung und innerer Geschlossenheit oft jedes Fingerspitzengefühl vermissen lassen.

Ein typischer Fall für dieses Scheitern ist Chile, das Ende 2021 den kaum 35-jährigen ehemaligen Studentenführer Gabriel Boric zum Präsidenten der Republik wählte, eine linke Mehrheit im Kongress jedoch klar verfehlte. Jener Urnengang schien zu bestätigen, dass das politische Spektrum in diesem Andenstaat in drei ähnlich grosse Drittel zerfällt, wobei die mittlere Fraktion normalerweise eher nach rechts als nach links tendiert. Dieser Trend verstärkte sich gerade noch mal beim Plebiszit über eine neue Staatsverfassung und erst recht bei der kürzlich erfolgten Wahl eines nur noch 51 Personen zählenden Verfassungsrats, in dem nun Konservative und Ultrarechte fast nach Belieben schalten und walten können. Diesen in dem Ausmass von niemandem erwarteten Umschwung kommentiert die britische Tageszeitung «The Guardian» mit Projektionen auf andere Teile des Subkontinents.

Eine Analyse in «Nueva Sociedad» befasst sich mit dem Umstand, dass die Teilnahme an diesen Urnengängen – entgegen früherer Regelungen – obligatorisch war, was offenbar zu starken Verwerfungen zwischen den Blöcken führte. Fatal war auch, dass sich die Linken nicht als Einheit präsentierten, sondern den Eindruck von Zerwürfnis in manchen zentralen Punkten hinterliessen. In naher Zukunft wird die konservative Mehrheit im Verfassungsrat in eben diesen heiklen Fragen (privates oder staatliches Übergewicht in der Alters- und Krankenversicherung sowie im Schul- und Hochschulwesen) Farbe bekennen müssen. Mit simplen Status-quo-Lösungen dürfte sich die Mehrheit des chilenischen Volkes kaum abfinden wollen. Auch für neuere Probleme dürfte es keine Patentformeln geben, z. B. für die Stagnation in der Wirtschaft, das Auflodern der Inflation, die illegale Einwanderung im Norden des Landes, den andauernden Konflikt mit den indigenen Mapuches im Süden und die zunehmende Gewalttätigkeit im Zusammenhang mit dem Rauschgifthandel.

Ein ähnliches Panorama offenbart sich den regierenden Linken in Kolumbien. Präsident Gustavo Petro sah sich kaum ein Jahr nach der Amtsübernahme veranlasst, eine gründliche Umbildung seines Kabinetts vorzunehmen. Sieben der achtzehn Minister mussten den Hut nehmen. Praktisch bei allen Entscheiden muss der Staatschef sorgfältig abwägen, wie er die sehr heterogene Truppe seines Pacto Histórico zusammenhalten kann, während er gleichzeitig in den Reihen der seit zwei Jahrhunderten (mit)regierenden Liberalen und Konservativen die nötigen Stimmen zusammenkratzen muss, um seine wichtigsten Projekte durch das ihm mehrheitlich feindlich gesinnte Parlament hindurchzuschleusen.

Eigentlich sollte die Regierungspolitik in erster Linie darauf hinauslaufen, die Lebensbedingungen für die ärmere Hälfte Kolumbiens substanziell zu verbessern. Doch die bürgerliche Opposition verzögert mit allen Mitteln, Tricks und Vorwänden alle Bemühungen um die versprochene Landreform. Auch die Umsetzung der Friedensabkommen mit verschiedenen Guerillas kommt kaum vom Fleck, berichtet die Online-Zeitung amerika21. Die linken Ultras drohen die Geduld zu verlieren, und auf der Gegenseite lauert im Hintergrund Expräsident Álvaro Uribe, der schon immer «gewusst hat», dass die Verhandlungen mit den Aufständischen nie zu einem für ihn und seine Anhängerschaft akzeptablen Ergebnis kommen würden.

Und wie sieht es aus in Brasilien? Kommt der wiedergewählte Lula da Silva in seinem dritten Mandat mit seinen ähnlich lautenden Plänen in Fahrt? Dass der altverdiente Mann der brasilianischen Arbeiterbewegung – wie seine an die Schalthebel der Regierungsgeschäfte gekommenen Kolleginnen und Kollegen in diesem Erdteil – leisten und liefern möchte, steht ausser Zweifel. Doch auch im südamerikanischen Riesenstaat zählen über kurz oder lang nur die konkreten Ergebnisse. Die Lobbys der reichsten Fazendeiros, der Rohstoffkonzerne, der Bau- und Möbelholzindustrie, der Goldgräber, Viehzüchter und jene der modernen Bergbauindustrie sind landesweit bestens organisiert. Ihre Tentakel reichen in alle legislativen, exekutiven und juristischen Bereiche hinein. Gegen eine solche Übermacht hat auch das formale Oberhaupt eines der grössten Staaten der Welt nicht viel zu bestellen, wie ein Bericht in der NZZ deutlich macht. Vor allem dann nicht, wenn manche Interessenkonflikte tief in die eigene Anhängerschaft hineinreichen.

Etwas anders gelagert sind die Probleme, mit denen sich die Regierung von Nicolás Maduro herumschlägt. Zum einen mochte er einen Punkt für sich verbuchen, als die Meldung in Caracas eintraf, dass sein bis anhin wichtigster Rivale Juan Guaidó schliesslich die Segel streichen musste und sich in die USA abgesetzt hat. Guaidó hatte vor ein paar Jahren erreicht, dass ihn rund 60 Staaten (vor allem der Alten Welt sowie einige konservativ regierte in Lateinamerika) als «legitimen Präsidenten» von Venezuela anerkannten. Rückblickend ist nun festzustellen, dass solche Illusionen kaum mehr als eine peinliche Schaumschlägerei waren.

Zum andern muss Maduro nun zuschauen, wie Washington Venezuelas einst rentabelstes Unternehmen im Ausland ausschlachtet und den Meistbietenden zum Kauf anbietet. Wörtlich aus der Depesche von amerika21: «Mit drei Raffinerien und einem Netz von mehr als 4000 Tankstellen in den USA hat Citgo im vergangenen Jahr einen Gewinn von 2,8 Milliarden US-Dollar erzielt und könnte mit 13 Milliarden Dollar bewertet werden. Caracas hat jedoch seit 2019 keine Einnahmen mehr erhalten, nachdem Washington die Selbstausrufung Guaidós zum ‹Interimspräsidenten› anerkannt und die Leitung von Citgo an einen Ad-hoc-Vorstand der Opposition übergeben hatte.» Lateinamerika wird die Abwicklung dieses Falles aufmerksam verfolgen, um eigene Schlüsse über die Sicherheit von fremdem Eigentum in den USA zu ziehen.

Auf der Kippe scheint das Schaukelspiel zwischen links und rechts in Ecuador zu stehen. Dort hat der konservative Staatschef Guillermo Lasso denselben Schritt unternommen wie sein damaliger linksgerichteter Amtskollege Pedro Castillo im benachbarten Peru. Beide wollten den gordischen Knoten zwischen ihrer Regierung und der Opposition mit der Schliessung des Parlaments und nachfolgenden Neuwahlen lösen, was man im Äquatorstaat hochoffiziell als muerte cruzada (gleichzeitiger Tod) bezeichnet. Dem Amtsinhaber in Quito könnte laut amerika21 dieses Manöver gelingen, während der Schuss in Lima nach hinten losging. Als möglicher Profiteur in dieser verzwickten Situation lauert Ecuadors früherer Präsident Rafael Correa.

In Argentinien, wo man sich auf allgemeine Wahlen im Oktober vorbereitet, ist mittlerweile ein neuer wertgrösster Geldschein in Umlauf gesetzt wurden. Er lautet auf 2000 Pesos, zum offiziellen Wechselkurs beträgt sein Wert derzeit umgerechnet knapp 8 Franken / Euro / US-Dollar, zum parallelen oder «schwarzen» Kurs gar nur die Hälfte davon. Bis zum Jahresende rechnet man in Buenos Aires mit einer Inflationsrate von 140 Prozent. Das Karussell der Anwärter auf die Nachfolge des diffus populistischen Präsidenten Alberto Fernández dreht sich schwindelerregend, und viele fragen sich, was für einen Reiz es haben könne, sich um ein derart giftiges Erbe zu streiten.

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Oben      —   Citgo-Tankstelle in Belleville (Wisconsin)

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 20. Juni 2023

Parteienfamilien und andere Inseln

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Nina Apin

Unsere Autorin redet mit fremden, einsamen Menschen. Tage danach beklagt sich ein italienischer Freund auch über Einsamkeit – wegen Berlusconi.

Haben Sie auch nicht gemerkt, oder? Dass gerade die Aktions­woche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“ zu Ende ging, meine ich. Sie fand ohne große Öffentlichkeit, von Montag bis Freitag statt, um für das Problem zu sensibilisieren, das laut Bundesfamilienministerium besonders häufig junge Erwachsene und sehr alte Menschen, meist Frauen, betrifft: einen empfundenen Mangel an sozialen Beziehungen zu anderen Menschen.

Von der Website der Aktionswoche geriet ich auf eine Mitmachseite, auf der man einen „Ort der Gemeinsamkeit“ eintragen konnte, um sich einsamen Menschen als Gegenüber zur Verfügung zu stellen. Kurz dachte ich an unseren Küchentisch, der wie geschaffen ist für ausufernde Gespräche und ebenso ausufernde Mahlzeiten – der eben aber auch ein Ort des familiären Chaos ist. Ein Flyer zur Aktionswoche zeigt einen älteren Mann allein beim Essen: „Einsamkeit sitzt mit am Tisch“, so der Slogan.

Ich versuchte mir unseren Küchentisch verwaist vorzustellen, ohne das ganze Gerümpel und das laute Durcheinanderreden drum herum – es gelang mir nicht. Interessant, wie gut Verdrängung funktioniert. Dabei hatte ich mich doch erst letzte Woche mit Kind eins auf Klassenfahrt, Kind zwei und dem Mann ständig auf Achse durchaus mal einsam gefühlt – allerdings nur sehr punktuell, weil es mich eben traurig macht, alleine zu essen.

Echte Einsamkeit aber ist fies, sie macht gleichzeitig mürbe und bedürftig; das merke ich, wenn ich den verwitweten Onkel am Telefon habe oder der alleinstehenden älteren Frau aus der Straße begegne, die nach einem freundlichen „Wie geht’s?“ gar nicht mehr aufhört zu reden.

Klagen über Einsamkeit

Der Mitarbeiter meiner Friseurin hat unlängst gekündigt – er war, so erzählte sie, genervt von den älteren Herrschaften, für die das Waschen, Schneiden, Legen, Föhnen der Höhepunkt ihrer Woche ist. Friseursalons sind auch Orte gegen Einsamkeit, allerdings nur für diejenigen, die es sich leisten können, sie regelmäßig aufzusuchen.

Wer es sich nicht leisten kann, sich temporär auf Inseln der (wenn auch kommerziellen) menschlichen Interaktion zu flüchten, verwelkt in der eigenen Wohnung und lauert auf Kontaktaufnahmen von außen – und sei es nur der Paketbote, der eine Sendung für den Nachbarn dalassen will.

Am Dienstag klagte auch mein ita­lie­ni­scher Freund überraschend über Einsamkeit. Erst war ich etwas besorgt, schließlich entstand unser Kontakt während des ersten Coronalockdowns, als wir, deprimiert und so­zia­ler Kontakte außerhalb der eigenen vier Wände bedürftig, uns regelmäßig digital zu unterhalten anfingen.

Einsam dürfte der Cavaliere nicht gewesen sein

Job verloren? Freundin weg? – Nein, präzisierte er, es sei politische Einsamkeit, die ihn plage. Nicht nur er, ganz Italien fühle sich wie verwaist, nachdem der ewige „Cavaliere“ das Zeitliche gesegnet hatte: „Mein ganzes Leben lang war Silvio Berlusconi immer da“, barmte er. – Ganz Italien in Trauer und Einsamkeit?

Nun ja. Ich erinnerte ihn dezent an das Buch in seinem Rücken, das er mir bei anderer Gelegenheit einmal gezeigt hatte. „L’odore dei soldi“ (Der Geruch des Geldes), das den zweifelhaften Quellen von Berlusconis immensem Reichtum nachspürt, fand 2001 mehr als 300.000 LeserInnen in Italien. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass es Berlusconi nur dank seiner engen Kontakte zur sizilianischen Mafia gelungen sei, seine Firma Fininvest aufzubauen.

Quelle         :         TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Er wird bleiben

Erstellt von Redaktion am 19. Juni 2023

Berlusconi war längst eine Randfigur, die Medien ihm gegenüber milde geworden.

Ein Debattenbeutrag von Francesca Polistina

Sein Tod wird keine breitere kritische Distanzierung zur Folge haben. Es ist beängstigend und pathetisch zugleich, dass nun von einem außergewöhnlichen Leben die Rede ist.

Die italienischen Medien neigen oft zur Übertreibung, doch nach Silvio Berlusconis Tod am 12. Juni schienen manche von ihnen jedes Maß verloren zu haben. Ganze 20, sogar 30 Seiten widmeten die wichtigsten Zeitungen dem Ereignis. Dass der Tod aufgrund des hohen Alters und der Krankheit erwartet worden war und die Redaktionen Zeit hatten, sich vorzubereiten, half in Sachen Knappheit nicht. Doch abgesehen von der Berichterstattung zu der Trauerfeier im Mailänder Dom, die bis ins kleinste, unnötige Detail erzählt wurde, gab es in den vielen Beiträgen wenig Neues zu lesen.

Berlusconi ist seit zehn Jahren keine zentrale politische Figur mehr, obwohl seine Partei für die Bildung der Meloni-Regierung entscheidend war und immer noch ist. In den vergangenen Jahrzehnten ist über ihn fast alles gesagt worden. Ja, es bleibt noch einiges Wichtige zu klären, seine Verstrickung in verbrecherische Strukturen wie die Mafia zum Beispiel, es ist aber fraglich, ob das je passieren wird. Über Berlusconi als Unternehmer und Medienmogul, als Freund der Neofaschisten, als moralisch verwerflicher Politiker, als erster Populist seiner Art und Inspirationsquelle für alle Trumps der Welt wurden allerdings genügend Zeilen geschrieben. Wohlgemerkt: ohne dass das je zu einer eindeutigen Zuordnung seiner politischen Figur geführt hat. Denn obwohl die ausländische Presse meistens eine klare Meinung zu Berlusconi hat: in Italien gibt es die schlicht nicht. Von seinen Anfängen in der Politik 1993/1994 bis zu seinem Tod hat Berlusconi die öffentliche Meinung in Italien immer gespalten. Viele hassen ihn, viele andere verehren ihn.

Was wird also bleiben? Die Frage bezüglich seiner Partei Forza Italia wird sich in den nächsten Monaten klären. Berlusconi hat sich nie um einen politischen Nachfolger gekümmert, er ist immer der Chef – besser: die Partei selbst – gewesen. Die Forza Italia ist nun kopflos, eine Auflösung nach 30 Jahren nicht ausgeschlossen. Sollte das tatsächlich passieren, könnten die jetzigen Parteimitglieder zu Giorgia Meloni oder eventuell zu Matteo Salvini wechseln. Der Terzo Polo (dritter Pol), eine politische Gruppe aus der Mitte um Carlo Calenda und Matteo Renzi, könnte zwar manche Berlusconi-Anhänger anlocken, doch angesichts der schlechten Wahlergebnisse hat er gerade eine geringe Anziehungskraft. Schlüsselfigur innerhalb der Forza Italia ist der Koordinator und ehemalige Präsident des Europaparlaments Antonio Tajani, aber auch Berlusconis Lebensgefährtin und seine Kinder werden das Sagen haben.

Doch sollte auch Berlusconis Partei verschwinden: der „Berlusconismus“, wie man das von ihm initiierte politische und soziale System nennt, ist inzwischen vom Land absorbiert worden – und er wird bleiben. Berlusconi hat so lange regiert wie kein anderer Ministerpräsident seit der Gründung der italienischen Republik, dennoch hat sich sein Versprechen einer „liberalen Revolution“ keineswegs bewahrheitet. Die Bilanz seiner vier Kabinette ist miserabel – keine signifikanten Reformen, schlechte Gesetze wie das Migrationsgesetz, eine schlechtere wirtschaftliche Lage für das Land. Dennoch sind sich Befürworter wie seine Kritiker einig: Dieser Mann hat die italienische Politik und das Land selbst tief verändert.

Berlusconi hat jedes Tabu gebrochen. Er hat die Partei Alleanza Nazionale, die aus dem neofaschistischen Movimento Sociale Italiano hervorging, in die Regierung geholt und somit einen Präzedenzfall für das heutige Meloni-Kabinett geschaffen. Er hat mit politisch unkorrekten Äußerungen gehetzt und systematisch Lügen propagiert – manchmal war es zu absurd, um wahr zu sein, aber es funktionierte. Er hat das private Fernsehen nach Italien gebracht und es ausgenutzt, um mit den Wählerinnen und Wählern direkt zu kommunizieren, lange bevor die Sozialen Netzwerke kamen. Er hat die Justiz diskreditiert, Gesetze zu seinen Gunsten bewilligt und Sexparties mit Minderjährigen organisiert. Er hat Straftaten wie illegales Bauen und Steuerhinterziehung toleriert, ja gar gefördert. Er hat gegen die Institutionen selbst gewettert und sich über jede Art von Bürgersinn lustig gemacht. Er hat sich mit Kriminellen umgeben. Gewiss, bestimmte Tendenzen existierten in der italienischen Politik bereits früher. Doch Berlusconi hat sie beschleunigt und ins Extreme getrieben. Dass nun in Italien eine rechtsextreme Koalition regiert und die öffentliche Meinung anfällig ist für Populismen jeder Couleur, hat durchaus mit ihm zu tun.

Es ist also legitim, sich zu fragen: Was wird man über ihn in den Geschichtsbüchern lesen? Berlusconi hinterlässt eine Spaltung innerhalb der ohnehin schon gespaltenen Bevölkerung – und wer glaubt, mit der Zeit würde er klarer einzuschätzen sein, der irrt: Selbst der Faschismuserfinder Benito Mussolini wird noch von einem erheblichen Teil der Italiener als „guter Diktator“ gesehen, eine allgemein geteilte Interpretation zu ihm sucht man vergebens. Die Hoffnung, die Menschen würden sich künftig von Berlusconi distanzieren, ist also naiv.

Quelle        :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —         All eight members of the G-8 at their summit in Italy in July 2009. From left to right: Prime Minister of Japan Taro Aso, Prime Minister of Canada Stephen Harper, President of the United States Barack Obama, President of France Nicolas Sarkozy, Prime Minister of Italy Silvio Berlusconi, President of Russisa Dmitry Medvedev, Chancellor of Germany Angela Merkel, Prime Minister of the United Kingdom Gordon Brown, Prime Minister of Sweden Fredrik Reinfeldt, and President of the European Commision José Manuel Barroso.

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Von EU und Staatstrojanern

Erstellt von Redaktion am 19. Juni 2023

Blankoscheck für Geheimdienst-Überwachung der Presse

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Logo von: Komitee zum Schutz von Journalisten 

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von           :    , Harald Schumannon

Ein geplantes Medienfreiheitsgesetz der EU sollte Journalist:innen vor Überwachung schützen. Doch Europas Regierungen planen eine Blankoausnahme für „nationale Sicherheit“, die den Vorschlag praktisch aushöhlen würde.

Kein Journalist darf wegen seiner Arbeit bespitzelt werden. Mit diesem klaren Satz begründete EU-Kommissarin Věra Jourová im vergangenen Herbst ihren Vorschlag für ein Gesetz, das die Pressefreiheit in allen EU-Staaten stärken soll.

Die EU-Kommission reagierte damit auf Enthüllungen über das Ausspähen von Journalist:innen, NGOs und Oppositionspolitiker:innen in mehreren EU-Staaten. In Ungarn ließ die Regierung von Viktor Orban Handys von Reportern hacken, die über Korruptionsvorwürfe berichteten. In Griechenland spionierte die Regierung Journalist:innen aus, die Finanzskandale enthüllten. In Spanien ging es gegen Journalist:innen im Umfeld der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Die Liste lässt sich fortsetzen. Expert:innen warnen, die sich ausbreitende Überwachung von Journalisten sei eine Bedrohung für die Pressefreiheit.

Das Mittel der Wahl bei den Überwachungsaktionen: Staatstrojaner. Berüchtigt ist insbesondere Pegasus, ein Trojaner der israelischen Firma NSO Group, der Handys praktisch unbemerkt infiltrieren kann. Dadurch kann selbst verschlüsselte Kommunikation über Dienste wie WhatsApp oder Signal ausgelesen werden. Journalist:innen, die mit Pegasus oder anderen Trojanern gehackt wurden, müssen die Preisgabe ihrer Quellen fürchten.

Um solchen Übergriffen einen Riegel vorzuschieben, verbietet der Gesetzesvorschlag der Kommission ausdrücklich den Einsatz von Staatstrojanern gegen Journalist:innen. Das Europäische Medienfreiheitsgesetz sollte außerdem jede Form von Überwachung oder Repressalien untersagen, mit denen die Offenlegung journalistischer Quellen erzwungen werden soll.

Doch die EU-Staaten arbeiten hinter verschlossenen Türen an einem Gegenvorschlag, der diese Vorschläge der Kommission praktisch wirkungslos macht. Das ist das Ergebnis einer gemeinsamen Recherche von netzpolitik.org mit dem Rechercheteam Investigate Europe.

Frankreich drängte auf Blankoausnahme

Der Rat der EU-Staaten will die Schutzbestimmungen für Journalist:innen durch eine generelle Ausnahme für die „nationale Sicherheit“ aushebeln. Das geht aus einem Textentwurf der schwedischen Ratspräsidentschaft vom 7. Juni hervor, den wir durch eine Informationsfreiheitsanfrage erhielten und im Volltext veröffentlichen. Der Rat geht damit über frühere Vorschläge zur Verwässerung des Textes hinaus, über die wir zuvor berichteten.

Schon der ursprüngliche Vorschlag der Kommission sah vor, dass der Staatstrojaner-Einsatz „im Einzelfall“ aus Gründen der nationalen Sicherheit gerechtfertigt sein soll. Aus dem Einzelfall soll nun eine Blanko-Erlaubnis werden, die nicht nur das Trojaner-Verbot aufweicht, sondern auch das generelle Verbot der Überwachung von Journalist:innen zur Ermittlung ihrer Quellen aushebelt. Außerdem schwächt die Ausnahme das Recht, eine Beschwerde bei einer unabhängige Behörde einzureichen, wie es der ursprüngliche Vorschlag vorgesehen hätte.

Diese Blanko-Ausnahme für „nationale Sicherheit“ in Artikel 4 des Gesetzesentwurfs hat Frankreich durchgesetzt. Unterstützung erhielt die Regierung in Paris dafür auch von Deutschland. Das geht aus einem vertraulichen Drahtbericht der deutschen Ständigen Vertretung in Brüssel hervor, den wir ebenfalls im Volltext veröffentlichen. Den Vorschlag unterstützte demnach außerdem Griechenland, wo die Regierung ihre Überwachungsaktionen gegen Journalist:innen mit Verweis auf die „nationale Sicherheit“ rechtfertigte.

Um den Schutz von Medienschaffenden gibt es nicht nur in der EU Streit. In Deutschland gibt es Verfassungsbeschwerden, weil Journalist:innen und ihre Quellen nicht ausreichend vor Überwachung durch den Bundesnachrichtendienst geschützt seien. Eine davon richtet sich auch explizit gegen Staatstrojanereinsatz, insbesondere weil es für Betroffene besonders schwer ist, sich gerichtlich gegen die heimliche Ausspähung zu wehren.

„Nationale Sicherheit als Vorwand“

Der griechische Journalist Thanasis Koukakis, der mit dem Trojaner Predator gehackt wurde, zeigte sich auf Nachfrage empört über die geplante Verwässerung des EU-Gesetzes. „Mein Fall zeigt deutlich, wie einfach die nationale Sicherheit als Vorwand für Drohungen gegen Journalist:innen und ihre Quellen benutzt werden kann.“ Die französische Journalistin Rosa Moussaoui, die Opfer von Pegasus wurde, kritisierte die Haltung Frankreichs. Eine allgemeine Ausnahme für nationale Sicherheit passe „perfekt zur Politik“ der französischen Regierung, sich nicht um den Quellenschutz zu kümmern.

Ein Sprecher der zuständigen grünen Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, erklärt auf Anfrage, es sei „in keiner Weise“ das Ziel der Bundesregierung, „die Ausspähung von Journalisten zu legalisieren“. Die Ausnahmeregelung zur nationalen Sicherheit im Ratsentwurf soll lediglich sicherstellen, „dass die im Vertrag der Arbeitsweise der Europäischen Union bestimmten Kompetenzen der Mitgliedstaaten im Bereich der nationalen Sicherheit unberührt bleiben.“

Dem hält allerdings der Europäische Journalistenverband entgegen, dass die Blankoausnahme keine Schutzmaßnahmen zur Sicherung von Grundrechten enthalte. Dadurch ignoriere der Rat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der klargestellt habe, dass die nationale Sicherheit die EU-Staaten nicht von ihrer Verpflichtung zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit befreie. Durch die Ausnahme werde das geplante Medienfreiheitsgesetz in eine „leere Hülle verwandelt“. Auch Tom Gibson vom Committee to Protect Journalists warnt, der Rat erteile dadurch „willkürlicher Überwachung durch Länder mit geschwächter Rechtsstaatlichkeit“ seinen Sanktus.

Heftige Kritik gibt an den Plänen der EU-Staaten gibt es aus dem EU-Parlament. Die niederländische Abgeordnete Sophie in ‚t Veld aus der liberalen Fraktion Renew nennt den Ratsvorschlag eine „Katastrophe“. Die SPD-Politikerin Katarina Barley betont, „pauschale Ausnahmen ohne weitere Vorkehrungen gehen gar nicht“.

Der Bedenken zum Trotz planen die EU-Staaten einen Beschluss noch im Juni. Kommt kein entschiedener Widerstand aus dem EU-Parlament, das bislang noch keine eigene Position festgelegt hat, dann könnte das Medienfreiheitsgesetz die Blankoausnahme für Überwachungsmaßnahmen zur „nationalen Sicherheit“ festschreiben. Die Absicht von Kommissarin Jourová, Journalist:innen in ihrer Arbeit vor Überwachung zu schützen, bliebe damit ein frommer Wunsch.

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Oben           —       Logo     –      Komitee zum Schutz von Journalisten – https://cpj.org/

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Unten         —       Plastische Darstellung des Bundestrojaners vom Chaos Computer Club im Profil. Originalbeschreibung: im Chaos Computer Club Berlin: the Federal Troian Horse

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Die Welt – Finanzkrise

Erstellt von Redaktion am 19. Juni 2023

Die Schuldenkrise wird multipolar

Zunächst gibt es zwischen den 17 betrachteten Staaten bis etwa 1995 noch deutliche Renditeunterschiede, die Bandbreite verringert sich aber zunehmend; um 2000 sind die Renditen fast auf gleicher Höhe, nachdem anschließend einige weitere Staaten aufgenommen werden wird das Spektrum 2002 zunächst wieder etwas weiter, bis schließlich auch diese um das Jahr 2006 in einem ca. 2,5-Prozenzpunkte-Spektrum zwischen 2,5 und 5 Prozent liegen. Ein erstes Auffächern lässt sich nach 2008 zur Finanzkrise feststellen, ab Ende 2009 (Beginn Eurokrise) werden die Differentiale immer größer, wobei insbesondere Griechenland nach oben ausbricht (Spitzenwert knapp unter 30 Prozent); der deutsche Wert unterliegt seit 2008/9 einem Abwärtstrend.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Immer mehr Länder in Lateinamerika, Afrika und Asien sind überschuldet oder stehen sogar vor dem Bankrott. Von dieser Krise ist als Kreditgeber auch China betroffen, das Notkredite vergeben muss, um eigene Banken vor Zahlungsausfällen zu schützen.

Die Zinserhöhungen der westlichen Notenbanken, mit denen diese die hartnäckige Inflation bekämpfen wollen – in den USA liegt der Leitzins mittlerweile bei fünf bis 5,25 Prozent, im Euro-Raum bei 3,75 Prozent –, haben in den USA bereits zum Kollaps von drei Regionalbanken geführt und dämpfen das Wirtschaftswachstum beiderseits des Atlantik. Doch sind diese Turbulenzen nichts im Vergleich zu den Erschütterungen, denen viele wirtschaftlich schwächere Länder ausgesetzt sind. Weil es immer teurer wird, neue Kredite aufzunehmen, fällt es diesen immer schwerer, ihre zumeist in US-Dollar laufenden Auslandsschulden zu bedienen.

Insbesondere in Afrika, Asien, Lateinamerika und dem Nahen Osten finden sich immer mehr Länder in einer klassischen Schuldenfalle wieder, bei der konjunkturelle Stagnation, Rezession und steigende Kreditkosten in eine fatale Wechselwirkung treten. Die Situa­tion wird bereits mit dem »Volcker-Schock« von 1979 verglichen, als der damalige Präsidentder der US-Notenbank, Paul Volcker, die Leitzinsen in den USA auf zeitweise über 20 Prozent anhob, um die langjährige Stagflation zu bekämpfen, was besonders in Ländern in Südamerika und Afrika eine Schuldenkrise auslöste.

Mitte April meldete die Financial Times unter Berufung auf eine Studie der NGO Debt Justice, dass der Auslandsschuldendienst einer Gruppe von 91 der ärmsten Länder der Welt in diesem Jahr durchschnittlich 16 Prozent ihrer staatlichen Einnahmen verschlingen werde, wobei dieser Wert im kommenden Jahr auf 17 Prozent ansteigen dürfte. Zuletzt wurde ein ähnlich hoher Wert 1998 erreicht. Am stärksten betroffen ist demnach Sri Lanka, dessen Schuldendienst in diesem Jahr rund 75 Prozent der prognostizierten Einnahmen entspricht, weswegen die Financial Times erwartet, dass der Inselstaat in diesem Jahr »den Zahlungen nicht nachkommen« werde.

Sambia, das wie Sri Lanka schon im vergangenen Jahr einen Staatsbankrott durchstehen musste, ist ebenfalls akut gefährdet. Ähnlich schlimm sehe es in Pakistan aus, wo in diesem Jahr 47 Prozent der Regierungseinnahmen zur Bedienung von Auslandskrediten aufgewendet werden müssten. Die Folgen für die Bevölkerung sind in diesen und vielen anderen Ländern bereits jetzt dramatisch: Regierungen können beispielsweise Gehälter nicht mehr zahlen oder Importe von Energieträgern oder Nahrungsmitteln nicht finanzieren, der Wertverfall ihrer Währungen verschärft Inflation, Armut und Hunger.

Doch nicht nur die ärmsten Länder sind bedroht. In Argentinien beispielsweise, wo die Zentralbank Geld druckt, um das Haushaltsdefizit zu finanzieren, beträgt die Inflation inzwischen 109 Prozent und droht, in eine destruk­tive Hyperinflation überzugehen. Wie viele andere Krisenstaaten hat Argentinien ein Notprogramm mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) abgeschlossen, das Kredite in Höhe von 44 Milliarden US-Dollar im Gegenzug für Austeritätsmaßnahmen vorsieht. Mitte Mai forderte der argentinische Präsident Alberto Fernández angesichts einer dürrebedingten Missernte beim wichtigsten Exportgut Weizen Neuverhandlungen mit dem IWF. Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner nannte das Abkommen gar »skandalös« und einen »Betrug«.

Eine besondere Rolle spielt in der derzeitigen Schuldenkrise China, das in den vergangenen Jahren zu einem der größten weltweiten Kreditgeber aufgestiegen ist. Allein im Rahmen des weltweiten Entwicklungsprogramms der Belt and Road Initiative, auch bekannt als »Neue Seidenstraße«, wurden bis Ende 2021 Kredite und Transaktionen im Umfang von mindestens 838 Milliarden US-Dollar getätigt, um damit zumeist Infrastruktur- und andere Großprojekte in Afrika, Asien und Lateinamerika zu finanzieren. Den Großteil der Kredite vergaben chinesische Banken. China wollte damit die Grundlage für eine künftige wirtschaftliche Hegemonie legen.

Doch inzwischen – nach der Covid-19-Pandemie und der russischen Invasion der Ukraine, dem globalen Inflationsschub und einer Verlangsamung des Wachstums in China selbst – sind chinesische Banken zurückhaltender bei der Vergabe von Krediten in ärmeren Ländern. Einer Studie der Rhodium Group zufolge sind bereits 2021 rund 16 Prozent der aus China im Ausland vergebenen Kredite mit einem Wert von etwa 118 Milliarden US-Dollar vom Zahlungsausfall bedroht gewesen und hätten nachverhandelt werden müssen.

Nur ein Jahr später hat sich die chinesische Auslandsschuldenkrise laut ­einer Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) bereits stark ausgeweitet. Demnach sollen 2022 schon 60 Prozent der Kredite ausfallgefährdet gewesen sein, so dass Peking an 22 Schuldnerländer 128 Notkredite im Umfang von 240 Milliarden US-Dollar vergeben musste. Hierbei wird den Schuldnerstaaten zumeist nur ein Aufschub gewährt, indem neue Darlehen zur Tilgung fälliger Zahlungen vergeben werden, was eine »Verlängerung von Laufzeiten oder Zahlungszielen« ermögliche; ein Erlass von Schulden finde »nur äußerst selten statt«, so das IfW.

Die meisten dieser Refinanzierungskredite vergab die chinesische Zentralbank, die damit effektiv jene chinesischen Banken rettet, die die Kredite ursprünglich vergeben haben. Die Autoren der IfW-Studie vergleichen das derzeitige Vorgehen Chinas deshalb mit der Vergabe von sogenannten Rettungskrediten an Griechenland und andere südeuropäische Länder während der Euro-Krise, bei der es ebenfalls um die Rettung von Banken ging, denen Zahlungsausfälle drohten.

Krisen- und Überbrückungskredite fließen vor allem an »Länder mit mittlerem Einkommen«, da auf diese 80 Prozent des chinesischen Auslandskreditvolumens entfallen und sie damit »große Bilanzrisiken für chinesische Banken« darstellten, so das IfW. Länder mit niedrigem Einkommen hingegen erhielten kaum Krisenkredite, da deren Staatspleiten den chinesischen Bankensektor kaum gefährden könnten. Die Verzinsung der chinesischen Krisenkredite soll außerdem durchschnittlich fünf Prozent betragen; beim IWF sind zwei Prozent üblich. Zu den Schuldnerstaaten, die mit Krisenkrediten versorgt wurden, zählen Länder wie Sri Lanka, Pakistan, Argentinien, Ägypten, die Türkei und Venezuela.

Das IfW merkte zudem an, dass bei einem Großteil der Rettungskredite die Modalitäten und der Umfang der Kreditprogramme nicht öffentlich zugänglich sind. Dadurch werde insgesamt »die internationale Finanzarchitektur multipolarer, weniger institutionalisiert und weniger transparent«. Diese Intransparenz betreffe auch zuvor von chinesischen Banken vergebene Kredite. Die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) zitierte kürzlich in einem ausführlichen Bericht über die Schuldenkrise Ergebnisse einer Untersuchung der Forschungsgruppe Aid Data, die allein bis 2021 chinesische Kredite in Höhe von mindestens 385 Milliarden US-Dollar in 88 Ländern registriert hatte, die »versteckt oder unzureichend dokumentiert« gewesen seien.

Picture of a Greek demonstration in May 2011

100.000 Menschen protestieren in Athen gegen die Sparmaßnahmen ihrer Regierung, 29. Mai 2011

Viele der ärmsten Länder in Afrika oder Asien griffen auf dem Höhepunkt der globalen Liquiditätsblase zwischen 2010 und 2020 gerne auf die chinesischen Gelder zu, um damit Infrastruktur- und Prestigeprojekte zu finanzieren, die sich im gegenwärtigen Krisenschub immer öfter in Investitionsruinen verwandeln. Für diese Länder stellt die Geheimhaltung nun ein ernsthaftes Problem dar, denn im Fall einer Zahlungsunfähigkeit müssen sich die internationalen Gläubiger des betroffenen Lands darüber verständigen, wer in welchem Ausmaß Kredite stundet oder auf Rückzahlungen verzichtet. Westliche Kreditgeber und Institutionen wie der IWF oder die Weltbank verweigern derzeit jedoch in vielen Fällen Notfallprogramme, da die Modali­täten der chinesischen Kreditprogramme unklar seien und sie sich mit China nicht einigen könnten. Einige arme Staaten befänden sich deshalb in einem »Schwebezustand«, schreibt AP, da China nicht bereit sei, Verluste hinzunehmen, während der IWF sich weigere, niedrig verzinste Kredite zu ­gewähren, wenn damit nur chinesische Schulden abgezahlt würden.

Belastet werden die Verhandlungen der Kreditgeber zusätzlich von der sich verschärfenden weltpolitischen Konkurrenz zwischen den westlichen Staaten und China. Die zunehmende Fragmentierung der Weltwirtschaft erschwere es, »Staatsschuldenkrisen zu lösen, besonders, wenn es unter den entscheidenden staatlichen Kreditgebern geopolitische Spaltungen gibt«, warnte die Direktorin des IWF, Kristalina Georgiewa, im Januar.

Die westlichen Staaten hoffen unterdessen, die chinesische Auslandsschuldenkrise nutzen zu können, um den Einfluss, den sich China durch seine Kreditvergabe in vielen Weltregionen aufgebaut hat, wieder zurückzudrängen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte im Mai, für die G7-Staaten und ihre Partner gebe es jetzt eine »günstige Gelegenheit«, nachdem »viele Länder im Globalen Süden schlechte Erfahrungen mit China« gemacht hätten und sich in »Schuldenkrisen« wiederfänden, während Russland nur »Söldner und Waffen« im Angebot habe. Der Westen könne, wenn er schnell agiere, Partnerschaften mit diesen Ländern eingehen, die von beiderseitigem Nutzen wären. Unternehmen und Banken könnten an der Ausarbeitung »umfassender Pakete« beteiligt werden, die auch Teile der Produktionsketten in Entwicklungsländer verlagern würden. Die EU wolle »nicht nur die Extraktion der Rohstoffe, sondern auch deren lokale Weiterverarbeitung und Veredelung« fördern. Von der Leyen spekuliert damit auf ein schlechtes Gedächtnis ihrer potentiellen »Partner« im Globalen Süden, die bereits seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts leidvolle Erfahrungen mit westlichen Kreditprogrammen sammeln konnten.

Erstveröffentlicht unter:  https://jungle.world/artikel/2023/22/die-schuldenkrise-wird-multipolar

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Oben       —       Abb. 4| Zinskonvergenz und -divergenz: Renditen 10-jähriger Staatsanleihen von Mitgliedern der Eurozone, 1993–2017 (EZB)

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DIE * WOCHE

Erstellt von Redaktion am 19. Juni 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Kirchentag,  Beim RBB wird die neue Intendantin gekürt. Fußball-WM:Trumpgerechte Straftaten. Gegen Donald Trump wird Anklage erhoben. Er gibt sich aber kämpferisch für die US-Präsidentschaftswahl.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Grüne beugen sich dem „Asyl-Kompromiss“.

Und was wird besser in dieser?

Aufgeben heißt jetzt Kompromiss.

Thomas de Maizière forderte auf dem evangelischen Kirchentag von der Generation Z eine göttliche Arbeitswoche à la ‚6 Tage arbeiten, 1 Tag ruhen‘. Wären wir da nicht besser alle katholisch geblieben?

Teile eines de Maizières können immer noch das Publikum verunsichern. Wenn es nicht zu Frommen seiner Work-Live-Balance vorher nach Hause gegangen ist: Die Hälfte der Kirchentagsteilnehmenden war laut Evangelischer Kirche in Deutschland (EKD) unter dreißig. Als AltersInsasse und mentaler Zellennachbar de Maizières möchte ich meinen Millenial-Kindern dazu gratulieren, den Onkel Exminister richtig böse gemacht zu haben. Hie selbstbestimmter Umgang mit Lebenszeit – dort öhmt protestantische Askese aus hugenottischem Offiziersgeschlecht. Well done, Kinder. Wir waren die Generation „Ihr sollt es einmal besser haben“. Ihr seid die Generation „Euer Besser kotzt uns an.“ Bestraft den ungläubigen Thomas! Werdet glücklich!

Donald Trump plädierte im Geheimaktenprozess auf nicht schuldig. Wie beeinflusst der Prozess seine Chancen auf die US-Präsidentschaft.

Das Foto eines Hooligans, der mit Mutti bei Streuselkuchen „Bares für Rares“ guckt, wäre dem schädlicher, als es Trump schadete, wenn er einfach nur weitertrumpt. Anklage wegen Wirtschaftsverbrechen in New York, in Georgia geht’s um Wahlfälschung, dann dräut der Prozess um Schweigegeld an eine Dienstleisterin, 5 Millionen wegen sexuellen Übergriffs musste er schon bezahlen. Allesamt trumpgerechte Straftaten. Er ist der rechte Mann für Leute, die ihr eigenes Elend für eine Lüge des Universums halten. Und da muss er lang.

ARD und ZDF kaufen der Fifa nun doch die TV-Rechte für die Fußball-WM der Frauen ab. Ist der Deal Geldmacherei unter dem Deckmantel der Emanzipation?

Bei der EM 2022 sahen in Deutschland 17,9 Millionen Menschen das Finale England – Deutschland. 64,8 Prozent Marktanteil. Eine eindrucksvolle Manifestation des Grundrechts, die letzten 10 Minuten der Verlängerung an der Eckfahne würdelos dummzudaddeln. Es war ein Tort, doch ich sah es gern, um mir vor der WM der Schande in Katar den Tank vollzumachen und das 220-Millionen-Euro-Debakel der Jungs nicht zu gucken. Deshalb erscheint der „mittlere einstellige Millionenbetrag“, den ARD und ZDF jetzt zahlen, vergleichsweise lächerlich. Auf den zweiten Blick fragt sich, welcher Betrag lächerlicher ist.

Bild ruft zur Massenpanik, weil ein Gesetz aus dem Hause Cem Özdemir angeblich Werbung für Milchprodukte in die Nachtstunden verschieben soll. Kommt nach dem Heizhammer jetzt der Milchmurks?

Die Zuckerhüte von der FDP werden die Kanten des Entwurfs rundschlecken. Dahinter bleibt ein Mysterium: Die TV-Sender haben längst resigniert, unter 30 erreichen sie keine Zuschauenden mehr. Zugleich lobbyieren sie massiv, um Kinderwerbung zu erhalten. Kurz: Die Werbung wandte sich längst an Erwachsene, oder die Sender haben die Werbekunden schon länger reingelegt. Kinder-Überraschung.

Beim RBB ging es vor der In­ten­dan­t:in­nen­wahl am Freitag hoch her. Wie kann der Sender zur Ruhe kommen?

Positiv gesehen: Der RBB ist so pleite – er kann sich keine Gebührensalbe mehr auf allerhand schwärende Wunden schmieren und noch ein paar IntendantInnen verjuxen. Die herkömmlichen Produktionsweisen sind infrage gestellt. Künftig wird es öfters Amateurqualität geben. Die Gremien gehen da seit Jahren voran.

Die Nationale Sicherheitsstrategie wird als abstraktes Dokument mit vagen Wünschen wahrgenommen. Finden Sie auch Konkretes in dem Papier?

Quelle        :        TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Bearbeitung durch User: Denis_Apel –

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Linke vor der Spaltung

Erstellt von Redaktion am 18. Juni 2023

Krise bei der Linkspartei

Von Pascal Beucker und Anna Lehmann

Lange hat die Linke gebraucht, um mit Wagenknecht zu brechen. Deren Anhänger werben für die Abspaltung, die anderen rücken zusammen.

Wenigstens ihren Zweckoptimismus hat die Linke noch nicht verloren. „Unser Plan 2025: Comeback einer starken LINKEN“, ist das Strategiepapier überschrieben, das der Bundesvorstand der zerzausten Partei auf seiner letzten Sitzung beschlossen hat. Der erste Satz: „Die LINKE wird dringend gebraucht.“ Der letzte Satz: „Wir ziehen souverän wieder in den Bundestag ein.“ Klingt eigentlich ganz einfach. Allerdings stehen zwischen dem ersten und dem letzten Satz mehr als 9.000 Zeichen – und ein übergroßer Berg an Problemen, die in einem Namen kulminieren: Sahra Wagenknecht.

Die Linke hat lange gebraucht, um zu begreifen, dass es keinen gemeinsamen Weg mit der chronisch quertreibenden Bundestagsabgeordneten und ihren Anhänger:in­nen mehr gibt. Einen letzten Versuch, zu retten, was längst nicht mehr zu retten ist, haben die Parteivorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan am 25. Mai gestartet.

Da trafen sie sich zu einem vertraulichen Gespräch mit Wagenknecht. Bei dem Treffen, an dem auch die beiden Bundestagsfraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch und Amira Mohamed Ali teilnahmen, stellten sie Wagenknecht ein Ultimatum, zeitnah und öffentlich von Plänen zur Gründung eines konkurrierenden Parteiprojektes Abstand zu nehmen und entsprechende Vorbereitungen umgehend einzustellen.

Nachdem Wagenknecht dazu nicht bereit war, beschloss der Parteivorstand am 10. Juni einstimmig: „Die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht.“ Und nicht nur das. Auch alle, die sich am Projekt einer konkurrierenden Partei beteiligten, sollten ihre Mandate zurückgeben.

Heftig empört

Umgehend meldeten sich sechs Bundestagsabgeordnete zu Wort, die dem Wagenknecht-Lager zugerechnet werden, unter anderem Sevim Dagdelen und Klaus Ernst. Niemand bestritt die Vorwürfe des Vorstands in Bezug auf die Pläne zur Gründung eines Konkurrenzprojekts und dass Ressourcen aus für die Linkspartei gewonnenen Mandaten für den Aufbau genutzt werden. Und niemand distanzierte sich von den Spaltungsaktivitäten.

Aber allesamt empörten sie sich heftig darüber, dass der Linken-Vorstand solch eindeutig parteischädigendes Treiben nicht mehr länger hinnehmen will. Mit dem Parteivorstandsbeschluss werde „der Kurs der Parteiführung in Richtung einer bedeutungslosen Sekte noch verschärft“, twitterte Dağdelen.

Die Co-Fraktionsvorsitzende Mohamed Ali schrieb, sie halte den Beschluss „für einen großen Fehler und einer Partei unwürdig, die sich Solidarität und Pluralität auf die Fahnen schreibt“. Damit stellte sie sich gegen Dietmar Bartsch, der am Dienstag überraschend der Parteiführung beipflichtete. „Ich will in großer Klarheit deutlich machen, dass ich es auch als völlig inakzeptabel ansehe, wenn man den Versuch unternimmt, eine neue Partei zu gründen, oder Gespräche führt, eine neue Partei ins Leben zu rufen“, sagte er. Bisher war die Fraktionsspitze stets bemüht, Einigkeit zu vermitteln. Jetzt zeigt der Konflikt, wie blank die Nerven liegen.

Wagenknechts Partei

Selbst Gregor Gysi, der sich lange um Sahra Wagenknecht als Fraktionsmitglied bemühte, geht mittlerweile auf Distanz zu ihr: „Wenn sie eine neue Partei gründet, dann muss sie ihr Mandat niederlegen“, erklärte der frühere Partei- und Fraktionschef am Freitag. „Alles andere wäre unmoralischer Mandatsklau“.

Die Frage, ob Wagenknecht ein Konkurrenzprojekt zur Linken gründet, ist längst keine politische mehr, sondern nur noch eine technische. Und daran lässt die 53-Jährige inzwischen auch selbst keinen Zweifel. Eine Partei, „die dann auch erfolgreich sein soll“, ließe sich „nicht mal eben so“ gründen, bekundete sie am Dienstag in einem Interview mit dem WDR. Viele würden jedoch derzeit versuchen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen.

„Wenn die Voraussetzungen einer neuen Partei nicht geschaffen werden, dann werde ich mich nach Ende dieser Legislatur ins Privatleben zurückziehen“, sagte sie. „Aber ich müsste damit den Anspruch aufgeben, politisch noch etwas zu verändern, und ich würde mir schon wünschen, ich könnte noch etwas verändern.“

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Das war der ertse Versuch

Bis spätestens Ende des Jahres will sie sich entscheiden, ob sie den Sprung wagen will. Ein denkbares Szenario ist der Bruch im Oktober nach der Landtagswahl in Hessen, bei der die Links­partei wohl ihre letzte parlamentarische Vertretung in einem westdeutschen Flächenland verlieren wird.

Abspaltungszentrum in Sachsen

Möglich ist auch eine Abspaltung im zeitlichen Umfeld des für Mitte November geplanten Bundesparteitags. Um ein konkurrierendes Wahlbündnis für die Europawahl im Juni 2024 zu schmieden, wäre allerdings auch eine Trennung bis Anfang nächsten Jahres ausreichend.

Für den Bundestagsfraktionschef Bartsch hat die Bewahrung des Fraktionsstatus, der schon beim Abgang von drei Abgeordneten verlustig gehen würde, oberste Priorität. Gleichzeitig ist er alarmiert, denn selbst aus seinem eigenen Landesverband in Mecklenburg-Vorpommern gibt es eindeutige ­Signale, dass es so nicht weitergehen kann. Denn die Abspaltungs­tendenzen sind unübersehbar. Der Spiegel schreibt sogar, es gebe „Screenshots von Mails und SMS aus mehreren ostdeutschen Landesverbänden“, die belegen würden, dass Kom­mu­nal­po­li­ti­ke­r:in­nen direkt von Wagenknechts engerem Kreis ­angesprochen wurden, ob sie am Konkurrenzprojekt teilnehmen wollten.

Ein Zentrum der Spaltungsaktivitäten ist Sachsen, in den 1990ern und den Nullerjahren eine Hochburg der damaligen PDS. Im größten ostdeutschen Landesverband versucht die Ex-Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann, offensiv Mitglieder aus der Linken für das geplante Konkurrenzprojekt zu gewinnen.

Als die Landesvorsitzenden Susanne Schaper und Stefan Hartmann Wind davon bekamen, schrieben sie Zimmermann einen Brief, baten sie um Stellungnahme und warnten: „Wenn Du Dich weiterhin an der Neugründung einer Partei beteiligen willst, legen wir Dir nahe, unsere Partei zu verlassen.“

Selbst Gregor Gysi geht nun auf Distanz zu Sahra Wagenknecht

Direkt antwortete Zimmermann den Ab­sen­de­r:in­nen nicht. Die Reaktion der 62-jährigen Gewerkschafterin konnten sie stattdessen am Mittwoch in der Chemnitzer Freien Presse lesen. In dem Interview bestritt Zimmermann die Abwerbeversuche keineswegs, vielmehr freute sie sich über den Zuspruch: „Da verkennt die Partei die Lage, wie viele mitgehen werden“, sagte sie. Ansonsten könne sie keine Details nennen, sondern nur sagen, „dass wir vom Wagenknecht-Flügel uns in einem konstruktiven Klärungsprozess befinden“. Alles hänge von Wagenknecht ab. „Ohne sie würde eine Neugründung kaum Sinn machen“, so Zimmermann. „Wir müssen schnell handeln können, sobald die Entscheidung steht.“

Eine solche Wagenknecht-Partei, die sich gesellschafts- und migrationspolitisch rechts und sozialpolitisch links verortet, würde zuvorderst auf Stimmen aus dem Nicht­wäh­le­r:in­nen­spek­trum und auch derzeitiger AfD-­Wäh­le­r:in­nen setzen, wäre aber für die schwer kriselnde Linke gleichwohl existenzbedrohend.

Landesvorstand beriet über Gegenstrategie

Qielle        :          TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

Hier eine Analyse zum Thema vom 15. Junis  2023

Ein Debattenbeitrag von Thorsten Holzhauser

Nationalisten und „Linkskonservative“ – ein Blick ins europäische Ausland gibt eine Ahnung vom Programm einer möglichen neuen Wagenknecht-Partei.

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Oben       —       26.06.2019 Für eine soziale Politik Leipzig Der bisher heißeste Tag im Jahr mit Temperaturen um die achtunddreißig Grad Celsius konnte an die 1000 Leipziger*innen nicht davon abhalten, sich auf dem Marktplatz zu versammeln. Die Kundgebung bei der Sahra Wagenknecht zu den Standpunkten sozialer Politik der Bundestagsfraktion Die Linke sprach, wurde musikalisch von der Gruppe Karussell begleitet, welche in Leipzig ein Heimspiel hatten.

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Ozeanien-vs-Eurasien

Erstellt von Redaktion am 18. Juni 2023

Ozeanien-Eurasien-USA-und-China-im-Konflikt-um-Taiwan

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Angesichts bröckelnder Wirtschaftsmacht geht Washington in der Auseinandersetzung mit China zu einer Strategie bloßer militärischer Dominanz über

Es ist gut möglich, dass rückblickend der Krieg um die Ukraine als erster Akt eines globalen Großkrieges, als bloßes Vorspiel für die in Taiwan drohende militärische Auseinandersetzung zwischen den USA und China angesehen werden wird. Die Spannungen in der Straße von Taiwan scheinen zu einem prekären Dauerzustand zu werden, während der Blutzoll des russischen Angriffskrieges inzwischen in die Hunderttausende geht.

Beide Konflikte können tatsächlich auch als Momente eines globalen Hegemoniekampfes begriffen werden, der zwischen den fragilen Bündnissystemen der absteigenden USA und dem aufstrebenden China geführt wird. Auf der geopolitischen Ebene ließe sich von einem Kampf des von China angeführten Eurasiens gegen das Ozeanien der Vereinigten Staaten sprechen. Washington verfolgt eine Eindämmungsstrategie gegenüber der chinesisch-russischen Allianz, bei der über den Pazifik und Atlantik hinausgreifende Bündnissysteme eine zentrale Rolle spielen. Und Taiwan ist im pazifischen Raum ein essenzieller Baustein dieser Containment-Strategie, bei der Washington bemüht ist, auch Südkorea, Japan, die Philippinen, Vietnam und Australien einzubinden.

Mit dieser Eindämmungsstrategie werden mehrere Ziele verfolgt: Zum einen soll die ungehinderte Formierung der rasch wachsenden chinesischen Militärmacht verhindert werden. Die globale Interventionsfähigkeit bildete die militärische Grundlage der Hegemonie der USA in den Dekaden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Peking forciert derzeit ein gigantisches, rasch voranschreitendes Flottenrüstungsprogramm, um die US-Marine zu überflügeln. Bis 2024 soll die Zahl chinesischer Kampfschiffe von 340 auf rund 400 ansteigen, während die US-Navy nur über knapp 300 Schiffe verfügt. Die Effektivität dieser chinesischen Marinemacht würde aber von US-Stützpunkten unterminiert, die Washington am liebsten in allen Nachbarstaaten Chinas errichten würde, die den Machtzuwachs Pekings mit Unbehagen beobachten.

Andererseits geht es bei diesem Containment auch darum, angesichts der sich zuspitzenden sozioökologischen Krise die ungehinderte Extraktion von Rohstoffen und Energieträgern in der Peripherie des Weltsystems durch Peking zu verunmöglichen. Die militärische Absicherung der Schifffahrtswege ist für China unmöglich, solange Washington Bündnispartner vor der chinesischen Küste hat.

Eskalationsdynamik im Spätkapitalismus

Wo verlaufen die Grenzen Ozeaniens und Eurasiens? Diese geopolitische Frage, die in der Ukraine militärisch ausgefochten wird, stellt sich auch in Taiwan, das Peking als Teil Chinas betrachtet. Der Taiwan-Konflikt ist folglich innerhalb Chinas besonders stark national und ideologisch aufgeladen, während eine überwältigende Mehrheit der Bewohner*innen Taiwans für die Beibehaltung des Status quo oder gar die Unabhängigkeit plädiert. Der Hegemoniekampf zwischen den USA und China ist aber auch ein Kampf um die technologische Dominanz. Washington bemüht sich mit immer weitergehenden Sanktionen, den verbliebenen technologischen Vorsprung gegenüber der Volksrepublik aufrechtzuerhalten. Und Taiwan ist ein wichtiger Standort für IT und Hightech-Produktion. Die wichtigsten Fabrikationsstätten für Computerprozessoren und Chips befinden sich auf der Pazifikinsel. Washington will den Zugriff Pekings auf diese Fertigkeiten verhindern.

Die sich im Pazifik entfaltende Eskalationsdynamik bleibt aber unverständlich, wenn die zunehmenden sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisentendenzen im spätkapitalistischen Weltsystem ausgeblendet bleiben. Es sind die systemischen Krisenprozesse, die sich immer deutlicher abzeichnenden inneren und äußeren Schranken des Kapitals, die die Staaten in die Konfrontation treiben. Auch der Angriff Russlands auf die Ukraine, der einem Akt nackten Wahnsinns gleicht, bleibt unverständlich, wenn die Aufstände in Belarus und Kasachstan kurz zuvor unberücksichtigt bleiben.

Auf globaler Ebene befinden sich die USA in einer ähnlich schwierigen Lage wie Russland in seinem abgetakelten und sozial zerrütteten postsowjetischen Hinterhof. Das jüngste »Bankenbeben« in den Vereinigten Staaten, das durch den Wertverfall von eigentlich als sicher geltenden US-Staatsanleihen ausgelöst wurde, ist Ausdruck der systemischen Sackgasse, in der die um den Dollar als Weltleitwährung zentrierte neoliberale Globalisierung steckt: Dem an seiner Produktivität erstickenden Weltsystem fehlt ein neuer industrieller Leitsektor, in dem massenhaft Lohnarbeit verwertet werden könnte, es läuft auf Pump. Die globale Verschuldung steigt schneller an als die Weltwirtschaftsleistung.

Dieser globale Verschuldungsprozess vollzog sich vermittels immer größerer Spekulationsblasen in der Finanzsphäre, wobei die Globalisierung zur Ausbildung von Defizitkreisläufen führte. Wirtschaftsstandorte mit Exportüberschüssen führten ihre Waren in Defizitländer aus, die immer größere Schuldenberge anhäuften. Die USA und China waren in diesem Prozess eng miteinander verstrickt. Im großen pazifischen Defizitkreislauf konnte China gigantische Exportüberschüsse gegenüber den USA erzielen, um diese sogleich in amerikanische Staatsanleihen zu investieren. Von China wurden über den Pazifik gigantische Warenmengen in die USA befördert, während in die Gegenrichtung US-»Finanzmarktwaren« (zumeist besagte Staatsanleihen) flossen, die China zu einem der größten Gläubiger der USA machten. (Ein ähnliches »Ungleichgewicht« zwischen dem deutschen Zentrum und der südlichen Peripherie prägte auch die Eurozone bis zum Ausbruch der Eurokrise.)

Mit dem Ende des Nachkriegsbooms, der Finanzialisierung und der Durchsetzung des Neoliberalismus wandelte sich somit die ökonomische Grundlage des westlichen Hegemonialsystems, das zuvor von der fordistischen Expansion getragen worden war: Die sich immer weiter verschuldenden USA wurden zum »Schwarzen Loch« des Weltsystems, das die Überschussproduktion exportorientierter Staaten wie China und der BRD aufnahm – um den Preis voranschreitender Deindustrialisierung und Verschuldung im eigenen Land. Ohne den US-Dollar wäre dies nicht möglich gewesen. Der Greenback als Weltleitwährung verschaffte Washington die Option, sich im Wertmaß aller Warendinge zu verschulden, um etwa seine Militärmaschinerie zu finanzieren. Wenn hingegen ein Erdo?an die Geldpresse anwirft, dann wächst einfach die Inflation.

Bürgerliche Krisenpolitik in der Falle

Diese auf Pump laufende globale Finanzblasenökonomie wurde in den letzten Jahrzehnten immer krisenanfälliger. Die Krisenschübe fielen immer heftiger aus, die Aufwendungen der Politik zur Stabilisierung des Systems wurden immer größer, die Abstände zwischen den Krisenschüben immer kürzer. Mit der einsetzenden Inflationsphase scheint die neoliberale Epoche der Krisenverzögerung am Ende zu sein.

Die bürgerliche Krisenpolitik befindet sich in einer Falle: Sie müsste die Zinsen anheben, um die Inflation zu bekämpfen, während sie zugleich die Zinsen senken müsste, um den aufgeblähten Finanzsektor vor dem Kollaps und die gigantischen Schuldenberge vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Die USA sind im Rahmen der kollabierenden Finanzblasenökonomie und der besagten Defizitkreisläufe nicht mehr in der Lage, als »Schwarzes Loch« der Weltwirtschaft zu fungieren, womit das ökonomische Fundament der US-Hegemonie untergraben wird. Mit den zunehmenden Absetzbewegungen vom US-Dollar in der Semiperipherie des Weltsystems, wo etliche Staaten zu bilateralen Zahlungssystemen mit China übergehen, scheint die Zeit des Greenback als Weltleitwährung abzulaufen, was die Vereinigten Staaten zu einem riesigen, militärisch hochgerüsteten Schuldenstaat degradieren würde.

Die einzige Option, die Washington noch bleibt, um das erodierende Bündnissystem des »Westens« aufrechtzuerhalten, ist die der militärischen Dominanz. Das eigentliche Rückgrat der Vormachtstellung der USA wie auch der Stellung des Dollar als Weltleitwährung bildet der US-Militärapparat. Deswegen ist Washington bereit, dem chinesischen Expansionsstreben mit einer Konfrontationsstrategie zu begegnen – solange die militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten noch besteht.

Erstveröffentlicht unter : https://www.akweb.de/ausgaben/693/ozeanien-vs-eurasien-usa-und-china-im-konflikt-um-taiwan/

Tomasz Konicz

Dist Autor und Journalist. Von ihm erschien zuletzt das Buch »Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört«. Mehr Texte und Spendenmöglichkeiten (Patreon) auf konicz.info.

Urheberrecht
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Oben       —       The World War II Pacific Theater as it appeared in August, 1942.

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von Redaktion am 18. Juni 2023

Nach dem Canceln das Comeback

Rote Flagge II.svg

Kolumne von Fatma Aydemir

Kevin Spacey im „Zeit-Magazin“. Wenn sie prominent sind, werden mutmaßliche MeToo-Täter schnell rehabilitiert. Das zeigt nicht nur ein aktuelles Interview mit Kevin Spacey.

Könnte nächsten Monat vielleicht schon das große Comeback-Interview mit Till Lindemann im Zeit-Magazin kommen? Schlagzeile: „Ich dachte, sie wollten es auch … Vielleicht hätte ich sie zuerst wecken sollen.“ Eine Journalistin könnte mit dem Popstar Gassi gehen, einen Kaffee to go in der Hand. Abends ginge man in eine verranzte Kneipe, in der jeder „den Till“ kennt und schätzt.

Von dem Buzz profitieren, den Skandale bringen

Natürlich würde man im Interview nicht über die Vorwürfe sexualisierter Gewalt sprechen, die eine ganze Reihe junger Frauen gegen Lindemann erheben. Man würde behaupten, das liege daran, dass das juristische Verfahren noch läuft, in Wahrheit ginge es darum, dass der Sänger nicht eingeschnappt ist und das Exklusivinterview kurzerhand abbricht, welches online natürlich auf Englisch übersetzt und bitte von allen internationalen Medien zitiert würde.

Lindemann dürfte sicher erzählen, wie schwer die Zeit war, nachdem sein Label bekannt gab, weniger Werbung für seine Platte zu machen, und eine Handvoll Leute sich tatsächlich mit Transpis vor dem ausverkauften Sta­dion­kon­zert trafen, um gegen den Rammstein-Auftritt zu protestieren. Erschütternd. Diese Cancel Culture zerstört doch jeden.

Das ist natürlich alles ausgedacht und rein hypothetisch, ich denke, die meisten Leser_innen verstehen den Zweck eines Konjunktivs. Es sei trotzdem noch mal erwähnt für poten­ziell mitlesende, übereifrige Anwaltskanzleien. Aber nur weil etwas ausgedacht ist, bedeutet das nicht, dass alles daran Humbug ist. Nachdem das Zeit-Magazin im vergangenen Monat ein so unkritisches Interview mit Quentin Tarantino druckte, als sei es 1996, legte das Lifestyleheft diese Woche nach, mit einem exklusiven Interview mit US-Schauspieler Kevin Spacey.

Kevin Spacey, May 2013.jpg

Genau, der Kevin Spacey, dem von mehreren Männern sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigung vorgeworfen werden. In zwei Prozessen wurde er freigesprochen, der dritte steht noch an, in London. Kann man machen, Spacey kurz vor dem wichtigen Prozess auf ein Käffchen zu treffen und das Cover dafür freizuräumen. Aber mit welchem Motiv? „Vielleicht hofft er, dass ein europäisches Medium wie das Zeit-Magazin weniger scharf über ihn berichtet, als es ein amerikanisches Medium tun würde“, mutmaßt der Text jedenfalls über das Motiv des Schauspielers, um dann genau das zu machen: Kuscheln – und zwar mit Ansage.

Am Ende haben alle was davon

Wie schnell mutmaßliche Täter von diesem Kaliber rehabilitiert werden können, zeigt diese Woche auch ein Auftritt von Filmstar Ezra Miller bei einer Filmpremiere in Hollywood. Miller wurde von mehreren Frauen Körperverletzung und Belästigung vorgeworfen. Außerdem steht Miller im Verdacht, eine Art Kult zu unterhalten und vorrangig junge Fans unter Drogen zu setzen.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesesen

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Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten      —    Kevin Spacey on the set of House of Cards during Maryland Gov. Martin O’Malley’s visit in 2013.

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Die Illusion der Kontrolle

Erstellt von Redaktion am 17. Juni 2023

Die Grünen bezahlen für ihr Ja einen Preis

Bündnis 90 - Die Grünen Logo.svg

Von:      Stefan Reinecke

Der EU-Asylkompromiss führt nicht zu wesentlich weniger Migration, er vermehrt nur das Unglück an den Außengrenzen. Der Kompromiss befeuert die Vorstellung, dass man Migration lenken, berechnen, unterdrücken und einer Kontrolle unterwerfen kann.

Der Mann ließ im Bundestag kein gutes Haar an dem Asylkompromiss. „Anstatt das Asylrecht zu bewahren, soll es nun so weit eingeschränkt werden, dass das einer Abschaffung gleichkommt“, sagte der Bündnisgrüne. Man errichte „Mauern aus Gesetzen und Abkommen“, um sich die Geflüchteten vom Leib zu halten und sie schnell in Drittstaaten zu entsorgen. Wer aus einem Nachbarland kam, hatte kein Recht auf Asyl mehr. Das war ungefähr so, als wenn Irland beschließen würde, dass nur, wer zu Fuß kommt, Asyl beantragen darf.

Diese Szene spielte sich 1993 ab. Konrad Weiß, Abgeordneter von Bündnis 90, redete vergeblich der SPD ins Gewissen. Das Grundgesetz wurde mit SPD-Stimmen geändert.

Der Asylkompromiss vor 30 Jahren und der EU-Asylkompromiss 2023 ähneln sich im manchem. Das Ziel ist: Migranten abschrecken. Dafür werden die Rechte von Asylbewerbern beschnitten, ohne das Asylrecht komplett zu streichen. Auch der Schmierstoff dieser Operation ist ähnlich: Es ist die Konstruktion der sogenannten sicheren Drittstaaten. Ein syrischer Flüchtling, der aus der Türkei in die EU kommt, kann künftig wieder zurückgeschickt werden – auch wenn er in der EU Anrecht auf Asyl hat. Ob und wie oft das passieren wird, ist offen. Aber es ist möglich. Auch die Asylzentren, Kernstück der EU-Reform, folgen einem Vorbild, das 1993 in Deutschland erfunden wurde. Flüchtlinge, die per Flugzeug kommen, landen seitdem nicht in Deutschland, sondern in einer Art Transitraum, in dem die „Fiktion der Nichteinreise“, so der juristische Ausdruck, gilt. Auch in den geplanten EU-Asylzentren finden sich Geflüchtete in einem fiktiven Europa wieder.

Bekannte Argumente, gemischte Gefühle. Das Ganze wirkt wie ein Remake. Nur die Grünen spielen diesmal nicht die tapfere Opposition, sondern die Rolle der SPD. Halb fallen sie, halb zieht es sie hin. Am Ende werden sie wohl, nach ausreichend öffentlich dargebotener Zerknirschung, dem stählernen Gebot der Realpolitik folgen.

Auch wenn die Rhetorik 2023 nicht so aggressiv und fremdenfeindlich klingt wie 1993, tauchen in dem Diskurs ähnlich suggestive Bilder auf. In Talkshows und Bundestagsdebatten werden – mehr oder weniger verklausuliert – drei Erzählungen bedient. Alle drei haben die gleiche Botschaft: Wir müssen uns schützen. Das erste Bild: „Nur ganz wenige Migranten sind Verfolgte. Das Gros sind Wirtschaftsflüchtlinge.“

So ist es nicht – jedenfalls derzeit. Im Jahr 2022 bekamen fast drei Viertel aller Asylsuchenden Schutz und wurden als Verfolgte anerkannt. Nur in 28 Prozent der Fälle wurde der Asylantrag als unbegründet abgelehnt. Trotzdem werden Flüchtlinge generell als Schwindler verdächtigt.

Das zweite Bild: „Die illegalen MigrantInnen kommen nach Deutschland – und arbeiten dann nicht.“ Auch das stimmt so nicht. Es ist kompliziert, die Daten etwas schütter. Aber: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland ist aus demografischen Gründen günstig. Auch Ungelernte werden verzweifelt gesucht. So gehen Experten davon aus, dass trotz Hürden wie der Sprache rund 55 Prozent jener Migranten arbeiten, die 2015/16 nach Deutschland kamen. Tendenz steigend. Die Integration in den Arbeitsmarkt ist aufwendig und kostspielig. Aber Leute, die hier sind, auszubilden ist effektiver, als Arbeitskräfte in der Ferne zu umwerben, die dann lieber nach Kanada gehen. Das Bild vom Flüchtling, der es sich in der sozialen Hängematte bequem macht, ist jedenfalls falsch.

Wer Menschen ausschliesst – sperrt sich selber ein !

Drittens: „Wir müssen an der Grenze durchgreifen und die illegalen Migranten (böse, weil Wirtschaftsflüchtlinge) von den verfolgten Asylsuchenden (nehmen wir auf, weil wir gute Menschen sind) trennen.“ Dieses Bild ist vielleicht das wirksamste. Und abgründigste. Es legt nahe, dass die Politik an der Grenze für Ordnung sorgen kann, wenn sie es nur will. Hart, aber fair. Repressiv, aber gerecht. Man muss nur entschlossen das richtige Anreiz- oder vielmehr Abschreckungssystem etablieren – schon lässt sich globale Migration steuern, und das Problem ist wenn nicht gelöst, so doch entscheidend gemildert. Dieses Bild ist so fatal, weil es eingängig und schwer zu widerlegen ist. Migration ist ein vielschichtiger, komplexer, verwirrender, sich wandelnder Prozess. Gerade deshalb ist es attraktiv, an einfache, gerade Lösungen zu glauben, die man sich nur trauen muss.

Diesem Geist entspricht der EU-Asylkompromiss mit den geplanten haftähnlichen Lagern und verkürzten Verfahren. Er befeuert die Vorstellung, dass man Migration lenken, berechnen, unterdrücken und einer weitgehenden Kontrolle unterwerfen kann.

Doch das wird nicht so sein – und das ist der Unterschied zwischen 1993 und 2023. Deutschland gelang es damals auch mittels Drittstaaten, Zahlen radikal zu senken: von fast einer halben Million im Jahr 1992 auf 19.000 im Jahr 2007. Die Bundesrepublik machte sich einen schlanken Fuß auf Kosten geduldiger Nachbarn. Als 2011 auf Lampedusa Tausende Flüchtlinge ankamen, erklärte CSU-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich in einer bemerkenswerten Mixtur aus Dummheit und Arroganz, das sei Italiens Problem. Das kam 2015/16 als Bumerang zurück.

Die Lage in der EU ist 2023 anders. Denn die dienstbaren Drittstaaten, die Flüchtlinge abwehren, existieren so nicht. Die EU hat zwar moralisch abgründige Deals mit Autokraten in Afrika geschlossen, die rosafarben „Mobilitätspartnerschaften“ getauft wurden. Entwicklungshilfe und Handelsvergünstigungen für Länder wie Ägypten, Marokko und Niger wurden an die Bedingung gekoppelt, Migrantenrouten zu unterbrechen. Die EU hat kreativ ein komplexes Netz entworfen, um zweifelhafte Regime mit Geld dazu zu bringen, Abgeschobene wieder zurückzunehmen.

Staatsgrenzen zeichnen sich nicht mehr, wie der Staatstheoretiker Thomas Hobbes einst schrieb, dadurch aus, dass sie „bewaffnet sind und auf die anliegenden Nachbarn gerichtete Kanonen haben“. Grenzen im globalen Kapitalismus sind flexible, oft nach vorne verlagerte Systeme, mit denen sich die reichen Zentren die Zuwanderung aus den armen Peripherien vom Leib zu halten versuchen. Der Soziologe Steffen Mau hat diese Grenzen mit ausgefeilten Überwachungssystemen und diffusen Rechtsräumen griffig als „Sortiermaschinen“ beschrieben. Sie haben etwas Ausuferndes. Im Vergleich mögen die Grenzen der Ära der klassischen Nationalstaaten mit ihren Schlagbäumen wenn nicht harmlos, so doch verlässlich und übersichtlich erscheinen.

Lesbos refugeecamp - panoramio (2).jpg

Doch so beängstigend diese Sortiermaschinen mitunter wirken – sie sind prekär, anfällig, fragil. Die EU ist auf die politischen Kalküle autokratischer Regime angewiesen. Die EU verfügt nicht über die imperiale Macht, den (nord)afrikanischen Staaten den eigenen Willen zu diktieren. Einzelne europäische Länder haben mehr als 300 Rücknahmeabkommen mit Staaten geschlossen, um Migranten wieder loszuwerden – mit durchwachsenem Erfolg. Fast 80 Prozent der Abschiebebefehle wurden 2021 in der EU nicht umgesetzt. Auch der gerade heftig umworbene tunesische Staatschef hat wenig Neigung, als Europas gekaufter Grenzpolizist zu gelten.

Die Sortiermaschinen funktionieren manchmal, mal stottern sie, mal fallen sie aus, dann laufen sie wieder auf Hochtouren. Migration ist nur bedingt regulierbar. Sogar die repressive Grenze zwischen Mexiko und den USA, an der Trump brutal Tausende Kinder von ihren Eltern trennte, funktioniert – aus US-Sicht – nur wie ein mehr oder weniger guter Filter. Auch unter Joe Biden werden Millionen festgenommen, abgewiesen, abgeschoben. Trotzdem leben in den USA mehr als elf Millionen sogenannte illegale Migranten.

In einem hoch vernetzten, weltumspannenden Markt mit extremem Wohlstandsgefälle, in dem Kapital und Waren, Informationen und Datenströme so frei und schnell wie nie zuvor fließen, ist es ein Kinderglaube, dass man Flüchtlinge nach Belieben stoppen und in brauchbare und lästige aufteilen kann. Im globalen Dorf weiß man auch in Ecuador und Nigeria, welche Migrationsrouten gerade funktionieren.

Die Idee, man werde mit dem EU-Kompromiss nun „die Zahlen in den Griff kriegen“, so CSU-Mann Manfred Weber, hat etwas Einfältiges. Denn wer in Westafrika viel Geld investiert, den Tod in der Sahara und das Ertrinken im Mittelmeer riskiert, sich Schlepperbanden anvertraut, Kriminelle und Frontex einkalkuliert, der wird sich kaum davon abschrecken lassen, dass die EU beschleunigte Verfahren einführt. Dieser Asylkompromiss führt nicht zu wesentlich weniger Migration. Er vermehrt nur das Unglück an den Außengrenzen.

Quelle          :            TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Unten       —   Lesbos refugeecamp

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Der Fall Lübcke:

Erstellt von Redaktion am 17. Juni 2023

Koalitionsraison vor Aufklärung

Von      :      Michael Lacher

Vor bald vier Jahren, am 1. Juni 2019, wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke getötet – es war der erste rechtsradikal motivierte Mord an einem Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik. Am 23. Februar 2023 beendete nun, mit der 38. Sitzung im Hessischen Landtag, der „Lübcke-Untersuchungsausschuss“ (UNA 20/1) seine Auseinandersetzung mit einem möglichen Behördenversagen im Vorfeld des Mordes.

Zum rechtlichen Hintergrund: Im Januar 2021 wurde der Mörder, der Neonazi Stephan Ernst, vom Oberlandesgericht Frankfurt zu lebenslanger Haft verurteilt und aufgrund der Schwere der Schuld mit einer Sicherheitsverwahrung belegt. Eine Revision des Urteils durch den BGH wurde im August 2022 abgewiesen. Ziel der von der Familie Lübckes betriebenen Revision war es, den Kumpanen von Ernst, Markus H., in einem neuen Verfahren der Mittäterschaft zu überführen. Dieser war in der Hauptverhandlung von der Beihilfe zum Mord an Lübcke freigesprochen worden, was auch der Generalbundesanwalt, vertreten durch den Oberstaatsanwalt Dieter Killmer, irritiert zur Kenntnis genommen haben dürfte. Denn noch in der Hauptverhandlung hatte er überzeugend einen großen historisch-politischen Bogen zu den rechtsradikalen Morden der Weimarer Republik, namentlich an Walter Rathenau, gezogen und zumindest eine psychische Beihilfe von Markus H. begründet.

Nun also das Ende des Untersuchungsausschusses, der die Selbstgerechtigkeit und das Desinteresse der schwarz-grünen Koalitionäre offenbarte. Faktisch gab der Ministerpräsident des Landes Hessen, Boris Rhein, in der vorletzten, 37. Sitzung das Ergebnis vor: „Der Mord an Walter Lübcke hätte nicht verhindert werden können.“ Dem pflichteten in der letzten Sitzung die geladenen Zeugen bei: erst Innenminister Peter Beuth, der sein Amt schon zur Tatzeit innehatte, und dann auch der damalige Ministerpräsident Volker Bouffier: „Der Mord war nicht vorhersehbar.“

Widerspruchslose Grüne

Von Seiten des grünen Koalitionspartners gab es zu alledem keinen Widerspruch. Überhaupt bildete sich im Laufe der Ausschussarbeit die klassische Konstellation ab: hier die blockierenden Regierungsparteien CDU und Grüne, dort die ja keineswegs homogene demokratische Opposition aus SPD, FDP und Linke, die bemüht war, die behördlichen Defizite aufzudecken und die politisch Verantwortlichen zu benennen.

Dabei waren zu Beginn der Arbeit durchaus noch gemeinsame Anstrengungen der jeweiligen Partei-Obleute zu spüren.[1] In ziemlicher Kleinarbeit mühten sie sich mit Hilfe von 48 Zeugen, gemeinsam Licht in das Wirrwarr behördlicher Arbeitsweisen zu bringen. Doch mit fortschreitender Ausschussarbeit und insbesondere dem nahenden Landtagswahlkampf fielen die Koalitionäre vor allem durch ausgesprochen gebremste Fragestellungen auf.

Vor der 18. Sitzung, im Dezember 2021, kam es sogar zu einem handfesten politischen Eklat.[2] In einer geheimen Sitzung einigten sich CDU, Grüne und AfD mit ihrer Zweidrittelmehrheit auf die vom Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) geforderte nichtöffentliche Vernehmung einer LfV-Mitarbeiterin. Durch diesen Tabubruch wurde – gewissermaßen im Hinterzimmer – eine Koalition mit der AfD geschmiedet, um die Opposition auszuhebeln. Immerhin entschuldigten sich die Grünen im Anschluss für ihr Abstimmverhalten – anders als die CDU, die stattdessen bei Zeugenbefragungen der Linken regelmäßig durch ihren pöbelnden Abgeordneten J. Michael Müller auffiel.

Kam es dagegen einmal zu übergreifenden Fragen, etwa nach den Zusammenhängen der regionalen rechtsradikalen Szene mit der AfD, wurden diese vom Vorsitzenden Christian Heinz (CDU) regelmäßig nicht zugelassen. Kurzum: War die Ausschussarbeit demnach völlig umsonst, da behördliches Versagen nicht nachgewiesen werden konnte?

Nein, ganz im Gegenteil: Der Ausschuss brachte eine Reihe struktureller und individueller Defizite der Sicherheitsbehörden zutage, die im Fall von Stephan Ernst ein Versagen der Behörden offenlegten. So wurde die sog. P-Akte von Ernst im Jahre 2015 nach fünf Jahren „ohne Auffälligkeit“ gesperrt, war also nicht mehr in Bearbeitung des LfV, weil er als „abgekühlt“ galt. Dabei hätte angesichts der rechtsradikalen Vita von Ernst die Akte nach formaler Betrachtung noch bis zu 15 Jahren offengehalten werden können, was jedoch aufgrund eines Löschmoratoriums und damit eines Staus von über 1400 Akten und des folgenden Personalmangels nicht geschah. Dabei wurde auch die Aktennotiz „brandgefährlich“ des damaligen LfV-Präsidenten Alexander Eisvogel aus dem Jahr 2009 ignoriert. Somit konnte der Ausschuss durchaus ein systemisches Versagen in Form personenbezogener Fehlentscheidungen herausarbeiten, was die Vermutung von Christoph Lübcke stützt, dass der Mord an seinem Vater hätte verhindert werden können,[3] – und was zugleich die grundsätzliche Frage aufwirft, ob das LfV überhaupt reformierbar ist oder, wie einige kritische Stimmen fordern, einfach abgeschafft gehört.

Eine verpasste historische Chance

Für Letzteres gibt es durchaus gute Argumente: Denn obwohl sich sämtliche LfV-Präsidenten in ihren Zeugenvernehmungen als konsequente Verfolger des Rechtsextremismus rühmten und zudem als beständige „Aufräumer“ nach der jeweiligen Behördenübernahme, reihte sich faktisch eine personelle Fehlleistung an die andere. Zwar wuchs das LfV nach der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2014 von 256 auf 400 Personen im Jahr 2022 an, bei gleichzeitiger Verdopplung des Etats (laut Aussage von Bouffier). Doch offenbar nutzte es nichts, den „Sauhaufen“ – so wortwörtlich der Abgeordnete Stefan Müller, FDP – auf Vordermann zu bringen, weil weder die Informationsübermittlung, etwa zwischen den jeweiligen Landesämtern und dem Staatsschutz, funktionierte noch die Qualifikation der Mitarbeiter:innen den Anforderungen einer qualifizierten Tätigkeit entsprach. Zum Teil wurde nach Aussagen von Bouffier Personal aus dem einfachen Dienst, etwa der Post rekrutiert – darunter der höchst dubiose Andreas Temme, der beim NSU-Mord in Kassel zur Tatzeit am Tatort war. In erster Linie kamen für die Sachbearbeitung aber Beamt:innen aus dem mittleren Polizeidienst zum Einsatz. Offensichtlich waren diese nicht selten damit überfordert, sich einen politischen Überblick über die rechtsextreme Szene, ihre Strukturen, Symbole und ihr Rekrutierungsfeld zu verschaffen und vor allem das politische Übergangsfeld zur AfD zu verstehen.

Bild Dr. Walter Lübcke.jpg

Auf diese Weise blieben im Untersuchungsausschuss die gesellschaftlichen Bezüge und Hintergründe des deutschen Rechtsradikalismus weitgehend unbeleuchtet. Vor allem die möglichen Verbindungen des Mörders von Walter Lübcke und seines Helfers und möglichen Anstifters zu den örtlichen AfD-Organisationen wurden kaum oder gar nicht behandelt. Dabei gibt es Hinweise darauf, dass die mit Unterstützung der AfD durchgeführten KAGIDA-Veranstaltungen (dem Kasseler Ableger der Dresdner PEGIDA) auch von den beiden Neonazis besucht wurden. Auch die Bezüge der Kasseler Neonazi-Szene zu den NSU-Mördern wurden trotz personeller Überschneidungen – zur Erinnerung: die NSU-Zeugin Corinna G. war auch in Kassel aktiv – nicht systematisch hergestellt, nachdem ein Zeuge des Bundesamtes für Verfassungsschutz diese verneint hatte.

Auf diese Weise – und hier liegt das große Versäumnis dieses Ausschusses, ja die vertane historische Chance – blieben die großen Zusammenhänge zu den rechtsradikalen Netzwerken und ihrem Wirken völlig unterbelichtet. Faktisch wurde auf dem Altar der Koalitionsraison, dem kurzsichtigen Interesse von CDU und Grünen an einem guten Abschneiden bei der kommenden Landtagswahl, der Schutz der Demokratie geopfert.

Dieser hätte es verlangt, dass die gefährliche Verbindung von Rechtsextremismus in der Gesellschaft und Gleichgültigkeit bis hin zu klammheimlicher Freude und expliziter Zustimmung in den Behörden aufgedeckt wird. Denn dafür ist die Lage in Hessen regelrecht exemplarisch.

Nachdem der NSU mit Halit Yozgat 2006 in Kassel seinen wohl letzten Mord begangen hatte, ermittelte die Hessische Polizei monatelang lediglich im privaten migrantischen Bekannten-, Freundes- und Verwandtenkreis des Opfers. 2018 flogen dann gleich 47 rechtsradikale Chat-Gruppen mit 136 Frankfurter Polizeibeamten auf, die rassistische Texte, Nazisymbole und Videos geteilt hatten. Dennoch stellte das Landgericht soeben, im März 2023, die strafrechtliche Verfolgung der beteiligten Polizisten ein. Das Gleiche gilt für die Verfolgung von Mitgliedern des mittlerweile aufgelösten Frankfurter Spezialeinsatzkommandos, die über Jahre untereinander Beiträge mit volksverhetzenden Inhalten beziehungsweise Nazi-Symbole geteilt hatten.

Quelle          :         Blätter-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben        —   Rosenmontag in Düsseldorf. Een door Jacques Tilly ontworpen wagen met als thema hoe haatspraak tot geweld leidt.

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Recherche: Kölner IL-Outing

Erstellt von Redaktion am 17. Juni 2023

Fragen an K3 und an das verkündete Ende der Recherche

People Shadow.JPG

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :      K4 Recherche

Wir sind Menschen aus verschiedenen Städten, mit guten Kontakten zu Menschen in Köln, die Zugriff auf einige der Informationen haben, die auch K3 für ihre Untersuchung genutzt hat.

Lange Zeit standen wir der Arbeit von K3 sehr wohlwollend gegenüber. Umso mehr, weil die IL ein Nichtverhalten an den Tag legt, das uns ebenso wütend macht wie K3! Zudem haben wir eine grundsätzliche Kritik an Inhalt und Praxis dieser „postautonomen“ Organisation.In letzter Zeit kommen uns aber auch Zweifel an der Vorgehensweise von K3. Von aussen betrachtet scheint es uns, als ob K3 nun genauso mit Tricks, Halb- und Unwahrheiten zu arbeiten beginnt, wie wir es von Anfang an bei der IL erlebt haben.Anders als K3 halten wir das Schreiben des Anwalts von X., datiert auf den 28.4.2023, für höchst bedeutsam. Hierbei werden wir uns zunächst auf vier Aspekte beschränken:

  • Was ist mit der Sprachnachricht, die „Täterwissen“ offenbart?
  • Doch keine gefälschte Mail mit den zwei Fotos?
  • Doch keine Unkenntnis über korrekte Namensschreibung?
  • Wie viele Personen wussten etwas?

Zu 1. Der Anwalt von X. weist darauf hin, dass C. in einer Sprachnachricht vom 3.1.2022 „Täterwissen“ offenbart habe. Nach den uns vorliegenden Informationen wird die Echtheit dieser von C. an X. übermittelten Sprachnachricht von keiner Seite in Frage gestellt. Der Anwalt von X. führt aus:

K4 Recherche

Nach den bisherigen Darstellungen soll es im Oktober 2021 auf einem Treffen der IL eine Warnung vor C. gegeben haben. Dabei sollen mehrere Namen von FLINTA genannt worden seien. Ein Name war demnach der von X., die weiteren Namen sind nach unserem Kenntnisstand nirgends jemals erwähnt worden.

Wenn C. in der Sprachnachricht jedoch Namen nennt, stellt sich für uns die Frage, woher er diese kennt, wenn die bisherige Darstellung von K3, dass die gesamte Geschichte eine Konstruktion von X. oder der IL sei, korrekt wäre.

Sollte die Darstellung des Anwalts von X. aber der Wahrheit entsprechen, so müsste K3 einräumen, dass Teile der C. belastenden Darstellungen zutreffend sein könnten.

Während wir bislang davon ausgingen, dass C. zu unrecht beschuldigt sein könnte, erschüttert dieser Umstand, der vom Anwalt als „Täterwissen“ eingeordnet wird, unsere Annahme. Hier sehen wir unbedingt Aufklärungsbedarf.

Zu 2) K3 hat in ihren Veröffentlichungen nahegelegt, dass die Mail von JH an X vom 14.01.2022 nicht existieren würde oder manipuliert sei oder keine Fotos als Anhang gehabt habe. Hierzu müssen wir selbstkritisch feststellen, dass diese Position, die wir bisher geglaubt haben, nach dem Schreiben des Anwalts von X, dem der Ausdruck einer Mail mit korrektem Header beigefügt wurde, nicht mehr aufrecht zu erhalten ist.

K4 Recherche

Zu 3)

Wir gingen nach den Veröffentlichungen von K3 bislang davon aus, dass X. keine Kenntnis von der korrekten Schreibweise des Namens von C. habe und ebenso wie JH die falsche Schreibweise mit Q. benutzt. K3 hatte seinerzeit geschrieben:

K4 Recherche

Nun kann der Anwalt von X. jedoch nachweisen, dass X. die korrekte Schreibweise sehr wohl in Kommunikationen benutzte.

K4 Recherche

Die bisherige Darstellung von K3 lässt sich deshalb nicht aufrechterhalten

Zu 4)

Ausweislich des Schreibens des Anwaltes von X., das sich auf beigefügte Kommunikation zwischen X. und C. stützt, wird deutlich, dass C. unterschiedliche Versionen darüber verbreitet, ob er überhaupt mit anderen Menschen über seinen Sex mit X. gesprochen hat bzw. mit wie vielen Menschen:

K4 Recherche

Für uns bleibt die Frage offen, wer im Vorfeld und im Nachgang des Treffens zwischen X. und C. welche konkreten intimen Informationen von C. erhalten hat und an wen diese Informationen weitergegeben wurden. Hinzu kommt, dass der Anwalt von X. geltend macht, dass JH in diesem Zusammenhang Prognosen über das zukünftige Verhalten von C. macht, die sich seiner Ansicht nach bewahrheitet hätten:

K4 Recherche

Wir fragen uns, ob K3 genügend Anstrengungen unternommen hat, um auszuschliessen, dass JH eine der von C. selbst informierten Personen ist.

Alles in allem sind wir verunsichert. Gewissheiten, die wir nach dem Schweigen der IL und den Veröffentlichungen von K3 hatten, existieren nicht mehr. Wir sehen auf ALLEN Seiten den Versuch, selbstkritische Fragen bezüglich diverser Behauptungen, Indizien und Fakten zu vermeiden.

Wir haben hier nur einige wenige Punkte herausgestellt und wir erheben auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir sind keine Ermittlungsgruppe und in einigen Punkten fehlt uns schlicht die technische Expertise, um qualifizierte Aussagen treffen zu können. Wir halten jedoch anders als K3 die Recherche und die Bewertung derselben nicht für abgeschlossen.

Nachtrag 13. Juni:

Wir sind in den letzten Tagen von verschiedenen Personen und Gruppen angesprochen worden, ob wir an einer Zusammenarbeit interessiert sind. Dafür reicht unser Vertrauen nicht aus und wir sind auch keine klassische Ermittlungsgruppe. Aber wir haben den Anspruch an IL und K3, dass sie ihre Arbeit gründlich und transparent machen. Wir haben einige Punkte genannt, werden jetzt abwarten und uns zu gegebener Zeit wieder melden.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —   I took this photo in March 2003

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Kolumne FERNSICHT Israel

Erstellt von Redaktion am 17. Juni 2023

Verhängnisvoller Bruderkuss unter Erzfeinden

Vogelbeobachtung (8618362879).jpg

Von Hagan Dagan

Im Nahen Osten wird es nicht langweilig. Während sich die Augen der Welt auf das Drama in der Ukraine richten, verändert sich zwischen dem Mittelmeer und dem Persischen Golf die geopolitische Landkarte.

Iran entwickelt sich Schritt für Schritt zur Atommacht. Aktuell sieht es nicht so aus, als würde das noch jemand verhindern können. Die zweifellos beeindruckenden Operationen des Mossad konnten die iranische Kernentwicklung allenfalls verzögern. Ähnlich auch die Kontrollen der Internationalen Atomenergie-Organisation.

ExpertInnen gehen davon aus, dass Iran in erschreckend kurzer Zeit in der Lage sein wird, eine Atombombe herzustellen. Die USA und Europa streben nach einer Wiederaufnahme der Atomvereinbarungen, und offenbar gibt es an dieser Front einen deutlichen Fortschritt. Wobei Staatsoberhaupt Ajatollah Ali Chamenei jüngst bekanntgab, dass selbst eine Wiederaufnahme der Verhandlungen Iran nicht daran hindern werde, das Atomforschungsprogramm fortzusetzen. Teheran könnte so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: das Ende der wirtschaftlichen Sanktionen und trotzdem Fortschritte auf dem Weg zur Atombombe.

Überraschend kommt das jüngste Kooperationsabkommen zwischen Teheran und Riad. Saudi-Arabien und Iran sind erbitterte Feinde, die um die Vorherrschaft und Einfluss im Nahen Osten ringen. Der Krieg im Jemen – in dem Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi gegen die schiitischen Huthi-Rebellen stützten, die praktisch als ein verlängerter Arm Teherans fungieren – gehört dazu. Saudi-Arabien verhedderte sich in dem Krieg, der Riad Milliarden Dollar kostete und der schwere Schäden unter anderem an der Ölinfrastruktur hinterließ, ohne dass es gelang, die verhältnismäßig überschaubaren gegnerischen Truppen zu schlagen. Ein klares Schwächezeichen. Das andauernde Blutvergießen, gepaart mit der kalten Schulter, die die USA – eigentlich ein Verbündeter – Riad zeigten, brachte den energischen Regierungschef, Kronprinz Mohammed bin ­Salman, zu einer dramatischen Kehrtwende: Er reichte dem Erzfeind die Hand zum Frieden. Inzwischen flirtet bin Salman auch mit den Chinesen. Mit Verpflichtungen zu tra­di­tio­nel­len Bündnissen nimmt es der Kronprinz offensichtlich nicht so genau.

Was den Iran betrifft, so mögen dem Kooperationsabkommen ein langfristiges Kalkül zugrunde liegen oder politische Intrigen. Vermutlich aber war es reiner Pragmatismus. Iran agiert hier nicht aus Verstocktheit und Eifersucht, sondern als ein Land, das Chancen ergreift. Die internationalen Sanktionen haben der Wirtschaft Irans schweren Schaden zugefügt, dazu kommen die inländischen Proteste. Die Annäherung an Saudi-Arabien und in der Folge vielleicht an weitere Golfstaaten stärkt das Land und führt zu mehr Stabilität. Und sie ist eine sicherere Karte, als sich im Krieg gegen die Ukraine an der Seite Russlands zu positionieren.

Quelle         :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Am autoritären Kipppunkt

Erstellt von Redaktion am 16. Juni 2023

Antidemokratische Tendenzen sind auf dem Vormarsch

The Gaza Ghetto

Ein Denattenbeitrag von DANIEL MULLIS und  MAXIMILIAN PICHL und  VANESSA E. THOMPSON

In Deutschland werden autoritäre Ereignisse mehr und die politischen Räume enger. „Law and Order“-Politik hat Hochkonjunktur. Wir müssen jetzt handeln.

Wir machen uns Sorgen. Gesellschaftlich steht viel auf dem Spiel. In Deutschland ähnelt die Situation immer mehr der, die wir seit einiger Zeit in Ungarn, den USA, Indien oder Italien beobachten: autoritäre Kipppunkte werden überschritten. In der Klimaforschung ist ein Kipppunkt ein Moment, an dem – laut Weltklimarat – „eine kritische Grenze“ erreicht wird, „jenseits derer sich ein System umorganisiert“, neue Prozesse sich verfestigen, negative Dynamiken sich beschleunigen. Dies lässt sich auf gesellschaftliche Kipppunkte übertragen. Kipppunkte entstehen nicht zufällig, sie sind das Ergebnis länger zurückliegender destruktiver Prozesse. Im Gegensatz zum Klima sind gesellschaftliche Prozesse nie unumkehrbar. Allerdings sind etablierte Diskurse, Strukturen und Normen oft nicht rückgängig zu machen. Sind autoritäre Kipppunkte überschritten, wird der Boden brüchig, auf dem plurale und demokratische Gesellschaften stehen.

Die autoritären Ereignisse überschlagen sich in einer derart rasanten Geschwindigkeit, dass es kaum möglich ist, Schritt zu halten; stets geht es darum, europäische Privilegien, imperiale Lebensweisen und etablierte Machtstrukturen zu erhalten. Antidemokratische Tendenzen sind auf dem Vormarsch. Die AfD erreicht in Umfragen Spitzenwerte. Und die Ampelregierung hat den gravierendsten Asylrechtsverschärfungen der letzten 30 Jahre zugestimmt. Dabei werden Menschen an den EU-Grenzen seit Jahren systematisch entrechtet und brutal zurückgewiesen.

Rassismus hat in Deutschland Tradition und tödliche Folgen. Jahrelang mordete der NSU ungehindert. Der Rechtsterror von Hanau mit neun Toten steht in dieser Kontinuität. Untersuchungen zeigen, dass Opfer von Polizeigewalt kaum Chancen haben, die Tä­te­r*in­nen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Schwarze Menschen, Mi­gran­t*in­nen und People of Color, besonders arme und geflüchtete Personen sind einer mitunter tödlichen und nur unzureichend aufgearbeiteten Polizeipraxis ausgesetzt, wie zuletzt Mouhamed Dramé in Dortmund.

Dabei werden die politischen Räume enger. Wie in Lützerath bei der Räumung des Klimaprotestes. Verschärft tritt der autoritäre Umgang mit der Letzten Generation zutage. Die Bewegung wird als terroristisch diffamiert und kriminalisiert. Auch die Reaktion des Staates in Leipzig Anfang Juni nach dem Urteil im sogenannten Antifa-Ost-Komplex hat eine neue Dimension erreicht: Der große Polizeikessel und die stadtweiten Versammlungsverbote sind ein Angriff auf die Demokratie. „Law and Order“-Politik hat Hochkonjunktur. Dabei verliert der Staat das rechtsstaatliche Maß. Ein Beispiel sind die selbstverständlicher angewandten Schmerzgriffe der Polizei, die in der Rechtswissenschaft zum Teil als Verstoß gegen das Folterverbot diskutiert werden. Die Zahl der „Einzelfälle“ rechter Netzwerke in Polizei und Bundeswehr ist kaum noch zu überblicken. Kritik an diesen Zuständen führt nicht zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Staatsapparaten und ihren Funktionen im neoliberalen und zunehmend autoritären Kapitalismus, sondern wird diszipliniert und kriminalisiert. Rechtsaußen wird der Kulturkampf gegen feministische Errungenschaften und LGBTIQ+ geschürt. In der Opposition machen sich die Unionsparteien diese Rhetorik zu eigen. Während die extreme Rechte in vielen ostdeutschen Bundesländern faktisch an die Macht strebt, Grundrechte und Schutz Schwarzer Menschen, von Mi­gran­t*in­nen und People of Color, von Jüdinnen und Juden sowie Linken real bedroht sind, wird von bürgerlicher Seite eine „Cancel Culture“ und ein „Wokeism“ als „größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit“ bezeichnet. So CDU-Vorsitzender Friedrich Merz.

Tribute to White Power

Nicht nur hier im Land, nein auch in der EU ziehen Idioten erneut ihre Kreise.

Die Ereignisse sind für sich genommen beängstigend, aber nicht neu. Unsere Sorge vor einem autoritären Kipppunkt wächst jedoch. Denn diese Ereignisse beeinflussen und beschleunigen sich wechselseitig. Das Ganze findet in einer Zeit allgemein erhöhter Unsicherheit statt. Die ökologische Transformation sozial und demokratisch zu gestalten, ist eine enorme Herausforderung. Hinzu kommt der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Zusammen mit der vorhandenen Unzufriedenheit über politische Sprachlosigkeit, Armutsrisiken, Wohnungsnot oder mangelhafte soziale Infrastruktur ergibt sich ein explosives Gefüge. Mit der AfD ist eine Partei in der Lage, diese Stimmungen bundespolitisch aufzufangen. Deutlich treten die Grenzen der neoliberalen Politik und des liberalen Humanismus der vergangenen Jahrzehnte zutage, die keineswegs Antworten auf die soziale Frage, die Klimakatastrophe und globale Fluchtbewegungen liefern. So werden zunehmend im demokratischen Spektrum autoritäre Mechanismen übernommen. Die Rechte wird jedoch nur dann zurückgedrängt, wenn ihre Diskurse geächtet, ihre Ideologie ausgeschlossen und ihre Räume verengt werden. Sie nachzuahmen, ihren Forderungen nachzukommen, stärkt sie, macht ihre Erklärungen plausibel.

Quelle         :           TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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US – Geheimdienste:

Erstellt von Redaktion am 16. Juni 2023

Lizenz zur weltweiten Überwachung läuft aus

 

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        :       

Der US-Kongress verhandelt derzeit, wie US-Geheimdienste weltweit Menschen überwachen und Daten auswerten dürfen. Trotz Reformen stehen missbräuchliche Abfragen auf der Tagesordnung. Die EU-Kommission will den transatlantischen Datentransfer wohl trotzdem weiter zulassen.

Es ist ein Abschnitt im US-Recht, der laufend Kopfzerbrechen bereitet – kürzlich dem US-Konzern Meta, der ein milliardenhohes Bußgeld bezahlen und den transatlantischen Datentransfer einstellen muss. Section 702 des Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA) heißt die Passage, sie regelt die praktisch schrankenlose Überwachung von Menschen außerhalb der USA. Nicht zuletzt der Whistleblower Edward Snowden hatte vor einem Jahrzehnt das Ausmaß der technisierten Massenüberwachung offengelegt, mit bis heute andauernden Konsequenzen.

Doch laufen mit Ende des Jahres die Befugnisse für die US-Behörden aus. Schon seit Monaten ringt der US-Kongress darum, wie es mit dem umstrittenen Gesetz weitergehen soll. Im Zentrum der Debatte stehen freilich nicht die Sorgen europäischer Datenschützer:innen, das zeigte einmal mehr die Anhörung im Rechtsausschuss des US-Senats am Mittwoch.

Dort warben hochrangige US-Beamte, unter anderem der stellvertretende NSA-Chef George Barnes, für eine Verlängerung der Überwachungserlaubnis. Vor allem Cyberangriffe aus dem Ausland – und nicht mehr Bombenanschläge – habe das geheime Anzapfen von Datenströmen in den letzten Jahren vereitelt oder aufgeklärt, heißt es. „So wichtig die 702-Berechtigung heute schon ist, sie wird in den nächsten fünf Jahren nur noch wichtiger, da ausländische Cyberangriffe immer raffinierter und häufiger werden“, sagte der stellvertretende FBI-Chef Paul Abbate.

Massenhafter Missbrauch

Dass besagte Section 702 verlängert wird, steht kaum außer Frage. Offen bleibt aber vorerst, unter welchen Vorzeichen. Er werde dem nur zustimmen, wenn es bedeutsame Reformen gebe, sagte der Ausschussvorsitzende Dick Durbin. Insbesondere brauche es bessere Schutzmaßnahmen, um US-Bürger:innen vor illegaler Überwachung zu schützen sowie eine bessere Aufsicht durch den Kongress und Gerichte, so der Demokrat aus Illinois.

An sich erlaubt Section 702 nicht, US-Bürger:innen oder Menschen innerhalb der US-Grenzen zu überwachen. Dennoch kommt es ständig zu missbräuchlichen Abfragen der Datenbank. So hatte jüngst ein Gerichtsdokument enthüllt, dass massenhaft Daten illegal abgefragt wurden, etwa von Black-Lives-Matter-Demonstrant:innen, Spender:innen politischer Kandidat:innen oder auch Protestierender, die am Sturm des Kapitolgebäudes teilgenommen hatten.

Allein im Jahr 2022 habe das FBI über 200.000 unberechtigte Anfragen abgesetzt, um an Informationen über US-Bürger:innen zu gelangen, lässt sich dem jüngsten Bericht der zuständigen Aufsichtsbehörde entnehmen. Zwar beteuert das FBI, seine internen Prozesse inzwischen geändert zu haben. Aber nicht nur dem Demokraten Durbin reicht das nicht, auch manche Republikaner:innen drängen auf tiefgreifende Reformen.

NGOs fordern harte Reformen

Konkrete Vorschläge kommen aus der Zivilgesellschaft, darunter einem breiten Bündnis von Grundrechteorganisationen, etwa der American Civil Liberties Union, der Electronic Frontier Foundation und Wikimedia. Unweigerlich würden die globalen Spionagetätigkeiten unter Section 702 auch viele Daten von US-Bürger:innen aufsaugen, wie die NGOs darlegen.

Die Reformen aus dem Jahr 2018, als das Überwachungspaket zuletzt verlängert wurde, seien jedoch weitgehend erfolglos geblieben und müssten künftig deutlich härter ausfallen. Dabei gewonnene Daten müssten möglichst minimiert werden, zudem dürfe die Kommunikation von US-Bürger:innen nur mit einem Durchsuchungsbefehl abgefragt werden. Außerdem müsse es bessere Möglichkeiten geben, sich vor Gerichten zu wehren.

Auch sollen sich US-Behörden nicht mehr an Gesetzen vorbei bei Datenbrokern bedienen, um massenhaft Daten zu horten. Die Praxis, aus Smartphone-Apps oder sonstigem Online-Verhalten gewonnene Daten in staatliche Überwachungssysteme einfließen zu lassen, hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Dies würde eine „einzigartige Gefahr für die Privatsphäre“ darstellen und müsste klar begrenzt sowie reguliert werden, fordert das Bündnis.

Mit Blick auf die EU müssten aber auch die Auswirkungen auf Wirtschaft und Privatsphäre bedacht werden, die mit ausufernder Überwachung einhergehen, schreiben die NGOs. Bereits zwei Mal hat der Europäische Gerichtshof die Rechtsgrundlage für den Datentransfer aus der EU in die USA gekippt. Dem noch nicht final abgesegneten Nachfolger des Rechtsrahmens, der das Datenschutzniveau in den USA erneut für angemessen erklärt, dürfte das gleiche Schicksal drohen, erwarten Beobachter:innen. Und es drängt sich die Frage auf: Wenn die USA nicht einmal die Grundrechte ihrer eigenen Bürger:innen schützen können, wie soll ihnen das bei EU-Bürger:innen gelingen?

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —       Illinois Senator Dick Durbin Youth Climate Strike Chicago Illinois 5-3-19_0472

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Band „Rammstein“

Erstellt von Redaktion am 16. Juni 2023

Keine Bühne für Rammstein

Wem sind die Flügel wichtig wenn es im Kopf fehlt.

Von    :    Jimmy Bulanik

Die Staatsanwalt Berlin ermittelt in einem Offizialdelikt nach www.gesetze-im-internet.de/stgb/__177.html Sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung wegen eines Anfangsverdachtes nach Legalitätsprinzip, § 152, Abs. 2 gegen sechzigjährigen Till Lindemann, der Band „Rammstein“ nach mehrer Strafanzeigen und Strafanträgen wegen in aller in Betracht kommenden Delikten.

Diverse natürliche Personen erheben gänzlich ernste Vorwürfe in der Sache. Für die Staatsanwaltschaft Berlin sind dies Zeuginnen. Es obliegt der Justiz die Stärke dieser Zeuginnen zu bewerten. Aufgrund der Historie, Texte, Videos und Auftritte gibt es keine Zweifel respektive der Geisteshaltung diese Narrative sind.

Die Britta Häfemeier hat auf Campact e.V. eine Petition gestartet. Der Titel lautet, „Keine Bühne für Rammstein“.

Quelle:

weact.campact.de/petitions/keine-buhne-fur-rammstein

An: Iris Spranger (Senatorin für Inneres und Sport), Joe Chialo (Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt), Timo Rohwedder (Geschäftsführer Olympiastadion Berlin GmbH)

Der Rammstein-Sänger Till Lindemann soll junge Frauen bei Konzerten reihenweise und systematisch sexuell missbraucht haben [1].

Die Band lässt sich weiter feiern – momentan ist sie in ganz Europa auf Tour. Mitte Juli kommt Lindemann nach Berlin und spielt an drei ausverkauften Abenden vor 75.000 Menschen im Olympiastadion. Doch solange die Vorwürfe nicht geklärt sind, sind Konzerte der Band kein sicherer Ort für Mädchen und Frauen. Jetzt gilt es zu zeigen, dass Berliner*innen mutmaßlichen Tätern #KeineBühne bieten.

Machtmissbrauch und patriarchale Strukturen in der Medien- und Kulturbranche sind kein Einzelfall. Wir glauben den Opfern von sexualisierter Gewalt – immer und überall!

Das Olympiastadion ist im Besitz des Landes Berlin. Damit ist die rot-schwarze Landesregierung in der Verantwortung: Sie kann sich dafür einsetzen, dass das Olympiastadion die Verträge mit Rammstein kündigt. Die zuständigen Senator*innen Spranger und Chialo müssen jetzt handeln. Die Übergriffe dürfen sich nicht wiederholen. Die Rammstein-Konzerte müssen abgesagt werden! Berlin darf nicht zum Ort für sexuellen Missbrauch werden! Wir feiern keine Täter!

Warum ist das wichtig?
In ganz Europa geht Rammstein auf Tour. In Berlin haben wir gute Chancen, die Konzerte zu stoppen. Denn hier gibt es eine ganz konkrete Handhabe über die Landesregierung. Wenn wir in Berlin Erfolg haben, kann das auch private Betreiber von Eventlocations in anderen Städten unter Druck setzen. Jeder Raum weniger für die Machenschaften von Lindemann zählt!

Es muss endlich Konsequenzen für Täter geben! Es kann nicht sein, dass Till Lindemann sich in Berlin feiern lässt. Ein Rammstein-Konzert ist KEIN SICHERER Ort.

Erstunterzeichner*innen:

Gender Equality Media e.V. – Gegen medialen Sexismus
Kali Feminists – §218 und §219a wegstreiken
KEINE SHOW FÜR TÄTER
Women For Change
Gynformation
Pinkstinks germany e.V

Alle Leserinnen und Leser haben das freie Recht sich mit den Zielen der Petition mittels der Unterzeichnung und Verbreitung zu solidarisieren. Es handelt sich dabei um ein sakrosantes Grundrecht. Nicht jede Gesinnung ist eine legitime Grundlage für ein Geschäftsmodell, die Maximierung von Profit.

Die Solidarität ist eine erstrebenswerte Tugend, welche durch die eigene Zivilcourage mit Leben gefüllt wird.

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Oben     —     Rammstein, playing „Engel“ in Mexico City, May/27/2011

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von Redaktion am 16. Juni 2023

Verbände für Kopfsalat und Ehrenirgendwas

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Deutschland ist das Land der Verbände. Wer etwas auf sich hält, muss einen gründen. ADAC, VDI, Taubenzüchtende, Fleckviehhaltende, Bobbycar-Sportverband, Deutscher Fußballbund, Verband zum Erhalt des Wunders von Stuttgart, die Liste ist endlos. Mein Lieblingsverband ist ja bekanntlich der BDZV. Das Kürzel steht seit ein paar Jahren für Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger.

Bei Verbänden, zumal solchen mit Landesverbänden, gibt es klassischerweise einen Schweinezyklus. Das gilt auch dann, wenn sie gar nichts mit Landwirtschaft zu tun haben. Mal ist dann ein ganz großer, wichtiger, mächtiger Mensch die Rampensau, und der Rest hat verhältnismäßig wenig zu melden. Wenn die Rampensau zu lange auf dem Eis war oder zu absurde Pirouetten dreht, wird sie abserviert. Dann schlägt die Stunde der Lan­des­fürs­t*in­nen.

Die übernehmen in einem fein austarierten Gleichgewicht des Schreckens die Verbandsführung, bis auch das regelmäßig schiefgeht. Wer gar nicht mehr an die Verbandsspitze passt, wird Ehrenirgendwas für die Visitenkarte. „Also braucht es die Verbände gar nicht so, weil sie ja doch nur das Abbild der Gesellschaft mit ihren niederen Zielen sind“, meint die Mitbewohnerin.

BDZV-Insider*innen können ja die Namen mal zuordnen. Und ja, der große Mensch ist natürlich Mathias Döpfner. Der Springer-Boss hat bis letzten Herbst den BDZV geführt, weshalb die Funke-Mediengruppe aus dem Verband austrat. Und weil der BDZV sich dann demonstrativ von Döpfner abwandte, trat später die Neue Osnabrücker Zeitung aus. „Wir wollen auch weg von diesem Blick der Öffentlichkeit auf eine Person“, hat BDZV-Geschäftsführerin Sigrun Albert der dpa zum Auftakt des BDZV-Digital-Kongresses diese Woche erzählt. Es ginge nicht darum, „einen Star zu haben, der für alle alles bestimmt“.

File:120613 Doppelleben Artwork.pdf

Den Kongress bestimmte dafür das Thema KI, es ging aber auch um ganz reale Fragen. Denn die Presseförderung kommt und kommt nicht. Nicht mal die zuständige Politik ließ sich beim Kongress blicken, wo doch früher die Kanzlerin mitgemacht hat. Und in vielen Verlagshirnen ist jetzt Kopfsalat, weil sie gerade auch nicht mehr wissen, was sie wirklich wollen. Dafür gibt es einen neuen Schlachtruf bei den Zeitungen: „Mehrwertsteuer Null.“

Quelle         :        TAZ-online       >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Floaters caused by retinal detachments

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Die USA und ihr Rest

Erstellt von Redaktion am 15. Juni 2023

USA zwischen zögerlicher Erkenntnis und obstinater Beharrlichkeit

Was Trump der ISA aus Deutschlan mitbrachte.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Während der Präsident der USA obstinat alles in Feindbildern sieht, was sich nicht im Einflussbereich der USA tummelt, sieht sein oberster General, zunächst zögerlich seit 2021, heute klar eine tripolare Weltordnung mit den USA, China und Russland.

Noch auf dem letzten G7-Gipfel ausgerechnet in Hiroshimaerklärte Biden China zum Feind Nr.1. Dabei ist dieüberwiegende Weltbevölkerung – inklusive der Europäer – da ganz anderer Meinung und hält China bei aller möglichen Kritik für einen „notwendigen Partner“. Das ergab eine Umfrage in 16 europäischen Ländern, von BRICS und deren Sympatisantenganz zu schweigen. Dabei haben die USA mit ihrem gemeuchelten Präsidenten John F. Kennedy ein strahlendes Vorbild, wie man mit anderen Ländern und Völkern umgehen soll.

Genau vor 60 Jahren hielt er nämlich eine Rede, in der er sich gegen den Kalten Krieg und die herrschende Mentalität aussprach und die Frage stellte: „Welche Art von Friedenwollen wir?“ Seine klare Antwort: „Nicht eine Pax Americana, die der Welt durch US-amerikanische Kriegswaffen aufgezwungen wird. Nicht Friedhofsruhe oder die Sicherheit von Sklaven. Ich spreche von echtem Frieden, der Art von Frieden, die das Leben auf der Erde lebenswert macht, der Art, die es Menschen und Nationen ermöglicht, zu wachsen, zu hoffen und ein besseres Leben für ihre Kinder aufzubauen – nicht nur Frieden für Amerikaner, sondern Frieden für alle Männer und Frauen – nicht nur Frieden in unserer Zeit, sondern Frieden für alle Zeit.“

Leider hat keiner seiner Nachfolger diese Vision zu realisieren versucht. Ganz im Gegenteil. Seit demZusammenbruch der Sowjetunion 1991 behaupten sich die USA obstinat als Hegemon über die Welt mit 800 Militärstützpunkten ausserhalb ihres eigenen Landes und einer auf den Dollar zugeschnittenen Finanzpolitik, um die Welt an ihrer Kandare zu führen. Nicht nur der oberste US-General, sondern auch zunehmend US-Wissenschaftler haben erkannt, dass die Hegemonie der USA schwindet und starke Völker einzeln oder im Verbund die Weltordnung mitbestimmen. So ist auch der britische Historiker Adam Tooze der Meinung, dass es für die Politik an der Zeit ist, dem weit überwiegenden Friedenswillen der Völker zu folgen.

Vergleicht man das heutige Gebaren der USA und ihrer Vasallen im Ukraine-Konflikt und dem Kriegsgerede um Taiwan mit den Vorstellungen von Kennedy 1963, muss man eine todbringende Verschlechterung der westlichen Politik feststellen. Und sie beharrt darauf obstinat. Ja sogar deroberste US-General, der endlich offen über die schoneingetretene multipolare Weltordnung spricht, kann sich offenbar von der herrschenden Mentalität nicht frei machen. Vor 630 Militär-Studenten beschwor er, dass es für die USA bei den kommenden Veränderungen kritisch sei, sich gegen Angriffe zur Wehr zu setzen und die regelbasierte internationale Ordnung aufrecht zu erhalten. Und wörtlich zu den Studenten: „Und ihr, jeder von euch, werdet diese Veränderung anführen.“ Also trotz besserer Erkenntnisse doch obstinat weiter mit „America First“, bis es ihnen im Halse stecken bleibt und sie schließlich nur noch röcheln?

Urheberrecht
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Wer profitiert davon ?

Erstellt von Redaktion am 14. Juni 2023

Die Macht der künstlichen Intelligenz

Plenarsaal

Ist so viel selbst aufgeblasene Intelligenz nicht schon zu viel für das Volk ?

Ein Schlagloch von Georg Diez

Die Machtfrage wird bei KI zu verengt gestellt. Es geht nicht nur um den technologischen, sondern auch um den ökonomischen Aspekt.

Wir leben in einer propagandistischen Periode. Das heißt, dass das Verhältnis von Wahrheit und Lüge durch die Interessen der Macht gekennzeichnet ist, vor allem derjenigen von Politik und Kapital, und sich stark zur Lüge hin verschiebt. Der Unterschied zum vorangegangenen Regime der Wahrheit besteht darin, dass sich die Wahrheit damals im politisch-medialen Raum in einem elastischeren Verhältnis zur Lüge verhielt. Man nannte das Spin, also den entscheidenden Dreh, der aus der Wahrheit etwas anderes machte als die Wahrheit selbst.

„Die Rente ist sicher“ ist so ein Spin-Satz oder „Merkel rettet Griechenland“ oder auch „Wir schaffen das“: Wahrheit plus Intention plus Interessen gab der Aussage einen Drall, aber die Verbindung zur Wahrheit war, im Unterschied zur Lüge, nicht vollständig gekappt. Ein Beispiel für Propaganda aus den letzten Tagen ist zum Beispiel der Satz von Innenministerin Nancy Faeser von der SPD, wonach die harsche neue EU-Richtlinie zur Migrationspolitik ein „historischer Erfolg“ sei „für den Schutz der Menschenrechte“.

Von ähnlich propagandistischer Qualität ist so gut wie alles, was in den vergangenen Wochen und Monaten von Google, Microsoft oder Sam Altman von OpenAI zum Thema künstliche Intelligenz gesagt wurde – hier warnten Menschen vor den Folgen der Technologie, die sie gerade selbst entwickeln, als hätten sie es nicht selbst in der Hand, diese Technologie so zu gestalten, dass sie nicht gefährlich ist.

Mehr noch, es sind mächtige Privatunternehmen wie Google, die seit Jahren genau die Stimmen stigmatisieren oder aus dem eigenen Unternehmen drängen, die bei der Entwicklung etwa von KI vor Rassismus oder Sexismus warnen – und daraufhin entlassen wurden, Kate Crawford etwa oder Timnit Gebru.

Ungleichheit durch unregulierten Einsatz von KI

Die Straßen sind nicht privat kontrolliert, warum sollte es die Infrastruktur im Digitalen also sein?

Seltsamerweise verbreiten fast alle Medien diese Propaganda ziemlich unhinterfragt und eins zu eins: Wenn sehr viele weiße Männer einen mahnenden Brief unterschreiben und davon raunen, dass die Technologie, noch mal, die sie selbst entwickeln, zur „Auslöschung“ der Menschheit führen könne – und diese Aussage eben nicht nur sci-fi-haft vage und unpräzise ist, sondern vor allem gegenwärtigen Machtmissbrauch genau dieser Firmen verschleiert – etwa in Bezug auf Kooperationen mit dem Militär oder der Überwachungspraxis auch in demokratischen Staaten oder auch mit Blick auf die „Auslöschung“ von Arbeitsplätzen oder die plausible Perspektive exponentiell wachsenden Reichtums verbunden mit massiv zunehmender Ungleichheit durch den unregulierten Einsatz von KI.

Wenn nun etwa Sam Altman einen PR-Blitz mit dem US-amerikanischen Kongress und Ursula von der Leyen und allen möglichen Staatschefs vollführt und davon spricht, dass seine Industrie dringend reguliert werden sollte, dann muss man eigentlich kein Gedankenkünstler oder Hardcore-Marxist sein, um zu vermuten, dass er sicher nicht meint, dass er etwas von der Macht oder dem Einfluss oder dem Gewinnpotenzial der Firma ­OpenAI abgeben will, die er mitbegründet hat.

Aber weil der Diskurs über Digitalisierung im Allgemeinen und künstliche Intelligenz im Speziellen so einseitig und kurzatmig geführt wird, bleiben die Fragen der politischen Ökonomie weitgehend ausgeblendet: Wer profitiert also von „Regulierung“, die ja am Ende doch weitgehend selbst gestaltet sein sollte, so die Logik, und vor allem den technologischen und nicht den ökonomischen Aspekt betrifft.

Technologie nicht von Ökonomie zu trennen

Tatsache ist aber, dass die Technologie nicht von der Ökonomie zu trennen ist. Gefährlich wird die künstliche Intelligenz auf absehbare Zeit vor allem dadurch, dass sie eben kapitalistischen Profitinteressen unterworfen ist: Erst dadurch entsteht die eklatante Intransparenz bei der Entwicklung, das Zukunftsversprechen als „Blackbox“.

Erst dadurch ergeben sich das manipulative Potenzial und die private Kontrolle über einen gewaltigen technologischen Entwicklungssprung, der wie alle technologischen Entwicklungen letztlich eine Form von Infrastruktur annimmt. Die (allermeisten) Straßen sind auch nicht privat kontrolliert, warum sollte es die Infrastruktur im Digitalen also sein?

Die beiden Wirtschaftswissenschaftler Daron Acemoglu und Simon Johnson haben auf diese notwendigen marktwirtschaftlichen Fragen der Regulierung von KI gerade in einem Essay für die New York Times hingewiesen. Letztlich kommen sie zu dem Schluss, dass nicht in erster Linie die Macht von KI, sondern die Macht- und vor allem die Kapitalkonzentration der Firmen wie Microsoft oder Google das drängendste Problem sind.

Höhere Steuern für Google

Quelle       :         TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Solidarität – Julian Assange

Erstellt von Redaktion am 14. Juni 2023

Ein mörderisches System gegen Pressefreiheit und die Dokumentation von Kriegsverbrechen

Demonstration in front of Sydney Town Hall in support of Julian Assange, 2010, December 10

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von               :      Thespina Lazaridu (Free Assange Köln) /

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 479, Mai 2023, www.graswurzel.net

Julian Assange ist der Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks. Ihm drohen 175 Jahre Gefängnis für die Veröffentlichung von Dokumenten, die Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak dokumentieren. (1)

Julian Assange: „Wir sind nicht in dem Geschäft, um Likes zu sammeln. WikiLeaks macht Dokumente über mächtige Organisationen öffentlich. Für die Mächtigen werden wir immer die Bösen sein.“Seit 2010 ist er seiner Freiheit beraubt. Seit mehr als vier Jahren ist er in Isolationshaft im Londoner Hochsicherheitsknast Belmarsh, eingesperrt und psychischer Folter ausgesetzt.WikiLeaks war eine Antwort auf das globalisierte Vakuum von Verantwortlichkeit und änderte die Spielregeln zugunsten der Gegenwehr von Einzelnen. Die Idee von WikiLeaks ist der freie Zugang zu Informationen, die öffentliche Angelegenheiten betreffen. Auf der Enthüllungsplattform können Dokumente anonym veröffentlicht werden, die durch Geheimhaltung als Verschlusssache, Vertraulichkeit, Zensur oder auf sonstige Weise in ihrer Zugänglichkeit beschränkt sind.

Julian Assange gründete Wiki-Leaks 2006 zusammen mit einer aus Männern und Frauen bestehenden internationalen Gruppe von Dissident:innen, Computerspezialist:innen und Journalist:innen. Immer schon gab es ein Missverhältnis zwischen den traditionellen Machtzentren und deren Kontrolle durch die investigative Berichterstattung. Konsortien, Banken, Regierungen und Geheimdienste steuern zunehmend die Informationsbereitstellung. Die Deutungshoheit über das, was im Interesse der Öffentlichkeit ist, wird zunehmend zu einer rigiden Machtdemonstration.

Die erstaunlichen Sicherheitsvorkehrungen von WikiLeaks garantieren internationalen Hinweisgeber:innen Sicherheit und Anonymität. Diese Whistleblower nutzen die Gelegenheit und geben mehr als zehn Millionen (!) geheimgehaltener Dokumente weiter, u.a. konkrete Nachweise zu Korruption, Umweltverbrechen, Folterungen und Kriegsverbrechen. Jedes einzelne Dokument wird vor der Veröffentlichung auf die Echtheit überprüft.

Ab 2010 intensivierten die US-amerikanische Regierung und ihre Geheimdienste die Anstrengungen, um WikiLeaks auszuschalten. Cloud-Dienste und Konten wurden gesperrt und Internetdomains, mit denen WikiLeaks arbeitete, wurden blockiert. Aber WikiLeaks erfuhr eine breite, auch finanzielle Unterstützung, spiegelte die Daten auf hunderte anderer Server, änderte Domainnamen und veröffentlichte weiter.

Die US-Behörden sahen sich gezwungen ihre Strategie zu ändern. Sie richteten den Fokus auf die Person Julian Assange, statt auf die Plattform WikiLeaks und die Hetzjagd begann. Julian Assange wurde nun zum heissen Eisen für die grossen Medienhäuser, die vorher von seinen Veröffentlichungen profitiert hatten. Sie liessen ihn fallen. Die investigative Presse bemühte sich nicht, die erhobenen Vorwürfe zu untersuchen. Nicht lange nach den Veröffentlichungen der grössten Leaks der US-Militärgeschichte und den Beweisen für Folter und Kriegsverbrechen, wurde Julian Assange der Vergewaltigung bezichtigt.

Zu den erfolgreichsten in Umlauf gesetzten Fake-News des vergangenen Jahrzehntes gehört, wie dank der Untersuchungen von Professor Nils Melzer offenbart wurde, die Erzählung, dass zwei Frauen im August 2010 bei der schwedischen Polizei gegen Julian Assange Anzeige wegen Vergewaltigung erstattet hätten. Der WikiLeaks-Gründer hätte sich anschliessend durch Flucht nach England der schwedischen Justiz entzogen. Nils Melzer war bis 2022 UNO-Sonderberichterstatter für Folter. Er spricht fliessend Schwedisch und konnte somit alle Originaldokumente lesen.

Eine bizarre Geschichte kurz erzählt:

Eine Frau in Begleitung einer zweiten, erschien bei der Polizei. Die Frau wollte lediglich wissen ob sie, nach einvernehmlichem Sex mit Assange, ihn zu einem AIDS-Test verpflichten kann. Sie bemerkte, dass die Polizei offenbar etwas anderes daraus machen wollte, war schockiert und verliess die Wache. Bereits Stunden später titelte die schwedische Boulevardpresse: „Julian Assange der zweifachen Vergewaltigung beschuldigt“. Einen Tag nach der Einvernahme der ersten Frau bei der Polizei und der Schlagzeile in der Presse, erschien die Begleiterin und bezichtigte Assange, er habe gegen ihren Willen ungeschützten Sex mit ihr gehabt. Nach schwedischen Gesetzen käme das einer Vergewaltigung gleich.

Im Verlauf meldete sich Assange mehrfach bei der Polizei, um Stellung zu nehmen, die hielt ihn hin. Nils Melzer: „Die schwedischen Behörden waren an der Aussage von Assange nie interessiert. Sie liessen ihn ganz gezielt ständig in der Schwebe.“ Auf Assanges Bitte, das Land verlassen zu können, bekam er die schriftliche Einwilligung der Staatsanwaltschaft und reiste weiter nach London. Aber kaum, dass er das Land verliess, wurde ein internationaler Haftbefehl gegen ihn erlassen. Er bot auch in London der schwedischen Justiz weiterhin seine Kooperation an.

Dann bekam er Wind von einem Komplott gegen ihn. Er forderte fortan von der schwedischen Regierung eine diplomatische Zusicherung, dass er nicht weiter an die USA ausgeliefert wird, wenn er in Schweden aussagt. Die Schweden mauerten und die britische Justiz mischte sich ein, um eine Einstellung des Verfahrens zu verhindern. Nils Melzer: „Stellen Sie sich vor, Sie werden neuneinhalb Jahre lang von einem ganzen Staatsapparat und von den Medien mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert, können sich aber nicht verteidigen, weil es gar nie zur Anklage kommt.“ Die grossen Medienhäuser wie die New York Times, der Guardian, der Spiegel und andere, hatten am Honigtopf der WikiLeaks-Informationen partizipiert.

Beispiele für die Aufklärungsarbeit von WikiLeaks

Durch die Arbeit von WikiLeaks wurden unter anderem folgende Informationen veröffentlicht: Korrupte Geschäftspraktiken der Schweizer Bank Julius Baer, Dokumente über die Praktiken der Scientology-Sekte, der Giftmüllskandal der Firma Trafigura, die illegale Rodung des Regenwaldes in Peru durch den norwegischen Ölkonzern Statoil, die enge Verbindung des damaligen französischen Präsidenten Hollande mit der französischen Waffenindustrie.

File:Reporters Sans Frontières manifeste à Londres en Soutien de Julian Assange.jpg

Das Dokument „Black-Shock“ der russischen Zentralbank mit Hinweisen auf den Diebstahl grosser Geldsummen aus dem staatlichen Haushalt. Ebenso E-Mail-Korrespondenzen der russischen Regierung zu geheimen Treffen mit dem Chef des Ölkonzerns BP, die die umstrittene Ölförderung auf der Insel Sakhalin offenlegten. US-Diplomatendepeschen mit Informationen über Korruption und Menschenrechtsverletzungen in Russland und über seine politischen Führer, einschliesslich des Premierministers Putin.

Eine andere grosse Dokumenten-Sammlung enthüllte, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) in grossem Umfang E-Mails, Telefonate und Faxnachrichten von deutschen Bürger:innen ausspionierte und diese Daten mit dem US-amerikanischen Auslandsgeheimdienst National Security Agency (NSA) teilte.

Für Aufsehen sorgte auch die Dokumentation der TiSA-Leaks zu TTIP, dem transatlantischen Freihandelsabkommen zwischen USA und der EU. Weitere wichtige Publikationen betrafen die Spionage-Praktiken der CIA (Central Intelligence Agency) und die Verwendung von Hacking-Tools und Malware, um Computer-Systeme in europäischen Botschaften und Konsulaten zu infiltrieren und Daten abzufangen. Dokumente mit Hinweisen auf ein chinesisches Massen-Überwachungssystem zur Unterdrückung von Muslimen in Xinjiang wurden ebenfalls veröffentlicht.

Die „Afghan War Diary“ umfasste ca. 77.000 Afghanistan-Protokolle; Dokumente, die sich auf die Kriege in Afghanistan und im Irak bezogen. Darunter war ein interner Bericht der CIA, der PR-Strategien erörtert, wie in der Bevölkerung Deutschlands und Frankreichs die Akzeptanz für den Einsatz in Afghanistan weiter erhalten werden kann – demnach seien die Rechte afghanischer Frauen ideal, um den Kriegseinsatz in den Augen der Deutschen als human darzustellen. Sie enthalten auch Informationen über die Rolle Grossbritanniens in diesen Konflikten und belegen, dass britische Truppen Zivilist:innen töteten und Gefangene folterten.

Im April 2010 veröffentlichte WikiLeaks das Video „Collateral Murder“ und machte damit Kriegsverbrechen des US-amerikanischen Militärs im Irak bekannt. Das Video ist eine Aufzeichnung aus einem US-Kampfhubschrauber. Es zeigt, wie amerikanische Soldaten grundlos und mit zynischem Eifer auf irakische Zivilist:innen, auch auf bereits Schwerverletzte und Menschen, die zu Hilfe eilen, schiessen. Zwölf Menschen wurden dabei getötet, zwei Kinder schwer verletzt. Zwei der Getöteten waren Journalisten der Agentur Reuters. Die Weltgesellschaft reagierte mit Empörung.

Die „Iraq War Logs“ – tausende Feldberichte von 2004 bis 2009 von US-Soldaten, aus einer Datenbank des Pentagon – wurden öffentlich. Auch die Informationen, dass von den 109.032 irakischen Kriegsopfern 66.081 Zivilist:innen waren, kamen ans Licht. Es handelte sich also keinesfalls um einen „sauberen“ Krieg.

Es gab mehr als 700 Protokolle über das Gefangenen-Lager Guantanamo – Dokumente über Gefangene, die ohne Anklage und ohne Gerichtsverfahren Folter erlitten. Weitere Dokumente folgten, wie zum Beispiel zu undemokratischen Wahlkampftaktiken von Hillary Clinton und dem Betrug des Clinton-Teams an Bernie Sanders während der US-Präsidentschaftskampagne.

Dokumente und Informationen über CIA-Leaks „Vault 7“, ein geheimes CIA-Programm, das zu breiter Überwachung über verschiedene elektronische Geräte wie Smartphones, Fernseher und Computer abzielte, waren das grösste Leak in der Geschichte der CIA.

Alles oben aufgezählte ist nur eine kleine Auswahl der brisanten Informationen von WikiLeaks, die auch Hinweise auf das Schicksal von Julian Assange und seine Verfolgung geben. Julian Assange, der den Mächtigen der Welt die Stirn bot, verblasste hinter dem Bild eines Vergewaltigers. Aber damit war es nicht genug. Weitere Vorwürfe tauchten auf. Das Pentagon behauptete, Assange habe auf WikiLeaks Material veröffentlicht, ohne darin Namen zu schwärzen. Damit habe er Menschen in Gefahr gebracht. Ein damaliger Spiegel-Journalist, der an dem Material mit WikiLeaks arbeitete, belegte, dass zum einen Guardian-Journalisten verantwortlich für die Veröffentlichung waren und, dass zum anderen, Assange als er davon erfuhr, sofort das US-Aussenministerium anrief und warnte. Das Ministerium allerdings reagierte nicht.

Es ist den US-Behörden nicht gelungen, Nachweise für ihre Behauptung zu erbringen. Der Chaos Computer Club (CCC) meldete im Dezember 2022, dass er an hochsensible biometrische Daten von 2.632 afghanischen Personen gelangte. Das US-Militär habe massenhaft Geräte zur biometrischen Erfassung von Menschen in Afghanistan genutzt. Beim Abzug der US-Truppen blieben die Geräte zurück. Einige Geräte „erbeutete“ der CCC bei einem Online-Aktionshaus. Die Daten sind nicht verschlüsselt. Das US Department of Defense wurde informiert, verwies aber bloss an den Hersteller. Wie viele der Geräte den Taliban in die Hände fielen und ihnen eindeutige Personen-Identifikationen ermöglichten, ist nicht bekannt.

Bezüglich der Veröffentlichungen der E-Mails des „Democratic National Congress“ (DNC), die den Betrug des Clinton-Teams an Bernie Sanders offenbarten, wurde WikiLeaks immer wieder vorgeworfen, russischen Propagandazwecken und gezielter Desinformation zu dienen. Dabei hatte selbst der damalige US-Präsident Obama keine Hinweise auf eine Zusammenarbeit von WikiLeaks mit Russland. Inzwischen gehen sogar die US-Behörden davon aus, dass die Dokumente von einer privaten Firma gekommen sind, die für die CIA arbeitete. Ebenso sollen diese Veröffentlichungen für den Wahlsieg Donald Trumps verantwortlich gewesen sein. Dass viele Menschen Hillary Clinton und ihr politisches Lager womöglich auch wegen ihrer korrupten Machenschaften nicht mehr wählten, wird dabei ausser Acht gelassen.

Nach Obama und Trump ist Biden der dritte US-Präsident, der auf eine Auslieferung Assanges besteht. Das erklärte Ziel dürfte ein Schauprozess sein, in dem Assange kaum das Recht zugestanden wird, sich zu verteidigen. Denn die Inhalte, auf die er eingehen müsste, werden selbst vor Gericht weiterhin als Staatsgeheimnisse behandelt.

Nachdem dem Auslieferungsgesuch Schwedens von Grossbritannien zugestimmt wurde, ersuchte Julian Assange 2012 um Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London. Das Asyl wurde ihm gewährt und später wurde ihm auch die ecuadorianische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Fortan lebte er sieben Jahre auf winzigem Raum. Er konnte die Botschaft niemals verlassen. Vor dem Gebäude stand Tag und Nacht ein riesiges britisches Polizeiaufgebot, um ihn sofort zu verhaften. Assange wurde kein Tageslicht und auch kein Spaziergang gewährt. Ärztliche Behandlungen waren nur in der Botschaft möglich. Assange veröffentlichte mit WikiLeaks weiter. Internationale Persönlichkeiten aus Politik, Kunst und Presse kamen zu ihm.

Später stellte sich heraus, dass die Sicherheitsfirma, die die Botschaftsüberwachung betreute, heimlich für die CIA arbeitete. Die Räume waren verwanzt. Nicht nur Assange wurde rund um die Uhr ausspioniert, sondern auch alle seine Besucher und Besucherinnen. Die Anwaltsgespräche erfuhren besondere Aufmerksamkeit. Alle gesammelten Daten, inklusive gestohlener Dokumente, wurden an die US-Behörde weitergeleitet. Fast nichts blieb verborgen. UN-Experten kamen 2016 zu dem Schluss, dass Assanges Aufenthalt in der Botschaft einer willkürlichen Verhaftung gleichkomme und er auf freien Fuss gesetzt werden sollte.

Professor Melzers Vorwürfe gegen die Behörden in Schweden, Ecuador, Grossbritannien und den USA sind drastisch. Sie haben „mit ihrer geballten Macht“ aus „einem Mann ein Monster“ gemacht, ist in einem Interview zu lesen (2), und wesentlich umfassender in Melzers sehr empfehlenswertem Buch (3). Die Regierung Ecuadors wechselte und auf Druck der USA wurde Assange in der Botschaft immer restriktiver behandelt. 2019 wurde ihm unrechtmässig die Staatsbürgerschaft über Nacht aberkannt und die britischen Behörden bekamen Zugang.

Am 11. April 2019 wurde Assange verhaftet, gerade als die USA eine Anklageschrift enthüllten, in der Julian Assange eine kriminelle Verschwörung vorgeworfen wurde, die zu „einer der grössten Kompromittierungen von Geheiminformationen in der Geschichte der Vereinigten Staaten“ geführt habe.

Das Auslieferungsgezerre zog sich hin. Assange wurde nach seiner Verhaftung wegen Verstoss gegen Kautionsauflagen, ein Bagatellvergehen, 2019 in den Hochsicherheitsknast Bellmarsh eingesperrt und sitzt seitdem die meiste Zeit in Isolationshaft. 2021 urteilte ein britisches Gericht gegen die Auslieferung, da das Selbstmordrisiko Assanges bei einer Überstellung in unverantwortlichen Masse steigen würde. Assange blieb auch weiterhin in Isolationshaft in Belmarsh, die USA legten erfolgreich Berufung ein.

Sodann entschied der Oberste Gerichtshof Grossbritanniens, dass Assange keine Berufung gegen die Entscheidung der unteren Instanz einlegen könne, da sein Fall „keine vertretbare Rechtsfrage aufwerfe“. Einen Monat später wurde der Auslieferungsantrag der USA formell genehmigt und im nächsten Schritt in die Hände von Innenministerin Priti Patel übergeben, die den Auslieferungsbeschluss unterzeichnete.

Das britische Innenministerium erklärte, die britischen Gerichte hätten nicht feststellen können, dass eine Auslieferung mit Assanges „Menschenrechten, einschliesslich seines Rechts auf ein faires Verfahren und auf freie Meinungsäusserung“ unvereinbar sei. Die Verteidigung Assanges hat Revision eingelegt, eine Entscheidung ob sie angenommen wird, steht seit langer Zeit aus. Die Sprecherin des US-Justizministeriums bestätigte derweil kürzlich, dass die USA ihre Bemühungen um die Auslieferung fortsetzen werden. Soviel zum Überblick, trocken und mit vielen Auslassungen. Hoffentlich aber mit genügend Informationen, die euch neugierig machen.

Wir schreiben über den Fall von Julian Assange, weil wir versuchen, auch über Aktionen darauf aufmerksam zu machen. Warum tun wir das? Weil wir erkannt haben, welche Auswirkungen der politische und juristische Umgang mit Julian Assange auf unser aller Leben und Agieren hat. Julian ist ein Mensch, der systematisch vernichtet wird. Die vielgelobte Achtung der Menschenrechte, grade wieder viel beschworen, gilt nicht für ihn, der unter anderem US-amerikanische Kriegsverbrechen für uns öffentlich gemacht hat. Die Rechtsstaatlichkeit, derer sich demokratische Staaten rühmen und sich dadurch als demokratisch definieren, wird in den Verfahren gegen Assange ausser Kraft gesetzt. Nicht rechtsstaatlich, sondern willkürlich und roh geht die Justiz gegen ihn vor. Er hat niemanden geschont in seinen Veröffentlichungen, auch die Machteliten der sogenannten demokratischen Staaten nicht, inklusive der Presse, die sich vor der Macht wegduckt. Dafür rächen sie sich.

Aber es ist nicht nur Assange, um den es geht. Wir alle sollen an seinem Beispiel sehen, was uns geschieht, wenn wir uns auflehnen. Wir sollen lernen, dass es gesünder für uns ist, möglichst wenig Aufstand zu proben. Es soll eine Lektion in Sachen Wehrlosigkeit sein: „Wen interessiert, was ihr zu sagen habt oder durchsetzen wollt, ihr habt keine Chance; schaut, wie weit wir gehen können.“ Leider schauen viele weg, und lernen zu schweigen. Aber immer mehr und mehr durchschauen diese Machtdemonstration. Unsere Aktionsgruppe Free Assange Köln wird weiterhin hörbar und sichtbar auf Julian Assanges Situation aufmerksam machen; auf unser Recht und auf die Notwendigkeit von freier Information und die Auflehnung gegen Missstände.

Fussnoten:

(1) Vgl. Schwerpunkt GWR 456, Februar 2021: Freiheit für Julian Assange! Über Folter und Willkür westlicher Staatsräson, https://www.graswurzel.net/gwr/2021/02/freiheit-fuer-julian-assange/

(2) https://www.republik.ch/2020/01/31/nils-melzer-spricht-ueber-wikileaks-gruender-julian-assange

(3) Nils Melzer: Der Fall Assange – Geschichte einer Verfolgung, Pieper Verlag. Das Buch erscheint im Juni 2023 auch als Taschenbuch

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —       Demonstration in front of Sydney Town Hall in support of Julian Assange, 2010, December 10

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Innenministerkonferenz:

Erstellt von Redaktion am 14. Juni 2023

Polizei setzt ohne Rechtsgrundlage Handy-Blitzer ein,
die allen ins Auto filmen und das auswerten

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von         :       

Eine neue Überwachungstechnik im Straßenverkehr deutet sich im bundesweiten Einsatz an. Rheinland-Pfalz geht mit Kamera und Computerauswertung gegen Smartphonenutzer am Steuer vor. Doch ist dieser Eingriff wegen einer Ordnungswidrigkeit gerechtfertigt?

Die Polizei in Rheinland-Pfalz setzt ohne Rechtsgrundlage seit mehr als einem Jahr sogenannte „Handy-Blitzer“ ein, die eine verbotene Nutzung des Smartphones im Straßenverkehr dokumentieren sollen. Dabei wird mit einer Kamera anlasslos in alle vorbeifahrenden Autos hineingefilmt. Eine Software wertet die Aufnahmen aus und speichert dann die Fahrer:innen, die angeblich ihr Smartphone benutzen.

Die Polizei überprüft dann diese maschinell überführten Autofahrer:innen und leitet gegebenenfalls Bußgeldbescheide ein. Bei der Innenministerkonferenz will Rheinland-Pfalz nun diese neue Überwachungstechnik vorstellen, das Land Brandenburg prüft den Einsatz schon jetzt.

In einem Artikel im Spiegel wird die Technik folgendermaßen beschrieben:

Das System, die Monocam, besteht aus einem leistungsfähigen Laptop, einer Kamera und einer KI-gestützten Software, die sogenannte Ablenkungsverstöße voll automatisiert erkennt, also wenn jemand am Steuer ohne Freisprechanlage telefoniert oder in sein Handy tippt. Das Programm wurde vorher mit rund 20.000 Fotos von Fahrzeugführern gefüttert, die das taten. Die Kamera filmt dann den fließenden Verkehr, die Software gleicht das Geschehen auf der Straße mit den Bildern der Handysünder ab. Ist da ein Mobiltelefon im Bereich des Fahrers? Und falls ja, wird es von einer Hand umschlossen? Trifft das zu, signalisiert das Programm einen Treffer. Den schauen sich dann Kontrollkräfte vor Ort an. Am Ende entscheidet immer der Mensch, ob ein Verstoß vorliegt oder nicht.

Keine Rechtsgrundlage

Doch das Verfahren ist derzeit noch umstritten. Laut einem Bericht des ADAC dürfen nach geltender Rechtslage für Verkehrsverstöße verwertbare Foto- und Videoaufnahmen nur bei konkretem Tatverdacht, also nicht verdachtsunabhängig erstellt werden. Genau das passiert aber mit der neuen Überwachungstechnik aus den Niederlanden, bei der alle Autos gleichermaßen und verdachtsunabhängig überwacht werden. Rheinland-Pfalz will deswegen demnächst dafür eine Rechtsgrundlage schaffen.

Juristisch unklar ist auch, ob das bloße in der Hand Halten eines Smartphones ausreicht oder ob das Handy auch bedient werden muss, damit es strafbar ist. Klar ist: Wer kurz auf die Messenger-Nachricht antwortet oder mal eben mit einer Freundin telefoniert, dem drohen 100 Euro Bußgeld und ein Punkt in Flensburg. Bislang konnte die Polizei diese Art der Verkehrssünder nur überführen, wenn sie es selbst sah und dann einschritt. Mit der neuen Technik dürfte die Zahl der überführten Autofahrer:innen deutlich steigen.

Klar ist allerdings, dass die neuen Blitzer die Dichte der Überwachung im Straßenverkehr weiter erhöhen. Während für den Einsatz der Kennzeichenerfassung enge rechtliche Grenzen gelten und diese Fahndung nur bei schweren Straftaten eingesetzt werden darf, filmt der neue Handy-Blitzer grundrechtsinvasiv ins Auto hinein und wertet dann aus, was wir dort tun. Und das zur Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit. Hinzu kommen andere Überwachungsmethoden, wie die Section Control, bei der Kennzeichen erfasst werden und auf einer Strecke die Durchschnittsgeschwindigkeit ermittelt wird. Durch all diese Technologien wird das Netz der Überwachung auf den Straßen immer enger – die Überwachung, die in modernen Autos selbst und meist ohne unser Wissen stattfindet mal ganz außen vor.

Digitalcourage warnt vor Ausweitung

Die Datenschützer:innen von Digitalcourage lehnen das Vorhaben ab, so Konstantin Macher, ein Sprecher der Organisation: „Damit wird eine technische Infrastruktur installiert, die sich einfach auf andere Zwecke anpassen lässt.“ Während jetzt noch nach Handys gesucht werde, könnten mit einem Update auch nach anderen Gegenständen gesucht werden. Auch sei, wenn Kameras und „KI“ schon vorhanden seien, die automatisierte Gesichtserkennung nicht weit.

„Es ist besonders problematisch, so einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ohne Rechtsgrundlage umzusetzen. Das macht eine demokratische Kontrolle der eingesetzten Überwachungstechnik schwierig“, so Macher weiter. Man sei zwar dagegen, dass Menschen durch unaufmerksames Fahren andere Menschen gefährden, eine anlasslose Massenüberwachung sei aber keine verhältnismäßige Maßnahme, um dagegen vorzugehen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —       Automatic Number Plate Recognition (ANPR). ANPR (Automatic Number Plate Recognition) is now the world rage use of this software and camera. Now, parking and highway traffic management have become easier with the ANPR camera and the software. It also knows as license plate recognition(LPR). Now I discuss in detail the ANPR Camera and software. Advantages of ANPR camera and software. 1. Car Parking Management. We can manage our parking system with the ANPR camera when a car came to the front of the camera automatically scan the Number plate or license plate of this car and then store it in the database. 2. Journey Time Analysis. The camera keeps the data of the coming and going of the cars and give you the data when it came and when it goes. 3. Traffic Management An ANPR system can manage traffic also because if any vehicle breaks the rule of traffic then the camera automatically detects the car and keep the data in the case files. It can count the number of cars or vehicles that pass through the ANPR camera.

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KOLUMNE – La dolce Vita

Erstellt von Redaktion am 14. Juni 2023

Wir müssen über Strategien gegen rechts reden

Von    :    Amina Aziz

Letzte Woche hatte ich frei, und um es mit den Rock-Poet*innen der frühen 2000er, „Juli“, zu sagen: Ich hatte eine geile Zeit.

Zurück aus dem Urlaub, merke ich aber, dass er nicht über die Beklemmung hinwegtäuschen kann, die mich einholt, wenn ich an den Zustand der Welt denke. Zugegeben, das hört sich groß an, und der Zustand war ja im Zeitalter des Kapitalismus nie gut. Doch was Rechte und Rechts­ex­tre­mis­t*in­nen alles erreichen, bereitet mir Sorgen.

Die Liste ist lang. Der Westen schottet sich von Flüchtenden ab, vor allem denen, die aufgrund der Klimakrise und prekärer Lebensverhältnisse fliehen. In der EU ist entsprechend das Recht auf Asyl menschenverachtend verwässert worden. Trans Menschen wird unter der verharmlosenden Bezeichnung „Kulturkampf“ ihre Existenz abgesprochen, Gewalt gegen Jü­d*in­nen nimmt zu, die AfD genießt so viel Zustimmung wie nie, die Klimakrise wird nicht effektiv bekämpft, und, und, und.

File:Keine AFD V1.svg

Nicht nur die Blauen, auch die Schwarten müssen versauern !

Die Ampelkoalition hat dem offenbar kaum etwas entgegenzusetzen. Wenn aber auf die Politik im Kampf gegen rechts kein Verlass ist, sie selbst sogar rechte Entscheidungen trifft, müsste die Zivilgesellschaft ran. Die gesellschaftliche Mitte aber stemmt sich nicht so gegen Rechte und Nazis, wie sie es müsste, um sie zu schwächen. Teils ist sie nach rechts offen. Wir leben in Deutschland in Parallelwelten, in denen der öffentliche Diskurs teils von Leuten geprägt wird, die ihr Haus abbezahlt haben und scheinbar keine anderen Sorgen als eine Wärmepumpe haben und sich zu Opfern der Grünen und „Woken“ stilisieren, weil sie sonst keine Hobbys finden, während andere ihre Einkäufe, Miete und Strom nicht zahlen können.

Es ist verständlich, dass die Mitte ein Interesse an der Wahrung ihres Wohlstands hat, aber sie ziemlich unkreativ dabei, dafür zu sorgen, dass das nicht nationalistisch und armenfeindlich passiert. Es wird kaum intellektuell herausfordernd über Strategien gegen rechts diskutiert. Oft gibt es kein Bewusstsein dafür, dass dem Kapitalismus menschenfeindliche Ideologien innewohnen und die Politik gar kein Korrektiv dafür sein kann. Wer über Alternativen nachdenkt, wird schnell anti-intellektuell mit der „Drohkulisse Linksextremismus“ konfrontiert. Dabei wäre eine Debatte um Alternativen hilfreich für das eigene politische Agieren.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben     —    Kostüm von Danilo Donati für „Il Casanova“, Film von Federico Fellini en 1976, Schauspieler Donald Sutherland. – Anita Ekberg – Giulietta Massina et Marcello Mastroianni / Kostüme, Accessoires, Dessins, Dekore, Scénarios, Fotografien, Montage, Postproduktion.

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Ärzte rufen zum Boykott

Erstellt von Redaktion am 13. Juni 2023

Deutsche HNO-Ärzte weigern sich, Kinder zu operieren

Quelle      :        INFOsperber CH.

Martina Frei /   

107 Euro für eine Operation seien zu wenig, sagen Fachverbände. Sie riefen zum OP-Boykott auf. Die Leidtragenden sind die Kinder.

Seit einem Jahr hört Lukas* schlechter. Während der Sprechstunde in der Praxis des bayrischen HNO-Arztes Rainer Jund sieht der Junge aus dem Fenster, sein Blick wirkt schläfrig. «Manchmal hat man den Eindruck, dass er völlig abwesend ist», berichtet Lukas Vater. Lukas ist heute bereits das dritte Kind mit denselben Problemen in der Sprechstunde.

Der Grund für Lukas Beschwerden sind seine riesigen Rachen- und Gaumenmandeln. Sie engen den Luftweg ein und erschweren dem Kind das Atmen. Um trotzdem ausreichend Luft zu bekommen, hat der Knabe den Mund ständig leicht geöffnet. Jede Nacht erwache sein Sohn zwei- bis dreimal, sagt der Vater. «Er schläft seit einem Jahr nicht mehr durch.»

Etwa eines von 100 Kindern bekommt wie Lukas beim Schlafen nicht genügend Luft und hat nächtliche Atemaussetzer. Die von solchen Schlafapnoen betroffenen Kinder sind tagsüber müde oder hyperaktiv. Ihr Blutdruck kann wegen des nächtlichen Sauerstoffmangels steigen. Meist hören sie auch schlechter, weil die grossen Rachenmandeln dazu führen, dass sich im Mittelohr Flüssigkeit ansammelt. Die Folge: Ihr Spracherwerb verzögert sich und sie können im Kindergarten oder in der Primarschule schlechter am Unterricht teilhaben. Ausserdem neigen sie zu wiederkehrenden Mittelohrentzündungen. All das schmälert ihre schulischen Leistungen.

Berufsverband warnt vor unterlassenen Operationen …

Manchmal bilden sich vergrösserte Mandeln von selbst wieder zurück. Wenn Kinder aber so schwer betroffen sind wie Lukas, dass sie im Schlaf zu wenig Sauerstoff bekommen oder schlecht hören, dann kann ihnen eine Operation helfen. «Häufig führt die Entfernung der Rachen- und Gaumenmandeln zu einem Verschwinden der Schlafapnoen und verhindert schwerwiegende Krankheitsfolgen», klärt eine Broschüre des Kinderspitals Zürich auf. Um den Mittelohrerguss zu beseitigen, wird bei dem Eingriff meist vorübergehend noch ein kleines, sogenanntes Paukenröhrchen ins Trommelfell gesteckt. In der Regel werden betroffene Kinder zwischen zwei und acht Jahren an den Mandeln operiert.

Doch in Deutschland weigern sich die meisten operierenden HNO-Ärzte seit Januar, Kinder wie Lukas zu operieren. «Einen Operationstermin haben wir erst in fünf Monaten bekommen. Eine andere Klinik hat diese Eingriffe ganz eingestellt», sagt die Mutter und sieht zu ihrem Jungen, der von all dem nicht viel mitzubekommen scheint.

Schon im Dezember 2022 betrug die Wartezeit für eine solche Operation in Deutschland laut dem «Deutschen Berufsverband der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte» (DBHNO) in Spitälern sechs bis neun Monate, in ambulanten OP-Zentren drei bis vier Monate.

Gemessen an der Entwicklung eines Kindes, seien das «exorbitant lange Wartezeiten», die mehr als zehn Prozent der Lebenszeit bis zur Einschulung ausmachen könnten, gab der Präsident des DBHNO, Jan Löhler, zu bedenken. Er warnte, dass eine Verzögerung bei Kindereingriffen «oft nachhaltige Folgen» habe: Die Eingriffe seien notwendig für die Kinder hinsichtlich geistiger Störungen, Gedeihstörungen, Schlafstörungen und Sprachentwicklungs-Verzögerungen. Auch um wiederkehrende Infekte zu vermeiden spielten die Operationen «eine entscheidende Rolle».

… und ruft trotzdem zum Boykott auf

Dessen ungeachtet riefen im Januar der DBHNO und ein weiterer Berufsverband die Hals-Nasen-Ohren-Ärzte und -Ärztinnen auf, bei Kindern keine solchen Operationen mehr durchzuführen. 85 Prozent der ambulant operierenden HNO-Ärzte beteiligen sich angeblich daran.

Die Familien warten nun noch länger, bis sie einen Operationstermin erhalten. Oder sie fliegen in die Türkei, um ihr Kind dort für umgerechnet etwa 2300 bis 3400 Franken operieren zu lassen. Im Internet sind diverse solcher Angebote zu finden. Eine andere Familie, die zu Jund kam, machte eine Adresse in Österreich ausfindig. Junds Mitarbeiterinnen telefonieren für Lukas herum, um vielleicht doch noch irgendwo einen Operationstermin für ihn zu erhalten.

Der Grund für den OP-Boykott ist die aus Sicht der deutschen HNO-Ärzte «chronische Unterfinanzierung des ambulanten Operierens». Das Fass zum Überlaufen brachte eine Tarifreduktion. Seit Januar 2023 bezahlen die deutschen Krankenkassen nur noch rund 107 Euro für den Eingriff, der rund zehn bis zwanzig Minuten dauert. Etwa 174 Euro beträgt das Honorar, wenn mit Laser operiert wird. Auf diese Beträge hatten sich Vertreter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Krankenversicherer geeinigt.

Laut dem «GKV-Spitzenverband», der die Interessen der gesetzlichen Krankenversicherungen in Deutschland vertritt, wurde das Honorar für die Mandel-Operationen um vier Euro, von 111 auf 107 Euro, reduziert. Das Honorar für andere Operationen sei hingegen aufgestockt worden.

Die Vergütung für die Mandel-Operationen sei nicht kostendeckend, sagen die HNO-Verbände. Kein Zentrum könne damit «die laufenden Kosten stemmen. Von der Summe müssen die OP-Miete (40 Euro), die Sterilisation der Instrumente (25 Euro), die OP-Assistenz (15 Euro) sowie weitere Posten wie die Instrumentenanschaffung, die Wartung der OP-Technik, die Haftpflichtversicherung sowie die Rufbereitschaft des Arztes nach einem Eingriff, bezahlt werden.» Unterm Strich würden dem Operateur etwa zehn bis 20 Euro vor Abzug von Steuern und Altersvorsorge als Honorar bleiben. «Durch die jahrelange Unterfinanzierung der HNO-Kinderoperationen haben viele ambulante Operateure Ihre OP-Tätigkeit in dem Bereich eingestellt», so Löhler.

«Zahl der ambulanten HNO-Kinderoperationen eingebrochen»

In Hamburg hätten 2019 noch 50 HNO-Ärztinnen und Ärzte Kinder operiert, 2022 seien es nur noch 20 gewesen, berichtete das «Deutsche Ärzteblatt». In Berlin habe sich die Anzahl halbiert, in Bayern sei sie um ein Fünftel gesunken. Der Protest sei nun das letzte Mittel, um die Verantwortlichen in Politik und bei den Krankenkassen «wachzurütteln und das schleichende Sterben der ambulanten HNO-Kinderchirurgie zu stoppen», so der DBHNO, der «die ideellen und wirtschaftlichen Interessen der HNO-Ärztinnen und -Ärzte in Praxis und Klinik vertritt». Für Mandeloperationen gibt es klare Operationskriterien. Bei einer derart defizitären Vergütung in Deutschland sei davon auszugehen, dass die Operationen auch früher schon nicht unnötig erbracht worden seien, so Löhler.

«Zahl der ambulanten HNO-Kinderoperationen eingebrochen», schrieb das «Deutsche Ärzteblatt» im März 2023. «Der Verband spricht von einer ‹desaströsen Versorgungssituation›, unter deren Folgen die Patienten und ihre Familien litten.»

Im Januar betrug die durchschnittliche Wartezeit für einen Operationstermin in einem ambulanten Zentrum laut DBHNO bereits vier bis fünf Monate – «Tendenz steigend». Der Präsident des Verbands sprach Klartext: «Wir alle zahlen, ohne mit der Wimper zu zucken, locker 1000 Euro für die Reparatur einer zerkratzten Stossstange bei unserem Auto. Gleichzeitig wird es offenbar gesellschaftlich akzeptiert, dass eine Operation im Rachen von kleinen Kindern, die mit vielen Risiken […] mit Blutungs- und Erstickungsgefahr sowie einer Vollnarkose verbunden ist, nur ein Bruchteil wert sein und unter den eigentlichen Betriebskosten verramscht werden soll.»

Das sehen die Krankenkassen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung anders. Insgesamt werde das Abrechnungsvolumen der HNO-Ärztinnen und -Ärzte für ambulante Operationen um 2,3 Prozent steigen, prognostizieren sie. Der Grund: «Bei längeren Operationen, wie beispielsweise der plastischen Korrektur der Nasenscheidewand, hat sich die Vergütung von 261 Euro auf 304 Euro erhöht», so der «GKV-Spitzenverband».

«Es ist empörend, wie schamlos einige Ärzteverbände versuchen, immer mehr Geld aus den Taschen der Beitragszahlenden der gesetzlichen Krankenversicherung herauszuholen und nicht einmal vor Drohungen gegen die Gesundheit von Kindern haltmachen. Die Politik ist gefordert, diesem masslosen und unethischen Handeln dieser Verbände Einhalt zu gebieten», schrieb der «GKV-Spitzenverband». Ihm zufolge lag der durchschnittliche Reinertrag pro HNO-Praxisinhaber oder -inhaberin im Jahr 2019 bei 185’000 Euro.

Der Kampf ums ärztliche Honorar solle nicht auf dem Rücken der kranken Kinder ausgetragen werden, forderte ein Sprecher des «GKV-Spitzenverbands». Doch das ist eingetreten.

Auch andere Ärzteverbände fordern höhere Honorare

Den Vorwurf, die HNO-Ärzte handelten unethisch, weist Jan Löhler zurück: «Nicht die Operateure handeln unethisch, sondern die gesetzlichen Krankenkassen, welche die wichtigen Operationen nicht ausreichend finanzieren wollen. Die Aktion richtet sich nicht gegen die Patienten, sondern ist der Versuch, den Versorgungsnotstand zu beenden.»

Dem Beispiel der HNO-Ärzte könnten weitere folgen. Löhler zufolge liesse sich «die Liste lange fortsetzen». So würden etwa die Narkoseärzte seit Jahren höhere Honorare für Ihre Leistungen fordern.

In Bremen einigte sich die «Allgemeine Ortskrankenkasse Bremen» mittlerweile mit den dortigen HNO-Ärztinnen und -Ärzten auf ein höheres Honorar, berichtete das «Deutsche Ärzteblatt». Der Vorsitzende des Bremer Landesverbandes der Hals-Nasen-Ohrenärzte stellte in Aussicht, dass die betroffenen Kinder nun wieder «zeitnah einen Operationstermin bekommen». Dort können Kinder wie Lukas nun – im wahrsten Sinn – aufatmen.

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Oben      — Ohreninspektion in Osttimor

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Unten      —     Aufkleber eines Impfkritikers an einer Müllbox in Heikendorf.

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Scientist Rebellion

Erstellt von Redaktion am 13. Juni 2023

Erster Professor wegen Klimaprotest vor Gericht

Blockade Kronprinzenbrücke durch Science Rebellion, Berlin, 06.04.2022 (51990580737).jpg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Scientist Rebellion

Am 20. Juni 2023 um 9.30 Uhr wird der Klimaprotest von Prof. Dr. Nikolaus Froitzheim am Amtsgericht Tiergarten, Kirchstraße 6, 10557 Berlin, in einem öffentlichen Gerichtsverfahren verhandelt.

Der Geologie-Professor, der an der Universität Bonn forscht und lehrt, nahm am 06. April 2022 gemeinsam mit elf weiteren Wissenschaftler:innen an der Blockade der Kronprinzenbrücke nahe des Regierungsviertels in Berlin teil. Soweit uns bekannt, handelt es sich im Zuge der immer zahlreicher werdenden Klimaproteste um die erste Gerichtsverhandlung in Deutschland, bei der ein Professor aufgrund seiner Beteiligung angeklagt wird.

Anlass des Protests von Scientist Rebellion war die Veröffentlichung des dritten Teils des sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarates zwei Tage zuvor. Dieser Bericht machte mehr als deutlich, dass es keinen plausiblen Weg mehr gibt, unter 1,5 °C Erderhitzung zu bleiben. Die Regierungen, inkl. der deutschen, haben damit die sichere Klimazone nicht verteidigt. Prof. Froitzheim, der an der Universität Bonn regelmäßig über die Klimakrise lehrt und eine öffentliche Ringvorlesung zu diesem Thema abhält, sieht seine Beteiligung an Klimaprotest-Aktionen des zivilen Ungehorsams als durch den Klimanotstand gerechtfertigt an, unter anderem zum Schutz seiner drei Enkelkinder. Die Anklage gegen den 65-Jährigen aufgrund seiner friedlichen Straßenblockade lautet auf versuchte Nötigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.

Der Strafprozess fügt sich ein in eine Reihe von Gerichtsverhandlungen wegen Klimaprotesten von Wissenschaftler:innen der Initiative Scientist Rebellion, die seit Februar diesen Jahres laufen. Am 09. Mai stand der promovierte Physiker Dr. Michael Hofmann aufgrund seiner Teilnahme an drei Klimaprotest-Blockaden in Berlin vor Gericht.

„Als Physiker sehe ich die bittere Notwendigkeit, die Treibhausgasemissionen bis 2030 auf Null zu bringen, weil wir in den letzten Jahrzehnten wiederholt unsere Hausaufgaben nicht gemacht haben.“, erklärt Dr. Hofmann. „Ansonsten würden wir das Pariser Klimaschutzabkommen nicht einhalten und Dynamiken in Gang setzen, welche wir später nicht mehr rückgängig machen können.“

Die Richterin sprach Dr. Hofmann in allen Punkten frei. Sie zeigte Verständnis für die Beweggründe des Angeklagten, ging jedoch nicht weiter auf das Thema ein. „Die Grenze zwischen aktivem und passivem Widerstand verschwimmt“, so die Richterin, „wenn leichte Behinderungen durch Ankleben oder Anketten Gewalt darstellen soll. Beides ist in meinen Augen gleichrangig mit wegtragen lassen und damit straffreier, passiver Widerstand.“

Ebenfalls im Mai wurde vor dem Amtsgericht München der Klimaprotest der promovierten Epidemiologin, Ökotrophologin und Mutter zweier Teenager Dr. Cornelia Huth verhandelt, die im Oktober 2022 an einer Straßenblockade von Scientist Rebellion in der Münchner Innenstadt teilgenommen hatte. Das Gericht unterstellte die beiden Beweisanträge zur Gefahr durch die Klimakrise und zur Wirksamkeit von Aktionen zivilen Ungehorsams als wahr. Zudem betonte die Richterin, dass es auf sie Eindruck mache, wenn sich hochgebildete Wissenschaftler:innen an den Klimaprotesten beteiligten. Dennoch sprach sie Frau Dr. Huth und ihre beiden Mitangeklagten Pater Dr. Jörg Alt und Luca Thomas der Nötigung für schuldig und verhängte eine Strafe in Höhe von je 10 Tagessätzen – ein Strafmaß, das deutlich unter der Forderung des Staatsanwaltes lag.

Prof. Froitzheim, Dr. Hofmann und Dr. Huth betonen, dass sie mit ihrem Protest nicht nur auf den rasanten Zusammenbruch eines stabilen Klimas und die nicht annähernd ausreichenden Gegenmaßnahmen der Regierung aufmerksam machen möchten, sondern auch verdeutlichen wollen, dass die Klimaproteste der breiteren Klimabewegung legitim und aufgrund der immer größeren Dringlichkeit und existenziellen Bedrohung sogar erforderlich sind.

Prof. Marco Bohnhoff, Geophysiker am GeoForschungsZentrum Potsdam, sagt dazu: „Es besteht eine überwältigende Einigkeit in der Wissenschaft über die Notwendigkeit, umgehend Maßnahmen zu ergreifen. Das Bundesverfassungsgericht hat bestätigt, dass die Politik nicht verfassungskonform agiert. Dass nun diejenigen, die im Rahmen von zivilem Ungehorsam darauf hinweisen, vor Gericht gestellt werden und im wahrsten Sinn aus dem Verkehr gezogen werden, kann ich nicht gutheißen. Deswegen unterstütze ich meinen Kollegen Prof. Froitzheim und die Aktivist:innen von Scientist Rebellion.“

Die Bonner Geographie-Professorinnen Nadine Marquardt und Lisa Schipper haben einen offenen Brief mit dem Titel „Protest gegen die Klimakrise darf nicht kriminalisiert werden. Solidarität mit Professor Niko Froitzheim“ geschrieben, der bereits von zahlreichen Wissenschaftler:innen aus dem In- und Ausland unterzeichnet wurde.

Direktlink Offener Brief: https://docs.google.com/document/d/1c4Ko0CQC-tLvDptJBzyF1nBaHtWB5vxplYmGdyw5FEg/edit

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Oben      —   Blockade Kronprinzenbrücke durch Science Rebellion, Berlin, 06.04.2022

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Unten        —         Aktivist von Scientist Rebellion wird von der Polizei nach Brückenblockade unter Anwendung von Schmerzgriffen abgeführt. Sein nackter Fuß schleift über den Asphalt. Kronprinzenbrücke, Berlin, 06.04.22

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Der KI Grenzen setzen

Erstellt von Redaktion am 13. Juni 2023

EU-Parlament zur künstlichen Intelligenz

Von Svenja Bergt

Am Mittwoch möchte das EU-Parlament über die weltweit bislang umfassendste Regulierung von KI abstimmen. Ex­per­t:in­nen fordern schon Nachbesserungen.

Es ist ein düsteres Szenario, das Meredith Whittaker da malt. Eine Welt, in der wenige große Unternehmen Systeme mit künstlicher Intelligenz (KI) herstellen und kontrollieren. Eine Welt, in der unterbezahlte Ar­bei­te­r:in­nen diese KI-Systeme kuratieren und ihnen zuliefern müssen. In der die Interessen und Rechte der Nut­ze­r:in­nen und das Wohl der Gesellschaft sekundär sind. Mit diesem Szenario warnt Whittaker davor, die Unternehmen und den Markt einfach machen zu lassen: „Die KI-Systeme werden von Firmen gebaut, deren primäre Ziele Profit und Wachstum sind.“

Whittaker, einst Google-Mitarbeiterin, ist heute Präsidentin der Signal-Stiftung, die mit der gleichnamigem Messenger-App verbunden ist. Und sie ist Expertin in Sachen KI: Als Mitgründerin des AI Now Instituts an der New York University beschäftigt sie sich auch wissenschaftlich mit der Technologie. Auf der Bühne bei der Digitalkonferenz re:­pu­bli­ca spricht sie vor einem Publikum, das tendenziell der Digitalisierung gegenüber aufgeschlossen eingestellt ist.

Doch KI – das ist kein klassisches Digitalisierungsthema. Anders als neue Plattformen, von denen alle paar Jahre mal eine neue zum Star wird, wie aktuell Tiktok, anders als die permanente digitale Überwachung, an die sich die meisten längst gewöhnt haben, ist KI etwas grundlegend Neues. Etwas, das Hoffnungen weckt. Und Ängste.

Es ist nicht einmal zwei Wochen her, dass eine Reihe Expert:innen, darunter etwa Sam Altman, Chef des ChatGPT-Herstellers OpenAI, vor möglichen Risiken gewarnt hat: „Das Risiko einer Vernichtung durch KI zu verringern, sollte eine globale Priorität neben anderen Risiken gesellschaftlichen Ausmaßes sein, wie etwa Pandemien und Atomkrieg.“

OpenAI-Chef tingelt durch die Politikwelt

Dass die Warnung es bei diesem einen Satz beließ, sorgte umgehend für Kritik. Sie würde damit eher weitere Ängste auslösen, statt einen Weg für einen konstruktiven Umgang mit der neuen Technologie aufzuzeigen. KI-Expertin Whittaker bezeichnet die Idee der Überlegenheit von KI als „Mythos“. „Je mehr wir glauben, dass diese Systeme übermächtig sind, desto mehr Macht geben wir den Firmen dahinter“, sagt sie.

Zum Beispiel die Macht, gehört zu werden. So trifft Altman aktuell die Staats­che­f:in­nen zahlreicher Länder – und nahm auch am Treffen eines transatlantischen Kooperationsforums teil, auf dem Ver­tre­te­r:in­nen von EU und USA sich über gemeinsame Standards für KI-Anwendungen austauschten.

Tatsächlich ist die EU, was die KI-Regulierung angeht, ausnahmsweise mal nicht allzu weit hinter einer Technologieentwicklung zurück. Am Mittwoch soll das Parlament über den Artificial Intelligence (AI) Act abstimmen. Es ist die weltweit bislang umfassendste Regulierung zu künstlicher Intelligenz.

Die Abstimmung ist ein wichtiger Zwischenschritt, denn die Zeit drängt: Bis zum Jahresende sollen sich Parlament, Rat und EU-Kommission in den Trilog genannten Kompromissverhandlungen geeinigt haben. Weil es wegen Übergangsfristen danach noch zwei bis drei Jahre dauern wird, bis die Regelungen letztlich greifen, kündigten EU und USA nach dem Kooperationstreffen einen „freiwilligen Verhaltenskodex“ an, der diese Zeit überbrücken und die Weichen in Richtung der europäischen Regelungen stellen soll.

Positive Reaktionen auf Regeln

Tatsächlich haben nicht nur die EU, sondern auch die USA Interesse an gemeinsamen Regeln, die sich andere Länder zum Vorbild nehmen könnten. Doch was taugen die europäischen Regeln in der Form, wie sie aktuell geplant sind?

Spricht man mit Ex­per­t:in­nen für IT-Recht und -Ethik über den AI Act, sind die Reaktionen zumeist erst einmal positiv. Zum Beispiel, dass die EU einen sogenannten risikobasierten Ansatz verfolgt. Das heißt: Die Anwendungen sollen in Risikoklassen eingeteilt werden – je höher das Risiko, desto umfassender und strenger die Regeln.

Damit wird beispielsweise eine KI im Bereich Strafverfolgung stärker reguliert als ein Chatbot. Dazu kommen Vorschriften zu Transparenz und Erklärbarkeit der Systeme sowie Rechte für Betroffene, die sich gegen KI-Entscheidungen wehren wollen. Die beiden federführenden Ausschüsse des EU-Parlaments hatten zuletzt noch einmal nachgeschärft und weitere Anwendungen in die Kategorie „inakzeptables Risiko“ aufgenommen, in der sich die verbotenen Einsatzzwecke befinden, – unter anderem Systeme zur biometrischen Massenüberwachung.

„Der Schutz der Menschen steht im Mittelpunkt“, beschreibt Matthias Kettemann, Professor für Innovationsrecht an der Universität Innsbruck, den Geist des Gesetzesvorhabens. Und: Weil die Regulierung nicht bei technischen Vorgaben stehen bleibt, sondern die Auswirkungen auf die Gesellschaft im Blick habe, drohe der AI Act nicht von den technologischen Entwicklungen überholt zu werden.

Wer lässt sich zur Rechenschaft ziehen?

Auch Sandra Wachter, Professorin am Oxford Internet Institute der gleichnamigen Universität sieht viel Positives – aber in einigen Punkten auch deutlichen Nachholbedarf. Zum Beispiel sei aktuell vorgesehen, dass die Hersteller im Rahmen der vorgesehenen Zertifizierung selbst bewerten sollen, ob ihre Produkte den Regeln entsprechen, statt dafür externe Prü­fe­r:in­nen heranziehen zu müssen. Oder die Haftungsfrage, also: Eine KI richtet Schaden an – wer lässt sich dafür zur Rechenschaft ziehen? „Momentan liegt der Fokus der EU bei der Haftung noch sehr auf den Entwicklern der Foundation Models und das ist meines Erachtens nicht ausreichend“, sagt Wachter.

Quelle        :           TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Automatic Number Plate Recognition (ANPR). ANPR (Automatic Number Plate Recognition) is now the world rage use of this software and camera. Now, parking and highway traffic management have become easier with the ANPR camera and the software. It also knows as license plate recognition(LPR). Now I discuss in detail the ANPR Camera and software. Advantages of ANPR camera and software. 1. Car Parking Management. We can manage our parking system with the ANPR camera when a car came to the front of the camera automatically scan the Number plate or license plate of this car and then store it in the database. 2. Journey Time Analysis. The camera keeps the data of the coming and going of the cars and give you the data when it came and when it goes. 3. Traffic Management An ANPR system can manage traffic also because if any vehicle breaks the rule of traffic then the camera automatically detects the car and keep the data in the case files. It can count the number of cars or vehicles that pass through the ANPR camera.

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Trans im Verteidigungsfall

Erstellt von Redaktion am 12. Juni 2023

Eine Lösung könnte sein, den Kriegsdienst mit der Waffe geschlechtsunabhängig zu gestalten

Ein Debattenbeitrag von Jayrome C. Tobinet

Russlands Krieg gegen die Ukraine wirkt bis in den Referentenentwurf für das neue Selbstbestimmungsgesetz hinein. Leider auch hier natürlich negativ.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat unerwartete Kollateralschäden. So wurde in den Referentenentwurf für das Selbstbestimmungsgesetz eine wenig diskutierte Regelung aufgenommen: die Diskriminierung von trans Frauen und nichtbinären Menschen im Kriegsfall. Der von der Bundesregierung am 9. Mai 2023 vorgelegte Gesetzentwurf soll es trans, inter und nichtbinären Menschen ermöglichen, ihren Geschlechtseintrag und Vornamen ohne psychiatrische Gutachten und langwierige Gerichtsverfahren zu ändern.

Paragraf 9 des Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (SBGG) sieht vor, dass für die Dauer eines Spannungs- oder Verteidigungsfalles die amtliche Zuordnung zum männlichen Geschlecht bestehen bleibt. Konkret bedeutet das: Eine trans Frau oder eine nichtbinäre Person wird zum „Dienst mit der Waffe“ verpflichtet, wenn sie ihren Geschlechts­eintrag weniger als zwei Monate vor dem Eintritt des Spannungs- oder Verteidigungsfalles geändert hat.

Laut dem Bundesverband Trans* e. V. (BVT*) scheint diese Regelung aus der Befürchtung heraus entstanden zu sein, dass im Spannungs- oder Verteidigungsfall cis Männer eine Änderung ihres Geschlechtseintrags missbrauchen könnten, um sich der Wehrpflicht zu entziehen. Dabei werde jedoch übersehen, dass es in Deutschland das Recht gibt, den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern (Art. 4 Abs. 3 GG). Im Jahr 1954, zwischen dem Indochina- und dem Algerienkrieg, schrieb der französische Schriftsteller Boris Vian das Lied „Le Déserteur“, das Wolf Biermann später auf Deutsch sang. In der Zeit der französischen Kolonialkriege hatten Vian und sein Deserteur etwas Heldenhaftes. In einem Angriffskrieg sieht das Bild des Pazifisten zum Teil anders aus. Dennoch ist es, so der BVT*, gesellschaftlich weniger stigmatisierend, den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern, als den Geschlechtseintrag zu ändern. Schon aus diesem Grund erscheint es unwahrscheinlich, dass ein Kriegsdienstverweigerer den Weg der Transgeschlechtlichkeit wählt. Sollte es doch einmal eine Ausnahme geben, so wäre dies ein Hinweis darauf, wie schrecklich es für Männer sein kann, sich gezwungen zu sehen, militärisch zu dienen.

Als in der Ukraine bekannt wurde, dass Frauen zum Militärdienst eingezogen werden sollten, war die Empörung groß. Zwar sollten sie nicht an die Front, aber als Ärztinnen und Krankenschwestern sollten sie sich um Verwundete kümmern oder in Berufen einspringen, in denen die Männer wegen des Kriegseinsatzes fehlten – etwa in Bäckereien oder der Buchhaltung. In einer Online-Petition war von „Missbrauch von Frauen“ die Rede. Aber ist es nicht ein queerfeministisches Anliegen, dass alle Geschlechter gleichbehandelt werden?

Zudem ist zu betonen, dass Paragraf 9 SBGG eine Ungleichbehandlung von trans Frauen und nichtbinären Menschen einerseits und trans Männern andererseits darstellt. Im Vergleich zu trans Männern, die ihren Geschlechtseintrag auch im Spannungs- oder Verteidigungsfall problemlos ändern könnten, würden trans Frauen und nichtbinäre Personen durch die Regelung des Paragrafen 9 benachteiligt. Dies ist eine klare Ungleichbehandlung, die dem Grundsatz der Gleichbehandlung aller Geschlechter widerspricht.

Eine mögliche Lösung könnte darin bestehen, den Kriegsdienst mit der Waffe geschlechtsunabhängig zu gestalten. Damit würde sich Paragraf 9 erübrigen. Statt nur Personen mit männlichem Geschlechtseintrag zur Landesverteidigung heranzuziehen, könnte die Wehrpflicht auf alle Geschlechter ausgedehnt werden. Dies würde Diskriminierung verhindern und den Gleichbehandlungsgrundsatz stärken. Generell muss sich Deutschland in vielen Bereichen Gedanken darüber machen, wie es mit Menschen umgehen will, deren Geschlechtseintrag divers oder leer ist. Von der Anerkennung der Elternschaft über Regelungen im Sport und im Strafvollzug bis hin zu Quotenregelungen.

Ein Beispiel für eine fortschrittliche Gesetzgebung in diesem Bereich ist Argentinien. Seit 2012 gibt es ein Selbstbestimmungsgesetz, das die Änderung des Geschlechtseintrags ohne ärztliches Gutachten, Hormonbehandlung oder Gerichtsverfahren ermöglicht. Darüber hinaus hat die argentinische Regierung eine Quotenregelung für trans Personen im öffentlichen Dienst ab 2021 eingeführt. Das Gesetz legt eine Mindestquote von einem Prozent der staatlichen Arbeitsplätze für Transvestiten, Transsexuelle und Transgender fest. Um dies zu gewährleisten, müssen alle staatlichen Institutionen, Ministerien und nichtstaatlichen öffentlichen Einrichtungen bei allen regulären Einstellungsverfahren eine bestimmte Anzahl von Arbeitsplätzen schaffen, die ausschließlich mit Transvestiten, Transsexuellen und Transgendern besetzt werden. Wenn Be­wer­be­r:in­nen keinen Sekundarschulabschluss haben, können sie unter der Bedingung eingestellt werden, dass sie diesen nachholen.

Quelle        :       TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben       —       On Saturday 21 January 2023, hundreds of protesters marched from Downing Street to Hyde Park to demand real equality for trans people, an end to transphobic violence and an immediate reversal of the UK government’s decision to block Scotland’s progressive Gender Recognition Reform Bill which simplifies the procedure for a trans person to obtain a gender recognition certificate, which until now has been highly „intrusive, medicalised and bureaucratic.“ www.stonewall.org.uk/about-us/news/statement-uk-governmen… The LGBTQ oranisation Stonewall commented – „This is a piece of legislation that simply seeks to make the process for legally recognising a trans man or trans women’s gender more respectful and straightforward. Scotland’s Bill aligns it with leading international practice endorsed by the United Nations and adopted by 30 countries, including Canada, Australia, New Zealand, Irealand and most of the United States of America.“ www.stonewall.org.uk/about-us/news/statement-uk-governmen… The bill had received cross-party support in the Scottish parliament and was supported by 88 members – the overwhelming majority of Scottish MSPs – only 33 voted against and just 4 abstained. The legislation was also clearly within the scope of what the Scottish parliament can legislate according to its devolved powers. However, for the first time ever, the British government used section 35 of the Scotland Act to unilaterally veto the reforms. This photo was used in the following article online – gal-dem.com/finland-gender-recognition-law-trans-scotland…

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Google Street View II

Erstellt von Redaktion am 12. Juni 2023

Apple Look Around in Deutschland

Von Jimmy Bulanik

Der IT Konzern Apple Inc. will seinen Dienst „Apple Look Around“, was mitunter von kriminellen Personen und ebensolchen international operierenden Organisationseinheiten zur Vorfeldaufklärung von Straftaten wie Eigentumsdelikte verwendet wird. Niemand braucht sich das gefallen zu lassen.

Deshalb ist es sinnig das alle Menschen welche es wollen, bei dem US Konzern Apple Inc. indem der „USA Patriot Act“ gilt hier in der Bundesrepublik Deutschland gratis gegenüber dem Unternehmen, Apple GmbH proaktiv und schriftlich zu widersprechen. Apple war kein Freund, Apple ist kein Freund, Apple wird niemals ein Freund werden. Es ist eine profitorientierte juristische Person des privaten Rechtes welches persönliche Daten kultiviert, speichert und im Gegensatz zu dem US SIGINT Militärnachrichtendienst, National Security Agency obendrein monetarisiert.

Ungeachtet dessen in wessen Eigentum ein Grundstück, Objekt sich befindet, wie viele Personen darin wohnen. Bei einem gegen den Dienst, Apple Look Around schriftlich eingereichten Widerspruch aus dem Haus muss gesetzlich verpflichtend das gesamte, Grundstück und Gebäude im Internet unkenntlich gemacht werden. Diese rechtmäßige Macht sollte von allen sicherheitshalbar frühzeitig in Anspruch genommen werden. Deshalb wird ein juristisches Musterschreiben angeboten, welches durch meine Person zuvor gegenüber dem Apple Konzern in der Bundesrepublik Deutschland schriftlich eingereicht worden ist.

Anrede

Vorname, Nachname

Straße, Hausnummer

Postleitzahl, Ort

Apple GmbH

Betr. Apple Look Around

Katharina – von – Bora – Straße 3

80333 München

Email: MapsImageCollection@Apple.com

W i d e r s p r u c h

Hallo,

hiermit widerspreche ich der Aufnahme, auf jeden Fall aber der Wiedergabe, von Abbildern meines Hauses in Ihrem Dienst „Apple Look Around“. Betroffen ist die Anschrift (Straße, Hausnummer) in (Postleitzahl), (Ort). Dezidiert erwarte und verlange ich von Ihnen die sofortige und entgültige Entfernung der Aufnahme meines Hauses aus dem “Online – Angebot”, beziehungsweise “Online – Dienst” und aus ihrem Datenbestand.

Ich erwarte und verlange von Ihnen eine zeitnahe und schriftliche Bestätigung meiner Willenserklärung welche eindeutig ist, Löschung der von mir oben genannten Daten.

Im Fall einer Zuwiderhandlung wende ich mich schriftlich an:

Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit Nordrhein – Westfalen

Kavallerie Straße 2 – 4

40213 Düsseldorf

Telefon: 0211384240

Fax: 021138424999

Email: Poststelle@LDI.NRW.de

sowie an die:

Verbraucherzentrale Nordrhein – Westfalen e.V.

Mintrop Straße 27

40215 Düsseldorf

Telefon: 021138090

Fax: 02113809216

Email: Service@Verbraucherzentrale.NRW

um juristische Maßnahmen gegen Sie einzuleiten.

Hochachtungsvoll,

(Nachname)

Verstuurd vanaf mijn iPhone

Von dem Gebrauch dieses Rechtes ist allen natürlichen Personen anzuraten. Das gilt mitunter für Eigentümerinnen, Eigentümer, Mieterinnen, Mieter ohne Ansehen der Person. Das gilt auch für jüngere Menschen.

Der Mensch ist nicht frei geboren worden, um als ein Produkt zu Enden.

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Grafikquellen          :

Oben     —   Google Trike used for Google Street View

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DIE * WOCHE

Erstellt von Redaktion am 12. Juni 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Reichelt, Rammstein, RBB: Zeit, sich zu trennen. Die Linke will ohne Wagenknecht weitermachen. Nazi-Splatter-PornoSchwulst und ein beleidigter Springer Verlag. Der RBB sucht eine neue Intendanz.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Die Logik der Gewalt.

Und was wird nächste Woche besser?

Frieden langsam gern auch unlogisch.

Die geplante Verschärfung des EU-Asylrechts stößt bei vielen Grünen auf Empörung. Wird sich die Ablehnung durchsetzen?

Ausgangsgedanke war, Geflüchtete gerecht über die EU zu verteilen. Ergebnis ist: Es kommen keine mehr rein. Wer das Pech hat, aus einem Land mit niedriger Anerkennungsquote zu fliehen, wird ohne Ansehen der Person zurückgeschickt. Langsam wird’s wohlfeil, stets auf Polen und Ungarn zu zeigen, die ihre Maximalposition durchgesetzt haben. Letztlich hilft es der Ampel, das Thema rechtzeitig vor der Europawahl abzuräumen – hoffen sie. Interessant wäre eine Überprüfung, ob die deutsche Zustimmung mit dem Grundgesetz vereinbar ist: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Fragt uns nicht, wo.“

„Die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht“ heißt es in einem am Samstag einstimmig gefassten Beschluss des Parteivorstands. Hat die Linke eine Zukunft?

Kann sein. Vor allem aber: Klammheimlicher Dank von Union, SPD, Grünen und FDP, denen bisher nichts Durchschlagendes gegen die AfD eingefallen ist. Wagenknecht gärt einen trüben Sud aus Sozialismus und Nationalismus. Der modert in umgekehrter Reihenfolge auch bei der Höcke-Mehrheit in der AfD wie früher bei der NPD. Bei den derzeitigen Umfragewerten ist es zu spät, rechte und linke Autoritäre säuberlich in 2 mal 4,9 Prozent zu zerlegen, doch schön wär’s schon. Wagenknechts „Aufstehen“-Initiative war ein organisatorisches Fiasko; eine schwammige Idee ohne Kernaussage: Sahra. Wagenknecht wird nie Knecht wagen, nicht vor einer Idee noch einer Person. Also erst mal abwarten, ob sie Partei kann. Die Linke bangt um jedes Mandat und verliert durch die geplante Wahlrechtsreform den Fraktionsstatus. In der Situation einer Erpressung zu trotzen hat: meinen Respekt.

Die Rammstein-Konzerte laufen in ausverkauften Stadien munter weiter. Nur das Lied „Pussy“ wurde von der Setlist genommen und die Peniskanone ist verschwunden. Muss noch was weg?

Rammstein hat immer den kürzesten Weg zum Skandal gesucht, und nun schaut er mal bei ihnen vorbei. Nazi-Splatter-Porno-Schwulst, aber richtig teuer, bei nicht sonderlich innovativer Musik. Nun gibt es Frauen, die nicht mehr von der Kunstfreiheit gedeckt werden wollen. Wo es bisher bewundernd raunte: „Die sind wirklich so!“, erschaudert es nun: „Die sind wirklich so.“ Vorwürfe gegen die Band – eigentlich erst mal gegen Lindemann und Mitwisser – werden strafrechtlich geprüft. Hoffentlich wird das gerecht aufzuklären sein. Man stolpert aus der medialen Aufregung und staunt: Wäre schön gewesen, wenn’s alles gelogen und nur Geschäftemodell wäre. Vielleicht nehmen viele Fans das mit.

Die am 16. Juni anstehende In­ten­dan­t*in­nen­wahl beim RBB „eskaliert“, schreibt die FAZ. Können Sie die Angelegenheit analysierend deeskalieren?

Interimsintendantin Vernau hat mit harten Einsparungen Teile der Belegschaft verängstigt. Sie möchte weitermachen, dabei aber die Wahl überspringen. Ein Favorit von Belegschaft und Freien wurde vom Rundfunkrat wegen angeblich zu hoher Gehaltswünsche aussortiert. Dazwischen gibt es drei gremiengefällige Kandidatinnen. Ein funktionierendes Aufsichtsgremium müsste einer Intendantin klarmachen, dass es Wahlen gibt – und hat de jure keine Gehaltsverhandlungen zu führen. Dieser Rundfunkrat hingegen schafft es, fünf KandidatInnen zu beschädigen. Falls die „Affäre Schlesinger“ auch ein Gremieninfarkt war, setzen die Nachfolger dort fort.

Zwischen dem Axel-Springer-Verlag und dem ehemaligen Bild-Chef Julian Reichelt hat es am Freitag vor dem Berliner Arbeitsgericht nicht für eine gütliche Einigung gereicht. Überrascht Sie das?

Quelle       :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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CDU und Wirtschaft

Erstellt von Redaktion am 11. Juni 2023

Verhindern, verzögern, unterlassen

Wind Turbine der CDU von Merkel

Ein Artikel von Sabine am Orde, Christian Jakob, Nick Reimer und Benno Schirrmeister.

Die CDU ist eng mit der fossilen Industrie verbandelt. 20 Jahre lang blockierten Partei und Lobbyisten gemeinsam die Klimapolitik. Eine taz-Recherche.

s ist ein Dienstag Ende Mai, der Wirtschaftsrat der CDU hat zu seinem alljährlichen Höhepunkt geladen: dem „Wirtschaftstag“. Getagt wird unter riesigen Kronleuchtern im Hotel Marriott, am Rande des Tiergartens im Berliner Regierungsviertel. Vorstandschef*innen, Verbandsfunktionäre, Po­li­ti­ke­r:in­nen und Un­ter­neh­me­r*in­nen sind der Einladung gefolgt.

Gemeinsam mit Astrid Hamker, der Präsidentin des Vereins, zieht der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck in den Saal ein. Die Bild wütet in diesen Tagen fast täglich gegen Habecks „Heiz-Hammer“ – und die Union auch.

Der Applaus der über 2.000 Gäste für Habeck verebbt schnell, es ist ruhig im Saal – und der Weg bis zur Bühne weit. „Sie dürfen auch klatschen“, sagt die Moderatorin beschwörend in die Stille hinein. Dann steht Astrid Hamker, langes blondes Haar, Brille, blaues Kleid, am Redepult, links von ihr sitzt Habeck auf dem Podium, ziemlich einsam an einem langen Tisch.

Hamker ist Gesellschafterin der Osnabrücker Piepenbrock-Gruppe, einem Unternehmen mit über 27.000 MitarbeiterInnen und mehr als 600 Millio­nen Euro Jahresumsatz. Und sie ist Präsidentin des Wirtschaftsrats. Auf der Bühne holt sie jetzt den Holzhammer raus. Spricht von „Ernüchterung, Enttäuschung, Verärgerung“. Die Ampel, vor allem aber Habeck, würde „die Grundlagen unseres Wohlstands demontieren“. Eine „ideologiegetriebene Politik“ betreiben, „die sich einzig und allein dem Klimaschutz, aber nicht dem Wohl der deutschen Wirtschaft verpflichtet fühlt.“ Applaus. So geht es weiter: Atomausstieg, Verbrenner-Aus, Heizungstausch – aus ihrer Sicht macht Habeck alles falsch. Dass 16 Jahre lang die CDU an der Spitze der Regierung stand und manches davon zu verantworten hat – dazu kein Wort.

Die Klimasaboteure

Die Akteure

Das Wissen über die Klimakrise ist da, das gesellschaftliche Bewusstsein auch. Was fehlt, sind Konsequenzen: Politische Entscheidungen, die die nötigen Veränderungen zügig vorantreiben. Für diese Blockade sind nicht „die Verhältnisse“ verantwortlich, es gibt konkret Verantwortliche. Das sind Akteure, die die Interessen klimaschädlicher Industrien vertreten, an diesen verdienen und nötige Veränderungen verhindern oder verschleppen.

Die Serie

In der vom Weltklimastreik am 3. März bis zur COP 28, der Klimakonferenz in Dubai im Dezember, laufenden Serie „Klimasabotage“ fragt die taz: Wer sabotiert die Entscheidungen, die das Klima und unsere Lebensgrundlagen retten? Wer blockiert, was nötig ist – und warum? Wer führt uns in die Krise?

Der Schwerpunkt

Die Schwerpunktseite Klimasabotage auf taz.de versammelt bereits zahlreiche Texte zum Thema. Zuletzt haben wir uns unter anderem der fossilen SPD gewidmet: Das Blockieren von Klimaschutz ist schon in der Struktur der Partei angelegt – durch Verflechtungen mit der Wirtschaft, durch Gewerkschaftsnähe und durch Traditionen.

Während Hamker im Saal des Marriott-Hotels verbal auf ihn eintrümmert, macht sich Habeck Notizen. Als er das Wort erhält, outet Habeck sich als Fan der sozialen Marktwirtschaft, zitiert Norbert Blüm. Die Stärke der sozialen Marktwirtschaft sei die Fähigkeit, Widersprüche zu vereinen. Es ist ein rhetorischer Ritt, der den Wirtschaftsrat bei seinen Wurzeln packt. Habeck fordert „Lauterkeit der Argumente“ und sagt, in der Kritik der letzten Tage, Wochen und Monate sei einiges nicht durchdacht worden – was auch für die Worte der Präsidentin gelte.

Habeck wird mit Applaus verabschiedet. Doch an diesem Tag treffen Welten aufeinander.

In weniger als 22 Jahren soll Deutschland klimaneutral sein, die Auseinandersetzungen darum nehmen an Schärfe zu. Die Grünen verweisen auf „16 Jahre Stillstand“ – die Klimabilanz der Union sei der Grund, dass heute alles schwieriger ist, als es sein könnte.

Die Bewahrung der Schöpfung sei ein „urkonservatives Thema, das sich die Union seit je auf die Fahne geschrieben hat“, heißt es bei der Union gern. Doch der Parteivorsitzende Friedrich Merz findet, Klimaschutz dürfe „nicht verabsolutiert“ werden, während in Kanada die Wälder brennen und Südfrankreich kein Wasser mehr hat. Und das zieht: In der Sonntagsfrage kommt die Union mit 29 Prozent auf Platz 1.

Die Partei verweist gern darauf, dass es die CDUlerin Angela Merkel war, die 1997 als Umweltministerin den Verhandlungen für das Kyoto-Protokoll zum Durchbruch verhalf. Und es war die von ihr geführte Große Koalition, die das Pariser Klimaschutzabkommen 2015 vorantrieb und beschloss – ebenso wie das Klimaschutzgesetz, das CO2-Neutralität bis 2045 vorsieht.

Doch die Bilanz ist eine andere. Ob Kohleausstieg, Verkehrswende, Erneuerbare, Landwirtschaft: Die Union stellte seit 2005 viele der zuständigen Minister *innen – und blockierte den Klimaschutz, verschleppte ihn oder blieb untätig. Und das kommt nicht von ungefähr. Ihre Politik wird seit Jahrzehnten von Menschen mitbestimmt, die Klimaschutz aus wirtschaftlichen Interessen oder ideologischen Gründen sabotieren.

Der Wirtschaftsrat

Der Wirtschaftsrat ist dabei ein wichtiger Akteur. Seine Präsidentin Hamker und Friedrich Merz kennen sich gut. Bevor Merz Parteichef wurde, war er Hamkers Stellvertreter im Wirtschaftsrat und saß im Präsidium. Das aktuelle Ziel der Lobbyorganisation steht ganz im Einklang mit jenem der CDU: das Gebäudeenergiegesetz zu verhindern. „Das Gesetz muss komplett neu geschrieben werden“, sagt Hamker.

Sie betont, dass sich der Wirtschaftsrat zu den Klimazielen bekenne. Doch Klimaschutz und das Wohl der Wirtschaft – aus ihrer Sicht scheinen das gegensätzliche Pole zu sein. Was wohl heißt, dass man die Wirtschaft vor dem Klimaschutz schützen muss. Und genau daran arbeitet der Wirtschaftsrat seit Langem.

Der Wirtschaftsrat ist einflussreich. Er trägt die CDU im Namen, ist aber nicht ans Parteiengesetz gebunden

Er ist eine einflussreiche Lobbyorganisation, mit 12.000 Un­ter­neh­me­r*in­nen als Mitgliedern und in einer merkwürdigen Zwitterposition. Der Wirtschaftsrat trägt die CDU im Namen, ist aber keine Parteiorganisation. Doch Präsidentin Hamker gehört qua Amt dem CDU-Bundesvorstand an. Sie nimmt an dessen Sitzungen teil, hat Rederecht – und kann die Partei direkt beeinflussen.

Der Wirtschaftsrat, ein eingetragener Verein, ist also nicht an das Parteiengesetz und dessen Transparenz­regeln gebunden. Er vermeidet gleichzeitig durch seine Parteinähe das negative Image einer Lobbyorganisation. „Eine problematische Doppelrolle,“ sagt Christina Deckwirth von der NGO Lobbycontrol. Sie hat eine Studie zur Klimapolitik des Wirtschaftsrats erstellt. Ihr Urteil: Der Verein sei ein „besonders starker und einflussreicher Klimaschutz-Bremser“.

Der Rat warnt vor „Aktionismus beim Klimaschutz“. Im September 2021 forderte er gar ein „Verbot von Klimaklagen“ gegen Großkonzerne. Umweltschutzorganisationen versuchen mit solchen Klagen, Konzerne zur Einhaltung der Klimaschutzziele zu zwingen.

Die Fachkommission Energiepolitik des Wirtschaftsrates leitet das Eon-Vorstandsmitglied Patrick Lammers. Im Präsidium und Bundesvorstand sitzen die Auto-, Flugzeug- und Braunkohleindustrie.

2013 nahm der Wirtschaftsrat das Erneuerbare-Energien-Gesetz unter Beschuss und forderte eine Kürzung der Einspeisevergütung für Photovoltaik. 2019, während die schwarz-rote Bundesregierung über das Klimapaket stritt, konnte der Wirtschaftsrat seine Forderung nach „bezahlbarer Energie“ im CDU/CSU-Konzept ‚Klimaeffizientes Deutschland‘ festschreiben. „Der Einsatz des Wirtschaftsrats, dass Unternehmen möglichst wenig für die Energiewende zahlen sollen, kam bei der Union an“, urteilt Lobbycontrol.

Während laut Lobbycontrol andere Verbände Anfang 2020 ihre offiziellen Stellungnahmen zum Kohleausstieg beim Wirtschaftsministerium einreichten, drohte der Wirtschaftsrat direkt beim Minister, bei zu schnellem Ausstieg käme es kostspieligen Klagen. Die Ministeriumsspitzen trafen sich mit den Kohlekraftwerks-Betreibern EnBW, RWE, Uniper, Vattenfall, Steag. Laut Lobbycontrol hatten drei der fünf anwesenden Unternehmen im Jahr 2020 Veranstaltungen des Wirtschaftsrats gesponsert, an denen auch der damalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier und sein Staatssekretär Andreas Feicht teilnahmen. Am Ende, so Lobbycontrol, wurde ein Kohleausstiegsgesetz beschlossen, das „deutliche Zugeständnisse“ für neuere Steinkohlekraftwerke enthielt – unter anderem eine „Härtefallregelung“.

Doch was Sabotage wirksamen Klimaschutzes angeht, ist der Wirtschaftsrat bei Weitem nicht der einzige Akteur in der Union.

Das Bermudadreieck

Als Bermudadreieck der Energiewende in der Welt der CDU galten lange drei Politiker, die teils eng mit dem Wirtschaftsrat verbunden sind: Carsten Linnemann, Thomas Bareiß und Joachim Pfeiffer. Jede klimapolitische Idee, jedes Bemühen um substanziellen Klimaschutz, das in der Vergangenheit zwischen diese einflussreichen Unionspolitiker geriet, ging dort irgendwie verloren. Eine CO2-Steuer, Sektoren-Einsparziele, die Klimaabgabe für die Braunkohle, ein deutsches Klimaschutzgesetz – die drei CDUler wussten die Vorschläge stets zu verhindern oder zumindest zu verzögern.

Bermuda Triangle

Da ist zunächst Carsten Linnemann, der von 2013 bis 2021 Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT), des Wirtschaftsflügels der CDU, war: Diese zählt 25.000 Mitglieder und bezeichnet sich selbst als „einflussreichster parteipolitischer Wirtschaftsverband in Deutschland“. Im Grundsatzprogramm der MIT, das Linnemann mitformulierte, heißt es: „Das Fördersystem für erneuerbare Energien gefährdet die Netzstabilität und verteuert den Strom in unzumutbarem Maße.“ Wegen der hohen Strompreise drohe die De-Industrialisierung Deutschlands nicht, „sie findet statt“.

Carsten Linnemann war aber nicht nur Chef dieser Parteivereinigung, seit 2009 ist er auch Abgeordneter und seit 2013 Bundesvorstand der CDU. Das ist praktisch, denn dadurch konnte er in die Politik der Union das einspeisen, was seine Organisation fordert: weniger erneuerbare Energie. Als Bundestagsabgeordneter hat sich Linnemann jahrelang für Abstandsregeln in der Windkraft starkgemacht. 2020 sagte er: „Ich sehe die Abstandsregeln als Chance, das Thema zu befrieden.“ Ein Kilometer zwischen Windrad und nächstem Haus sorgte vielerorts dafür, dass Projekte nicht gebaut werden konnten. Es war eine der wirksamsten Bremsen für den Ausbau der Windenergie in Deutschland. Linnemann hatte im MIT-Grundsatzprogramm argumentiert, dass Klimaschutz „nicht durch Planwirtschaft, Dirigismus und Verbote“ zu erreichen sei. 2022 wurde er stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU. Aktuell leitet er die Kommission für ein neues Grundsatzprogramm der Partei.

Der zweite im christdemokratischen Bermudadreieck ist Thomas Bareiß, von 2010 bis 2018 zuständig für Energiepolitik in der Unionsfraktion. Danach war er bis 2021 parlamentarischer Staatssekretär bei Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und auch dort zuständig für die Energiepolitik. Greenpeace listet im „Schwarzbuch Klimabremser“ Bareiß’ politisches Wirken seit 2005 auf und kommt zu dem Schluss, er habe „maßgeblich dafür sorgt, dass die Erneuerbaren Energien ausgebremst werden und die Bundesregierung ihre Klimaziele verpasst“.

Ohne Erdgas sei die Energieversorgung „nicht denkbar“, Gas „unverzichtbar“, sagte Bareiß 2019 in einer Publikation des Lobbyverbands „Zukunft Gas“, in dem Energiekonzerne wie Shell, Total, Wintershall Dea oder die Gazprom-Tochter Wingas Mitglied sind. Bareiß saß bis zu seiner Berufung als Staatssekretär 2018 dort im Beirat. Und bis 2021 war er Vorsitzender des „Beirats Energie“ der Lobbyorganisation „Gesellschaft zum Studium strukturpolitischer Fragen“, in dem die Gas- und Braunkohleindustrie sitzt. Heute unterstützt Bareiß als verkehrspolitischer Sprecher der Union die Bemühungen der FDP gegen das Verbrenner-Aus.

Joachim Pfeiffer ist die dritte Koordinate im Bermudadreieck der Energiewende. Wie kaum ein anderer prägte der Betriebswirt aus dem schwäbischen Waiblingen die Klimapolitik der Union, zuletzt bis 2021 als wirtschafts- und energiepolitischer Sprecher der Unionsfraktion. Als Mitglied des Wirtschaftsausschusses schrieb der heute 56-Jährige die energiepolitische Gesetzgebung im Bundestag mit. Pfeiffer nannte Klimaschutz „Ersatzreligion“, die Debatte über die Erderhitzung „alarmistisch“, die Photovoltaikbranche bezeichnete er als „Solarmafia“, Klimaschützer wie die Deutsche Umwelthilfe als „semi-kriminelle Vereinigung“. Die Umsetzung der EU-Richtlinie zum Kyoto-Protokoll war für ihn eine „gezielte Deindustrialisierung Deutschlands“.

Deutsche Technologie zur Kohleverstromung hingegen könne „helfen, das Klima zu schützen“ – wer sich über solche Aussagen wundert, muss wissen, dass Pfeiffer langjähriges Mitglied im Beirat der Hitachi Power Europe GmbH saß. Der japanische Kraftwerkkonzern Hitachi lieferte 2009 unter anderem Kessel und Dampfturbine für das neue Kohlekraftwerk in Duisburg-Walsum. Pfeiffer war auch bis Ende 2014 Mitglied im Aufsichtsrat des Kraftwerk-Dienstleisters Kofler Energies Power AG und verdiente dort bis zu 30.000 Euro jährlich hinzu. Zudem war Pfeiffer Mitglied im Aufsichtsrat eines kanadischen Ölmultis. Dieses Mandat legte er Ende 2020 nieder.

In Groko-Zeiten waren fast alle klimapolitisch wichtigen Posten „vom Wirtschaftsflügel besetzt“, schreibt Greenpeace: „Wirtschaftsliberale, die im Klimaschutz vor allem Wettbewerbsnachteile sehen.“

Das hatte Folgen.

Die Merkeljahre

Die skandinavischen Länder fingen an, Wärmepumpen zu installieren, als Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde. Heute heizen dort bis zu 60 Prozent aller Haushalte mit einer Wärmepumpe – in Deutschland sind es 2,8 Prozent. Zu Beginn von Merkels Amtszeit stieß der deutsche Verkehr etwa 150 Millionen Tonnen CO2 im Jahr aus – 2021 war es fast exakt genauso viel. Japan drückte die Verkehrsemissionen in derselben Zeit um ein Drittel. In Merkels Amtszeit ging der jährliche Zubau der Solarenergie-Leistung von 46 Prozent im Jahr 2005 auf 9,6 Prozent im Jahr 2021 zurück. Dazwischen lag ein einzigartiger Abbau der Förderung erneuerbarer Energien, inklusive massenhafter Firmenpleiten.

Er „gebe zu, dass wir in den letzten Jahren auch Fehler gemacht und zu spät gehandelt haben“, sagte der Ex-Wirtschaftsminister Peter Altmaier in einem Interview zur Klimabilanz schon im Jahr 2020. Doch viele andere in der Partei wollen diese Verantwortung bis heute nicht anerkennen. Lieber giften sie gegen das Heizungsgesetz der Ampel. Die Union verspricht den Menschen, ihnen die vermeintlichen Zumutungen des Klimaschutzes zu ersparen – und hat damit Erfolg. In Berlin stellt sie nach einem Anti-Verkehrswende-Wahlkampf den Bürgermeister – und der will Präventivhaft für Klimakleber und hält den Ausbau der Autobahn A 100 mitten durch die Stadt für „ganz entscheidend“.

Aus alldem ergibt sich das Bild einer Partei, die nie Programm-, sondern immer in erster Linie Machtpartei war. Deshalb hat sie bis heute statt einem echten Klimaschutzprogramm vor allem technokratische Luftschlösser und einen unerschütterlichen Glauben an den Markt, der das Klima schon retten werde, wenn man nur die richtigen Anreize setze.

Und deshalb kann sie auch der Versuchung nicht widerstehen, mit populistischem Klimaschutzbashing die Macht zurückzuerlangen. Nicht einfacher macht es der CDU ihr rechter Rand, für den Klimaschutz vor allem ein weiteres Feld im Kulturkampf ist. Dass aus den Reihen der Partei Habecks Heizungsgesetz als „Energie-Stasi“ attackiert wird, ist da nur folgerichtig.

Die grüne Union

Quelle           :          TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —     Wind turbine made of wood, Suetschach, municipality of Feistritz im Rosental, Carinthia, Austria, EU

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Unten         —       Map of Flight 19 „navigation problem #1“ route. 12345 flight path, yellow triangle bombing to excercise target at Hens and Chickens Soal.

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Wann ist sein Papagei dran?

Erstellt von Redaktion am 11. Juni 2023

PREIS FÜR HABECKS KATZE

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Am Rande der Hannover Messe wurde der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck mit einem Preis für die Energiewende ausgezeichnet. Der wurde ihm von seinem Bruder Hinrich überreicht. Hinrich ist nicht nur Habecks Bruder, sondern auch Chef der Wirtschaftsförderung Schleswig-Holstein. Die Wirtschaftsförderung wird von der Landesregierung Schleswig-Holstein finanziert und gesteuert.

Prinzip der Allparteien-Koalition

Wer die Tatsache, dass eine Landesregierung einem Bundesminister publikumswirksam einen Preis zuschanzt, für politischen Inzest hält, der versteht das Prinzip der deutschen Allparteien-Koalition nicht: Alle, die da mitmachen, sind preiswert zu korrumpieren. Dieser oder jener mit noch einem teuren Amt, andere mit einem fadenscheinigen Preis – bezahlt wird die komplette Kirmes vom Steuerzahler.

Wappentier ist die Blindekuh

Wie immer geht es um das Wichtigkeits-Karussell: Du findest mich gut, dann finde ich dich gut, später finden wir vielleicht auch einen guten Grund – die Geschlossenheit. Wer geschlossen ist, der macht kein Fass auf, der schließt vor jedem auftauchenden Polit-Verbrechen die Augen. Das Wappentier ist die Blindekuh, die Flagge besteht aus Löchern, die Hymne beginnt mit „Einigkeit“. „Recht und Freiheit“ sind aus Gründen der Koalitionsdisziplin gestrichen.

Keine Blutschande sondern Reinzucht

Dass der Bruder dem Bruder einen Preis zuschiebt, ist keine Blutschande sondern Reinzucht: Nur wer sich familiär im Kreise dreht, hält sich rein. Das wussten schon die alten Ägypter. Dort machte es der Bruder mit der Schwester. In Deutschland treibt es der Bruder mit dem Bruder: Platz da für neue Geschlechter ist ein grünes Prinzip.

Nur der Bruder ist kein Luder

Das Habeck- Prinzip „Nur der Bruder ist kein Luder“ ist so hermetisch, dass keinerlei Alternative möglich ist. Da bleibt die grüne Fahne hoch und die Reihen sind fest geschlossen. Wer aus der Reihe tanzt, wird zur Tarantella nicht unter drei Runden verurteilt.

Grüne Massensuggestion

Die Tanzopfer leiden unter Tarantismus, einer psychischen Erkrankung in Verbindung mit Massensuggestion. Wer diese Krankheit erwischt, der hält GRÜN für die Farbe der Hoffnung, Deutschland für eine Demokratie und seine Medien für vielfältig.

Eau de Robert bei Douglas

Noch ist das Höchstmaß an Geschlossenheit nicht erreicht. Erst wenn Habecks Katze den Grammy für ihr Maunzen bekommen hat, wenn sein Papagei mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde und sein Schweiß als Eau de Robert bei Douglas Höchstpreise erzielt, ist die Zeit für das Vierte Reich gekommen. Jenes Reich, in dem die Schließer die Macht übernommen haben und die Ketten als Schmuck für alle gelten.

Urheberrecht

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Oben      —   Hauskatze, langhaarig, weiß mit braun-grauen Tigerflecken

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Die Hängematte BIG-Tech

Erstellt von Redaktion am 11. Juni 2023

Ein schlechter Zeitpunkt für Bequemlichkeit

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Big Tech hat eine bequeme Hängematte aufgespannt, in der die halbe deutsche Verwaltung baumelt. Um da wieder rauszukommen, bräuchte es Willenskraft und Ideen, schreibt unsere Kolumnistin. Stattdessen deklarieren wir die Abhängigkeit von Microsoft, T-Systems und Google als „Souveränität“.

„Bianca, du könntest doch mal eine Kolumne dazu schreiben, was du auf der re:publica so erlebt hast, so was Einfaches.“ Mal was ganz Einfaches schreiben in dieser Ausgabe von Degitalisierung. Nach der re:publica 2023, Leitmotto Cash. Ich könnte mir das ja bequem machen. Also eigentlich.

Nun, leider ist gerade ein ziemlich schlechter Zeitpunkt für Bequemlichkeit. Oder anders gesagt: Auf dieser re:publica wurde mir noch stärker bewusst, was Bequemlichkeit zum falschen Zeitpunkt für verheerende Folgen hat. Die Auswirkungen von schlecht getimter Bequemlichkeit merken wir heute aller Ort am Zustand der Digitalisierung in Deutschland. Aber nicht nur dort. Es geht weit tiefer. Letztlich betrifft uns ein bequemer Umgang mit Digitalisierung zum falschen Zeitpunkt als Gesellschaft.

Leider fürchte ich, dass uns diese Bequemlichkeit im Umgang mit Digitalisierung zu immer mehr Problemen führen wird. Auch wenn wir das noch so nett mit Floskeln wie digitaler Souveränität zu übertünchen versuchen. Der schwammige Begriff der digitalen Souveränität sei in diesem Text eher gelesen als die Möglichkeit, Kontrolle über Abhängigkeiten von digitalen Technologien oder Unternehmen selbstbestimmt ausüben zu können.

Selbstverstärkende Systeme

Aus der Eröffnungskeynote von Signal-Präsidentin Meredith Whittaker ist für mich vor allem ein Abschnitt wesentlich: „Die Technologieunternehmen, die das Geschäftsmodell der computergestützten Überwachung frühzeitig verfeinert haben, bauten massive Infrastrukturen, riesige Datenspeicher und große Nutzerbasen auf. Konkurrenten konnten das nicht einfach nachahmen oder kurzerhand einkaufen. Auf diese Weise verstärkte sich das System selbst.“

Big Tech hat systematisch ein feingliedriges Gesamtkonstrukt aufgebaut, das im Wesentlichen nichts wirklich besser kann in individuellen Aspekten, nur eben alles wesentlich bequemer als Gesamtpaket.

Beispiel Microsoft: IT-Infrastruktur auf Basis von Microsoft-Produkten ist nichts, was sich nicht auch mit anderen Produkten oder Open-Source-Lösungen anders umsetzen ließe. Es ist nur sehr bequem auf das ganze Ökosystem zu setzen. Microsoft Exchange als Basis zur Verwaltung von Unternehmenskonten, Office für Dokumente, dazu jetzt auch noch sogenannte KI mit ChatGPT. Selbstverstärkende Systeme auf vielen zueinander passenden Ebenen. Eine ganze Abhängigkeitskaskade.

Am Ende kommt dann aber wieder das große Wehklagen, wenn die finanzielle Abhängigkeit von Microsoft-Produkten etwa in der Bundesverwaltung von Jahr zu Jahr größer wird.

Versteckte Bequemlichkeit

Nun naht aber Abhilfe: eine Cloud, mit der „der öffentliche Dienst souverän“ bleibe. So zumindest die Ankündigung auf der Webseite von Delos, einer Cloudplattform auf Basis von Microsoft Azure und Microsoft 365 für die Verwaltung. Falls man nun meinen könnte, das sei doch wieder nur Microsoft, nein, nein. Das ist alles – ganz souverän – in deutschen Rechenzentren und unter eigenem Betrieb.

Bemerkenswerterweise übersetzt Delos-Chef Georges Welz die postulierte Souveränität eher als „Wahlfreiheit“. Das ist bemerkenswert anhand der tiefen Verzahnung einer Cloud-Office-Suite wie Office 365 mit allen Abhängigkeiten. Insbesondere dem De-Facto-Stillstand von Behörden ohne Zugriff auf Microsoft Office in eben dieser vermeintlich souveränen Cloud. Aber die Verfehlungen der letzten 20 Jahre könne man nun mal nicht „mit einem Fingerschnippen“ umkehren, befindet der Delos-Chef. Kannste nichts machen. Aber immerhin kann alles so bleiben wie es ist und das auch noch in der Cloud.

Klar, Clouds und deren zugrundeliegende Software gingen auch anders. Ebenfalls auf der re:publica gelernt habe ich, dass es problemlos möglich wäre, selbst aufgebaute Clouds in echten physikalischen Containern direkt in einem Wärmekreislauf aus Photovoltaik und Nahwärme zu Wohngebieten einzubinden.

Nur müsste man sich dann sehr genau damit beschäftigen, wie sich das mit „der Cloud“ in unsere gesellschaftliche Umgebung angemessen einfügen kann. Bequem ist das nicht. Stattdessen setzt der Markt lieber auf so fadenscheinige Produkte mit Spuren gefühlter Unabhängigkeit wie eine „T-Systems Sovereign Cloud powered by Google Cloud“.

Die in letzter Zeit oft beschworene digitale Souveränität geht also eigentlich in dem Moment verloren, an dem verzweifelt versucht wird, einen Weg zu finden, die eigenen kaum aufzulösenden Abhängigkeiten als „souverän“ zu deklarieren.

Schlimmer noch: Mit den bequem verzahnten Technologiestacks aus Clouds, Datenspeichern und darauf aufbauender sogenannter KI wird es immer schwieriger, eine wirklich selbstbestimmte und damit im eigentlichen Sinne souveräne Alternative zu wählen. Geht ja so bequem alles miteinander zusammen.

Wann sind wir falsch abgebogen?

Ein Hinweis, wann wir technologisch etwa in der Verwaltung abgebogen sind und aus Bequemlichkeit den Anschluss verloren haben, gab mir der kurzweilige Talk von Lilith Wittmann zum Thema Verwaltungsdigitalisierung. 1999 erschien ein Konzept namens Bund Online 2005. Ziel: Verwaltung digital bis 2005. Mit frappierender Ähnlichkeit zu aktuellen Vorhaben wie dem Onlinezugangsgesetz, auch in Version 2.0.

Im Konzept zu Bund Online lassen sich – neben der schon angesprochenen Abhängigkeit von Microsoft schon damals – folgende Perlen finden, die heute unverändert zutreffen: „Ein wichtiger Aspekt ist die zentrale Koordination der gesamten Aktivitäten. Zum einen müssen die einzelnen Aktivitäten in einer integrierten Gesamtarchitektur münden. Zum anderen können durch eine zentrale Koordination bzw. Bereitstellung einer Reihe von Basiskomponenten erhebliche Einsparungspotenziale bei gleichzeitig gesteigerter Qualität realisiert werden.“

Eigentlich wurde damals schon die Problematik des gebündelten Betriebs in Clouds heute und der Mangel an architektonischer Gesamtplanung klar umrissen. Eigentlich war alles absehbar, schon damals. Aus Bequemlichkeit und Verantwortungsdiffusion haben wir uns aber stattdessen tiefer in Abhängigkeiten und digitalen Zugzwang begeben. Immerhin hat das Tradition: „Das haben wir schon immer so gemacht“.

T.I.N.A.?

Technologie und ihre Abhängigkeitsfallen entwickeln sich aber weiter. Cloud-Infrastrukturen etwa sind gar nicht mehr die einzige Abhängigkeit, die wir auflösen müssten. Wir haben das Thema Clouds in der Digitalisierung in Deutschland auf einer so basalen Ebene verschlafen, dass der Verwaltung oder dem Gesundheitswesen droht, beim Hype-Thema KI nicht mehr hinterher zu kommen.

Die Entwicklung digitaler Technologien suggeriert oft, dass es keine Alternative gäbe. There is no alternative. T.I.N.A. Kannste nichts machen, musste hinterhergehen dem Trend.

Jedem technologischen Trend folgen zu müssen ist aber genauso gefährlich wie sich nicht verändern wollen. Es gilt einen sinnvollen Mittelweg zu finden zwischen den Polen „Haben wir schon immer so gemacht“ und „Hilfe, wir haben technologische Veränderungen verschlafen und müssen jetzt schnell unreflektiert Technologien einführen – obwohl sich gar kein gesellschaftlicher Mehrwert ergibt“.

Für mich ist die wesentliche Botschaft zur re:publica 2023 die aus tantes fabulösem Talk: Nichts, absolut nichts ist alternativlos.

Es ist mühsam und beschwerlich, sich ernsthaft mit technischen Entwicklungen und ihren Konsequenzen zu beschäftigen. Speziell wenn die Digitalisierung von Verwaltung und Gesundheitswesen Jahrzehnte im Rückstand ist. Aber diesen digitalen Rückstand werden wir nicht durch das hastige Aufbauen neuer versteckter Abhängigkeiten aufholen. Auch wenn es der vermeintlich einfache und bequeme Weg wäre.

Also ran an die Details neuer und verschlafener Technologien. Denn jetzt ist ein ganz und gar schlechter Zeitpunkt für Bequemlichkeit.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —       Digitalisierung in der British Library

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KOLUMNE * ERNSTHAFT ?

Erstellt von Redaktion am 11. Juni 2023

Tiefere Stimme, höhere Position

Eine Kolumne von Ulrike Winkelmann

Was könnte Annalena Baerbock erreichen mit dem Organ eines Sigmar Gabriel? Vielleicht gleicht KI ja bald die vokale Geschlechterungerechtigkeit aus.

Mein Respekt vor Politikerinnen, die von gängigen Körpernormen deutlich abweichen, ist parteiübergreifend. Das gilt umso mehr, da jede Häme im Internet millionenfach vervielfältigt und auch verewigt wird.

Die Mechanismen, die greifen, wenn eine gar-nicht-normschöne Frau die politische Bühne betritt, wurden schon oft beschrieben. Ich behaupte aber, dass sich – vermutlich gerade wegen der Spottlawinen in den sozialen Medien – der moralische Standard eher gefestigt hat, dass man Leute grundsätzlich nicht nach ihrem Äußeren zu bewerten hat. Noch nicht einmal Frauen in der Politik. Dieses Gebot gilt, selbst wenn es im Alltag gern und geifernd unterlaufen wird.

Was mich allerdings zunehmend wundert, ist, wie wenig über Stimmen geredet wird. Jeder weiß, dass Stimmen angenehm und unangenehm sein können. Tiefe Stimmen werden lieber gehört als hohe. Tiefen Stimmen wird mehr Autorität zugerechnet. Solche Gefühle und Reflexe entstehen in Millisekunden, ihnen ist mit Vernunft und Werten schwer beizukommen.

Doch statt dabei den Urskandal – dass Männer demnach einen ewigen Vorteil gegenüber Frauen haben – zu thematisieren, scheinen Stimmlagen die freimütige Urteilsfindung über Politikerinnen eher zu begünstigen: „Ich kann der nicht zuhören.“

Die Menopause als politische Chance

Dabei sind Stimmen erst einmal das Produkt längerer oder kürzerer Stimmbänder und insofern ein Körpermerkmal wie dünnes, glanzloses Haar. Während jedoch die Auseinandersetzungen etwa über Angela Merkels Frisur inzwischen Regale füllen würden, ist die Rolle ihrer Stimme bisher wenig beschrieben.

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Ein Sprachwirkungsforscher erklärte unlängst in dieser Zeitung, Merkels Stimme sei lange als „Kleinmädchenstimme“ bezeichnet worden, bis sie sich 2005 und 2006 durch die Menopause „deutlich abgesenkt“ habe (zur Erinnerung: Merkel wurde 2005 zur Kanzlerin gewählt). Erst von da an, so der Forscher, seien ihre Beliebtheitswerte gestiegen. Gleiches gelte für die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher.

Über Thatcher und die Frage, ob sie einen „Voice Coach“ beschäftigte, findet sich tatsächlich einige Literatur. Die vierte Staffel von „The Crown“ war der britischen Presse zuletzt Anlass für detaillierte Erörterungen, ob die Darstellerin Gillian Anderson den Thatcher-Sound richtig hinbekommen habe. Als unstrittig gilt dabei, dass Thatcher erst aufstieg, als sie ihre Stimme auf wählbares Niveau gesenkt hatte.

Nun machen zwei Regierungschefinnen noch keine Statistik. Doch möchte ich es gern als Fortschritt würdigen, dass Politikerinnen seit Thatcher und Merkel auch mit Stimmen vorwärtskommen, die wenig Souveränitätsmerkmale aufweisen.

Frauen müssen wohl kompensieren

Quelle            :       TAZ-online          >>>>>          weiterlesen 

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Grafikquellen      :

Oben      —       Wilhelm Busch: Lehrer Lämpel (aus Max und Moritz)

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Ein Scheitern des Westens

Erstellt von Redaktion am 10. Juni 2023

Die demokratische Hoffnung von 2019 ist im Sudan zerstoben.

Von Simone Schlindwein

Auch die EU hat die Warlords des Landes erst groß gemacht. Russland nutzt seine Chance im drittgrößten Staat Afrikas. Die EU versprach dem Sudan einen Ausweg aus der Isolation, wenn sich Diktator Baschir als Türsteher für Europa einspannen ließe.

Wenn zwei Elefanten sich streiten, dann leidet das Gras – so lautet ein berühmtes afrikanisches Sprichwort, das sich auf zahlreiche Konflikte auf dem Kontinent anwenden lässt. Zuletzt auch auf die Kämpfe im Sudan. Dort liefern sich seit Mitte April quasi zwei rivalisierende Generäle erbitterte Schlachten, vor allem innerhalb der Millionenstadt Khartum, mittlerweile aber auch in anderen Landesteilen an der Peripherie. Es geht um die Macht.

Seit 2019 der übermächtige Diktator Omar al-Baschir nach 30-jähriger Herrschaft aus dem Amt gehievt wurde, befindet sich der flächenmäßig drittgrößte Staat Afrikas in einer Übergangsphase. Dass diese nach heftigen Machtkämpfen nun in einen blutigen Bürgerkrieg mündet, haben Afrika-Experten kommen sehen. Der Sudan ist ein Beispiel dafür, wie Länder Afrikas nach jahrzehntelanger autoritärer Herrschaft nach dem Sturz eines übermächtigen Diktators in einen Bürgerkrieg abdriften. Eine internationale Strategie, dies zu verhindern, gibt es allerdings nicht. Und dies hat nun weitreichende Folgen.

Dabei hatten die Sudanesen so viel Hoffnung. Nach Jahrzehnten der Terrorherrschaft und der internationalen Wirtschaftssanktionen hatten sich 2019 die Menschen auf die Straße getraut – zum Protest. Der Grund: Die Lebensmittelpreise waren ins Unermessliche gestiegen. Kaum jemand konnte sich mehr ein Stück Brot leisten.

Die Zivilgesellschaft und Opposition organisierten sich. Sie kamen in der Hauptstadt zu Nachbarschaftskomitees und Protestaktionen zusammen, denen sich immer mehr Menschen anschlossen. Am 19. April 2019 versammelten sich Zehntausende zu einem Sitzstreik vor dem Armeehauptquartier, eine der zentralen Machtsäulen im Land. Die Demonstrierenden riefen die Generäle auf, Baschir zu stürzen, was sie letztlich auch taten. Der Diktator landete im Hochsicherheitsgefängnis, und die Generäle verhängten einen dreimonatigen Ausnahmezustand.

Von da an stand die Frage im Raum, welche Richtung eingeschlagen wird: eine Hinwendung zur Demokratie oder eine neue Militärherrschaft? Zunächst deutete alles in Richtung ziviler Regierung. Die Generäle einigten sich mit der Zivilgesellschaft auf eine Machtteilung. Ein gemeinsamer „Rat“ aus Militärs und Zivilisten wurde eingesetzt, der das höchste Organ der Staatsgewalt darstellen sollte, bis eine neue Verfassung ausgearbeitet, Wahlen abgehalten und neue Institutionen gegründet würden. Es war der Moment, in welchem westliche Diplomaten mit viel Druck, Geschick und Geld die Zivilgesellschaft hätten stärken können, um einen Bürgerkrieg zu verhindern.

Doch dies ist nicht passiert, zumindest nicht im nötigen Umfang. Und so bekamen die Militärs in Sudans Machtkampf die Oberhand. Doch was die Ereignisse jener Tage auch zeigten, war die interne Spaltung des Sicherheitsapparats. Nach dem Prinzip „teile und herrsche“ hatte Baschir innerhalb seiner Sicherheitsorgane rivalisierende Institutionen etabliert, die sich gegenseitig in Schach hielten. Ein wesentlicher Akteur ist die „Schnelle Eingreiftruppe“ (RSF) unter General Mohamed Hamdan Dagalo, bekannt unter seinem Kriegsnamen Hametti.

Der Neffe eines führenden Clanchefs aus der abgelegenen Region Darfur stellte seine Reitermiliz 2003 als Stoßtrupp Baschirs auf, um in Sudans Peripherie, wo seine Macht nur begrenzt hinreichte, Aufständische zu bekämpfen. Hametti wurde zum Handlanger des Präsidenten, um für ihn die Drecksarbeit zu erledigen. Dafür wurde er später grausamer Verbrechen bezichtigt. Als 2009 der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag gegen Sudans Präsident einen Haftbefehl erließ, wurde darin auch Hametti als ausführender Befehlshaber vor Ort erwähnt. Der Vorwurf: Völkermord in Darfur.

Hamettis RSF war in den letzten Jahren von Baschirs Herrschaft mächtig geworden. Die Miliz unterstand direkt dem Präsidenten und lag außerhalb jeglicher Befehlsstruktur der Armee. Im Zuge der europäischen Migrationspolitik gegenüber Afrika konnte Hametti zu einem entscheidenden Akteur anwachsen: Denn Baschir hatte erkannt, welche Rolle sein Land in der EU-Migrationsverhinderungspolitik spielen konnte. Die EU versprach dem Sudan einen Ausweg aus der internationalen Isolation, wenn sich Baschir als Türsteher für Europa einspannen ließe. Er übergab daraufhin der RSF die Aufgabe, Sudans Grenzen in der Wüste zu überwachen. „Also arbeiten wir stellvertretend für Europa“, hatte Hametti 2016 bei einer Pressekonferenz in Khartum geprahlt und 800 festgenommene Migranten präsentiert.

Spätestens da war der Mann aus der Provinz in den höchsten Machtzirkeln Khartums angekommen. Als Baschir dann im April 2019 von Sudans Generalstab verhaftet wurde, ging es für Hametti um alles oder nichts. Klar war: Sollte Baschir an den Internationalen Strafgerichtshof ausgeliefert werden, was die Zivilgesellschaft in ihren Sitzstreiks immer wieder forderte, wäre Hametti mit dran.

Als Vize-Vorsitzender des Übergangsrates konnte er dies nicht zulassen. Also schickte er seine RSF-Truppen los, um noch vor Ablauf des dreimonatigen Ausnahmezustands gegen die Protestierenden vorzugehen. Über 100 Menschen starben im Kugelhagel, unzählige wurden verletzt. Das brutale Vorgehen am 3. Juni 2019 ging unter dem Begriff „Khartum-Massaker“ in die Geschichtsbücher ein. Das war das endgültige Aus für einen möglichen Übergang in Richtung demokratische Zukunft.

Damit wurde der internationale Haftbefehl, der weitere Kriege verhindern sollte, zum Anlass für Hametti, einen neuen Krieg vom Zaun zu brechen. Als dieser in den frühen Morgenstunden des 15. April 2023 seine Truppen in Khartum losschickte, um den Flughafen und andere strategisch wichtige Einrichtungen unter Kontrolle zu kriegen, brach der Machtkampf unter den sogenannten Elefanten offen aus. Jetzt leidet das Gras.

Ein Großteil der Kämpfe findet in dicht besiedelten Gebieten der Hauptstadt und anderen urbanen Zentren statt. Nach wochenlangen Gefechten liegt nun die Wirtschaft am Boden, weil Transportrouten blockiert sind und die Infrastruktur zusammengebrochen ist. Die UN-Weltgesundheitsorganisation (WHO) befürchtet, dass in naher Zukunft mehr Menschen aufgrund des Mangels an grundlegender Versorgung und des Ausbruchs von Krankheiten sterben statt durch die Kämpfe an sich.

Eine humanitäre Katastrophe herbeizuführen, ist womöglich Teil der Strategie, die Hametti fährt. Denn derzeit wird das tägliche Überleben in der Millionenstadt lediglich durch die Selbstorganisation der Nachbarschaftskomitees aufrechterhalten, die noch 2019 die Proteste organisiert hatten. Es kann durchaus eine Taktik sein, diese letzten noch verbleibenden Reste der Zivilgesellschaft buchstäblich aushungern zu lassen, damit kein Zivilist mehr in der Hauptstadt übrig ist, der in naher oder ferner Zukunft an die Macht gelangen könnte.

Experten fragen zu Recht, welche Rolle Ex-Diktator Baschir spielt. Seit seinem Sturz 2019 saß er im Gefängnis in Khartum. Als sich im April dieses Jahres die Kämpfe rund um das Zentralgefängnis intensivierten, wurden von der RSF die Gefängnistore geöffnet; tausende Gefangene entkamen – darunter auch Baschir sowie wichtige Mitglieder des ehemaligen Regimes, etwa der ehemalige Vize-Innenminister Ahmed Haroun, neben Baschir einst einer der mächtigsten Männer innerhalb des Militärregimes.

Ganz offen wandte sich Haroun Ende April in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung. Er versicherte, er stehe dem sudanesischen Volk im aktuellen „Machtkonflikt“ zur Seite, der seiner Meinung nach von regionalen und internationalen Staaten unterstützt werde. Er betonte, er und andere inhaftierte Ex-Regimemitglieder hätten an einem anderen Ort „jetzt die Verantwortung für unseren Schutz in unsere eigenen Hände genommen“.

Quelle          :        TAZ-online       >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —    April 2006: UNMIS, Sudan. Khartoum main centre and street life

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Unten      —       SE Gration meets with UNAMID’s Deputy Joint Special Representative (Center) and new UNAMID Force Commander, General Patrick Nyamvumba (Right)

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Flüchtende suchen Zuflucht

Erstellt von Redaktion am 10. Juni 2023

Flüchtlinge gelten als Feinde unseres Wohlstands

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Wird hier aus der EU – Ein- oder Ausgeschlossen  ?

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von      :     Heribert Prantl / 08  

Der Migrationsdruck wird ein grosses Thema dieses Jahrhunderts. Das Schicksal zweier Kontinente wird sich darin entscheiden.

Es gibt Interviews, die man nicht vergisst. Ein knappes Jahr nach der Änderung des Asylgrundrechts im Jahr 1993 habe ich mit dem damaligen Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) ein Gespräch darüber geführt, was diese Grundgesetzänderung bewirkt habe.  Kanther äusserte sich hochzufrieden. Wir sprachen auch über den Brandanschlag von Solingen: Drei Tage nach der Asyl-Abstimmung im Bundestag waren bei einem Brandanschlag fünf türkische Frauen und Mädchen von Rechtsextremisten ermordet worden. Den entsetzen Kommentar dazu konnte man damals auf eine Hauswand gesprüht lesen: „Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch“. Kanther sah das anders. Er sagte: „Jetzt kommen nicht mehr 30’000, sondern 10’000 Flüchtlinge (im Monat. Red.). Das ist immerhin etwas, dieses Ergebnis bestätigt die Richtigkeit unserer Politik. Es wäre nicht erzielbar gewesen ohne die öffentliche Auseinandersetzung – die natürlich auch Hitzegrade erzeugt hat.“ Er sagte tatsächlich „Hitzegrade“!

Zwanzig Jahre lang hatte der Asylstreit bis dahin gedauert. 1973 war im Bundestag zum ersten Mal von Asylmissbrauch die Rede gewesen. Die Debatte darüber hatte sich in den späten Achtzigerjahren ins Orgiastische gesteigert. Über den Artikel 16 des Grundgesetzes wurde geredet, als wäre er der Hort von Pest und Cholera. Der sogenannte Asylstreit hat das politische Klima in Deutschland verändert wie kaum eine andere Auseinandersetzung in der Geschichte der Bundesrepublik.

Was Fliehkraft bedeutet

Davon handelt mein kürzlicher SZ-Plus-Text („Asylbetrüger … sind nicht Flüchtlinge, die Schutz vor Verfolgung und Hilfe in der Not suchen – sondern die Politiker, die ihnen Schutz und Hilfe verweigern“).  Er zeichnet den Weg nach von der deutschen Grundgesetzänderung im Jahr 1993 zu den EU-Elendslagern von heute und zu den Plänen für die „Festung Europa“, die nun bei der bevorstehenden EU-Ratssitzung verabschiedet werden sollen.

50 Jahre Asylstreit insgesamt. Die Flüchtlinge gelten als Feinde des Wohlstandes. Die EU schützt sich vor ihnen wie vor Straftätern. Sie werden betrachtet wie Einbrecher, weil sie einbrechen wollen in das Paradies Europa. Man fürchtet sie wegen ihrer Zahl und sieht in ihnen so eine Art kriminelle Vereinigung. Deswegen wird aus dem „Raum des Rechts, der Sicherheit und der Freiheit“, wie sich Europa selbst nennt, die Festung Europa.

Die Flüchtlinge, die vor dieser Festung ankommen, sind geflüchtet, weil sie eine Zukunft haben wollen. Sie sind jung, weil nur junge Menschen die Fliehkraft haben, die man als Flüchtender braucht. TV und Internet locken noch in dreckigsten Ecken der Elendesviertel mit Bildern aus der Welt des Überflusses. Noch bleibt der allergrösste Teil der Menschen, die wegen Krieg, Klimawandel und bitterer Not ihre Heimat verlassen, in der Welt, die man die dritte und vierte nennt. Mehr und mehr aber drängen sie an die Schaufenster, hinter denen die Reichen der Erde sitzen.

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Der Druck vor den Schaufenstern wird stärker werden. Ob uns diese Migration passt, ist nicht mehr die Frage. Die Frage ist, wie man damit umgeht, wie man sie gestaltet. Migration fragt nicht danach, ob die Deutschen ihr Grundgesetz geändert haben und womöglich noch einmal ändern wollen. Sie fragt nicht danach, ob die EU-Staaten sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention hinausschleichen. Die Migration ist da und der Migrationsdruck wird ein ganz grosses Thema dieses Jahrhunderts sein. Und das Schicksal zweier Kontinente wird sich darin entscheiden, ob der europäischen Politik etwas anderes einfällt als Abriegelung und Mobilmachung gegen Flüchtlinge.

Seit 1992, seit den „Londoner Entschliessungen“ zur Ablehnung von Asylanträgen hat sich EU-Konferenz um EU-Konferenz mit den Bauplänen für die Festung Europa befasst; das Projekt lief immer unter dem Namen „Harmonisierung des Asylrechts“.  Nun, bei der bevorstehenden EU-Ratssitzung in ein paar Tagen, sollen die Pläne fertiggestellt werden. Es sind keine guten Pläne. Es gibt eine Formel, die eine Schlüsselformel für gute, für bessere Pläne sein könnte: „Asyl ist für Menschen, die uns brauchen. Einwanderung ist für die Menschen, die wir brauchen.“ Es ist dies, es wäre dies der Grundgedanke für eine gute europäische Migrationspolitik. Es braucht eine respektierte Autorität, die sie propagiert.

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Oben      —     Grenzpatrouille an der Anlage

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Kolumne-Fernsicht-Japan

Erstellt von Redaktion am 10. Juni 2023

Die Abtreibungspille in Japan ist nur ein Teilerfolg

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Von  : Priyanka Borpujari

Welches Land ist wirklich fortschrittlich, wenn es darum geht, Frauen zu erlauben, über ihren eigenen Körper zu entscheiden? Dass ich hier von „erlauben“ spreche, sagt ja schon alles:

In Japan wurde nun, nach jahrzehntelangen Kampagnen, jetzt ein Medikament zugelassen, das den Abbruch einer Schwangerschaft in frühem Stadium herbeiführt. Japan ist eines der wirtschaftlich fortgeschrittensten Länder der Erde. Wenn es um sichere Methoden zur Beendigung einer Schwangerschaft geht, hinkt es aber ziemlich hinterher. Bisher sind dort nur Abtreibungen mittels gynäkologischem Eingriff erlaubt, und das auch nur, wenn der Ehemann oder Partner zustimmt.

Die USA drohen ja schon länger mit dem Streit um das Medikament Mifepriston weiter in viktorianische Verhältnisse zurückzudriften. Und auch in Japan können die Pillen mit Mifepriston und Misoprostol erst nach einer ärztlichen Konsultation erworben und eingenommen werden, sie kosten umgerechnet 570 Euro. Ein gynäkologischer Eingriff kostet mindestens ebenso viel. Und, wenig überraschend, die Krankenkasse in Japan übernimmt die Kosten nicht.

Doch selbst bis hierher war es ein mühsamer Weg: 12.000 Stellungnahmen wurden online gesammelt, bevor das Gesundheitsministerium aktiv wurde. Und auch jetzt ist noch nicht klar, ab wann die Abtreibungspille verfügbar sein wird. Das japanische Gesetz zu Schwangerschaften verlangt, dass der Partner einer Abtreibung zustimmen muss, es sei denn, er ist unbekannt oder kann seine Haltung nicht mitteilen. Das gilt auch bei einem medikamentösen Abbruch. Selbst unverheiratete Frauen müssen die Zustimmung eines Mannes vorweisen – so patriarchal ist die japanische Gesellschaft geprägt.

In Japan fordern viele auch einen besseren Zugang zu einer Verhütung durch die „Pille danach“. Vor ihrer Verabreichung ist bisher die Zustimmung eines Arztes nötig, und sie muss vor den Augen eines Apothekers eingenommen werden.

Es gibt bis heute kaum ein Land, in dem nicht versucht wird, Kontrolle über die Körper von Frauen und ihre Reproduktionsfähigkeit auszuüben. In Irland, wo ich lebe, wurden Schwangerschaftsabbrüche erst vor fünf Jahren gesetzlich zugelassen. Protestiert wird aber weiter: Weil sie nur bis 12 Wochen nach der Empfängnis erlaubt sind. Außerdem müssen drei Tage zwischen der Genehmigung durch einen Arzt und dem Eingriff selbst verstreichen. Im Notfall müssen Frauen für eine Abtreibung weiterhin per Flugzeug in ein anderes Land reisen.

Andererseits ist in Indien, dem Land meiner Geburt, Abtreibung bis zur 20. Schwangerschaftswoche erlaubt, was unter besonderen Umständen bis zur 24. Woche verlängert werden kann. Doch noch ist nicht dafür gesorgt, dass alle Frauen ausreichend über Wege und Mittel informiert sind, um eine Schwangerschaft abbrechen zu können.

Quelle         :         TAZ-online           >>>>>       weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Netz: PROGRESSIVE LINKE

Erstellt von Redaktion am 9. Juni 2023

Krise der Partei DIE LINKE gemeinsam überwinden

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Netzwerk Progressive LINKE

Start der Unterschriftensammlung:  2 Anträge an den Bundesparteitag der Partei – DIE LINKE

Gestern, am 07.06.2023, hat das Netzwerk PROGRESSIVE LINKE für Mitglieder der Partei – DIE LINKE –  eine Unterschriftensammlung für zwei Anträge an den Bundesparteitag im November 2023 gestartet. Diese Anträge wurden am 03.06.2023 auf einem Treffen des Netzwerks Progressive Linke von ca. 50 Mitgliedern der Partei einstimmig beschlossen, unter ihnen waren neben Mitgliedern aus der Parteibasis auch Landesprecher:innen, Bundes- und Landtagsabgeordnete.

Beide Anträge (siehe Anlage) thematisieren kritisch die aktuelle Lage der Partei und fordern Parteivorstand, Bundestagsfraktion und Landesverbände auf, ihrer existenziellen Krise energisch entgegenzutreten.

Es ist geplant, die Unterschriften bis zum Ende der Antragsfrist des Bundesparteitages zu sammeln und sie dann entsprechend der Geschäftsordnung in die Tagesordnung einzubringen.

Wir sagen: Eine Überwindung der tiefen Krise der Partei ist noch immer möglich. Es geht uns nicht um neue Formelkompromisse zur Überdeckung vorhandener Gegensätze, es geht um Klarheit für den künftigen Weg der Partei. Neben den beiden hier genannten Anträgen wird das Netzwerk der Partei wie auch der Öffentlichkeit weitere inhaltliche Angebote u.a. zur Sozial- und Europapolitik unterbreiten.

Berlin, 8. Juni 2023

https://www.progressive-linke.org/

Urheberrecht
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Oben      —    Foto: DIE LINKE NRW / Irina Neszeri

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Google Street View

Erstellt von Redaktion am 9. Juni 2023

Google Street View in Deutschland widersprechen

Von Jimmy Bulanik

Der IT Konzern Google will seinen Dienst „Google Street View“, was mitunter von kriminellen Personen und ebensolchen international operierenden Organisationseinheiten zur Vorfeldaufklärung von Straftaten wie Eigentumsdelikte verwendet wird, ab dem 22. Juni 2023 beginnen seine dreizehn Jahren alte Bildmaterialien zu aktualisieren. Alte Widersprüche welche in der Vergangenheit gegenüber dem Google Konzern in Deutschland eingereicht worden sind, gelten nicht mehr. Niemand braucht sich das gefallen zu lassen.

Deshalb ist es sinnig das alle Menschen welche es wollen, bei dem US Konzern Google LLC indem der „USA Patriot Act“ gilt hier in der Bundesrepublik Deutschland gratis gegenüber dem Unternehmen, Google Germany GmbH proaktiv und schriftlich zu widersprechen. Google war kein Freund, Google ist kein Freund, Google wird niemals ein Freund werden. Es ist eine profitorientierte juristische Person des privaten Rechtes welches persönliche Daten kultiviert, speichert und im Gegensatz zu dem US SIGINT Militärnachrichtendienst, National Security Agency obendrein monetarisiert.

Ungeachtet dessen in wessen Eigentum ein Grundstück, Objekt sich befindet, wie viele Personen darin wohnen. Bei einem gegen den Dienst, Google Street View schriftlich eingereichten Widerspruch aus dem Haus muss gesetzlich verpflichtend das gesamte, Grundstück und Gebäude im Internet unkenntlich gemacht werden. Diese rechtmäßige Macht sollte von allen sicherheitshalbar frühzeitig in Anspruch genommen werden. Deshalb wird ein juristisches Musterschreiben angeboten, welches durch meine Person zuvor gegenüber dem Google Konzern in der Bundesrepublik Deutschland schriftlich eingereicht worden ist.

Anrede

Vorname, Nachname

Straße, Hausnummer

Postleitzahl, Ort

Google Germany GmbH

Betr. Street View

ABC – Straße 19

20354 Hamburg

Email: Streetview-Deutschland@Google.com

W i d e r s p r u c h

Hallo,

hiermit widerspreche ich der Aufnahme, auf jeden Fall aber der Wiedergabe, von Abbildern meines Hauses in Ihrem Dienst „Google Street View“. Betroffen ist die Anschrift (Straße, Hausnummer) in (Postleitzahl), (Ort). Dezidiert erwarte und verlange ich von Ihnen die sofortige und entgültige Entfernung der Aufnahme meines Hauses aus dem “Online – Angebot”, beziehungsweise “Online – Dienst” und aus ihrem Datenbestand.

Ich erwarte und verlange von Ihnen eine zeitnahe und schriftliche Bestätigung meiner Willenserklärung welche eindeutig ist, Löschung der von mir oben genannten Daten.

Im Fall einer Zuwiderhandlung wende ich mich schriftlich an:

Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit Nordrhein – Westfalen

Kavallerie Straße 2 – 4

40213 Düsseldorf

Telefon: 0211384240

Fax: 021138424999

Email: Poststelle@LDI.NRW.de

sowie an die:

Verbraucherzentrale Nordrhein – Westfalen e.V.

Mintrop Straße 27

40215 Düsseldorf

Telefon: 021138090

Fax: 02113809216

Email: Service@Verbraucherzentrale.NRW

um juristische Maßnahmen gegen Sie einzuleiten.

Hochachtungsvoll,

(Nachname)

Verstuurd vanaf mijn iPhone

Von dem Gebrauch dieses Rechtes ist allen natürlichen Personen anzuraten. Das gilt mitunter für Eigentümerinnen, Eigentümer, Mieterinnen, Mieter ohne Ansehen der Person. Das gilt auch für jüngere Menschen.

Der Mensch ist nicht frei geboren worden, um als ein Produkt zu Enden.

Jimmy Bulanik

Nützliche Links im Internet:

Die EUDSGVO konforme Gesellschaft aus den Niederlanden, Startpage B.V. ist die sicherste Suchmaschine der Welt, dessen Alleinstellungsmerkmal es ist Suchergebnisse durch deren Proxy Server anonym aufrufen zu können.

www.startpage.com

Aus Frankreich stammt die EU – DSGVO konforme Gesellschaft, Qwant S.A.S., dessen Suchmaschine die Privatsphäre der Menschen respektiert.

www.qwant.com

Aus der Bundesrepublik Deutschland stammt die EU DSGVO konforme Gesellschaft, Ecosia GmbH welche ebenfalls die Privatsphäre der Menschen respektiert und dessen Nutzung zur Pflanzung von Bäumen beiträgt. Ab fünfzig Suchanfragen wird ein Baum mittels Spende gepflanzt werden.

www.ecosia.org

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Oben     —   Google street view car with camera in Hannover, Germany

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von Redaktion am 9. Juni 2023

Die Öffentlich-Rechtlichen machen sich plötzlich locker

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Die Plüschmaus patrouillierte über die Digitalmesse re:publica. Ansonsten waren die Öffentlich-Rechtlichen aber offen für digitale Tranformation.

„Re:­pu­bli­ca 23: Weniger Katzenbilder, mehr Hiobs­botschaften“, titelte die Berliner Zeitung zum alljährlichen Hochamt der Digitalcommunity, das diese Woche über die Bühne ging. Das versprühte ein Gefühl von „Die fetten Jahre sind vorbei“. Gut, re:­pu­bli­ca-Mitgründer Markus Beckedahl gab in seiner Rede zur Lage der Digitalnation schonungslose Einblicke in die Abgründe eines der reichsten Länder.

Pro Jahr geht es digital gerade mal ein paar Meter Glasfaserkabel weiter. Dafür öffnet Deutschland zum „Ausgleich“ seinen geheimen Diensten fürs Datensaugen immer weiter Tür und Tor. Aber es gab auch beruhigende Nachrichten! ChatGPT kann Wörter raten, manchmal sogar mit Zusammenhang. Mehr aber nicht. Journalismus wird also nicht überflüssig, und ob bei dem ganzen Spaß wirklich wenigstens bessere Überschriften rauskommen, bleibt abzuwarten.

So richtig fett haben dafür endlich die Öffentlich-Rechtlichen die re:­pu­bli­ca für sich entdeckt. Also nicht nur Arte, die wegen der französischen Rechtslage digital eh schon immer mehr durften und praktisch von Anfang an dabei sind. Auch ARD und ZDF waren mit gut gemachten Ständen und vor allem eigenen Programmstrecken präsent. Und während frühere ARD-Vorsitzende als leichte Fremdkörper durch die Hallen geschleift wurden, kam Kai Gniffke im coolen schwarzen T-Shirt und sah überhaupt nicht nach ARD-Vorsitzendem aus.

Übung im Dialog führen

Was ja dringend in dem Laden mit seinen ganzen Anstalten, Arbeitsgruppen, Kommissionen, GSEAs (Gemeinsame Einrichtung ARD), neuen Kompetenzzentren und vor allem Befindlichkeiten dringend gebraucht wird, hat hier locker-flockig funktioniert. Es geht um einen unbürokratischen Dialog aller auf Augenhöhe.

Und das Führen dieses Dialogs muss nicht nur mit den ÖRR-Konsument*innen und Beitragszahlenden gelernt werden, sondern er findet offenbar auch intern immer noch viel zu wenig statt. „Na, dafür muss ja erst noch ein Konzept für internen Dia­log in der ARD-ZDF-Medienakademie entworfen und mit allen abgestimmt werden“, meint die Mitbewohnerin.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben     —   Floaters caused by retinal detachments

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Eine neue Öko Klasse?

Erstellt von Redaktion am 8. Juni 2023

Militante Diplomatie, epistemische Gerechtigkeit und die Rechte der Natur

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Quelle        :     Berliner Gazette

Von                  :       · 07.06.2023

Stürme und Fluten, die auf den Klimawandel zurückgehen, können als Ausdruck einer revoltierenden Natur gelesen werden – eines Widerstands gegen die Zurichtung durch den Kapitalismus, der die Klima- und Umweltkrisen verursacht und regelrechtproduziert. Die Natur als Subjekt anzuerkennen (was indigene Völker traditionsgemäß tun), bedeutet nicht zuletzt ihr auch einen eigenen Rechtsstatus zuzuweisen (was häufig als Erfindung der westlichen Umweltbewegung gefeiert wird). Eine neue ökologische Klasse könnte dann entstehen, wenn solche Widersprüche in den Kämpfen der Unterjochten produktiv werden, wie der Autor und Theatermacher Kevin Rittberger in seinem Beitrag zeigt.

Am Anfang von Bruno Latours und Nikolaj Schulz’ „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“ wird erklärt, was es mit dem Untertitel „Ein Memorandum“ auf sich hat. „Merkbuch, in dem man festhält, woran man sich erinnern will.“ Das Memorandum erschien kurz nach Latours Tod. Und ähnlich einem anderen großen Kritiker der Moderne, Günther Anders, hat auch Latours Spätwerk die Notwendigkeit einer radikalen Transformation unterstrichen. Die „politische Ökologie“, an der der Soziologe und Philosoph bis zuletzt gearbeitet hat, ist nämlich der „Name einer Kriegszone“ und es war unzweifelhaft, dass der u.a. durch „Carbon Bombs“ unter Beschuss stehende Planet unbedingt verteidigt werden muss.

Ein Memorandum ist auch noch etwas zweites, nämlich ein Schriftstück, das ein Diplomat einer Regierung zukommen lässt, um den Standpunkt seiner eigenen Regierung darzulegen. Nun ging es Latour nicht ausschließlich um die Regierbarkeit des Nur-Menschlichen. Latours Diplomat*innen reagieren auch auf den immensen Übersetzungsbedarf zwischen nicht-menschlichen und menschlichen Akteur*innen. Und so bleibt es auch nicht bei ästhetisierenden Vorschlägen, wie sie etwa in der zeitgenössischen Kunst im Umlauf sind (hier sei nur Una Chaudhuris „interspecies diplomacies in anthropocentric waters“ erwähnt).

Latour/Schulz suchen einer ökologischen Klasse in ihrer Entstehung dergestalt zur Seite zu stehen, dass sich die richtigen „politischen Hebel“ finden lassen – jenseits der „Modernisierungsfront“, wozu auch der um Ölheizungswechselfristen, Kohleausstieg vorziehende und Emissionshandel bemühte, grüne Kapitalismus dieser Tage zweifellos gerechnet werden muss. Deshalb, weil es Latour/Schulz ums Ganze geht und die Suche nach der ökologischen Klasse auch die nach einem „militärischen Ethos“ ist, ist die Denkschrift auch ein Manifest geworden. Der gemeinsame Nenner einer ökologischen Klasse bleibt zwar unklar, auch werden Fragen ihrer Organisation ausgespart, die abschließende Frage zielt jedoch ins Herz gegenwärtiger Debatten: „Worin besteht die affektivste und effektivste Ausrüstung für ökologische ‘Kriege‘?“ Und wie gelingt es jenen Diplomat*innen, den „Widersinn der Ökonomisierung“ in einen Widerstand gegen die Ökonomisierung zu übersetzen?

Handlungen im Verzug

Die Gegenwart des Klimaaktivismus ist die Gegenwart „diplomatischer Schlachten“. Klimaktionen müssen heute angesichts der Gefahren einer fortschreitenden Unbewohnbarkeit der Erde und voranschreitender Verarmung, angesichts von rapide wachsender Klimaflucht und Ressourcenkriegen zunächst für die von der real-existierenden kapitalistischen Gegenwart betäubten Ohren rechtsstaatlich organisierter demokratischer Staaten übersetzt werden. Wir leben in einer „globalen Gefahrengemeinschaft“ (Jens Kersten) und diplomatische Schlachten sind Schlachten in fluiden Übergangszonen des Rechts, in denen mehr und mehr unklar wird, welche nationalen, internationalen, bilateralen Rechtssysteme und Abkommen wann greifen, wie sie aneinander vorbei oder ineinander wirken, wie ihnen von Seiten der Politik Einhalt geboten werden kann, wann sie von klimaaktivistischen Handlungen, die immer schon als Handlungen im Verzug wirken, aber auch von sich häufenden klimakatastrophalen Ereignissen erschüttert und zur Neujustierung gezwungen werden.

Der mühsame Ausstieg aus der EU Energiecharta, der endlich möglich erscheint, zeigt etwa, dass die Politik allmählich reagiert. Wie Klaus Dörre dargelegt hat, ist die ökonomisch-ökologische Zangenkrise aber nach wie vor wirksam (Dörre, 2021). Das Beispiel RWE im Rheinischen Revier und LEAG in Ostdeutschland zeigt gerade, dass auch Betriebsräte und Arbeiter*innen an der Verlängerung der Kohleförderung interessiert sind. Und auch in der Automobilindustrie kann nicht davon ausgegangen werden, dass Arbeiter*innen die „neosozialistische Option“ (Dörre) ziehen werden. Das alte Kampflied „Alle Räder stehen still/ Wenn dein starker Arm es will“ ist nunmehr der Ruf der antikapitalistischen Klimabewegung und es ist noch nicht ausgemacht, wie die unteren Klassen der Lohnarbeitenden, Prekarisierten, Papierlosen und Geflüchteten darin einstimmen. Muss die ökologische Klasse auf Industriearbeiter*innen folglich weitestgehend verzichten, da die sozialdemokratischen Parteien ihr traditionelles Klientel nicht an rechtsextreme Parteien verlieren wollen? Können ökologische Klassenkämpfe sich von den alten, allzu häufig national eingehegten Klassenkompromissen emanzipieren?

Ein Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts vom April 2021 war für Klimaaktivist*innen eigentlich wegweisend. Hier wurde eine „intertemporale Freiheitssicherung“ benannt, die durch den Gesetzgeber gewährleistet sein muss. Das Urteil beinhaltete die Warnung, dass die Gegenwart die schiere Möglichkeit aufbraucht, dass künftige Gesellschaften überhaupt noch freiheitlich organisiert werden können. Jens Kersten, Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der LMU München, macht seit dem Urteil jedoch erhebliche Versäumnisse aus: „Wenn Klimaaktivist*innen nun protestieren, müsste der Verfassungsstaat als Rechtsstaat dies bei der Frage der rechtlichen Bewertung von Protestaktionen zumindest berücksichtigen. Dass er dies – bis auf ganz wenige Ausnahmefälle (AG Flensburg) – aber gerade nicht tut, zeigt wiederum, dass seitens der staatlichen Institutionen der Wille besteht, dass der Protest gegen die ökologische Entwicklung schlicht nicht in der Öffentlichkeit sichtbar sein soll.“

Zum Schaden kommt noch der Spott, wenn die Selbstjustiz wutentbrannter Autofahrer*innen mediale Akzeptanz und Legitimation erfährt. Zudem wird die aus dem Urteil ableitbare ultimative Handlungsnotwendigkeit täglich im Säurebad parteipolitischer Kompromisslogiken aufgelöst. Die Proteste von Klimaschützer*innen drohen kriminalisiert zu werden, während die Regierungsvernunft allzu pragmatisch ausfällt. Schließlich muss der UN-Generalsekretär einschreiten, um darauf hinzuweisen, dass Klimaaktivist*innen geschützt werden müssen. Aber dem gesamten politischen Zirkus fehlt der Kompass, den Latour/Schulz und vor ihnen schon viele Aktivist*innen des globalen Südens anders ausgerichtet haben: „Die Welt, von der man lebt, mit der zur Deckung zu bringen, in der man lebt.“

Juristische Waffengleichheit“

„Das ökologische Grundgesetz“ (Kersten, 2022) sieht in seiner gründlichen, revolutionär zu nennenden Überarbeitung des deutschen Grundgesetzes vor, den Anthropozentrismus zu bändigen. Rechtspersonen, zu denen bisher erwachsene Menschen, Kinder, aber auch Vereine und kapitalistische Unternehmen gerechnet wurden, sollen sich ihre Rechtssubjektivität künftig mit mehr-als-menschlichen Lebewesen und Ökosystemen teilen. Das oben erwähnte Urteil des Bundesverfassungsgerichts würde an die Legislative zurückgebunden und der Staat als alleiniger Beschützer der Natur um ein nunmehr pluraleres Feld an Rechtspersonen verstärkt, die ihre Rechte künftig selbst einklagen können sollen. Die neue Verfassung sähe vor, „juristische Waffengleichheit“ zwischen anthropozentrischen und ökozentrischen Interessen herzustellen.

Übersetzen müssen ökologische Diplomat*innen zunächst zwischen Menschen, denn Menschen sind angesichts der gewaltigen Zerstörung der „Bewohnbarkeitsbedingungen des Planeten“, so Latour/Schulz, „unvorbereitet, mittellos, übungslos“. Übersetzt werden müssen jedoch auch die Rechte der Mehr-als-Menschlichen, die in der Geschichte des Liberalismus, aber auch in der Geschichte des Marxismus wenig bedacht wurden (Fahim Amir, 2018). Latour/Schulz wählen Begriffe aus der marxistischen Denktradition als Übersetzungsbeschleuniger, versäumen es aber auch nicht, auf Mängel hinzuweisen: „Die Analyse in Begriffen der ökologischen Klasse bleibt materialistisch, aber sie muss sich anderen Phänomenen als der alleinigen Produktion und der alleinigen Reproduktion ausschließlich der Menschen zuwenden.“

Mit dem Atomkraft- und Fortschrittkritiker Günther Anders ließe sich ergänzen, dass die Aneignung der Produktionsmittel ohne den umfassenden Rückbau der Produktivkraft-Technologien nur Teil des Problems wäre, nicht aber Teil der Lösung (Christian Dries, 2023). Noch nie wurden kapitalistische Produktionsmittel von sozialistischen Regierungen in Kollektivbesitz genommen, um die Produktion zurückzufahren und den dafür notwendigen Exktraktivismus zu stoppen. Sylvia Winter hat im Rekurs auf marxistische Revolutionen klar gestellt, dass der eine, alle einigende Befreiungsschlag nicht mehr zu erhoffen ist:

„As many of us were to do for many years, including Marxist feminists, we would attempt to theoretically fit all our existentially experienced issues – in my case, that to which we give the name of race – onto the Procrustean bed of Marx’ mode of economic production paradigm (.)… The idea was that once this was done (an exploitation system transformed into a new socialist mode of production) everything else would follow – including our collective human emancipation from what is, for Marxism, merely our present law-likely generated superstructural relations of production! (…) This change was to automatically follow! It didn’t, of course.“ (Wynter, 2015)

Wie könnte folglich ein „verwilderter Marxismus“ (Amir) aussehen, der die Menschlichen und Mehr-als-Menschlichen als Teil der ökologischen Klasse gleichermaßen aktiviert? Wie könnte ein dekolonial motiviertes Verlernen westlich-moderner Epistemologien Diplomat*innen einer ökologischen Klasse damit betreuen, das eigene Wissen permanent zu hinterfragen, damit sich „problematische Dichotomien“ nicht wiederholen: „subject / object, observer / observed, nature / culture, male / female, materiality / discourse, matter / meaning, ontology / epistemology“ (Karen Barad, 2015).

Epistemologische Gerechtigkeit

Der Natur Rechtssubjektivität zu verleihen und Ökosystemen vor Gericht eine Stimme zuzuerkennen, würde bedeuten, dass Natur nicht mehr objektiviert und dem Schutz des Staates oder dem paternalistischen Greenwashing von Unternehmen überlassen würde. So könnten künftig auch hierzulande Wälder, Moore, Meere, Pilzsysteme, Ökosysteme usw. klagen – wie dies gegenwärtig besonders in Ecuador und Kolumbien Normalität geworden ist. In Kerstens Entwurf gibt es aber auch noch weitere Hebel: Ein veränderter Eigentumstitel etwa, der den Eigentumsinhalt neu bestimmt und die Kohle unter Lüzerath und dem Hambaches Forst ferner nicht mehr dem Eigentum von RWE zurechnen würde.

Der Diskurs um die Rechte der Natur am Beispiel Ecuador zeigt auch, was passiert, wenn der moderne, europäische Verfassungsstaat auf vormoderne, indigene Kosmologien trifft. Denn es geht auch um epistemologische Gerechtigkeit. Jeder Prozess beinhaltet die Möglichkeit der erneuten Aushandlung von anthropozentrischen und ökozentrischen Interessen und damit auch von westlichen und indigenen Wissenssystemen. Diese „Rechtshybridität“ erhält nun immer mehr Einzug auch in die innereuropäische Diskussion um die Rechte der Natur (Andreas Gutmann, 2021). Und „juristische Waffengleichheit“ bedeutet auch nicht, dass die Natur immer gewinnen wird. Denn, darauf hat bereits Walter Rodney in den 1970er Jahren hingewiesen, ganze Länder drohten um des Naturschutzes willen in „Tierschutz-Republiken“ umgewandelt zu werden: „Es wurden alle Anstrengungen unternommen, um Touristen anzulocken, die sich Tiere ansehen wollten, die einen höheren Stellenwert als die Menschen hatten“ (Rodney, 1972).

Damals wie heute kann weißer Ökozentrismus auch bedeuten, Indigene von ihrem Land zu vertreiben und „Schutzgebiete“ für Biodiversität einzurichten, wobei den Investor*innen des globalen Nordens allzu oft in neokolonialer Manier vorbehalten bleibt, die Einhegungen zu gestalten und innerhalb der Schutzgebiete doch noch Konzessionen für den Rohstoffabbau zu erwerben (Aby Sène-Harper, 2023). Naturschutzpolitik geht dann häufig auch mit einem repressiven Strafrechtssystem einher und korrumpiert damit die Idee der Rechte der Natur, die mit der Souveränität indigener und lokaler Gemeinschaften einhergehen muss. Die Rechte der Natur brauchen folglich auch die Anbindung an rechtlich geschützte Commons, die ihre Regeln weder vom Staat, noch von der Privatwirtschaft erhalten.

Die Skripte der gegenwärtigen diplomatischen Schlachten kommen Palimpsesten gleich: Unter den abgekratzten Schichten der gegenwärtigen Rechtssprechung, die dringend überarbeitet werden muss, wirkt ein älteres und gleichzeitig mit mehr Zukunft versehenes Zeitmaß, das mit Anthropozän nur unzureichend beschrieben werden kann. Ältere Epistemologien kommen zum Vorschein und greifen in neue onto-epistemologische Versuche, die westliche Moderne mit ihren Glaubenssätzen abzulösen (Denise Ferreira da Silva, 2022). Latours Frage „Warum versuchen wir nicht, eine freundlichere Kosmologie zu entwerfen und zwar durch unsere Praktiken?“ bleibt für die Entstehung einer pluralen ökologischen Klasse die entscheidende.

Anm.d.Red.: Der Autor dieses Beitrags führte im im Rahmen des BG-Schwerpunkts „After Extractivism“ ein Gespräch mit Fabian Flues.

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Ein patriotisches Bekenntnis

Erstellt von Redaktion am 8. Juni 2023

Der Beitrag von Kirche und Staatsreligion zur herrschenden Kriegsmoral

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von               :      Manfred Henleon

Anlässlich der Verleihung des Karlspreises 2023 an den ukrainischen Oberbefehlshaber und dem ihm unterstehenden ukrainischen Volk für seinen Opfergang im übergeordneten NATO-Interesse, sehen sich Kirche und herrschende Staatsreligion aufgefordert, auch ihrerseits einen unbedingt offensiv-konstruktiven Beitrag zur herrschenden Kriegsmoral und Kriegspropaganda zu leisten.

1. Ein patriotisches Bekenntnis

Dies gemäss kirchlich-religiöser Tradition in Form einer Predigt und in Gestalt eines kirchlichen Würdenträgers, eines Bischofs. Eines Bischofs, der „bewusst als Angehöriger meines Volkes…als Deutscher“1 spricht. Das patriotisch-parteiliche Bekenntnis von Kirche und etablierter Staatsreligion zur demokratisch herrschenden „weltlichen Obrigkeit“ und ihrer jeweiligen Staatsräson ist erstens verlangt und zweitens Grundlage der staatlich erlaubten und gebotenen Freiheit der religiösen Verkündung und Betätigung.

Drittens gebietet das religiöse Selbstverständnis von sich aus, dem Bösen und Sündhaften entgegen zu treten. Diesen drei Maximen entsprechend haben Vatikan, Kirche und Staatsreligion seit jeher, von einigen wenigen und insofern harmlosen Abweichlern abgesehen, jede Gewalttat und Schlächterei ihres irdischen Oberhirten und Herren befürwortet und den kirchlich-religiösen Segen einschliesslich der Sieges-Hoffnung für das eigene Allgemeinwohl erteilt: sei es durch affirmatives Schweigen oder gleich als offensiv-militantes Bekenntnis zur herrschenden Kriegsmoral. Die hat heute dieses Gesicht:

Mit dem Ukrainekrieg und der von ihm – angeblich sachzwangmässig – ausgelösten »Zeitenwende« hat sich in Kürze eine Kriegsmoral durchgesetzt, die die neuen Zeiten beinahe euphorisch als Beendigung der westlichen Agonie des Zauderns und Zögerns begrüsst. Militarisierung, erfolgreiche Kriegsführung, innere Feindbekämpfung und eine unverbrüchliche Partnerschaft mit den Freiheitskämpfern der Ukraine geben den Ton an und abweichende Meinungen werden immer weniger toleriert. (N.Wohlfahrt/J.Schillo,2023)2

Die kirchlich-religiöse Befürwortung der jeweils geltenden Kriegsmoral, Kriegspropaganda und eines geplanten oder laufenden Krieges ist zwar im Westen nichts Neues. Wie sich gegenwärtig das militant-gewaltbereite, religiöse deutsche Bekenntnis in seiner Predigt und Fürbitte für den Sieg über Russland unter Indienstnahme der ukrainischen Bevölkerung vorträgt und begründet, ist einer kurzen, näheren Betrachtung würdig.

2. Der Krieg als anthropologische Verharmlosung

Dass die demokratische Obrigkeit jederzeit gewaltbereites Subjekt und Veranstalter des Krieges und der damit angeordneten Gewalttat und Schlächterei mithilfe modernster Waffengattungen um des Kriegsziels und Sieges willen ist, ist ein unangenehmer Sachverhalt und wirft kein gutes Licht auf dieses zu jeglicher Gewaltanwendung bereite politische Subjekt. Dieser Sachverhalt bedarf einer grundsätzlichen Umdeutung und kirchlich-religiösen Ermahnung:

„die Gewalttätigkeit des Menschen hat ihren Ursprung nicht etwa in der Religion selbst, sondern im Herzen des Menschen. Gewalt entsteht immer zuerst in unserem eigenen Denken, Sinnen und Trachten.“

Entschuldigt und aus der Schusslinie genommen sind somit Religion und Staat: Erstere in neuerer Geschichte als Befürwortung und Seligsprechung staatlicher und kriegerischer Gewalt, Letzterer als Urheber und Autor der diversen Schlachtfelder und des Abschlachtens. Die „Gewalttätigkeit“, die in uns allen lauert, bricht sich einfach, grundlos und unberechenbar ab und zu Bahn und ergibt dies moralisch und menschlich-human nicht hinzunehmende Resultat:

Und wie der Krieg so alle Gewaltausbrüche Einzelner oder im Kollektiv spontan oder als organisierter Mob auf der Strasse oder in Hooligan-Fan-Gruppen im Sport oder in netzwerkartig organisierter Kriminalität.

Dergestalt die staatliche Gewaltbereitschaft zum Krieg und die demokratisch organisierten Kriege in eine anthropologische Natureigenschaft urmenschlicher Böswilligkeit verharmlost und entpolitisiert, ruft, sehnt sich nach einer überlegenen ordnenden Gewalt, die der böswilligen menschlichen Gewalt, dem „dauernden Drang zur Selbstgerechtigkeit, denn das ist die Quelle aller Gewalt im Herzen des Menschen: die isolierte Selbstbezogenheit“ Einhalt gebietet.

3. Gewalt und Krieg – Höhepunkt der abendländischen Zivilisation und Menschlichkeit

Gottlob, aber keineswegs zufällig, steht die Errettung der Menschlichkeit und Menschheit gegenüber ihrer eigenen böswilligen, anthropologisch verankerten Gewaltbereitschaft längst vor der Tür; und tritt als zivilisatorischer Höhepunkt dem urzeitlich-paläogenetischen Willen zur Gewaltbereitschaft entschieden gewaltbereit entgegen:

Jahrtausende unserer europäischen Geschichte hat es gebraucht, bis wir das strikte Gewaltmonopol des Staates erreicht hatten. Zu dieser zivilisatorischen Errungenschaft gehört es, dass ausschliesslich Polizeikräfte und das Militär Gewalt einsetzen dürfen, dies aber wiederum nur im Rahmen des Rechtsstaates zur Sicherung und Durchsetzung des Rechts im Inneren und zur Verteidigung der staatlichen Sicherheit nach aussen im Rahmen des Völkerrechts.

File:2022 Aachen, Centre Charlemagne (53).jpg

Die als offensiv-konstruktiver Beitrag zur herrschenden Kriegsmoral und Kriegspropaganda vorgetragene Predigt und Fürbitte seitens der Kirche und Staatsreligion feiert die deutsch-europäische und westliche staatliche Gewalt mit ihren Kriegen als eine „zivilisatorische Errungenschaft“, die „wir“, als der europäische, also der vorbildlichste Teil der Menschheit, „uns“ gegeben haben. Die Rechtfertigung und Lobpreisung dieser „zivilisatorischen Errungenschaft“ machen andererseits einige Auslassungen in der historischen Erinnerungsarbeit notwendig: Kriegsführung nach dem Prinzip Shock and Awe („Angst und Entsetzen“), hie und da ein kleiner Wort- und Völkerrechtsbruch, hie und da ein Krieg auch ohne UN-Mandat, hie und da Erschaffung von und Kooperation mit Diktaturen, „Autokratien“ und ähnlichen „Werte-Partnern“, inklusive Folter und eigenen Foltergefängnissen, natürlich blacksites – und dergleichen mehr. Solche Erinnerungen vertragen sich nicht gut mit der herrschenden Kriegsmoral und Kriegspropaganda.

Und kommen sie doch zur Sprache so ist ausgemacht, dass sie der russischen Fehl- und Desinformation, Faktenfälschung, Putinversteherei und Putin-Parteinahme im ausschliesslich russisch geführten Informationskrieg entspringen. Gleichermassen und insbesondere gilt dies der 30-jährigen Vorgeschichte und gegenwärtigen Geschichte zum Krieg in der Ukraine: Vorgeschichte und gegenwärtige Geschichte sind öffentlich so zubereitet, dass die kriegsmoralisch und kriegspropagandistisch relevante Frage von Schuld und Bösartigkeit, von Unschuld und Gutwilligkeit, von Aggression und Verteidigung, von Täter und Opfer keine öffentliche Frage mehr ist. Die Rollenverteilung ist auch für Kirche und Staatsreligion geklärt, denn: „Es gilt das gesprochene Wort“.

Die auf diese Weise moralisch bereinigte westliche Gewaltbereitschaft und Gewalt ist nur gerecht: Im Krieg des Westens gegen die Russische Föderation mittels des ukrainischen Territoriums und der ukrainischen Bevölkerung erweisen sich kontinuierlich eskalierende Waffenlieferungen, die Aufherrschung eines gnadenlosen Stellungs-, Graben- und Zermürbungskrieges bis hin zur Hinterlassenschaft einer ruinierten, gegebenenfalls auch atomar verseuchten Ukraine3 als gerechter Krieg (bellum justum). Der erteilt seinen kriegsmoralischen Segen dem demokratisch ohnehin beschlossenen Krieg (jus ad bellum) gegen Russland einschliesslich der Beachtung des humanitären Rechts im Krieg (jus in bello). In dem zählt ausschliesslich der kompromisslose militärische und weltpolitische Sieg über Russland. Und da geht es um nichts Höheres als:

„Das weit verbreitete Wort ist wahr: Krieg ist eine Niederlage der Menschlichkeit.“

Und, wie bekannt, sind Kriege zur Verteidigung der Wahrheit, der Menschheit und der Menschlichkeit gegen das Unwahre und Unmenschliche die rücksichtslosesten und grausamst geführten Kriege. Dieser „zivilisatorischen Errungenschaft“ des Westens und der NATO nach sieht die Ukraine gegenwärtig aus.

In der kriegsmoralischen und kriegspropagandistisch öffentlich erzeugten Betrachtungsweise stellt die weltweit agierende, kriegsträchtige, NATO-bewaffnete europäische Friedensordnung die „Höhe der Zivilisationsgeschichte der Menschheit“ dar. Diese Friedensordnung hat es neben ihren in aller Handlungsfreiheit veranstalteten zahllosen Kriegen zur faktischen Eingemeindung der Ukraine in die NATO und in das Projekt der endgültigen Herabstufung oder Zerstörung Russlands mittels des Krieges in der Ukraine gebracht. Diese „grossen zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit“ gilt es mit aller gebotenen Gewalt zu verteidigen. Will heissen, zu ihrem erfolgreichen Abschluss zu bringen.

4. Das ukrainische Erfolgsmodell – zivilisatorisches Schutzschild gegen das Böse

Das westliche Angebot an die Ukraine, sich im Krieg gegen Russland zu bewähren und in diesem westlicherseits ihm angetragenen Überlebenskampf seine Staats- und Nationenwerdung als antirussischer NATO-Frontstaat zur Vollendung zu bringen, lässt sich die ukrainische Führung nicht zweimal sagen. Mittels Eingemeindung in EU und NATO sich einen rein ukrainischen Erfolgsweg zu eröffnen und sicherzustellen, um innerhalb uns ausserhalb der EU ein respektables aussenpolitisches Gewicht zu erlangen, ist längst ukrainische Staatsräson und geht konform mit dem westlichen Kriegsziel der Benutzung der Ukraine als Waffe zur weltpolitischen Zurückstufung oder definitiven Zerstörung Russlands. Dementsprechend herrscht Einigkeit in der Bestimmung des gegenwärtigen, realen Hauptfeindes – als Verkörperung des Aggressiven und Emanation des Bösen schlechthin: kriegsmoralisch, kriegspropagandistisch und kirchlich-religiös gewendet. In ukrainischen Worten:
Ukraine is now the wall that protects European civilization, so it is in the interests of Western partners to provide the Armed Forces of Ukraine with as many modern weapons as possible. We tell them [NATO] that even after the victory, Russia will not change immediately… This means that we are the eastern shield of European civilization that continues to defend European civilization. We are the wall, as the famous TV series [Game of Thrones] shows, on which we stand and hold the defense and will continue to do so.4

Kein Wunder also, dass sich die anthropologische Natureigenschaft urmenschlicher Böswilligkeit wie von selbst gegenwärtig in Russland Bahn bricht. Wie Zeitenwende und Kriegsmoral gebieten, offenbart sich, wie kann es anders sein, der „dauernden Drang zur Selbstgerechtigkeit…die isolierte Selbstbezogenheit..“ in Russland: „Das sage ich bewusst als Angehöriger meines Volkes.“ Dem so eindeutig identifizierten Bösen mit dem seiner Natur entsprechenden „verbrecherischen Angriffskrieg“ nicht entschlossen und mit aller Gewalt entgegenzutreten, bedeutete:

Ihn zu akzeptieren oder gar akzeptabel machen zu wollen durch beschwichtigendes oder wahrheitswidriges Appeasement, verletzt und verlässt die Höhe der Zivilisationsgeschichte Europas und der Europäischen Einigung.

5. Das Evangelium der Zeitenwende

„Das Geheimnis der Göttlichen Dreifaltigkeit“ in Form der bischöflich-religiöse Segnung, Feier und Verherrlichung westlicher „Gewalt als Mittel der Politik“ stellt klar, dass die demokratisch geläuterte Staatsreligion, „hier insbesondere die christliche“, keinesfalls „immer neu aus der Betrachtung der Heiligen Schrift“ als Quelle ihre geistliche Inspiration gewinnt. Vielmehr und ganz im Gleichklang mit seinem irdischen Herren, liefert das Gebot „Haltet Christus heilig in euren Herzen als euren einzigen Herrn!“ mit seinem kriegsmoralisch-patriotischen Bekenntnis einen konstruktiv-militant gemeinten Beitrag dazu, dem ukrainischen und NATO-Kriegsziel rückhaltlos zuzustimmen und jeglichen pazifistischen Anflug als „beschwichtigendes oder wahrheitswidriges Appeasement“ moralisch herabzusetzen und zu exkommunizieren.

Sosehr sich die etablierte Staatsreligion vorbehaltlos für „die Verbindung der Religion mit der Gewalt“ ausspricht hinsichtlich der heute gültigen, produktiven Arbeitsteilung „Nur der Staat trägt das Schwert, nicht aber die Religion!“; und in dem Sinn „Staat, Nation und Kirche eins werden“, sowenig kann davon die Rede sein: „Das Reich Christi ist nicht von dieser Welt.“ Mehr Weltgebundenheit des Reiches Christi in der gegenwärtigen Zeitenwende-Zivilisation, da Staat, Nation und Kirche einschliesslich der medialen Öffentlichkeit sich hinsichtlich des Hauptfeindes einig sind und „keine kritisch-konstruktive Distanz mehr zueinander wahren“, ist schwer vorstellbar.

Die exklusive Quelle auch der geistlich-religiösen Inspiration ist die weltpolitische Zurückstufung oder Zerstörung Russlands. Darin ist das Evangelium der Zeitenwende zusammengefasst. In dem Sinn das Gebet und die Fürbitte: „…möchte ich auch als Deutscher die Verleihung des Karlspreises an Präsident Selenskyj und an das ukrainische Volk heute ausdrücklich begrüssen!… Amen.“

Fussnoten:

1 Predigt von Bischof Dr. Helmut Dieser am Sechsten Sonntag der Osterzeit, 14. Mai 2023, in der Hohen Domkirche in Aachen, unter: https://www.karlspreis.de/Portals/0/pdf/Predigt-von-Bischof-Dr_-Helmut-Dieser-vor-Verleihung-des-Karlspreises-2023.pdf?ver=2023-05-15-170109-080; soweit nicht anders vermerkt entstammen alle folgenden Zitate dieser bischöflichen Predigt.

2 Norbert Wohlfahrt/Johannes Schillo Die deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch Lektionen in patriotischem Denken über »westliche Werte«, Berlin, 2023: 125.

3 Zumindest verseucht durch panzerbrechende, abgereichtere Uranmunition, die die USA und der NATO-Westen ab 1990 auf ihren diversen Kriegsschauplätzen zum Einsatz gebracht haben; und zwar: 1990/1991 im Golfkrieg gegen den Irak, 1992-1995 in Bosnien/Herzegowina, 1999 in Kosovo/Serbien/Montenegro, 2003 im Golfkrieg gegen den Irak, in Syrien ab 2011. vgl. dazu: https://www.truppendienst.com/themen/beitraege/artikel/uran-munition-sondermuell-auf-dem-gefechtsfeld Die britische Entscheidung, der Ukraine panzerbrechende DU-Munition zu liefern bereichert die Welt nebst einem Balkan- und Golfkriegsyndrom demnächst wohl um ein Ukrianesyndrom; vgl. dazu: https://www.berliner-zeitung.de/open-source/krieg-britische-regierung-will-uranmunition-an-ukraine-liefern-trotz-gefahr-fuer-leben-und-gesundheit-li.337209; und: https://www.infosperber.ch/politik/welt/england-liefert-der-ukraine-munition-mit-abgereichertem-uran/

4 So der ehemalige ukrainische Verteidigungsminister Reznikow am 24.4.2023, unter: https://www.ukrinform.net/rubric-polytics/3702002-ukraine-is-shield-that-protects-european-civilization-reznikov.html; ssowie unter: https://twitter.com/ZentraleV/status/1612014109473521664

Quellen:

Norbert Wohlfahrt/Johannes Schillo, Die deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch Lektionen in patriotischem Denken über »westliche Werte«, Berlin, 2023 vgl. auch unter:

Internetquellen:

Predigt von Bischof Dr. Helmut Dieser am Sechsten Sonntag der Osterzeit, 14. Mai 2023, in der Hohen Domkirche in Aachen, unter: https://www.karlspreis.de/Portals/0/pdf/Predigt-von-Bischof-Dr_-Helmut-Dieser-vor-Verleihung-des-Karlspreises-2023.pdf?ver=2023-05-15-170109-080;

Berliner Zeitung, 19.4.2023: Uranmunition in der Ukraine – trotz Gefahr für Leben und Gesundheit? https://www.berliner-zeitung.de/open-source/krieg-britische-regierung-will-uranmunition-an-ukraine-liefern-trotz-gefahr-fuer-leben-und-gesundheit-li.337209; und: https://www.berliner-zeitung.de/open-source/krieg-britische-regierung-will-uranmunition-an-ukraine-liefern-trotz-gefahr-fuer-leben-und-gesundheit-li.337209 Infospreber, 25.5.2023: England liefert der Ukraine Munition mit abgereichertem Uran https://www.infosperber.ch/politik/welt/england-liefert-der-ukraine-munition-mit-abgereichertem-uran/

Ehemaliger ukrainischer Verteidigungsminister Reznikow, 28.4.2023: https://www.ukrinform.net/rubric-polytics/3702002-ukraine-is-shield-that-protects-european-civilization-reznikov.html; sowie unter: https://twitter.com/ZentraleV/status/1612014109473521664https://www.ukrinform.net/rubric-polytics/3702002-ukraine-is-shield-that-protects-european-civilization-reznikov.html

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Ohnmacht durch KI

Erstellt von Redaktion am 7. Juni 2023

Es geht um Grundfragen: Wer wollen wir sein?

Ein Schlagloch von Matthias Greffrath

Künstliche Intelligenz dürfte die Menschheit schneller verändern als die Entdeckung des Feuers. Während Kulturkritiker und Soziologen versuchen zu begreifen, was da geschieht, werden die Claims gesteckt.

Natürlich habe auch ich Chat-GPT ausprobiert. Am schönsten war es, als ich den Rhein eine Laudatio auf Heinrich Heine habe halten lassen: „In den Tiefen meiner Fluten formten sich seine Gedanken, seine Inspiration und seine künstlerische Leidenschaft. Ich hatte das Privileg, seine Wiege zu sein, seine musikalische Begleitung während seiner Jugendjahre entlang meiner Ufer … Aber Heine sah mich nicht nur als romantische Kulisse, sondern auch als Symbol für politische Macht und soziale Konflikte.“ Wow!

Die Freude an solchen unterhaltsamen Spielchen, mit denen man viel Zeit verdaddeln kann, verging mir, als ich das Video einer Sitzung des US-Senats ansah. Der Vorsitzende, Senator Richard Blumenthal, umriss in einer einleitenden, pointierten Rede einige der Probleme der künstlichen Intelligenz. Er tat es mit ruhiger Stimme – und mit geschlossenem Mund. Denn er hatte Chat-GPT um diese Einleitung gebeten, und die Stimme hatte das Computerprogramm aus dem Rohmateral früherer Senatssitzungen geklont.

„Stellen Sie sich vor“, sagte Blumenthal, „ich hätte das Programm gebeten, mit meiner Stimme die Kapitulation der Ukraine zu fordern oder Putin zu unterstützen …“ Seine Konsequenz: Wir sollten nicht noch einmal den Zeitpunkt für wirksame Kontrollen verpassen, wie bei Social Media. Und Sam Altman, der Erfinder von Chat-GPT, bat die Regierung um eine Agentur zur Regulierung der Technik.

Das zweite Erlebnis, nicht weniger spooky: der Auftritt von Sascha Lobo auf der OMR („Online Marketing Rockstars“)-Konferenz von 70.000 Influencern und Online-Marketeers in Hamburg. Auch Lobo konnte sich den Klon-Trick mit einem Grußwort von Olaf Scholz nicht verkneifen, aber dann war, eine halbe Stunde lang, seine gemäßigt hysterisierte Botschaft an die Gemeinde: Ihr wart die Pioniere der Social Media, ihr müsst jetzt die Entwicklung vorantreiben, KI in jeden Winkel bringen, damit „Deutschland auch noch in zwanzig Jahren ein reiches Land“ ist.

Jeder hat persönlichen KI-Influencer

Lobo mokierte sich über die Bedenkenträger, die mit den Fakes und Bots das Ende der Demokratie, gar der Zivilisation kommen sehen, und blickte in eine lichte Zukunft, in der jeder seinen persönlichen KI-Influencer hat, eine „Person“, die das Intervall zwischen Wunsch und Bestellung radikal verkürzen könnte. Die Chinesen seien uns weit voraus, auch weil sie „großartige, fantastische“ Datenmengen aus den privatesten Chatbots ihrer Bürger abgreifen können, was hierzulande „manche Menschen ein bisschen verstört“.

Plenarsaal

Hat nicht heute schon Jeder der hier sitzenden mehrt Influenz-er als Finger an den Händen ?

Und deshalb: Gehet raus und überzeugt die Menschen, das zu beschleunigen, was ihr gerade mal ein wenig und sie noch gar nicht verstehen. Die Versammlung der kapitalistischen Zukunftsfreunde; die Furcht von Politikern vor einer Entkernung demokratischer Verfahren; die Angst von Militärs vor dem automatisierten Drohnenkrieg; die Verschärfung von Wahn und Fake in den Social Media – all das füttert meine Ohnmachtsgefühle.

Und ich bin umgeben von Menschen, denen es auch so oder ähnlich geht, und das sind nicht nur Rentner. Viele, die sowohl mit der Technik wie mit den Regulierungsversuchen vertrauter sind als ich, sind überzeugt, dass die Schwelle, über die „wir“, die Menschheit also, in globaler Gleichzeitigkeit gehen, ungefähr die Größenordnung des Übergangs zur Alphabetisierung, wenn nicht gar zur Sesshaftigkeit hat, nur nicht so allmählich wie die Ausbreitung von Feuer, Schrift und Webstuhl.

Und während Kulturkritiker und Soziologen noch versuchen zu begreifen, was da geschieht, werden die Claims gesteckt: in der globalen Privatisierung der digitalen Infrastrukturen, im „Chip War“ zwischen den beiden Supermächten. Die KI-Revolution ist global, sie erfordert eine globale Kontrolle – der Satz ist wirkungsloser als die Beschlüsse der Pariser Klimakonferenz. Europa humpelt hinterher, auch das ist ein Allgemeinplatz ohne Folgen. Belastbare Ahnungen vom Umfang kommender Arbeitslosigkeiten gibt es so wenig wie Ideen über ihre Kompensation.

Womöglich hilft Hölderlin

Politische Metaphysiker halten sich an Hölderlin: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Ja, es stimmt: Eine Bewirtschaftung der Erde für 10 Milliarden Menschen, die noch ein paar Schmetterlinge und Urwälder übrig lässt, werden wir nur mit viel KI hinkriegen, mit smarten Gesellschaften, mit kollektiver Verhaltenssteuerung durch jede Menge Apps auf jeder der Milliarden Smartphones und Smart Watches auf Erden. Rückwärts nimmer und vorwärts im Nebel; wenn’s gut geht, mit politischen und nicht nur profitorientierten Lotsen.

Quelle        :          TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Lauterbachs Revolution

Erstellt von Redaktion am 7. Juni 2023

Krankenhäuser vor dem Aus – Lauterbachs Revolution

von Ulrike Baureithel

Dass das deutsche Gesundheitssystem schlechter ist als sein Ruf, dürfte inzwischen bis in den letzten Winkel der Republik vorgedrungen sein. Doch nur einem kleinen Kreis war bislang bekannt, dass es um die Kinderversorgung besonders schlecht steht. In den Fokus rückte diese erst, seit im November 2022 nicht nur Erwachsene, sondern vor allem der Nachwuchs von heftigen Atemwegsinfektionen betroffen war und sich Eltern die Augen rieben, weil plötzlich weder einfache Fiebersäfte noch Krankenhausbetten für ihre Jüngsten verfügbar waren. Dabei warnen Pädiater:innen schon jahrelang vor dem absehbaren Notstand. So noch vor einem Jahr Wolfgang Kölfen, Verbandssekretär der leitenden Kinderklinikärzte, der im „Deutschen Ärzteblatt“ beklagte, dass in den vergangenen zehn Jahren 30 Prozent der Betten in den deutschen Kinderkliniken verloren gegangen seien.[1]

Das Fiasko in den Kinderkliniken rückt ein Abrechnungssystem in den Blick, das schon längst hätte abgeschafft werden müssen: die Fallpauschalen (DRG). Für viele Häuser rechnen sich die Kinder- und Jugendabteilungen nicht mehr, weil die jungen Patient:innen – auch weil die Eltern darüber mitbestimmen – nicht so lange im Krankenhaus bleiben. „Liegt ein Patient kürzer im Krankenhaus, als die definierte Verweildauer im DRG vorsieht“, so Kölfen, „rutscht der Patient in die Grenzwertverweildauer.“ Das Krankenhaus erhalte dann statt beispielsweise 2000 Euro nur 500 Euro. Einen weiteren Grund sieht Kölfen im Investitionsstau, weil die dafür verantwortlichen Länder ihrem Auftrag nicht nachkommen. Zudem führt die 2020 eingeführte generalistische Pflegeausbildung seiner Ansicht nach zu einem ausgeprägten Mangel an Kinderkrankenpfleger:innen. Wer mit Kindern arbeiten wolle, entscheide sich schon früh dafür und wolle nicht in die Erwachsenenpflege.

Doch beim Gang durch die heutige Ausbildung, bei der die Pflegeschüler:innen durch alle Bereiche geschleust werden, bleiben viele hängen und brechen ab. Dabei sind Schätzungen zufolge zusätzlich 3000 Vollzeitkräfte in der Kinderkrankenpflege nötig. So stand Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) unter akutem Druck, als er auf die Idee verfiel, Pflegepersonal von den Normal- auf die Kinderstationen zu verlegen. Von „Inkompetenz im Ministerium“ sprach der Vorsitzende des Berufsverbands der Kinder und Jugendärzte, Jakob Maske, im „Deutschlandfunk“.[2] Zumal auf den Stationen für Erwachsene ebenfalls Pflegepersonal fehlt.

Zum großen Wurf holte Lauterbach Anfang Dezember aus, als er zusammen mit seiner nur aus Sachverständigen zusammengesetzten Expert:innenkommission sein Konzept zu einer großen Krankenhausreform vorstellte.[3] Er wolle der „Überökonomisierung des Gesundheitssystems“ ein Ende setzen, versprach er, und die Kliniken wieder zu einem Teil der Daseinsvorsorge machen. Er verstieg sich sogar dazu, eine „Revolution“ anzukündigen, die das DRG-System überwinde, den Menschen wieder in den Mittelpunkt der Medizin rücke und das Gesundheitssystem aus dem „Hamsterrad“ befreie, in dem es die vergangenen 20 Jahre gestrampelt habe. Der Gesundheitsminister stellte außerdem heraus, dass die Kommission ausschließlich aus Expert:innen zusammengesetzt sei und die üblichen Lobbyist:innen keinen Einfluss auf das Konzept gehabt hätten. Das allerdings steht infrage.

Von einer »Revolution« weit entfernt

Doch worin besteht nun diese „Revolution“? Sollte Lauterbach die lange von vielen Akteur:innen im Gesundheitssystem geforderte Abwicklung der Fallpauschalen tatsächlich auf den Weg gebracht haben? Sollte er damit den Krankenhäusern eine auskömmliche Finanzierung bereitstellen, die es erlaubt, dass sich Ärzteschaft und Pflegende wieder um die Hilfesuchenden kümmern, statt sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie sie ihren Häusern möglichst viel Geld eintreiben? Fest steht: Von einer Überwindung oder gar von einem Ende der Fallpauschalen kann keine Rede sein.

Bisher ist es gängige Praxis, dass die Kliniken pro Behandlungsfall nur eine bestimmte Summe abrechnen können – unabhängig davon, ob die Patient:innen länger als geplant in der Klinik bleiben müssen. Der Anreiz für die Klinikleitungen besteht somit darin, möglichst viele, möglichst lukrative, mit möglichst wenig Aufwand verbundene Behandlungen durchzuführen – etwa der insbesondere von privaten Kliniken angebotene Ersatz von Knie- oder Hüftgelenken –, unabhängig davon, ob diese medizinisch indiziert sind. Schwierigere Prozeduren oder Komplikationen, die lange Liegezeiten nach sich ziehen, drücken dagegen aufs Budget.[4]

Rhön-Klinikum AG

Die Expert:innen schlagen nun vor, das System zu modifizieren, indem Kliniken nur noch 60 Prozent ihrer Haushaltsmittel über Fallpauschalen realisieren, während sie die restlichen 40 Prozent unabhängig von ihrer Leistung als Vorhaltepauschale erhalten. Schon jetzt werden jedoch die Mittel für die Pflege – immerhin 20 Prozent des Gesamtbudgets – nicht mehr über Fallpauschalen abgerechnet. Daher werden viele Krankenhäuser auch weiterhin darauf achten müssen, durch lukrative Behandlungen Gewinne einzufahren. Perspektivisch ausgenommen von dieser Regelung sind die Notfall-, Intensiv- und Kindermedizin sowie die Geburtshilfe. Sie sollen im umgekehrten Verhältnis von 40 zu 60 Prozent finanziert werden, weil sie ihre „Patientenströme“ weniger stark regulieren können. Ziel der Reform ist es explizit, „überflüssige“ Operationen unnötig zu machen – wobei die Kommission eine einschlägige Definition von „überflüssig“ schuldig bleibt. Zudem will sie mehr Patient:innen in die kostengünstigere tagesstationäre Versorgung lenken, was mit dem Begriff „Ambulantisierung“ umschrieben wird. Welche Folgen das haben könnte, skizziert Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz: Pflegekräfte würden dadurch zwar entlastet, indem die Behandlung von Patient:innen über Nacht unterbrochen werde. Das aber sei ein „lebensfremdes Hop-on-Hop-off-System“.[5]

Der ländliche Raum wird abgehängt

Die Revolution findet sich dagegen auf einer anderen Ebene: Die deutsche, bisher in drei Versorgungsstufen gegliederte Kliniklandschaft – bestehend aus Grund-, Regel- und Maximalversorgung (beispielsweise in Unikliniken) – soll neu geordnet werden. Unterschieden werden sollen drei Level, die jeweils genau definierte Leistungen vorhalten.

Level 1 umfasst kleinere Krankenhäuser vor Ort, die noch einmal aufgeteilt werden in Level 1n und 1i. Zu dieser Gruppe zählen immerhin 1600 der 1900 deutschen Krankenhäuser. Die 950 Kliniken der Gruppe 1n sollen weiterhin die Notfallversorgung übernehmen und Intensivbetten betreiben können. In den integriert ambulant-stationären Zentren, Level 1i genannt, werden nur zeitweise Ärzt:innen Dienst verrichten. Diese können, so die Vorstellung der Expert:innen, auch von besonders ausgebildetem Pflegepersonal geführt werden. Ein zu operierender Notfall oder die Versorgung eines akuten Schlaganfalls würde dort jedoch nicht mehr möglich sein – der Krankenwagen müsste also weitere Wege fahren. Diese Zentren werden auch nicht mehr über Fallpauschalen, sondern kostengünstigere Tagespauschalen finanziert.

In Level 2 finden sich sogenannte regionale Versorgungszentren wieder, die untereinander ihre Leistungsschwerpunkte aushandeln. Das kann dazu führen, dass ein Krankenhaus sich auf Kardiologie spezialisiert, ein anderes auf orthopädische Eingriffe – was wiederum bedeuten wird, das Patient:innen längere Wege zurücklegen müssen. In den Ballungsgebieten schließlich konzentrieren sich mit umfassender Leistungspalette die Maximalversorger (Level 3). Stärker noch als bisher wird der ländliche Raum auf diese Weise von der qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung abgehängt.

Quelle          :        Blätter-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben      —       Aufkleber eines Impfkritikers an einer Müllbox in Heikendorf.

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Der Mehrweg-Verhinderer:

Erstellt von Redaktion am 7. Juni 2023

McDonald’s’ EU-Lobbying

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Daniela Gschweng /   

Die EU sagt Einwegverpackungen den Kampf an. McDonald’s wehrt sich vehement – unter anderem mit einer fragwürdigen Studie.

Littering, Müllexporte, To-Go-Welle, Online-Bestellungen – das Problem hat viele Namen. Europa produziert zu viel Müll. Viel zu viel. Vor allem eine Sorte Müll ist stossend: Jeder Einwohner der EU verursacht pro Jahr 180 Kilogramm Verpackungsmüll.

Zwei Fünftel des in der EU verwendeten Plastiks und die Hälfte des verwendeten Papiers sind für Verpackungen vorgesehen. EU-Einwohner werfen jedes Jahr 14 Millionen Tonnen Plastikverpackungen weg.

Die EU auf dem langen Weg zum Mehrweg

Die EU versucht seit Jahren, diesen Müll durch Recycling und Kreislaufwirtschaft zu reduzieren. Seit Januar 2023 gilt beispielsweise in Deutschland die Mehrwegpflicht: Jedes Restaurant, das To-Go-Lebensmittel anbietet, muss auch Mehrwegverpackungen anbieten. Die Einführung läuft zwar harzig, aber immerhin. Bisher wird gegen Verstösse kaum durchgegriffen.

Ab 2030 will die Europäische Union Einwegverpackungen in Restaurants und Cafés verbieten und den Anteil der Mehrweg-Lösungen im Take-Away auf 10 Prozent erhöhen.

Die umfangreichste Lobbyarbeit, die jemals im EU-Parlament beobachtet wurde

Das klingt nicht nach einer bahnbrechenden Umwälzung. Dennoch stösst das Gesetzesvorhaben bei den Anbietern auf heftigen Widerstand. Besonders vehement wehrt sich die Fast-Food-Kette McDonald’s.

McDonald’s produziert weltweit eine Million Tonnen Verpackungsmüll pro Jahr. Nach einer Recherche des Umweltmediums «DeSmog» betreibt das Unternehmen die umfangreichste Lobbyarbeit, die jemals im Europäischen Parlament beobachtet wurde, um das Gesetz zu verhindern oder seine Einführung hinauszuzögern.

So beschreibt es Jean-Pierre Schweitzer, stellvertretender Politikmanager für Kreislaufwirtschaft beim Europäischen Umweltbüro (EEB). Gegenüber «DeSmog» bezeichnet er das Gesetz als das «am stärksten lobbyierte Dossier, das viele Menschen im [EU-]Parlament je erlebt haben».

Zusammen mit einer Reihe von Verpackungsherstellern und Handelsverbänden wandte sich die Fast-Food-Kette Ende April schriftlich an die europäischen Entscheidungsträger. Die Gruppe forderte, den Gesetzgebungsprozess für wiederverwendbare Verpackungen in Europa zu pausieren.

Die Forderung folgte dem zunehmendem Druck aus der Branche im vergangenen Jahr. Seit Juni 2022 hätten McDonald’s und andere einschlägige Interessengruppen drei Studien finanziert, zwei Websites eingerichtet und mehrere Artikel gesponsert, zählt «DeSmog» auf. Das Gesetzesvorhaben wird darin mit der Behauptung angegriffen, es würde die europäischen Netto-Null-Ziele untergraben.

Was es mit der Kearney-Studie auf sich hat

Einer im Februar 2023 veröffentlichten Studie der Unternehmensberatung Kearney, die McDonald’s finanziert hatte, folgte ein Lobbying-Sturm im EU-Parlament. Vertreter der Verpackungsindustrie trafen sich im Februar 177 Mal mit EU-Abgeordneten. Während des gesamten vorangegangenen Jahres habe es 112 Treffen gegeben.

Aktivisten und auch einige Akademiker beschuldigen McDonald’s, mit der Studie «No Silver Bullet» wissenschaftlich zweifelhafte Fakten zu veröffentlichen.

Die Zahl, die angeblich alles ändert

Wie so oft geht es dabei um Details. Die Kearney-Studie nimmt an, dass Mehrweggeschirr drei Mal wiederverwendet wird. Kearney bezieht sich dabei auf «Pilot-Daten» von McDonald’s aus mehreren europäischen Ländern. Eine bei weitem zu pessimistische Annahme, sagen die Kritisierenden. Eine im März veröffentlichte Studie in den USA kam zu dem Ergebnis, dass sich die Klimaschädlichkeit eines Behälters um über 50 Prozent reduziert, wenn dieser 20 Mal verwendet wird statt nur einmal.

Ebenfalls im März 2023 finanzierte McDonald’s einen Sponsored-Content-Artikel in «Politico EU». In diesem behauptet der Konzern ebenfalls, dass «Mehrwegverpackungen kontraproduktiv für die Ziele des Green Deal sind». Im bekannten Brussels Playbook-Newsletter des gleichen Mediums wird McDonald’s zitiert mit «Die Treibhausgasemissionen würden um bis zu 50 Prozent beim Essen im Restaurant und um 260 Prozent im Take-Away steigen, wenn Europa auf Mehrwegverpackungen umsteigen würde.»

Die Europäische Kommission geht im Gegenteil davon aus, dass das geplante Mehrweggesetz den CO2-Ausstoss bis 2030 um 23 Millionen Tonnen pro Jahr reduzieren kann. Die Kommission schätzt ausserdem, dass das neue Verpackungsgesetz die Kosten für Umweltschäden bis 2030 um 6,4 Milliarden Euro senken und zu Einsparungen von über 45 Milliarden Euro führen könnte.

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Judith Hilton, wissenschaftliche Mitarbeiterin für Verpackungs-Recycling an der Universität Portsmouth, sagt zu «DeSmog»: «Die grössten Emissionen entstehen bei der Gewinnung und Produktion [von Plastikverpackungen aus Rohstoffen]. Alles, was in diesem Bereich reduziert wird, wird einen gewaltigen Unterschied in Bezug auf Emissionen, Toxizität und Schäden für die lokale Bevölkerung machen.»

Warum die Branche keine wiederverwendbaren Verpackungen will

Bleibt die Frage, warum sich McDonald’s und andere Fast-Food-Ketten mit so grossem Aufwand gegen ein Gesetz wehren, das mit 10 Prozent Mehrweg-Anteil im Take-Away binnen sieben Jahren nicht einmal besonders ambitioniert ist.

Dass McDonald’s und andere Fast-Food-Riesen wandlungsfähig sind, haben sie mehrmals bewiesen. Machte der Burgerbrater einst Werbung für sein Rindfleisch, gibt es inzwischen McPlant-Patties und -Nuggets, Holzlöffel und Pappstrohhalme. Die einst in Styropor-Verpackungen erhältlichen Burger kommen mittlerweile in einer beschichteten Pappbox. Wobei auch die Beschichtung problematisch ist, weil sie potenziell gesundheitsgefährdende Chemikalien enthält (Infosperber berichtete).

Die Kearney-Studie warnt davor, dass die Umstellung auf Mehrweg-Geschirr zwischen 2 und 20 Milliarden Euro an Anfangsinvestitionen kosten könnte. Allein in Deutschland machte McDonalds im vergangenen Jahr geschätzte 4,2 Milliarden Euro Umsatz.

«In vielen Fällen verkaufen Unternehmen die Verpackung und nicht den Inhalt.»

Judith Hilton, Spezialistin für Verpackungs-Recycling, Universität Portsmouth

Die Rücklaufquote von Mehrwegverpackungen lässt sich erhöhen, wenn alle Restaurants dieselbe Verpackung verwenden. Das haben andere Verpackungsformen und -modelle wie das deutsche Dosenpfand gezeigt.

Standardisierung geht allerdings zu Lasten eines individuellen Markenauftritts. Bei sonst grösstenteils austauschbaren Produkten ist die Verpackung ein wichtiger Werbeträger. «In vielen Fällen verkaufen die Unternehmen die Verpackungen und nicht den Inhalt», sagt die Verpackungsspezialistin Hilton. Hamburger von Burger King würden dann schlimmstenfalls gleich verpackt wie solche des Konkurrenten McDonald’s. Oder noch schlimmer: Ein Kunde käme mit einer Burger-King-Schachtel vorbei, um sich einen Big Mac abzuholen.

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Poetical – Correctness

Erstellt von Redaktion am 7. Juni 2023

Die Politik pflegt AfD – Wählende wie eine Schafherde

Kolumne von Lin Hierse

Es geht wieder los. Deshalb schreibe ich jetzt etwas Ähnliches wie vor vier Wochen. Es ist wieder zu lesen, dass man schockiert ist von 18 Prozent.

Dass Po­pu­lis­t*in­nen eben von Krisen profitieren, weil sie falsche Versprechungen machen, weil sie Sündenböcke finden, ohne Rücksicht auf lebensbedrohliche Verluste, weil sie vermeintlich einfache Antworten hinhalten in ihren ausgestreckten Händen auf irgendwelchen Kleinstadtmarktplätzen, um die sich seit Jahren niemand schert.

Es sind jetzt wieder die anderen Schuld, die „schwache und beständig streitende Regierung“, so Friedrich Merz. Seine Partei hingegen habe mit der AfD „nichts zu tun“. Als hätte er nie von „kleinen Paschas“ gesprochen, als hätte die CDU keine Vornamen abfragen wollen, als hätte der Bautzener Landrat keinem AfD-Antrag zugestimmt, als setze man Rechtsextremismus nicht regelmäßig mit Linksextremismus gleich, als forderte man nicht mehr Flaggen und Nationalhymnen, als hätte man nichts am Hut mit einem Altkanzler, der weder nach Mölln noch nach Solingen fuhr.

„Wir haben mit diesen Leuten nichts zu tun“, ist leicht behauptet. Aber dieses Land hat mit diesen Leuten alles zu tun. Das deutsche Naziproblem, die anhaltende Rechtsweitoffenheit, wird hier hausgemacht, nicht nur von Konservativen. Die Große Koalition hat ein Heimatministerium gegründet, die Grünen haben die Offenlegung der NSU-Akten blockiert, ein FDPler hat sich in Thüringen mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten wählen lassen. Und für die wachsende soziale Ungleichheit sind alle Parteien verantwortlich.

Es macht die Sache nicht besser, dass rund zwei Drittel der 18 Prozent sagen, sie würden nicht aus Überzeugung AfD wählen, sondern aus Enttäuschung über die anderen Parteien. Ich bin auch oft enttäuscht. Aber Rechtsradikale wählt nur, wer ihre Agenda unterstützt, wer sie gefährlich unterschätzt oder glaubt, sich gar nicht erst informieren zu müssen. Das könnten Po­li­ti­ke­r*in­nen häufiger in Kameras sagen, auch wenn es nur verbale Grenzen zieht.

Quelle         :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben       —         Binnen-i-radfahrerinnen   Straßenschild „Ende der Bus- und Fahrradstrecke“ Schlagworte: Politische Korrektheit, Binnen-I Ort: Linz, Österreich Datum: 2005-01-15

Unten       —     AfD-Bundestagsfraktion, während einer Plenarsitzung im Bundestag am 11. April 2019 in Berlin.

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Öffentliches Geld + Gut

Erstellt von Redaktion am 6. Juni 2023

Freie und offene Software zum Standard in der Verwaltung machen

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Wenn die öffentliche Verwaltung Software entwickelt oder einkauft, sollte sie diese unter freie und offene Lizenzen stellen. Die von der Bundesregierung angestoßene Reform des Vergaberechts bietet jetzt eine gute Gelegenheit, das im Gesetz zu verankern. Für ein echtes Umdenken braucht es aber mehr als eine Gesetzesreform.

Die digitale Verwaltung von Bund, Ländern und Kommunen ist heute abhängig von einzelnen proprietären Software-Anbietern. Dadurch sind öffentliche Stellen gezwungen, alle Bedingungen eines Software-Anbieters zu akzeptieren, zum Beispiel Preissteigerungen oder die Produktgestaltung. Gerade erst im April 2023 hat beispielsweise Microsoft die Preise für Cloudangebote wieder einmal erhöht, nachdem schon 2021 die Ausgaben der Bundesverwaltung für Microsoft-Lizenzen zum ersten Mal 200 Millionen Euro überstiegen.

Proprietäre Software bedeutet, dass die entsprechende Lizenz die Möglichkeiten der Nutzung, Weiter- und Wiederverwendung sowie die Änderung des Quellcodes durch Dritte stark einschränkt. Diese Abhängigkeit verhindert, dass Verwaltungen ihre IT-Architektur selbst gestalten und kontrollieren sowie zwischen verschiedenen Anbietern wechseln können.

Freie und Open Source Software (FOSS) ermöglicht einen Weg aus dieser Abhängigkeit. Denn FOSS-Lizenzen erlauben es prinzipiell allen Menschen, Einblick in den Quellcode zu nehmen, diesen frei und uneingeschränkt zu verwenden, zu verändern und auch in einer veränderten Form wieder weiterzuverbreiten. Die in der Verwaltung eingesetzte FOSS-lizenzierte Software ist dadurch unabhängig überprüfbar, gestaltbar und austauschbar und ermöglicht potenziell ein höheres IT-Sicherheits- sowie Datenschutzniveau.

Die Hürden für FOSS in der Verwaltung

Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung formuliert ein klares Ziel: „Entwicklungsaufträge werden in der Regel als Open Source beauftragt, die entsprechende Software wird grundsätzlich öffentlich gemacht.“ So würde der Einsatz von FOSS in der Verwaltung dem Prinzip „Public Money, Public Code“ folgen: Öffentlich finanzierte Software muss der Allgemeinheit zur Verfügung stehen, da sie auch von der Allgemeinheit bezahlt wird.

Doch bisher ist FOSS in der Verwaltung weiterhin eher eine Ausnahme als die Regel. Oft scheitern öffentliche Stellen schon daran, dass ihnen unklar ist, wie sie FOSS beauftragen können und dürfen. Das Vergaberecht gibt strenge Regeln dafür vor, wie die Verwaltung Produkte und Dienstleistungen einkaufen muss, meist über Ausschreibungen.

Das ist auch sinnvoll, damit der Staat seine Mittel mit Bedacht verwendet und nicht ausschließlich auf bereits bestehende Anbieter zurückgreift oder einen Auftrag nach beliebigen Kriterien vergibt Doch die komplexen und langwierigen Prozesse und die bisher angelegten Kriterien legen gerade FOSS einige besonders große Steine in den Weg.

Denn FOSS schafft Mehrwerte, die in der etablierten Vergabe meist keine Berücksichtigung finden. Proprietäre Software können naturgemäß nur diejenigen nutzen, die die entsprechende Lizenz einkaufen. Bei FOSS ist das anders: Wenn eine öffentliche Stelle die Entwicklung von FOSS beauftragt oder sogar selbst entwickelt, vergrößert sich damit der Pool an Software, der auch anderen öffentlichen Stellen sowie der Wirtschaft und Gesellschaft allgemein zur Verfügung steht.

Dieser weitreichende positive Effekt auf die Gesellschaft kann von der auftraggebenden Stelle nicht berücksichtigt werden, wenn sie nur Preis und Nutzen für sich selbst bewerten darf. Auch können Behörden FOSS frei anpassen und mit anderen Diensten kombinieren. Das stellt zwar auf dem Papier keinen Mehrwert dar, der für ein FOSS-Angebot den Ausschlag geben kann, doch diese Interoperabilität schafft mehr Möglichkeiten, andere Dienste einzubinden. Und damit insgesamt mehr Gestaltungsfähigkeit für die Verwaltung.

Ein Funken Hoffnung: die Vergabetransformation

Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz will aktuell das Vergaberecht reformieren, um öffentliche Vergabeverfahren zu vereinfachen, zu professionalisieren, zu digitalisieren und zu beschleunigen. Außerdem soll die Vergabe wirtschaftlich, sozial, ökologisch und innovativ ausgerichtet werden. Über 400 Verbände, Organisationen, Unternehmen und Einzelpersonen haben dazu Stellungnahmen eingereicht. Auch Wikimedia Deutschland und die Open Source Business Alliance erklären dabei, wie FOSS in der Verwaltung auf die Ziele der Vergabereform einzahlt. Diese Reform ist eine ideale Gelegenheit für eine Gesetzesänderung, um es Behörden zu ermöglichen, rechtssicher bevorzugt FOSS zu beschaffen.

Wie genau soll das funktionieren? Ein von der Open Source Business Alliance in Auftrag gegebenes Gutachten zeigt, wie es gehen kannt: Wann immer die Verwaltung Software einkaufen oder entwickeln möchte und die Wahl zwischen zwei oder mehr gleich gut geeigneten Lösungen hat, soll FOSS Vorrang vor proprietärer Software haben. Der Gutachter Prof. Andreas Wiebe schlägt vor, den Vorrang für FOSS im E-Government-Gesetz des Bundes oder in der Vergabeverordnung für öffentliche Aufträge festzulegen. Auf Landesebene haben Thüringen und Schleswig-Holstein mit ihren E-Government-Gesetzen bereits diesen Weg gewählt.

Mehr Kompetenz in den Behörden

Eine Bevorzugung von FOSS ist jedoch nicht das einzige, was es für eine erfolgreiche digitale Transformation in der Verwaltung braucht. Mitarbeitende in Behörden müssen unbedingt lernen, geeignete Software auszuwählen und zu verwenden. In einem Beschluss zur Erarbeitung einer Open-Source-Strategie der sächsischen Landesregierung ist daher auch einer von sechs Punkten „die Förderung der Umgewöhnung und der Akzeptanz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der sächsischen Verwaltung in Open-Source-Software.“

Aber auch eine Umgewöhnung reicht noch nicht aus, um beim Einsatz von FOSS in der Verwaltung das volle Potenzial auszuschöpfen. Die Menschen in der Verwaltung müssen verstehen, welche aktuellen Technologien am besten die Anforderungen ihrer Behörde erfüllen. Erst mit einem solchen tiefergehenden Verständnis können sie selbstständig Software vergleichen, sie für ihre Zwecke anpassen, zwischen Anbietern wechseln und informiert FOSS von anderen öffentlichen Stellen einbinden und wiederverwenden.

Der behördliche Kompetenzaufbau ist daher neben der Reform des Vergaberechts die größte Herausforderung für eine effektive Verwaltungsdigitalisierung mit FOSS. Dazu gehört nicht zuletzt auch, dass die Einstellungsbedingungen bei Behörden dringend angepasst werden müssen: Gehälter, geforderte Abschlüsse und sonstige Benefits. Nur so wird es überhaupt attraktiv, als IT-Expert*in in einer Verwaltung zu arbeiten.

Die Bundesregierung hat sich in Koalitionsvertrag und Digitalstrategie zu freier und offener Software bekannt. Jetzt muss sie handeln!

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —       Concept-Map rund um Freie Software

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AKW in Baden-Württemberg

Erstellt von Redaktion am 6. Juni 2023

Aktuelle atomare Gefahren im Dreyeckland

Nuclear power plant Fessenheim, Haut-RhinAlsaceFrance

Quelle  Mitwelt Stiftung Oberrhein, Venusberg 4, 79346 Endingen

Von    :    Axel Mayer

Aktuelle atomare Gefahren im Dreyeckland: AKW Beznau, AKW Leibstadt, Zwilag Würenligen, atomares Endlager & neue AKW in Fessenheim?

Die letzten deutschen AKW sind seit dem 15.4.2023 abgeschaltet und auch die beiden Schrottreaktoren in Fessenheim (F) wurden 2020 endgültig abgestellt. Die Umwelt- und Anti-Atombewegung im

Dreyeckland kann sich jetzt also beruhigt zurücklehnen und auf alten Erfolgen ausruhen?

Von wegen ausruhen!

Der mühsam erkämpfte deutsche Ausstieg aus der Gefahrtechnologie war der Einstieg in die massiv bekämpften erneuerbaren Energien. Gegen die Macht der atomar-fossilen Seilschaften müssen wir jetzt die Klimaschutzbewegung noch stärker als bisher unterstützen und die Energiewende durchsetzen.

Und am Ober- und Hochrhein häuft sich weiterhin das grenznahe atomare Risiko:

      • AKW Beznau

    In

Beznau steht das älteste und eines der gefährlichsten AKW der Welt

      •  und der zweite Reaktorblock ist technisch ähnlich veraltet und unsicher.

      • AKW Leibstadt

    Das

„neueste“ Atomkraftwerk der Schweiz in Leibstadt

      •  ist ein veralteter Siedewasserreaktor vom Reaktortyp Fukushima.

      • Zwilag Würenlingen

    Im kleinen

Schweizer Ort Würenlingen an der Aare häuft sich das atomare Risiko.

      •  Direkt neben den beiden Uralt-AKW in Beznau steht das zentrale Schweizer Zwischenlager für Atommüll (Zwilag). In einer schlecht gesicherten Castorhalle wird der hochradioaktive Schweizer Atommüll zwischengelagert wird und in einem Plasma-Ofen wird Atommüll verbrannt.

      • Unsicheres Atomares Endlager der Schweiz

    Die Standortauswahl, für den

 besten aller schlechten Standorte eines atomaren Endlagers in der Schweiz

      •  spricht für eine gewisse Verzweiflung der AKW-Betreiber und verheißt nichts Gutes. Ein atomares Endlager in einer viel zu dünnen Schicht Opalinuston über einem Permokarbontrog … Wie soll das gut gehen? Atommüll, der eine Million Jahre sicher verwahrt werden muss, braucht eine gute Geologie und nicht gute Worthülsen.

      • Neue AKW nach Fessenheim?

    Das altersschwache AKW ist zwar abgestellt, aber die EDF hat nie auf den Standort am Rhein verzichtet. Mit seiner Rentenreform und einer neoliberalen Politik treibt der französische Staatspräsindet Macron gerade die Menschen in die Fänge des rechtsradikalen Front National. Gerade Marine Le Pen wäre der

provokative Neubau eines AKW an der deutschen Grenze

      •  durchaus zuzutrauen.

      • Technocentre / Atomfabrik nach Fessenheim?

    Der marode französische Atomkonzern EdF plant den Bau einer problematischen „Recyclinganlage“ für radioaktiven Schrott,

ein „Technocentre“, in Fessenheim.Der Umwelt- und Anti-Atombewegung am Oberrhein wird es auf absehbare Zeit (leider) nicht langweilig werden.

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Oben     — Nuclear power plant Fessenheim, Haut-RhinAlsaceFrance

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Als Akt der Erniedrigung

Erstellt von Redaktion am 6. Juni 2023

Wehrbeauftragte will Musterung zurück

Sehen – Messen – Fühlen – Das war so zu Kaisers Zeiten und auch unter König Adolf –
Alles ganz Deutsch eben.

Von   :   Gereon Asmuth

Eva Högl will die Musterung zurück, um Nachwuchs für die Bundeswehr zu gewinnen. Da stellt sich die Frage: Hamse überhaupt gedient, Frau Högl.

Das Ende war dann wirklich ein Witz. Die Fahne hinter den drei Typen in Uniform – obwohl, trugen die wirklich alle Uniform? Ich weiß es nicht mehr so genau –, jedenfalls dieser schwarz-rot-goldene Stoff da an der fahlgrünen Wand hatte tatsächlich: einen Flicken. Rechts unten im güldenen Bereich war das Hoheitssymbol der Bundesrepublik offensichtlich mal eingerissen gewesen. Und ich konnte die Augen nicht abwenden.

Nicht als der eine der drei fragte, ob ich wirklich meinen gerade erst gestellten Antrag auf Kriegsdienstverweigerung aufrechterhalten wollte. Nicht als er mir mitteilte, dass ich „T4“ sei, also zurückgestellt für ein Jahr, erstmal wegen einer Schraube im Fuß (Sport ist Mord, Sportunterricht ist Mordunterricht – aber das nur am Rande). Und auch nicht, als ich dann gehen durfte.

Diese Erinnerungen an meine erste Musterung Mitte der 80er Jahre kommen plötzlich wieder hoch. Denn Eva Högl, die Wehrbeauftragte des Bundestags, hat vorgeschlagen, dieses einst prägende Event wieder als Erlebnisstation für alle jungen Erwachsenen zu etablieren.

Weil die Bundeswehr Schwierigkeiten hat, junge Menschen für die Truppe zu begeistern, würde sie gern „einen gesamten Jahrgang junger Leute für die Bundeswehr zur Musterung einladen.“ Nicht nur die Jungs, auch die Mädels. Und die als geeignet Eingestuften sollten sich dann anschließend dafür entscheiden können, ob sie zum Bund wollen. Oder sich anderswo engagieren.

„Hamse überhaupt gedient, Frau Högl!“

Bei Högl angebracht wär angesichts ihres Mustervorschlags der Klassiker aller blöden Fragen, den man dereinst als junger Mann immer wieder von alten, häufig versoffenen, in jedem Fall verbraucht wirkenden „echten“ Männern zu hören bekam. „Hamse überhaupt gedient!“ Ja, mit Ausrufezeichen am Ende, nicht mit Fragezeichen. Denn es war keine Frage, es war ein Runtermachen im Befehlston.

Aber zurück zum Thema. „Hamse überhaupt gedient, Frau Högl!“

Offensichtlich nicht. Denn sonst wäre Eva Högl ja auch mal gemustert worden und dann wüsste die Wehrbeauftragte, dass es nichts Dümmeres gibt, als zu versuchen, junge Menschen per Musterung für den Dienst an der Waffe … äh, an der Gemeinschaft zu begeistern.

Die Musterung, so wie sie nahezu alle 18-Jährigen bis zur Abschaffung der Wehrpflicht im Jahr 2011 erleben mussten, hatte nichts Aufbauendes, Begeisterndes. Im Gegenteil. Sie war eine reine Fleischbeschau. Ist der Mann groß genug? Zu groß? Zu klein? Zu dick? Zu dünn? Hat er genügend Finger für den Abzug? Hat er zwei Augen zum Zielen? Zwei Füße zum Marschieren? Zwei Ohren zum Befehlebefolgen?

Es ging dabei aber keineswegs um die tatsächliche Eignung. Stark Kurzsichtige wie ich galten zum Beispiel locker auch für eine Ausbildung zum Scharfschützen als qualifiziert. Man hatte – offensichtlich mangels Masse – die Tauglichkeitskriterien so weit runtergeschraubt, bis die Quoten wieder stimmten. Wäre ich tatsächlich im Schützengraben gelandet und hätte in der Hektik meine Brille verloren, hätte ich aus Selbstschutzgründen jeden erschießen müssen, der sich mir nähert. Egal ob Feind oder Kamerad. Zum Glück für die Bundeswehr hab ich dann aber Zivildienst geleistet.

Zum probeweisen Panzerfahren verpflichten

Vor allem ginge es bei der Musterung nicht um den Charakter. Wo käme man auch hin, wenn Charakter beim Militär eine Rolle spielte? Es spielte keine Rolle, ob jemand was im Kopf hat. Es zählte nur der Körper. Und seine Klassifizierung.

Hose runter, nach vorne bücken und dann fummelt irgend so ein Bundeswehrarsch in deinem Po rum. Es war ein Akt der Erniedrigung der gerade aufstrebenden Jugend.

Quelle     :         TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     „Gruss von der Musterung“. Postkarte aus dem Verlag A. Franz, Leipzig

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Zerrissene Pässe

Erstellt von Redaktion am 5. Juni 2023

Afrobeat: – Warlords in Sudan

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Kolumne von Dominic Johnson

In Sudan zerlegen mächtige Warlords ihr Land wie in Somalia vor über dreißig Jahren. Von internationaler Seite werden Fehler von damals wiederholt.

 Afrikas neuere Geschichte kennt ein immer wiederkehrendes Bild: Jubelnde Rebellen ziehen siegreich in eine erobere Hauptstadt ein. Gewehrfeuer rattert, nichts funktioniert, aber in den Augen der Kämpfer blitzt Stolz über diesen kurzen Moment der Anarchie, in dem alles Bestehende und Bedrückende verdampft und alle Möglichkeiten einer lichten Zukunft offen erscheinen.

Begleitet wird das manchmal von einem nicht minder vertrauten Phänomen: das weiße Ausland packt panisch die Koffer und flieht. Villen werden verriegelt, ausländische Vertretungen geschlossen, Flaggen eingeholt, Dokumente verbrannt, Flugzeuge bestiegen. Für die fliehenden Weißen ist ihr vertrautes Gastland plötzlich fremd.

Als 1990 und 1991 kurz nacheinander Liberia und Somalia in den Sog von Bürgerkrieg und Diktatorensturz gerieten, gab es in den beiden Hauptstädten Monrovia und Mogadischu beide Phänomene. Mit den Militäroperationen „Sharp Edge“ und „Eastern Exit“ holten US-Marines Ausländer außer Landes. Liberianische und somalische Rebellenvertreter malten derweil mit leuchtenden Augen Bilder einer besseren Zukunft, ganz losgelöst vom Chaos auf der Straße.

Der britische Kriegsreporter Aidan Hartley schildert in seinen Memoiren „The Zanzibar Chest“ eindrücklich die Januartage 1991 in Mogadischu, als junge Kämpfer mit Kalaschnikows ihren Staat abräumten. Einmal meint er knöchelhoch durch trockenes Laub zu laufen – es sind Geldscheine, die Rebellen jubelnd aus der Zentralbank auf die Straße kübeln. Auf anderen Straßen lagen derweil verwesende Leichen.

Sinnbild eines gescheiterten Staates

Rebellenchef Ali Mahdi, der damals als Präsident in die „Villa Somalia“ einzog, ist tot. Ebenso sein Widersacher Farah Aidid, der damals erst Siad Barre jagte und dann die Macht verlangte, worauf ein neuer Krieg folgte, den nicht einmal eine US-Militärintervention beenden konnte. So wurde Somalia zum Sinnbild eines gescheiterten Staates.

International werden Generäle zu Gesprächspartnern erklärt. Plötzlich sind sie Todesbringer. Das waren sie vorher schon

Den einzigen funktionierenden Staat errichtete damals die „Somali National Movement“ (SNM), die für die Wiederherstellung des ehemaligen Britisch-Somalilands als eigener Staat kämpfte. Ihre per Volksabstimmung bestätigte „Republik Somaliland“ wird bis heute von kaum einem Land der Welt anerkannt. In Mogadischu ist Somaliland nicht Partei, also zählt es international nicht.

Dauerkrieg um eine Hauptstadt erlebt heute Sudan. Wie einst die Kriege um Mogadischu, Tripoli und Monrovia wird auch der Krieg um Khartum ohne jede Rücksicht auf die Menschen ausgetragen. Aber nicht Rebellen verwüsten die Hauptstadt, sondern der Staat selbst: Staats- und Armeechef Abdelfattah al-Burhan kämpft gegen seinen bisherigen Stellvertreter und Chef der paramilitärischen RSF (Rapid Support Forces), Hamdan Daglo Hametti. Es gab zwar zuvor einen Diktatorensturz – aber nicht Rebellen setzten 2019 Omar Hassan al-Bashir ab, sondern das eigene Militär. Nun kämpfen die Generäle um die Macht. Und während Khartum brennt, holten noch im April westliche Interventionskräfte, auch aus Deutschland, ihre Landsleute aus Sudan und schlossen ihre Botschaften.

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Bevor Somalia 1991 in Flammen aufging, wäre es möglich gewesen, mit zivilen Kräften eine Neugründung des Staatswesens zu diskutieren und einen Ausweg aus dem Krieg zu entwickeln. Damals war die Welt aber gerade mit dem US-Golfkrieg zur Befreiung des von Irak besetzten Kuwait abgelenkt. Man ignorierte Somalia und als es zu spät war, drängte man Mogadischus Warlords zu Friedensprozessen, die sie nie ernst nahmen.

2023 geht Sudan in Flammen auf, und auch heute ist die Welt abgelenkt, diesmal von Russlands Krieg in der Ukraine. Es wäre auch in Sudan möglich gewesen, mit den zivilen Kräften des Landes eine demokratische Neuordnung auf den Weg zu bringen. Stattdessen wurden international Generäle zu Gesprächspartnern erklärt. Plötzlich sind sie Todesbringer. Das waren sie vorher schon, aber nur für Sudanesen, also zählte das international nicht.

Es gibt ein besonders bedrückendes Bild aus jenen Tagen im April: Weiße Kinder in Sommerkleidung zerreißen Dokumente und stopfen die Fetzen in einen schwarzen Müllsack. Eines der Dokumente, das ist deutlich zu sehen, ist ein Reisepass der Republik Sudan. In einer Plastikschale liegen weitere. Ein Kind reißt gerade aus einem die Seiten heraus. Der Müllbeutel ist bereits gut gefüllt. Die Szene spielt auf dem Gelände der französischen Botschaft in Khartum kurz vor der Evakuierung.

Jeder zerrissene Pass ein Todesurteil

Es handelt sich um Pässe, die Sudanesen für einen Visumsantrag eingereicht hatten. Die Franzosen flogen aus. Die Pässe in ihrer Obhut durften sie nicht zurücklassen. Sie nahmen sie aber auch nicht mit. Sie vernichteten sie. Konkret durften die Kinder des entsandten Botschaftspersonals sie zerreißen – die perfekte Lektion für europäische Diplomatenzöglinge über Respekt.

Quelle        :        TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

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Schallangriffe auf die USA

Erstellt von Redaktion am 5. Juni 2023

Mit ARD-aktuell ist ganzjährig 1. April

Siegel des

Quelle      :      Ständige Publikumskonferenz der öffentlichen Medien e.V.

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Die „Schallangriffe auf US-Diplomaten“ waren ein Hirngespinst. Für die Tagesschau bleiben sie „ein Rätsel“

Das Staatsgebilde der US-Amerikaner gilt – wer wollte das bestreiten – als das Allerwichtigste auf dieser Welt. Deshalb wird ihm hierzulande mehr journalistische Aufmerksamkeit gewidmet als der restlichen Menschheit. Als das State Department in Washington vor fast sechs Jahren behauptete, wertvolle US-Diplomaten in Havanna seien Opfer eines ominösen „Schallangriffs“ geworden, grabschten die Faktenfinder der Tagesschau begeistert nach diesem Giftköder der CIA-Schwadron Psychologische Kriegsführung. Seither erzählten ARD-aktuell-Redakteure das Ammenmärchen dutzendmal, in unterschiedlichen Varianten. Oft genug, zuletzt im März 2023, wurde dem nüchternen Betrachter deutlich, dass die Geschichte purer Humbug war. Die Hamburger Volljournalisten aber machen damit weiter.

Unter dem Titel

USA weisen zwei kubanische Diplomaten aus

hatte Tagesschau.de am 10. August 2017 noch halbwegs trocken gemeldet

Mehrere Mitarbeiter der US-Botschaft in Havanna wurden krank. Warum, ist nicht klar. Die USA reagieren, indem sie zwei kubanische Diplomaten des Landes verwiesen. Den Zusammenhang können sie nicht so recht erklären. i

Zwei Wochen später aber langten dann die „Faktenfinder“ der ARD-aktuell zu:

US-Diplomaten in Kuba: Krank durch Schallwaffen?

Mehrere US-Botschaftsangehörige in Kuba hatten laut State Department plötzlich körperliche Beschwerden. … Als Ursache werden „akustische Angriffe“ vermutet.ii

Die Zentralredaktion hätte es bei diesem Eumel belassen können. Auch sowas versendet sich. ARD-aktuell aber schob die Räuberpistole nicht unauffällig ins Archiv, sondern legte einen Monat später nach:

USA erwägen Schließung der Botschaft in Kuba

Die USA reagieren auf mutmaßliche Akustikattacken gegen ihre Botschaftsmitarbeiter in der kubanischen Hauptstadt Havanna. Insgesamt 16 Mitarbeiter wiesen gesundheitliche Schäden auf, die laut US-Angaben durch mysteriöse akustische Attacken hervorgerufen worden sein sollen. iii

Die Amis veranlassten tatsächlich eine „wissenschaftliche Untersuchung der mysteriösen Erkrankungsfälle“. Daraufhin setzte die Tagesschau ebenfalls ihre Fehlleistung fort, letztlich über Jahre. Zunächst fuhr das ARD-Studio Washington im Februar 2018 auf einen Artikel ab, der in der medizinischen Fachzeitschrift Journal of the American Medical Association iv erschien und von denkbaren Schädel-Hirn-Traumata der angeblichen „Opfer“ handelte:

Kranke US-Diplomaten in Kuba: Wie nach einer Gehirnerschütterung v

Der Chefredakteur und seine Vizes denken aber gar nicht dran, evidenten Blödsinn wenigstens nachträglich und öffentlichkeitswirksam zu korrigieren. Auch dummdreiste Propaganda beeinflusst schließlich Michels Meinung in gewünscht prowestlichem Sinne.

Die nachfolgenden Zitate sind dem oben erwähnten „Gehirnerschütterung“-Artikel entnommen. Er war eine gute Weile in der Mediathek der Tagesschau.de nachzulesen, ehe er erklärungslos entfernt wurde.vi Im allgemeinen Webarchiv (https://web.archive.org) findet man das edle Teil trotzdem, wenn man den erblindeten Link in die Suche-Zeile eingibt.vii Auszüge:

2017 klagten 21 Mitarbeiter der US-Botschaft in Kuba über Beschwerden, die auf einen mutmaßlichen akustischen Angriff hindeuten. … Schwindel, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörungen und Tinnitus gehörten zu den Symptomen, die die Mitarbeiter beeinträchtigten. … Forscher der University of Pennsylvania stellen … fest, dass die Beschwerden am ehesten denen nach einer Gehirnerschütterung gleichen – ohne dass es je eine Erschütterung gegeben habe. Die meisten Betroffenen hatten ein durchdringendes Geräusch, wie ein Brummen oder Quietschen gehört, einige außerdem von ungewohntem Druck und Vibrationen gesprochen. Ohren zuhalten hatte dagegen nicht geholfen. Das hatte Spekulationen über einen gezielten Angriff ausgelöst.

Es folgen weitere Details über die entsetzlichen Qualen, denen jene armen US-Diplomaten (niemand sonst!) angeblich ausgesetzt waren. Schlussfolgerungen:

Das Geräusch selbst halten die Experten als Ursache für unwahrscheinlich. … hörbare Geräusche würden in der Regel keine Hirnverletzungen auslösen. … Auch eine Art Massenhysterie halten die Forscher für unwahrscheinlich. (ebd.)

Okay, wenn schon US-Wissenschaftler ihre Landsleute von Massenhysterie freisprechen, dann ist für die Tagesschau natürlich auch alles sauber. Pures Pech, dass die Tonaufzeichnungen von den mysteriösen, angeblich gesundheitschädigenden Geräuschen nichts Verwertbares hergaben, obwohl sie von den „Opfern“ selbst mitgeschnitten worden waren.

Wir haben es demnach mit richtig fiesem Schall zu tun, der nur von US-Diplomaten wahrgenommen werden kann, von anderen Menschen nicht; auch handelsübliche Mikrofone sprechen nicht drauf an. Der homo sapiens americanus diplomaticus kriegt davon aber Hirnschäden: akut spinnose Stupiditose, eine Krankheit, die nicht mal im medizinischen Nachschlagewerk Pschyrembel viii verzeichnet ist, so speziell und elitär US-amerikanisch ist sie.

Eine solche Sensation – Kubanische Schall-Attacke, viele US-Opfer! – zu vermelden, ist Tagesschau-Pflicht. „Wat mutt, dat mutt“, sagt der gebildete Qualitätsvolljournalist. Dass Schallwaffen, die präzise zwischen US-amerikanischen Trommelfellen und denen von anderer, geringerwertiger Nationalität unterscheiden, nur im Reich einer kranken Fantasie existieren, fällt ihm nicht auf.

Na gut, na schön. Hat alles seine zwei Seiten. Je mehr Schwachsinniges die Hamburger Luxus-Nachrichtenredakteure absondern, desto härter im Nehmen wird ihr Publikum.

Immerhin wagten diese Edelfedern eine spekulative Zwischenüberschrift, wenn auch nur mit Fragezeichen:

Zirpen einer Grille?

Kubanische Experten hatten nach Abhören einer Aufnahme des Geräuschs erklärt, es könne sich um das Zirpen einer Grille handeln. Die amerikanischen Mediziner sehen dagegen keine Anzeichen für eine Simulation. (ebd.)

Kubanische Experten haben ja keine Ahnung von dem, was US-Diplomaten alles hören können. Grillen sollen das gewesen sein? Lachhaft! Mindestens Urknall war das …

Und deshalb bot Tagesschau.de den sagenhaften Blödsinn zusätzlich in der ARD-Mediathek als Audio-Clip an, unter dem Titel

US-Botschaft in Kuba: Symptome der Mitarbeiter bleiben weiter medizinisches Rätsel ix

Inzwischen wurde er dort allerdings ebenfalls gelöscht, und zwar so gründlich, dass er nicht einmal mehr mit der waybackmachinex zurückzuholen ist.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist nicht nur zum Angebot von Bildungs- und Informationsprogrammen verpflichtet, sondern hat auch einen Unterhaltungsauftrag. Aber besoffen machen sollten seine Nachrichtenangebote eigentlich nicht. Zu bedenken wäre außerdem: Was einmal als angeblicher Fakt ins kollektive Hirn der Öffentlichkeit gedengelt wurde, lässt sich nicht mehr ausbeulen.xi, xii, xiii Es kann später noch so oft widerrufen und richtiggestellt werden, das ursprünglich Gehörte beziehungsweise Gelesene wird nicht restlos aus dem Gedächtnis gelöscht. Sein Einfluss aufs Unterbewusstsein bleibt bestehen.

Die dummdreiste antikubanische/antikommunistische Propagandanummer der USA fand international Aufmerksamkeit (Deppen-Fernsehen wird ja nicht nur in Deutschland geboten). Solcher Erfolg macht süchtig: Die Washingtoner „spin doctors“ spulten ihr Idiotenstück deshalb noch mehrere Male andernorts ab. Als nächste waren, im Juni 2018, die Chinesen dran.

Vorfälle in China: Rätselhafte Erkrankung von US-Diplomatenxiv

Abermals assistierten die begnadeten Qualitätsjournalisten der ARD-aktuell:

Ärzte untersuchen Erkrankungen von US-Diplomaten in China. Zuletzt erkrankten US-Diplomaten in Kuba an einem mysteriösen Ohrenleiden und lösten eine diplomatische Krise aus. Jetzt melden US-Behörden ähnliche Vorfälle aus China … (ebd.)

Erkrankt, Tatsache. Hypochonder und Simulanten mit Ami-Pass gibt es für die Tagesschau nämlich nicht. Nachrichten aus den USA übernimmt die deutsche Elitejournaille ungeprüft. Das schützt den Restbestand an grauen Zellen des ARD-aktuell-Redakteurs vor Gebrauchsspuren und verbessert seine Karriereaussichten.

Ähnliche Vorfälle wie in Kuba

Aus US-Regierungskreisen verlautete, die aus China eingeflogenen Amerikaner würden an der University of Pennsylvania behandelt. … Dabei solle auch herausgefunden werden, ob es Zusammenhänge zu den Vorfällen auf Kuba gebe. (ebd.)

Zusammenhänge „zu“. Mieses Deutsch, auch das noch. Volle Tagesschau-Dröhnung, Fakten, nichts als Fakten:

In der kubanischen Hauptstadt Havanna waren seit November 2016 mehr als 20 Botschaftsmitarbeiter an mysteriösen Ohrenleiden erkrankt. Einige der Betroffenen verloren dauerhaft ihr Gehör. (ebd.)

Kein „angeblich“. Kein „wie es heißt“. Nein, die reine Grundwahrheit:

Betroffene verloren dauerhaft ihr Gehör. 

Futsch. Für immer taub. Telefonisch nicht mehr erreichbar.

Bezweifeln, infrage stellen, die Unglaubwürdigkeit solcher abenteuerlichen Behauptungen bemerken? Nicht Sache der Tagesschau. Sie machte weiter auf der nach oben offenen Verblödungsskala:

Im Mai gaben die USA eine Gesundheitswarnung für die Diplomaten heraus. (ebd.)

Wirklich kalorienreich, dieser Quatsch mit Soße. Das State Department gibt auch Warnungen vor Gesundheit raus. Das meldet dann die Tagesschau. Zuviel Gesundheit ist ungesund.

Sprache ist der Schlüssel des Denkens. Sie offenbart auch, wer damit die Tür nicht zukriegt.

ARD-aktuell denkt nicht daran, auf das Offenkundige hinzuweisen: dass die Regierung in Washington den Flohzirkus auf dem Trommelfell ihrer Auslandsvertreter zunächst hauptsächlich für den Hausgebrauch veranstaltet haben dürfte. Schließlich hatten viele US-Bürger die von Obama eingeleitete kurze Entspannungsphasexv genutzt und günstige Reisen nach Kuba unternommen.

Nach Kuba! Zu den Kommunisten! Das geht gar nicht. Da hatte dringend was geschehen müssen. Also:

Mysteriöse „Schallattacken“: USA warnen vor Reisen nach Kuba

Wer ist für die mutmaßlichen „Schallattacken“ auf US-Diplomaten in Kuba verantwortlich? Die Frage ist weiter offen. Die US-Regierung zieht nun mehr als die Hälfte ihres Botschaftspersonals ab. Zudem gab sie eine Reisewarnung heraus.xvi

Nach der Gesundheitswarnung kommt die Reisewarnung. Und nach dem Hals der abwaschbare Gummikragen. Wer solche ARD-Nachrichtenredakteure hat, braucht sich um die Zukunft der Realsatire nicht zu sorgen.

Mutmaßliche“ Schallattacken heißt: Es ist anzunehmen, dass es die gab. Es handelte sich also nicht bloß um „vorgebliche“ Schallattacken oder allenfalls um „angebliche“? Ach was, ein ARD-aktuell-Redakteur pfeift auf sprachliche Genauigkeit, denn

Die Frage ist weiter offen. (ebd.)

So offen wie Hirnriss.

Mit dem Havanna-Syndrom im Schlepp hielt das ARD-„Flaggschiff“ jahrelang AgitProp-Kurs. Keine Rede davon, dass US-amerikanische und britische Wissenschaftler die Seifenblase vom Schallangriff „schon“ ein Jahr später hatten platzen lassen. Im Januar 2019:

Die Wissenschaftler verglichen die Aufzeichnungen der Geräusche, die von ehemaligen Mitarbeitern der Botschaft vorgelegt worden waren, mit dem Zirpen von Grillen der Art Anurogryllus celerinictus, bekannt als Indische Kurzschwanzgrille. „Sie stimmt bis ins Detail mit der Aufzeichnung überein, und zwar in Dauer, Pulsfolgefrequenz, Leistungsspektrum, Pulsfrequenzstabilität und Schwingungen pro Puls.“xvii

Die New York Times titelte:

Die Geräusche, die die US-Diplomaten in Kuba heimsuchten? Liebeskranke Grillen, sagen die Wissenschaftler.xviii (Übers. d. Verf.)

Der Artikel geht gut zur Sache:

Aufnahme von beunruhigenden Geräuschen, die von amerikanischen Diplomaten in Kuba gemacht wurden, in Wirklichkeit von einer sehr lauten Grillenart stammen könnte. (ebd.)

In einer anderen Quelle im April 2019:

Die Geräusche stammten von Grillen, die in der Umgebung der Botschaft vorkommen. Die Studie, die auf der Konferenz der US-amerikanischen Society for Integrative and Comparative Biology (SICB) vorgestellt wurde, bestätigt, dass die Geräusche, die Diplomaten und Beamte der US-Botschaft angeben gehört zu haben, mit dem Zirpen … übereinstimmt.“xix

Treffer, versenkt? Aber nicht doch, nein! Soo leicht geht das „Flaggschiff der ARD“ nicht unter. Die Tagesschau lief trotz des schweren Einschlags weiter volle Fahrt. Im Oktober 2021 erschien dieser Titel auf Tagesschau.de:

Havanna-Syndrom-Gesetz xx

Darunter neue „Fakten“, versteht sich, wieder nichts als Fakten:

Mehr als 200 US-Botschaftsmitarbeiter leiden am „Havanna-Syndrom“ … Es klingt fast wie in einem Agentenfilm: Mitarbeiter in US-Botschaften klagen über mysteriöse Symptome wie Schwindel, Hör- und Sehstörungen, Migräne und Gedächtnisverlust. … Ursache … sind offenbar Verletzungen des Gehirns, mutmaßlich verursacht durch schädliche Funkwellen unbekannten Ursprungs. 

Fast wie in einem Agentenfilm“: Der Vergleich lag nahe, denn im August 2021 war auch Berlin in den Blick geraten, Schauplatz für viele Spionage-Thriller und tatsächlich Spielwiese zahlreicher Geheimdienste:

Havanna-Syndrom bei US-Diplomaten in Berlin

Mehrere Beschäftigte der US-Botschaft in Berlin zeigen offenbar Symptome des „Havanna-Syndroms“. Medienberichten zufolge haben sich mindestens zwei US-Vertreter in ärztliche Behandlung begeben. xxi

Die Quellenangabe „Medienberichten zufolge“ taugt nichts. Aber wenn der Tagesschau-Redakteur in Berlin nun schon mal beim Schmuddeln ist, kann er auch gleich eine Portion antirussische Hetze untermischen. Daran hatte es im Zusammenhang mit den Schallwaffen noch gemangelt.

Forschung an Akustik-Waffe?

US-Diplomaten räumten ein, dass es in der Vergangenheit bereits ähnlich Fälle in anderen europäischen Staaten gegeben habe. Manche der Opfer seien Offiziere der Nachrichtendienste, die sich vor allem mit Russland befasst hätten.

Edle „mit Russland befasste“ CIA-Offiziere hatten Ohrensausen? Diese Russen sind aber wirklich sowas von gemein!

Brisant ist in diesem Zusammenhang, dass Russland nach Recherchen des ‚Spiegel‘ und der schwedischen Plattform ‚Bellingcat‘ an einer Methode arbeiten soll, aus der Ferne gefährliche Wellen an eine Zielperson zu senden. (ebd.)

Russland „soll“ an einer Methode arbeiten. Nix Genaues weiß man nicht. Schlimm, dieser Putin.

Der Spiegel war übrigens mal ein Nachrichtenmagazin, lang, lang ist’s her. Bellingcat hingegen ist noch immer keine „schwedische“ Plattform, sondern britisch. Eigentlich auch keine „Plattform“, sondern CIA-geschmierte „Nicht-Regierungs-Organisation“ mit Sitz in London.xxii Dass sie hauptsächlich Falschnachrichten transatlantischer Geheimdienste verbreitet xxiii, xxiv, sollte ein Tagesschau-Redakteur eigentlich wissen.xxv, xxvi, xxvii

Mit dem Respekt vor den „anerkannten journalistischen Grundsätzen“ ist es bei der Tagesschau allerdings nicht weit her. Und deshalb treibt sie ihre Hetze auch ungeniert auf die Spitze:

Verdacht gegen Russland

Vertreter aus der US-Regierung äußerten in der Vergangenheit den Verdacht, russische Geheimdienste hätten ihr Botschaftspersonal angegriffen. Die US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines musste allerdings Anfang August einräumen, dass die Ursache des „Havanna-Syndroms“ noch immer nicht gefunden sei. (ebd.)

Klar doch, der Russe provoziert, rund um den Globus. Und deshalb vermeldete die Tagesschau im Oktober 2021, ein paar Wochen nach dem Avril-Haines-Klops:

Havanna-Syndrom nun auch in Kolumbien

im Umfeld der US-Botschaft in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá Menschen erkrankt.xxviii

Machen wir einen Zeitsprung. Im März 2023 bestand die vorerst letzte Chance für die Tagesschau, zu journalistischem Anstand zurückzufinden. Und wieder kriegte sie die Kurve nicht:

Havanna-Syndrom bleibt ein Rätsel

Ein nun veröffentlichter Bericht der Geheimdienste stellt lange gehegte Verdächtigungen von Betroffenen infrage, sie könnten Ziel einer globalen Kampagne Russlands oder eines anderen Landes geworden sein … Stattdessen hieß es in dem Bericht, es gebe mehr Beweise dafür, dass das Ausland nicht beteiligt war. xxix (Hervorhebung d. Verf.)

Die US-Geheimdienste höchstselbst haben also ihrer Story die Luft rausgelassen und machten einen Rückzieher. Aber die Tagesschau macht weiter, dass die Schwarte kracht:

Havanna-Syndrom bleibt ein Rätsel. (ebd.)

Eine notwendige Klarstellung. Mikrowellen- und Schallkanonen gibt es wirklich. Sie wurden in Deutschland entwickelt, von Rheinmetall DE-TEE (Düsseldorf) und Diehl BGT Defence (Nürnberg). Darüber kam nichts in der Tagesschau. Natürlich nicht. Und wer hat diesen Dreck gekauft und als Erster eingesetzt? Die USA. Natürlich doch. Schon vor 20 Jahren, in ihrem völkerrechtswidrigen Irakkrieg.xxx, xxxi, xxxii

Falls Ihnen, verehrter Leser, demnächst ein ARD-aktuell-Redakteur über den Weg laufen sollte: schöne Grüße von der Indischen Kurzschwanzgrille. Sie habe sich sehr über die mediale Aufmerksamkeit gefreut.

vii https://web.archive.org/web/20180219195714/https://www.tagesschau.de/ausland/kuba-usa-109.html

viii https://www.lehmanns.de/shop/medizin-pharmazie/54023367-9783110683257-pschyrembel-klinisches-woerterbuch

ix https://web.archive.org/web/20180220181018/http://www.tagesschau.de/multimedia/audio/audio-52599.html

x https://archive.org/web/web.php

xiv https://web.archive.org/web/20180607105448/https://www.tagesschau.de/ausland/china-us-botschaft-101.html

xv https://www.tagesspiegel.de/politik/us-botschaft-in-kuba-wiedereroeffnet-sternenbanner-ueber-havanna/12191016.html

xvi https://web.archive.org/web/20170929195305/https://www.tagesschau.de/ausland/kuba-usa-107.html

xviii https://archive.is/aC2pD

xix https://www.biorxiv.org/content/early/2019/01/04/510834

xxi https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/berlin-usa-botschaft-havanna-syndrom-101.html

xxii https://de.bellingcat.com/kontakt/

xxiii https://www.rnd.de/politik/nordstream-sprengung-was-ueber-boot-taeter-und-ihr-vorgehen-bekannt-ist-UGI4SNP6VNGU5HK7AWATJRHQHM.html

xxiv https://euvsdisinfo.eu/report/bellingcat-navalny-poisoning-aimed-destroy-nord-stream-2/

xxviii https://www.tagesschau.de/ausland/kolumbien-havanna-syndrom-101.html

xxx https://www.telepolis.de/news/Armee-in-Honduras-setzt-Schallkanonen-ein-1990657.html

xxxi https://www.epochtimes.de/politik/ausland/griechenland-will-mit-ohrenbetaeubenden-schallkanonen-fluechtlinge-abschrecken-a3530087.html

xxxii https://wissenschaft-und-frieden.de/artikel/gegen-das-volk-geruestet/

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

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Die Letzte Generation

Erstellt von Redaktion am 5. Juni 2023

Als ein Lehrstück zum Umgang mit Kritikern

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von                 :          Suitbert Cechura

Kritik mundtot machen – dafür braucht es keine Autokratie, das kann jeder Rechtsstaat.

Dass in anderen Staaten Kritiker der Regierung schikaniert werden, ist regelmäßig Thema der hiesigen Öffentlichkeit: nämlich als Ausweis der mangelnden Rechtsstaatlichkeit anderswo, wenn nicht gar der vollendeten Gewaltherrschaft, die bekanntlich bei den Autokraten zuhause ist. Dabei zielt die Beweisführung immer auf Staaten, die sich deutschen Anliegen verschließen und ihre Interessen „gegen uns“ geltend machen. Jetzt hat der deutsche Staat aber einmal mehr gezeigt, dass er im Umgang mit Kritikern nicht weniger zimperlich ist:

„Bei Tagesanbruch am Mittwoch haben bayrische Strafermittler eine riesige Ausforschungsaktion gestartet, einen Lausch-, Späh- und Wühlangriff mit bundesweiten Ausmaßen. Sie haben Wohnungen aufbrechen lassen, sie haben mit Taschenlampen ins Privateste hineinleuchten lassen, in Schlafzimmer, in Schränke, und sie haben den Menschen, die da im Pyjama vor ihnen standen, zu verstehen gegeben, dass in ihre Privatsphäre eingedrungen wurde und Telefongespräche womöglich mitgehört und abgespeichert wurden.“ (Ronen Steinke, SZ 25.5.2023)

Gegen die Gruppe Letzte Generation werden jetzt alle Register staatlicher Einschüchterung und Terrorisierung aufgefahren, wobei abgeklärte Journalisten gleich erkennen, dass hier mit ungewöhnlicher Robustheit und einer Strapazierung rechtsstaatlicher Regeln ein Exempel statuiert werden soll: „Es ist eine Ermittlungsaktion, die so brachial ist, dass ihre Unverhältnismäßigkeit ins Auge sticht.“ (Steinke, SZ)

Da fragt sich doch glatt, in welchem Verhältnis denn staatliche Gewalt im Umgang mit Kritikern stehen darf, so dass auch Vertreter der Mainstream-Medien aus der Abteilung liberale Bedenkenträger zufrieden sind.

Harmloser Protest?

Von professionellen Kommentatoren wird gerne auf die Harmlosigkeit der Kritik verwiesen, die von der Gruppe Letzte Generation kommt. Sie mahne doch bloß die Einhaltung der Vereinbarungen und Absichtserklärungen der Politiker an, die im Pariser Abkommen eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad beschlossen und in vielen Erklärungen einen Zeitplan verkündet haben, in dessen Rahmen der CO2-Ausstoß reduziert und fossile Brennstoffe ersetzt werden sollen.

Die Kritik der Letzten Generation entzündet sich also an dem Missverhältnis zwischen offiziellen Versprechen und den realen Taten. Worauf die Kritik stößt, ist also nichts Ungewöhnliches. Politiker kennen eben viele wichtige Ziele neben dem Kampf gegen den Klimawandel, so dass sich die Bestrebungen in Sachen Klimaschutz an anderen Aufgaben zu relativieren haben. So verlangt gerade der Wirtschaftskrieg mit Russland, dass zur Versorgung der deutschen Wirtschaft mit billigem Strom der Braunkohleabbau weiter betrieben und die Braunkohlekraftwerke hochgefahren werden, womit sich der CO2-Ausstoß wieder erhöht.

Die konkreten Maßnahmen, die im Bund oder im Land NRW gerade von der grünen Ökopartei mitgetragen, ja forciert werden, machen gleichzeitig deutlich, wie Klimaschutz, den ja alle anstreben, von Seiten der Regierenden verstanden wird. Die Maßnahmen sollen Deutschland bei der Energieversorgung durch Windkraft und Sonnenenergie von anderen Ländern unabhängig und die eigene Wirtschaft zu einem maßgeblichen Exporteur der entsprechenden Technologien machen, so dass die anderen letztendlich in Abhängigkeit geraten. Dieses Ziel bzw. die dazu erforderlichen Umrüstungs- und Transformations-Maßnahmen erscheinen vielen Kritikern – nicht nur in der Letzten Generation – als eine einzige Inkonsequenz in Sachen Klimaschutz.

Insofern sind diejenigen, die der Politik der regierenden Parteien ihre früheren Versprechungen vorhalten und auf deren unbedingte Einlösung drängen, einerseits naiv. Denn sie glauben wirklich, dass es der Politik umstandslos um die Rettung des Planeten ginge und nicht um die Stärkung Deutschlands in der Welt. Und sie liefern einen nicht zu unterschätzenden Vertrauensbeweis für Scholz, Habeck und Co. ab. Andrerseits ist diese Sorte Kritik für die Regierenden lästig, hält sie ihnen doch immer wieder ihre eigenen hehren Ziele vor und untergräbt so den Glauben an ihre Tatkraft und Entschlossenheit. Damit – mit der Beschädigung des kostbarsten politischen Guts, der Glaubwürdigkeit – handeln sich die Kritiker die Gegnerschaft der Regierenden ein.

Die Reaktion der Parteien aller Couleur bis hin zu den Fridays for Future (die sich ja auch als Anwalt des Klimas verstehen) war eine Methodenkritik. Man teile zwar das Ziel der Klimarettung, wurde behauptet, aber die Methoden dieser Gruppe würden nicht dazu beitragen, Unterstützer für das wichtige Anliegen zu finden: „Ich verstehe das Anliegen, ich teile aber nicht die Aktionsform“ (Britta Haßelman, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, SZ, 24.5.2023).

Währenddessen erklärt der Kanzler die Gruppe für „völlig bekloppt“ (SZ, 24.5.2023), weil deren Aktionen den Klimaschutz nicht voranbringen würden. Eine Kritik, die sowohl heuchlerisch als auch verfehlt war und ist: Mit der Behauptung, die Methoden der Straßenblockaden und Schmieraktionen wären kontraproduktiv für die Werbung von Unterstützern für die gemeinsame Sache, die vorangebracht werden soll, wird unterstellt, was gerade nicht der Fall ist, dass es nämlich allen gleichermaßen um die Realisierung der Klimaschutzziele geht. Dabei machen doch die Regierenden gerade deutlich, dass sie andere Prioritäten kennen – siehe die Braunekohleverstromung oder die Nutzung des umweltschädlichen LNG, aber auch die gigantische Umweltverschmutzung durch Aufrüstung und Krieg –, die auf ihrer Agenda ganz oben stehen und mit Milliarden und Abermilliarden zu finanzieren sind.

Verfehlt ist die Kritik deshalb, weil es der Letzten Generation nicht mehr darum geht, aufzuzeigen, dass Klimaschutz notwendig ist. Ihre Aktivisten unterstellen vielmehr im Prinzip bereits die gelaufene Diskussion um die Notwendigkeit der Begrenzung der Erderwärmung – als einen Konsens, der eigentlich allen klar ist. Sie fordern die Konsequenzen aus dieser Diskussion ein. Im Gegensatz zu den Fridays for Future, die mit ihren Schulstreiks auf das Problem der Klimaveränderung hinweisen und die Menschen aufrütteln wollten, um dahin zu kommen, dass sich alle in ihrem Konsumverhalten ändern (so zumindest der Mainstream dieses Protestes und sein Verständnis von „system change“), macht die Letzte Generation einen Unterschied zwischen den Machern der Politik, die alles Wesentliche bestimmen, und den Bürgern, die dazu aufgefordert sind, die Machthaber zur Einhaltung ihrer Versprechen zu zwingen.

Meinungsfreiheit am Limit

Mit ihren Aktionen will die Letzte Generation auf das Missverhältnis zwischen dem Pariser Abkommen inklusive Bundesverfassungsgerichtsurteil, das die Politik auf die Sicherung der Zukunft der jungen Generation verpflichtet hat, und den Taten der Politik hinweisen; die Politiker sollen damit zum Handeln in die entsprechende Richtung, in die sie ja selber gehen wollen, bewegt werden. Mit der Störung des Straßenverkehrs und den Farbaktionen geben sie sich im Gegensatz zu üblichen Demonstrationen nicht damit zufrieden, bloß ihre Unzufriedenheit mit der Politik kundzutun und dann wieder nach Hause zu gehen. Die Störungen sollen über eine unverbindliche Meinungsäußerung hinausgehen, indem sie zur Störung des Alltags werden, auf die die Politik reagieren muss.

Damit überschreitet die Letzte Generation aber die Grenzen der Meinungsfreiheit, nämlich das Recht, das Bürgern zwar erlaubt, ihre Kritik zu äußern, das aber die Kritiker auch dazu verpflichtet, Abstand davon zu nehmen, ihre Kritik durchsetzen zu wollen, in dem Fall also einen buchstäblichen „Druck der Straße“ aufzubauen. Das wäre schließlich eine Einschränkung der Freiheit der Politik, die uneingeschränkt von irgendwelchen Kritikern ihre Entscheidungen nicht nur fällt, sondern auch durchsetzt. Mit ihrem Drängen auf eine andere Politik verstößt die Letzte Generation somit gegen dieses Gebot und begeht einen Rechtsverstoß. Ihre Aktivisten werden daher nicht nur von der Straße gelöst und weggeschleppt, sondern auch bestraft:

„Freiheitsstrafen ohne Bewährung, Präventionshaft, kriminelle Vereinigung – der Staat packt seine Instrumente aus, um den radikalen Protest von der Straße zu räumen.“ (Wolfgang Janisch, SZ, 23.5.2023)

Bei aller Klage über das Vorgehen der Politik und Justiz, weiß auch hier der rechtlich geschulte Journalist, wo die Ursache des Übels anzusiedeln ist: „ Der ‚Letzten Generation‘ gelingt es gerade, Politik und Justiz zur wütenden Überreaktion zu provozieren. So etwas hat dem Staat noch nie gutgetan.“ (Janisch, SZ) Und um letzteren sorgt sich schließlich ein verantwortungsvoller Journalist, der genau weiß, dass sich der Staat einen solchen Protest auf Dauer nicht gefallen lassen darf, und der deshalb einmal das ganze Menschheitsanliegen beiseite lässt und sich in Stilkritik ergeht.

Dass die Letzte Generation Rechtsverstöße begeht und daher bestraft gehört, darin sind sich Politiker wie Medienvertreter einig. Diskussionen beziehen sich dann auf die Einstufung des Rechtsvergehens und auf die Frage, ob man ihm mildernde Umstände zugestehen kann:

„Gerichte verbieten ja nicht jegliche Verkehrsbehinderung – symbolische, kurzfristige Blockaden werden als kommunikativer Akt hingenommen. Wenn die Kleber die Grenzen überschreiten, dann müssen sie mit (Geld-)Strafen wegen Nötigung rechnen; sie wissen was sie tun.“(Janisch, SZ)

Während die einen von Nötigung reden, sprechen die anderen von krimineller Vereinigung. So CSU-Dobrindt: „Eindeutig eine kriminelle Vereinigung“ (Tagesspiegel, 28.5.2023) Der Staat verfügt im Umgang mit Kritikern offenbar über einen großen Interpretations- und Handlungsspielraum, wie sich ja gleichzeitig am Dresdener Antifa-Prozess ablesen lässt, wo ein militanter „Kampf gegen rechts“ (sonst ein ehrenwerter Titel, den das Innenministerium für sich in Anspruch nimmt) auch als Werk einer kriminellen Vereinigung eingestuft wurde.

„Es liest sich wie die Chronik einer unaufhaltsamen Eskalation. Wurde anfangs noch diskutiert, ob die Verkehrsblockaden der ‚Letzten Generation‘ aus Gründen des Klimaschutzes wirklich eine strafbare Nötigung seien, sind nun bereits die ersten Aktivisten zu Gefängnisstrafen ohne Bewährung verurteilt worden. Und inzwischen hält sich hartnäckig die Diskussion, ob man noch einen Schritt weiter gehen sollte. Ob die Klimaschützer als ‚kriminelle Vereinigung‘ einzustufen seien. Bisher ist das freilich eine Sondermeinung im Land Brandenburg…“ (SZ, 20./21.5.2023)

Eskalation ist kein Prozess, der von alleine in Gang kommt. Da muss es schon Leute geben, die eskalieren, auch wenn das liberale Blatt aus München keine Personen kennen will und zum unpersönlichen „man“ greift, das da die Verschärfung diskutiert. Und offenbar gibt es auch hierzulande willfährige Richter, die die Intentionen dieser Diskussion gleich in Urteile umsetzen:

„In München hat man daran gezweifelt, in Stuttgart hat der Generalstaatsanwalt sogar offen kein Geheimnis daraus gemacht, dass er das Vorpreschen der Neuruppiner Juristenkollegen für abenteuerlich halte. Für überzogen. Jetzt aber haben sich in München die Strafverfolger aus der Deckung bewegt und sich erstmals der Position der bislang allein auf weiter Flur stehenden Brandenburger angeschlossen.“ (SZ, 25.5.2023)

Ein Meinungsumschwung, der bekanntlich in eine Razzia gegen die Letzte Generation mündete. Und während private Meinungsänderungen im Wesentlichen folgenlos bleiben, ist dies bei staatlichen Meinungsänderungen nicht der Fall. Wer da meinungsbildend tätig ist, ist auch kein Geheimnis, schließlich sind die Strafverfolgungsbehörden weisungsgebunden. Meist braucht es keine Weisung, weil karrierebewusste Juristen mitbekommen, was die politische Obrigkeit von ihnen erwartet. Schließlich war es ja Herr Dobrindt, der den Vorwurf der kriminellen Vereinigung erhob, und die Frau Ministerin des Innern und der Heimat, Nancy Faser (SPD), betonte, dass der Rechtsstaat sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen dürfe (Die Zeit, 24.5.2023). Das war nichts anderes als ein Aufruf zum Einsatz von Gewalt gegen diese Gruppe.

§ 129 – Protest als Straftat

Mit dem Paragraphen 129 Strafgesetzbuch hat sich der Staat eine Rechtsgrundlage geschaffen, mit der er sehr frei mit unliebsamen Bürgern umgehen kann. Schließlich ist es die Politik, die bestimmt, was Recht ist und was nicht. Sie gibt den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten die Maßstäbe vor, nach denen diese handeln und urteilen sollen. Strafbar macht sich, wer einer Gruppe angehört oder diese unterstützt, die strafbare Handlungen begeht. Dabei hat der Staat sich frei davon gemacht, dem Einzelnen irgendwelche Tatbeteiligung nachzuweisen. Es reicht, dass er irgendwie dazu gehört oder irgendwie unterstützt. Dann drohen Freiheitsstrafen:

„Mit Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht ist. Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine solche Vereinigung unterstützt oder für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt.“ (§ 129 Strafgesetzbuch – StGB).

Mit der Ermittlung, die jetzt gemäß diesem Paragraphen läuft, wird behauptet, der Gruppe Letzte Generation ginge es nicht um den Klimaschutz, sondern um die Begehung von Straftaten – ganz so, als ob die Störungen des Straßenverkehrs Selbstzweck wären. Die Aktion gegen die Gruppe zeigt aber auch, dass es gar keine Verurteilung braucht, um sie politisch zu erledigen. Es reicht ein Anfangsverdacht:

„Die bayrischen Terrorermittler leiten ihren Verdacht nun aus der Finanzierung der Gruppe und ihren Aktionen her. Die Fahnder werfen den Beschuldigten vor, eine Spendenkampagne zur Finanzierung weiterer Straftaten für die ‚Letzte Generation‘ organisiert zu haben.“ (SZ, 25.5.2023)

Konsequenz war die Beschlagnahme der Konten der Organisation, die Sperrung der Website und die Anklage auch von Mitgliedern, die sich nicht an Aktivitäten beteiligt hatten. Zudem setzte die Staatsanwaltschaft eine Drohung ins Netz: „Achtung: Spenden an die Letzte Generation stellen mithin ein strafbares Unterstützen der kriminellen Vereinigung dar!“ (SZ, 26.5.2023)

Auch wenn diese Drohung bald zurückgezogen wurde, steht sie im Raum und dokumentiert den Versuch, der Letzten Generation die finanzielle Unterstützung abzuschneiden. Mit der Beschlagnahme der Konten, Rechner und Akten, der finanziellen Austrocknung soll der Gruppe verunmöglicht werden, ihre politischen Aktivitäten aufrecht zu erhalten. Schließlich wird ihr damit die materielle Grundlage bestritten, Geld für Räume, Materialien usw. weggenommen. Und das für die Dauer der Ermittlungen. Das veranlasste einen Frankfurter Strafrechtsprofessor zu der Aussage: „Das ist ein klarer Einschüchterungsversuch. Rechtlich funktioniert das leider.“ (Matthias Jahn, SZ 26.5.2023)

Dabei ist Einschüchterungsversuch eine harmlose Umschreibung für das, was da mit den Kritikern der aktuellen Klimapolitik geschieht, schließlich wird ihnen physisch und materiell die Grundlage ihrer politischen Arbeit bestritten, sie persönlich werden mit Gefängnisstrafen bedroht und ihre bürgerliche Existenz vollends ruiniert. Das Ganze zeigt Wirkung, auch ohne Prozess und förmlich erhobene Anklage; das eilt jetzt auch gar nicht. Schließlich ist von Seiten der Politik erreicht, was sie wollte, und da spielt es keine Rolle mehr, ob es später einmal zu einer Verurteilung kommt oder nicht.

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Grafikquellen       :

Oben       —       Aktivistinnen vom Aufstand der letzten Generation isuchen den Klimakanzler Olaf Scholz bei einer Ölaktion vor dem Bundeskanzleramt, Berlin, 09.07.22 Activists from the last generation uprising in Chancellor Olaf Scholz costumes spill oil in front of the Federal Chancellery

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DIE * WOCHE

Erstellt von Redaktion am 5. Juni 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Kriegsgewöhnung mit Eva Högel, Lina E. und Bundeswehr: Selbstgetöpferter Tyrannenmord. Wer immer nur hören möchte, was er in seiner schmutzigen Seele eh schon geahnt hat, der wählt halt AfD – und hört dumpf weiter Rammstein.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Ukraine: Die Gewöhnung.

Und was wird nächste Woche besser?

Keine Gewöhnung an Gewöhnung.

Im Deutschlandtrend erreicht die AfD bei der Sonntagsfrage einen neuen Höchstwert, 18 Prozent. Damit liegt sie nun mit der SPD gleichauf. Ist die Ampel daran schuld?

Unschuldiger als die AfD kann man an ihrem Erfolg nicht sein. Nicht der Euro, Migration, Corona oder irgendwelche trendig braunen Accessoires beflügeln ihre Umfragen. „Die da oben können es nicht, und das aus bösem Willen“ hat auf ehemaligem DDR-Staatsgebiet eine gewisse Tradition – und klingt aktuell nach einer Selbstauskunft der Ampelmänner. Wer immer hören möchte, dass Habeck alles vergeigt, die FDP alles blockiert und Scholz alles laufen lässt, kann sich diese News beim Originalerzeuger abholen. Die Ampel – das Factory Outlet für Ampelstress. In uns schlummert mehr vordemokratische Sehnsucht nach dem, „der mal auf den Tisch haut“, als in dem, der mal auf den Tisch haut.

Haben Sie gerade noch Fragen an Robert Habeck?

Hm. „Wie wär’s mit Landwirtschaft?“ Das hat er gelernt in Schleswig-Holstein, auch Energiewende und Umwelt. Im Bund stapelt er auf die skurrile Gas­umlage eine Vetternwirtschaft-Affäre und ein Heizungsgesetz, das zunehmend an ein Schwarzes Loch erinnert: Wer zu nah dran kommt, den verschlingt’s. Habeck hat es meisterlich verstanden, sich beliebt zu machen. Nun kommt Stufe zwei: das Gegenteil überleben.

Lina E. wurde am Mittwoch zu 5 Jahren und 3 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Sind wir die Sorge Linksextremismus jetzt los?

Wer mit dem Hammer auf politische Gegner eintrümmert, ist nicht links oder rechts, sondern in erster Linie kriminell. Wir sind noch ein gutes Stück weit weg vom selbstgetöpferten Tyrannenmord und täten gut daran, jedwede politische Ummäntelung roher Gewalt nicht zu hoch zu heben. Die Taten müssen uns nicht sympathischer sein als die irgend eines Fußball-Hooligans, der seinen Gewaltfetisch halt mit einer anderen Ausrede auslebt.

Das deutsche Bildungssystem steckt in der Dauerkrise. Nun fordern Gewerkschaften und Bildungsverbände ein Sondervermögen von mindestens 100 Milliarden Euro. Wäre da die Forderung „Reiche Eltern für alle“ nicht am Ende realistischer?

Wenn das Schulsystem schon nicht funktioniert, kann es mit weiteren 100 Milliarden noch viel schöner nicht funktionieren – klar. Andere forderten bereits ein Sondervermögen Wohnen und eines für Bahn und Klima. Viel mehr als die Gesten kommt beim Modeartikel Sondervermögen nicht herum. Das deutsche Schulsystem selektiert statt zu fördern, man möchte sich nicht ausmalen, wie es jetzt noch 100 Milliarden besser selektiert.

SPD-Politikerin Eva Högel schlägt als Wehrbeauftragte eine Rückkehr zur Musterung vor, für alle Geschlechter. Bei Eignung sollen die jungen Menschen selbst entscheiden, ob sie sich „engagieren“ wollen. Wie würden Sie sich aktuell entscheiden?

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Das Symptom Kemmerich

Erstellt von Redaktion am 4. Juni 2023

Die FDP blutet nach rechts aus 

Bernd Höcle gratuöiert Thomas Kemmerich am 05. Februar  2020 

VON JASMIN KALARICKAL, –  MICHAEL BARTSCH  – UND –  GARETH JOSWIG

Vor drei Jahren ließ sich FDP-Mann Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD zum thüringischen Ministerpräsidenten wählen. Heute argumentieren manche in der FDP populistisch gegen das Heizungsgesetz und bedienen rechte Narrative. Wie wird sich die Partei in Zukunft positionieren?

Wenn die Temperaturen sich langsam regulieren im politischen Heizungskeller, dann kann es sein, dass Wolfgang Kubicki kommt und den Regler hochdreht. Seit Wochen streitet die Ampel erbittert über das Gesetz mit dem ­sperrigen Namen Gebäudeenergiegesetz, das nach und nach Gas- und Ölheizungen durch klimafreundliche Alternativen ersetzen soll. Prominente Gegner: FDP-Vize Wolfgang Kubicki, bekannt für seine lockere Zunge, und FDP-Politiker Frank Schäffler, bekannt als Eurokritiker und einst bekennender Klimaskeptiker.

Es gibt berechtigte Kritik an dem Gesetzentwurf. Aber es gibt auch Leute, die unter dem Vorwand der Kritik das Gesetz grundsätzlich torpedieren wollen. Schäffler nannte das Heizungsgesetz eine „Atombombe“. Er war es auch, der auf dem letzten Parteitag einen Dringlichkeitsantrag gegen „die falsche Klima- und Energiepolitik der Grünen“ einbrachte, der auf breite Zustimmung stieß. Von ihm und Kubicki stammen auch die berüchtigten 101 Fragen zum Gesetz, von deren Existenz man über Bild erfuhr. Lange war nicht klar, ob es sie wirklich gibt und ob das Ganze von der Fraktion abgesegnet war.

Offiziell kamen 77 Fragen im Wirtschafts- und im Bauministerium an, die inzwischen brav abgearbeitet wurden. Aber Kubicki will immer noch alle 101, teils absurde Fragen beantwortet haben. Zum Beispiel, in wie vielen Mehrfamilienhäusern der Dachstuhl als Wäschetrocknungsraum genutzt wird. Nun sprechen Kubicki und Schäffler nicht für die gesamte FDP-Fraktion, aber sie haben Rückhalt und bestimmen zunehmend den Ton.

Kubicki ist kein populistischer Hinterbänkler, der den Wirtschaftsminister aus Versehen mal mit Putin vergleicht und später um Entschuldigung bittet. Er ist Parteivize und Bundestagsvizepräsident – und äußerst beliebt bei der Basis. Er und Schäffler richten sich an ein gewisses Spektrum: Klimaskeptiker, Coronaleugner, Putin-Freunde, den Stammtisch, der gegen den linken Zeitgeist wettert. Grünen-Bashing inklusive.

Die Frage ist: Wie sehr wird das den künftigen Kurs, die Rhetorik der FDP bestimmen? Und das Regierungshandeln? In Umfragen steht die FDP derzeit bei 7 Prozent. Die Blockaden und die PR-Nummer mit den Fragen haben ihr nicht geschadet. FDP-Chef Christian Lindner arbeite für ein „nicht­linkes Deutschland“, sagte er jüngst auf dem FDP-Bundesparteitag. Aber was heißt „nichtlinks“? Liberal? Konservativ? Rechts?

Am ersten Tag des Parteitags geht FDP-Mann Thomas Kemmerich zum Rednerpult. Er spricht über die Stärkung des deutschen Mittelstands und fehlende Fachkräfte. „Die alleinige Lösung ist auch nicht, sie nur per Zuwanderung aus dem Ausland zu gewinnen“, sagt er. Dann erzählt er eine Anekdote eines Bekannten, der am Flughafen Frankfurt 90 Minuten auf seinen Koffer warten musste. Dieser habe gesagt: „Wir haben in Deutschland keinen mehr, der einen Koffer schleppt, aber alle Beauftragtenstellen für Gleichberechtigung und solche Dinge“ seien besetzt.

Man muss sich die Botschaft schon mühsam zusammenreimen. Dürfen im Weltbild von Thomas Kemmerich ausländische Arbeitskräfte nur Koffer schleppen? Der Applaus ist bescheiden. Gegen Ende der Rede blickt er zum Parteichef Christian Lindner, der mit einem Teil des Präsidiums auf der Bühne sitzt. Er bedankt sich per Du, dass die Schuldenbremse steht. Als Kemmerich die Bühne verlässt, klatscht niemand vom Präsidium.

Es sind diese Feinheiten im Umgang, die zeigen, dass es sich bei Thomas Kemmerich nicht um irgendwen handelt, sondern um den Mann, der eine Regierungskrise in Thüringen ausgelöst hat. Der Handschlag am 5. Februar 2020 zwischen ihm und dem rechtsextremen AfD-Politiker Björn Höcke ist ein Bild, das in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen ist: Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte Kemmerichs Wahl mit AfD-Stimmen „unverzeihlich“. FDP-Vize Wolfgang Kubicki gratulierte zunächst, das sei „ein großartiger Erfolg“, ruderte aber wieder zurück. FDP-Chef Christian Lindner wirkte wie ein Getriebener. Schließlich musste Kemmerich zurücktreten. Die Parteispitze entzog ihm jede weitere Unterstützung.

Heute, drei Krisen später, wirkt die Causa Kemmerich wie eine Anekdote aus der Mottenkiste. Aber das ist sie nicht. Kemmerich bezeichnet die AfD zwar als „Feind“ und schließt jegliche Zusammenarbeit aus. Aber politische Mehrheiten mit Stimmen der AfD zu erreichen, findet er legitim. „Natürlich werben wir in den Parlamenten für unsere Anträge und unsere Überzeugungen. Wenn die AfD am Ende zustimmt, dann werde ich mich nicht von meiner politischen Überzeugung abbringen lassen“, sagt er am Rande des Bundesparteitags.

Hauptsache, gegen links

Thomas Kemmerich, der immer noch gern Visitenkarten als „Ministerpräsident a. D“ verteilt, ist in Thüringen politisch erstaunlich unbeschadet aus dieser Geschichte hervorgegangen. Auf den AfD-Trick eines Scheinkandidaten sei er nicht vorbereitet gewesen, sagt er bei einem Treffen in Erfurt. „In wenigen Sekundenbruchteilen“ habe er eine Entscheidung treffen müssen: die Wahl annehmen oder ablehnen. Also alles ein Versehen?

Nur wenige Monate nach dem Eklat, während der Pandemie im Mai 2020 trat Kemmerich auf einer Demo gegen Coronaschutzmaßnahmen in Gera auf. Mit dabei: Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger und AfD-Spitzenpersonal. Für Kemmerich eine Veranstaltung von „mehreren Hundert Bürgerlichen“, er verweist darauf, dass auch der Thüringer Innenstaatssekretär den Großteil der Demonstranten dem bürgerlichen Spektrum zuordnete. „Auf dem Markt war nicht zu erkennen, wer da noch mit auftaucht.“ Noch so ein Versehen.

Kemmerich genießt Rückhalt in seinem Thüringer Landesverband. Im Oktober 2022 wurde er erneut mit 87 Prozent zum Landesvorsitzenden gewählt. Bei der anstehenden Wahl 2024 will er wieder Spitzendkandidat werden. Er begründete das mit seiner Bekanntheit.

Der Thüringer SPD-Fraktionschef Matthias Hey spricht vom „stramm konservativ geführten Laden von Kemmerich“. Mit ihren vier Stimmen hätte die FDP im Landtag etwa bei Haushaltsberatungen der rot-rot-grünen Minderheitsregierung zur Mehrheit verhelfen können, wie das die CDU punktuell tut. Das aber verweigere die Thüringer FDP wegen ihrer Linken-Aversion hartnäckig. Wer die Thüringer FDP verstehen will, muss nur in den Leitantrag des jüngsten Landesparteitags schauen. Da wird eine Koalition mit der AfD ausgeschlossen, ebenso mit der Linkspartei. Der Hauptfeind steht für den gebürtigen Westdeutschen Kemmerich unübersehbar links. Ohne jede Differenzierung gilt ihm die Linke als SED-Nachfolgepartei. Man kann den Handschlag mit Höcke auch so interpretieren: lieber rechts als links. Martin Debes, der ein Buch über die Thüringer Regierungskrise geschrieben hat, kritisiert eine mangelnde Aufarbeitung der Thüringer FDP. Stattdessen stehe „sie in tumbem Trotz zu Kemmerich“. Gerade in Parlamenten, in denen die AfD stark sei, müsse bei allem dringend nötigen politischen Wettbewerb ein Grundkonsens der Demokraten herrschen, meint Debes. Leider werde diese staatspolitische Verantwortung oft zitiert, aber seltener danach gehandelt.

Bei der Wahl im Herbst 2024 könnte die AfD in Thüringen stärkste Kraft werden. Bei der FDP ist unklar, ob sie den Einzug in den Landtag schafft. Doch ein Spitzenkandidat namens Kemmerich würde die Bundes-FDP in Erklärungsnot bringen.

Kemmerich ist jedoch kein reines Thüringenproblem. Es geht um die Frage, wie man strategisch weitermachen will mit einer AfD im Umfragehoch. Harte Abgrenzung oder verbale Annäherung? Das Erstarken der AfD bringt vor allem konservative Parteien in die Bredouille. Punkten will man offenbar nicht links der Mitte. Aber rechts der Mitte sieht man Platz. Kemmerich ist mehr als nur ein Ausrutscher in der Geschichte. Kemmerich ist ein Symptom eines Richtungskampfes, der sich auch beim Heizungsgesetz beobachten lässt. Wo und wie lassen sich Unterstützer*in­nen gewinnen? Die FDP mit ihrer kleinen Stammwählerschaft will unterschiedliche Wählermilieus binden.

In der FDP-Bundestagsfraktion gründete sich 2020 nach dem Dammbruch in Thüringen eine Arbeitsgruppe, die sich mit dem Umgang mit der AfD beschäftigte. Es ging darum, wie man den Rechtspopulisten im parlamentarischen Raum begegnen will, und um langfristige Strategien. Leiter dieser Arbeitsgruppe war Benjamin Strasser, der heute parlamentarischer Staatssekretär im Bundesjustizministerium ist. Strasser will auf Nachfrage nicht mit der taz reden. Die Arbeit sei mit einem internen Abschlussbericht beendet, die Gruppe gebe es nicht mehr, teilt sein Pressesprecher mit.

Unter anderem gehörte Marie-Agnes Strack-Zimmermann dieser Gruppe an. Im Gegensatz zu Lindner und Kubicki hatte sie sich von Anfang an deutlich von Kemmerich distanziert. „Meine Haltung hat sich nicht verändert“, erklärt sie. Sie verweist auf den Beschluss des FDP-Präsidiums, der besagt, dass eine Spitzenkandidatur von Kemmerich finanziell und organisatorisch nicht unterstützt wird. Doch die Landesverbände seien „frei in ihrer Entscheidung, wen sie zu Wahlen aufstellen“, sagt Strack-Zimmermann. Kemmerich aber hofft auf Unterstützung der Bundespartei. Er sieht den Beschluss des Präsidiums als verjährt an. Mehr noch: Er behauptet, er sei „in Gesprächen mit Christian Lindner und dem Bundespräsidium“. Das Verhältnis zu Lindner sei „professionell entspannt“.

Kubicki ist kein Hinterbänkler, der Habeck aus versehen mit Putun vergleicht

Die Bundespartei weist diese Erzählung zurück. „Es finden keine Gespräche zwischen Thomas Kemmerich und dem Präsidium der FDP statt“, heißt es auf Nachfrage. Zudem wird betont, der Beschluss des FDP-Präsidiums vom 9. Oktober 2020 gelte. Ebenso der Beschluss des Bundesvorstandes der FDP vom 7. Februar 2020 mit dem Titel „Brandmauer gegen die AfD“. Darin heißt es, die Partei lehne es auf allen Ebenen ab, „mit der AfD zusammenzuarbeiten oder eine Abhängigkeit von der AfD in Kauf zu nehmen“.

Doch trotz der offiziellen Beschlusslage gibt es vor allem auf kommunaler Ebene ähnlich wie bei der CDU immer wieder Übernahmen von AfD-Themen und auch direkte Zusammenarbeit: Erst am 16. März 2023 stimmten CDU und FDP im Stadtrat Stralsund für den AfD-Antrag „Gendern konsequent unterbinden – Kommunikation in regelkonformer Sprache“. In der Hamburger Bürgerschaft hat die FDP vor 2020 zehnmal für AfD-Anträge gestimmt. In Thüringen wählten CDU und FDP im Saale-Holz-Kreis einen AfD-Kandidaten, der zuvor beim rechtsextremen Thügida aufgetreten war, in einen überregionalen Zweckverband. Rechtsextremismusexperten beklagen, dass man durch die Übernahmen rassistischer Narrative zur Flüchtlingspolitik oder durch AfD-Themen letztlich den Resonanzraum der extremen Rechten vergrößere und dem Original mehr Stimmen verschaffe.

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Oben     —   Thüringer Landtag, Wahl des Ministerpräsidenten: Björn Höcke (AfD, Fraktionsvorsitzender und Landessprecher der AfD Thüringen) gratuliert Thomas L. Kemmerich (FDP, Landes- und Fraktionsvorsitzender in Thüringen) zur Wahl

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Rezzo Schlauch sagt Maßlos

Erstellt von Redaktion am 4. Juni 2023

Die Justiz gegen die Letzte Generation

Von Gastautor Rezzo Schlauch

Rezzo Schlauch, Rechtsanwalt und Grüner seit mehr als 40 Jahren, ist kein Fan der Letzten Generation. Aber die Einstufung als kriminelle Vereinigung und Gefängnis fürs Festkleben hält er für einen Skandal. Vor allem verglichen mit den Strafen, die Betrüger von Autokonzernen für Milliarden-Schäden an der Gesellschaft kassieren.

Im nachfolgenden Beitrag geht es mir nicht um die Frage, ob die Straßenblockaden mit Ankleben der Letzten Generation eine strafbare Nötigung nach §240 Strafgesetzbuch (StGB) sind oder nicht. Es geht auch nicht um die Sinnhaftigkeit dieser Aktionen (ich persönlich halte diese im politischen Kampf gegen den Klimawandel für kontraproduktiv). Es geht ausschließlich um die in den vergangenen Wochen gegen die Klima-Aktivisten eingeleiteten Strafverfolgungsmaßnahmen und um einzelne völlig überzogene Urteile.

Ein Ermittlungsverfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung nach §129 StGB der brandenburgischen Staatsanwaltschaft in Neuruppin war seit Dezember 2022, mithin über fünf Monate, ein Solitär in der Strafverfolgung gegen die Klima-Aktivisten. Und konnte deshalb auf das Konto eines möglicherweise politisch übermotivierten Provinzstaatsanwaltes gebucht werden.

Dies umso mehr, als gewichtige Staatsanwaltschaften wie die Generalstaatsanwaltschaften Stuttgart und Berlin und auch andere Staatsanwaltschaften bundesweit dieser Auffassung nicht gefolgt sind. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat sogar die Strafanzeige eines eifernden CDU-Abgeordneten des Berliner Abgeordnetenhauses wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung mit ausführlicher Begründung abgewiesen. Unter anderem mit der Feststellung, es fehle der Letzten Generation am erforderlichen Gewicht.

Rechtsstaatliche Sicherungen durchgebrannt

Dann aber, fünf Monate nach diesem Auftakt, holte die Generalstaatsanwaltschaft München den ganz großen Knüppel aus dem Sack der Strafprozessordnung. Sie beauftragte zusammen mit dem LKA die „Bayrische Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus“, um eine großangelegte Aktion gegen die Letzte Generation durchzuführen. 170 martialisch uniformierte und schwer bewaffnete Polizisten durchsuchten 15 Wohnungen in sieben Bundesländern und beschlagnahmten Dokumente, Konten und Vermögensgegenstände.

Parallel dazu wurde die Webseite der Letzten Generation gekapert, auf das bayrische LKA umgeleitet und der unzweideutige Hinweis platziert, bei der Letzten Generation handele es sich um eine kriminelle Vereinigung nach §129 StGB. Zudem wurde vor Spenden gewarnt, dies stelle ebenfalls eine strafbare Unterstützung einer kriminellen Vereinigung dar. Auch wenn die Generalstaatsanwaltschaft später zurückruderte, den Eintrag korrigierte und lediglich von einem Anfangsverdacht sprach: Dieses skandalöse Vorgehen zeigt, dass den staatsanwaltlichen Akteuren im Verbund mit der Antiterror-Abteilung des LKA sämtliche juristische und rechtsstaatliche Sicherungen durchgebrannt sind und sie sich im rechtsfreien und damit rechtswidrigen Raum bewegten.

Zum Vorliegen des Tatbestands einer kriminellen Vereinigung, die man gemeinhin mit der Mafia oder gewalttätigen rechtsradikalen Gruppierungen assoziiert, bedarf es zweier grundlegender Voraussetzungen. Nämlich: Zum einen müssen sich Menschen zusammenschließen mit dem vorrangigen Zweck, Straftaten zu begehen. Zum anderen muss von ihnen eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wie der BGH es formuliert hat.

Die Letzte Generation hat sich zusammengeschlossen, um der Regierung in Sachen Klimaschutz ihre Defizite und ihre Langsamkeit aufzuzeigen und ihr Beine zu machen. Mit Forderungen unter anderem nach einem Tempolimit und einem bundesweit gültigen 9-Euro-Ticket für den öffentlichen Verkehr.

Dazu führt sie Gespräche mit Politikern, mit Bürgermeistern und Ministern, beispielsweise mit Verkehrsminister Volker Wissing (FDP). Sie organisiert Veranstaltungen, ihre Sprecher treten in Talkshows auf. Und ja, sie begehen auch Straftaten, wenn man Straßenblockaden mit oder ohne Ankleben als strafbare Nötigung bewertet, wie es bislang in der Mehrheit der Urteile geschieht.

Es gehört schon eine massiv von politischen Interessen geleitete Interpretation dazu und hat wenig mit einer nüchternen juristischen Auslegung des Straftatbestands zu tun, wenn dieses Bündel von Zielen, Zwecken und unterschiedlichen Aktivitäten der Klima-Aktivisten als Zusammenschluss mit dem vorrangigen Zweck zur Begehung von Straftaten eingeordnet wird, um eine kriminelle Vereinigung zu konstruieren.

49 Stunden im Stau – ohne Blockaden

Noch abwegiger wird es, wenn aus der Tatsache, dass eine überschaubare Anzahl von Autofahrern für eine überschaubare Zeitdauer durch die Blockaden gezwungen wird im Stau zu stehen, eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit und Ordnung abgeleitet wird. Der durchschnittliche Autofahrer steht bundesweit 30 Stunden, in Berlin 40 und in München 49 Stunden im Jahr im Stau. Ohne jede Behinderung durch Klima-Aktivisten, allein durch das normale Verkehrsaufkommen, Baustellen, Unfälle und so weiter.

Quelle       :           KONTEXT-Wochenzeitung-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Aufstand der Letzten Generation Aalen 2023-03-13

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