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Nach Grün + SPD rot = Tot

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Juni 2023

Ein neuer Kompromiss in der europäischen Flüchtlingspolitik bahnt sich an

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Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Gruppen gegen Kapital und Nation

Grüne, Sozis und Rechtsradikale raufen sich zusammen

In einem älteren Text haben wir mal anlässlich des sogenannten Flüchtlingssommer 2015 aufgeschrieben, worum es wesentlich in der Flüchtlingspolitik geht.1 Die deutsche Flüchtlingspolitik ist auf EU-Ebene im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geregelt. Innerhalb der EU geraten aber die verschiedenen nationalen Standpunkte ständig aneinander, so dass das aktuell geltende Dublin-Verfahren praktisch nicht klappt. In unserem Text von 2015 wird erklärt, welche Standpunkte innerhalb der EU hier aneinander geraten. Der Text sei an dieser Stelle nochmal empfohlen, weil dort ausgeführt wird, was hier nur angerissen werden soll.

Lange Zeit hat sich in der EU-Asylpolitik nichts wesentlich geändert, doch derzeit arbeiten die EU-Staaten mit neuer Energie an einem neuen Kompromiss, der das alte Dublin-Verfahren im Februar 2024 ablösen soll. Dass ein Kompromiss überhaupt möglich scheint, hat schlicht mit dem Ukraine-Krieg zu tun. Seit Beginn des Krieges haben die EU-Staaten viele Flüchtlinge aufgenommen (allen voran Polen, dessen rechte Regierung lange Zeit schlicht keine Flüchtlinge aufnehmen wollte). Ukrainische Frauen, Kinder und alte Menschen sind willkommen und werden unbürokratisch in die Gesellschaften aufgenommen. Die Flüchtlinge aus der Ukraine erwartet eine echte staatliche Willkommenskultur und eine Grundversorgung ohne die sonst üblichen Schikanen. Das hat auch schon manche Flüchtlingsaktivist*in zur Verzweiflung gebracht: Warum geht hier umstandslos die staatliche Hilfe, während Flüchtlinge ohne ukrainischen Pass zugleich weiter schikaniert werden?

Der Grund ist einfach der, dass die ukrainischen Flüchtlinge einen klaren Nutzen für die EU-Staaten haben:

Über die Waffenhilfen an die Ukraine und über die Sanktionen führen die EU-Staaten (indirekt) Krieg gegen Russland. Das Interesse Russland ins moralische Abseits zu stellen, Russland als Verbrecherstaat darzustellen, hat daher absolute Priorität. Die Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge ist das Material für die Kritik der EU-Staaten an Russland: Das ist ein Staat, der in dieser Welt keinen Respekt verdient. Im Vergleich dazu merkt man, dass z.B. die Kritik des Assad-Regimes oder die Lage in Afghanistan nicht mehr die Hauptinteressen der EU-Staaten sind. Diesem sich veränderten staatlichen Interesse folgend sind syrische und afghanische Flüchtlinge zunehmend nicht mehr gewollt.

Zusätzlich gilt der Zusammenhang von ukrainischen Flüchtlingen mit dem gewollten Verlauf des Krieges: Wenn man sich z.B. die Bundestagsdebatte im März 2022 anschaut, dann kann man da durchweg bemerken, wie die Waffenhilfe für die Ukraine und die Hilfe für die ukrainischen Flüchtlinge in einem Atemzug benannt werden.2 Und das hat folgenden Grund: Ihre Umsorgung soll den ukrainischen wehrfähigen Männern und Frauen Kraft geben, ihr Leben im Krieg hinzugeben. Diesen Einsatz beschrieb die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen kürzlich so: „Die Ukrainer sind bereit, für die europäische Perspektive zu sterben“. Diese europäische Perspektive sieht derzeit so aus: In einen direkten Krieg mit Russland wollen die EU-Staaten nicht eintreten. Aber sie wollen Russland schwächen, indem man die Ukraine gerade mit so viel Waffen ausstattet, dass die Truppen dort Russland aufhalten und es somit in einen langen Abnutzungskrieg reinziehen. So will die EU, dass der Krieg verläuft und da ist es förderlich, wenn die kämpfenden Soldat*innen in der Ukraine sich ohne Rücksicht um den Verbleib der eigenen Familie und Verwandtschaft in den Kampf und Tod werfen können.3

Freilich: Die Unterstützung der ukrainischen Flüchtlinge kostet eine Menge und das wird dauerhaft so bleiben, zumindest solange die EU zusammen mit den USA den Krieg so gestalten wollen. In diesem Lichte fallen dann den EU-Staaten die weiteren Flüchtlinge, die gewohnheitsgemäß über die Balkan-Route und das Mittelmeer ankommen und sich überwiegend vorbei an bestehenden EU-Regeln, über die EU-Staaten verteilen, umso lästiger auf. Jetzt, da das Hauptinteresse auf die ukrainischen Flüchtlinge gerichtet ist und Flüchtlinge aus anderen Ländern weniger als nützliches politisches Mittel, sondern vor allem als Last auffallen, sind zumindest einige relevante EU-Staaten bereit, doch nochmal aufeinander zu zugehen.

Konkret heißt das Aufeinanderzugehen in der EU-Asypolitik:

Bislang konnten und wollten sich Italien und Griechenland nicht auf die Hot-Spot-Lösung verlassen. Die dort registrierten Flüchtlinge sollten in andere EU-Staaten weitergereicht werden, aber nur wenn die anderen Staaten freiwillig mitmachten. Das haben viele Staaten gar nicht gemacht. Selbst Deutschland, das diesen Mechanismus eingebracht hat, machte nur sehr zögerlich mit. Insofern haben Italien und Griechenland die Flüchtlinge einfach ohne Registrierung durchreisen lassen, zum Ärger von z.B. Österreich oder Deutschland. Jetzt sollen die Hot-Spots zu „Aufnahmeeinrichtungen“ werden. Über den Charakter dieser Anstalten wird kein Hehl gemacht. Die FAZ spricht von „haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen“, die taz von „Internierungslagern“. Hier sollen all diejenigen Flüchtlinge landen, die – wie es so schön heißt – keine „Bleibeperspektive“ haben, weil die EU-Staaten ihnen die schlicht nicht geben wollen. „Das betrifft Menschen aus Ländern, bei denen die durchschnittliche Anerkennungsrate der Asylanträge in der EU unter 20 Prozent liegt oder die aus sogenannten sicheren Herkunftsländern stammen. Die 20-Prozent-Quote greift etwa bei Ägypten, Bangladesch oder Nigeria. Als sichere Herkunftsländer dürften etwa Marokko, Tunesien oder Algerien eingestuft werden.“ (taz, 09.06.2023) Mit ihnen soll ein Schnellverfahren durchgezogen werden, dass 12 Wochen dauern soll. Ist dann das Urteil negativ, dann sollen sie abgeschoben werden und dafür bis zu 6 Monate im „Gefängnis“ bleiben. Die EU-Staaten legen freilich Wert darauf, dass dies kein echter Freiheitsentzug sei, denn schließlich könnten die Menschen jederzeit freiwillig ausreisen – nur nicht in die EU.

Die Abschiebung ist nicht immer einfach, weil dabei irgendwelche Länder zustimmen müssen, in die „zurückgeschickt“ wird. Der Clou des neuen Kompromisses ist hier: 1. Die Aufnahmezentren sollen quasi extraterritorial sein, d.h. nicht echtes EU-Land. Die Flüchtlinge sind somit offiziell gar nicht „eingereist“ und das soll bei der Abschiebung einige bürokratische Hürden nehmen. 2. Das Land, in das abgeschoben wird, braucht nicht mehr dasjenige der Staatsbürgerschaft des Flüchtlings sein. Es reicht eine „Verbindung“ des Staates zum Flüchtling diese darf jetzt auch einfach irgendein „Transitland“ sein, das Flüchtlinge durchquert haben. Und was alles eine „Verbindung“ ist, das darf jedes EU-Land selber interpretieren und auslegen. So macht die EU dann z.B. Italien mit seiner rechtsradikalen Regierung zur Entscheidungsinstanz in Sachen Abschiebung. Die rechtsradikale Regierung liebäugelt derzeit mit Tunesien und die EU unterstützt Italien dabei, einen Deal mit dem Land hinzubekommen.4

Diejenigen Flüchtlinge, die wider erwarten doch Asyl bekommen sollten, sollen in die anderen EU-Staaten verteilt werden, wobei sich ein Staat hier auch mit einer Kopfprämie von 22.000€ freikaufen können soll. Daran könnte der neue Kompromiss noch scheitern, weil Polen und Ungarn das ablehnen. Sie wollen keine Flüchtlinge, die zuvor woanders angekommen sind, basta. Sie wollen vor allem aber nicht die ihre Souveränität in der Entscheidung, wer in ihren Ländern Aufenthaltsrechte bekommt, an die EU abgeben. Spekuliert wird darüber, dass die anderen EU-Staaten sie noch ins Boot holen könnten, wenn die finanziellen Beiträge für Frontex hier mit den Kopfprämien verrechnet werden könnten.

In dem neuen EU-Kompromiss zur Flüchtlingspolitik sind weitere eklige Details enthalten, die hier nicht weiter besprochen werden sollen. Es bleibt vorerst festzuhalten, dass die EU-Staaten folgendes wollen und/oder in Kauf nehmen:

1. An einer Weltordnung, in der die Kapitale abgehängte Staaten als Rohstofflieferanten benutzen können, hält die EU fest. Ob mit oder ohne IWF werden ganze Staaten und Regionen auf ihre Funktion als Rohstofflieferanten für den kapitalistischen Westen festgelegt. Die Überlegenheit der Kapitale aus den kapitalistischen Zentren sorgt dafür, dass sich in den abgehängten Staaten keine aufblühende kapitalistische Produktion mit umfangreichen Arbeitsplätzen durchsetzt. Für die Staatsführung eines „Rohstofflandes“ ist ihre Bevölkerung – im Unterschied zu erfolgreichen kapitalistischen Staaten – dann keine brauchbare Ressource, die man in rentable Arbeit führen will, sondern weitgehend überflüssig. Sie steht im Weg, weil große Landesteile für die kapitalistischen Rohstoff-Unternehmen gebraucht werden (wozu zukünftig auch die geplanten Solarparks gehören). Der Staat ist in einem „Rohstoffland“ im Großen und Ganzen die einzige gute Einkommensquelle und so finden sich immer wieder Leute, die abgehängte Bevölkerungsteile mobilisieren, um sich an die Macht zu putschen. Daraus resultierende Bürgerkriege (siehe aktuell Sudan) oder abweichende Regierungsprogramme werden vom Westen als Ordnungsprobleme gesehen und die „Verantwortung für die Welt“ wird dann mit Kriegen oder Unterstützung von Bürgerkriegen wahrgenommen. Die meisten Leute, die aus diesen Zuständen fliehen, sollen aus der EU draußen gehalten oder durch zu erwartende miese Behandlungen abgeschreckt werden. Ausgewählte Flüchtlinge sollen Asyl bekommen. Und damit verschafft sich Deutschland (bzw. alle EU-Staaten) die moralischen Titel „Verantwortung, Pflicht und Recht“, um mit denen – und so schließt sich der Kreis – in der Welt Einfluss zu nehmen.

2. Die in der Staatenkonkurrenz abgehängten Staaten in Nord-Afrika sollen für die EU-Staaten die Flüchtlinge verwalten. Dafür bekommen sie neue Finanzzuschüsse. Dass die Staaten einigermaßen autoritär organisiert sind, geht dabei für die EU in Ordnung, weil damit immerhin der Staat funktioniert, der mit seiner Gewalt seinen Dienst für die EU erledigen kann.

3. Das Mittelmeer bleibt ein Massengrab, das anhaltend mit neuen ertrunkenen Flüchtlingen angereichert wird.

4. Damit der Krieg in der Ukraine so weiterlaufen kann, wie bislang, müssen Flüchtlinge mit ukrainischer Staatsbürgerschaft umstandslos versorgt werden.

Darauf können sich pi mal Daumen viele EU-Staaten einigen und insbesondere die verantwortlichen Grünen und Sozialdemokrat*innen in Deutschland mit der rechtsradikalen Regierung in Italien.

An dieser Stelle ein Liedtipp – Pisse, Scheiß DDR:

Scheiß DDR

Ach was für ein schönes Land
Alle war’n im Widerstand
Videorekorder und Bananen
Stand geschrieben auf den Fahnen
’89 war’s vorbei
Ach was wart ihr alle frei
Alle auf zum Flüchtlingsheim
Jeder haut ’nen Molli rein

Scheiß BRD

Videorekorder und Bananen
Und japanische Sportwagen
Soldaten in Berlin nicht mehr
Heute rund um’s Mittelmeer

Scheiß Europa

1Was „Merkels kurzer Sommer der Menschlichkeit“ über die deutsche Realität aussagt https://gegen-kapital-und-nation.org/was-merkels-kurzer-sommer-der-menschlichkeit-%C3%BCber-die-deutsche-realit%C3%A4t-aussagt/

2Siehe https://dserver.bundestag.de/btp/20/20020.pdf, S. 1404ff.

3Zum Krieg siehe die Themenseite der Gruppen gegen Kapital und Nation.

4Dänemark und Österreich plädieren dafür es UK gleich zu tun: Flüchtlinge werden sofort in irgendeinen Dritt-Welt-Staat verfrachtet und dort wird dann das Asylverfahren durchgeführt (sogenanntes „Ruanda-Modell“). Soweit ist es jetzt noch nicht gekommen – hier würde keine Verbindung bestehen.

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Oben      —   Hannelore Kraft (l.) und Sylvia Löhrmann (r.) bei der Unterzeichnung des rot-grünen Koalitionsvertrags im Juni 2012

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Auslaufmodell-Greenwash

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Juni 2023

Die WM in Katar war nur ein Beispiel unter vielen.

Al Bayt Stadium.jpg

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :    Patrik Berlinger /   

Viele Firmen behaupten, klimaneutral zu sein. Statt eigene Emissionen zu reduzieren, setzen sie oft auf Kompensationen im Ausland.

(Red.) Der Autor dieses Gastbeitrags ist verantwortlich für die politische Kommunikation bei Helvetas, einer Organisation der Entwicklungszusammenarbeit. Infosperber publiziert eine aktualisierte Version seines Artikels, der im entwicklungspolitischen Newsletter von Helvetas erschienen ist.  

Vor vier Jahren gab der Bundesrat bekannt, dass die Schweiz ab 2050 «unter dem Strich» keine Treibhausgasemissionen mehr ausstossen soll. Das Volk hat dieses Ziel mit dem deutlichen Ja zum Klimaschutz-Gesetz bestätigt und erste Massnahmen für die Reduktion der Emissionen beschlossen: innovative Unternehmen und Branchen stärken, Gebäude sanieren und Elektroöfen und Ölheizungen ersetzen. Wie die Schweiz allerdings gesamthaft und in allen Sektoren bis zur Mitte des Jahrhunderts auf Netto-Null kommen soll, bleibt Gegenstand politischer Debatten.

Wichtige Anhaltspunkte liefert die «Langfristige Klimastrategie der Schweiz» aus dem Jahr 2021. Die Strategie geht in die richtige Richtung und ist ambitioniert. Und doch reicht es nicht. Denn die Strategie sieht vor, dass für Netto-Null lediglich die Emissionen innerhalb der Schweizer Landesgrenzen berücksichtigt werden. Dies, obwohl bekannt ist, dass zwei Drittel der schweizerischen Emissionen im Ausland entstehen.

Zum anderen sollen CO2-Minderungen in anderen Ländern zugekauft werden. So fördert die Schweiz im Rahmen bilateraler Abkommen Klimaschutz-Projekte in ärmeren Ländern wie Ghana, Peru oder Dominica – und rechnet die erzielten Treibhausgas-Reduktionen dem eigenen nationalen Emissionsreduktionsziel an.

Immer mehr Firmen sind angeblich «klimaneutral» 

Diesen «buchhalterischen Trick», CO2-Emissionen via Klimaschutz in ärmeren Ländern zu kompensieren, wendet die Privatwirtschaft seit Jahren an. Die Versprechen, «klimaneutral» zu wirtschaften, haben allerdings immer absurdere Züge angenommen.

Jüngst behauptete die in Genf ansässige MKS PAMP, die eine Edelmetallraffinerie betreibt, den ersten «klimaneutralen Goldbarren» zu verkaufen. Obschon offensichtlich ist, dass der Abbau des Rohstoffs immense Umweltschäden anrichtet und viel CO2 freisetzt. Gemäss dem Unternehmen ist «klimaneutral» dennoch möglich – dank CO2-Kompensationen im Ausland.

Auch Fliegen geht heute ohne «Flugscham»: Bei der Schweizer Fluggesellschaft Swiss kann der Kunde bei der Reisebuchung für ein paar Franken seinen Flug «ausgleichen» – mittels Nutzung nachhaltiger Treibstoffe (Sustainable Aviation Fuel, SAF) und einem Beitrag an Klimaschutzprojekte. Als kleines Plus gewährt die Swiss dazu «extra Statusmeilen» sowie «flexible Umbuchungsmöglichkeiten». Die SAF-Technologie steckt allerdings in den Anfängen. Das synthetische Kerosin ist erst in sehr geringer Menge verfügbar und teuer. Weltweit liegt der Einsatz von SAF im Promille-Bereich.

Im Dezember behauptete Katar, erstmalig eine «klimaneutrale WM» durchzuführen. Selbstverständlich ist dies unsinnig. Laut Katar und der FIFA wurde zwar von der Bauphase bis zum Abbau des gesamten Wettbewerbs mehr CO2 in die Luft geblasen als jemals zuvor in der Geschichte der WM. Die Organisatoren beteuerten aber, dass sie sämtliche Emissionen durch die Finanzierung ökologisch nachhaltiger Projekte «in der ganzen Welt kompensieren» würden. Bereits im November reichten die Klima-Allianz sowie Verbände aus mehreren europäischen Ländern Beschwerde gegen die FIFA ein. In ihrem Urteil vom 6. Juni unterstützte die schweizerische Lauterkeitskommission die Beschwerdeträger und befand die FIFA wegen Greenwashing für schuldig.

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Schliesslich verkündete St. Moritz diesen Winter stolz, das erste «klimaneutrale Skigebiet» der Schweiz zu sein. Pisten- und Dienstfahrzeuge würden mit CO2-neutralem Diesel fahren. Gebäude und Restaurants würden mit CO2-neutralem Heizöl beheizt. Ein offensichtlicher Fall von Greenwashing, denn die alternativ eingesetzten Treib- und Brennstoffe sparen gerade mal 5 – 8,5 Prozent CO2 ein. Der Rest wird über Klimaschutz-Projekte in Indonesien und Peru «kompensiert». Durch das Schützen der Wälder soll zusätzliches CO2 reduziert werden. Allerdings ist dies laut einem ETH-Forscher und Greenpeace fragwürdig und umstritten.

Probleme mit Ausland-Kompensationen 

Die «Zeit», der «Guardian» und «SourceMaterial» (ein non-profit Zusammenschluss von Journalist:innen) konnte Anfang Jahr nach einer neunmonatigen Recherche zeigen, dass Waldschutz-Projekte in vielen Fällen weniger CO2 binden als versprochen: Hinter mehr als 90 Prozent der CO2-Zertifikate, die Verra (der weltweit führende Zertifizierer von Emissionsgutschriften) auf Projekten zum Schutz von Regenwäldern ausgegeben hatte, standen keine realen Emissionsminderungen. Mit anderen Worten: Millionen von Emissionszertifikate, die es nie hätte geben dürfen, gelangten auf den freien Markt. Firmen wie Gucci, BHP, Shell, Chevron, Disney, Samsung, easyJet oder Leon verliessen sich auf die Regenwald-Zertifikate und polierten damit die CO2-Bilanz ihrer Unternehmen auf.

Inzwischen hat die EU naturbasierte Kompensationen aus dem CO2-Emissionshandel ausgeschlossen. Das hat zwei Gründe: Zum einen muss ein Projekt tatsächlich «zusätzlich» CO2 mindern. Nur wenn ein Waldgebiet ohne ein Schutzprojekt tatsächlich gerodet würde, verhindert ein Schutzprojekt die Emissionen von CO2. Ist das Waldgebiet aber ohnehin geschützt, weil es z.B. in einem staatlichen Naturpark liegt, wird durch ein weiteres Schutzprojekt kaum zusätzliches CO2 eingespart. Anderseits kann nie ausgeschlossen werden, dass der geschützte Wald nicht in zehn oder zwanzig Jahren doch gerodet wird oder einem Brand zum Opfer fällt, wodurch das CO2 dann doch freigesetzt wird.

Selbstverständlich muss die Staatengemeinschaft weiterhin alles dafür tun, um die Regenwälder zu schützen und die weltweite Abholzungsrate zu reduzieren. Ohne dies ist die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens aus dem Jahr 2015 und des 1,5 Grad-Ziels nicht zu machen. Ob freiwillige CO2-Kompensationsprojekte das richtige Instrument sind, ist allerdings mehr als fraglich.

Seit die EU und einige europäische Länder im freiwilligen Emissionshandel mehr Transparenz fordern, bewegt sich nun auch in der Schweiz etwas. Dienstleister wie Climate Partner Switzerland oder MyClimate, die Unternehmen dabei helfen, ihre CO2-Emissionen zu senken, verzichten seit Ende Jahr auf das Label «klimaneutral» und stellen klar, dass die von ihnen unterstützten Projekte lediglich «nachhaltig wirken».

Unternehmen müssen selbst nachhaltigen Wandel vorantreiben 

Zu lange haben es sich viele Firmen einfach gemacht und über billige Zertifikate in CO2-Kompensationsprojekte investiert, anstatt sich auf die Reduktion von Treibhausgasen in ihrem Geschäftsgebaren zu konzentrieren und Geschäftsmodelle zu entwickeln, die auf einen raschen Ausstieg aus den fossilen Energien abzielen.

Unternehmen müssen ihre Klimastrategien überdenken und in erster Linie ihre eigenen betriebsinternen Emissionen und diejenigen entlang ihrer internationalen Wertschöpfungskette reduzieren.

Firmen dürfen darüber hinaus Klimaschutzprojekte im Ausland finanzieren – ja, sie sind dazu sogar eingeladen. Allerdings dürfen sie damit ihre eigene Emissionsbilanz nicht buchhalterisch aufhübschen und ihr Business dadurch besser darstellen als es in Tat und Wahrheit ist.

Konkret wäre es im Fall des Wintersports zum Beispiel zielführender, die Gebäude energetisch zu sanieren und mit Erdwärmepumpen auszustatten, PV-Anlagen zu installieren und den Fahrzeugpark zu elektrifizieren, nachhaltiges Essen in Restaurants anzubieten und Foodwaste zu reduzieren, und die Feriengäste dazu zu bringen, mit dem Zug anzureisen. Der schädliche Luxus-Privatjet-Verkehr ins Oberengadin müsste stark besteuert werden. Das Geld könnte in Klimaschutz in der Schweiz und in ärmeren Ländern investiert werden. «Greenwashing» hingegen können wir uns nicht mehr länger leisten.

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Oben      —     Al Bayt Stadium, Al Khor, Qatar

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Wann ist sein Papagei dran?

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Juni 2023

PREIS FÜR HABECKS KATZE

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Am Rande der Hannover Messe wurde der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck mit einem Preis für die Energiewende ausgezeichnet. Der wurde ihm von seinem Bruder Hinrich überreicht. Hinrich ist nicht nur Habecks Bruder, sondern auch Chef der Wirtschaftsförderung Schleswig-Holstein. Die Wirtschaftsförderung wird von der Landesregierung Schleswig-Holstein finanziert und gesteuert.

Prinzip der Allparteien-Koalition

Wer die Tatsache, dass eine Landesregierung einem Bundesminister publikumswirksam einen Preis zuschanzt, für politischen Inzest hält, der versteht das Prinzip der deutschen Allparteien-Koalition nicht: Alle, die da mitmachen, sind preiswert zu korrumpieren. Dieser oder jener mit noch einem teuren Amt, andere mit einem fadenscheinigen Preis – bezahlt wird die komplette Kirmes vom Steuerzahler.

Wappentier ist die Blindekuh

Wie immer geht es um das Wichtigkeits-Karussell: Du findest mich gut, dann finde ich dich gut, später finden wir vielleicht auch einen guten Grund – die Geschlossenheit. Wer geschlossen ist, der macht kein Fass auf, der schließt vor jedem auftauchenden Polit-Verbrechen die Augen. Das Wappentier ist die Blindekuh, die Flagge besteht aus Löchern, die Hymne beginnt mit „Einigkeit“. „Recht und Freiheit“ sind aus Gründen der Koalitionsdisziplin gestrichen.

Keine Blutschande sondern Reinzucht

Dass der Bruder dem Bruder einen Preis zuschiebt, ist keine Blutschande sondern Reinzucht: Nur wer sich familiär im Kreise dreht, hält sich rein. Das wussten schon die alten Ägypter. Dort machte es der Bruder mit der Schwester. In Deutschland treibt es der Bruder mit dem Bruder: Platz da für neue Geschlechter ist ein grünes Prinzip.

Nur der Bruder ist kein Luder

Das Habeck- Prinzip „Nur der Bruder ist kein Luder“ ist so hermetisch, dass keinerlei Alternative möglich ist. Da bleibt die grüne Fahne hoch und die Reihen sind fest geschlossen. Wer aus der Reihe tanzt, wird zur Tarantella nicht unter drei Runden verurteilt.

Grüne Massensuggestion

Die Tanzopfer leiden unter Tarantismus, einer psychischen Erkrankung in Verbindung mit Massensuggestion. Wer diese Krankheit erwischt, der hält GRÜN für die Farbe der Hoffnung, Deutschland für eine Demokratie und seine Medien für vielfältig.

Eau de Robert bei Douglas

Noch ist das Höchstmaß an Geschlossenheit nicht erreicht. Erst wenn Habecks Katze den Grammy für ihr Maunzen bekommen hat, wenn sein Papagei mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde und sein Schweiß als Eau de Robert bei Douglas Höchstpreise erzielt, ist die Zeit für das Vierte Reich gekommen. Jenes Reich, in dem die Schließer die Macht übernommen haben und die Ketten als Schmuck für alle gelten.

Urheberrecht

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Oben      —   Hauskatze, langhaarig, weiß mit braun-grauen Tigerflecken

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KOLUMNE * ERNSTHAFT ?

Erstellt von DL-Redaktion am 11. Juni 2023

Tiefere Stimme, höhere Position

Eine Kolumne von Ulrike Winkelmann

Was könnte Annalena Baerbock erreichen mit dem Organ eines Sigmar Gabriel? Vielleicht gleicht KI ja bald die vokale Geschlechterungerechtigkeit aus.

Mein Respekt vor Politikerinnen, die von gängigen Körpernormen deutlich abweichen, ist parteiübergreifend. Das gilt umso mehr, da jede Häme im Internet millionenfach vervielfältigt und auch verewigt wird.

Die Mechanismen, die greifen, wenn eine gar-nicht-normschöne Frau die politische Bühne betritt, wurden schon oft beschrieben. Ich behaupte aber, dass sich – vermutlich gerade wegen der Spottlawinen in den sozialen Medien – der moralische Standard eher gefestigt hat, dass man Leute grundsätzlich nicht nach ihrem Äußeren zu bewerten hat. Noch nicht einmal Frauen in der Politik. Dieses Gebot gilt, selbst wenn es im Alltag gern und geifernd unterlaufen wird.

Was mich allerdings zunehmend wundert, ist, wie wenig über Stimmen geredet wird. Jeder weiß, dass Stimmen angenehm und unangenehm sein können. Tiefe Stimmen werden lieber gehört als hohe. Tiefen Stimmen wird mehr Autorität zugerechnet. Solche Gefühle und Reflexe entstehen in Millisekunden, ihnen ist mit Vernunft und Werten schwer beizukommen.

Doch statt dabei den Urskandal – dass Männer demnach einen ewigen Vorteil gegenüber Frauen haben – zu thematisieren, scheinen Stimmlagen die freimütige Urteilsfindung über Politikerinnen eher zu begünstigen: „Ich kann der nicht zuhören.“

Die Menopause als politische Chance

Dabei sind Stimmen erst einmal das Produkt längerer oder kürzerer Stimmbänder und insofern ein Körpermerkmal wie dünnes, glanzloses Haar. Während jedoch die Auseinandersetzungen etwa über Angela Merkels Frisur inzwischen Regale füllen würden, ist die Rolle ihrer Stimme bisher wenig beschrieben.

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Ein Sprachwirkungsforscher erklärte unlängst in dieser Zeitung, Merkels Stimme sei lange als „Kleinmädchenstimme“ bezeichnet worden, bis sie sich 2005 und 2006 durch die Menopause „deutlich abgesenkt“ habe (zur Erinnerung: Merkel wurde 2005 zur Kanzlerin gewählt). Erst von da an, so der Forscher, seien ihre Beliebtheitswerte gestiegen. Gleiches gelte für die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher.

Über Thatcher und die Frage, ob sie einen „Voice Coach“ beschäftigte, findet sich tatsächlich einige Literatur. Die vierte Staffel von „The Crown“ war der britischen Presse zuletzt Anlass für detaillierte Erörterungen, ob die Darstellerin Gillian Anderson den Thatcher-Sound richtig hinbekommen habe. Als unstrittig gilt dabei, dass Thatcher erst aufstieg, als sie ihre Stimme auf wählbares Niveau gesenkt hatte.

Nun machen zwei Regierungschefinnen noch keine Statistik. Doch möchte ich es gern als Fortschritt würdigen, dass Politikerinnen seit Thatcher und Merkel auch mit Stimmen vorwärtskommen, die wenig Souveränitätsmerkmale aufweisen.

Frauen müssen wohl kompensieren

Quelle            :       TAZ-online          >>>>>          weiterlesen 

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Oben      —       Wilhelm Busch: Lehrer Lämpel (aus Max und Moritz)

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Fünf Fragen zur Ampel

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Mai 2023

Streit um das Heizungsgesetz

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Von Sabine am Orde, Jasmin Kalarickal, Anna Lehmann und Stefan Reinecke

Die Koalition in Berlin ist in ihrer bisher schwersten Krise. Es geht um mehr als um ein paar alte Ölheizungen.

Ist die Fortschritts­koalition eine Gurkentruppe?

Weit ist es nicht mehr bis dahin. Von der selbst ernannten Fortschrittskoalition, die mehr sein wollte als ein Bündnis des kleinsten gemeinsamen Nenners, ist beim Klimaschutz wenig zu sehen. Gerade kann sie sich nicht mal auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen, nämlich ein gemeinsam im Kabinett beschlossenes Gesetz auch tatsächlich dem Bundestag zu übergeben. Und das, obwohl die Ampel im Koali­tions­ausschuss – diesem Kreis aus ­Partei- und Fraktionschefs, der sich auf Einladung von Olaf Scholz ab und an am Wochenende im Kanzleramt trifft und auch mal die Nacht durchmacht – zweimal verabredet hat, dass der Heizungstausch von fossil zu nichtfossil schon im nächsten Jahr starten soll. Von „Wortbruch“ sprach Robert Habeck, ein Grüner bezeichnete die FDP als „des­truk­ti­ve Clique“.

Der Verlust an Vertrauen zwischen den Koalitionspartnern wiegt dabei schwerer als der inhaltliche Streit. So grundsätzlich sind die Einwände der FDP gegen das Gesetz von Robert Habeck (Grüne) und Klara Geywitz (SPD) nämlich gar nicht. Dass es mehr Alternativen zur Wunderheizung Wärmepumpe geben muss, ist allen klar, und dass keine Häuslebesitzerin nach einer Heizungshavarie Privatinsolvenz anmelden soll, ebenfalls. Differenzen kann man mit Kompromissen überbrücken, verloren gegangenes Vertrauen ist schwerer zu ersetzen.

Die Gespräche gehen weiter. Aber selbst wenn man sich noch vor der Sommerpause auf ein Gesetz einigt, wird sich am Modus Operandi der Regierung wenig ändern. Denn dieses Muster – man verabredet sich, und im letzten Moment meldet die FDP ihr Veto an – schien ja schon beim Atomausstieg und beim Verbrenner-Aus auf.

„Gurkentruppe“ ist übrigens kein Kosename für die Grünen, damit beschimpfte CSU-Generalsekretär ­Alexander Dobrindt den liberalen Koalitionspartner vor 13 Jahren im Streit über die Gesundheitspolitik. Nach vier Jahren war Schluss mit der schwarz-­gelben Koalition.

Warum zündet die FDP das Dach an?

Weil sie es kann. Und weil sie der Versuchung einfach nicht widerstehen konnte. Wirtschaftsminister Robert ­Habeck, Antagonist von Christian Lindner, ist angeschlagen, und weite Teile der Bevölkerung stehen dem Heizungs­gesetz skeptisch gegenüber. Beflügelt von dieser Antistimmung und Seit’ an Seit’ mit der Bild kann sich die FDP als Katalysator für den Unmut im Volk ­aufspielen und sich nebenbei am ­populistischen Grünen-Bashing beteiligen.

Sinnbildlich dafür stehen die 101 Fragen, die die FDP-Fraktion erst vom Wirtschaftsministerium beantwortet haben wollte, bevor es weitergehen kann im Gesetzgebungsprozess. Mal sprachen FDP-Politiker*innen von 100 Fragen, mal von 101, es kursierten Listen, die aber nicht im Ministerium ankamen. Offiziell trudelten dann 77 Fragen ein. Fragen sind normal im Gesetzgebungsprozess, sie als PR-Nummer zu inszenieren ist es nicht. Es geht der FDP nicht darum, die dringend benötigte Wärmewende hinzubekommen. Sie möchte die Verunsicherung in der Bevölkerung in politisches Kapital ummünzen und agiert wie eine Oppositionspartei. Wie schrill sie dabei klingt, wird vor allem an den Tönen der Union und AfD gemessen. Das kann ihr kurzfristig Aufwind verschaffen, aber nicht langfristig. Nach etlichen verlorenen Landtagswahlen agiert die Partei affektgetrieben. Gestärkt aus diesem Bündnis kann sie aber nur gehen, wenn sie Antworten für eine bessere Zukunft liefert. Die schafft man nicht mit Nischenkämpfen für E-Fuels und H2-ready-Heizungen. Die Grünen machen Öko, die SPD macht Soziales. Und die FDP? Eben. Nur (Schulden-)Bremse reicht nicht.

Wieso lassen sich die Grünen das bieten?

Weil die Grünen eigentlich keine Alternative haben, wenn sie die Ampel nicht ernsthaft in Gefahr bringen oder gleich in die Luft jagen wollen. Und das wollen sie nicht. Aus staatspolitischer Verantwortung in krisengeschüttelten Zeiten. Und weil sie trotz allem Ärger sowohl auf die FDP als auch auf den Bundeskanzler wissen: Ein besseres Regierungsbündnis gibt es derzeit nicht. Denn dass mit der Union unter Friedrich Merz, der bei Neuwahlen ziemlich sicher der Kanzlerkandidat wäre, beim Klima und anderen wichtigen Themen für die Grünen mehr zu erreichen und das Regieren leichter wäre, glaubt in der Partei kaum jemand.

Hinzu kommt: Die Grünen verhandeln aus einer Position der Schwäche heraus. Robert Habeck hat bei der Erarbeitung des Gebäudeenergiegesetzes Fehler gemacht. Als ein Entwurf bei der Bild landete, hatte er kein Konzept für den sozialen Ausgleich, und eine Kommunikationsstrategie fehlte auch. Für die Geg­ne­r*in­nen des GEG war das eine Steilvorlage, die sie zu nutzen wussten. Inzwischen ist die Verunsicherung in der Bevölkerung groß. Die Trauzeugenaffäre um den inzwischen entlassenen Energie-Staatssekretär Patrick Graichen kam noch obendrauf.

Dreimal haben die Grünen das Gebäudeenergiegesetz in der Ampel bereits verhandelt, jedes Mal haben sie Zugeständnisse gemacht. Jetzt erhöhen sie den öffentlichen Druck auf den Koalitionspartner und blockieren im Gegenzug Vorhaben wie die Planungsbeschleunigung bei den Autobahnen, ein Herzensthema der FDP. Jetzt verhandeln sie mit der FDP noch einmal mehr, damit das GEG in den Bundestag geht. Weitere Zugeständnisse inklusive.

Wo ist eigentlich Olaf Scholz?

Habeck holzt gegen die FDP, die FDP holzt gegen Habeck. Die Ampel macht derzeit die Opposition arbeitslos. Manche mögen fragen: Was macht Olaf Scholz eigentlich beruflich? Denn der Kanzler hält sich recht vornehm zurück. Aber das ist kein Wunder, auch kein Versagen. Es entspricht dem Grundgesetz, Artikel 65. Der Kanzler hat die Richtlinienkompetenz. Die Arbeit aber machen die MinisterInnen selbstständig. Und wenn die sich zerlegen, ist guter Rat immer teuer.

Quelle      :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen    

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Die »Zukunftskoalition« ?

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Mai 2023

Bis zur Kenntlichkeit entstellt

Von Albrecht von Lucke

Manche Gesichter werden im Streit bis zur Kenntlichkeit entstellt. Bei Koalitionen gilt das gleiche in Krisen. Wenn daher eines Tages gefragt werden sollte, wann aus der angeblichen Zukunftskoalition eine Koalition der Vergangenheit geworden ist, dann dürften die nächtelangen Koalitionsausschusssitzungen von Ende März 2023 dabei eine ganz entscheidende Rolle spielen.

Wer noch irgendeinen Zweifel daran hatte, wie die Machtverhältnisse in dieser Koalition wirklich aussehen, ist seitdem eines Schlechteren belehrt. Die von der FDP kreierte Vorstellung, hier stünden zwei Linksparteien gegen sie, den letzten Hort der bürgerlichen Vernunft, entpuppte sich endgültig als Chimäre: Faktisch agieren zwei Parteien, nämlich FDP und SPD, strikt in Verteidigung der materiellen Gegenwartsinteressen, während die Grünen versuchen, auch die Interessen der zukünftigen Generationen zu vertreten – genau wie es das Bundesverfassungsgericht jeder Regierung mit seinem historischen Urteil vom März 2021 ins Stammbuch geschrieben hat.

Das Dilemma der Grünen wie der Klimabewegung: Die ganz jungen wie die kommenden Generationen haben bei Wahlen keine Stimme. Dadurch gibt es eine strukturelle Dominanz der Älteren und ihrer Interessen. Dieses Dilemma wird noch dadurch verstärkt, dass die Grünen strategisch ungeschickt agierten und zudem ihre Gesetzesvorhaben immer wieder frühzeitig an die Medien durchgestochen wurden – insbesondere der nur halbfertige Entwurf zum Einbau von Wärmepumpen.

Zum ersten Mal wurde hier dramatisch deutlich, dass die Transformation keineswegs eine reine Gewinnangelegenheit für alle sein wird, sondern dass viele Bürgerinnen und Bürger erhebliche Opfer für das Gemeinwohl werden bringen müssen. Opfer, die nun ganz ausschließlich dem grünen Klima- und Wirtschaftsminister Robert Habeck angelastet werden. Die Konsequenz ist ein massiver Backlash – zulasten der ökologischen Anliegen wie auch der grünen Partei, der sich auch in den Ergebnissen der schon heute historisch zu nennenden Koalitionsausschusssitzungen manifestierte.

Offensichtlich waren die grünen Änderungswünsche vom Kanzleramt gar nicht mehr berücksichtigt und eingearbeitet worden, weshalb das Papier letztlich erst nach Verhandlungen von 30 Stunden beschlossen werden konnte.[1] Mit dennoch fatalen Folgen: Ausgerechnet beim Verkehrssektor wird nun nicht mehr Jahr für Jahr geprüft, wieviel CO2 er eingespart hat, wie noch im alten, bereits zu schwachen Klimagesetz der großen Koalition vorgesehen. Damit wäre das von der FDP verantwortete Verkehrsministerium von der Pflicht für ein Sofortprogramm zum Klimaschutz befreit und die Einhaltung der Zielvorgaben für 2030 in weite Ferne gerückt.

Hier zeigte sich einmal mehr: In dieser Koalition wedelt der Schwanz mit dem Hund. Obwohl die FDP prozentual klar der schwächste Koalitionspartner ist, gibt sie in der Regierung allzu oft den Ton an. Und zwar dank bewusster Duldung des Kanzlers: Von einem „sehr, sehr, sehr guten Ergebnis“ sprach denn auch Olaf Scholz. Aus rein parteitaktischer Perspektive ist dies auch durchaus der Fall: Der Kanzler braucht aus zwei Gründen eine starke FDP – erstens, um damit CDU/CSU zu schwächen, und zweitens, weil nur eine zufriedene FDP ihm 2025 die Chance auf eine zweite Ampel-Legislatur eröffnet. Dagegen hat er weit weniger Interesse an starken Grünen, die ihm als Führungspartei der linken Mitte Konkurrenz machen könnten.

Nach dieser ur-neoliberalen Devise – „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“ – kann jedoch keine Koalition auf Dauer funktionieren. Derzeit existiert in der Ampel keinerlei Vorstellung, wie sich die Zukunft gemeinsam gestalten lässt. Und, fataler noch, die FDP sieht sich in ihrer rein destruktiven Logik nach diesem Koalitionsausschuss noch bestärkt. Folgerichtig hat FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner bereits die nächste Oppositionsoption in der Regierung ausgemacht und per Twitter das Ende „der Zeit der reinen Verteilungspolitik in unserem Land“ verkündet.[2]

Anstatt die gemeinsam gefällten Beschlüsse der Koalition auch offensiv zu vertreten, macht sich die FDP auch bei der Atomkraft einen schlanken Fuß: „Würde es nach mir gehen, würden wir bestehende Kernkraftwerke in der Reserve behalten & den Rückbau verhindern“, teilte Lindner am Tag des Atomausstiegs[3] mit, um auf diese Weise seine Hände in Unschuld zu waschen und mit der Drohung eines zukünftigen Energiemangels auch weiter gegen die Grünen als angebliche Verbotspartei agitieren zu können. „Die Zeit des Appeasements ist vorbei“, lautet denn auch die unsägliche Ansage von FDP-Vize Wolfgang Kubicki, der nicht einmal davor zurückschreckte, Robert Habeck mit Wladimir Putin zu vergleichen.[4]

FDP-Egoismus von Döpfners Gnaden

Massiv unterstützt wird die FDP durch eine seit Monaten anhaltende Kampagne der „Bild“-Zeitung, die den Klimaminister Tag für den Tag wie eine Sau durchs mediale Dorf treibt – offenbar nicht zuletzt auf Weisung von Springer-Chef Mathias Döpfner, dessen Geisteshaltung soeben offengelegt wurde.[5] Beredter noch als dessen unsägliche Entgleisungen zu Ostdeutschen und Migranten sind dessen Einlassungen zum Klimaschutz.

„Umweltpolitik – ich bin sehr für den Klimawandel. Zivilisationsphasen der Wärme waren immer erfolgreicher als solche der Kälte. Wir sollten den Klimawandel nicht bekämpfen, sondern uns darauf einstellen“, so der Springer-Chef. Wenn es eines gebe, was er hasse, dann seien es Windräder. Die einzige Kraft zur Zurückdrängung des ökologischen Ungeistes sind für ihn die Liberalen. „Unsere letzte Hoffnung ist die FDP. Nur wenn die sehr stark wird – und das kann sein – wird das grün rote Desaster vermieden. Können wir für die nicht mehr tun. […] It’s a patriotic duty“, so Döpfner im Wahlkampf 2021 in einer Rundmail an die verantwortlichen Redakteure seines Verlags. Noch zwei Tage vor der Wahl schrieb er seinem (damaligen) „Bild“Chef Julian Reichelt: „Please Stärke die FDP. Wenn die sehr stark sind können sie in Ampel so autoritär auftreten dass die platzt. Und dann Jamaika funktioniert.“

FDP und Springer-Verlag treffen sich in einem entscheidenden Punkt: ihrer Staatsablehnung bis hin zur Staatsfeindschaft. „Staatsgläubigkeit geht einher mit einem Menschenbild, das vor allem kollektivistischen, latent oder akut unfreiheitlichen Systemen eigen ist: Der Bürger brauche Aufsicht – einen Vormund. In diesem Fall, den vormundschaftlichen Staat“, so Döpfner bereits 2021 in seinem Buch „Die Freiheitsfalle“ über die angeblich nach wie vor herrschende deutsche Untertanenmentalität.[6] Im Verständnis des Springer-Chefs wie dem seiner leitenden Angestellten, am ausgeprägtesten bei „Welt“-Chef Ulf Poschardt, ist Freiheit immer nur gegen den Staat zu denken.[7] Aus dieser Staatsverachtung resultiert letztlich auch Döpfners absolute Diskreditierung der Ostdeutschen: „Von Kaiser Wilhelm zu hitler zu honnecker ohne zwischendurch us reeduction genossen zu haben. Das führt in direkter Linie zu AFD.“ Diese Ablehnung jedes Kollektivgedankens – und seines angeblichen Agenten, sprich: des Staats – geht einher mit einer narzisstisch grundierten Vergötzung des als großartig imaginierten Individuums (und des eigenen Egos). Mit dieser Verachtung jeglicher Autorität jenseits des Ichs stehen die neuen Superegos vom Schlage Döpfner, Poschardt oder Kubicki keineswegs allein: Wie die Studien von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey zeigen, wächst in dieser Gesellschaft ein „libertärer Autoritarismus“ mit einer enorm narzisstischen Seite heran, der nur eine Autorität anerkennt, nämlich sich selbst.[8]

Der anhaltende Koalitionsstreit zwischen FDP und Grünen verläuft also vor allem entlang zweier großer Konfliktlinien: Individual- versus Gesellschaftsinteresse und Gegenwart versus Zukunft – wobei sich die Scholz-SPD fatalerweise zumeist auf die Seite der FDP schlägt. Wenn aber die angekündigte große sozial-ökologische Transformation tatsächlich gelingen soll, dann braucht es eine materielle wie eine „geistig-moralische Wende“ im Verhältnis von Öffentlichem und Privatem, von Zukunft und Gegenwart. Dann gilt es, von der rein individual-egoistischen Haltung Abschied zu nehmen, die mindestens die letzten 30 Jahre, seit der Zäsur von 1989/90, dominiert hat – nämlich von der neoliberalen Devise: „Privat vor Staat“.

Mehr Investitionen in die Zukunft

Quelle       :       Blätter-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben           —         Signing of the coalition agreement for the 20th election period of the Bundestag (Germany) at 7 December 2021

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KOLUMNE * ERNSTHAFT ?

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Mai 2023

Wo es leider nur um Köpfe geht

Thüringer Staatskanzlei Regierungsstraße Erfurt

Eine Kolumne von Ulrike Winkelmann

Grüne in Thüringen. – Die Grüne Anja Siegesmund will lieber für einen Lobbyverband arbeiten, als Ministerin zu sein. Das verrät viel über die Krise der Landespolitik.

Aus „persönlichen Gründen“, so sagte sie es, legte Thüringens grüne Umweltministerin Anja Siegesmund Ende vergangenen Jahres ihr Amt nieder, um eine „Auszeit“ ging es, und man mochte denken: Kann ja schon mal vorkommen, dass so ein Landesministerium jemanden nicht mehr erfüllt.

Doch dann fand die regionale Qualitätspresse heraus, dass die persönlichen Gründe doch eine berufliche Note hatten. Der Bundesverband der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Kreislaufwirtschaft hatte Siegesmund offenbar bereits als nächste Präsidentin ausgesucht.

Diesen Job kann die grüne Spitzenkraft allerdings nicht so schnell wie geplant antreten. Vielleicht ist Siegesmund entgangen, dass die rot-rot-grüne Koalition, der sie angehörte, sich eine „Karenzzeit-Regelung“ gab. Demnach sollen ausscheidende PolitikerInnen erst eine ganze Weile ins Abklingbecken, bevor sie ihre Kontakte und Kenntnisse zum Beispiel in Unternehmensverbänden einbringen. Ein großes grünes Thema übrigens – auch in Thüringen warben die Grünen für „Je länger, je lieber“.

Siegesmund könnte nun dagegen klagen, dass diese Regelung für sie gilt. Ich für meinen Teil bin nicht nur gespannt, wann Anja Siegesmund und der Bundesverband der Entsorgungs-, Wasser- und Kreislaufwirtschaft zusammenkommen. Gern nehme ich auch Wetten entgegen, wie sich die Sache – zumal, wenn das alles noch dauert – auf die Landtagswahlen in Thüringen in etwas über einem Jahr auswirkt.

Der Goebbels-Imitator steht bei 28 Prozent

In Thüringen steht die AfD in Umfragen derzeit bei 28 Prozent. Um sie von der Macht fernzuhalten, arbeitet Ministerpräsident Bodo Ramelow schon jetzt mit einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung in einer Art Darf-so-aber-nicht-heißen-Kooperation mit der CDU. Unglaubwürdige Grünen-Politikerinnen schaden in solchen Situationen nicht nur der eigenen 5,2-Prozent-Partei.

Ulrike-winkelmann-2013.jpg

In den Bundesländern, in denen die AfD stärkste Kraft im Landtag zu werden droht, geht es demokratisch gesehen um alles. Die Thüringer AfD-Truppen rings um Goebbels-Imitator Björn Höcke schlachten angreifbare Personalien aus, wo es nur geht. Wie es sich halt für eine Partei gehört, die nur aus Ressentiments besteht.

Nun lässt sich der Mechanismus „Hurra, wir können uns auf Personalgeschichten stürzen, dann fällt niemandem auf, dass wir keine Vorschläge in der Sache haben“ natürlich derzeit auch im Bund und bei anderen Parteien beobachten. Doch hege ich bei Habeck/Graichen die Hoffnung, dass die schiere Wichtigkeit des Klimathemas bald dafür sorgt, dass wir wieder darüber reden dürfen, wie die Energiewende beim Wohnen funktionieren kann, und was eben noch so ansteht.

Quelle      :          TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben      —    Thüringer Staatskanzlei Regierungsstraße Erfurt

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Kolumne – Materie

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Mai 2023

Graichens Fehler: Bildet linksgrüne Banden!

Eine Kolumne von Kersten Augustin

Habecks Staatssekretär Graichen hat einen Fehler gemacht. „Bild“-Zeitung und Konservative schlachten ihn gnadenlos aus. Das ist Teil einer Kampagne.

Kolumnen werden ja total unterschätzt. Sie denken vielleicht, da kommt so ein Heiopei daher und wirft ein paar Zeilen ab, die ihm auf dem Weg zum Klo eingefallen sind. Aber nein: Kolumnen decken Missstände auf und bringen Mächtige zu Fall. Also nicht meine, aber die von den Kollegen.

Im Dezember 2021, da war die Ampel-Koalition keine zwei Wochen alt, schrieb Bernhard Pötter in seiner taz-Kolumne über die Familienbeziehungen im Wirtschaftsministerium. Das Ministerium ging damit offen um, und auch sonst störte sich niemand daran.

WOCHENTAZ

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Das Interesse am grünen Familienclan änderte sich, als Robert Habeck und seine Buddies es wagten, in den deutschen Heizungskeller einzubrechen, also vorsichtig darauf hinzuweisen, dass eine neue Gasheizung vielleicht keine gute Idee ist. Seitdem läuft eine Kampagne der Bild gegen den „Heizhammer“, voller Lügen und Halbwahrheiten.

In die Aufregung platzte eine weitere Kolumne, die von Alexander Neubacher im Spiegel, der dort den vakanten Lehrstuhl für konservative Polemik von Jan Fleischhauer übernommen hat. Neubacher hatte die taz-Kolumne gelesen und ansonsten nichts Neues zu vermelden. Aber Bild und konservative Politiker hatten endlich, was sie brauchten: einen Fehler, den sie ausschlachten können.

In Deutschland wird nicht aus politischen Gründen zurückgetreten, sondern wegen persönlicher Fehler. Sie können Peter Altmaier sein und die Energiewende verschleppt haben, Sie können Manuela Schwesig sein und mit der russischen Diktatur schmutzige Geschäfte machen, Sie können Andreas Scheuer sein und hunderte Millionen Steuergeld in der Maut versenken. Alles eeeegaaaal.

Ein Kasten Bier auf Rücktritt

Zurückgetreten dagegen ist Kurzzeit-Familienministerin Anne Spiegel. Und zwar nicht gleich, als ihr Urlaub nach der Flut im Ahrtal bekannt wurde. Sondern erst, als klar wurde, dass sie der Bild nicht die Wahrheit gesagt hatte über ihre Teilnahme an Videokonferenzen des Ministeriums.

Linksliberalen wird gern vorgeworfen, moralisch zu sein. Aber eigentlich sind es ihre Gegner, die sich gern empören.

Als nun Patrick Graichen, Staatssekretär von Habeck und wichtigster Mitarbeiter für die Energiewende, nun auch noch zugeben musste, dass er seinen Trauzeugen für einen Spitzenposten vorgeschlagen hat, ohne das transparent zu machen, war der Skandal perfekt.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Graichen hat einen Fehler gemacht. Und ich wette einen Kasten Bier, dass er diese Affäre politisch nicht überstehen wird. Schließlich will Robert Habeck Kanzler werden. Und der kann es sich nicht leisten, wenn seinem engsten Mitarbeiter der Vorwurf der Korrumpierbarkeit anhängt.

Der weitere Verlauf ist vorhersehbar: Habeck wird an Graichen festhalten, bis ein weiterer Fehler öffentlich wird. Und der wird gefunden werden: In diesem Moment beugen sich zwei Dutzend Hauptstadtjournalisten über das Wirtschaftsministerium und sezieren jedes Stück Papier, das Graichen angefasst hat.

Quelle     :        TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Unten        —   Aktivist*innen von Extinction Rebellion spielen Koalitionsverhandlungen von SPD, Grüne und FDP (vlnr Christian Lindner, Olaf Scholz, Analena Baerbock, Robert Habeck)

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Justiz ohne Ruhmesblatt

Erstellt von DL-Redaktion am 1. April 2023

Wo zwei Welten zusammenprallten

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Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim

Von Peter Henkel

Vor zehn Jahren wurde das Mehrzweckgebäude in Stuttgart-Stammheim als historisch bedeutend eingestuft. Jetzt muss der Schauplatz der RAF-Prozesse dem neuen Justizvollzugskrankenhaus weichen. Ein letzter Rundgang – auch durch fast 48 Jahre blutiger Zeitgeschichte.

Ein paar Monate, ehe die Bagger kommen, ist es im geräumigen Gerichtssaal fast so wie damals im Mai 1975, als alles begann. 50 Plätze für die Presse, deren Vertreter:innen zu oft nur erst nach Leibesvisitation ihrer Arbeit nachgehen durften, deutlich mehr fürs Publikum, das an den allermeisten der sage und schreibe 192 Verhandlungstage im Strafverfahren gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe aus Sympathisanten der „Rote Armee Fraktion“ bestand. Die vierte, die bekannteste Angeklagte war Ulrike Meinhof, die sich ein Jahr nach dem Beginn der Hauptverhandlung in ihrer Zelle erhängte.

In der Reihe vor ihren Mandanten saßen die Wahlverteidiger, darunter der ebenso brillante wie hoch aggressive Otto Schily, von dem kein Mensch sich hätte vorstellen können, dass er gut zwei Jahrzehnte später ein Law-and-Order-orientierter Innenminister dieser Republik sein würde. Damals jedenfalls, in einer von Angst und Schrecken aufgewühlten Zeit, wollte er US-Präsident Richard Nixon im Zeugenstand sehen und Bundeskanzler wie Willy Brandt und Helmut Schmidt. Den Angeklagten sei nämlich der Status von Kriegsgefangenen zuzuerkennen, im Kampf gegen eine Bonner Regierung, die den völkerrechtswidrigen Krieg der USA gegen Vietnam unterstützte.

Feindseligkeiten wurden oft brutal ausgetragen

Ganz hinten aus der Sicht des Saaleingangs, unter dem Landeswappen, das den Abriss überleben und wiederverwendet wird, hockten die fünf Mitglieder des 2. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart mit ihrem Vorsitzenden Theodor Prinzing. „Heil, Dr. Prinzing!“ rief ihm der Wahlverteidiger Rupert von Plottnitz eines Tages von der Verteidigerbank zu. Die Feindseligkeiten zwischen den Prozessbeteiligten wurden oft fast brutal ausgetragen.

Wenn Baader und seine Mitangeklagten nicht länger an der Verhandlung teilnehmen wollten, war das leicht zu machen. Anreden wie „du Sau“ oder „du faschistisches Staatsschwein“, oft emotionslos und fast geschäftsmäßig ausgesprochen, führten wie gewünscht zum Abgeführtwerden. Unvergesslich der Augenblick, da das RAF-Mitglied Klaus Jünschke vom Zeugenstand aufsprang, über die Richterbank hechtete und mit den Worten „Für Ulrike, du Schwein!“ Prinzing zu Boden riss. Derselbe Jünschke übrigens kam als einer der ersten Terroristen noch in der Haft zur Besinnung. Die vermeintlich revolutionären Taten der ersten RAF-Generation bezeichnete er brieflich unumwunden als „Barbarei“, die Mitglieder der zweiten als „verkommenen Haufen“. Wie viele Menschen, fragte er, „wollt ihr noch unglücklich machen?“

September 10, 2005 in Munich

Der Aufstieg eines Menschen in die Politik – Von den Grünen einerlei in die SPD als Ministerlein

Könnten diese Mauern reden, sie hätten sehr viel zu erzählen darüber, wie zwei Welten zusammenprallten. Gutes wäre kaum dabei. An einer Stelle sind die Hinterlassenschaften selbst ohne Worte aussagekräftig, in Pastellfarben, die so gar nicht zur tristen, inzwischen verschlissenen Umgebung passen wollen. Klaus Pflieger, später Baden-Württembergs langjähriger Generalstaatsanwalt, hat Anfang der 1980er-Jahre als Anklagevertreter im ersten Prozess gegen den RAF-Terroristen Peter-Jürgen Boock hoch oben an der Wand die Tradition begründet, in der Art von Häftlingen in ihren Zellen jeden Sitzungstag mit einem Strich zu symbolisieren. Inzwischen sind etliche Dutzend Verfahren festgehalten, auch die späteren gegen Rockerbanden und Rechtsradikale, gegen PKK-Funktionäre oder Aktivisten von Ansar al Islam. Überleben wird die Dokumentation den Abriss nicht – die Kreide ist nicht übertrag- und nicht konservierbar.

Um vieles andere haben sich die Häuser der Geschichte in Stuttgart und Bonn bemüht. Kleine Post-its verraten die endgültige Verwendung verschiedener Objekte. Die orange-gelben Plastikstühle werden verteilt auf Gerichte und Verwaltungen. Nein, sagt Tanja Stahlbock aus dem Referat Justizvollzug bei „Vermögen und Bau Baden-Württemberg“, eine Versteigerung oder ein Verkauf sei nicht geplant gewesen. Womit auch die Gefahr gebannt ist, dass aus Einzelteilen nach insgesamt 1.300 Verhandlungstagen gegen RAF-Mitglieder und -Unterstützer:innen Liebhaber-Objekte werden.

Das Mehrzweckgebäude mit seinen gut 600 Quadratmetern Grundfläche war 1973 zügig für gerade mal zwölf Millionen Euro hochgezogen worden. Der Saal ist bis heute, abgesehen von dem des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, der berühmteste der Republik, eine „monströse Justizhöhle“, wie Gerhard Mauz im „Spiegel“ über die Urteilsverkündung im zweiten Prozess gegen Boock schrieb. Der war dabei, als 1977 die vier Begleiter von Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer im Kugelhagel starben. 33 Striche hat Klaus Pflieger angebracht für dieses Verfahren. Er hätte ihnen eine Fußnote verpassen müssen. Denn das Oberlandesgericht Stuttgart machte allen Ernstes Ulrich Berroth zum Vorsitzenden Richter. Der hatte über Boock schon im ersten Verfahren Recht gesprochen, also das teilweise aufgehobene Urteil mitzuverantworten. Von der verlangten Neuauflage konnte keine Rede sein. Ein deshalb am allerersten Tag gestellter Befangenheitsantrag der Verteidigung ging glatt durch, ein für alle Beteiligten einmaliges Erlebnis. Und der Vorsitz wurde neu besetzt.

Kein Ruhmesblatt der deutschen Justiz

Quelle         :           KONTEXT – Wochenzeitung-online         >>>>>        weiterlesen

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Unten       —         September 10, 2005 in Munich

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Die Grünen in Deutschland

Erstellt von DL-Redaktion am 14. März 2023

Mehr Krieg, um den Krieg zu beenden?

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      :    Rositsa Kratunkova  –  berlinergazette.de

Europas grüne Parteien auf bellizistischen Irrwegen. Angesichts Russlands Ukraine-Invasion werden wir daran erinnert, dass es dem grünen Kapitalismus gelungen ist, den technologischen Solutionismus in die Matrix des Krieges zu integrieren, wie das Drängen auf die Lieferung und Entwicklung von Waffen zeigt.

Es handele sich um “pragmatische” Lösungen, wie die grünen Parteien in Frankreich, Deutschland und Bulgarien behaupten. Doch stellt diese Abkehr vom “Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit” nicht zuletzt ein Ende der Welt in Aussicht, das sogar früher einsetzen könnte als es die Gewalt der Klimakatastrophe vorsieht, wie die Klimagerechtigkeitsaktivistin und Journalistin Rositsa Kratunkova in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” argumentiert.Einen Monat nach Kriegsbeginn hat der IPCC, eine internationale Expert*innenengruppe der UNO, die sich mit dem Klimawandel befasst, den dritten Teil seines sechsten Berichts veröffentlicht, der sich mit den möglichen Lösungen zur Vermeidung einer planetarischen Katastrophe befasst. Doch nur wenige Politiker*innen in Europa haben den Bericht zur Kenntnis genommen und sich mit der Dringlichkeit der Situation auseinandergesetzt, die nach Ansicht der Expert*innen nur drei Jahre Zeit zum Handeln lässt.

Während ihrer fast dreistündigen Debatte widmeten die beiden Anwärter*innen auf die französische Präsidentschaft, Marine Le Pen und Emmanuel Macron, der Klimafrage nur 18 Minuten. Das zeigt, dass sie eindeutig keine Priorität hat. Man könnte argumentieren, dass dies auf die Invasion in der Ukraine zurückzuführen ist und ihre weitreichenden Folgen. Andere wichtige Themen wurden in den Hintergrund gedrängt und die politische Agenda auf dem gesamten Kontinent veränderte sich.

Ein bisher eher unerwarteter Effekt ist, dass die grünen Parteien die Aufrüstung befürworten und ihr Bekenntnis zum Pazifismus aufgeben, wobei sie vergessen, dass Kriege grosse Mengen an Treibhausgasen produzieren und katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt haben. Dieser Artikel zeichnet die Entwicklung der Grünen in Frankreich, Deutschland und Bulgarien seit dem Beginn des Konflikts nach und untersucht die Veränderungen ihrer Positionen zum Krieg.

Die Grünen in Frankreich: Der müde Rahmen der “humanitären Intervention”

Seit ihrer Gründung in den 1980er Jahren stehen die französischen Grünen in der Aussenpolitik in der Tradition des Pazifismus und vertreten gewaltfreie, antinukleare und antimilitärische Positionen. Einer ihrer wichtigsten Werte ist die Überzeugung, dass Konflikte durch Diskussion und Transparenz friedlich gelöst werden können. In diesem Sinne stimmte die Partei 1990 fast einstimmig gegen den Einmarsch des Irak in Kuwait. Einige Jahre später wurde der Pazifismus der Grünen jedoch von einigen Ausnahmen unterbrochen. Im Jahr 1999 unterstützte die Partei die NATO-Militärintervention im Kosovo, 2011 stimmten zwei Abgeordnete für die Fortsetzung der Militäroperationen in Libyen und zwei Jahre später unterstützte die Parteiführung den Angriff auf Syrien. Heute rechtfertigt die Partei die Anwendung von Gewalt mit dem abgedroschenen Begriff der “humanitären Intervention”.

Auch der Parteivorsitzende und Präsidentschaftskandidat Yannick Jadot rief unmittelbar nach Beginn des Krieges in der Ukraine am 24. Februar dazu auf, Waffen zu schicken und Sanktionen gegen Russland zu verhängen, eine Entscheidung, die von den Parteimitgliedern nicht einstimmig unterstützt wurde. Die Abgeordnete Bénédicte Monville argumentierte, dass man zunächst einen Waffenstillstand fordern und die Positionen der Gewaltlosigkeit aufrechterhalten müsse, bevor man Waffen schicke, und sah in Jadots Aktion eine populistische Strategie, um die eher hawkistischen Wähler zu gewinnen. Andere forderten, zuerst den russischen Pazifist*innen zu helfen. Dies steht in deutlichem Gegensatz zu der 2014 von der Partei nach den Maidan-Ereignissen verabschiedeten Resolution zum Frieden in der Ukraine, in der sie erklärte, dass der Druck der EU auf Russland nur diplomatisch, politisch und wirtschaftlich und niemals militärisch sein kann, und darauf bestand, dass die Aufnahme der Ukraine in die NATO ausdrücklich ausgeschlossen werden muss.

Zusätzlich zu den Waffenlieferungen forderte Jadot massive Sanktionen gegen die Staatsoligarchie des Putin-Regimes und bekräftigte, dass ein Friedensprojekt notwendigerweise ein Gleichgewicht der Kräfte vis-à-vis Putin voraussetzt. Dazu gehöre eindeutig ein Embargo für russisches Öl und Gas, das sich unweigerlich auf die Energiebeschaffungsmöglichkeiten Frankreichs und Europas auswirken würde. Um jeglichen Wettbewerb zwischen den Ländern zu vermeiden, schlug der Parteivorsitzende der Grünen vor, einen einzigen Staat in Europa als Abnehmer des in Russland geförderten Gases zu benennen, um so die EU-Richtlinien zur Liberalisierung der Energiepreise auszusetzen und eine Preisregulierung einzuführen. Ausserdem schlug Jadot vor, auf Supermärkten, Schulen und anderen Flachdächern Fotovoltaikanlagen zu installieren, denn Ökologie bedeute “Frieden, Klima und Kaufkraft zugleich”. Den IPCC-Bericht erwähnte er allerdings nur flüchtig in einem einzigen Tweet.

Inmitten des Kampfes mit den russischen Oligarchen ist Jadot der Meinung, dass das Öl- und Gasembargo auf die französischen Ölgesellschaften ausgedehnt werden muss, und kritisiert sie dafür, dass sie Russland nicht verlassen haben, wie Shell, Exxon Mobil und BP, was impliziert, dass sie an Kriegsverbrechen in der Ukraine beteiligt sind. Es ist ziemlich offensichtlich: not all of them left. Auf dem Höhepunkt des Präsidentschaftswahlkampfes forderte Jadot, Macron solle französische Ölfirmen zwingen, Russland zu verlassen.

In diesem Debakel bezeichnete der andere grün-linke Präsidentschaftskandidat der Union populaire Jean-Luc Melenchon den Vorschlag, Waffen in die Ukraine zu schicken, als “Dummheit” und fügte hinzu, dass die Lage in Europa derzeit unglaublich angespannt sei und man vorsichtig handeln müsse. Für diese Position wurde der Vorsitzende der Linkspartei sofort von den Grünen beschuldigt, sich auf die Seite Putins zu stellen. Im Gegensatz zu Jadot lehnt Melenchon ein Embargo für russische Kohlenwasserstoffe ab, da dies schädliche Auswirkungen auf Europa hätte und dessen Abhängigkeit vom teureren Schiefergas aus den USA verstärken würde. Stattdessen schlug er Preiskontrollen und einen einheitlichen Preis für ganz Europa vor. Während er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj verteidigte, erklärte er ausserdem, dass Frankreich in seinen internationalen Beziehungen bündnisfrei sein und die Möglichkeit haben sollte, seine eigenen Verhandlungen zu führen, und erinnerte an die vergessene Idee, alter-globalistische Allianzen zu schmieden, um Konflikte zu verhindern und gemeinsam gegen den Klimawandel vorzugehen – eine Position, die Jadot als Kapitulation gegenüber Putin bezeichnete.

Am 12. März erreichte der Parteivorsitzende der Grünen in den Umfragen 6,5 Prozent, Melenchon 12 Prozent. Die Kluft vergrösserte sich bis zum ersten Wahlgang am 10. April erheblich, als der erste 4,65 Prozent und der zweite 21,95 Prozent der Stimmen erhielt.

Die Grünen in Deutschland: Praktisch ein Aufruf zum Dritten Weltkrieg

Im Wahlkampf des vergangenen Jahres propagierten die Grünen in Deutschland Abrüstung und eine “wertebasierte Aussenpolitik”. Begleitet von einem werbewirksamen Auftritt ihres Co-Vorsitzenden Robert Habeck in der Ukraine, wo er für Waffenlieferungen plädierte und in militärischer Ausrüstung für vielbeachtete Fotos nahe der russisch-ukrainischen Grenze posierte, zeigte dieses Kampagnenelement dem kritischen Auge deutlich, was “wertebasierte Aussenpolitik” für die Grünen bedeutet: Sie würden “notfalls für Werte in den Krieg ziehen”, wie sie es schon bei ihrer ersten Regierungsbeteiligung vom 27. Oktober 1998 bis zum 22. Oktober 2002 im ersten Kabinett Schröder taten.

Die Grüne Partei wurde 1980 gegründet und ging aus verschiedenen demokratischen Bewegungen wie Anti-Atomkraft-, Umweltschutz-, Frauenrechts-, Friedensbewegung und Dritte-Welt-Gruppen hervor. Die Partei strebt eine gewaltfreie Gesellschaft an und vertritt die Auffassung, dass kein humanes Ziel mit unmenschlichen Mitteln erreicht werden kann. Eine zentrale Position war die Auflösung der Militärblöcke, vor allem der NATO und des Warschauer Paktes, einschliesslich der deutschen Streitkräfte.

Diese Position wurde erstmals 1999 verraten, als der damalige grüne Aussenminister Joschka Fischer eine Kehrtwende vollzog und – während er völkerrechtswidrige Aktionen vorbereitete – erklärte, es sei die “moralische Verpflichtung” Deutschlands als eines der grössten NATO-Mitgliedsländer, sich an der US-geführten Militärintervention im Kosovo zu beteiligen. Es war der erste Krieg, an dem sich Deutschland seit 1945 aktiv beteiligte, und er verlief nicht ohne innere Unruhen. Die österreichische Schwesterpartei der Grünen verurteilte die französischen und deutschen grünen Kriegstreiber, was jedoch nicht zu einer Spaltung auf europäischer Ebene führte.

Im Rahmen ihres Wahlprogramms 2021 propagierten die Grünen in Deutschland Abrüstung und Rüstungsexportkontrolle, die sie für zu lax hielten. Obwohl sie die NATO für einen unverzichtbaren Akteur für die gemeinsame Sicherheit Europas hielten, kritisierten sie die NATO-Richtlinien, zwei Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben, als “willkürlich” und lehnten den Transport amerikanischer Atomwaffen mit Jets aus Deutschland ab. Andererseits sprachen sie sich dafür aus, mit Russland in Kontakt zu bleiben und den Handel mit der EU zu fördern, ohne jedoch Waffen aus Deutschland in Kriegsgebiete und Diktaturen zu exportieren. Paradoxerweise ergab eine kürzlich durchgeführte Untersuchung, dass Deutschland nach dem Embargo von 2014 mit Ausfuhren im Wert von 122 Millionen Euro der zweitgrösste Waffenexporteur nach Russland war.

Heute jedoch scheinen die Grünen eine Kehrtwende vollzogen und eine kriegerischere Position eingenommen zu haben. Sie glauben, dass eine massive Bewaffnung der Ukraine die einzige Option ist, während sie gleichzeitig nach Wegen suchen, um schnell von Russland energieunabhängig zu werden. Wenige Wochen vor Beginn des Krieges verkündete die derzeitige grüne Aussenministerin Annalena Baerbock, dass Deutschland aufgrund seiner “historischen Verantwortung” keine Waffen an die Ukraine liefern könne und betonte, dass Diplomatie der einzig gangbare Weg sei. Ein paar Wochen später schlug Baerbock vor, schwere Artillerie in die Ukraine zu schicken und die Position “nichts, was schiesst” durch “alles, was schiesst” zu ersetzen, während sie gleichzeitig zusätzliche 100 Milliarden Euro für die deutschen Streitkräfte befürwortete.

Sogenannter “Pragmatismus” und “Realismus” haben den traditionellen “grünen Pazifismus” abgelöst. Oder man könnte auch sagen: Die “wertebasierte Aussenpolitik” hat wieder ihr wahres Gesicht gezeigt. So betonte der grüne Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter, dass man keine andere Wahl habe, als Waffen zu schicken, und dass man, wenn man jetzt nicht handle, den Krieg in die Länge ziehe. Eine weitere Grünen-Politikerin, Marieluise Beck, die vielleicht profilierteste Kritikerin des Putin-Regimes in der Partei, ging sogar noch weiter als Hofreiter, indem sie dazu riet, dass Deutschland trotz seiner Energieabhängigkeit kurzfristig schwere Sanktionen gegen Russland verhängen sollte. Darüber hinaus schlug sie vor, dass Deutschland und Frankreich den Luftraum für russische Flugzeuge sperren sollten, womit sie praktisch einen Dritten Weltkrieg forderte.

Dieser Wandel “traditioneller grüner Positionen” zum Krieg, der sich für kritische Beobachter*innen seit Jahrzehnten abzeichnet, ist nicht ohne interne Konflikte verlaufen. Timon Dzienus, Bundessprecher der Grünen Jugend, nannte die Aufstockung der Mittel für die Bundeswehr “einen sehr fatalen Schritt”. Die Unabhängige Grüne Linke, eine Basisgruppe innerhalb der Grünen, wandte sich in einem offenen Brief an die Parteispitze gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und forderte, sich bei der russischen Regierung für eine sofortige Einstellung aller militärischen Aktivitäten und eine Rückkehr zu Verhandlungen einzusetzen. Die Gruppe erklärte, dass Waffenlieferungen den Menschen in der Ukraine den falschen Glauben vermitteln, dass sie eine militärische Chance gegen Russland haben, und die unverständliche, aber berechtigte Frage aufwerfen, ob sie eine weitere Eskalation und sogar einen Atomkrieg provozieren.

Inmitten des internen Konflikts navigieren die Parteivorsitzenden weiterhin durch die stürmischen Gewässer der Überschreitung anderer ehemaliger “roter Linien”. Obwohl Olaf Scholz und sein Kabinett versprachen, ein Gesetz einzuführen, das bis 2035 einen Anteil von nahezu 100 Prozent erneuerbarer Energien vorschreibt, wird zunächst mehr CO2 ausgestossen. Während der Atomausstieg wie geplant fortgesetzt wird, könnten die deutschen Kohlekraftwerke eine Verlängerung um einige Jahre über die von den Grünen ausgehandelte Frist bis 2030 hinaus erhalten. Waffenexporte an ein autoritäres Regime mögen verboten sein, aber der Handel mit Gasgeschäften mit einem anderen wird als akzeptabel angesehen.

Um sich neue Energiequellen zu sichern, reiste Robert Habeck – derzeit grüner Minister für Wirtschaft und Klimaschutz – im März nach Katar, dem Land der Fussballweltmeisterschaft 2022, das viele Grüne zu boykottieren versprachen und in dem Arbeits- und Menschenrechte kaum gelten. Ausserdem verhandelte Habeck über Flüssiggaslieferungen, die die Grünen als klimaschädlich brandmarkten und bis vor kurzem strikt ablehnten. Der Krieg zeigt, dass der Übergang zu erneuerbaren Energien von den Grünen ebenso als nationale Sicherheitspolitik wie als Klimapolitik betrachtet wird, wobei die ersteren Grundsätze “pragmatischen”, wenn auch widersprüchlichen Lösungen weichen.

Dieser Bruch mit früheren Prinzipien hat sich für die Grünen als lukrativ erwiesen und ihre beiden Minister Habeck und Baerbock zu den beliebtesten Politiker*innen in Deutschland gemacht. Dahinter steht Olaf Scholz, der sich lange weigerte, schwere Waffen in die Ukraine zu schicken, was Baerbock mit den Worten kritisiert: “Jetzt ist nicht die Zeit für Ausreden”. Der Co-Vorsitzende der Grünen, Omid Nouripour, betonte, dass die derzeitigen Lieferungen ins Schlachtfeld unzureichend seien und schloss eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland ohne einen Wechsel in der Führung des Landes aus.

Gleichzeitig argumentierte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, dass Deutschland keine Panzer aus seinen eigenen Beständen an die Ukraine liefern könne, da es diese sowohl für seine eigene Verteidigung als auch für NATO-Aufgaben benötige. Diese Pattsituation wurde von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin während seines Besuchs im April “gelöst”, als die Entscheidung über die Lieferung von Panzern an die Ukraine hinter verschlossenen Türen mit Regierungsvertreter*innen in Deutschland getroffen wurde, was zeigt, dass nichts, auch nicht die mächtigste Wirtschaft Europas, den aussenpolitischen Interessen der USA im Wege stehen darf.

Die Grünen in Bulgarien: “Alle notwendigen wirksamen Massnahmen” ergreifen

Die Grüne Partei in Bulgarien wurde 2008 gegründet, nachdem sich zahlreiche ökologische Nichtregierungsorganisationen zusammengeschlossen hatten, und hat eine eher kurze Geschichte. Mit einer liberalen, antikommunistischen politischen Plattform erzielten sie viele Jahre lang kaum nennenswerte Wahlergebnisse, aber 2021 schlossen sie sich einer Koalition aus zwei rechtsliberalen Parteien namens Demokratisches Bulgarien an. Gemeinsam schafften sie es, in die Regierung einzutreten und haben nun sogar das Ministerium für Umwelt und Wasser inne – ihr bisher wichtigster politischer Erfolg. Obwohl ihr Wahlprogramm den Frieden hochhält, ist ihre Position heute alles andere als friedlich und setzt die militärische Unterstützung der Ukraine mit dem Schutz der Demokratie gleich, ähnlich wie ihre Pendants in Frankreich und Deutschland, jedoch mit einer ausgeprägteren antirussischen ideologischen Ausrichtung.

Seit dem Ausbruch des Krieges wird darüber debattiert, ob Waffen in die Ukraine geliefert werden sollen, um das Land bei der Verteidigung gegen den Aggressor zu unterstützen oder nicht. Die regierende Koalition aus vier politischen Parteien hat Schwierigkeiten, zu einer einstimmigen Entscheidung zu gelangen, wobei die bulgarische sozialistische Partei entschieden dagegen ist und sogar die Stabilität der Regierung bedroht. Die gleiche Position – allerdings auf der anderen Seite des politischen Spektrums – vertritt das Demokratische Bulgarien, das versucht, einen Weg zu finden, die Sackgasse zu umgehen und den “moralischen” Krieg zu gewinnen. Am 19. März beschloss die Grüne Partei, der Nationalversammlung eine Anhörung des ukrainischen Präsidenten vorzuschlagen. Am 30. März gab das Demokratische Bulgarien eine Erklärung zur Aufnahme von Konsultationen im Parlament zur militärischen Unterstützung der Ukraine und zur Verteidigung der “Freiheit, Solidarität und Sicherheit in Europa” ab.

Die Grünen zeigten ihre Solidarität auch auf andere Weise, als eines ihrer Parteimitglieder und ehemaliger Kandidat für die Nationalversammlung kurz nach Ausbruch des Krieges dem Bataillon der ausländischen Kämpfer beitrat. Die Partei unterstützte auch lautstark den Friedensmarsch “Wir sind nicht neutral”, der eine Verschärfung des Krieges durch Waffenlieferungen forderte. Paradoxerweise sind die Grünen der Ansicht, dass die Ergreifung “aller notwendigen wirksamen Massnahmen”, zu denen Friedensverhandlungen offenbar nie gehören, die Zahl der Opfer begrenzen, die Zerstörung von Städten in der Ukraine verhindern, den Aggressor abwehren und letztlich den Krieg beenden wird.

In einem kürzlich geführten Interview sagte der grüne Umweltminister Borislav Sandov sogar, dass ein Verzicht auf militärische Unterstützung für die Ukraine die Selbstisolierung Bulgariens und seine Loslösung von seiner “zivilisatorischen Wahl” – der EU und der NATO – bedeuten würde. Er ging sogar so weit, anzudeuten, dass dies die Position Bulgariens gegenüber Nordmazedonien untergraben würde, gegen das Bulgarien 2019 ein Veto einlegte, als es versuchte den Status eines EU-Kandidatenlandes zu erhalten. Alles, was nicht zu mehr Aufrüstung führt, wird schnell als Abweichen vom “gerechten” Weg der EU-Entwicklung abgetan, ohne eine solche Entwicklung in Frage zu stellen. Ironischerweise erwähnte die grüne Bewegung den neuesten IPCC-Bericht in einem einzigen Facebook-Posting – inmitten all des Waffengefechts.

Es ist keine Überraschung, dass Bulgarien als grosser Waffenproduzent seit Kriegsbeginn massiv über Stellvertreter in die Ukraine exportiert hat. Als dies aufgedeckt wurde, folgten Vergeltungsmassnahmen seitens Russlands. Unter dem Vorwand, Bulgarien weigere sich, für russisches Gas in Rubel zu zahlen, kündigte Gazprom am 26. April an, die Gaslieferungen an Bulgarien mit sofortiger Wirkung einzustellen. In Vorbereitung auf eine solche Wende schlug der Co-Vorsitzende der Grünen Partei, Vladislav Panev, vor, den Markt noch stärker zu liberalisieren, um den Verbraucher*innen die Möglichkeit zu geben, ihre eigene Energie zu produzieren. Eine Position, die in krassem Widerspruch zu der ihrer Genoss*innen in Frankreich steht.

Unter dem Strich sind die weitreichenden Folgen des Krieges auch an den grünen Parteien in ganz Europa nicht vorbeigegangen, die sich für mehr Krieg einsetzen, um den Krieg zu beenden. Ihre Vision einer “pragmatischen” Lösung, die sich auf die Entsendung von Waffen und die Verhängung von Sanktionen beschränkt, hat ihren Anspruch auf Gewaltlosigkeit aufgegeben und gezeigt, dass sie sich der Doktrin der “gerechten Gewalt für humanitäre Zwecke” verschrieben haben. In wirtschaftlicher Hinsicht hat ihre Reaktion die ideologischen Unterschiede innerhalb der grünen Parteien offengelegt. Auf der anderen Seite haben sich die linken und nominell linken Parteien in Frankreich, Deutschland und Bulgarien alle gegen die Lieferung von Waffen in die Ukraine gewehrt. Die Begrenzung der öffentlichen Debatte seit Beginn des Krieges auf die Frage, ob die Ukraine militärisch unterstützt werden soll oder nicht, hat sich nachteilig darauf ausgewirkt, die Dringlichkeit des Klimawandels und die Notwendigkeit von Massnahmen zu verdeutlichen und in Erinnerung zu rufen. Stattdessen hat sie es ermöglicht, sich ein noch früheres Ende der Welt vorzustellen, als es die langsame Gewalt der Klimakatastrophe mit sich bringen würde.

Rositsa Kratunkova
berlinergazette.de

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lize

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Grafikquellen          :

Oben        —      Français : Forum Européen de l’eau, La Rochelle, Forum des Pertuis, le 25 janvier 2022, organisé par Benoit Biteau, député européen. la dernière plénière réunissait : Yannick Jadot, Député européen, Mathilde Panot, député et Boubakar soumahoro, syndicaliste.

Author Greenbox         /       Source    :     Own work       /          Date    :      25 January 2022, 18:49:06

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Unten       —           Bündnis 90/Die Grünen auf der Datenschutzdemonstration „Freiheit statt Angst“

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Antje Vollmers Vermächtnis

Erstellt von DL-Redaktion am 3. März 2023

Was, wenn statt Baerbock Antje Vollmer Aussenministerin wäre?

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von        :    Heribert Prantl   

Statt Frieden herbeizubomben, wäre es erfolgversprechender, eine Bereitschaft zum Verhandeln herbeizuverhandeln.

Wie sähe die deutsche Aussenpolitik aus, wenn nicht Annalena Baerbock, sondern ihre grüne Parteifreundin Antje Vollmer Aussenministerin wäre? Welche deutsche Beteiligung am Ukraine-Krieg hätte Vollmer gebilligt? Wie hätte ihre Nothilfe für das überfallene Land ausgesehen? Und welche diplomatischen Initiativen würde sie als Ministerin betreiben, um einen Weg zum Frieden zu finden?

Antje Vollmer ist eine exzellente Mediatorin, sie war eine grosse politische Vermittlerin und Versöhnerin. Sie gehört zu den Frauen, die die grüne Partei ganz wesentlich geprägt haben, Urgestein sagt man dazu. Heute gehört Vollmer dort eher zum Abraum. Sie verzweifelt am bellizistischen Kurs ihrer Partei – wie sie soeben in einem politischen Testament dargelegt hat*. Vollmer ist fast 80 Jahre alt und sehr krank. Sie blickt in ihren vermächtnishaften Darlegungen zurück auf die politischen Fehler, die seit 1989 gemacht worden sind, und sie kämpft mit der Ratlosigkeit, wie man jetzt mit den Folgen der Fehler umgehen soll.

Vollmer vermittelte einst zwischen den Fundis und den Realos, sie trieb den innerparteilichen Erneuerungsprozess voran. Ihr erstes grosses politisches Versöhnungsthema war die RAF; sie versuchte, den Terrorismus durch Dialog zu beenden, und das ist ihr auch mit einer vom damaligen Bundesjustizminister Klaus Kinkel und vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker getragenen Versöhnungsinitiative gelungen. Ihr zweites Versöhnungsthema war die Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen.

Wie könnten Mediation und Vermittlung im Ukraine-Krieg aussehen? Es ist Fastenzeit, Vorbereitung auf Ostern, auf das Fest des Friedens und der Auferstehung. Der Frieden liegt nicht als Geschenk im Osternest, so dass man ihn nur auspacken müsste. Man muss ihn entwickeln, ihn erarbeiten, so wie das vor 375 Jahren im Westfälischen Frieden gelungen ist. Selbst das Reden gegen Wände kann ein Gespräch eröffnen. Der Krieg bringt den Frieden nicht, auch demjenigen nicht, der ihn gewinnt. Siegen? Verlieren? Frieden ist das Einzige, was es zu gewinnen gibt – so hat es Heinrich Böll gesagt. Und ich wünsche mir, dass wir, wenn wir über den richtigen Weg zum Frieden ringen, nicht rhetorisch Krieg miteinander führen.

Der Frieden in der Ukraine ist ein noch ungelegtes Ei. Solange das so ist, kann man aber schon mal das Nest dafür bauen, man kann die Materialien dafür sammeln und darüber verhandeln, wie man verhandeln könnte, man kann darüber reden, wie man miteinander reden könnte. Das wünsche ich mir. Man kann Verhandlungsbereitschaft auch herbeiverhandeln. Das ist erfolgversprechender als der Plan, Frieden herbeizubomben.

Ich wünsche Ihnen eine Fastenzeit, in der man über Wörter und über Werte wie «Besinnung» und «Umkehr» nachdenken und daraus Kraft schöpfen kann.

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Dieser Kommentar des Kolumnisten und Autors Heribert Prantl erschien am 26. Februar 2023 als «Prantls Blick» in der Süddeutschen Zeitung.

*Antje Vollmers Vermächtnis einer Pazifistin:
«Was ich noch zu sagen hätte»

Die Ex-Vizepräsidentin des Bundestags kritisiert die Grünen dafür, dass sie sich vom Pazifismus abgewendet haben. In diesem Essay in der Berliner Zeitung formulierte sie am 23. Februar 2023 ihr politisches Fazit.

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Grafikquellen        :

Oben      —         Dr. Antje Vollmer (Publizistin, Bündnis90/DieGrünen), Foto: <a href=“http://www.stephan-roehl.de“ rel=“nofollow“>Stephan Röhl</a> Foto: Stephan Röhl Veranstaltung „25 Jahre Forschungsjournal (Neue) Soziale Bewegungen“ in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin

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Krieg und Frieden im Land

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Februar 2023

„Alles ein bisschen schizo“

Von Josef-Otto Freudenreich

Es gibt Menschen, die nicht an Panzer als Friedensbringer glauben. Sie finden sich auf der Ostalb und in einem kleinen Ort bei Tübingen, in der SPD und sogar bei den Grünen.

Ein Oberstleutnant aus Hamburg spricht auf einer Friedensmatinee in Aalen, zu der Leni Breymaier, eine linke Sozialdemokratin, Markenzeichen rote Brille, in die Räume der IG Metall einlädt. Eine gewagte Kombination, weil, was soll ein Soldat sagen, über dessen Kasernentor stand: Si vis pacem para bellum. Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.

Falko Droßmann, 49, Drei-Tage-Bart, sauber gezogener Scheitel, sagt: „Schauen Sie sich doch mal die Sponsorenliste der Münchner Sicherheitskonferenz an.“ Anfänglich hieß sie „internationale Wehrkunde-Begegnung“, womit ihr Zweck klarer definiert war. Und tatsächlich, dort trifft sich die Creme der Rüstungsindustrie: Lockheed Martin, Airbus, Rheinmetall aus dem Wahlkreis von Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Krauss-Maffei, Hensoldt, dazu noch Datensammler wie Google und Palantir, aber auch Goldman Sachs und die EnBW. Alles Profiteure eines langen Krieges, betont der Offizier. Die Spannung im Saal steigt.

Kurzer Ortswechsel. Am selben Tag verkündet in München Ursula von der Leyen, CDU, die Präsidentin der EU-Kommission, sie dächten daran, der Rüstungsindustrie subventionsmäßig unter die Arme zu greifen. Ähnlich wie der Pharmaindustrie zu Coronazeiten, als die Impfstoffe knapp waren. Dem Militär mangelt es derzeit an Munition, weniger an Geld. Laut Friedensforschungsinstitut Sipri sind die Rüstungsausgaben 2022 auf einem Rekordhoch angekommen: Spitzenreiter sind die USA mit 801 Milliarden Dollar, gefolgt von China mit 293 Milliarden, auf Platz fünf rangiert Russland mit 66 Milliarden Dollar, Rang sieben belegt Deutschland mit 52 Milliarden Euro.

Ein Offizier warnt vor der „Banalisierung“ des Kriegs

In Aalen überrascht der Gast aus Hamburg das Publikum mit der Bemerkung, es werde nicht glauben, „wie viele Unternehmer schon bei mir angeklopft haben“. Wegen künftiger Bauaufträge in der Ukraine.

Um das zu verstehen, muss man wissen, dass der Oberstleutnant seinen Beruf gewechselt hat. Er ist heute Politiker und sitzt seit 2021 für die SPD im Bundestag, dort im Verteidigungsausschuss. Und dennoch: Hier rührt keiner die Kriegstrommel, wie so viele in Medien und Politik, hier warnt einer vor der „Banalisierung“ des Krieges, vor einem leichtfertigen Umgang mit dessen Rhetorik, die Panzern Tiernamen gibt, den Tatbestand verschleiernd, dass sie Tötungsmaschinen sind. Der Oberstleutnant hat viele Auslandseinsätze hinter sich und wünschte sich, dass alle, die nach mehr Waffen riefen, einmal schauten, was sie anrichten. Außenministerin Annalena Baerbock, Grüne, gilt dabei sein besonderes Augenmerk.

Diese Überbietungsspirale, befeuert durch eine publizistische Begleitung, die Bellizisten für klug und Pazifisten für dumm hält, sei „schwer auszuhalten“, sagt Droßmann und verweist auf einen, der sich dieser Dichotomie zu entziehen versuche: Olaf Scholz. Der Kanzler sei noch der einzige, der mit Putin telefoniere, vielleicht noch Frankreichs Präsident Macron, betont er, auch im Hinblick auf die Zukunft. Deutschland müsse der „Motor einer Zusammenarbeit“ mit Russland sein – nach dem Krieg. Das hat die SPD einst Entspannungspolitik genannt.

Im Krieg geboren, im Krieg sterben? Nein!

Droßmann trifft den Nerv seines Publikums. Es will verhandeln, einen Waffenstillstand, den Krieg stoppen. Helmut Schmidt wird zitiert: „Lieber 100 Stunden verhandeln, als eine Sekunde schießen.“ Wie das heute geht, wer mit wem, zu welchem Preis, das weiß auch auf der Ostalb niemand genau, zumindest nicht hier unterm Dach der IG Metall, die den Frieden in ihrer Satzung hat, aber auch genau auf die Arbeitsplätze in den Waffenschmieden schaut. Die einstige Losung „Schwerter zu Pflugscharen“ hat es nicht zur Produktionsreife gebracht.

Der Älteste im Saal drückt aus, worum es letztlich geht. „Ich bin im Krieg geboren und will im Krieg nicht sterben“, sagt Alfred Geisel, und je länger er redet, um so eindringlicher wird seine Stimme. Er habe die Bombennächte im Zweiten Weltkrieg durchlitten, erzählt der 91-Jährige, erlebe heute, was er nicht für möglich gehalten habe, diesen „irrsinnigen Krieg“ in der Ukraine, der ihm wieder schlaflose Nächte bereite, und man rede nicht mehr über Diplomatie, nur noch über Panzer. Dieser „Wahnsinn“ müsse beendet werden, und zwar sofort. Was ist überzeugender? Sein persönliches Erleben oder die Analysen der Sofa-Strategen, die Putin zu Verhandlungen bomben wollen?

Brandt with Richard Nixon, 1971

Geisel war viele Jahre eine wichtige Figur in der Landespolitik. (Seine Tochter Sofie übrigens OB-Kandidatin in Tübingen anno 2022 gegen Boris Palmer.) Von 1972 bis 1996 saß er als SPD-Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag, 16 Jahre davon als Vizepräsident. Es war auch die Zeit der sozialliberalen Koalition und der Neuen Ostpolitik, die sich einen Wandel durch Annäherung auf die Fahnen geschrieben hatte, erkennend, dass Alles oder Nichts keine Option mehr war.

In Ellwangen war Willy Brandt ein Verräter

Auf der stockkonservativen Ostalb hat der Erkenntnisprozess länger gedauert. Im Juni 1973 stand Geisel vor dem Ellwanger Bahnhof, zusammen mit Willy Brandt, der das Kinderdorf „Marienpflege“ besuchen wollte. Statt einer Abordnung örtlicher Honoratioren und des Blasmusikvereins empfing sie ein Trupp junger Unionisten („Brandt an die Wand“), die den Kanzler als vaterlandslosen Gesellen und Verräter beschimpfte. Seitdem weiß Geisel, wie schwierig die Sache mit der Vernunft ist. (Ein weiteres Beispiel ist Stuttgart 21. Wegen des brutalen Wasserwerfereinsatzes am Schwarzen Donnerstag hat er 2010 seine Verdienstmedaille an der Pforte des Staatsministeriums von Stefan Mappus abgegeben.)

Quelle          :    KONTEXT: Wochenzeitung-online        >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben       —     Ein Portrait von Leni Breymaier. Sie sitzt mit rotem Oberteil und roter Brille auf einer Bank.

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2.) von Oben     —       

Brandt with Richard Nixon, 1971

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„The Länd“ am Arm

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Februar 2023

Radikalenerlass: „Wir geben erst auf, wenn wir in die Kiste gehen“

Das wäre doch das rechte Verlies für politische „Leerer Banausen“!

Von Oliver Stenzel

Winfried Kretschmann hat Betroffene des Radikalenerlasses zu einem Gespräch empfangen. Sie fordern vom Land: eine Entschuldigung, Rehabilitierung und Einrichtung eines Fonds zur Entschädigung. Anfangs lächeln sie noch.

Es ist eisig kalt, aber die Sonne scheint. Und sorgt mit dafür, dass die Stimmung heiter ist. Zumindest ein bisschen. Rund 20 Menschen stehen vor der Pforte der Villa Reitzenstein, wo das baden-württembergische Staatsministerium seinen Sitz hat und der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Die vor dem Tor Stehenden sind grob in seinem Alter, alle zwischen 70 und 80 Jahre alt, die meisten tragen große Pappschilder um den Hals: „Sigrid Altherr-König. Lehrerin. Berufsverbot von 1983 bis 1996. 13 Jahre als Verfassungsfeind abgestempelt.“ Oder: „Klaus Mausner. Beruf: Kunsterzieher. 1972: Ausbildungsverbot (in Baden-Württemberg nicht zur Referendar-Ausbildung zugelassen wg. DKP-Mitgliedschaft).“

Alle hier eint, dass der Staat sie einst als Verfassungsfeinde betrachtete, als potenziell gefährliche Radikale, und dass er sie deswegen mit Hilfe des 1972 beschlossenen „Radikalenerlasses“ vom Staatsdienst fernhielt. Mal vorübergehend, wie Altherr-König. Mal ein Leben lang, wie Mausner oder den Lehrer Andreas Salomon. Salomon, geboren 1949, ist aus dem bayerischen Rosenheim angereist, hat aber in Freiburg studiert und in Rastatt sein Referendariat gemacht. Nachdem er in Baden-Württemberg auch aus einer nicht-staatlichen Schule geflogen war, als dort sein Berufsverbot für öffentliche Stellen bekannt wurde, ging er nach Bayern, „ins Exil“, wie er sagt, fand eine Stelle an einer Privatschule, lebte aber ständig in der Angst, seine Geschichte würde auch dort bekannt und zum Jobverlust führen. Warum sah ihn der Staat als Gefahr? Weil er in der Hochschulgruppe des „Kommunistischen Bundes Westdeutschlands“ (KBW) aktiv war.

Betroffene in prekären finanziellen Verhältnissen

Die Gruppe steht vor der Villa Reitzenstein, weil sie eingeladen wurde vom Ministerpräsidenten – der in seiner Studienzeit ebenfalls Mitglied im KBW war. Mehrere Monate, nachdem eine vom Land in Auftrag gegebene Studie zum Radikalenerlass (Kontext berichtete) fertig geworden ist, hat Kretschmann am 19. Januar einen offenen Brief an die Betroffenen veröffentlicht und diesen zugleich ein Gespräch angeboten. Der Brief ist zwar inhaltlich enttäuschend (Kontext berichtete), unter anderem, weil Kretschmann nur sein „Bedauern“ äußert und kein Wort über eine Entschuldigung oder gar Entschädigung verliert. Die Einladung hat aber doch leise Hoffnung, geweckt, dass sich im direkten Gespräch vielleicht etwas ergeben, ein Prozess in Gang gebracht werden könnte. Und wenn es nur ein Mini-Schritt ist.

„Einerseits sehen wir, dass er Bedauern geäußert hat. Andererseits erwarten wir Rehabilitation, vollumfänglich“, sagt Sigrid Altherr-König. „Denn wir haben eine legale politische Tätigkeit ausgeübt. Und wir erwarten eine Entschädigung, denn viele von uns leben im Alter in prekären finanziellen Verhältnissen.“ Ein Fonds solle dafür eingerichtet werden, fordern die Betroffenen.

500.000 bis 600.000 Euro habe ihn bislang das Berufsverbot gekostet, hat Salomon überschlagen, weil er als Angestellter deutlich weniger verdiente als ein Beamter. Aber die will er gar nicht ausgeglichen haben, „mir würde es reichen, wenn mir der Unterschied zwischen meiner Rente und der Pension, die ich hätte bekommen müssen, bezahlt würde“, betont er. 1.500 Euro monatlich sei die Differenz.

Brezeln, Brötchen und „The Länd“ am Arm

Von 15 bis 16 Uhr ist das Gespräch mit dem Ministerpräsidenten anberaumt, gegen 14:45 Uhr werden Betroffene und Pressevertreter:inne allmählich herein gebeten. Die Pappen und Transparente bleiben vor dem Tor. Stattdessen bekommen alle ein Besucherschildchen zum Umhängen, auf dessen gelben Bändchen steht „The Länd“, der Claim der jüngsten Imagekampagne des Landes. „Wenn wir nur einen Teil des Geldes für die Kampagne für einen Entschädigungsfonds hätten“, sagt eine Betroffene. 21 Millionen Euro hat „The Länd“ gekostet. Zwei Millionen Euro in einem Entschädigungsfond wären schon eine große Hilfe, hat die Initiative gegen Berufsverbote ausgerechnet.

Baden-Württemberg – ein Land in dem alles Grüne ergraut !

Die Karawane zieht nun die Treppen hoch in die Villa, wird von Hauspersonal freundlich empfangen und in den prächtigen Gobelin-Saal geleitet. Tische und Bestuhlung in Carréform, man sitzt sich gegenüber, Brezeln, Brötchen und Getränke stehen da. Dann kommt Kretschmann, geht reihum, gibt jeder und jedem die Hand, manchmal werden ein paar Takte gesprochen, viel gelächelt. Eine kurze Begrüßung vom Ministerpräsidenten, dann müssen die Pressevertreter:innen raus.

Eine Stunde Gespräch ist anberaumt, am Ende sind es fast eineinhalb. Als die Tür aufgeht und die Betroffenen herauskommen, lächelt keiner mehr.

Andreas Salomon, der aus Bayern Angereiste, ist der erste, der etwas in die Kameras und Mikros sagt: „Wir sind alle schwer enttäuscht von dem, was gerade abgelaufen ist.“ Kretschmann sei von dem, was er in seinem offenen Brief geschrieben habe, um keinen Millimeter abgerückt. „Und er war nicht bereit, auf unsere Forderung nach einer Entschuldigung, einer Rehabilitierung und nach der Einrichtung eines Fonds einzugehen“. Salomon hat einen dicken Hals, mehrere Minuten redet er ohne Pause. „Der Ministerpräsident hat gerade gesagt, der Radikalenerlass sei ein Fehler gewesen, aber nicht ein Fehler von ihm. Und wir haben gesagt: Wenn Sie das als Fehler betrachten, dann ist doch notwendig, dass dieser Fehler korrigiert wird. Wir sind alle in einem Alter, in dem wir nicht mehr warten können.“ Die Betroffenen wären mit der symbolischen Einrichtung eines Fonds zufrieden gewesen, sagt Salomon, „wenn da wenigstens eine Bewegung hineingekommen wäre.“ Kretschmann hätte die Möglichkeit gehabt, „vor den anderen Ministerpräsidenten Deutschlands deutlich zu machen: Ich als grüner Ministerpräsident bin fortschrittlicher als die anderen. Ich setze mich ein, dass dieses Unrecht wieder zurückgenommen wird, und dass diesen Leute zu ihrem Recht verholfen wird.“

Kretschmann: Rechtsstaat verhindert Entschädigung

Quelle       :          KONTEXT: Wochzeitung-online      >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Ansicht der Villa Reitzenstein (Haupteingang)

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Die Grünen und der Krieg

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Februar 2023

Kehrtwende mit ADAC-Schutzbrief

Von Josef-Otto Freudenreich

Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock sieht Europa im Krieg gegen Russland. Ihre Partei, die ihre Wurzeln im Pazifismus hat, ruft nach Waffen. Wie geht das zusammen? Der Tübinger Autor Matthias Rude erklärt es auf wenigen Seiten. Eine zentrale Rolle spielt Joschka Fischer.

Das Motiv dicker Hals scheidet aus. Der Autor ist 1983 geboren. Also ein sogenannter Millennial, dessen Generation als „Egotaktiker“ bezeichnet wurde, die sich möglichst leichtfüßig durch die Work-Life-Balance zu schaukeln versucht. Keine blutige Nase am AKW-Zaun, kein Tränengas, keine enttäuschte Liebe, kein Joschka Fischer als Streetfighter, dessen Metamorphosen ihn verstört hätten. Stattdessen Pfadfinder in Sigmaringen. Mittendrin im Dreieck Kirche-Adel-CDU und doch nicht dabei. Matthias Rude sagt, er habe „nirgendwo reingepasst“.

Besser wurde es beim Studium in Tübingen. Der Sohn eines Mathelehrers wählte Philosophie und vergleichende Religionswissenschaft, traf dort auf Ordinarius Günter Kehrer, einen Marxisten und Atheisten, und schloss sich der Linksjugend an. Dass er auf diesem Weg später mit Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) aneinandergeraten sollte, hatte eine gewisse Zwangsläufigkeit, der frühe Abschied von einer Karriere im bürgerlichen Sinn auch. Sein Brot verdient er als Social-Media-Redakteur bei einer Lebensmittelfirma, natürlich Bio, sein Herz hängt an Texten für das Magazin für Gegenkultur „Melodie & Rhythmus“, die „Junge Welt“, das „Neue Deutschland“, am Schmetterling-Verlag und jetzt an dem Buch „Die Grünen – Von der Protestpartei zum Kriegsakteur“.

Es kommt zur rechten Zeit. Kein Tag vergeht, an dem grüne Granden nicht nach Waffen für die Ukraine rufen. Lauter noch als Frau Strack-Zimmermann von der FDP. Baerbock, Habeck, Hofreiter kann es nicht schnell genug gehen mit den Panzern. Verwundert reibt sich der Mensch, der noch weiß, wer Petra Kelly war, vielleicht sogar in Mutlangen gegen Pershing-II-Raketen demonstriert hat, die Augen und fragt sich, was hier passiert ist? Ausgerechnet die Grünen, die Partei der Friedensbewegung, die betont, ihre Wurzeln lägen im Pazifismus. Wenn es passt.

Grün, Rot und die drei Undertaker ( Beerdigungsunternehmer )

Rude wundert sich nicht. Er hat nachvollzogen, wie sich die Partei in Friedensfragen entwickelt hat, wie die Fundis auch auf diesem Feld geschlagen wurden, wie die Ossi-Grünen den Realos in die Hände gespielt haben und warum Winfried Kretschmann, der Verfechter eines „grünen Kapitalismus“, zurecht behaupten kann, dass sie keine Linken mehr seien. Das liest sich gut und ist hilfreich für Debatten, in denen das Geahnte schnell als Gewissheit nachgeschlagen werden kann. Auf knappem Raum sind die Essentials erzählt, die Schlussfolgerungen gezogen: Es ist bloße Rhetorik, wenn das grüne Spitzenpersonal seine friedliebende Vergangenheit beschwört und gleichzeitig den Kriegseinsätzen auf dem Balkan (1999) und in Afghanistan (2001) zustimmt. Und Nebelkerzenweitwurf, wenn die Partei noch vor der Bundestagswahl 2021 verspricht: „keine deutschen Waffen in Kriegsgebiete“.

Fischer öffnet früh die Tür zur Nato

Als entscheidende Figur in dieser Geschichte sieht der Autor Joschka Fischer, der das „Nie wieder Auschwitz“ auf dem Bielefelder Kosovo-Parteitag 1999 zum Kampfbegriff gegen alle Antimilitaristen gemacht hat. Es galt, mit der Nato gegen Serbien zu ziehen, dem Mörder Milosevic mit Bomben Einhalt zu gebieten, und Fischer nannte es eine „humanitäre Intervention“, die mitzutragen sei, um nicht zum Alliierten eines „neuen Faschismus“ zu werden. Er bekam seine Mehrheit, ein roter Farbbeutel traf ihn am rechten Ohr, die Bundeswehr rückte zu ihrem ersten Auslandseinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg aus.

Folgt man Rude, hat der einstige Straßenkämpfer bereits 1989 die Tür zur Nato aufgemacht. Auf Schloss Crottdorf im Bergischen Land, wo er, zusammen mit Otto Schily, auf die SPD-Spitzenpolitiker Egon Bahr und Horst Ehmke getroffen ist, die ihnen klar gemacht haben, dass gemeinsames Regieren nur mit einem klaren Bekenntnis zur Nato gehe. Die anwesenden Grünen hätten keinen Einspruch erhoben, hieß es später. Es klappte dann ja auch mit der ersten rot-grünen Koalition 1998. Bis hin zum Ja zur Nato-Osterweiterung. Rudes Fazit: „Der Bellizismus linker Provenienz hatte sich für ihn (Fischer) als Schlüssel zur Macht erwiesen.“

Das Lob der „New York Times“, die Fischers „anhaltende Verachtung für Krawatten“ durch einen „wachsenden Respekt für die Nato“ ausgeglichen sah, wird ihm geschmeichelt haben, die Freundschaft mit US-Außenministerin Madeleine Albright ebenso. Die Aussage von Annalena Baerbock, sie stehe auf den „starken Schultern“ von Joschka Fischer, dürfte der 74-Jährige wohlwollend zur Kenntnis genommen haben.

Während sich der grüne Patriarch heute mit scharfen Wortmeldungen zurückhält, sind seine einstigen Mitstreiter weiterhin laut. Besonders Ralf Fücks, 71, der in jungen Jahren Kriegsdienstverweigerer und beim Kommunistischen Bund Westdeutschland war, welcher dem Maoismus nahestand und die politische Macht aus den Gewehrläufen kommen sah. Danach wandte er sich mehr grüner Realpolitik zu, die er als „Motor“ des Kapitalismus empfand, der ihm als lernendes System erschien, das „Krisen in Innovationen verwandelt“.

Ex-Maoist Fücks an vorderster Front

Quelle        :          KONTEXT- Wochenzeitung-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben       —     Joschka Fischer 2005

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Schon lange Überfällig

Erstellt von DL-Redaktion am 30. Januar 2023

Kretschmanns offener Brief zum Radikalenerlass

 

Heute steht er nur noch vor einer grünen Wand

Von Oliver Stenzel

Lange hat’s gedauert. Acht Monate nach Erscheinen einer Studie über den Radikalenerlass in Baden-Württemberg hat sich Ministerpräsident Kretschmann in einem offenen Brief endlich dazu geäußert. Doch das Ergebnis irritiert.

Die gute Nachricht: Winfried Kretschmann ist lernfähig. Der baden-württembergische Ministerpräsident schreibt in seinem vergangenen Donnerstag veröffentlichten offenen Brief zum Radikalenerlass: „Eine erste Erkenntnis ist für mich, dass die Anwendung des Erlasses unverhältnismäßig war.“ Respekt, das ist mal wirklich eine neue Erkenntnis.

Doch im Ernst: Eine Reaktion Kretschmanns auf die im Mai 2022 veröffentlichte, vom Land in Auftrag gegebene Studie über den sogenannten Radikalenerlass von 1972, dessen Anwendung in Baden-Württemberg und die Folgen für viele Anwärter:innen auf öffentliche Stellen war mehr als überfällig. Monatelang hatten Kretschmann und sein Staatsministerium immer wieder darauf verwiesen, dass noch geprüft werde, dass die Studie ja ziemlich dick sei, dass es drängendere Probleme gebe (Kontext berichtete). Das wirkte schon deshalb unangemessen, weil Kretschmann zum einen selbst in einem Interview Anfang 2022 die Erwartung genährt hatte, sich bald zu äußern, zum anderen, weil die Ergebnisse nicht unbedingt vom Himmel fielen – manche wurden noch vor Erscheinen der Studie im Blog des Heidelberger Forschungsprojekts veröffentlicht.

Sollte das Staatsministerium eine kompetente wissenschaftliche Abteilung haben, und das ist ihm zu wünschen, hätte sich diese wegen einer Bewertung also schon zeitig darum kümmern können. So aber entstand der Eindruck, der Ministerpräsident wolle einer Stellungnahme dazu aus dem Weg gehen, fühle sich unbehaglich damit. Oder spiele bei der Aufarbeitung und Fragen einer Entschädigung oder Rehabilitation auf Zeit, wie es etwa der Mannheimer SPD-Landtagsabgeordnete Boris Weirauch formulierte, bis die „biologische Lösung“ eintrete.

Zu spät und inhaltlich dürftig

Nun gibt es endlich eine Reaktion. Und die ist enttäuschend, da inhaltlich dürftig. Zwar zitiert Kretschmann gleich zu Beginn Willy Brandt, der als Bundeskanzler den Erlass 1972 mitbeschlossen hatte, ihn aber später als „politischen Irrtum“ bezeichnete. Doch diese Wertung macht er sich in der Folge nicht zu eigen, stattdessen die von Brandts Nachfolger im Bundeskanzleramt Helmut Schmidt, laut dem „mit Kanonen nach Spatzen“ geschossen worden sei – will sagen: Nicht der Erlass als solcher war ein Irrtum, sondern nur die Praxis seiner Anwendung.

Diese bewertet Kretschmann auch durchaus kritisch: Für ihn „hat der Radikalenerlass viel mehr Schaden angerichtet als Nutzen gestiftet“, bei der Umsetzung sei das erforderliche „Augenmaß verloren gegangen.“ Dass eine ganze Generation unter Generalverdacht gestellt worden sei, „war falsch“, schreibt der Ministerpräsident. Denn zwar mochten „einzelne … zu Recht sanktioniert worden sein“, aber „manche“ hätten „zu Unrecht durch Gesinnungs-Anhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierungen oder auch Arbeitslosigkeit Leid erlebt“. Darauf folgt der zentrale Satz des Briefes: „Das bedauere ich als Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg sehr.“ Kretschmann bedauert, er entschuldigt sich nicht bei den Opfern, wie dies zunächst fälschlicherweise etwa die „Deutsche Presse-Agentur“ vermeldete.

Nun lässt sich darüber streiten, wie sinnvoll es ist, wenn sich ein Regierungschef heute für eine Regelung aus dem Jahr 1972 (bundesweit) beziehungsweise 1973 (in Baden-Württemberg) entschuldigt, an deren Umsetzung er nicht beteiligt war. Es könnte ein symbolischer Akt sein, und er hatte ihn vor einem Jahr immerhin in Einzelfällen in Aussicht gestellt. Jetzt verwendet Kretschmann weder das Wort „Entschuldigung“ noch „Rehabilitation“. Doch sein Brief irritiert noch aus einem anderen Grund.

Kretschmann hat sich, diesen Anschein erweckt das Dokument, ziemlich gequält mit dem Thema. Er war selbst einer der Betroffenen, und er geht breit auf diesen Abschnitt seines Lebens ein. Mehr als ein Fünftel des Briefes macht die Thematisierung der eigenen Biographie aus. Das mag man anerkennen, aber genau das ist das Problem: Kretschmanns Beschäftung mit oder eher die große Zerknirschung ob der eigenen Biographie überlagert seine gesamter Beurteilung des Themas. Es ist diese Zerknirschung über die „größte Verirrung meines eigenen Lebens“, die ihm, wie er schreibt, in der Studie gespiegelt werde, „nämlich der Linksradikalismus meiner Studienzeit“: „Mich erschreckt noch heute, dass ein Mensch, selbst wenn er das Glück einer guten Ausbildung hatte wie ich, einen solchen ‚Tunnelblick‘ entwickeln und sich derart in eine verblendete Weltsicht einbohren kann.“ Und er betrachtet es als „aus heutiger Sicht nur logisch und konsequent“, dass ein demokratischer Staat bei Menschen wie dem jungen Kretschmann „Zweifeln an der Verfassungstreue nachgeht“.

Aus dieser Perspektive einer eigenen Verirrung, einer, zugespitzt formuliert, eigenen Schuld, beschreibt Kretschmann dann die mögliche Läuterung und Buße: „Menschen, die abwegige und irrige Positionen vertreten, sind in fünf oder zehn Jahren vielleicht klüger geworden und denken anders“, und solche Lernprozesse müsse die liberale Demokratie fördern und wertschätzen. Eine Gesinnungsprüfung ist also laut Kretschmann nicht deshalb falsch, weil sie der Meinungsfreiheit widerspricht – sondern weil sich die Gesinnung ja ändern, weil sie sich im Sinne des Ministerpräsidenten bessern kann.

Die Betroffenen wollen eine Entschädigung

Eine hochproblematische Deutung, die überdies hinter die Ergebnisse der Studie zurückfällt. Denn es ist völlig irrelevant für die Bewertung des Erlasses, ob die von ihm betroffenen Menschen sich ändern, ob sie sich von ihren früheren Ideen verabschieden oder sie beibehalten, ob sie in Kretschmanns arg paternalistisch wirkenden Worten „klüger werden“. Relevant ist einzig, ob ihre Nichtzulassung zu oder ihr Ausschluss aus öffentlichen Stellen aufgrund eines konkreten Verdachts oder eines Nachweises „einer gegen die Sicherheit des Staates gerichteten Betätigung“ erfolgte. So formuliert es das Übereinkommen Nr. 111 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO/ILO), das sich mit „Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf“ befasst – und übrigens bereits 1961 von der Bundesrepublik ratifiziert wurde.

Quelle         :         KONTEXT:Wochenzeitung          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Winfried Kretschmann im Rahmen des Länderrates der GRÜNEN am 17. September 2017 in Berlin (Gasometer Schöneberg)

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„Lassen wir das Rumnölen!“

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Januar 2023

Robert Habeck über Klimapolitik und Krieg

Hier ist aber auch nur noch die Dekoration grün ! Und was WIR machen bestimmt ein Jeder  selbst.

Das Interview mit Robert Habeck führten Anja Krüger, Tobias Schulze und Peter Unfried.

Die Räumung von Lützerath sei richtig gewesen. Warum er der Klima­bewegung trotzdem dankbar ist, sagt Vizekanzler Robert Habeck im taz-Gespräch.

wochentaz: Luisa Neubauer spricht wegen der Räumung von Lützerath und angesichts der LNG-Terminals von einer Re-Fossilisierung deutscher Energiepolitik. Was ist das Gegenargument, Herr Habeck?

Robert Habeck: Das Gegenargument ist, dass Putin die Gaslieferungen nach Deutschland gestoppt hat, wir damit die Hälfte des Gases zur Versorgung verloren haben und schmerzhafte Entscheidungen treffen mussten, um eine Notlage zu verhindern. Wir haben aktuell 8,8 Gigawatt Kohlekraftwerke mehr am Netz als ursprünglich vorgesehen. Den Kohlestrom setzen wir ein, um Gas zu sparen. Der klimapolitische Gau wäre, wenn wir nach dem nächsten Winter sagen müssten: Wir müssen diese Kohlekraftwerke doch noch länger laufen lassen, weil wir uns nicht um eine ausreichende Versorgung mit Gas gekümmert haben. Kohle für Stromerzeugung ist eine klimapolitische Sünde. Um die nicht weiter zu begehen, brauchen wir derzeit noch Gas.

Man sieht Sie jetzt dauernd bei Einweihungen von LNG-Terminals, wo verflüssigtes fossiles Gas gelagert und weiterverteilt wird. Wäre mehr persönliche Zurückhaltung nicht angebracht?

Ohne jemandem zu nahe zu treten: Es spricht ganz schön viel Vergessen aus dieser Haltung. Eine Gasmangellage – und mit ihr schwere Schäden für Wirtschaft und Gesellschaft – ist eine ernsthafte Gefahr. Das, was wir jetzt erreicht haben – Unabhängigkeit von russischem Gas, volle Gasspeicher, wieder gesunkene Preise – ist kein selbstverständlicher Zustand. Die Gasspeicher sind nur voll, weil wir gehandelt haben. Weil wir die Gesetze geschrieben und uns um Ersatz gekümmert haben. Weil wir Gasimporteure vor dem Zusammenbruch bewahrt haben. Und weil viel Geld dafür ausgegeben haben.

Wie viel Geld?

Viele Milliarden. Die waren notwendig, um eine tiefe Krise abzuwenden. Allein für die Uniper-Rettung und dann die Übernahme des Konzerns haben wir rund 30 Milliarden bereitgestellt. Ob wir das am Ende alles brauchen, wissen wir nicht, aber sie als Sicherheit bereitzustellen, war nötig. Sonst wären hunderte Stadtwerke in Gefahr geraten und damit die Versorgung der Haushalte.

Fühlen Sie sich von Neubauer und der Klimabewegung unverstanden?

Nein. Wir brauchen Protest. Die Klimabewegung und gerade Fridays for Future haben die Klimapolitik ganz oben auf die Agenda in Deutschland gebracht. Das war eine große Leistung. Dafür bin dankbar.

Sie sprechen sehr nett über die Klimabewegung.

Nett wäre paternalistisch. Es geht mir um das gegenseitige Verständnis der unterschiedlichen Rollen. Eine Protestbewegung darf sich auf das Dagegen konzentrieren und muss mehr fordern, als der Status quo ist. Sie muss kritisieren, antreiben. Und sie muss Aufmerksamkeit schaffen. Das ist sinnvoll. Meine Rolle ist eine andere. Da geht es darum, Entscheidungen und Gesetze in Regierung und Parlament durchzusetzen, Alternativen zu schaffen, ja, auch Kompromisse einzugehen. Und ich muss die Energiesicherheit gewährleisten.

Die Kritik an der LNG-Infrastruktur zielt darauf, dass nach dem Ende des Energiemangels sehr viel fossiles Gas genutzt werden könnte, einfach weil es zur Verfügung steht – und zwar auf Kosten der Erneuerbaren.

Die Gefahr sehe ich nicht. Erstens: Unser politisches Handeln zielt ja voll auf den Ausbau der erneuerbaren Energien. Schneller und mehr – daran arbeiten wir. Wir haben durchgesetzt, dass die Erneuerbaren europaweit im überwiegenden öffentlichen Interesse liegen. Zweitens: Der Energiemangel geht nur vorbei durch Infrastruktur, die wir bauen. Wir kommen durch diesen Winter, weil wir anfangs noch russisches Gas hatten, weil wir jetzt LNG-Terminals in Betrieb nehmen und weil wir aus Norwegen und den Benelux-Staaten mehr Gas bekommen haben.

Andersrum gilt, dass die Versorgung der südöstlichen Nachbarn auch durch Deutschland erfolgt, inklusive eines Teils der Ukraine. Aktuell sind wir Transitland, künftig können wir über die schwimmenden Terminals aber auch Lieferungen für unsere Nachbarn ermöglichen. Wenn wir nur den nationalen Blick haben, machen wir also einen doppelten Fehler. Wir dürfen nicht verkennen, dass die anderen Länder uns versorgen, und nicht verkennen, dass durch uns auch andere Länder versorgt werden müssen.

Sie sagen es: EU-Länder waren in der Energienot solidarisch mit Deutschland, haben aber den Eindruck, dass Deutschland nicht so solidarisch ist – etwa wie es sein Gas in der Welt zusammengekauft hat. Ist es naiv, dass man das zusammen macht?

Das geht und das ist vereinbart worden. Richtig ist aber, dass Deutschland in der Vergangenheit sehr viele seiner Gaseinkäufe in Russland getätigt hat. Deutschland hat Nord Stream 1 und dann auch noch 2 gebaut. Die deutsche Energiepolitik hat lange die Warnungen – gerade von Polen und den baltischen Ländern – komplett ignoriert. Hauptsache, Gas aus Russland war billig.

Die Vorgängerregierungen haben es trotzdem gemacht.

Ja, und es ist schiefgegangen. Das war ein Grund für die hohen Gaspreise, auch in Ländern, die gar kein Gas oder nicht viel aus Russland bekommen haben. Dass andere europäische Länder deshalb zornig sind, kann ich verstehen.

Was folgt daraus für Sie?

Ich sehe die Fehler des letzten Jahrzehnts und bin deshalb der Meinung, Deutschland muss im Zweifelsfall immer ein Stückchen mehr geben. Es ist jetzt unsere Aufgabe, dienend Europa zusammenzuführen.

Gilt dieses Motto „immer ein Stückchen mehr“ auch in der Frage deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine? Oder ist mit dem Kampfpanzer Leopard 2 nun Schluss?

Putin hat mit der europäischen Nachkriegsordnung gebrochen und einen souveränen Staat überfallen – hier, in Europa. Ich halte es für notwendig, die Ukraine bei ihrer Selbstverteidigung zu unterstützen. Putin und sein Imperialismus dürfen nicht siegen. Wir haben deshalb die Unterstützung immer wieder angepasst und werden sie sicher immer wieder überprüfen. Es gilt aber weiter: Deutschland ist keine Kriegspartei und wird es nicht werden. Das ist die Grenze.

Grüne und FDP mussten den Kanzler wochenlang drängen. Warum handeln Scholz und die SPD immer erst nach langem Zögern?

Wir haben mit der Lieferung von Kampfpanzern jetzt eine große Entscheidung getroffen, die der Ukraine helfen wird. Aber das ist kein Grund zum Jubeln. Es ist eine Entscheidung, die man gut abwägen musste. Jede Leichtigkeit ist fehl am Platz.

Als Alternative zur militärischen Verteidigung der Ukraine gegen den Aggressor Russland werden gern „Verhandlungen“ beschworen. Unter welchen Umständen könnte es aus ihrer Sicht dazu kommen?

Mit Verlaub, Russland hat die Ukraine angegriffen, mit Panzern, Raketen. Es hat Städte und Dörfer besetzt, Männer, Frauen und Kinder werden getötet, gefoltert, verschleppt. Die russische Armee zerstört gezielt Wasserversorgung und Stromversorgung. Wer eine Alternative zur militärischen Verteidigung der Ukraine will, verlangt, dass sie sich von Putins Russland niederrennen lässt. Das gesagt: Glauben Sie mir, es vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht wünsche, dass der Krieg ein Ende hat. Aber für Verhandlungen muss die Ukraine in eine militärische Situation kommen, die ihr erlaubt, ihre territoriale Integrität wiederherzustellen.

Auf einer Skala von 1 bis 10: Wo steht die Energiewende in Deutschland heute?

Bei vier.

Wo steht Deutschland, wenn die Legislaturperiode zu Ende ist?

Bei sechs. Acht ist 2030 und 9,5 ist 2040 erreicht. 2045 soll Deutschland klimaneutral sein. Die Vorgaben sehen vor, dass wir bis 2040 die CO2-Emissionen um 88 Prozent reduziert haben müssen. Die letzten 10 oder 12 Prozent sind sicherlich die schwersten. Aber die entscheidende Frage ist: Schaffen wir 90 und 95 und bleiben nicht bei 40 oder 45 stehen? Damit wären die großen Bereiche Verkehr, Gebäude und Energie umgestellt.

Wie kommt die Energiewende jetzt tatsächlich voran, werden wirklich plötzlich schnell viele Windräder gebaut?

Da bin ich zuversichtlich. Mir ist aber noch etwas wichtig, nämlich, dass wir bei der Energieeffizienz vorankommen. Energieverbräuche runterbringen ist genauso Teil der Energiewende. Das bringt Unternehmen große Effizienzgewinne, sprich: wirtschaftliche Vorteile.

Mit der Atom-Entscheidung des Bundeskanzlers ist ja das Energieeffizienzgesetz versprochen worden. Warum ist es noch nicht da?

Wir haben das Gesetz geschrieben, noch mal überarbeitet, was ich selbst wichtig fand, jetzt liegt es in der Ressortabstimmung.

Muss der Kanzler dafür gegenüber der FDP noch ein sogenanntes Machtwort sprechen?

Es ist klar, dass das Gesetz zeitnah kommen muss.

Was heißt zeitnah?

Von unserer Seite aus sind wir fertig.

Ist die Atomdebatte wirklich erledigt?

Die Atomdebatte spielt keine Rolle mehr.

Die FDP hat es immer wieder probiert.

Ende des Winters werden die drei letzten AKWs abgeschaltet. Punkt.

Haben Sie schon Pläne für den 15. April, Mitternacht, wenn die letzten AKWs vom Netz gehen sollen?

Um Mitternacht werde ich hoffentlich schlafen.

Sie behaupten immer, Lützerath sei das „falsche Symbol“ für die Forderung nach Klimapolitik, die das Paris-Abkommen einhält. Welches wäre denn das richtige?

Lützerath ist per Gesetz das Ende des Braunkohleabbaus, nicht das Weiter so. Welches Symbol das richtige ist – nun, das wird die Klimabewegung selbst finden. Es kann nur schiefgehen, wenn ein Energieminister ihr sagen würde, wo sie demonstrieren soll.

Nach den Erfahrungen der letzten Wochen: Würden Sie mit Blick auf Lützerath etwas anders machen?

Wir beenden die Braunkohleverstromung im Westen acht Jahre früher als vorgesehen. Wir halbieren die Menge des erlaubten Braunkohleabbaus. Wir retten fünf Orte und drei bewirtschaftete Höfe. Wir schaffen Planungssicherheit, damit in Wasserstoffkraftwerke investiert wird. Deshalb: Nein. Die Lösung konnte nur so gefunden werden, wie wir sie gefunden haben. Sie war energiepolitisch nötig und klimapolitisch richtig.

Erwarten Sie eine zunehmende Verhärtung zwischen Aktivismus und Staat?

Es ist nicht akzeptabel, wie Polizistinnen und Polizisten pauschal verunglimpft werden und wie ein Teil der Aktivisten nach einer „Welt ohne Polizei“ ruft. Polizistinnen und Polizisten setzen jeden Tag ihre eigene Sicherheit für die Sicherheit anderer aufs Spiel. Die Polizei ist Teil unseres demokratischen Rechtsstaats. Wenn es Vorwürfe gegen Polizisten gibt, werden sie aufgeklärt, wie es Nordrhein-Westfalens Innenminister Reul gesagt hat.

Umgekehrt erwarte ich, dass sich die Klimabewegung glasklar von Gewalt distanziert. Ohne Hintertür. Gerade Klimaschutz handelt davon, Freiheit und Leben in einer Demokratie zu schützen. Und Gewalt ist kein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Diese Frage finde ich viel relevanter als die, wie die Klimabewegung und die Grünen klarkommen. Für eine Regierungspartei ist es die logische Konsequenz, in einem Spannungsverhältnis zu einer Bürgerbewegung zu stehen.

Die Spannung haben Sie aber auch innerhalb der Partei. Grüne Beschlüsse in der Regierung, grüner Polizeipräsident setzt sie durch – gegen Grüne Jugend im Widerstand?

Das zeigt nur, wie weit wir gesellschaftlich verankert sind.

Die romantische Illusion gibt es bei manchen immer noch, in der Opposition moralisch unantastbar zu bleiben und dabei den größeren Unterschied machen zu können?

Nein. Die Partei will regieren. Das ist ganz anders als in einer Zeit, die ich noch eher aus der Halbdistanz beobachtet habe. Damals hieß es: In der Regierung muss man so schwierige Entscheidungen treffen. Gehen wir lieber raus. Heute heißt es: Geht es nicht schneller? Kann man nicht mehr umsetzen? Gibt es nicht machtpolitische Hebel, die wir noch nicht gezogen haben? Ich finde das gut.

Einige Grüne finden, Sie sollten in der Regierung mehr Konfrontation wagen, härter verhandeln.

Quelle          :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Wahlkampf Landtagswahl NRW 2022 von Bündnis 90/Die Grünen auf dem Heumarkt in Köln. Zu Gast waren Robert Habeck (Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz) und Spitzenkandidatin Mona Neubaur

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Ende Gelände-Grüne Erfolge

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Januar 2023

Ende Gelände – Grüne Erfolge, wohin man schaut

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von    : DR. Renate Dillmann

Die Sache, um die es geht, ist ein Stück kapitalistischer Alltagspolitik: die per Gesetz verfügte Räumung eines Dorfs für den Braunkohletagebau. Gleichzeitig ist sie ein Beispiel dafür, wie dieser Alltag unter grüner Herrschaft funktioniert. Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Note Beeindruckend! Maximale Punktzahl für die Politdarsteller in Grün, die in der Sache kompromisslos das durchsetzen, was der Standort braucht, und es zugleich schaffen, ihre Taten in bester Manier „weißzuwaschen“, so dass die stets großgeschriebenen WERTE noch als Produktivkraft, als „soft power“, beim Baggern und Räumen wirken. Im Einzelnen.

Eine grüne Ministerin

Mona Neubaur ist die erste grüne NRW-Landesministerin für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie. Als solche hat sie die Aufgabe, die benötigte Energie für die Wirtschaft, d.h. vor allem für Industrie, bereit zu stellen. Dafür soll – Klimawandel hin, Umweltschutz her – im rheinischen Revier weiter Braunkohle abgebaggert werden; der „Kohledeal“ vom Oktober 2022 sieht dazu vor, dass das bis 2030 weiter gehen und dafür ein weiteres Dorf, Lützerath, geräumt und abgebaggert wird, weil sich gerade hier die Kohle sehr rentabel gewinnen lässt.1 Nach Auskunft der Regierenden ist das „rechtsstaatlich“ final beschlossen und deshalb umzusetzen, auch wenn eine neue Studie des DIW zu dem Ergebnis gekommen ist, dass es dafür weder „eine energiepolitische noch eine klimapolitische Rechtfertigung gibt“. So weit, so normal: Man bestellt sich Gutachten, benützt die passenden, ignoriert die unpassenden…

Weil Mona Neubaur aber eine Grüne ist, schafft sie es, die 280 Millionen Tonnen fossiler Brennstoffe, die bis 2030 aus der rheinischen Landschaft gebaggert und anschließend verstromt werden sollen, im Sinne höherer Werte umzudeuten. Ihre Empfehlung an Klimaschützer lautet, die Sache so zu sehen: Man habe hier nicht 280 Millionen Tonnen mehr Braunkohle vor sich, die in den nächsten Jahren verheizt werden und entsprechende CO2-Emissionen verursachen, sondern 280 Millionen Tonnen weniger als ursprünglich mal geplant und deshalb ist das, was da in den nächsten Jahren an Baggern und Verheizen passiert, ein – Zitat Neubaur in der „Welt“ – „großer klimapolitischer Erfolg und auch ein Erfolg der Klimaschutzbewegung.“

So geht der Umgang mit der eigenen Wählerbasis, von der man weiß, dass sie beim Kreuzchenmachen auf was anderes gehofft hat. Großartig, wie die der Sache nach hundertprozentig konträre Praxis ungerührt als Umsetzung der Wahlversprechen zurechtgebogen wird.

Weiter im Text: „Dass die Kohle unterhalb von Lützerath kurzfristig für die Verstromung gebraucht wird, ist schmerzlich, aber auch rechtlich und durch Fachgutachten eindeutig geklärt. Unser Ziel bleibt die Transformation hin zu einer klimaneutralen Produktionsweise, und das ohne Wohlstandsbrüche. (…) Wir müssen den Beschäftigten von RWE Respekt zollen und dafür danken, dass wir in der jetzigen Übergangsphase die notwendigen Stromkapazitäten kurzfristig in den Energiemarkt bekommen!“

Hier kommt die grüne Spezialität mit voller Wucht zum Einsatz: Stets kommt als erstes „die Realität“ mit einem ganz großen „Leider, leider, leider“; nicht selten verbunden mit Seitenhieben auf die vorgefundene, von anderen zu verantwortende „Lage“. Das „schmerzt“ sehr, Zerknirschung, Dackelblick, Stirn in Falten. Es folgt das mit festen Worten vorgetragene Bekenntnis zu den gemeinsamen Fernzielen im Klimaschutz, dem Ideal, dem man weiterhin mit vollem Herzen verpflichtet ist. Dann, wieder relativierend, der „Respekt“ vor den vielen gesellschaftlichen Interessen und Sachzwängen (wie dem „Energiemarkt“), derentwegen man sich nun mal nicht 1:1 durchsetzen könne: „Wohlstandsverluste“ drohen nämlich, als deren Sinnbild in diesem Fall die RWE-Arbeiter mit ihren national wichtigen Arbeitsplätzen aufmarschieren, mit denen indirekt auch noch die „Versorgungskrise“ „dank Putin“ angespielt wird – all das natürlich wesentlich geschickter als über die Gewinne von RWE zu sprechen, die sich laut Oxfam in 2022 verdoppelt haben.

Wer jetzt noch keine Einsicht zeigt und verstockt auf irgendeinem Schnee von gestern besteht, kann nach so viel vorbildlicher PR keine weitere Unterredung erwarten: „Am 12. Januar besetzten Aktivisten das Grünen-Büro in Düsseldorf. Sie wollten ein Gespräch mit NRW–Wirtschaftsministerin Mona Neubaur über ihr Versprechen, dass Lützerath bestehen bleibe, erzwingen. Neubaur erschien nicht, dafür in den frühen Morgenstunden am 13. Januar ein großes Polizeiaufgebot, das das Büro kurzerhand räumte.“ (Terz, Düsseldorfer Stattzeitung, Februarausgabe)

Die grüne Ministerin nimmt also die Hilfe der Polizei in Anspruch, um zu verhindern, dass sie mit den Protestierenden reden muss. Gleichzeitig lässt sie verkünden weiter, „gewaltfreien und kreativen“ Protest unterstützen. Dieser Frau ist offenbar nix zu peinlich (und ihrer Anhängerschaft anscheinend auch nicht). Aber sie muss sich ja auch „zeitgleich um die Zukunftschancen dieser Region kümmern, die zwischen den Hochschulstandorten Aachen, Düsseldorf und Köln mit vielen starken Unternehmen traumhaft gelegen ist.“ Ja klar, liebe Mona, zwischen „Hochschulstandorten“ und „vielen starken Unternehmen“ ist eine Region wirklich traumhaft gelegen, schöner könnte es gar nicht sein!

Ein grüner Polizeichef

Federführend beim Einsatz der Polizei in Lützerath ist Dirk Weinspach, Aachener Polizeipräsident und ebenfalls Grüner. Auch er ist im Herzen selbstverständlich ein Klimaschützer, und zwar einer mit großen Sorgen. Zitat: „Zuallererst ist es mir wichtig festzuhalten, dass ich große Achtung vor dem Einsatz derer habe, die sich an dieser Petition beteiligt haben, vor den über 32.000 Unterstützerinnen und Unterstützern und allen, die sich im Klimaschutz engagieren. Ich teile deren Sorge vor einer weiteren Erderwärmung und vor den Folgen, die es haben wird, wenn es nicht gelingt, das völkerrechtlich vereinbarte 1,5-Grad-Ziel einzuhalten“.

Da aber nicht die Polizei, sondern die zuständigen Behörden die Entscheidungen treffen, muss jetzt eben – wir können es uns schon denken: leider, leider, leider und mit viel „Achtung vor dem Einsatz“ der Klimaschützer! – geräumt werden. „Dabei ist für uns das Wichtigste, dass die Sicherheit aller Beteiligten gewährleistet wird.“ Wenn das Bedauern des Polizeichefs vielleicht sogar ehrlich gemeint war, ist es dieser Satz gewiss nicht. Denn natürlich ist der Zweck des Polizeieinsatzes nicht die Gewährleistung der „Sicherheit aller Beteiligten“, sondern die staatlich verfügte Räumung des Geländes. Und dabei setzt die Polizei die Gewaltmittel ein, die ihr Chef für geboten hält, und kalkuliert damit selbstverständlich auch Verletzungen ein – die in aller staatlichen Nüchternheit so genannten „Kollateralschäden“. So rechnet der grüne Staatsdiener und setzt es dann „professionell“ durch – über die Etappen berichtet anschaulich die Süddeutsche Zeitung.

Zehn bis fünfzehn bürgerkriegsmäßig ausgerüstete Hundertschaften aus 14 Bundesländern räumen dann seit dem Morgen des 11.1. im Schichtbetrieb 24/7 das Dorf. Die Polizei setzt offenbar auf eine riesige zahlenmäßige Überlegenheit, mit der die Besetzer nicht gerechnet haben. Über das Vorgehen berichtet die Düsseldorfer Stattzeitung Terz in ihrer Februarausgabe: „Die Polizeiführung mit ihrer Übermacht an Einsatzkräften hatte jedoch auch ihr Konzept. In kleinen Gruppen sprachen sie einzelne Dorfbesetzer an, klärten sie über die Rechtslage auf und begleiteten sie mit der Drohung, bei Weigerung, das Gelände zu verlassen, Gewalt anzuwenden, hinaus aus dem Dorf.“

Mit anderen Worten: Die Leute, die sich im Dorf aufhalten, werden vor die Wahl gestellt, aufzugeben oder eine Anzeige wegen Landfriedensbruch zu kassieren; wer sich weigert, hat darüber hinaus erst mal mit unmittelbarer Gewaltanwendung durch die massiv ausgerüsteten Polizisten zu rechnen.

Das sieht dann für Dirk Weinspach so aus (Tagesthemen vom 11.1.23): „Überwiegend ist es friedlich verlaufen, über den Tagesverlauf. Darüber bin ich froh und was mich besonders befriedigt, dass über 200 Besetzerinnen und Besetzer das Angebot genutzt haben, hier freiwillig und ohne polizeiliche Maßnahmen den Einsatzraum zu verlassen.“

Der Mann hat Humor. „Friedlich“ und „freiwillig“ – das ist wirklich spaßig angesichts der polizeilichen Machtdemonstration, die er hat auffahren lassen. Der Aufmarsch seiner gesammelten Polizeikräfte zählt für ihn offenbar nicht als „Maßnahme“. Und von Einschüchterung kann bei Tausenden schwer ausgerüsteten Polizisten gegen ein paar Hundert Jugendliche erst recht nicht die Rede sein – so etwas können Grüne nur in den schlimmen „autoritären Regimen“ sehen, aber niemals in unserer bis an die Zähne bewaffneten „wertebasierten“ Demokratie.

Weinspach gibt sich insofern „persönlich sehr befriedigt“ angesichts des Wirkens seiner Deeskalationsstrategie durch eine ungeheure polizeiliche Übermacht, registriert „lediglich“ 124 Festnahmen mit Anzeigen wegen Landfriedensbruch und gibt höchstpersönlich vor den Kameras eine perfekt gegenderte Stellungnahme ab. Das Dorf ist so gut wie geräumt, die Häuser sind schon abgerissen und RWE verhindert mit schnell gebauten Zäunen, dass nochmal jemand aufs Gelände kommt.

Am Samstag verdirbt die Demonstration mit mehr als 35.000 Teilnehmern (die Polizei will allen Ernstes 8.000 gezählt haben! soviel zu Polizeiberichten als „privilegierter Quelle“ für Journalisten) die tolle Bilanz ein wenig. Das macht aber nichts, weil sich daran gleich wieder die gute alte Debatte über die schreckliche „Gewalt“ aufziehen lässt. Damit ist natürlich nicht die Staatsgewalt mit ihren Hundertschaften samt schwerem Gerät gemeint, sondern die „gewaltbereiten Protestierer“, die es gewagt haben, von der vorgeschriebenen Route abzuweichen. Sie „mussten“ mit Polizeiknüppel und Pfefferspray von weiteren Straftaten abgehalten und auch vor Unfällen „an der Abbruchkante“ geschützt werden – in ihrem eigenen Interesse natürlich!

Fazit

Die Staatsgewalt in Grün hat in Lützerath demonstriert, dass sie „es“ kann. Den etwas heiklen Fall dieses „Symbols“ der Klimabewegung, an dem diese zeigen will, wie wenig ernst es Deutschland mit seiner Klimapolitik meint, hat das grüne Duo geschmeidig bewältigt – und das vermutlich durchaus besser als es andere (bei der Klima-Bewegung verhasste) Figuren aus dem liberalen Lager oder von der Christenpartei gekonnt hätten.

Mit ihren ausgereiften PR-Techniken – der schmerzhaften Abwägung von Idealen und Realität, der Äußerung von ganz viel Respekt vor allen betroffenen Interessen, der unverfrorenen Berufung auf das Recht (das sie dauernd ändern) als fixe Größe usw. – beanspruchen die grünen Staatsfunktionäre in von keinem Zweifel angekränkelter Selbstgerechtigkeit, ihre Wählerbasis bei der Stange zu halten.

Sie lassen den Protest gegen die Durchsetzung der von ihnen ausgemachten Staatsnotwendigkeiten gewaltsam wegräumen und fordern gleichzeitig dazu auf, „gewaltfrei und kreativ“ weiter zu protestieren. Wow! – und Frage an die grünen Wähler, auf wie viel dreiste Heuchelei sie auch in Zukunft noch reinfallen wollen…

PS: Die Mainstream-Medien machen sich wie gewohnt zum kompetenten Helfer bei der Sortierung des Klimaprotestes. Sie behandeln die hehren Anliegen der jugendlichen Klimaschützer wesentlich wohlwollender als manch andere Proteste: Klimaschutz, Rettung der Menschheit und des Planeten – das sind Ziele, die in Ordnung gehen und dem deutschen Führungsanspruch gut zu Gesicht stehen. Dass man dafür demonstriert, auch. Spätestens nach der (erlaubten) Demonstration müssen die Protestierer allerdings auch nach Hause gehen und sich den rechtsstaatlich angeordneten Maßnahmen beugen.

Das erwartet man in den deutschen Redaktionen einfach. Wer sich dem nicht beugt und etwa die Klimarettung so ernst nimmt, dass er sich mit erzwungenen Braunkohletagebau unter grüner Regie nicht abfinden will, gehört für sie dann auch sehr schnell zu den „gewaltbereiten Chaoten“, die zurecht die Härte eines Polizeiknüppels oder einer Strafanzeige zu spüren und dann natürlich auch eine ziemlich schlechte Presse bekommen (Tagesthemen vom 11.1.23 / Anne Will vom 15.1.23).

PPS: Die Klimaschützer, die am Samstag noch einmal in großer Zahl demonstriert haben, könnten an Lützerath eine Menge lernen. Über ihre eigene Rolle als Wähler_innen in einer Demokratie zum Beispiel, deren grüne Repräsentanten keinen Zweifel daran lassen, dass sie die deutsche Staatsräson und die Interessen ihrer Profiteure mit aller (Polizei)Gewalt durchzusetzen bereit sind. Darüber, dass grüner Kapitalismus eben grüner Kapitalismus und grüne Herrschaft vor allem Herrschaft in grün ist.

Dafür müssten sie sich allerdings zunächst von ihrem Lieblings-Gedanken verabschieden, dass es sich ein ums andere Mal um staatliches Versagen handelt, wenn ihre Anliegen unter die Räder ihrer geliebten Herrschaft kommen…

1 Der Energiekonzern RWE hat sich auf diesen Vorschlag eingelassen, weil steigende CO2-Preise die Profitabilität bereits vor 2030 gefährden können. https://www.wwf.de/2023/januar/luetzerath-neuer-tiefpunkt-in-sachen-klimaschutz

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Oben      —     Orangener Finger bei Ende Gelände am 26. September 2020.

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Unten        —      Anti-Kohle-Kidz Finger bei Ende Gelände am 26. September 2020.

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Özdemirs Schonkost

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Januar 2023

Raus aus der zaghaften Defensive

File:Ampel Beschimpfung.svg

Ein Debattenbeitrag von Manfred Kriener

Eine grüne Ernährungspolitik muss endlich ihren Namen verdienen, auch wenn eine starke Lobby dagegenhält. Gesunde Ernährung wurde in Deutschland immer auf das Einkaufsverhalten des Einzelnen abgewälzt.

Fast geräuschlos und stets vorsichtig speist Landwirtschafts- und Ernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) seine politischen Initiativen in die Ernährungsdebatte ein. Das „Containern“, also das Zurückholen und Verwerten weggeworfener Lebensmittel aus dem großen Müllhaufen des Handels, will er straffrei stellen. Die Polizei solle sich doch lieber um richtige Ver­bre­che­r*in­nen kümmern, meint der Minister. Und wenig später, nachdem Spanien die Mehrwertsteuer auf alle Grundnahrungsmittel gekappt hat, erneuert Özdemir die Forderung, künftig Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte von der Steuer zu befreien. Der Vorstoß passt perfekt zu den gestiegenen Lebensmittelpreisen und zur allgemeinen Inflationsjeremiade.

Der zweite Teil der Botschaft fehlt allerdings: Wenn Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte billiger werden, sollten sich im Gegenzug Fleisch und Milchprodukte verteuern. Im aktuellen Krisentaumel gibt es allerdings mit Ausnahme der Veggie-Hardcore-Initiativen niemanden, der es wagen würde, solche Preisaufschläge auch nur zu thematisieren. Billigfleisch ist gerade jetzt sakrosankt, auch für die Grünen.

Mit seiner Container-Initiative hat der Minister dagegen kaum Widerspruch zu befürchten. Es besteht Einigkeit, dass zu viele Lebensmittel weggeworfen werden. Lebensmittelretter, die in die Container krabbeln, mögen zwar schlecht riechen, haben aber die Sympathien der Gesellschaft auf ihrer Seite. Zumal der allgemeine Irrsinn, Lebensmittel mit angestoßenen Verpackungen, kritischem Haltbarkeitsdatum oder kleinen optischen Schönheitsfehlern zu vernichten, auch bei denen für Kopfschütteln sorgt, die selbst natürlich nur makellose Ware kaufen.

Mülltaucher werden immer wieder kriminalisiert. Diebstahl, Bandendiebstahl, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Einbruch – die Liste ist lang. Versuche, die weggeworfenen Lebensmittel mithilfe der juristischen Vokabel „Eigentumsaufgabe“ als „herrenlos“ zu deklarieren, sind oft vergeblich. Höchste Zeit also, das Containern zu legalisieren und Kooperationen zwischen Handel und Mülltauchern, wie es sie in einigen Städten schon gibt, zu forcieren.

Seht auf die Jugend und lernt aus deren Tugenden

Die Forderung nach einer stärker pflanzenbasierten Nahrung und einer Mehrwertsteuer-Absenkung für Obst und Gemüse dagegen hat reflexartig die Sprechautomaten des Bauernverbands und der Ernährungsindustrie aktiviert. Schon bei der Verabschiedung der Eckpunkte einer eher harmlosen und sehr allgemein formulierten „neuen Ernährungsstrategie für Deutschland“ aus dem Özdemir-Ministerium gifteten die üblichen Verdächtigen. Der Bauernverband warnte vor einer „Diskriminierung von Fleisch und Milch“ – und keiner hat gelacht. Der Koalitionspartner FDP meinte einen erhobenen grünen Zeigefinger zu erkennen. Die Union polterte, die Ernährung tauge nicht als „Schalthebel zum Umbau der Gesellschaft“. Özdemir selbst betont immer wieder ganz brav, er wolle selbstverständlich niemandem vorschreiben, was er zu essen habe.

Das erstaunliche Erregungsniveau, das schon hochvernünftige ernährungspolitische Minimalvorstöße provozieren, lässt Zweifel aufkommen, ob sich in diesem Land jemals eine Ernährungspolitik etablieren kann, die diesen Namen verdient. Bisher gibt es sie nicht. Gesunde und nachhaltige Ernährung wurde in Deutschland immer auf das Einkaufsverhalten des Einzelnen abgewälzt. Der soll, umstellt von Werbelügen, dubiosen Qualitätssiegeln und dem Chemiechinesisch im Kleingedruckten der Verpackungen, in Selbstverantwortung seinen Magen füllen. Das zuständige Ressort hieß denn auch lange ausschließlich Landwirtschaftsministerium und wurde mit Politikern bestückt, die auf der Grünen Woche Bockwurst mit Schnaps kombinierten und Herrenwitze in die Runde warfen à la „Oldenburger Butter / hilft dir auf die Mutter“

Quelle          :         TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Unten       —     Pauline Brünger und Carla Reemtsma von Fridays For Future sprechen auf einem Traktor bei der Blockade der SPD-Parteizentrale, Berlin, 22.10.21

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Die Grünen in der Ampel ?

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Januar 2023

Ihr habt euch verrechnet

File:Ampel Beschimpfung.svg

Geht es um den Topf der Steuerzahler finden alle Parteien ihre Clan-Zuhälter.

Von Luisa Neubauer und Pauline Brünger

Die Grünen haben sich auf einen fatalen Deal mit RWE eingelassen. Die Kohle unter Lützerath darf nicht verbrannt werden. Ein Gastbeitrag von Luisa Neubauer und Pauline Brünger von Fridays for Future.

Es haben alle geklatscht. Damals, als wir im April 2021 vor dem Verfassungsgericht standen. In einer historischen Entscheidung erklärte die höchste juristische Instanz Deutschlands, dass wir einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Klimaschutz à la Pariser Abkommen haben.

Das Pariser Klimaabkommen heißt übersetzt: Irgendwo muss Schluss sein. Schluss mit der Zerstörung, dem Verbrennen, dem Emittieren. Und vielleicht fiel das Klatschen 2021 auch deswegen so leicht: Das Schluss-Machen fühlte sich damals weit weg an, klatschen ohne Konsequenzen. Genau genommen war es damals natürlich nicht weit weg, gefühlt aber eben schon.

Jetzt aber haben wir eine Grenze erreicht. Der Kohlebagger im Tagebau Garzweiler II stammt aus dem Jahr 1961. Alt und überholt, genau wie die Idee, dass Kohlekraft friedensbringend und sicherheitsschaffend ist. Gegenüber vom Kohlebagger steht das 21. Jahrhundert, das Pariser Abkommen und die Klimabewegung in einem besetzten Lützerath.

Die Kohleflöze unter dem Dorf sind besonders dick, bis zu 280 Millionen Tonnen CO2 würden emittiert, sollte die gesamte Menge verbrannt werden. Laut Studien des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung wird es praktisch unmöglich, die Pariser Klimaziele und damit das Verfassungsgerichtsurteil noch einzuhalten, sobald diese Kohle unter Lützerath einmal im Kraftwerk am anderen Ende der Garzweiler Grube angekommen ist. Doch genau das soll passieren – in diesem Moment dreht sich der Schaufelradbagger 261 von RWE weiter. Stück für Stück Richtung Lützerath.

Was nun? Wie läuft es mit dem Aufhören? Bisher nicht so gut.

Damit sich die Grünen in diesen Tagen nicht zerreißen, haben sie sich eine Geschichte gebaut, die das ganze Drama erklärbar machen soll.

Die Geschichte geht etwa so: Durch den Krieg in der Ukraine wird akut mehr Kohle gebraucht, leider muss man kurzfristig einlenken, aber dafür kommt der Kohleausstieg 2030, endlich, Robert Habeck sei Dank. Das Ganze hat natürlich einen Preis, und der ist das Dorf Lützerath. Jetzt regen sich noch ein paar Radikalos über die Räumung eines verlassenen Dorfes auf, sollen sie doch, wir Öko-Pragmatiker wissen, dass hier ganz große Schritte gemacht werden.

Manche Dinge sind aber zu schön, um wahr zu sein. Und diese grüne Erzählung vom Kohleausstieg 2030, der auf magische Art sowohl für RWE und das Klima gut sein soll, ist so etwas.

Klimaschutz passiert nicht dann, wenn Ausstiegszahlen nach vorne verschoben werden, sondern wenn real Emissionen Richtung Null gefahren werden. Der Kohleausstieg 2030 ist für uns als Klimabewegung deshalb wichtig, weil wir dahinter einen realen Rückgang der Kohleverstromung in Deutschland fordern. Genau diese Idee entkernen die Grünen und RWE in ihrem Deal. Zwar werden die Ausstiegsdaten für die Kraftwerke vorgezogen, die Menge an Kohle jedoch nicht begrenzt. Mehrere unabhängige Berechnungen legen nahe, dass durch den Deal keine einzige Tonne CO2 eingespart wird. Die Kohlemenge, die RWE vorher bis 2038 fördern und verbrennen wollte, wird jetzt schlicht schon in der Hälfte der Zeit verstromt. Aus Kohleausstieg wird Kohleintensivierung. Kleines Detail, die Kohle unter Lützerath braucht es laut Berechnungen auch überhaupt nicht für die Energieversorgung Deutschlands.

Nicht brennt schöner als der Mitgliederausweis einer Partei

RWE macht dabei richtig Geld: Das Handelsblatt kalkuliert bis 2024 Zusatzgewinne von einer Milliarde Euro für den Konzern. RWE wurde garantiert, dass sie die beim Kohleausstieg 2038 zugesicherten Gelder – 2,6 Milliarden Euro – in jedem Fall erhalten. Zusätzlich profitiert der Konzern von einem reduzierten CO2-Preis. Ab 2030 werden die CO2-Zertifikate auf dem europäischen Emissionsmarkt für Kohlekonzerne so teuer werden, dass die Rentabilität ihrer Kohleverkäufe drastisch sinkt.

Nicht jeder Kohleausstieg ist eine Klimaschutzmaßnahme. Dieser Kohleausstieg ist vor allem eins: eine Profitschutzmaßnahme für RWE. Dass ein notorisch unglaubwürdiger Kohlekonzern auch 2023 mit falschen Erzählungen seine Profite verteidigt, ist zu erwarten. Nicht aber, dass sich die Grünen auf diesen Deal eingelassen haben, ohne zu irgendeinem Punkt aufzustehen und sich zu fragen, was zum Henker sie da verhandeln.

Man würde meinen, die letzen 30 Jahre Energiewende wären eine Lehre gewesen. Immer wieder hat man versucht, den Ausstieg aus fossilen Energien so zu gestalten, dass fossile Konzerne zufrieden irgendwem die Hände schütteln können. Nach Jahren verpasster Ausbauziele, nach über 100.000 verlorenen Jobs in der Solarbranche und einer abgewanderten Windradindustrie könnten man sagen: Hat so mittel gut geklappt.

Oder so: Solange fossile Konzerne die Regeln für die Energiewende machen, wird es keine geben. Schon gar keine, die schnell und gerecht genug kommt.

Dass es so nicht aufgeht, wie die Grünen und der klimabewegte Teil der Regierung sich das gedacht haben, wird vor allem in der Stille deutlich. Man muss an die kleinen Emoji-Affen von Whatsapp denken: Hände vor dem Mund, den Ohren, den Augen. Bloß nichts sehen, hören, sagen. Noch im Oktober stimmten knapp die Hälfte der Delegierten auf dem Bundesparteitag für einen Antrag der Grünen Jugend, der ein Moratorium für Lützerath forderte. Während #LützerathBleibt seit Tagen trendet, bleiben die Accounts der Partei bemerkenswert still. Ab und zu ruft Mona Neubaur im Chor mit RWE, der CDU und der Polizei zur friedlichen Räumung auf. Als Op­po­si­ti­ons­po­li­ti­ke­r:in war sie mehrmals in Lützerath, als Vize-Ministerpräsidentin noch nie.

Das, was von der Grünen-Spitze als staatsmännischer und vor allem ultra pragmatischer Coup aufgesetzt war, entpuppt sich in diesen Tagen als undurchdachte Bulldozer-Politik. Statt die Krise argumentativ zu nutzen, um das Ende von Kohle, Öl und Gas einzuläuten, räumen die Grünen den Weg frei für weitere Energieverschwendung. Alles für das fossile Weiter-So, koste es, was es wolle. In diesem Falle: Milliarden Euro und unsere Lebensgrundlagen.

Die Grünen missbrau-chen die Energiekrise

Wir hatten gehofft, die Grünen würden die ökologischen Linien in der Ampel ziehen und verteidigen. Nun sind sie diejenigen, die sie einreißen wollen.

Nachdem nun selbst die Grünen die Energiekrise missbraucht haben, um ihre kontroverse Entscheidung zu legitimieren, ist es wenig überraschend, dass die FDP parallel erklärt, vor lauter Krise brauche es jetzt neue Atomkraftwerke. Es scheint ein postfaktischer Energiediskurs parteiübergreifend in Mode. Und das kommt einem erdgasbegeisterten Kanzler natürlich gelegen, kann er direkt weitere Autokraten zu verlässlichen Energiepartnern erklären. Die Krise als rhetorisches Mittel, nie als materieller Zwang, sie reicht aus, um Entscheidungen zu legitimieren, die das Weltklima belasten, sie reicht nie für Entscheidungen zu Lasten des Koalitionsklimas. Lieber schickt man Bagger gen Lützerath, als die lange Liste an schnellen, wirksamen und notwendigen Maßnahmen zur Energiereduktion tatsächlich anzugehen.

Bis heute gibt es kein ausreichendes Klimaschutzsofortprogramm, kein (von Olaf Scholz persönlich eingefordertes) Energieeffizienzgesetz, der CO2-Preis stagniert, die Abschaffung fossiler Subventionen ist einer Einführung neuer Subventionen gewichen. Bei 1,2 Grad Celsius globaler Klimaerhitzung ist für all das anscheinend nicht genug Krise. Wir fragen uns, wie viele hitzetote Großeltern es braucht, bis genug Krise für ein kleines Tempolimit ist.

Wir hätten nach fast einem Jahr Energiekrise auch noch einige Anschlussfragen. Wohin soll sie denn gehen, die Reise? Wie sieht denn der Plan aus, durch den wir bis 2030 die Emissionen um 65 Prozent gesenkt haben, nachdem sie im letzten Jahr trotz geringeren Energieverbrauchs stagniert sind? Wo, lieber Robert Habeck, wird die Gesamtrechnung aufgemacht, in der die Vereinbarkeit von alledem mit dem Pariser Klimaschutzabkommen abgestimmt wird?

Quelle     :         TAZ-online           >>>>>           weiterlesen

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2.) von Oben      —   Luisa Neubauer auf der TINCON re:publica in Berlin-Kreuzberg am 7. Mai 2019

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Unten       —     Pauline Brünger und Carla Reemtsma von Fridays For Future sprechen auf einem Traktor bei der Blockade der SPD-Parteizentrale, Berlin, 22.10.21

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Verkauf von Transnet BW

Erstellt von DL-Redaktion am 30. November 2022

Blackrock ist interessiert

Hier kann Kretsche unter den Spaziergängern noch eine Grüne Zukunft erkennen !

Von Johanna Henkel-Waidhofer

Zum 40. Geburtstag der Grünen wusste Winfried Kretschmann noch, dass die unsichtbare Hand des Marktes das Klima nicht rettet. Den Konsequenzen aus dieser Erkenntnis verweigern sich viele Grüne, nicht zuletzt der Ministerpräsident. Deshalb soll jetzt sogar kritische Infrastruktur verscherbelt werden.

Die gute Nachricht zuerst: „Sie können mal sicher sein: Die Chinesen kriegen es nicht.“ Was Regierungschef Kretschmann sonst noch sagte zu dem Plan des landeseigenen Stromanbieters EnBW, 49,9 Prozent des Transportnetzbetreibers TransnetBW zu verkaufen, zeigt nur, in welche Sackgasse er sich beim Ausbau der erneuerbaren Energien manövriert hat. Eigentlich, so Kretschmann, müssten Milliarden rasch in den Ausbau investiert und sehr zügig neue Infrastruktur geschaffen werden. Aber: „Die Alternative zum Verkauf wäre eine Kapitalspritze durch das Land, ich sehe aber nicht, dass diese Alternative haushaltspolitisch möglich wäre.“

Also dürfen – neben der Idee, einen Teil der TransnetBW an die KfW abzutreten, wenn der Preis stimmt – Private ran. Einer der Interessenten für die TransnetBW-Anteile heißt Blackrock. Dabei hat die Hoffnung, Investoren würden die Energiewende wuppen, den Praxistest noch nie bestanden. Nicht im Zeitalter neoliberaler Blütenträume, als gewachsene Strukturen in der Erwartung zerschlagen wurden, dass fragmentierte Geschäftsmodelle und mehr Wettbewerb eine sichere und noch dazu kostengünstige Versorgung bieten können. Schließlich ist das allererste und wichtigste Interesse privater Geldgeber, dass die Rendite stimmt. Zur Zeit zeigt sich auf dem Atlantik, wohin das führt: Dutzende LNG-Tanker dümpeln wie auf Befehl vor sich hin und steuern keinen europäischen Hafen an – in der Hoffnung kapitalistischer Steuermänner auf einen kalten Winter und weiter steigende Preise. Im Netz ist tagesscharf nachzuverfolgen, dass die europäischen Länder keineswegs schon alle über volle Gasspeicher verfügen. Von der fehlenden Solidarität mit anderen Weltgegenden mal ganz abgesehen, die das Flüssiggas sehr gut gebrauchen, aber nicht ausreichend zahlen können.

Für Baden-Württembergs fehlgeleitete Klimapolitik stehen die Kurven, die Kretschmann neuerdings so gerne in die Kameras hält und die zeigen, wie wenig der Ausbau von Windkraft in der Vergangenheit vorangekommen ist. Sie sollen auch illustrieren, wie wenig Schuld seine Landesregierungen seit 2011 daran trage und wie viel der Bund mit seinen Ausschreibungsbedingungen. Der vom Grünen als hauptverantwortlich ins Visier genommene frühere Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) will die Kritik allerdings nicht auf sich sitzen lassen, er sieht vielmehr das Land ob der Zuständigkeit für die Genehmigungsverfahren in Mithaftung. So oder so ist es kurzsichtig, vor allem oder sogar allein auf Investoren zu setzen. Die wollen/müssen Geld verdienen.

1.000 Windräder bis 2026: völlig illusionär

Die EnBW, zu mehr als 99 Prozent in der Hand des Landes, des Zweckverbands Oberschwäbische Elektrizitätswerke und mehrerer kommunaler Kleinaktionäre, baut Windkraftanlagen auf der ganzen Welt, die größten offshore gerade in Großbritannien, onshore in der Türkei oder Schweden. Erhebliche Erwartungen werden mit den Ankündigungen einer Wind-Offensive durch die französische Regierung verbunden. Und fünf Räder sind in Weingarten nordöstlich von Karlsruhe geplant, ab 2024 könnten sie etwa 3.400 Haushalte versorgen. Sie wären dann wenigstens ein Teil jener hundert Anlagen jährlich, auf die sich Kretschmann neuerdings sogar im TV-Talk festlegen lässt. Der Koalitionsvertrag von 2021 hatte noch „bis zu tausend“ bis 2026 versprochen – eine inzwischen völlig illusionäre Zielmarke.

Windpark Stötten

Wenn Erneuerbare aber vor allem anderswo ausgebaut werden als zwischen Main und Bodensee, kommt den Netzen erst recht eine besondere Bedeutung zu. TransnetBW, die frühere EnBW Transportnetz AG, betreibt als eines der vier großen Unternehmen der Republik mit rund 1.200 Mitarbeiter:innen mehr als 3.000 Kilometern Hochspannungsleitungen in Baden-Württemberg. „Wir schaffen Verbindungen“, heißt es in einer der vielen Selbstbeschreibungen, „verstehen uns als Teil der Lösung für das Gelingen der Energiewende und bringen Energie von Nord nach Süd.“ Allein bis 2025 sollen zwölf Milliarden Euro investiert werden, darunter sechs Milliarden Euro in den Netzausbau.

Ein bundesweites Vorzeigeprojekt mit Schlüsselfunktion für die Energiewende sind die 700 Kilometer Erdkabel mit dem klingenden Namen „SuedLink“, deren Umsetzung TransnetBW mitverantwortet. Wenn Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) über die angeblich so ähnlichen Probleme der Südschiene bramarbasiert, lässt er wissentlich unter den Tisch fallen, wie weit die Planungsfortschritte dank der Strategie der EnBW und TransnetBW in Baden-Württemberg gediehen sind im Vergleich zu Bayern. „Seit 2014 wurden die Leitungen massiv bekämpft“, weiß Ludwig Hartmann, der Grünen-Fraktionschef im Maximilianeum. Söders Vorgänger Horst Seehofer bestritt vor Jahr und Tag sogar ganz schlicht deren Notwendigkeit.

Der Ausbau des Netzes ist den Grünen zu teuer

Über die Bedeutung des heimischen Netzbetreibers ist sich Baden-Württembergs Landesregierung jedenfalls im Klaren. Das Unternehmen trage wesentlich zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit, dem Voranbringen der Energiewende und der Bezahlbarkeit von Strom bei, antwortet Gisela Splett, grüne Staatssekretärin im Finanzministerium, dieser Tage auf eine parlamentarische Anfrage der SPD-Landtagsfraktion. Zum Ausbau des Übertragungsnetzes seien „voraussichtlich sehr signifikante Investitionen zu leisten“, und vor diesem Hintergrund könne „eine potenzielle Transaktion dazu beitragen, die Finanzierung zu gewährleisten“.

Quelle       :        KONTEXT-Wochenzeitung         >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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Als Leerer unter Lehrern

Erstellt von DL-Redaktion am 15. November 2022

Dr. phil. Robert Habeck als Lehrherr der Wirtschaft

Egal ob nun Hausmeister oder DR. phil. die Politik hat nie zwischen leeren Flaschen unterschieden. Der  Pfand-Wert  entscheidet bei Rückgabe nur zwischen Plastik oder Glas.  

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Der 2000 in Hamburg mit einer Arbeit über literarische Authentizität zum Dr. phil. promovierte Literat Robert Habeck maßt sich heute als Wirtschaftsminister an, der Wirtschaft vage Lehren zu erteilen, wie sie sich zu verhalten oder zu entwickeln habe. Seine Inkompetenz in Sachen Wirtschaft gipfelt in der Weisung, dass Unternehmen nicht nur nach China gehen sollten.

Diese triviale Aussage vor der Presse und vor seiner Abreise zur ASEAN-Konferenz in Singapur offenbart krass sein Unwissen in Wirtschaftsfragen und seine eigentlichen Aufgaben als Wirtschaftsminister, die ihm nur im Parteienproporz zugeschanzt wurden. Auch von China hat er offenbart keine blasse Ahnung.

Aufgabe der Wirtschaft ist es, ihre Geschäfte verantwortungsvoll zu planen und zu betreiben. Aufgabe eines Ministers ist es, für die ihm von den Betroffenen bekannten Vorhaben den Weg insbesondere im Ausland zu ebnen und zu begleiten, wenn nötig. Voraussetzung für eine sinnvolle Arbeit ist eine profunde Kenntnis der sozio-kulturellen Gegebenheiten des betroffenen Landes. Im Fall China verkennt der Minister aber unentschuldbar, warum die Wirtschaft nach Mao in China tätig sein wollte und das auch heute noch will oder gar muß. Wissen sollrte der Literat eigentlich auch, dass das Schießpulver in China erfunden wurde, ebenso wie Papier, Porzellan und die Bestimmung des Breitengrades in der Seefahrt und vieles mehr. Wissen sollte er auch, dass der weiße Westen das alles schamlos kopiert und als eigene Leistung angepriesen hat.

Nicht verwunderlich also, dass die deutsche Wirtschaft bei der Öffnung Chinas durch Deng Xiaoping ab Ende der 1970-er Jahre in den dortigen Markt drängte, um von der sprichwörtlichen Arbeitsdisziplin der Chinesen und deren Fleiß zu profitieren, vom Preis ganz zu schweigen. Auch die in China praktizierten Einschränkungen von Geschäften hat man akzeptiert. Deutschland unterhielt zwar mit China seit 1972 diplomatische Beziehungen, die Politik hat sich jedoch bei den Bemühungen der Wirtschat nicht eingemischt, und nur äußerst zufrieden applaudiert.

Der höchst inkompetenten Weisung des Literaten steht auch entgegen, dass die Wirtschaftsbeziehungen bis 2020 hervorragend funktioniert und alle davon profitiert haben, Hersteller wie Verbraucher hier und dort. Erst die unerwartete Corona-Pandemie hat die Geschäfte empfindlich gestört, und seit 2022 die menschengemachte Ukraine-Krise. In solchen Zeiten sollte man an sich zwischen Geschäftspartnern, die bislang erfolgreiche Geschäfte gemacht haben, darüber austauschen, wie man die Schwierigkeiten überwinden kann. In unserer arbeitsteiligen Wirtschaft ist der Erfolg stets von der Qualität der Beziehungen abhängig. Ein Rat eines Wirtschaftsministers, gute bis hervorragende Geschäftsbeziehungen für andere, ungewisse aufzugebe, ist blanker Unsinn. Eine solche Entscheidung liegt allein in der Verantwortung der Wirtschaft.

Das unqualifizierte Gebaren unseres Wirtschaftsministers, der als Literat forsch als Lehrherr der Wirtschaft auftreten will, schadet der Wirtschaft und wirft die generelle Frage nach der Qualifikation unserer Politiker für ihre Ämter auf. Mit Ausnahme des Gesundheitsministers und vielleicht des Kanzlers gibt es da viele Fragezeichen in der Ampelschaltung. Der Literat als Wirtschaftsminister ist aber für die Wirtschaft eher ein Klotz am Bein.

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Oben      —     Landesdelegiertenkonferenz von Bündnis90/Die Grünen NRW in Dortmund

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Gaskriese + Milliardenpaket

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Oktober 2022

Das falsches Signal an Europa

Das Vorspiel durch politische Ignoranten – Im Endspiel heute, sollen die Bürger-innen die Versäumnisse der Politiker selber tragen. Gleichwohl der Entscheider immer die Verantwortung hat. Aber die Politik war noch nie bereit eine Schuld auf sich zu nehmen.

Ein Debattenbeitrag von Andresen Rasmus und Anton Hofreiter

Der „Doppel Wumms“ ist nötig, darf aber nicht auf Deutschland beschränkt bleiben. Die Bundesregierung muss sich für eine europäische Lösung einsetzen.

Wir stecken jetzt schon knietief in der Krise – in Deutschland und im Rest von Europa. Und der Winter wird hart. Wie hart, weiß keiner so genau. Aber klar ist, aus Russland wird kein Gas mehr fließen. Und mit Importen aus anderen Staaten werden wir es nicht vollständig ersetzen können.

Für uns heißt das, dass wir massiv Gas einsparen müssen – bis zum Ende dieser Heizperiode mindestens 25 Prozent. Ein Kraftakt, den wir nur gemeinsam mit unseren europäischen Partnern schultern können.

Neueste Prognosen zeigen, dass die rückläufige wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland die gesamte Eurozone in die Rezession führen kann. Das provoziert neben weiteren Preissteigerungen auch große soziale Folgen für ganz Europa. Gleichzeitig sind die Preise bereits so stark gestiegen, dass Menschen und Unternehmen dringend Unterstützung benötigen.

Der „Doppelwumms“, wie es der Kanzler so schön ausgedrückt hat, ist daher absolut notwendig. Die Gaspreisbremse ist das richtige Mittel, um die exorbitanten Preisanstiege unter Kontrolle zu bringen und die Menschen mit ihren erschreckend hohen Energierechnungen zu entlasten. Motivation zum Gas- und Stromsparen bietet der Preisdeckel, weil er sich nur auf den Grundbedarf bezieht. Wer verschwenderisch verbraucht, zahlt deutlich mehr als Menschen, die zu fairen Preisen ihren Grundbedarf decken müssen.

Aber wo bleibt der Doppel Wumms für Europa? So wichtig und richtig die Entlastungspakete der Bundesregierung sind, mangelt es einigen in Berlin leider an der europäischen Perspektive. Noch schlimmer: In Brüssel blockierte die Bundesregierung sogar eine gemeinsame Preisdeckelung und gemeinsame Energieeinkäufe.

Als die Spitzen der Ampelregierung ihr 200 Milliarden Euro starkes Hilfspaket am Tag vor dem europäischen Energieministertreffen verkündeten, fielen die Reaktionen auf dem Rest des Kontinents heftig aus. Der Begriff „Germany first“ machte in Brüssel die Runde und die Re­gie­rungs­che­f*in­nen von Finnland, Estland und Polen haben durchaus einen Punkt, wenn sie der Bundesregierung vorwerfen, die europäischen Partner zu übergehen.

Berlin hat die europäischen Auswirkungen des Hilfspakets zu wenig bedacht. Viele Mitgliedstaaten der EU haben bislang Hilfen beschlossen, doch sie alle kommen nicht einmal in die Nähe – von Umfang und Größe – der deutschen 200 Milliarden. Andere europäische Nachbarn können sich Hilfspakete in dieser Größenordnung nicht leisten. Wäre wenigstens der Stabilitäts- und Wachstumspakt schon reformiert, hätten auch andere Länder mehr Spielraum. Die Bundesregierung sendet das falsche Signal an die engsten Verbündeten: Die größte Volkswirtschaft Europas nutzt ihre finanzielle Macht für Maßnahmen auf natio­naler Ebene, während sie notwendige europäische Lösungen verhindert. Die Blockade der Verstetigung des Europäischen Kurz­ar­bei­te­r*in­nen­gelds SURE und ein grüner Investitionsfonds durch das Bundesfinanzministerium sind die jüngsten Beispiele.

Gut gebrüllt Löwe und auf den Parteitag heute singen alle zusammen : „Wir verkaufen unsrer Oma ihr Klein-Häuschen und versaufen auch die erst, zweite … Hypothek.“

Über 50 Prozent der deutschen Exporte gehen in die EU. Es ist also in unserem ureigenen Interesse, auf europäische Lösungen zu setzen. Unsere Wirtschaft ist darauf angewiesen, dass auch bei den Nachbarn die Gaspreise bezahlbar bleiben und ausreichend Gas vorhanden ist. Denn wenn italienische Unternehmen pleitegehen, bekommen auch deutsche Unternehmen große Probleme.

Hinzu kommt, dass ökonomisch starke europäische Staaten wie Deutschland die Preise für Gas auch für die anderen in die Höhe treiben. Weil jedes Land für sich am Markt Gas einkauft, machen sich die Mitgliedstaaten gegenseitig die Preise kaputt – mit schwerwiegenden Folgen für Wirtschaft und Menschen in ganz Europa. Wenn wir den europäischen Binnenmarkt schützen wollen, müssen wir in der Europäischen Union gemeinsam und koordiniert vorgehen.

Angesichts all der milliardenschweren Hilfspakete müssen wir uns klarmachen: Die Zeiten billiger Energie sind vorbei. Einen „Doppel Wumms“ kann es nicht jedes Jahr geben und die Energiekosten werden in den kommenden fünf Jahren in Europa deutlich höher sein als in den USA oder in Asien. Um mit der Konkurrenz auf den anderen Kontinenten mithalten zu können, müssen sich europäische Unternehmen darauf einstellen.

Quelle        :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben      —     Церемония открытия газопровода «Северный поток».

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Petra Kelly verstarb 1992

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Oktober 2022

Petra Kelly, die fast Vergessene

Von Pascal Beucker

Dreiteilige Dokumentation auf Sky. Eine neue Doku arbeitet ihre Bedeutung für die Grünen und die Friedensbewegung gut heraus. Mit Einschränkungen.

Als sie starb, war ihr Stern bereits verglüht. Die Zeit war über Petra Kelly hinweggegangen, jener Frau, der die Grünen so viel zu verdanken haben, doch von der sie nichts mehr hatten wissen wollen. Ihr gewaltsames Ende vor 30 Jahren beförderte die außergewöhnliche Politaktivistin noch einmal in schockierender Weise in jene Schlagzeilen, aus denen sie längst verschwunden war. Nun widmet sich Sky in einer dreiteiligen Dokumentation ihrem Leben und Sterben.

Petra Kelly wäre im November 75 Jahre alt geworden. An die heute weitgehend Vergessene zu erinnern, ist verdienstvoll. Ihre Bedeutung für die Gründung und die Anfangserfolge der Grünen ist für jene, die sie nicht von Ende der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre selbst erlebt haben, heute kaum mehr zu erfassen. Geprägt von der Bürgerrechtsbewegung in den USA, war sie das weltweit bekannte Gesicht der Anti-Atom- und Friedensbewegung in der alten Bundesrepublik und der daraus maßgeblich entstandenen „Anti-Parteien-Partei“, wie Kelly die Grünen definierte.

Als „Popikone, aber durchseelt von Politik“, beschreibt sie ihre einstige Mitstreiterin Antje Vollmer. „Ohne Petra Kelly wären die Grünen nie über die Fünfprozenthürde gekommen.“ Der Einzug in den Bundestag 1983 mit 5,6 Prozent war der absolute Höhepunkt ihrer politischen Kar­riere. Danach ging es bergab.

„Politischer Aktivismus ist unglaublich anstrengend und kann auch zermürbend sein“, blickt Carla Reemtsma von Fridays for Future in der Dokumentation auf Kelly. Denn als Aktivistin sei man in einer Rolle, die so nicht vorgesehen ist. „Für die gibt es eigentlich keinen Platz, und man muss immer und immer wieder dafür kämpfen, gehört zu werden“, so Reemtsma. Sie beeindrucke an Kelly „vor allem die Entschlossenheit zu sagen, ich gebe jetzt hier nicht auf“.

Bra­chia­le Umgangsformen

Die Filmschnipsel von ihrer Rede auf der großen Friedensdemonstration im Oktober 1981 im Bonner Hofgarten geben einen Eindruck, mit welch unglaublicher Kraft und Energie die zierliche Kelly vor Hunderttausenden Menschen sprechen konnte. Doch im Bundestag wirkte sie verloren. „Wie ein kleines verlorenes Vögelchen“, formuliert es Marieluise Beck, die mit ihr und Otto Schily die erste Fraktionsspitze der Grünen bildete.

Getrieben von dem Vorsatz, die Welt zu retten, führte Kelly ein Leben auf der Überholspur, ohne Rücksicht auf sich und andere

Mit ihrer Vorstellung von Politik geriet Kelly, die sich keiner Parteiströmung zurechnete, zunehmend ins Abseits. Daran waren nicht nur die damals vorherrschenden bra­chia­len Umgangsformen in der Grünen-Fraktion verantwortlich, gegenüber denen die heutigen Auseinandersetzungen in der Linkspartei wie ein Kuraufenthalt erscheinen. Mit ihrer rigorosen Moral und ihren überbordenden Ansprüchen – ihre Reise- und Portokosten sprengten jedes Budget – nervte Kelly irgendwann nur noch. 1990 schied sie als Hinterbänklerin aus dem Parlament.

Getrieben von dem unbedingten Vorsatz, die Welt zu retten, führte Kelly ein Leben auf der Überholspur, ohne Rücksicht auf sich und andere. Dabei wollte sie nicht wahrhaben, dass sie irgendwann mit Höchstgeschwindigkeit in eine Sackgasse raste. „Petra war immer gehetzt“, erinnert sich Beck. „Das hält ein Mensch nicht gut durch.“

Der Versuch eines Comebacks geriet zum Desaster: Auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen 1991 in Neumünster scheiterte Kelly krachend mit ihrer Kandidatur als Bundessprecherin, wie damals noch die Vorsitzenden genannt wurden. Gerade einmal 32 von 650 gültigen Stimmen erhielt sie.

Unter Raubtieren – Genau das ist Politik – Sie war nie Anders

Die Grünen konnten mit Kelly nichts mehr anfangen. „Sie wurde nicht gut behandelt, wirklich nicht, von ihren Gegnern sowieso nicht, aber eben leider auch nicht von den Grünen“, konstatiert der Liedermacher Konstantin Wecker, der Kelly freundschaftlich verbunden war und auf ihrer Trauer­feier spielte.

Die Bandbreite der Ge­sprächs­part­ne­r:in­nen, deren in der Regel gut ausgewählte Zitate die Autorin Anna Grün mit historischen Aufnahmen und Spielszenen zusammenmontiert hat, ist eine Stärke der Doku. Zu Wort kommen nicht nur einstige Weggefährt:innen, sondern auch politische Kon­tra­hen­t:in­nen wie Theo Waigel, der sich äußerst wertschätzend über Kelly äußert.

Und der eine Wahrheit ausspricht, die heutige Grüne nicht unbedingt gern hören: „Ich glaube, sie wäre nicht bereit gewesen zu sagen, wir müssen jemanden auch mit Waffen helfen“, so der frühere CSU-Chef und Bundesfinanzminister. „Sie ist eine unbedingte Pazifistin gewesen, ohne Kompromisse.“

Unsinnige Spekulationen

Ergänzt werden die Aussagen der Zeit­zeu­g:­in­nen durch die heutiger politischer Prot­ago­nis­t:in­nen wie der Klimaaktivistin Reemtsma und der schleswig-holsteinischen Grünen-Ministerin Aminata Touré, die beide erst nach Kellys Tod geboren wurden, aber äußerst reflektiert auf das Leben und Wirken Kellys blicken. Es hätte also eine ganz hervorragende Dokumentation sein können.

Quelle         :         TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Joseph Beuys mit Petra Kelly. Fotografiert von Rainer Rappmann

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DER ROTE FADEN

Erstellt von DL-Redaktion am 7. September 2022

Baerbock und andere Ausrutscher: Egal, was die Le­ser-in­nen denken

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Silke Mertins

Vorausschauen ist eine Kunst, die klappt, wenn Selbstbild und Realität nicht zu weit auseinander klaffen. Das musste auch die Außenministerin lernen.

Die Minderjährige, die zu meiner Infektionsgemeinschaft gehört, findet mich zu wenig vorausschauend. Ich stelle hierzu fest: Es stimmt, denn zuweilen klaffen Selbstbild und Realität auf irritierende Weise auseinander. Jüngst etwa auf der griechischen Insel Korfu, als wir mit einem Boot zu den Höhlen und Buchten tuckerten, die nur vom Meer aus zugänglich sind.

Kaum war der Anker geworfen, schon hüpfte die taucherbebrillte Minderjährige ins Wasser. Ich hinterher, gierig nach der prächtigen Unterwasserwelt. Doch nachdem Meereshöhle und Bucht ausgiebig beschnorchelt wurden, stellte sich eine unangenehme Frage: Wie soll frau bloß zurück aufs Boot kommen?

Zum Glück entdeckten wir eine sehr schlichte Leiter zum ausklappen. Der untersten Stufe fehlte allerdings die kleine Holzplanke, hier war nur noch das nackte, rutschige Metallrohr vorhanden. Die Minderjährige schwang sich dennoch so behände aufs Boot wie Winnetou auf seinen Rappen Iltschi.

Ich dagegen, nun ja, es wurde so kafkaesk wie die Grundsatzrede von Bundeskanzler Olaf Scholz diese Woche in Prag. Es ergaben sich viele Fragen, aber keine Lösungen. Rutsch und platsch in endloser Folge, interessiert beobachtet von anderen Booten und begleitet vom unterdrückten Prusten der Minderjährigen sowie der Niederländerin, die zu unserer Reisegemeinschaft gehört.

Kurz kam der Gedanke auf, die paar Kilometer zurück zum Anleger zu schwimmen. Aber meine Begleiterinnen entschieden, es erst einmal mit schieben, ziehen und lautem „Hauruck“ zu versuchen. Trotzdem: rutsch und platsch. Den Durchbruch brachte schließlich und endlich ein Taucherschuh mit Antirutschsohle aus den Tiefen meiner Strandtasche. Mein Selbstbild ist, ähm, leicht beschädigt.

So etwas könnte Außenministerin Annalena Baerbock nie passieren. Sie sieht sich als eloquente Rednerin, die Politik herausragend erklären kann und Englisch mit nahezu muttersprachlicher Kompetenz beherrscht. Das erinnert zwar eigentlich an ein anderes Mitglied der Bundesregierung, aber egal, nichts würde Baerbock von ihrem Selbstbild abbringen.

Diese Woche also sprach sie auf dem Forum 2000 in Prag. Wohlwollend zusammengefasst sagte sie Folgendes: Gemäß ihrer Prinzipien steht sie in diesem Angriffskrieg felsenfest zur Ukraine und zu den Sanktionen gegen Russland. Putins Kalkül, Deutschland mit seinen Energiewaffen zu spalten, gehe nicht auf. Die sozialen Härten in der Energiekrise werde man abfedern statt die eigenen Prinzipien zu verraten und die Sanktionen abzuschaffen, um den Wäh­le­r*in­nen zu gefallen.

Sehr richtig und einer deutschen Außenministerin würdig. Doch es fiel auch dieser Satz: „Ich werde dieses Versprechen (die Ukraine zu unterstützen) einhalten. Egal, was meine deutschen Wähler denken.“ Sahra Wagenknecht (die Linke) und Alice Weidel (AfD) gerieten gleichermaßen in Wallung ob des Verrats am deutschen Volke. #Amtseid und #BaerbockRücktritt trendeten alsbald auf Twitter. Die grünen Scharfschützen brachten sich in Stellung und bis ins konservative Lager hinein wurden Pro-Baerbock-Tweets abgefeuert. Fake News! Desinformationskampagne!

Quelle        :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Ein Jahr Ampel-Wahl:

Erstellt von DL-Redaktion am 2. September 2022

Die Koalition als Kakophonie

Von Albrecht von Lucke

Vor bald einem Jahr, am 27. September 2021, wurde mit dem Ausgang der Bundestagswahl die Grundlage für die aktuelle Ampel-Koalition gelegt. Das Leitmotiv dieser überschießend bejubelten „Fortschrittskoalition“ war von Beginn an verblüffend schlicht: Man wollte durch Innovation und deutsche Ingenieurskunst in die ökologische Transformation hineinwachsen – ohne jeden Abstrich an Wohlstand, insbesondere auch ohne konsumptive Einsparungen der besser Situierten, so das Petitum der FDP.[1]

Doch nur fünf Monate später, mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar, war die vermeintliche Fortschrittsidee zur Makulatur geworden. Seither erleben wir in aller Brutalität unsere dreifache Abhängigkeit – militärisch („Wir sind blank“) von den Vereinigten Staaten, export- und handelspolitisch von China und energetisch von Russland. Die gesamte Transformationsstrategie der Ampel steht und fällt bis heute mit der Verfügbarkeit von billigem russischem Gas als Übergangsenergie – bis zum hinreichenden Ausbau der erneuerbaren „Freiheitsenergien“ (Christian Lindner). Mit seinem Gas-Stopp hat Putin die Koalition genau an ihrer Achillesferse getroffen, nämlich an der energetischen Geschäftsgrundlage des vermeintlichen Fortschrittsprojekts und, mehr noch, des gesamten Landes. Damit ist eine für die Bundesrepublik völlig neue Lage eingetreten.

Das ganze Fortschritts- und Wachstumsmodell der Bundesrepublik basierte auf einem gesicherten materiellen Sockel in Form günstiger Lebensmittel und hinreichend vorhandener Energie, geliefert ab Beginn der 1970er Jahre auch aus der Sowjetunion. Jetzt erleben wir erstmals das Gegenteil: Der für so selbstverständlich gehaltene materielle Sockel beginnt zu bröckeln – durch massive Energieknappheit bei gleichzeitig rapide steigender Inflation und galoppierenden Lebensmittelpreisen. Damit tritt das Materielle, nämlich die Versorgung mit Energie wie mit Waren des täglichen Bedarfs, in den Mittelpunkt staatlichen Handelns. Plötzlich zeigt sich, wie wichtig, ja existenziell die basalen Rohstoffe unvermindert sind – nämlich Kohle, Öl und Gas gegen die Kälte wie bezahlbares Getreide gegen den Hunger. Erstmals seit der postmaterialistischen Wende der 1970er und 80er Jahre kommt es statt auf Selbstverwirklichung wieder in erster Linie auf individuelle, aber auch gesellschaftliche Selbsterhaltung an.

Das, was noch vor einem Jahr die Geschäftsgrundlage der Koalition gewesen war, nämlich ein deutliches Wirtschaftswachstum, hat sich dagegen bis auf Weiteres erledigt. Stattdessen müssen wir uns auf eine Rezession und steigende Armut im Lande einstellen. Bis heute hat die rot-grün-gelbe Koalition keinerlei Antwort auf diese sich radikal verändernde Realität gefunden. Nach einem kurzen Honeymoon dominieren die Fliehkräfte der drei hochgradig divergierenden Parteien, präsentiert sich die Koalition nicht einstimmig, sondern als wüste Kakophonie. Dadurch ist – bei gleichzeitig wachsender Angst und Verunsicherung in der Bevölkerung – ein gewaltiges politisches Vakuum entstanden, in das zunehmend rechte Wutbürger mit ihren Aufrufen zu neuerlichen Montagsdemonstrationen stoßen.

„Die Stimmung in der Bevölkerung ist auf einem ganz sensiblen Punkt“, warnt inzwischen selbst Arbeitsminister Hubertus Heil. Die Bundesregierung werde deshalb jetzt „mehr tun“ müssen, um die Menschen zu entlasten, insbesondere die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen. Inzwischen ist in der Regierung sogar von möglichen „Volksaufständen“ (Annalena Baerbock) die Rede. Damit wandelt die Ampel-Koalition selbst auf einem sehr schmalen Grat, da derartige Warnungen schnell zu einer self-fulfilling prophecy werden können.

Mehr Solidarität wagen!

Gegen die wachsende Angst im Lande hilft letztlich nur die Aktivierung einer gesellschaftlichen Ressource, die in der Geschichte der Bundesrepublik ob der permanenten Wachstumslogik nie in hinreichendem Maße abgefragt wurde – nämlich die Solidarität. Bislang scheute die Politik, übrigens nicht zuletzt die SPD, wie der Teufel das Weihwasser die Vorstellung, den besser Situierten in diesem Land etwas abzuverlangen. Stattdessen sollte eine mögliche Umverteilung immer nur aus den Reichtumszuwächsen vonstatten gehen, als der Weg des geringsten Widerstandes.

Diese Politik ist mit dem Ende der Verfügbarkeit billiger Energie ihrerseits an ein Ende gekommen. Wenn der Wachstumsmotor nicht nur stottert, sondern auszufallen droht, wird Solidarität zur ersten und entscheidenden Pflicht. Worauf es heute ankommt, ist die gezielte, direkte Unterstützung der finanziell Schwachen bei gleichzeitiger Inanspruchnahme der finanziell Starken, die sich über die guten Jahrzehnte der Bundesrepublik ein sicheres Polster aufbauen konnten. Tatsächlich wären viele der Wohlhabenden angesichts der historischen – innen- wie außenpolitischen – Ausnahmesituation zu mehr Solidarität im Sinne eines Lastenausgleichs durchaus bereit. Die Koalition müsste „nur“ den Mut aufbringen, diese Solidarität tatsächlich auch abzurufen.

Eigentlich wäre das eine große Chance für eine wirklich sozialdemokratisch geprägte Regierung – wenn sich nicht Teile der Koalition, insbesondere die FDP, der neuen historischen Lage komplett verweigern würden. Anstatt die existenzielle Herausforderung ins Visier zu nehmen und Konsequenzen daraus zu ziehen, etwa den Abschied vom Fetisch der Schwarzen Null, setzt die Lindner-Partei ganz gezielt auf Klientelpolitik und auf die Profilierung als angebliche Sachwalterin der ökonomischen Vernunft.

File:Ampel Beschimpfung.svg

Als besonders fatal erweist sich hier Lindners Inflationsausgleichsgesetz. So richtig es grundsätzlich ist, in regelmäßigen Abständen ein Reformprojekt gegen die kalte Progression vorzulegen, so falsch wird dieses, wenn in der akuten Notzeit Lindners Gesetzesvorlage vor allem den Bessersituierten zugutekommt. Ebenso kontraproduktiv ist es, wenn pauschal eine erhebliche Gasumlage von allen Gaskunden verlangt wird – ungeachtet der Tatsache, dass nicht wenige dadurch völlig überfordert sind, weil sie schon jetzt über keinerlei finanzielle Rücklagen verfügen. Hinzu kommt, dass es sich in keiner Weise um persönliches Verschulden handelt, ob der eine Mieter mit Gas heizen oder kochen muss und dem anderen Öl oder Strom zur Verfügung stehen. Insofern wäre es weit gerechter gewesen, einen vermeintlich systemrelevanten Konzern wie Uniper mit Staatsmitteln zu retten, anstatt die Gaskunden dafür finanziell haften zu lassen.

Dass derartige Ungerechtigkeiten die Angst vor Überforderung und Überschuldung, aber auch die Wut im Lande wachsen lassen, kann letztlich nicht verwundern. Dagegen gilt es, die Versorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen zu garantieren, vor allem im Bereich der Energie, aber auch der Ernährung. Diese Solidarität von den Bessersituierten abzurufen, ist die zentrale Aufgabe der Koalition in dieser historischen Krisensituation.

Die Notwendigkeit des Verzichts

Quelle      :        Blätter-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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Baerbock ohne Amt Würde

Erstellt von DL-Redaktion am 2. September 2022

Baerbock, der Schicksalsschlag unserer Nation

Quelle      :      Ständige Publikumskonferenz der öffentlichen Medien e.V.

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Die personifizierte Unfähigkeit fährt alles in die Grütze, wofür das bessere Nachkriegs-Deutschland einmal stand

Frauenpower, erinnern Sie sich noch? Angela Merkel fand nichts dabei, Josef Ackermann, dem Chef der Deutschen Bank, im Kanzleramt eine Saus-und-Braus-Fete zum 60. Geburtstag auszurichten.[1] Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen fand, dass sie bei 300 Millionen Euro für Beraterverträge auch einen ihrer Söhne bedenken könne.[2] Die Olivgrüne Annalena Baerbock fand, ein Sonder-Honorar aus der Parteikasse brauche nicht in ihrer Einkommensteuererklärung aufzutauchen, und Nebeneinnahmen zu melden könne jeder mal vergessen.[3] Patricia Schlesinger fand, Promis aus Wirtschaft und Politik zu opulenten Fressabenden einzuladen und den Rundfunkbeitragszahler dafür blechen zu lassen, stehe einer RBB-Intendantin zu.[4] Der Tagesschau ist der Aspekt „korrupte Politik von Frauen“ bisher allerdings nicht aufgefallen. Die schnallt aber sowieso nie, was Sache ist.

Mag sein, man meint bei ARD-aktuell, Frauen seien per se vertrauenswürdiger, da brauche man nicht so genau hinzuschauen. Aber Frauen haben in der Weltgeschichte schon immer ihren Mann gestanden: Sie korrumpieren sich und ihre Ämter ebenso effektiv, der hochgeschätzten Alice Schwarzer sei’s geklagt. Kalenderblatt-Weisheit: In der repräsentativen Demokratie ist Korruption systemisch bedingt, die Weiße Weste gehört nicht zum Geschäftsanzug, auch wenn Frauen ihn tragen.

Merkel ist inzwischen politische Vergangenheit und soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Von der Leyen ebenfalls nicht, denn im Unterschied zu Baerbock hat sie einen Doktortitel (sie promovierte mit einer Plagiats-verdächtigen Dissertation von dünnen 65-Seiten [5] ) und spricht etwas besser Englisch. Baerbock hingegen

… we are thinking in old boxes“ [6]

(das peinliche Gestammel mag sich im O-Ton anhören, wer mit seiner Zeit nichts anzufangen weiß)

hat nur ein Master-Studium an der London-School of Economics (für Kinder begüterter Eltern) absolviert und macht den Eindruck, ihr Diplom aus einem Münz-Automaten auf dem Flughafen Heathrow gezogen zu haben. Ihr „… ich komm‘ eher aus‘m Völkerrecht“-Niveau [7] könnte uns egal sein, wäre sie nicht grade Deutschlands katastrophale Außenministerin, die alle ihre Vorgänger intellektuell weit unterbietet.

Aus dem Nähkästchen NDR

Gucken wir aber zunächst kurz ins eigene Nähkästchen, den NDR. Aus dem können wir plaudern, schließlich haben wir beide dort Jahrzehnte unseres Berufslebens verbracht. Wir kennen Patricia Schlesinger schon, seit sie eine karrieregeile Jungredakteurin der Fernseh-Programmdirektion in Hamburg-Lokstedt war und einen angetragenen Gewerkschaftsbeitritt brüsk abwies. Dass sich diese Kollegin im Dunstkreis des NDR mit dem Korruptionsvirus infiziert haben könnte, wunderte uns nicht. Der Sender war längst bekannt für Eigennutz und Machtmissbrauch einiger seiner Führungskräfte und Mitglieder der Aufsichtsgremien.

Wir erinnern uns, dass ein ehemaliger stellvertretender Intendant seiner Ehefrau einen hoch dotierten Schein-Arbeitsvertrag bei der NDR-Werbe-Tochter verschaffte, ohne dass sie dafür irgendetwas zu tun hatte.[8][9] Die Nummer bewirkte erhebliche Unruhe im Betrieb und führte schließlich zum nicht ganz freiwilligen Abgang des Mannes. Allerdings kam er beruflich gut versorgt bei seinen Parteifreunden unter: in der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Datei:Nähkästchen.jpg

Ein weiterer NDR-Intendant ließ sich zu seinem 60. Geburtstag mit pompösem Aufwand in der eigens dafür angemieteten Hamburger Musikhalle feiern und die Kosten des delikaten Events – mehr als 100 000 Euro – dem Gebührenzahler aufs Auge drücken, mit Einwilligung der Verwaltungsrats-Vorsitzenden.[10][11] Er schied ein halbes Jahr vor Vertragsablauf aus, bezog aber bis zum formellen Ende weiter sein volles Gehalt.[12] Derlei Schamlosigkeit hat Tradition im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, und die zur Kontrolle bestellten Gremienmitglieder stecken dabei nur allzu oft mit dem zu beaufsichtigenden Spitzenpersonal unter einer Decke.

Viel ist seit dem schmählichen Abgang der RBB-Intendantin Schlesinger nun von „Reformen“ die Rede, von „Schadensbegrenzung“, von „mehr Transparenz“ im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Aber wir werden es erleben: Schon zum Jahresende geht alles bei den Gebührensendern wieder im gewohnten Trott.

Der Treppenwitz: Übergangsweise hat WDR-Intendant Tom Buhrow von Schlesinger den ARD-Vorsitz übernommen und gibt jetzt den Saubermann. Ausgerechnet Buhrow, der sich vom Verwaltungsrat fürstliche 413 000 Euro Jahresgehalt anweisen lässt [13] – von Aufwandsentschädigungen, Spesenkonto und amtsbedingten Nebeneinnahmen gar nicht erst zu reden. Er weiß, wie man zwecks Erhalt der Freundschaft mit wichtigen Volksvertretern umgeht: Man schafft das nach Seriosität duftende Institut eines „Parlamentarischen Abends“ [14][15][16] , auf dem sich Landtagsabgeordnete, Rundfunkräte und ihre Entourage auf Kosten des Rundfunkbeitragszahlers gütlich tun. Danach werden den WDR betreffende Gesetze ganz bestimmt so formuliert, dass sie Buhrow und den Herrschenden ein Wohlgefallen sind.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist gegen jede revolutionäre Veränderung hin zum „Kontrollorgan des Volkes“ gefeit. Er muss bleiben, was er immer war: Herrschaftsinstrument der Regierenden, das die sich keinesfalls mehr aus der Hand nehmen lassen werden. Ob Männer oder Frauen am Ruder sind, bleibt sich dabei selbstverständlich gleich.

Ignoranz, die Wurzel allen politischen Übels

Doch zurück zur sogenannten „feministischen Politik“ (die ja nur eine feministische Personalpolitik ist nach dem Prinzip Quote statt Qualität): Annalena Baerbock! Sie bringt insofern Neues auf die Bühne, als sie vollkommen hemmungslos ihren Kenntnismangel, Blickverengung, Geschwätzigkeit, Geltungssucht und kriegslüsterne Aggressivität auslebt:

„Für mich ist klar: Die Ukraine verteidigt auch unsere Freiheit, unsere Friedensordnung und wir unterstützen sie finanziell und militärisch – und zwar so lange es nötig ist. Punkt.“ [17]

Auf einem Treffen der Nicht-Regierungsorganisation „Forum 2000“ am 31. August in Prag erklärte sie, sie stehe zur Ukraine:

„… egal, was meine deutschen Wähler denken … “ [18]

Dabei bleibe sie selbst dann,

„wenn die Menschen in großer Zahl wegen der hohen Energiekosten auf die Straße gehen.“ [19]

Kontext: Ist mir doch scheißegal, wie schlecht es den deutschen Bürgern geht. Das hätten die allerdings vor der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag wissen sollen / können.

Es wäre Baerbocks Amtes, auf Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland über einen Friedensschluss zu drängen sowie auf direkte eigene Gespräche mit der russischen Regierung hinzuarbeiten. Stattdessen setzt sie unverhohlen auf Waffenlieferungen an Kiew, auf Deutschlands Rolle als Kriegspartei gegen Russland und auf Verlängerung des Entsetzens in der Ukraine:

„Wir müssen uns darauf einstellen, dass dieser Krieg noch Jahre dauern könnte.“ [20]

Zu solch bösartiger Perspektivenwahl und sprachlicher Schwäche passt das typische Nachplappern einer Grünen Göre: „Die Ukraine verteidigt auch unsere Freiheit, unsere Friedensordnung“. Baerbock quasselt garantiert kenntnisfrei und ohne zu bedenken, über was: Über das mit Abstand korrupteste Staatsgebilde Europas, die Ukraine. Geführt von einer ersichtlich koksenden US-Marionette, einem schamlosen Neonazi-Förderer und Steuerhinterzieher mit millionenschweren Auslandskonten.[21] Die olivgrüne Camouflage dieses hemmungslosen Antidemokraten erspart uns die Tagesschau seit Monaten an kaum einem Tag. Die Ukraine ist ein „failed state“ am Tropf des Westens. Dem Selenskyj verboten Großbritannien und die USA im Mai weitere Friedensverhandlungen in der Türkei, um Russland in einem langwierigen Krieg „schwächen“ zu können. In beispielloser Verantwortungslosigkeit ließ sich die Marionette Selenskyj von den USA und der EU als machtgieriger Kriegsherr aufbauen, der seine Landsleute zu Zigtausenden als Kanonenfutter opfert. Im geostrategischen Interesse der USA. Sein Motto: Ihr liefert die Waffen, wir die Leichen.

Den US-Amis zu Diensten

„Feministische Außenpolitik“? Baerbocks Kriegskurs[22] ist nicht feministisch, schon gar nicht feminin (im Sinne von fraulich-mütterlich). Nicht ein einziges bewegendes Wort des Gedenkens und der Trauer hat Baerbock den ukrainischen und den russischen Kriegstoten gewidmet. Die Tagesschau verschweigt eh gewohnheitsmäßig, was sich auf dem „Schlachtfeld“ ereignet: Jeden Tag meldet das russische Verteidigungsministerium zwischen 200 und 500 „vernichtete“ ukrainische Soldaten.[23] Hunderte Tote, Tag um Tag, in einem Krieg, der zugunsten von Freiheit und Demokratie von jetzt auf gleich beendet sein könnte – wenn Washington, London und Berlin es nur wollten.

Seit Kriegsbeginn haben mehr als 50 000 Ukrainer ihr Leben verloren. Zehn Millionen Menschen sind geflohen. Sich darüber halbwegs gesichert und aus unterschiedlichen Quellen zu informieren, ist dem deutschen Zeitgenossen normalerweise verwehrt: Alle „Feindmedien“ unterliegen hierzulande der Zensur[24], die laut Grundgesetz aber gar nicht stattfindet und die es demnach auch nicht ausnahmsweise geben darf.[25] Doch Rechtsnihilismus ist neuerdings deutsche Staatsräson.

Dem bundesdeutschen Erzählerjournalismus andererseits geht es um Verdummung der Bürger, um das Einlullen der Sofabesatzung: Sie soll nicht merken, dass sie für die Fortsetzung eines längst verlorenen Krieges gemolken wird. Deshalb auch meint Baerbock, zum wiederholten Male vor „Kriegsmüdigkeit“ warnen zu müssen, vor dem Schreckgespenst des Friedens.[26]

Regierungs-Sprachrohr

Die Tagesschau widmet sich hingebungsvoll der Aufgabe, den Widerstand des Westens gegen Friedensverhandlungen und die fortgesetzten massenhaften Waffenlieferungen an Kiew als Politik zur Kriegsverkürzung auszugeben. Damit verlädt die Hauptabteilung ARD-aktuell ihr Publikum vollends:

„Waffenlieferungen jeder Art sind die wahrscheinlich beste Möglichkeit, den Krieg zu verkürzen, um die Balance klar in eine Richtung zu drehen.“ [27]

Das hat schon Baerbock‘sches Format.

Ach, was waren das noch dumm-glückliche Zeiten, als die TAZ (Hermann Gremliza: „Kinder-FAZ“) sich kaum einkriegen konnte vor Freude über die erste Frau im deutschen Außenamt:

„Wichtiger noch als eine Frau ist aber eine feministisch denkende Person. Dass wir das nun in einem haben – eine feministische, kompetente Person und dann auch noch eine Frau – das ist schon ein Glücksfall.“ [28]

Zu diesem Zeitpunkt wussten kompetente und überzeugende Feministinnen längst, was von einer Annalena Baerbock zu erwarten war. Alice Schwarzer im Frühjahr 2021:

„Aber setzt diese Frau überhaupt auf die Frauenkarte? Ist sie sich eigentlich dessen bewusst, dass sie zwar jetzt eine Frau an der Spitze ist, aber doch in einer weiterhin männerbeherrschten Welt? … Doch die F-Frage schien sie nicht zu verstehen oder nicht verstehen zu wollen. Sie plauderte kurz und munter über ihre eigene Familie und dass die immer wisse, wo sie, die Mutter, ‚hingehöre‘. Aber weiß Annalena Baerbock auch, wo sie politisch hingehört?“ [29]

Im Januar 2022 ließ Ministerin Annalena Baerbock die Leitlinien ihrer zukünftigen Arbeit skizzieren: im Kern eine menschenrechtsorientierte Klimapolitik und eine „feministische Außenpolitik“. Expertendefinition: Unter feministischer Außenpolitik sei die Militarisierung von Sicherheitsstrukturen aufzugeben und gegen die Überzeugung aufzutreten, dass „mehr Waffen gleich mehr Sicherheit bedeuten …“ [30]

Schon zwei Monate später galt das nicht mehr. Baerbock machte die Volte rückwärts und bewies mit überschäumendem Engagement für Waffenlieferungen an die Ukraine, dass ihr jegliche Grundsatztreue fehlt. Sie lebt seither mannhaft ihre Machtbefugnis aus. Dass sie sich noch zu Jahresbeginn gegen Waffenlieferungen in Krisengebiete ausgesprochen hatte, war vergessen.[31]

Im Zivilleben nennt man solche Leute auf Rheinisch „‘ne fiese Möpp“. Auf Alltagsdeutsch charakterlos.

Krankhafte Realitätsverweigerung

Statt grundgesetzkonform friedensbemühter Außenpolitik liefert Baerbock kriegerische und völkerrechtswidrige Sanktionsbeschlüsse vom Band, ganz im Sinne ihrer Washingtoner Vorturner:

„Wir treffen das System Putin dort, wo es getroffen werden muss, eben nicht nur wirtschaftlich und finanziell, sondern in seinem Machtkern“,

schwadronierte Baerbock und ließ ihrem Publikum damit die Wahl, ob es über soviel Unverstand lachen oder weinen sollte. Putin und Lawrow seien, behauptete Baerbock, verantwortlich dafür,

„dass das internationale System mit Füßen getreten wird. Und das nehmen wir als Europäerinnen und Europäer nicht hin.“ [32]

Mit diesem Dummgeschwätz aber nicht genug. Baerbock-Schnellsprech, ohne Punkt und Komma, am Rande des NATO-Sommergipfels in Madrid:

„ … wir wollten weiter mit Russland äh leben, es war nie Ziel der NATO in Konfrontation mit Russland zu gehen ganz im Gegenteil man hat ja im Rahmen der NATO gemeinsam mit Russland vor einiger Zeit, vor längerer Zeit, die NATO-Russland-Grundakte auch beschlossen das war genau das Instrument wie man in Frieden, in Vertrauen miteinander lebt aber dieses Vertrauen hat Russland im wahrsten Sinne des Wortes in die Luft gesprengt und jetzt gilt es gerade, diese Länder zu unterstützen, die in direkter Nachbarschaft an der Grenze zu Russland, äh, liegen, weil die sich fürchten, äh, wenn sie angegriffen werden wir machen hier deutlich wir stehen in voller Solidarität mit den baltischen Staaten, mit Finnland und Schweden und werden jeden Winkel unseres gemeinsamen Bündnisgebietes verteidigen wenn es denn so sein sollte aber wir tun alles, dass es dazu nicht kommt …“ [33]

An dieser Stelle des Interviews haben wir kapituliert. In Anlehnung an Karl Kraus gestehen wir der Baerbock zu: Man muss nicht nur keine Ahnung haben, wovon man eigentlich spricht, man muss es auch noch schlecht ausdrücken können. Dann kann man deutsche Außenministerin.

Endsieg-Besoffenheit

Hochmut kommt vor dem Fall, weiß der Volksmund. Die Sanktionen der USA und der EU in Verbindung mit deutscher Endsieg-Besoffenheit und dem Berliner Wohlwollen für Ukronazis treffen bekanntlich nicht die Russen, sondern schlagen auf die sanktionierenden Staaten zurück: Unerträgliche Preiserhöhungen, Konkurse, zunehmende Schwäche und Kostenexplosion bei der Energieversorgung, Reallohn- und Arbeitsplatzverluste. Schwächelnder Dollar und Euro, zerlegender Rubel. All das begleitet von machttrunkenen Normierungsappellen (Heizung abdrehen, Pullover anziehen, Waschlappen statt Dusche … Fehlt nur noch: Klopapier sparen, die Zeitung dafür vierteln – oder gleich Gras nehmen, wie früher der Soldat im Felde).

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/20/Civo.jpg

Das ist die Darbietung Grüner Dilettanten, deren Russenhass sie längst auch persönlich disqualifiziert: Baerbock (und gleich nach ihr Habeck) sind Versager, denen man zumindest Untreue, Amtsmissbrauch und letztlich Friedens- und Landesverrat vorwerfen kann. Und die trotzdem nicht im Traum daran denken, sich endlich vom Acker zu machen. Hinter Baerbocks öffentlicher Warnung vor Volksaufständen [34] steckt keine Spur von Bewusstsein ihrer Inkompetenz.

Es ficht sie nicht an, dass viele ihrer Mitbürger in objektiv begründeten Existenzängsten leben und sich an den schon leeren Tafeln immer noch lange Warteschlangen bilden. Ihr und ihren Grünen Ministerkollegen geht es ja prächtig, sie sind dicke versorgt, ihr Alltag bleibt von den Folgen ihrer Politik weitestgehend unberührt. Der Elitenforscher Michael Hartmann bündig:

„Die Eliten sind in ihrer großen Mehrheit inzwischen so weit von der breiten Bevölkerung entfernt, dass sie zunehmend Schwierigkeiten haben, deren Probleme zu erkennen und die Folgen ihrer Entscheidungen für die Bevölkerung zu verstehen.“ [35]

Das Einst und das Jetzt

Otto Graf Bismarck reiste 1859 als preußischer Gesandter nach St. Petersburg, lernte in kürzester Zeit Russisch und bezeichnete den Außenminister Fürst Gortschakow als seinen Lehrmeister in Diplomatie. Er warnte vor jedem Gedanken an Krieg gegen Russland:

„Selbst der günstigste Ausgang … würde niemals die Zersetzung der Hauptmacht Russlands zur Folge haben … (und Russland würde) nach einer Niederlage unser geborener und revanchebedürftiger Gegner bleiben.“ [36]

Noch auf seinem Sterbebett warnte Bismarck: „Niemals gegen Russland!“ Außenministerin Baerbock („… ich komm‘ ja mehr aus‘m Völkerrecht“) weiß aber auch von Bismarck wahrscheinlich nicht viel mehr, als dass er mit Nachnamen Hering hieß und von ihm der Rollmops kommt. So ist das eben, wenn eine Außenministerin aus unserer Geschichte nichts gelernt und von Diplomatie sowieso keinen Schimmer hat.

Borniertheit gedeiht auf grünem Nährboden bestens. Da verspricht sie reiche Ernte: Faschistoides Denken und Verhalten – deutsche Blockwartmentalität! – werden folglich bei uns abermals zur Normalität. Sie zeigen sich deutlich im neuerlichen Diskurs über Deutschlands Mitwirkung am Krieg gegen Russland. Oskar Lafontaine:

„Die Äußerung von Annalena Baerbock, wir sollten ‚Russland ruinieren‘, muss man schon faschistoid nennen.“ [37]

Stimmt.

Quellen und Anmerkungen:

[1] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/party-im-kanzleramt-ackermann-feierte-auf-staatskosten-a-644659.html

[2] https://www.zaronews.world/zaronews-presseberichte/profitiert-ursula-von-der-leyens-sohn-von-zugeschusterten-beratervertraegen-der-mutter/

[3] https://de.quora.com/Ist-die-Aussage-von-Annalena-Baebock-die-nicht-fristgemäße-Anzeige-von-Nebeneinkünften-beim-Bundestag-sei-lediglich-ein-blödes-Versäumnis-gewesen-glaubhaft?share=1

[4] https://www.businessinsider.de/wirtschaft/abendessen-auf-rbb-kosten-staatsanwaltschaft-interessiert-sich-fuer-belastende-aussagen-der-gaeste-von-patricia-schlesinger/

[5] https://www.welt.de/politik/deutschland/article153127144/Von-der-Leyen-darf-ihren-Doktor-behalten.html

[6] https://twitter.com/libra08101/status/1542265122332282880

[7] https://www.youtube.com/watch?v=nOMW8Kn4OLw

[8] https://www.focus.de/kultur/medien/plogs-problem-norddeutscher-rundfunk_id_1848591.html

[9] https://www.spiegel.de/kultur/stehlings-schwarze-stunde-a-5a6a188e-0002-0001-0000-000009199998

[10] https://www.welt.de/wams_print/article1522352/Fast-ein-Staatsakt-Ein-Sendefuerst-nimmt-Abschied.html

[11] https://www.ossietzky.net/laden/krieg-und-frieden-in-den-medien-ialana-hrsg/ (s.S. 231 ff)

[12] https://www.digitalfernsehen.de/news/medien-news/maerkte/ndr-intendant-jobst-plog-bekommt-nach-ausscheiden-weiter-gehalt-375398/

[13] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/785812/umfrage/jahresgehaelter-der-ard-intendanten-derlandesrundfunkanstalten/

[14] https://www.youtube.com/watch?v=HjfrnpfJhQE

[15] https://www1.wdr.de/unternehmen/der-wdr/unternehmen/parlamentarischer_abend-102.html

[16] https://www.wz.de/kultur/wdr-bewirtet-nrw-abgeordnete-vor-lesung-des-wdr-gesetzes_aid-26016769

[17] https://www.berliner-zeitung.de/news/annalena-baerbock-unterstuetzen-die-ukraine-so-lange-es-noetig-ist-li.261034

[18] https://www.infowars.com/posts/german-foreign-minister-says-support-for-ukraine-will-continue-no-matter-what-voters-think/

[19] https://ussanews.com/2022/09/01/german-foreign-minister-says-support-for-ukraine-will-continue-no-matter-what-voters-think/

[20] https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-52933.html

[21] https://www.welt.de/kultur/plus240130237/Selenskyj-Offshore-Konten-und-Wagnergate-geheime-Geschaefte-des-Praesidenten.html

[22] https://lostineu.eu/baerbock-wuenscht-russland-ein-strategisches-scheitern/

[23] https://eng.mil.ru/en/news_page/country.htm

[24] https://www.wsws.org/de/articles/2022/03/04/cens-m04.html

[25] https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_5.html

[26] https://www.rnd.de/politik/akw-saporischschja-lage-angespannt-berichte-ueber-folter-des-akw-personals-baerbock-warnt-vor-VYRGGJCMPGN3LQJGYCD5KP537U.html

[27] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-russland-sechs-monate-krieg-101.html

[28] https://taz.de/Feministische-Aussenpolitik/!5822730/

[29] https://www.emma.de/artikel/die-kandidatin-und-der-feminismus-338553

[30]  https://www.boell.de/en/2019/01/30/feminist-foreign-policy-imperative-more-secure-and-just-world

[31]  https://www.n-tv.de/politik/Baerbock-verweigert-Waffen-fuer-die-Ukraine-article23064810.html

[32] https://www.rnd.de/politik/ukraine-krieg-baerbock-ueber-sanktionen-das-wird-russland-ruinieren-RZDYS2DEPRK5OST7ZGGRZ6UN4I.html

[33] https://www.welt.de/politik/ausland/video239630381/Nato-Gipfel-Aussenministerin-Baerbock-erklaert-wie-die-Nato-der-Ukraine-hilft.html

[34] https://www.nachdenkseiten.de/?p=86150

[35] https://hpd.de/artikel/abgehobenheit-eliten-soziologischer-sicht-15899

[36] https://de.rbth.com/kultur/2015/04/03/otto_von_bismarcks_russische_spuren_33309

[37] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/oskar-lafontaine-deutschland-handelt-im-ukraine-krieg-als-vasall-der-usa-li.261471

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

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Grafikquellen          :

Oben     —     Premierminister Denys Shmyhal traf sich am 7. Februar 2022 mit der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock.

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StaMi-Akten zu Stuttgart 21

Erstellt von DL-Redaktion am 30. August 2022

Anleitungen für die Zeugen

Wollte er den Bahnhof in das Rathaus holen? 

Von Johanna Henkel-Waidhofer

Stefan Mappus hat ausweislich neu eingesehener Akten seine Rolle beim „Schwarzen Donnerstag“ heruntergespielt, als er Ende 2010 vor dem Untersuchungsausschuss aussagte. Aber nicht nur der frühere CDU-Ministerpräsident Baden-Württembergs versuchte, die Wahrheit zu verschleiern.

Plausibel war die Lesart nie, wonach ausgerechnet der robuste Regierungschef, dem der eigene FDP-Justizminister Ulrich Goll den Spitznamen „Mappi-Schnappi, das Krokodil“ verpasst hatte, am 29. September 2010 lammfromm am Tisch in der Villa Reitzenstein gesessen hätte, um der Polizeiführung zu lauschen. Die Situation war angespannt: Durch den immer stärkeren Protest gegen Stuttgart 21 fühlte sich der CDU-Ministerpräsident unter Druck, Stefan Mappus sah sich von den Projektgegnern mit dem „Fehde-Handschuh“ konfrontiert und wollte unbedingt die Wahl im kommenden März gewinnen. Nun mussten die Baumfällarbeiten im Stuttgarter Schlossgarten zur Einrichtung der Megabaustelle beginnen, doch der ursprüngliche Termin um 15 Uhr am 30. September 2010 war durchgestochen worden, die Gegner alarmiert. Um sich informieren zu lassen, „wie man mit dieser Situation umzugehen gedenke, habe ich die zuständigen Ressorts – das Innenministerium für die Polizei, das Umwelt- und Verkehrsministerium als verantwortliches Ministerium für Stuttgart 21 – zu einer Informationsbesprechung in das Staatsministerium eingeladen“, sagt Mappus in seiner Zeugenaussage im Landtag am 22. Dezember 2010. Und weiter: Er habe sich bewusst zurückgehalten und abschließend „nur gefragt, was denn jetzt gemacht wird“.

Nur gefragt? Der parlamentarische Untersuchungsausschuss zum brutalen, völlig aus dem Ruder gelaufenen Polizeieinsatz sollte auch der Frage nachgehen, ob es stattdessen Versuche politischer Einflussnahme auf die Polizeiführung gab. Mappus hatte viele Gründe anzunehmen, dass seine vor dem Ausschuss präsentierte Version halten würde. SPD und Grüne, damals beide in der Opposition, wollten den Ministerpräsidenten gleich zum Auftakt der öffentlichen Vernehmungen Anfang November hören, die Regierungsparteien CDU und FDP setzten mit ihrer Stimmenmehrheit im Ausschuss allerdings durch, dass er erst als letzter in der achten Sitzung an die Reihe kam. Und in die ging er bestens präpariert durch seine Beamten im Staatsministerium (Siehe dazu in dieser Ausgabe auch „Gott sei Dank, Herr Pope“) und durch die Regierungsbeauftragten, die per Gesetz die Ausschussarbeit mitverfolgten, ihn aber regelmäßig mit immer neuen Vermerken und Notizen aus anderen Zeugeneinvernahmen fütterten.

„Die vorgeschlagenen Aussagen sind eine Anregung“

„Drehbücher à la Hollywood“ seien es, die die Beamten erstellten, so der ehemalige Richter Dieter Reicherter, dem vor kurzem Einsicht in die entsprechenden Dokumente des Staatsministeriums gewährt wurde (Kontext berichtete). Das Ziel der Autoren: Dem Chef klarzumachen, dass er seinen Part bei jenem Treffen mit der Polizeiführung harmloser beschreiben kann, als er war. Darunter dieser inzwischen mehrfach zitierte, fett gedruckte „Hinweis für MP“: „Ihr in der Sitzung gemachtes Angebot, ggf. selbst mit verschiedenen MP’s zu sprechen, um zusätzliche Kräfte aus anderen Ländern zu gewinnen, wurde bislang von keinem Zeugen der Besprechung thematisiert“ (hier das ganze Dokument, Zitat auf S. 8/000034). Das beweist, dass Mappus vor den Abgeordneten eben nicht alles sagte, was er wusste. Zugleich heißt es in den Dokumenten mehrfach: „Die vorgeschlagenen Aussagen sind lediglich eine Anregung. Sie spiegeln den Eindruck der bisherigen Zeugenaussagen wider. Entscheidend für eine wahrheitsgemäße Aussage sind ausschließlich Ihre eigenen Erinnerungen.“ Diese jedenfalls nicht zur Gänze zu bemühen, war Mappus geschmeidig genug.

Drehbücher finden sich in den Akten nicht nur für Mappus. Vom damaligen Stuttgarter Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf, gleich zweimal geladen, wird eine Aussage erhofft zur Bestätigung der Leseart, es habe keine politische Einflussnahme gegeben, so eine auf den 28. Oktober datierte Notiz: „Taktisch wäre es in unserem Sinn, wenn PP Stumpf nach Bekanntwerden des ursprünglichen Einsatzbeginns (um die Mittagszeit) bereits im PP Maßnahmen ergriffen hätte, um den Einsatz auf 10.00 Uhr vorzuziehen. (…) Dann wäre klar, dass PP Stumpf seine Linie von Anfang bis Ende durchgehalten hat“ (hier das ganze Dokument, Zitat auf S. 3/000128). Und in einer auf den 13. November datierten Notiz werden Vorschläge für die bevorstehende Vernehmung von Stumpf noch einmal konkretisiert: „PP könnte ggf. kritische Punkte, die aus den Akten (…) sowieso erkennbar sind, selbst ansprechen, um eine defensive Lage von vornherein zu vermeiden. Bsp.: „Ich hatte mich bereits vor dem Gespräch im Staatsministerium auf einen Einsatzzeitpunkt um 10.00 Uhr festgelegt (…)“ (hier das ganze Dokument, Zitat auf S. 1/000112). In seiner Aussage erinnerte sich Stumpf dann entsprechend.

Zeugen in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen werden vor ihrer Aussage belehrt, dass sie die Wahrheit sagen müssen und nichts Erhebliches weglassen dürfen. Und dass auch eine uneidliche Falschaussage strafrechtlich relevant sein kann. Der Kurzzeit-Regierungschef für 13 Monate hätte gute Chancen gehabt, belangt zu werden, wäre seine deutlich aktivere Rolle – besagter Rundruf bei Kollegen in der Republik, um die Notlage zu beschreiben und Polizeikräfte zu erbitten – bei der Besprechung mit der Polizei publik geworden. Schon im Spätsommer 2012 werden im Staatsministerium die Sicherheitskopien von Mails von Mappus entdeckt. Doch dann kämpft er vor Gericht – schlussendlich erfolgreich – um die Löschung. Und fünf Jahre nach der Aussage ist die Sache verjährt.

Der grüne Amtschef und die Mappus-Anwälte

Hier scheint auch nur der Hintergrund Grün und er Orden Braun?

Die Akten, die Dieter Reicherter und der frühere Bruchsaler Grünen-Stadtrat und Transparenz-Spezialist Gert Meisel nach dem Umweltinformationsgesetz (UIG) vor bald zehn Jahren erstmals einzusehen begehrten, sind aber weiter vorhanden. Jedenfalls zeigt eine Mail vom November 2012 an jenen Beamten, der federführend war für die Vorbereitung von Mappus‘ Aussage am 22. Dezember, dass das inzwischen grüngeführte Staatsministerium von dem umfangreichen Material in der Registratur Kenntnis hatte. Im April 2013 wird dem Amtschef Klaus-Peter Murawski sogar vorgeschlagen, mit Mappus‘ Anwälten über Bande zu spielen: Ihnen soll das Einsichtsgesuch gerade mit Blick auf das noch offene Löschungsverfahren in der Erwartung vorgelegt werden, „dass die Anwälte die Herausgabe ablehnen werden“. Auf diese Weise werde „die Position des StM im Verwaltungs- und möglicherweise anschließenden Verwaltungsgerichtsverfahren nochmals stärker abgesichert“. Dabei war damals Reicherter und anderen schon längst bekannt, dass als intern eingestufte Unterlagen rund um den Untersuchungsausschuss aus Mappus´ Regierungszentrale auch an die CDU-Landtagsfraktion weitergeleitet worden waren.

Quelle        :         KONTEXT-Wochenzeitung-online       >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben      —     Stefan Mappus spricht auf dem Bundesparteitag der CDU in Karlsruhe

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Unten      —     Klaus-Peter Murawski (rechts) und Winfried Kretschmann, 2021

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Unser-e neue-n Braunbär-in

Erstellt von DL-Redaktion am 29. August 2022

Wenn ein Bär einen Bock nach dem anderen schießt

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Ein Schuss ins Ofenrohr sei einer Außenministerin zugestanden, die bei ihrem Amtsantritt keine Ahnung davon haben konnte, wie sich die Krisen in der Welt entwickeln würden.

Kritisch wird es aber, wenn unsere Außenministerin entgegen ihren bisherigen Gebahren und Überzeugungen Dinge tut und Aussagen macht, die unserem Staat schaden. So hat sie einen kapitalen Bock damit geschossen, dass sie in der überaus brisanten Taiwan-Krise den USA ihre volle Solidarität zugesagt hat und sich somit klar auf die Seite des Kriegstreibers stellt. Damit zeigt sie, dass sie in der Taiwan-Frage keine Ahnung hat. Und das scheint sich in ihrer ganzen Haltung gegenüber China fortzusetzen.

So z.B. die Ein-China-Politik, die zu den Grundpfeilern von Außenpolitik gehört, inklusive USA. Danach ist die seit 1949 selbst verwaltete Insel Taiwan völkerrechtlich eine Provinz von China und hat sich bis heute auch nicht als unabhängiger Staat erklärt und wird als solcher weder von den USA noch von Deutschland anerkannt. Vergleichbar ist die Lage etwa mit einer Bürgerkriegssituation in Deutschland, wobei sich die Verlierer auf die Insel Fehmarn zurückziehen, während die Sieger sich im Restdeutschland ausbreiten.

Nicht verwunderlich also, dass Peking alle Dinge betreffend Festlandchina und die vorgelagerte Insel Taiwan als innere Angelegenheit Chinas betrachten und als solche respektiert sehen will. Aber nein, der Bär schießt mit ungewöhnlich harter und lauter Stimme den nächsten Bock. Sie warnt China vor einem Überfall auf Taiwan mit der dummdreisten Aussage: „Wir akzeptieren nicht, wenn das internationale Recht gebrochen wird und ein größerer Nachbar völkerrechtswidrig seinen kleinen Nachbarn überfällt – und das gilt natürlich auch für China, gerade in diesen Tagen.“.

In welcher Welt lebt diese Frau? Ist sie wirklich so naiv, zu glauben, dass sie ihrer Warnung Taten folgen lassen kann? Ist ihr wirklich nicht bewusst, dass eine nachhaltige Störung der Beziehungen zu China zum Bankrott unserer Wirtschaft führt? Und prompt kommt auch die Rüge aus Peking, sie habe sich in innere Angelegenheiten eingemischt und Sachverhalte absichtlich verzerrt. Zutreffend und souverän mahnt China: „Deutschland und die europäischen Länder sollten abwägen, ob sie „die gefährlichen und provokativen Aktionen der USA“ weiterhin unterstützen und damit internationale Konfrontationen riskieren wollen“.

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Da braucht der Bär ganz offensichtlich noch viele Nachhilfestunden in Sachen Diplomatie, Geschichte und Respekt vor anderen Völkern und Kulturen. Und vor allem muss das Buckeln vor den USA mit deren internationaler regelbasierter Ordnung ein Ende haben. Oder hat der Bär in seiner Tollpatschigkeit immer noch nicht verstanden, dass diese Ordnung ein reines Machtspiel der USA ist, von der sich mehr und mehr Länder distanzieren.

Mit jedem Kotau vor den USA schießt der Bär einen neuen Bock und mutiert zu einem Fördere der America-First-Ideologie. Damit aber fügt unsere Aussenministerin dem eigenen Land und Europa langfristig großen Schaden zu, von den kurzfristigen Peinlichkeiten ganz zu schweigen. Vielleicht sollte der Bär einmal die Wirtschaft und das Volk fragen, ob die sich in einen Krieg der USA gegen China hineinziehen lassen wollen. Oder ganz einfach abdanken.

Urheberrecht
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Grafikquellen       :

Oben      —   auf dem Grouse Mountain in Vancouver BC… die Grizzlies (Ursus arctos horribillis). Vor 4 Jahren waren sie Jungtiere… aber nicht jetzt!!! …

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Neue Grüne Handelspolitik

Erstellt von DL-Redaktion am 10. August 2022

Das Ende der globalen Solidarität?

von Sven Hilbig

Anfang Juni konnte die re:publica, die alljährliche Konferenz zu Netzkultur und -politik in Berlin, mit hohem Besuch aufwarten: Erstmals sprach ein Bundeskanzler auf der Konferenz. Und nur wenige Stunden vor Olaf Scholz‘ Auftritt hielt auf gleicher Bühne der Minister für Digitales, Volker Wissing, seine erste programmatische Rede zur Digitalpolitik. Beide betonten die Freiheit im Netz, die es zu schützen gelte, sowie die zunehmende Gefahr des Missbrauchs durch China, Russland und andere autoritäre Staaten. Auch auf der re:publica war die „Zeitenwende“ also allgegenwärtig.

Programmatisch überraschend war das dennoch nicht: Bereits zu Jahresbeginn hatte die Bundesregierung ihr Programm zur deutschen G 7-Präsidentschaft vorgestellt. Dieses betont die Bedeutung demokratischer Prinzipien und universeller Menschenrechte im digitalen Raum. Ziel der Ampelkoalition sei es, sich bei der Festlegung von Standards und Normen stärker im Rahmen der G 7 zu koordinieren und eine globale digitale Ordnung zu entwickeln.

Doch wer den Anspruch erhebt, eine globale Ordnung für die digitale Sphäre zu entwickeln, sollte jenseits der Belange der G 7 auch die Probleme adressieren, die für die Mehrheit der Weltbevölkerung besonders relevant sind: die digitale Kluft, die Macht der Oligopole sowie die umfassende Ausspähung ihrer Kund*innen (Data-Mining).

3,6 Milliarden Menschen verfügen über keinen Internetanschluss, von denen die meisten in Entwicklungs- und Schwellenländern leben. Zugleich hat die Konzentration von Daten, Macht und Profit bei wenigen Digitalkonzernen – zuletzt aufgrund des pandemiebedingten Digitalisierungsschubs – immer weiter zugenommen. Über die Hälfte der Marktanteile der Plattform-Ökonomie entfallen auf die Big Five des Silicon Valley: Google (Alphabet), Amazon, Facebook (Meta Platforms), Apple und Microsoft. Unternehmen aus Afrika und Lateinamerika kommen zusammen auf weniger als zwei Prozent. Gleichzeitig leidet weltweit keine Region so stark unter Data-Mining, fehlendem Rechtsschutz und digitaler Ausbeutung wie der Globale Süden. Nur knapp die Hälfte der afrikanischen Staaten verfügt über ein Datenschutzgesetz. Beim Verbraucherschutz und der Cybersicherheit bestehen ebenfalls erhebliche rechtliche Defizite[1] – ganz zu schweigen von wettbewerbsrechtlichen Regeln zur Verbesserung der wirtschaftlichen Teilhabe an der Daten-Ökonomie.

Wenn der Bundeskanzler in seiner Rede auf der re:publica also fordert, Europa müsse bei der Digitalisierung souveräner und damit unabhängiger vom Silicon Valley werden, dann blieb dabei offen, was dies für den Globalen Süden bedeutet: Haben nicht auch die Menschen in Indien, Uganda und Ecuador ein Anrecht auf digitale Souveränität? Und entscheiden nun sieben Regierungen darüber, welche Standards und Normen als Grundlage einer globalen Ordnung dienen? Doch damit nicht genug. Denn Scholz‘ Top-down-Ansatz bei der Digitalsierung steht geradezu exemplarisch für die grundsätzlichen handelspolitischen Ziele der Ampelkoalition, die globale Solidarität weitgehend vermissen lassen.

»Europa First« – auch in der Handelspolitik

Nur wenige Wochen vor der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO), die vom 12. bis 17. Juni 2022 in Genf stattfand, präsentierten Wirtschaftsminister Robert Habeck und die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katharina Dröge, in der „tageszeitung“ ihre Vorstellungen über die Neugestaltung der europäischen Handelsagenda. Profit soll demnach nicht länger der bestimmende Faktor dafür sein, welche Waren von A nach B transportiert werden. Stattdessen sollen künftig Nachhaltigkeit und Fairness die Fahrtrichtung vorgeben. Europa müsse aus den strukturellen Fehlern der Vergangenheit lernen, so die Forderung, und sich bei Handelsabkommen für mehr Transparenz und die Partizipation der europäischen Zivilgesellschaft und des Europaparlaments sowie für eine grundlegende Reform des Investitionsschutzsystems (ISDS) einsetzen.

Die kurz darauf veröffentlichte „Handelsagenda der Ampelkoalition“ deckt sich weitgehend mit den Vorstellungen der Grünen. Damit ist ihre Kritik am Freihandel erfreulicherweise zur offiziellen Politik der Bundesregierung geronnen. Doch die Vorschläge der Grünen bereiten zugleich einiges Unbehagen. Denn interessant ist nicht nur, was gesagt wird, sondern auch, was nicht gesagt wird – mit anderen Worten: welche Interessen adressiert werden und welche nicht.

Denn während in der vorgestellten Handelsagenda viel von Deutschland und Europa die Rede ist, finden die Anliegen der Gesellschaften des Globalen Südens abermals keine Beachtung; Entwicklungsländer werden nur zweimal erwähnt. Aber globale Handelsregeln, die deren Interessen nicht respektieren, können nicht fair sein. Kurzum: Das Papier passt gut in den gegenwärtigen Zeitgeist: „Europa First!“

Wir wollen unsere Atompilze wiederhaben ! Welche politische Aussagen wurden von der Politik nicht gebrochen ?

Ebendiese Form der EU-Handelspolitik steht seit langem in der Kritik. Bemängelt werden sowohl das Agieren der EU bei WTO-Verhandlungen als auch die Ausgestaltung der bilateralen Abkommen. Gerade diese Abkommen führen dazu, dass in Afrika, Südamerika und Südostasien regelmäßig einheimische Produzent*innen, vom kleinbäuerlichen Familienbetrieb bis zum mittelständischen Unternehmen, verdrängt werden. Die Folgen sind der Verlust von Arbeitsplätzen und damit Armut und Hunger.

Die WTO erlaubt der EU auch weiterhin, mit Milliarden Euro ihre Landwirtschaft zu subventionieren. Zugleich wird Indien nur in Ausnahmefällen das Recht eingeräumt, von Bäuer*innen Weizen aufzukaufen, um ihn in Armutsprogrammen zu verteilen. Die asymmetrischen Machtpositionen erlauben es der EU somit, Verträge zum Nachteil der Ökonomien der Entwicklungsländer durchzusetzen. In einem multilateralen Handelssystem, in dem Entscheidungen einstimmig fallen müssen, könnten die Entwicklungsländer ihre Interessen hingegen weitaus besser vertreten, da sie eine gemeinsame Verhandlungsmacht aufbauen könnten.

Tatsächlich fordert Wirtschaftsminister Habeck von der EU ein noch „mutigeres“, zur Not auch unilaterales Voranschreiten in der Handelspolitik, vorzugsweise im transatlantischen Bündnis. Dieser Ansatz ist nicht neu. Bereits die am Ende gescheiterten Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) sollten den USA und der EU als Blaupause für die Handelspolitik des 21. Jahrhunderts dienen. Originär an Habecks Vorschlag ist lediglich, dass sich die Grünen ihn zu eigen machen. Der Versuch, außerhalb der WTO globale Standards zu setzen, hat dabei eine geopolitische Stoßrichtung: gegen China.

Quelle        :         Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben      —     Wahlkampfhöhepunkt Düsseldorf, 2021.09.24

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Politiker-Innen reden viel

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Juli 2022

»Das hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun«

Eine Karriere endet eher nicht an der Intelligenz !

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Familienrecht: – Die Familienministerin will das Recht der Abstammung ändern und bemüht dafür ein großes Wort. Was es bedeutet, weiß man nicht genau. Egal: Macht entfaltet es ja doch.

Worte

Eine deutsche Bundesministerin hat, Presseberichten zufolge, in der vergangenen Woche gesagt: »Das hat mit Gerechtigkeit (…) nichts zu tun.« Auf was sich dies bezog, erkläre ich später. Angeblich sagen ja wichtige Personen ständig irgendetwas, und stets steht ein mithörendes Investigativteam oder ein Mikrofon bereit, um erstens das Sagen als solches und zweitens das jeweils Gesagte zu vernehmen und entweder der Welt alsbald mitzuteilen (zum Beispiel von Bundesministern absichtlich Gesagtes) oder auch nicht (zum Beispiel von amerikanischen Präsidenten irrtümlich Gesagtes). So erfährt der Bürger, was man gesagt hat, nicht gesagt hat, aber hätte sagen können, und lernt ganz nebenbei, was man sagen soll. In den meisten Staaten sind viele große Behörden damit beschäftigt sich auszudenken, was die Herrschaften heute oder morgen wohl einmal sagen könnten. Auch hier wird durch Diversifikation alles schwieriger.

In der DDR sagte einem die »Aktuelle Kamera«, was der Staatsratsvorsitzende, Vorsitzende des Verteidigungsrats und Erste Sekretär heute angeblich gesagt habe, und alle anderen schwiegen. Heutzutage, da 1000 Kanäle gleichzeitig sagen, wie spät es gerade ist und dass es demnächst noch später sein wird, ist das Sagen vielfach zur Hauptbeschäftigung strategisch geplanter Parteikarrieren geworden.

Besonders gern wird gesagt, es sei dies oder jenes – gern auch sein Gegenteil – unerträglich, bedrückend, selbstverständlich, überraschend, erwartet oder auch einfach nur so, wie es ist: Der Umweltminister sagte, die Ernte sei schlecht. Eine Sprecherin sagte am Rande, sie sei darüber fassungslos, habe es aber erwartet. Die Vorsitzende eines Ausschusses sagte, Putin führe einen Angriffskrieg. Der Wirtschaftsminister sagte, er rechne mit dem Schlimmsten, der Gesundheitsminister, jeder Tote sei einer zu viel, und die Außenministerin, man solle den Klimawandel nicht unterschätzen.

Dabei ist, man muss es anerkennen, die Mitteilung, man rechne mit dem Schlimmsten, medientechnisch unschlagbar, auch und vor allem für einen Nacherben des Energieministers Ludwig Erhard, Erfinder der konzertierten Aktion, Träger der goldenen Zigarrenspitze. Der staatskonzertierte Plan-Kapitalismus kann nicht schöner illustriert werden als durch das sorgenzerfurchte Antlitz des Kriegsliberalismus: Sylt-fern, aufgekrempelt, flexibel, stabil über 18 Prozent. Der Farbenexperte sagte, Blau plus Gelb sei Grün. Aber Vorsicht: Nicht, dass da etwas falsch verstanden wird! Wir wollen selbstverständlich nichts mit irgendetwas vergleichen!

Gerechtigkeit

Nun zurück zur Ministerin und zur Gerechtigkeit: Auf was sich das »Das« in ihrem oben zitierten Satz bezog, ist zunächst egal: Am Anfang steht die argumentative Struktur. Es kommt halt darauf an. Manche finden es ungerecht, dass mittelmäßige Berufssportler mehr verdienen als schlechte. Andere verzweifeln daran, dass Herr Lewandowski fünf Millionen Wechselprämie bekommt, obwohl die alleinerziehende Mutter Mustermann gar nicht weiß, was das ist, geschweige denn, dass sie verbraucherkritisch über den Abschluss von Verträgen mit Müttervermittlern aufgeklärt wurde.

»Mit Gerechtigkeit etwas/nichts zu tun haben« ist die Umschreibung einer wesensmäßigen Identität oder Nichtidentität, in diesem Fall eines beliebigen konkreten Gegenstands mit einem abstrakten Begriff. Es funktioniert auch anders, ist da aber meist etwas schwieriger zu verstehen. Am leichtesten ist es, zwei konkreten Gegenständen die Eigenschaft zu- oder abzusprechen, etwas miteinander zu tun zu haben: Der »Mond hat mit der Sonne zu tun«, oder »Blut hat mit Wasser nichts zu tun« sind zwei Beispiele.

Man könnte auch jeweils genau das Gegenteil sagen, ohne dass sich an der Überzeugungskraft irgendetwas ändern würde. Vorausgesetzt ist natürlich stets, dass der Sprecher (und der Empfänger) zum einen weiß, was mit den Gegenständen gemeint ist. Das ist bei der Sonne einfach, bei der Gerechtigkeit schwierig. Wenn man gesagt hat, die Gerechtigkeit habe mit Kunstturnen, Kriegführen und Kinderkriegen nichts zu tun, weiß man ja immer noch nicht, was sie ist. Zum anderen muss man wissen, ahnen oder zumindest fantasieren, was »(Nichts) zu tun haben« bedeutet: eine Identität, eine Differenz, eine Relation? In unserem Zusammenhang und als Verneinung bedeutet es meist eine besonders nachdrückliche Leugnung jeglicher Identität: Tofu hat mit Lammfilet nichts zu tun, und die USA haben mit völkerrechtswidrigen Angriffskriegen nichts zu tun.

Mütterchen

Im speziellen Fall ging es der Familienministerin Lisa Paus um die Gerechtigkeit des Mutterseins. Bei lesbischen Paaren werde bislang nur die gebärende Frau von Gesetz wegen als Mutter angesehen, und der zweiten Frau bleibe nur ein Adoptionsverfahren. Dass ein Mensch, sprach sie, nur eine Mutter (Mutti/Mama/Mütterlein) haben soll, habe »mit Gerechtigkeit und Vielfalt der Gesellschaft nichts zu tun«.

Über diese Mitteilung ist man, jedenfalls als vor 1990 geborener, also immerhin postpubertärer Mensch, zunächst einmal überrascht, denn zum einen spricht die eigene Lebenserfahrung aus 69 postnatalen Jahren doch eher dafür, dass die Einmutterschaft eine einigermaßen solide Grundlage in der Biologie und eine im jüdisch-christlichen Werte-Weltenkreis seit dem Neolithikum recht stabile soziale Verankerung hat. Zum anderen muss man sich an den Gedanken erst heranarbeiten, dass die Zahl der Mütter eine Frage der Gerechtigkeit sein solle.

Ein Kind, zwei Mütter? Klarer Fall von kaukasischem Kreidekreis resp. Salomon! Nur eine kann die Richtige sein! Großes Gerechtigkeits-Intuitions-Drama! Man muss dazu allerdings einschränkend sagen, dass eine solche kraft Eingebung erfühlte Gerechtigkeit heutzutage selbst bei Ali Baba und den 40 Räubern nicht mehr ohne Weiteres als Legitimation durchgeht.

Soweit es sich um eine familienrechtliche Spezialproblematik handelt, ist es natürlich egal. Die der einst Gebärenden sozial zugeordneten Nachfolger eines Kind-Erzeugers unbekannten Geschlechts, welcher jedenfalls gonadenmäßig als Mann gelesen worden sein dürfte, werden ja auch irgendwie »Vater«, wenn auch nur »Stief«. Vor langer Zeit, als viele Erzeuger noch unbekannten Ortes in Russland weilten, hießen die Gefährten der zwischenzeitlich »wilden« Ehen gern »Onkel«, was die Sache der Gerechtigkeit nicht wirklich traf, aber einen rührenden Schleier der offenkundigen Lüge über das »Wilde« und über die Fortzahlung der Witwenrente legte.

Falls etwas anderes erstrebt wird, muss adoptiert werden: Das ist keine im Ansatz menschenrechtswidrige Anforderung, meine ich. Das Verfahren ist, wie die Ministerin beklagte, »langwierig« und könnte vielleicht vereinfacht werden. Allerdings kann im Interesse des Kindes eine gewisse Sorgfalt gewiss nicht schaden: Kinderadoption muss dem Welpenkauf verbrauchertechnisch nicht angepasst werden. Wir dürfen ja doch eines nicht ganz vergessen: Eigentlich geht es hier nicht um die materiellen und ideellen Eigentumsrechte der wie auch immer »vielfältigen« Kinderbesitzer, sondern um das Wohl (altes, aber schönes Wort!) der Kinder.

Wer nicht adoptiert, ist nicht Mutter oder Vater, sondern Ehegatte, Lebensgefährte oder derzeitige Bekannte desselben. Was soll hieran der »Gerechtigkeit« widersprechen? Und am Rande bemerkt: Auch die Adoption ist kein biologisch-kosmisches Ereignis, sondern eine Rechts-Institution, die zu einer Rechts-Fiktion führt, die wiederum allerlei weitere Rechtsfolgen hat. Das ist ja an sich nicht schlimm, finde ich.

Väterchen

»Vater eines Kindes ist der Mann (!),
1) der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist,
2) der die Vaterschaft anerkannt hat, oder
3) dessen Vaterschaft (…) gerichtlich festgestellt ist.«

Von einem Kind, das in einer (heterosexuell konfigurierten) Ehe geboren wird, wird also von Gesetzes wegen vermutet, dass der andersgeschlechtliche Ehegatte der Gebärenden (der »Mutter« genannten Person), der sogenannte Erzeuger sei. Hieran kann ich auch mit aller Kraft nichts Fürchterliches finden: Es ist sozial vernünftig, rechtlich erträglich, menschlich naheliegend. Und wer etwas gegen die Vermutung hat, kann sie ja einfach anfechten und das Gegenteil beweisen lassen. Mir scheint, das ist nicht wirklich unzumutbar.

Paragraf 1592 BGB ist eine klare Ansage! Alles deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber wusste, was er meinte, als er die Worte »Mutter« und »Vater« aussprach. Eine Änderung in: »Mutter eines Kindes ist, wer zur Zeit der Geburt mit der Mutter verheiratet ist«, hätte, soweit ich sehe, weder biologische Folgerichtigkeit noch sozial-sprachliche Gerechtigkeit auf ihrer Seite. Mit der »Vielfalt der Gesellschaft« hat dies, so scheint mir, wirklich »nichts zu tun«, sie ist jedenfalls, obwohl es sich schön anhört, kein Argument dafür.

Quelle       :       Spiegel-online         >>>>>      weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Lisa Paus, Mitglied des Deutschen Bundestages, während einer Plenarsitzung am 11. April 2019 in Berlin.

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Deutschlands Ukrainepolitik

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Juli 2022

Die Verkehrung von Opfer und Täter ist in vollem Gang

Ein Gastbeitrag von Ralf Fücks

Deutsche Unterwerfungspazifisten wollen die Ukraine zum Aufgeben bewegen, Kanzler Scholz bleibt unbefriedigend vage. Doch wenn der Westen Putin nicht in der Ukraine stoppt, steht der Frieden in Europa erst recht auf dem Spiel.

Russlands Krieg gegen die Ukraine geht in die 21. Woche. Was zu Beginn noch Entsetzen hervorrief, beginnt zur Gewöhnung zu werden: die Bombardierung von Wohnquartieren und die Angriffe gegen Krankenhäuser, die gezielte Zerstörung lebenswichtiger Infrastrukturen, die Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen, die Massenexekutionen und Vergewaltigungen in den von Russland eroberten Gebieten, die Deportation von mehr als einer Million Ukrainer nach Russland, eine zweistellige Millionenzahl von Flüchtlingen, die wachsenden Verluste der ukrainischen Armee unter dem Feuerhagel der russischen Artillerie, Raketen und Panzer.

Im Auswärtigen Ausschuss weist Kanzler Scholz die Forderung nach Lieferung von Marder-Schützenpanzern für die Ukraine mit der Bemerkung zurück: »Das wäre eine schreckliche Eskalation.« Verteidigungsministerin Lambrecht antwortet auf den Antrag der Union, 200 von 825 gepanzerten Fuchs-Transportern an die Ukraine zu geben, mit einem kategorischen: »Wir lassen die Bundeswehr nicht ausplündern.« Mehr Kälte und Distanz gegenüber der Ukraine geht kaum. Man möchte gern wissen, von welchem akuten Bedrohungsszenario die Ministerin ausgeht, das es nicht erlaubt, die Ukraine aus den Beständen der Bundeswehr zu unterstützen? Steht ein Angriff auf das Baltikum oder Polen bevor – oder ist es nicht vielmehr so, dass jeder abgeschossene Panzer, jeder zerstörte Raketenwerfer, jede aufgeriebene Kompanie der russischen Armee unsere Sicherheit erhöht? Wenn wir Russland von der Nato fernhalten wollen, müssen wir alles tun, damit Putin an der Ukraine scheitert.
Russlands Strategen der Konfrontation setzen auf Konfliktscheu, Kurzatmigkeit und Indifferenz des Westens. Sie sind überzeugt, dass sie am längeren Hebel sitzen, obwohl Europa und die USA wirtschaftlich haushoch überlegen sind und auch über das größere militärische Potenzial verfügen. Putin hält Europa – Deutschland vorweg – für wohlstandsverwöhnt und furchtsam. Weshalb für die Ukraine Opfer bringen oder sogar einen Krieg mit Russland riskieren? Womöglich hat er recht.

Appeasement wird Putin nicht stoppen

Die Forderung, die Ukraine möge einem Ende des Krieges nicht länger im Wege stehen und Putin geben, was er fordert, gewinnt an Boden. Clausewitz hat diese Verkehrung von Täter und Opfer auf die ironische Formulierung gebracht, dass letztlich der Verteidiger schuld am Kriege sei, weil er sich dem Angreifer in den Weg stellt: Der Aggressor würde gern ganz friedlich einmarschieren. Unsere Unterwerfungspazifisten meinen das im vollen Ernst. Sie sind sich mit Lawrow einig, dass der Westen mit seinen Waffenlieferungen den Krieg unnötig verlängert. Die Ukraine habe eh keine Chance, den russischen Vormarsch aufzuhalten. Das spricht nicht nur der Entschlossenheit der Ukrainer – Männer wie Frauen – Hohn, um ihre Unabhängigkeit und Freiheit zu kämpfen. Der Ruf nach einem Kompromiss mit Putin verkennt auch den Charakter des russischen Feldzugs.

Russland führt einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine als Nation. Wer die russischen »Befreier« nicht freudig begrüßt, ist ein »Faschist« und der Gewalt des Eroberers ausgeliefert. Mit der Abtretung der südlichen und östlichen Ukraine an Russland würde nicht Frieden einkehren, sondern eine Welle von Liquidierungen, Verhaftungen und Deportationen. Butscha und Mariupol haben die Ukrainer gelehrt, dass es kein Arrangement mit Russland geben kann. Und weshalb sollte sich Putin mit einem weiteren großen Bissen aus dem Territorium der Ukraine zufriedengeben? Die Annexion der Krim und die De-facto-Angliederung der Marionettenrepubliken im Donbass haben seinen Appetit nur gesteigert. Wir sollten endlich zur Kenntnis nehmen, dass es ihm um die ganze Ukraine geht – und nicht nur um die Ukraine.

Quelle       :           Spiegel-online          >>>>>           weiterlesen 

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Oben     —      Meeting of the President of Ukraine with the Presidents of France and Romania, the Chancellor of Germany and the Prime Minister of Italy

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Ein Ökosozialer Umbau ?

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Juni 2022

Ampel hat Angst vor der Wende

Hans-Christian Stroebele.jpg

Von Anette Jensen und Ute Schaub

Die Regierungskoalition ist dabei, eine historische Chance zum ökosozialen Umbau zu verpassen. Die Gesellschaft würde viele harte Maßnahmen mittragen.

Man möchte in die Tischkante beißen. Schon wieder ist die Regierung dabei, eine historische Chance zum ökosozialen Umbau zu verpassen – wie schon in der Coronakrise. Die wurde nicht genutzt, um die Billigfliegerei einzudämmen und die Profitorientierung im Gesundheitssystem zu beenden. Nun rächt sich das. Mit den Affenpocken droht die nächste Epidemie und der gleiche Fehler.

Auch den Krieg in der Ukraine könnte die Ampelkoalition viel stärker für die notwendige Transformation nutzen. Die Regierung macht mit ihrem Ausstieg aus Putins fossilen Energien zwar vieles richtig, aber auch vieles falsch. Der Neubau von elf extrem klimaschädlichen Flüssiggas-Terminals, der im Eiltempo durchgedrückt wurde, ist ein katastrophales Beispiel. Weitere sind die schwachsinnige Subvention des Benzinpreises und der Unwille, mit ambitionierten Energiesparmaßnahmen putin- und fossilfreie Zonen zu schaffen. Selbst die Internationale Energieagentur hat schon im März ausgerechnet, dass sich durch zehn Einzelmaßnahmen täglich rund 2,7 Millionen Barrel Öl einsparen ließen – so viel wie der Benzinverbrauch aller Autos in China. Dazu zählen Tempolimit, Streichung der Inlandsflüge, mehr Homeoffice und autofreie Sonntage.

Warum wird so gut wie nichts davon verwirklicht? Wovor hat die Regierung Angst? Vor Gelbwesten-Protesten? Oder dem kleinen Koalitionspartner FDP? Rechtspopulistische Proteste sind zwar nie völlig auszuschließen, lassen sich aber durch kluges, transparentes Vorgehen einschränken.

Die Akzeptanz für Doppelstrategien gegen Putin und die Klimakrise ist in der Gesellschaft so breit wie nie zuvor – und das muss nicht Verzicht bedeuten, sondern kann mehr Lebensqualität bringen. Beispiel autofreie Sonntage: Wer sie in der Ölkrise 1973/74 erlebt hat, weiß, wie zauberhaft sie waren: Sonnenuntergänge mit Nachtigallgesang an Autobahnen und in Innenstädten. Beispiel Tempolimits: Schon lange zeichnen sich hierfür Mehrheiten in der Bevölkerung ab. Warum dies nicht lustvoll zelebrieren als langsame Massen-Events?

Wer sich nicht traut, solche Maßnahmen bundesweit auszurufen, könnte sie zumindest als Regionalexperimente in einigen Bundesländern oder Städten zulassen, begleitet und ausgewertet von repräsentativ ausgelosten Bürgerräten. Überhaupt könnte viel mehr ausprobiert werden. Welche Stadt oder Gemeinde wird zur ersten vollständig „putinfreien Zone“? Dafür könnte es einen Wettbewerbspreis geben, überreicht von der Bundesumweltministerin.

Ein Skandal ist die Tatsache, dass immer noch rund 60 Prozent des deutschen Getreides in Tiertrögen und Tanks landet – in einer Zeit, in der in Ostafrika und Nahost Millionen von Hungertoten zu befürchten sind. Die zuständigen Ministerien wollen diesen Anteil zwar verringern, aber im Schneckentempo. Warum nicht sofort? Statt mit Getreide und Gensoja aus abgeholztem Amazonasgebiet dürften Nutztiere nur noch mit hof­eigenem Futter gefüttert werden. Mehr Fleisch und Milch gibt es dann einfach nicht.

File:Ampel Beschimpfung.svg

Haltet den Arsch – welcher immer schon bei Gelb anfährt

Heute verursachen hochverarbeitete Lebensmittel mit zu viel Zucker, Fett und Salz Übergewicht und Allergien; beides breitet sich weltweit rasant aus. Das bedeutet Leid für die Betroffenen und hohe Kosten für die Sozialversicherungen. Zugleich reicht Hartz IV nicht aus, um sich gesundheitsförderlich zu ernähren. Für das Klima ist unser Ernährungssystem ebenfalls fatal: Wenn alles von der Kunstdüngerproduktion bis zur Lebensmittelverschwendung einberechnet wird, sind mindestens ein Drittel aller Treibhausgase darauf zurückzuführen.

Probiert es wenigstens mit Experimenten aus!

Es ginge auch anders. Die „Eat-Lancet-Kommission“ um den Klimaforscher Johan Rockström hat bereits 2018 einen „Speiseplan für Mensch und Erde“ veröffentlicht. Damit könnte die bis 2050 wachsende Weltbevölkerung auf Bio-Niveau gesund ernährt werden, ohne dass das den Planeten weiter ruiniert. Menschen könnten durchschnittlich 13 Jahre länger leben, die Massentierhaltung würde extrem zurückgehen, die planetaren Ökosysteme könnten sich regenerieren. Das Geheimnis hierfür ist geradezu schlicht: wesentlich mehr pflanzenbasierte Kost, mehr Hülsenfrüchte, mehr Nüsse, dafür wesentlich weniger Fleisch und Milchprodukte. Warum wird das nicht in deutschen Kantinen, Krankenhäusern und Kitas jetzt schon eingeführt?

Quelle         :            TAZ-online         >>>>>           weiterlesen

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Oben     —     Hans-Christian Ströbele auf einer antifaschistischen Demonstration in Berlin-Prenzlauer Berg (2008).

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Sondervermögen für BW

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Juni 2022

Im militärischen Kaufrausch

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Von Pascal Beucker

Die Bundeswehr soll mit zusätzlich 100 Milliarden Euro aufgestockt werden. Kri­ti­ke­r-In­nen sehen das geplante Sondervermögen als maßlos.

Es ist ein letztes, vergebliches Aufbäumen. Mit einer Kundgebung auf dem Platz der Republik vor dem Reichstagsgebäude will die Linkspartei am Freitagvormittag gegen die geplante Aufrüstung der Bundeswehr protestieren. Nützen wird es nichts mehr, die große Koalition für massive zusätzliche Militärausgaben steht. Die Einkaufsliste ist bereits geschrieben. Nur wenige Stunden nach der Linken-Protestaktion dürfte der Bundestag per Grundgesetzänderung die Regierung ermächtigen, dafür ein „Sondervermögen“ in Höhe von 100 Milliarden Euro einzurichten.

Dabei ist der Begriff „Sondervermögen“ missverständlich. Tatsächlich geht es um die Aufnahme von außerordentlichen Krediten, die von der Schuldenbremse des Grundgesetzes ausgenommen werden. Schulden, die zurückgezahlt werden müssen, bleiben es trotzdem. Dienen soll das Geld zur „Finanzierung bedeutsamer Ausrüstungsvorhaben der Bundeswehr, insbesondere komplexer überjähriger Maßnahmen“, heißt es in dem Gesetzentwurf, auf den sich SPD, Grüne und FDP mit der Union in zähen Verhandlungen verständigt haben.

Das „Sondervermögen“ ergänzt den in diesem Jahr ohnehin um 3,5 Milliarden auf rund 50,4 Milliarden Euro aufgestockten Verteidigungsetat. Dadurch werde „im mehrjährigen Durchschnitt von maximal fünf Jahren zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf Basis der aktuellen Regierungsprognose für Verteidigungsausgaben nach Nato-Kriterien bereitgestellt“.

Finanziert werden sollen von dem „Sondervermögen“ eine ganze Reihe von Rüstungsprojekten, die schon seit Langem auf der Wunschliste des deutschen Militärs stehen. Einiges davon kann direkt bestellt werden, anderes befindet sich erst noch in der Entwicklung. Die meisten größeren Anschaffungen werden erst in ein paar Jahren einsatzfähig sein, manches erst in den kommenden Jahrzehnten. Die Projektliste ist eine vorläufige, sie soll jährlich fortgeschrieben werden.

Hauptposten des Wirtschaftsplans, den das Finanzministerium am Mittwoch dem Haushaltsauschuss des Bundestags geschickt hat, ist dabei die „Dimension Luft“, für die insgesamt 40,9 Milliarden Euro bereitgestellt werden sollen. Konkret geht es dabei beispielsweise um den bereits angekündigten Kauf von F-35-Kampfjets des US-amerikanischen Rüstungskonzerns Lockheed Martin, die auch Atombomben abwerfen können. In den USA bestellt werden auch die neuen schweren Transporthubschrauber Modell CH-47 „Chinook“ und Seefernaufklärer vom Typ P-8 Poseidon, jeweils von Boeing. Der europäische Konkurrent Airbus kommt dafür bei Entwicklung und Kauf eines neuen Eurofighter-Modells für elektronische Kriegsführung zum Zuge.

Drohnen, Panzer und U-Boote

Die Bewaffnung der israelischen Drohnen des Typs Heron TP stehen ebenso auf der Liste wie Kommunikations- und Radarsysteme und das weltraumbasierte Frühwarnsystem Twister, ein nationenübergreifendes EU-Projekt. Auch ein Flugabwehrsystem mit einer bodengestützten Kurz- und Mittelstrecken-Flugabwehr sowie einem Drohnenschutzsystem ist dabei. Bis 2027 soll auch die Entwicklung des gemeinsam mit Frankreich und Spanien geplanten Kampfflugzeugprojekts Future Combat Air System (FCAS) aus dem Sondervermögen finanziert werden.

Bei der mit rund 19,3 Milliarden Euro veranschlagten „Dimension See“ steht die Anschaffung neuer Korvetten, Fregatten und Festrumpfschlauch- sowie Mehrzweckkampfboote ebenso auf dem Programm wie das gemeinsam mit Norwegen entwickelte U-Boot der Klasse 212 CD. Fehlen darf auch nicht das neue See-Ziel-Lenkflugköpersystem Future Naval Strike Missile, ebenfalls eine deutsch-norwegische Gemeinschaftsentwicklung. Hinzu kommen U-Boot-Flugabwehrflugkörper und Geräte zur Unterwasserortung.

16,6 Milliarden Euro sind für die „Dimension Land“ vorgesehen. Hier geht es insbesondere um die Nachfolge für den Schützenpanzer Marder und den Truppentransporter Fuchs sowie die Nachrüstung des Schützenpanzers Puma. Auch ein Nachfolger für das gepanzerte Schneefahrzeug BV 206 steht auf der Liste, ebenso der Transportpanzer Boxer mit Maschinenkanone. Hinzu kommen bis 2024 Mittel für die Entwicklung eines Nachfolgers für den Leopard-2-Panzer, der gemeinsam mit Frankreich entwickelt wird und wie das FCAS nur vorübergehend aus dem „Sondervermögen“ finanziert werden soll und danach aus dem normalen Verteidigungshaushalt.

Für die „Dimension Führungsfähigkeit/Digitalisierung“ sollen 20,7 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden. Hier geht es vor allem um Gelder für einen Rechenzentrumsverbund, aber auch für neue Funkgeräte. Hinzu kommen elektronische Führungsinformationssysteme für Einsätze und Investitionen in Satellitenkommunikation.

Deutscher Bundestag

Wer hätte je gedacht, das künstliche Intelligenzen so aussehen?

Neben diesen vier „Dimensionen“ gibt es noch zwei kleinere Posten: Für Forschung, Entwicklung und künstliche Intelligenz (KI) sollen 500 Millionen Euro ausgegeben werden. Dabei geht es vor allem um eine bessere „land- und seegebundene robuste Navigation“ unter so genannten Navigation-Warfare-Bedingungen, wie der Störung von Satellitensignalen, sowie die Überwachung und Sicherung größerer Räume mittels KI. Außerdem gibt es für die Beschaffung von Bekleidung und Ausrüstung der Sol­da­t:in­nen rund 2 Milliarden Euro.

Nicht enthalten in der „Sonder­vermögen“-Liste ist die Munition für die Bundeswehr, die das Verteidigungsministerium drastisch aufstocken will. Einen Finanzbedarf von rund 20 Milliarden Euro hat es hierfür errechnet. Der soll aus dem laufenden Haushalt gedeckt werden. Das gilt auch für Maßnahmen zur Cybersicherheit, für den Zivilschutz sowie die Stabilisierung von Partnerländern, was weitere 10 Milliarden kosten dürfte.

So sieht also konkret das Aufrüstungsprogramm aus, das der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner „Zeitenwende“-Rede Ende Februar angekündigt hatte. Im Bundestag wird es keine größeren Widerstände dagegen geben. Nicht nur die Ampelkoalition und die Union sind sich einig, dass in die Bundeswehr investiert ­werden müsse. Die AfD sieht das genauso, wie ihr Abgeordneter Michael Espendiller am Mittwoch bei der Debatte um den Verteidigungsetat im Bundestag bekundete. Die Rechtsaußenpartei kritisiert nur, dass dafür neue Schulden ­aufgenommen werden sollen. Espendiller forderte hingegen „radikale Kürzungen in sämtlichen anderen Etats“.

Im Parlament gibt es also nur wenige Stimmen des Aufbegehrens. Einzig die Linkspartei, die kleinste Fraktion, steht geschlossen dagegen. „Mit SPD, FDP, Grünen und der Union hat sich die größte Koalition aller Zeiten zusammengefunden, um ein gigantisches Konjunkturprogramm für die Rüstungsindustrie zu starten“, empörte sich die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Gesine Lötzsch bei der Bundestagsdebatte am Mittwoch.

Ein paar Ab­weich­le­r:in­nen aus der SPD und den Grünen gibt es allerdings auch noch. So kündigte die Juso-Bundesvorsitzende Jessica Rosenthal in einem Gastbeitrag im Spiegel an, gegen die Grundgesetzänderung zu stimmen. Wie viele ihrer Fraktion sich auch noch verweigern werden, ist unklar.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

Sondervermögen für die Bundeswehr:

Teurer Aktionismus

Milliarden aus dem Fenster werfen? Kita-Plätze statt Betreuungsgeld Aktion mit Sylvia Löhrmann, Cem Özdemir und Stefan Engstfeld.jpg

Ein Kommentar von Anna Lehmann

Die Probleme der Bundeswehr sind vor allem systemischer Natur. Milliarden hineinzupumpen, ohne Grundlegendes zu ändern, ist Verschwendung.

Der Bundestag wird am Freitag die größte jemals getätigte Ausgabenerhöhung für die Bundeswehr beschließen. 100 Milliarden Euro sollen in den nächsten fünf Jahren vor allem in Aufrüstung fließen: Kampfflugzeuge, Kampfpanzer, Mehrzweckkampfboote. Eine gigantische Summe, die in erster Linie von politischem Aktionismus zeugt.

Es waren ja nicht die Verteidigungs­po­li­ti­ker:innen, die nach sorgfältiger Bedarfsanalyse eine Einkaufsliste vorgelegt haben, die sich zufällig auf 100 Milliarden Euro beläuft. Das ist eine politische Summe, die Bundeskanzler Olaf Scholz drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Bundestag mit der Botschaft verkündete: Wir handeln jetzt, nimm Dich in acht, Putin.

Aber rasches Handeln ist kein Selbstzweck. Keine Frage, es musste etwas passieren. Angesichts eines hochgerüsteten Russlands mit imperialen Großmachtfantasien sind Landes- und Bündnisverteidigung seit dem 24. Februar keine abstrakten Begriffe mehr, sondern bittere Notwendigkeit. Und ja, die Bundeswehr ist in einem schlechten Zustand.

Schimmelige Kasernen, Soldat*innen, die sich ihre Schutzwesten privat kaufen, Panzer, die nicht fahren. Aber das ist nicht in erster Linie das Resultat einer „kaputt gesparten“ Bundeswehr. Der Rüstungsetat ist seit 2014 kontinuierlich gestiegen und beträgt derzeit 50,3 Milliarden Euro. Damit könnte man übrigens alle Schulen in Deutschland top sanieren.

Quelle       :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Die Welt der Grünen ?

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Mai 2022

Wie grüne Parteien in Europa mehr Krieg befürworten, um den Krieg zu beenden

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Was einmal Grün wird langsam braun und fällt als Dünger dann vom Baum auf die schwarze Erde.

Quelle        :     Berliner Gazette

Von    :   

Angesichts des Ukraine-Kriegs befürworten die grünen Parteien in Frankreich, Deutschland und Bulgarien “pragmatische” Lösungen, die sich auf die Lieferung von Waffen und die Verhängung von Sanktionen beschränken. Dies führt ihr “Bekenntniss zur Gewaltlosigkeit” vollends ad absurdum und stellt sogar ein Ende der Welt in Aussicht, das früher einsetzt als es die langsame Gewalt der Klimakatastrophe vorsieht, wie die Autorin und Aktivistin Rositsa Kratunkova in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” argumentiert.

Einen Monat nach dem Krieg in der Ukraine hat der IPCC, eine internationale Expertengruppe der UNO, die sich mit dem Klimawandel befasst, den dritten Teil seines sechsten Berichts veröffentlicht, der sich mit den möglichen Lösungen zur Vermeidung einer planetarischen Katastrophe befasst. Doch nur wenige Politiker in Europa haben den Bericht zur Kenntnis genommen und sich mit der Dringlichkeit der Situation befasst, die nach Ansicht der Experten nur drei Jahre Zeit zum Handeln lässt.

Während der fast dreistündigen Debatte zwischen den beiden Anwärtern auf die französische Präsidentschaft widmeten Marine Le Pen und Emmanuel Macron der Klimafrage nur 18 Minuten, was zeigt, dass sie eindeutig keine Priorität hat. Man könnte argumentieren, dass dies auf die Invasion in der Ukraine zurückzuführen ist, die weitreichende Folgen hatte, andere wichtige Themen in den Hintergrund drängte und die politische Agenda auf dem gesamten Kontinent veränderte.

Ein bisher eher unerwarteter Effekt ist, dass die grünen Parteien die Aufrüstung befürworten und ihr Bekenntnis zum Pazifismus aufgeben, wobei sie vergessen, dass Kriege große Mengen an Treibhausgasen produzieren und katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt haben. Dieser Artikel zeichnet die Entwicklung der Grünen in Frankreich, Deutschland und Bulgarien seit dem Beginn des Konflikts nach und untersucht die Veränderungen ihrer Positionen zum Krieg.

Die Grünen in Frankreich: Der müde Rahmen der “humanitären Intervention”

Seit ihrer Gründung in den 1980er Jahren stehen die französischen Grünen in der Außenpolitik in der Tradition des Pazifismus und vertreten gewaltfreie, antinukleare und antimilitärische Positionen. Einer ihrer wichtigsten Werte ist die Überzeugung, dass Konflikte durch Diskussion und Transparenz friedlich gelöst werden können. In diesem Sinne stimmte die Partei 1990 fast einstimmig gegen den Einmarsch des Irak in Kuwait. Einige Jahre später wurde der Pazifismus der Grünen jedoch von einigen Ausnahmen unterbrochen. Im Jahr 1999 unterstützte die Partei die NATO-Militärintervention im Kosovo, 2011 stimmten zwei Abgeordnete für die Fortsetzung der Militäroperationen in Libyen und zwei Jahre später unterstützte die Parteiführung den Angriff auf Syrien. Heute rechtfertigt die Partei die Anwendung von Gewalt mit dem abgedroschenen Begriff der “humanitären Intervention”.

Auch der Parteivorsitzende und Präsidentschaftskandidat Yannick Jadot rief unmittelbar nach Beginn des Krieges in der Ukraine am 24.th Februar dazu auf, Waffen zu schicken und Sanktionen gegen Russland zu verhängen, eine Entscheidung, die von den Parteimitgliedern nicht einstimmig unterstützt wurde. Die Abgeordnete Bénédicte Monville argumentierte, dass man zunächst einen Waffenstillstand fordern und die Positionen der Gewaltlosigkeit aufrechterhalten müsse, bevor man Waffen schicke, und sah in Jadots Aktion eine populistische Strategie, um die eher hawkistischen Wähler zu gewinnen. Andere forderten, zuerst den russischen Pazifisten zu helfen. Dies steht in deutlichem Gegensatz zu der 2014 von der Partei nach den Maidan-Ereignissen verabschiedeten Resolution zum Frieden in der Ukraine, in der sie erklärte, dass der Druck der EU auf Russland nur diplomatisch, politisch und wirtschaftlich und niemals militärisch sein kann, und darauf bestand, dass die Aufnahme der Ukraine in die NATO ausdrücklich ausgeschlossen werden muss.

Zusätzlich zu den Waffenlieferungen forderte Jadot massive Sanktionen gegen die Staatsoligarchie des Putin-Regimes und bekräftigte, dass ein Friedensprojekt notwendigerweise ein Gleichgewicht der Kräfte gegenüber Putin voraussetzt. Dazu gehöre eindeutig ein Embargo für russisches Öl und Gas, das sich unweigerlich auf die Energiebeschaffungsmöglichkeiten Frankreichs und Europas auswirken würde. Um jeglichen Wettbewerb zwischen den Ländern zu vermeiden, die EU-Richtlinien zur Liberalisierung der Energiepreise auszusetzen und eine Preisregulierung einzuführen, schlug der Parteivorsitzende der Grünen vor, in Europa einen einzigen Staat als Käufer des in Russland geförderten Gases zu benennen. Außerdem schlug er vor, auf Supermärkten, Schulen und anderen Flachdächern Fotovoltaikanlagen zu installieren, denn Ökologie bedeute “Frieden, Klima und Kaufkraft zugleich”. Den IPCC-Bericht erwähnte er allerdings nur flüchtig in einem einzigen Tweet.

Inmitten des Kampfes mit den russischen Oligarchen ist Jadot der Meinung, dass das Öl- und Gasembargo auf die französischen Ölgesellschaften ausgedehnt werden muss, und kritisiert sie dafür, dass sie Russland nicht verlassen haben, wie Shell, Exxon Mobil und BP, was bedeutet, dass sie an Kriegsverbrechen in der Ukraine beteiligt sind, obwohl sie offensichtlich ist: not all of them left. Auf dem Höhepunkt des Präsidentschaftswahlkampfes forderte Jadot, Macron solle französische Ölfirmen zwingen, Russland zu verlassen.

In diesem Debakel bezeichnete der andere grün-linke Präsidentschaftskandidat der Union populaire Jean-Luc Melenchon den Vorschlag, Waffen in die Ukraine zu schicken, als “Dummheit” und fügte hinzu, dass die Lage in Europa derzeit unglaublich angespannt sei und man vorsichtig handeln müsse. Für diese Position wurde der Vorsitzende der Linkspartei sofort von den Grünen beschuldigt, sich auf die Seite Putins zu stellen. Im Gegensatz zu Jadot lehnt Melenchon ein Embargo für russische Kohlenwasserstoffe ab, da dies schädliche Auswirkungen auf Europa hätte und dessen Abhängigkeit vom teureren Schiefergas aus den USA verstärken würde. Stattdessen schlug er Preiskontrollen und einen einheitlichen Preis für ganz Europa vor. Während er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenskyy verteidigte, erklärte er außerdem, dass Frankreich in seinen internationalen Beziehungen bündnisfrei sein und die Möglichkeit haben sollte, seine eigenen Verhandlungen zu führen, und erinnerte an die vergessene Idee, alter-globalistische Allianzen zu schmieden, um Konflikte zu verhindern und gemeinsam gegen den Klimawandel vorzugehen – eine Position, die Jadot als Kapitulation vor Putin bezeichnete.

Wenn am 12. März der Parteivorsitzende der Grünen in den Umfragen 6,5 % und Melenchon 12 % erreichten, so vergrößerte sich die Kluft bis zum ersten Wahlgang am 10. April erheblich, als der erste 4,65 % und der zweite 21,95 % der Stimmen erhielt.

Die Grünen in Deutschland: Praktisch ein Aufruf zum Dritten Weltkrieg

Im Wahlkampf des vergangenen Jahres propagierten die Grünen in Deutschland Abrüstung und eine “wertebasierte Außenpolitik”. Begleitet von einem werbewirksamen Auftritt ihres Co-Vorsitzenden Robert Habeck in der Ukraine, wo er in militärischer Ausrüstung für vielbeachtete Fotos nahe der russisch-ukrainischen Grenze posierte, zeigte dieses Kampagnenelement dem kritischen Auge deutlich, was “wertebasierte Außenpolitik” für die Grünen bedeutet: Sie würden “notfalls” “für Werte in den Krieg ziehen”, wie sie es schon bei ihrer ersten Regierungsbeteiligung vom 27. Oktober 1998 bis zum 22. Oktober 2002 im ersten Kabinett Schröder taten.

Die Grüne Partei wurde 1980 gegründet und ging aus verschiedenen demokratischen Bewegungen wie Anti-Atomkraft-, Umweltschutz-, Frauenrechts-, Friedensbewegung und Dritte-Welt-Gruppen hervor. Die Partei strebt eine gewaltfreie Gesellschaft an und vertritt die Auffassung, dass kein humanes Ziel mit unmenschlichen Mitteln erreicht werden kann. Eine zentrale Position war die Auflösung der Militärblöcke, vor allem der NATO und des Warschauer Paktes, einschließlich der deutschen Streitkräfte.

Diese Position wurde erstmals 1999 verraten, als der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer eine Kehrtwende vollzog und – während er völkerrechtswidrige Aktionen vorbereitete – erklärte, es sei die “moralische Verpflichtung” Deutschlands als eines der größten NATO-Mitgliedsländer, sich an der US-geführten Militärintervention im Kosovo zu beteiligen. Es war der erste Krieg, an dem sich Deutschland seit 1945 aktiv beteiligte, und er verlief nicht ohne innere Unruhen. Die österreichische Schwesterpartei der Grünen verurteilte die französischen und deutschen grünen Kriegstreiber, was jedoch nicht zu einer Spaltung auf europäischer Ebene führte.

Im Rahmen ihres Wahlprogramms 2021 propagierten die Grünen in Deutschland Abrüstung und Rüstungsexportkontrolle, die sie für zu lax hielten. Obwohl sie die NATO für einen unverzichtbaren Akteur für die gemeinsame Sicherheit Europas hielten, kritisierten sie die NATO-Richtlinien, 2 % des BIP für Verteidigung auszugeben, als “willkürlich” und lehnten den Transport amerikanischer Atomwaffen mit Jets aus Deutschland ab. Andererseits sprachen sie sich dafür aus, mit Russland in Kontakt zu bleiben und den Handel mit der EU zu fördern, ohne jedoch Waffen aus Deutschland in Kriegsgebiete und Diktaturen zu exportieren. Paradoxerweise ergab eine kürzlich durchgeführte Untersuchung, dass Deutschland nach dem Embargo von 2014 mit Ausfuhren im Wert von 122 Millionen Euro der zweitgrößte Waffenexporteur nach Russland war.

Heute jedoch scheinen die Grünen eine Kehrtwende vollzogen und eine kriegerischere Position eingenommen zu haben. Sie glauben, dass eine massive Bewaffnung der Ukraine der einzige Weg ist, während sie gleichzeitig nach Wegen suchen, um schnell von Russland energieunabhängig zu werden. Wenige Wochen vor Beginn des Krieges verkündete die derzeitige grüne Außenministerin Annalena Baerbock, dass Deutschland aufgrund seiner “historischen Verantwortung” keine Waffen an die Ukraine liefern könne und betonte, dass Diplomatie der einzig gangbare Weg sei. Ein paar Wochen später schlug Baerbock vor, schwere Artillerie in die Ukraine zu schicken und die Position “nichts, was schießt” durch “alles, was schießt” zu ersetzen, während sie gleichzeitig zusätzliche 100 Milliarden Euro für die deutschen Streitkräfte befürwortete.

Sogenannter “Pragmatismus” und “Realismus” haben den traditionellen “grünen Pazifismus” abgelöst. Oder man könnte auch sagen: Die “wertebasierte Außenpolitik” hat wieder ihr wahres Gesicht gezeigt. So betonte der grüne Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter, dass man keine andere Wahl habe, als Waffen zu schicken, und dass man, wenn man jetzt nicht handle, den Krieg in die Länge ziehe. Eine weitere Grünen-Politikerin, Marieluise Beck, ist vielleicht die prominenteste Kritikerin des Putin-Regimes im Parlament. Sie ging sogar noch weiter als Hofreiter, indem sie dazu riet, dass Deutschland trotz seiner Energieabhängigkeit kurzfristig schwere Sanktionen gegen Russland verhängen sollte. Darüber hinaus schlug sie vor, dass Deutschland und Frankreich den Luftraum für russische Flugzeuge sperren sollten, womit sie praktisch einen Dritten Weltkrieg forderte.

Dieser Wandel “traditioneller grüner Positionen zum Krieg”, der sich für kritische Beobachter seit Jahrzehnten abzeichnet, ist nicht ohne interne Konflikte verlaufen. Timon Dzienus, Bundessprecher der Grünen Jugend, nannte die Aufstockung der Mittel für die Bundeswehr “einen sehr fatalen Schritt”. Die Unabhängige Grüne Linke, eine Basisgruppe innerhalb der Grünen, wandte sich in einem offenen Brief an die Parteispitze gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und forderte, sich bei der russischen Regierung für eine sofortige Einstellung aller militärischen Aktivitäten und eine Rückkehr zu Verhandlungen einzusetzen. Die Gruppe erklärte, dass Waffenlieferungen den Menschen in der Ukraine den falschen Glauben vermitteln, dass sie eine militärische Chance gegen Russland haben, und die unverständliche, aber berechtigte Frage aufwerfen, ob sie eine weitere Eskalation und sogar einen Atomkrieg provozieren.

Inmitten des internen Konflikts navigieren die Parteivorsitzenden weiterhin durch die stürmischen Gewässer der Überschreitung anderer ehemaliger “roter Linien”. Obwohl Olaf Scholz und sein Kabinett versprachen, ein Gesetz einzuführen, das bis 2035 einen Anteil von nahezu 100 Prozent erneuerbarer Energien vorschreibt, wird zunächst mehr CO2 ausgestoßen. Während der Atomausstieg wie geplant fortgesetzt wird, könnten die deutschen Kohlekraftwerke eine Verlängerung um einige Jahre über die von den Grünen ausgehandelte Frist bis 2030 hinaus erhalten. Waffenexporte an ein autoritäres Regime mögen verboten sein, aber der Handel mit Gasgeschäften mit einem anderen wird als akzeptabel angesehen.

Um sich neue Energiequellen zu sichern, reiste Robert Habeck – derzeit grüner Minister für Wirtschaft und Klimaschutz – im März nach Katar, dem Land der Fußballweltmeisterschaft 2022, das viele Grüne zu boykottieren versprachen und in dem Arbeits- und Menschenrechte kaum gelten. Außerdem verhandelte Habeck über Flüssiggaslieferungen, die die Grünen als klimaschädlich brandmarkten und bis vor kurzem strikt ablehnten. Der Krieg zeigt, dass der Übergang zu erneuerbaren Energien von den Grünen ebenso als nationale Sicherheitspolitik wie als Klimapolitik betrachtet wird, wobei die ersteren Grundsätze “pragmatischen”, wenn auch widersprüchlichen Lösungen weichen.

Dieser Bruch mit früheren Auftraggebern hat sich für die Grünen als lukrativ erwiesen und ihre beiden Minister Habeck und Baerbock zu den beliebtesten Politikern in Deutschland gemacht. Dahinter steht Olaf Scholz, der sich hartnäckig weigert, schwere Waffen in die Ukraine zu schicken, was Baerbock mit den Worten kritisiert: “Jetzt ist nicht die Zeit für Ausreden”. Der Co-Vorsitzende der Grünen, Omid Nouripour, betonte, dass die derzeitigen Lieferungen an das Schlachtfeld unzureichend seien und schloss eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland ohne einen Wechsel in der Führung des Landes aus. Gleichzeitig argumentierte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, dass Deutschland keine Panzer aus seinen eigenen Beständen an die Ukraine liefern könne, da es diese sowohl für seine eigene Verteidigung als auch für NATO-Aufgaben benötige. Diese Pattsituation wurde von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin während seines Besuchs im April “gelöst”, als die Entscheidung über die Lieferung von Panzern an die Ukraine hinter verschlossenen Türen mit Regierungsvertretern in Deutschland getroffen wurde, was zeigt, dass nichts, auch nicht die mächtigste Wirtschaft Europas, den außenpolitischen Interessen der USA im Wege stehen kann.

Die Grünen in Bulgarien: “Alle notwendigen wirksamen Maßnahmen” ergreifen

Die Grüne Partei in Bulgarien wurde 2008 gegründet, nachdem sich zahlreiche ökologische Nichtregierungsorganisationen zusammengeschlossen hatten, und hat eine eher kurze Geschichte. Mit einer liberalen, antikommunistischen politischen Plattform erzielten sie viele Jahre lang kaum nennenswerte Wahlergebnisse, aber 2021 schlossen sie sich einer Koalition aus zwei rechtsliberalen Parteien namens Demokratisches Bulgarien an. Gemeinsam schafften sie es, in die Regierung einzutreten und haben nun sogar das Ministerium für Umwelt und Wasser inne – ihr bisher wichtigster politischer Erfolg. Obwohl ihr Wahlprogramm den Frieden hochhält, ist ihre Position heute alles andere als friedlich und setzt die militärische Unterstützung der Ukraine mit dem Schutz der Demokratie gleich, ähnlich wie ihre Pendants in Frankreich und Deutschland, jedoch mit einer ausgeprägteren antirussischen ideologischen Ausrichtung.

Seit dem Ausbruch des Krieges wird darüber debattiert, ob Waffen in die Ukraine geliefert werden sollen, um das Land bei der Verteidigung gegen den Aggressor zu unterstützen oder nicht. Die regierende Koalition aus vier politischen Parteien hat Schwierigkeiten, zu einer einstimmigen Entscheidung zu gelangen, wobei die bulgarische sozialistische Partei entschieden dagegen ist und sogar die Stabilität der Regierung bedroht. Die gleiche Position – allerdings auf der anderen Seite des politischen Spektrums – vertritt das Demokratische Bulgarien, das versucht, einen Weg zu finden, die Sackgasse zu umgehen und den “moralischen” Krieg zu gewinnen. Am 19. Märzth beschloss die Grüne Partei, der Nationalversammlung eine Anhörung des ukrainischen Präsidenten Volodymir Zelensky vorzuschlagen. Am 30. Märzth gab das demokratische Bulgarien eine Erklärung zur Aufnahme von Konsultationen im Parlament zur militärischen Unterstützung der Ukraine und zur Verteidigung der “Freiheit, Solidarität und Sicherheit in Europa” ab.

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Der Aufstieg zur Macht hat schon andere verrückt gemacht ! Das ist Politik !!

Die Grünen zeigten ihre Solidarität auch auf andere Weise, als eines ihrer Parteimitglieder und ehemaliger Kandidat für die Nationalversammlung kurz nach Ausbruch des Krieges dem Bataillon der ausländischen Kämpfer beitrat. Die Partei unterstützte auch lautstark den Friedensmarsch “Wir sind nicht neutral”, der eine Verschärfung des Krieges durch Waffenlieferungen forderte. Paradoxerweise sind die Grünen der Ansicht, dass die Ergreifung “aller notwendigen wirksamen Maßnahmen”, zu denen Friedensverhandlungen offenbar nie gehören, die Zahl der Opfer begrenzen, die Zerstörung von Städten in der Ukraine verhindern, den Aggressor abwehren und letztlich den Krieg beenden wird.

In einem kürzlich geführten Interview sagte der grüne Umweltminister Borislav Sandov sogar, dass ein Verzicht auf militärische Unterstützung für die Ukraine die Selbstisolierung Bulgariens und seine Loslösung von seiner “zivilisatorischen Wahl” – der EU und der NATO – bedeuten würde. Er ging sogar so weit, anzudeuten, dass dies die Position Bulgariens gegenüber Nordmazedonien untergraben würde, gegen das Bulgarien 2019 ein Veto einlegte, um den Status eines EU-Kandidatenlandes zu erhalten. Alles, was nicht zu mehr Aufrüstung führt, wird schnell als Abweichen vom “gerechten” Weg der EU-Entwicklung abgetan, ohne eine solche Entwicklung in Frage zu stellen. Ironischerweise markierte die grüne Bewegung die Veröffentlichung des neuesten IPCC-Berichts in einem einzigen Facebook-Posting, inmitten all des Waffengefechts.

Es überrascht nicht, dass Bulgarien als großer Waffenproduzent seit Beginn des Krieges über Stellvertreter massiv in die Ukraine exportiert hat. Als dies aufgedeckt wurde, folgten Vergeltungsmaßnahmen seitens Russlands. Unter dem Vorwand, Bulgarien weigere sich, für russisches Gas in Rubel zu zahlen, kündigte Gazprom am 26. April an, die Gaslieferungen an Bulgarien mit sofortiger Wirkung einzustellen. In Vorbereitung auf eine solche Wende schlug der Co-Vorsitzende der Grünen Partei, Vladislav Panev, vor, den Markt noch stärker zu liberalisieren, um den Verbrauchern die Möglichkeit zu geben, ihre eigene Energie zu produzieren. Eine Position, die in krassem Widerspruch zu der ihrer Kollegen in Frankreich steht.

Unter dem Strich sind die weitreichenden Folgen des Krieges auch an den grünen Parteien in ganz Europa nicht vorbeigegangen, die sich für mehr Krieg einsetzen, um den Krieg zu beenden. Ihre Vision einer “pragmatischen” Lösung, die sich auf die Entsendung von Waffen und die Verhängung von Sanktionen beschränkt, hat ihren Anspruch auf Gewaltlosigkeit aufgegeben und gezeigt, dass sie sich der Doktrin der “gerechten Gewalt für humanitäre Zwecke” verschrieben haben. In wirtschaftlicher Hinsicht hat ihre Reaktion die ideologischen Unterschiede innerhalb der grünen Parteien offengelegt. Auf der anderen Seite haben sich die linken und nominell linken Parteien in Frankreich, Deutschland und Bulgarien alle gegen die Lieferung von Waffen an die Ukraine gewehrt. Die Begrenzung der öffentlichen Debatte seit Beginn des Krieges auf die Frage, ob die Ukraine militärisch unterstützt werden soll oder nicht, hat sich nachteilig darauf ausgewirkt, die Dringlichkeit des Klimawandels und die Notwendigkeit von Maßnahmen zu verdeutlichen und in Erinnerung zu rufen. Stattdessen hat sie es ermöglicht, sich ein früheres Ende der Welt vorzustellen, wie es die langsame Gewalt der Klimakatastrophe mit sich bringen würde.

Anm.d.Red: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englischsprachige Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de.

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„Wir brauchen Aktivismus“

Erstellt von DL-Redaktion am 30. April 2022

Jennifer Morgan über Klimaschutz

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Laufen in den Parteien noch nicht genügend Idioten-Innen zum Abkassieren herum ?

Ein Interview von Barbara Junge und Bernhard Pötter mit Jennifer Morgan

Ex-Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan hat die Seiten gewechselt. Ein Gespräch über Allianzen und den Krieg, der die Energiewende beschleunigt.

Auf dem Weg zur Staatssekretärin verlaufen wir uns. Im Gänge­labyrinth des Außenministeri­ums biegen wir im zweiten Stock trotz Eskorte einmal links statt rechts ab und stehen verloren auf einem endlosen Flur. Eine Mitarbeiterin findet uns und entschuldigt sich: Das Büro der Klimastaatssekretärin ist so neu, dass noch kein Schild darauf hinweist. Nach einer kurzen Begrüßung geht es gleich los.

taz am wochenende: Frau Morgan, als Chefin von Greenpeace International haben Sie nach dem Klimagipfel von Glasgow gesagt: Ohne die Aktivisten wäre er ein Flop gewesen. Jetzt vertreten Sie als Staatssekretärin ein Industrieland. Sind Sie auf die Seite gewechselt, die für die Flops verantwortlich ist?

Jennifer Morgan: Nein. Ich würde immer noch sagen, dass Glasgow ein Flop gewesen wäre ohne die Aktivisten. Wir brauchen in der aktuellen Klima­krise alle an Bord: Regierungen, Wissenschaft, gesellschaftliche Unterstützung. Wir brauchen Aktivismus.

Bisher war Ihre Rolle, die Industrieländer anzutreiben. Müssen Sie jetzt in Ihrem neuen Job die AktivistInnen bremsen?

Nein, wir müssen immer noch die Industrieländer vorantreiben. Deutschland hat die G7-Präsidentschaft und wir beschleunigen zu Hause die Energiewende. Ich denke nicht so sehr daran, wer auf welcher Seite steht, sondern daran, was man mit wem unternehmen kann. Wenn ich eine Person sehe und denke, da kann ich einen Unterschied machen, dann werde ich mit ihm oder ihr für eine progressive Allianz arbeiten.

Ihre ehemaligen Kollegen von Greenpeace fordern einen schnelleren Ausstieg aus russischem Öl und Gas als Ihre Regierung. Schlagen da nicht zwei Herzen in Ihrer Brust?

Bevor ich diese Arbeit übernahm, habe ich den Koalitionsvertrag ganz genau gelesen. Und ich habe gesehen: Das gibt es eine Menge Schnittmengen mit dem, was Greenpeace sagt: schnellerer Kohleausstieg, schnelleres Ende für Verbrennungsmotoren. Es geht um einen anderen Begriff von Wohlstand, der mehr ist als nur das Bruttoinlandsprodukt, um Klimagerechtigkeit und um bezahlbares und erneuerbares Wohnen. Ich hatte und habe das Gefühl, dass die Vorhaben sehr ambitioniert sind. Und meine Rolle ist es auch ein bisschen, die Wissenschaft und die NGOs in dieser Debatte in die Regierung einzubringen.

So schnell wird man von einer Aktivistin zur Diplomatin?

Ich bin eine aktivistische Diplomatin. Das heißt für mich, alles zu tun, um Klimaschutz voranzutreiben, um Klimagerechtigkeit zu schaffen. Und in meiner neuen Rolle habe ich andere Möglichkeiten als bei Greenpeace.

Ihr Job als Klimastaatssekretärin ist ja ganz neu. Was ist eigentlich Ihre Rolle?

Ich werde für die neue Klima­außenpolitik dieser Regierung alle Hebel der Außenpolitik für Fortschritte im Klimaschutz nutzen. Mit den anderen Ressorts sind wir dabei, das Klima­team Deutschland aufzustellen. Aber auch mit Unternehmen und Bundesländern tausche ich mich aus. Hier im Haus reden wir ganz neu darüber, wie wir Klimaschutz in humanitäre Hilfe, Handelsabkommen oder wissenschaftliche Partnerschaften integrieren. Auf internationaler Ebene nutzen wir alle Instrumente, um die Grenze von 1,5 Grad Erwärmung zu halten. Meine Rolle ist es, Strategien zu entwickeln, Gespräche zu führen und Koalitionen – mit anderen – zu organisieren und voranzutreiben. Wir wollen eine Klima­außenpolitik aus einem Guss.

Sie haben die 1,5-Grad-Grenze erwähnt. Was ist da Ihr Minimalziel?

Das Ziel ist: Wir müssen gegen jedes Zehntelgrad Erwärmung kämpfen.

Schaffen wir die 1,5 Grad?

Die Wissenschaft sagt, dass wir das noch schaffen können. Aber es wird schwieriger mit jedem Jahr, in dem die Emissionen steigen. Wir können deshalb nicht wie vorher arbeiten, in kleinen Schritten. Wir müssen disruptive Momente suchen, sodass es schneller gehen kann. Die Konsequenzen, wenn wir es nicht schaffen, sind sonst zu groß: Ich war gerade in Bangladesch auf meiner ersten Auslandsreise. Da haben wir ein Dorf besucht, wo vor zwei Jahren ein intensiver Zyklon gewütet hat. Die Leute dort leiden so viel. Und wenn du ihnen in die Augen schaust, dann weißt du, wir müssen dringend etwas tun, denn sie haben daran keine Schuld.

Disruption ist ein Prozess der Zerstörung. Was sind diese disruptiven Momente?

Wir leben gerade in einem. Der Krieg in der Ukraine beschleunigt unsere Energiewende. Wir wollen so schnell wie möglich unabhängig von Russlands Öl, Kohle und Gas werden. Es gibt aber natürlich auch andere Kräfte, die wollen den Moment nutzen, um mehr Öl und Gas und fossile Infrastruktur aufzubauen. Das müssen wir verhindern. Wir müssen gewinnen.

Für 1,5 Grad darf es weltweit keine neue fossile Infrastruktur geben. Aber Deutschland plant jetzt neue Terminals für Flüssiggas.

Der Krieg verlangt uns schwere Entscheidungen ab, die uns nicht in eine Sackgasse führen dürfen. Daher müssen neue Terminals auch grünen Wasserstoff aufnehmen können. Und wir dürfen nicht auf langfristige Lieferverträge setzen. Denn es gilt das Ziel, die Gasnetze bis spätestens 2045 zu dekarbonisieren. Wir wollen die Weichen so stellen, dass wir die Emissionen in den nächsten Jahren schneller runterbringen können.

Das Gespräch führen wir im „Hildegard-Hamm-Brücher-Saal“. Ein großer Titel für ein kleines Zimmer, das in dunklem Holz getäfelt ist und an der Westseite des Gebäudes liegt. An diesem sonnigen Aprilnachmittag herrschen hier schon hochsommerliche Temperaturen. Zum Glück ist nicht August. Beim Thema Gebäudeklimatisierung hat das Auswärtige Amt offenbar noch Nachholbedarf.

Wie groß sind denn Ihre Möglichkeiten im Auswärtigen Amt? Hier arbeiten 3.000 Leute, die sich bisher kaum um das Thema gekümmert haben. Sie bringen 15 KlimaexpertInnen aus dem Umweltministerium mit. Wie groß ist Ihr Hebel, um hier viel zu ändern?

Mit der Entscheidung, den Klimaschutz ins Auswärtige Amt zu holen, hat eine neue Ära der Außenpolitik begonnen. Es gibt dafür eine große Offenheit und ein Interesse im Haus, um die Hebel des AA zu nutzen, um das 1,5-Grad-Ziel zu sichern. Viele Abteilungen im Haus wissen, wie dringend das ist. Vorher gab es nicht die Kapazitäten im Haus, das irgendwie in eine interne umfassende Strategie umzusetzen. Aber der Hebel ist groß. Auch, weil das Thema der Ministerin sehr am Herzen liegt. Da ist diese Disruption eine Chance und Deutschland kann mit einer kohärenten Klimaaußenpolitik ein Modell für die Welt werden.

Flickr - boellstiftung - Panel, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Jennifer Morgan, Barbara Unmüßig, Matthias Machnig, Jürgen Trittin (1).jpg

Wer sich mit den Politier-Innen einlässt muss auch akzeptieren wie ein Trüffelschwein gesehen zu werden! 

Bisher sind Deutschland und die EU keine großen Vorbilder. Bei der COP27, der nächsten Klimakonferenz im November im ägyptischen Scharm al-Scheich, sollen alle Länder höhere Klimaziele vorlegen. Davon ist in Deutschland nichts zu sehen.

Alle Länder sollen ihre Klimapläne, ihre NDCs, verbessern. Wir können das als Deutschland oder in der EU machen. Es gibt verschiedene Wege, das zu erreichen. Am besten durch eine NDC-Erhöhung. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, die Ambitionen zu steigern: etwa durch mehr Erneuerbare, einen früheren Kohleausstieg oder die Vermeidung von Methanemissionen.

Sie sagen, eine der obersten Prioritäten Deutschlands sei Solidarität mit den Opfern. Im Bundeshaushalt 2022 werden aber die Mittel für Klima­finanzierung kaum erhöht.

Da müssen wir ran. Der erste Teil der Solidarität ist, dass wir zu Hause viel machen, um die Emissionen zu senken. Da sind wir mit dem Fit-for-55-Paket der EU auf einem guten Weg. Der zweite Teil ist die Klimafinanzierung. Da hat Frau Merkel im letzten Jahr in der Tat versprochen, dass Deutschland seine Hilfen von derzeit 4 auf 6 Milliarden in 2025 aufstockt. Das ist die häufigste Frage von Entwicklungs- und Schwellenländern und auch unsere Erwartung: dass Deutschland seine Verpflichtung einhält. Wir müssen liefern. Und deshalb hoffe ich, dass der Bundestag auch mehr Geld für die internationale Klimafinanzierung beschließt als die jetzt für 2022 debattierten knapp 4,2 Milliarden Euro.

Wie relevant ist das alles, wenn China weiter die Kohle ausbaut und so die globalen Emissionen hoch hält?

Quelle     :      TAZ-online      >>>>>>           weiterlesen

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Oben     — Jennifer Morgan (Executive Director, Greenpeace International) at the #MSC 2020 event

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Unten     —   Foto: Stephan Röhl

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„Muss Putin alles zutrauen“

Erstellt von DL-Redaktion am 25. April 2022

Ich habe mich auch für die Lieferung defensiver Waffen an die Ukraine ausgesprochen“

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INTERVIEW  VON  MICHAEL SONTHEIMER

Christian Ströbele, langjähriger Abgeordneter der Grünen, Kritiker von Aufrüstung und Nato und zugleich Unterstützer bewaffneter Befreiungsbewegungen, über seine Lehren des Kriegs gegen die Ukraine.

taz: Christian Ströbele, wie war deine Reaktion auf Wladimir Putins Einmarsch in der Ukraine?

Christian Ströbele: Ich war schockiert. Ich ging fest davon aus, dass Putin die russischen Truppen nicht die Ukraine angreifen lässt. Nicht weil ich ihn für einen Ehrenmann gehalten hätte, sondern weil ich dachte, er ist ein schlauer Fuchs und begeht keine solche kolossale Dummheit wie diesen Angriffskrieg.

Worin siehst du seine Dummheit?

Putin kann sich möglicherweise militärisch durchsetzen, aber nur mit enormen Kosten. Wenn es zutreffend ist, dass schon über 15.000 russische Soldaten bei seiner „Spezialoperation“ umgekommen sind, das muss er erst mal den Russinnen und Russen erklären. Und ich hätte es auch nicht für möglich gehalten, dass er reihenweise Staatsoberhäupter, vor allem aus dem Westen, empfängt, bis hin zum US-Präsidenten Joe Biden, und sie derart unverschämt anlügt.

Putin kommt aus dem sowjetischen Geheimdienst KGB, von Agenten kann man doch nicht die Wahrheit und nichts als die Wahrheit erwarten.

Putin hat jede Glaubwürdigkeit und jedes Vertrauen verspielt. Unwiderruflich. Ich dachte, er droht bis zuletzt, aber lässt seine Truppen nicht einmarschieren.

2001 sprach Putin als erster russischer Präsident vor dem Deutschen Bundestag. Du warst damals Abgeordneter der Grünen. Wie hast du ihn und seine Rede in Erinnerung?

Er sprach deutsch, was der Kommunikation förderlich war. Und Putin machte ein positives Angebot, gemeinsam für Frieden und Sicherheit in Europa zu sorgen. Das war doch die Erwartung von vielen nach dem Fall der Mauer, nach dem Ende des Kalten Krieges, dass die atomare Konfrontation abgebaut wird, dass man keine hochgerüsteten Armeen mehr braucht.

Wie reagierten die Abgeordneten auf Putins Rede?

Der Plenarsaal war voll wie sonst selten. Alle sprangen auf, klatschten, es gab Standing Ovations. Ich fand das völlig daneben und blieb sitzen.

Warum das?

Ich wollte damit zum Ausdruck bringen, dass man ihm seine Sünden nicht einfach nachsehen kann. Er kam vom KGB und hatte da wohl schon einige schmutzige Dinge getan. Und er hatte schon brutal Krieg geführt, nicht in Europa, aber in Tschetschenien. Er hatte Grosny in Schutt und Asche bomben lassen.

Ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei, das waren die Säulen, auf denen die Grünen Anfang 1980 gegründet wurden, Petra Kelly war eine ganz große Pazifistin. Nie wieder Krieg; Frieden schaffen ohne Waffen; Schwerter zu Pflugscharen. Das hätte die Mehrheit der Grünen sofort unterschrieben. Heute will die Außenministerin Annalena Baerbock in der Ukraine Frieden schaffen mit schweren Waffen. Wie konnte es zu einer derartigen Verkehrung der politischen Positionen bei den Grünen kommen?

Das Grauen dieses Krieges in der Ukraine hat diesen Positionswechsel bewirkt. Petra Kelly war Pazifistin, es gab viele damals bei den Grünen. Ich persönlich war und bin kein Pazifist, das muss ich immer wieder betonen.

Hat die Parteispitze sich nicht, um auf Bundesebene regierungsfähig zu werden, auch militärpolitisch dem Mainstream angepasst? Die von Baerbock und Habeck im letzten Wahlkampf geforderten Treueschwüre zur Nato sprachen doch für sich.

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Der letzte Streit, den ich in meiner Partei hatte, drehte sich bei der Erstellung des Programms zur Bundestagswahl um die Frage, ob die Bundeswehr bewaffnete Drohnen bekommen soll, Killerdrohnen, wie ich sie nenne. Ich war heftig dagegen, weil ich wusste, wie die Amerikaner in Afghanistan, Somalia oder im Irak schätzungsweise Tausende Menschen mit ihnen umgebracht haben, Islamisten, aber auch viele Zivilisten. Die Position des Vorstandes, für die Anschaffung dieser Drohnen, wurde von Jürgen Trittin vertreten. Es gab eine Kampfabstimmung, mit knapper Mehrheit wurde die Anschaffung von Killerdrohnen grundsätzlich gebilligt.

Kanzler Scholz hat in seine Rede über die Wende zur Aufrüstung verkündet, dass solche Drohnen jetzt in Israel gekauft würden.

Seit dem 24. Februar, seit dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine, ist alles anders. Der Angriff auf die Ukraine, die Zerstörung des Landes, hat uns alle in Angst und Schrecken versetzt. Ich habe mich auch für die Lieferung defensiver Waffen an die Ukraine ausgesprochen.

Inzwischen geht es um die Lieferung von Panzern, Artilleriegeschützen und Kampfjets.

Das sollte nicht geschehen. Da bin ich dagegen, schon weil Putin dies als Vorwand nehmen könnte, Deutschland und andere Nato-Länder, deren Regierungen schwere Angriffswaffen wie Panzer liefern, als Kriegspartei ansehen und anzugreifen. Das wäre der Weltkrieg.

Du hast betont, dass du kein Pazifist bist und warst. Du hast bei der Bundeswehr gedient und als Kanonier einen Preis für gutes Schießen bei der Flugabwehr gewonnen. Aber als die Bundeswehr sich am Nato-Angriff auf Serbien beteiligte, sagtest du am 25. März 1999 im Bundestag in Bonn: „Ich verstehe meine Fraktion nicht, die für mehr Frieden in der Welt angetreten ist, die eine Friedenspolitik machen will – sie setzt sich hier hin und ist damit einverstanden, dass – wenn von deutschem Boden nach 54 Jahren wieder Krieg ausgeht – darüber hier nicht einmal geredet wird.“ Ich erinnere mich, dass du zutiefst erschüttert warst.

Ja, das war ich. Die Bundesregierung mit Joschka Fischer als grünem Außenminister war für die Beteiligung an diesem Krieg. Der Bundestag hatte ein halbes Jahr zuvor schon dafür gestimmt. In der Nacht hatte die Nato angegriffen, und die PDS, die Ostvorgängerin der Linken, wollte es auf die Tagesordnung setzen, aber der Antrag war abgelehnt worden. Ich bin im Bundestag nach vorne gegangen, vorbei an den Reihen der Grünen, meiner Fraktion, von denen mich einige mit eisigen Minen anstarrten. Ich habe die kurze Rede gehalten, aus der du zitiert hast. Der Bundestagspräsident Wolfgang Thierse von der SPD hat mich anständigerweise reden lassen.

Schon damals unterstützte die komplette Bundestagsfraktion der Grünen, von dir abgesehen, eine Beteiligung der Bundeswehr an einem Nato-Einsatz ohne UN-Mandat und ohne Kriegserklärung. Nach diesem Sündenfall scheinen die heutigen Bekenntnisse der Grünen zur Nato und die Forderung nach Aufrüstung und Lieferung von schweren Waffen in ein Kriegsgebiet nur eine konsequente Weiterentwicklung, oder?

Ja, die entscheidende Frage ist: Wo zieht man die Grenze? Ich war allerdings immer der Meinung, dass Befreiungsbewegungen im globalen Süden das Recht haben, mit Waffen gegen Unterdrückung und für ihre Selbstbestimmung zu kämpfen. Und dass Länder, die militärisch angegriffen werden, natürlich das Recht haben, sich zu verteidigen.

Von 1980 bis 1992 sammelte die taz unter dem Stichwort „Waffen für El Salvador“ mehr als 4,7 Millionen Mark, die an mehrere Guerillagruppen im mittelamerikanischen El Salvador übergeben wurden. Damit diese das grausame, von den USA unterstützte Militärregime zu Fall bringen konnten. Es gab harte Debatten in der taz. Du warst einer der Initiatoren der Aktion. Wie siehst sie heute?

Ich finde das noch immer richtig. Es war damals unzweifelhaft, dass in El Salvador ein Volk mit grausamsten Mitteln von einem rechten Regime unterdrückt wurde. Der Auslöser war dann der Mord an Erzbischof Romero im März 1980, der sich für die Rechte der Bauern einsetzte. Er wurde während einer Messe vor dem Altar von einem Militär erschossen. Inzwischen wurde er vom Papst „heilig“ gesprochen. Ich war selbst in El Salvador und habe mich während des Bürgerkrieges und danach vor Ort kundig gemacht. Schrecklich ist natürlich, dass El Salvador heute das Land mit der höchsten Mordrate der Welt ist.

El Salvador gehört zu den Ländern, bei denen bundesdeutsche Linke sich mit Befreiungsbewegungen oder kommunistischen Regierungen solidarisiert und sie unterstützt hat, die sich dann zu üblen Diktaturen entwickelt haben. Ich denke an China, Vietnam, Kambodscha, Simbabwe, Angola, Nicaragua. Da werden die Pressefreiheit und die Menschenrechte heute mit den Füßen getreten. Ist das nicht auch ein Argument für Pazifismus?

Mit Abstand am wichtigsten für die radikale Linke war der Krieg in Vietnam, während dem der U.S.-Airforce-General Westmoreland den Vietnamesen drohte, sie in die Steinzeit zurückzubomben, und zwei Millionen Menschen durch US-Bomben starben. Ich habe damals zusammen mit einem Anwaltskollegen Geld für den Vietcong gesammelt und es zu deren Botschaft nach Ostberlin gebracht. Dazu stehe ich noch heute. Das würde ich so wieder machen. Allerdings ist es leider so: Wenn man ein Volk dabei unterstützt, seine Unabhängigkeit und Rechte zu erkämpfen, hat man keine Garantie dafür, dass anschließend dort demokratische Zustände einkehren.

Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann, aber auch Ralf Fücks, Reinhard Bütikofer und andere Grüne gehörten in den 1970er Jahren dem maoistischen Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) an, der Massenmördern wie Idi Amin in Uganda oder Pol Pot in Kambodscha huldigte. Waren die Achtundsechziger nicht furchtbar naiv?

Quelle          :        TAZ-online          >>>>>            weiterlesen

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Hofreiter vs. Scholz :

Erstellt von DL-Redaktion am 25. April 2022

Mehr Führung, mehr Waffen!

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Alexander Amethystow

Pluralistische Demokratie hat – wie jeder weiß – viele Vorteile gegenüber einer Diktatur mit „gleichgeschalteter“ Meinung. Zum Beispiel ist dort eine freie Auseinandersetzung möglich. Selbst im Rahmen einer regierenden Koalition, wie sich gerade in der Bundesrepublik zeigt.

Der Grünen-Politiker und Vorsitzende des Europa-Ausschusses des Bundestages kritisierte am 14. April in einem Interview mit „RTL Direkt“ den Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Vorwürfe sind schwerwiegend. „Wir verlieren massiv Ansehen“, sagt Hofreiter und meint alle Deutschen, denen es ja nicht egal sein kann, wie deren Staat in der Welt steht. „Wir“ so Hofreiter, „müssen jetzt endlich anfangen, der Ukraine das zu liefern, was sie braucht, und das sind auch schwere Waffen“. Wir sind Deutschland und Deutsche müssen, was Deutschland will: Russland im Kampf um den Einfluss in der Ukraine und der Welt zurückdrängen. Die vom Kanzler versprochene „Zeitenwende“ trete nicht schnell genug ein! Dazu fällt dem Politiker der basisdemokratischen Partei ein: „Und da braucht‘s deutlich mehr Führung“.

„Wir“ – schon wieder „wir“ – „verlieren […] massiv Ansehen bei all unseren Nachbarn“, was „nicht nur ein Problem für die Menschen in der Ukraine“ ist, da deren Staat sie nicht gut genug gerüstet in den Krieg schicken kann, sondern auch „ein Problem für uns“.

Wenn Deutschland keine klare Unterstützung beim Zurückdrängen Russlands zeige, wird es nicht als Weltmacht ernst genommen – so die Sorge. Wenn andere Mächte schneller mit Rüstungsgütern zur Stelle sind, haben die womöglich auch mehr zu sagen bei der Gestaltung der Verhältnisse in der Region.

Allzu plural sind die Positionen innerhalb der Regierungskoalition am Ende aber trotz allem nicht. Grüne Kritiker und die Kritisierten sind sich einig, dass die Bundesrepublik alles Recht der Welt hat, ihre Interessen überall, auch und gerade in der Ukraine wahrzunehmen. Deutsches Kapital soll sich auch dort betätigen können, wo die russische Führung es nicht möchte. Um das durchzusetzen muss die Regierung sogar einzelne Unternehmen zeitweilig an den Geschäften mit Russland hindern. Wer als eine führende Macht anerkannt werden möchte, darf vor Drohungen nicht weichen und muss eigene Drohungen auch ernsthaft umsetzen. Aus denselben Gründen erklärt die russische Führung ihren Staatsbürger:innen auch beständig: “wir“ – mal wieder ein „wir“! — „hatten keine andere Wahl“ als in die Ukraine einzumarschieren. Dies nennt Hofreiter wiederum „Vernichtungskrieg“ aus dem nur eine Konsequenz möglich sei, nämlich die Aufrüstung des ukrainischen Staates. Darauf arbeitet die Regierungskoalition ja sowieso schon hin. Die Meinungen gehen nur auseinander, wie viel Deutschland dafür an wirtschaftlichen Schaden im Kauf nehmen soll. Was gemacht werden darf und muss steht fest, die Diskussion entflammt sich an der Frage, wie es am besten umgesetzt wird. Für die höchste Ämter qualifizieren sich diejenigen, die das gemeinsame Programm des Vorankommens auf Kosten anderer Staaten inklusive Schaden an deren Bevölkerung auch effektiv umsetzen können. Da ist Zimperlichkeit nicht angesagt. Da zeigen sich die Unterschiede zwischen dem autoritären Russland und dem pluralistischen Deutschland deutlich: die deutschen Politiker legen sich furchtlos mit dem Autoritäten an und verlangen von denen “mehr Führung”.

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Von der unkollegialen Art von Hofreiters Kritik distanziert sich die Spitze seiner eigenen Partei zwar, die Forderung nach Lieferung schwerer Waffen teilt sie jedoch durchaus. Die Grünenspitze verweist darauf, dass die Bundesaußenministerin schon alles Mögliche tue um die ukrainische Kriegsführung mit solchem Gerät zu unterstützen. Hofreiters Versuch, sich mit seinem Drängeln auf Waffenlieferungen in der demokratischen Parteienkonkurrenz zu profilieren, kollidiert mit dem Bedürfnis Geschlossenheit in der Koalition zu demonstrieren.

Hofreiter hat für seine Attacke zudem just den Zeitpunkt ausgewählt, an dem der Kanzler zum Frontbesuch in Kiew weilt, während die Außenministerin der Bundeswehr in Mali eine Visite abstattet. Dort kündigte sie an, den dortigen Auslandseinsatz zu beenden – weil die malische Regierung sich zu viel Freundschaft mit Russland erlaubt. Der Kampf gegen die russische Konkurrenz führt Deutschland inzwischen weltweit und auch in Afrika werden die Staaten vor die Wahl gestellt, ob sie bereit sind, die Folgen einer Kooperation mit Russland zu tragen. Der Einsatz von deutscher Militärmacht ist dabei genauso ein Druckmittel, wie deren Entzug. Alle Hände voll zu tun also für den deutsch-europäischen Imperialismus! Über das „wie“ kann dabei ganz demokratisch gestritten werden.

Urheberrecht
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Oben      —   Olaf Scholz, Politiker (SPD) – Zur Zeit Vizekanzler und Bundesminister der Finanzen der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem ist er Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestagswahl 2021. Hier während einer SPD-Wahlkampfveranstaltung im August 2021 in München. Titel des Werks: „Olaf Scholz – August 2021 (Wahlkampf)“

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Präsenzpflicht als Ideologie

Erstellt von DL-Redaktion am 22. April 2022

Muss man sich dafür entschuldigen, Urlaub zu machen?

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Wer versucht, sich auf Kosten der Wähler durch sein Leben zu schlunzen ? Wer in der Kneipe Wasser bestellt – sollte keinen Sekt erwarten!

 Eine Kolumne von Margarete Stokowski

Der Fall Anne Spiegel ist kompliziert, aber dass sich die Politikerin und Mutter für ihren Urlaub entschuldigt hat? Bedenklich! Zeit, sich von der patriarchalen Idee der Vollzeit-Präsenz am Arbeitsplatz zu verabschieden.

Wussten Sie, dass es ein Menschenrecht auf Urlaub gibt? Ich wusste es nicht, bis ich vor einer Weile eine Formulierung zu einem anderen Menschrecht nachgucken wollte. Ich fand dann zufällig auch Artikel 24: »Jeder Mensch hat das Recht auf Erholung und Freizeit und insbesondere auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und regelmäßigen bezahlten Urlaub.« Interessant. Mir ist nicht klar, wie das juristisch funktionieren soll und wen man da verklagen kann, wenn man zum Beispiel Freiberuflerin ist (außer: sich selbst?), aber eines Tages werde ich das rausfinden.

Im Fall von Anne Spiegel, der zurückgetretenen Familienministerin, gibt es natürlich viel zu besprechen. Konzentrieren wir uns aber mal auf einen kurzen Ausschnitt ihrer Erklärung am Tag vor dem Rücktritt: »Das war ein Fehler, dass wir auch so lange in Urlaub gefahren sind. Und dass wir in Urlaub gefahren sind. Und ich bitte für diesen Fehler um Entschuldigung.«

Das war aus Sicht mancher Menschen tatsächlich ein Fehler. Andere fanden ihre Begründung, den Verweis auf familiäre Probleme und Erholungsbedürftigkeit, verständlich. Letztlich war aber wohl nicht der Urlaub selbst das Hauptproblem, sondern Spiegels Kommunikation darüber und die Tatsache, dass sie erst angab, aus dem Urlaub per Video an Sitzungen teilgenommen zu haben, dann aber zugeben musste, dass das nicht stimmte.

Es soll hier nicht direkt um Anne Spiegel und alle Einzelheiten ihres Rücktritts gehen, sondern nur um dieses Detail: dass sich jemand entschuldigt, Urlaub gemacht zu haben. Muss man das? Und: Welche Botschaft spricht daraus?

Es gibt Menschen, die sagen, aus Spiegels Scheitern und den bisweilen gehässigen Reaktionen auf ihren Auftritt würden Mädchen und Frauen jetzt lernen, dass Frauen es in der Politik besonders schwer haben, vor allem wenn sie eine Familie haben, und dass sie für jeden Fehler mehr fertiggemacht werden als ihre männlichen Kollegen. Für diese Erkenntnis braucht man aber Anne Spiegel nicht. Das wusste man schon vorher: dass es bei männlichen Politikern als normal gilt, wenn ihre Frau ihnen den berühmten »Rücken freihält«, eine eigenartige Formulierung, als kämen da richtige Angriffe von hinten, und nicht zum Beispiel ein hungriges Kind, aber gut. Gleichzeitig wird bei Frauen, die in die Politik gehen, gerne besonders gründlich gefragt, wie sie das denn genau machen wollen, wenn sie kleine Kinder haben. Das ist nichts Neues, also wirklich nicht.

Man kann aber schon mal fragen, wie das so ist mit dem Recht auf Urlaub. Gibt es Berufe und Situationen, in denen es sich verbietet, Urlaub zu nehmen, auch wenn man ein extremes Bedürfnis danach hat? Weil man sich um Angehörige kümmern will, weil man selbst kaputt ist, oder aus welchen privaten Gründen auch immer?

Wenn Sie mich fragen: Ich persönlich möchte nicht von Menschen regiert werden, die keinen Urlaub machen, wenn sie urlaubsbedürftig sind. Oder von Menschen, die glauben, bezüglich ihrer Verfügbarkeit im Urlaub lügen zu müssen. Oder, allgemeiner: von Menschen und Institutionen, die so arbeiten, dass Einzelne derart unverzichtbar werden, dass ihr kurzfristiger Ausfall unmöglich erscheint. Teresa Bücker schrieb dazu auf Twitter: »Gute Führung ist das eigene Team so aufzustellen, dass andere einspringen können, wenn man verhindert ist.«

Sicher kann man sagen: Es ging aber um eine Jahrhundertflut, um eine richtige Naturkatastrophe, um gestorbene Menschen und Menschen vor den Trümmern ihrer Existenz. Das ist wahr, aber gerade weil es so ist, dass es Katastrophen geben kann, in denen die Politik sich schnell und umfassend kümmern muss, muss sie auch so gestaltet sein, dass es keinen großen Unterschied macht, ob eine einzelne Person sich gerade mal um ihre Familie oder sich selbst kümmern muss. Jedes Ministerium, jeder Betrieb sollte so gestaltet sein, dass niemals alles an einer einzigen Person hängt.

Kurzzeitige Ausfälle und Urlaube sind dabei nur das Eine. Das Andere ist: Ich glaube darüber hinaus nicht, dass das Prinzip der Vollzeitpräsenz sich durchsetzen wird. Meine Meinung: Vollzeitarbeit, -verfügbarkeit und -präsenz sind Überreste einer patriarchalen Ideologie, die darauf basierte, dass die einen (Männer) für die »richtige« Arbeit zuständig sind die anderen (ihre Ehefrauen, Babysitter, Reinigungskräfte, Pflegekräfte und so weiter) sich um den Rest kümmern. Das kann aber auf Dauer nicht gut gehen: nicht in einer Welt, die den Anspruch auf Gleichberechtigung hat.

Quelle     :          Spiegel-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     — Kabinett Dreyer II

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Unten         —        Margarete Stokowski (2018)

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Denken in Kreisläufen

Erstellt von DL-Redaktion am 17. April 2022

Secondhand, Repaircafés, Unverpacktläden und demontierbare Häuser.

Münster, Antiquariat Lot -- 2019 -- 3967.jpg

Von Hanna Gersmann

Abfallvermeidung ist eine Antwort auf Rohstoffmangel und Erderwärmung. Würden die Menschen überall so leben wie in Deutschland, wäre die Erde dreimal nötig.

Natürlich will das niemand hören: „Schaff mal den Müll weg.“ Also anderer Versuch, eher so im Fünf-Schritte-zum-Knackarsch-Stil von Lifestylemagazinen oder Influencer:innen: „Dein Weg aus der Krise. So wirst du resilient und unabhängig.“ Vielleicht muss an der Sprache arbeiten, wer klarmachen will: „Leute, es gibt ein Problem. Verschwendung heißt es. Zu viel Müll. Da stecken aber Schätze drin. Also keine Diamanten, aber so was Ähnliches.“

In der Krise lernt man sich ja noch mal ganz anders kennen, die Macken, was so richtig schiefläuft. Und der Druck, mit Ressourcen schonender umzugehen, sie nicht einfach in die Tonne zu schmeißen, ist schon enorm wegen der Erderhitzung. Aber durch Corona und den furchtbaren Krieg reißen nun auch noch Lieferketten, ziehen die Preise an. Dabei geht es anders – es muss. Denn das Problem wiegt schwer.

Das sagen nicht spinnerte Ökokatastrophisten. Das zeigen Rechnungen der Industrieländerorganisation OECD. Demnach wiegen 35.000 Eiffeltürme genauso viel wie aller Plastikmüll, der allein 2019 in der Welt produziert wurde: 353 Millionen Tonnen. Damit hat sich der Plastikmüll innerhalb von nur 20 Jahren verdoppelt. Und nur der geringste Teil des Plastikmülls wird recycelt: 9 Prozent. Der Rest kommt auf Deponien, wird verbrannt oder landet irgendwo und treibt über Flüsse in die Meere. Es läuft nicht rund.

Ja, aber in Deutschland ist das doch anders? Keinen Deut. Deutschland rühmt sich zwar gern, bester Müllsammler und -sortierer zu sein. Doch in fast keinem anderen Land der EU wird so viel in die schwarzen, blauen, gelben, braunen, sonst wie bunten Mülltonnen und Extracontainer gestopft wie in Deutschland. Im Jahr 2020 entsorgte hierzulande je­de:r Einzelne, das rechnet die Statistikbehörde Eurostat vor, 632 Kilo Müll. Das sind 67 Kilo mehr als noch 2005. Deutschland ist eine Wegwerfgesellschaft im XXL-Format.

Die Bestellung aus dem Internet, an Verpackung wird kaum gespart. Supermärkte bieten die Ananas und den Salat schon geputzt und geschnitten in Plastikbechern an. Mit einer älteren Gesellschaft werden Haushalte kleiner, die verkauften Portionsgrößen auch. Die Schrankwand fürs Leben, Eiche massiv – die Zeiten sind vorbei, seit ein schwedisches Möbelhaus Regale, Tische, Einbauschränke zu einer Trendsache gemacht hat. Das hat sein Gutes. Denn was zuvor oft als elitär galt, ist nun erschwinglich. Nur wird nun allerhand an Zeug in die Wohnung gekarrt, was kurze Zeit später schon wieder in der Tonne landet.

Das ist bei Elektrogeräten nicht viel anders. Manche Modekette wirft im 14-Tage-Takt eine neue Kollektion auf den Markt, hier ein leicht anderer Schnitt, da eine etwas pastelligere Farbe. Die Textilbranche ist so für mindestens 8 Prozent aller CO2-Emissionen verantwortlich. Das ist mehr, als der gesamte Flug- und Schiffsverkehr rund um den Globus ausstößt. Noch nicht geredet von den vielen Häusern, die einfach abgerissen werden, kaum einige Jahrzehnte alt. Das Gros des Bauschutts, der dann Laster für Laster ­abtransportiert wird, landet aufbereitet im Straßenbau. Dass aus einem alten Haus ein neues wird – selten.

Für das Desaster gibt es eine berühmte Formel, aufgestellt vom Global Footprint Network: Würden die Menschen überall so leben wie in Deutschland, wäre die Erde dreimal nötig, um den Ressourcenverbrauch nachhaltig zu decken. Als hätte es nie einen Umweltminister namens Klaus Töpfer gegeben, der Anfang der 1990er Jahre die Kreislaufwirtschaft einführte, allen eintrichterte: Vermeiden ist besser als wiederverwenden. Wiederverwenden ist besser als Recycling. Recycling ist besser als verbrennen.

Allerdings gibt es jene, die vorangehen. Damit ist die Politik nicht aus der Verantwortung. Dazu später. Doch ist gut zu wissen, was möglich ist. Darum drei Beispiele neben Repaircafés, Unverpacktläden und unzählig vielem anderen.

Erstens: Städte stemmen sich gegen den Wegwerfkram, Bamberg, Berlin, Düsseldorf, Köln, ­Regensburg, München. Vorreiter: Kiel. Die schleswig-holsteinische Landeshauptstadt hat 100 Maßnahmen gegen den Abfall entwickelt, will „Zero Waste City“ werden wie 400 andere Städte in anderen europäischen Ländern auch schon. Die ­Stadtbücherei verleiht seit Kurzem zum Beispiel Nähmaschinen, Skateboards, Werkzeug, verschiedene Gebrauchsgegenstände. Die Abfallentsorger analysieren, was alles falsch in welcher Mülltonne landet, um dann eine Infokampagne zu machen

Wer weiß schon genau, ob die Käserinde in die schwarze Tonne für Restmüll, der verbrannt wird, oder in die braune gehört, woraus Kompost entsteht. Es ist die Biotonne. Oder der Pizzakarton: Restmüll, wenn dreckig, sonst Gelb, Recycling, er zählt zu den Verpackungen. Theoretisch ist aber auch nichts falsch, wenn der saubere Karton in der blauen Tonne für Altpapier landet. Kiel will so bis 2035 die Menge, die je­de:r dort pro Jahr in die schwarze Tonne für Restabfälle wirft, im Vergleich zu 2017 halbieren. Es ist ein Etappenziel.

Zweitens: Erste Ar­chi­tek­t:in­nen prägen einen neuen Stil. Das neue Bürogebäude der niederländischen Triodos Bank nahe Utrecht, zumeist aus Holz, entworfen vom Büro RAU Architects, ist komplett demontierbar. Denn das Gebäude wurde mithilfe von 165.312 Schrauben errichtet und kann wieder auseinandergenommen werden. Die Angaben zu allen verwendeten Materialien sind akri­bisch in einer Datenbank registriert, ­Madaster genannt. Die Idee: Es wird leichter, die Rohstoffe wiederzuverwenden. Außerdem könnten sie so auch neben der Immobilie selbst als Wert verbucht werden. Theoretisch zumindest, bisher macht das wohl niemand.

Drittens: Der Handel mit Gebrauchtem ist der letzte Schrei. Auf der französischen Internetplattform Vestiaire Collective lassen sich Designmäntel, -taschen, -gürtel von Gucci, Prada und so weiter kaufen – alles secondhand. Man mag von Marken halten, was man will. Da ist auch nicht für je­de:n was dabei: Die Preise liegen zwar unter dem Neupreis, sind aber oft immer noch sagenhaft.

Doch hinter Vestiaire Collective – auf Deutsch „gemeinsame Umkleidekabine“, angeblich rund 1,7 Milliarden Euro wert – stehen namhafte Investoren. Al Gore zum Beispiel, der frühere amerikanische Vizepräsident und Klimaaktivist. Sie glauben offenbar an eine, wenn auch luxuriöse, Neuauflage des Kleiderflohmarkts, an eine länger anhaltende Abkehr einer ernst zu nehmenden Zahl von Kund:innen vom schnellen Konsum.

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Nur: Standard ist das alles beileibe nicht. Es bräuchte neue Regeln, Vorgaben. Dafür standen die Chancen aber wohl noch nie so gut wie heute. Po­li­ti­ke­r:in­nen haben einen Blick für Trends, zumindest wenn sie klug sind. Es geht ja um ihre Wähler:innen. Und vor allem richtet sich im ­rohstoffarmen Deutschland, aber nicht nur hier, die Wirtschaft neu aus. Immerhin gilt, was lange undenkbar schien und was die meisten Ma­na­ger:in­nen – laut Umfragen jedenfalls – nicht sorgte: Öl und Gas sind knapp. Und das ist noch nicht alles. Es fehlt an Nachschub von Aluminium, von Stahl, von so vielem. Um robuster zu werden, resilienter gegen die Krise – besser: die Krisen –, suchen sie in vielen Konzernzentralen jetzt nach alternativen Quellen für ihre Rohstoffe. Da gerät nun auch die voll gestopfte Mülltonne in den Blick und die Tatsache, dass sich aus Altem was Neues machen lässt.

Das ist spät. Es rächt sich, dass Regierungen das Denken in Kreisläufen viel zu lange unter den Teppich gekehrt, nicht ernst genommen haben. Jetzt ändert sich etwas, zumindest für alle, die optimistisch rangehen – gleich auf verschiedenen Ebenen. Auf der internationalen: Vertreter aus aller Welt haben sich erst Anfang März auf einer UN-Umweltkonferenz im kenianischen Nairobi geeinigt, den Plastikmüll an Land und in den Meeren zu bekämpfen. Innerhalb der nächsten zwei Jahre soll dazu ein rechtsverbindliches internationales Abkommen ausgehandelt werden, ähnlich dem Pariser Klimaabkommen. Wie streng es wird: offen. Dagegen steht: Seit 2010 hat die Kunststoffindustrie 180 Milliarden US-Dollar in neue Fabriken investiert. Aber es kann ein Anfang vom Ende sein.

Die EU will für Textilien, Möbel, elektronische Geräte, für alle Produkte, die auf dem EU-Markt landen, Vorgaben machen, damit sie nicht so schnell in der Tonne landen. Tempo? Fraglich, das kann sich ziehen, sollte Schritt für Schritt jede Produktgruppe einzeln verhandelt werden. Aber wer weiß.

Quelle        :           TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —       Antiquariat Solder in MünsterNordrhein-Westfalen, Deutschland

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Unten       —       Hanna Gersmann (Chefredakteurin des taz-Magazins zeozwei) Foto: <a href=“http://www.stephan-roehl.de“ rel=“nofollow“>Stephan Röhl</a> Konferenz „Das Wetter vor 25 Jahren: Grüne Lehren aus der Wiedervereinigung“ in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin

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Regieren mit den Grünen

Erstellt von DL-Redaktion am 16. April 2022

Joschka Fischer über den Ukrainekrieg –
„Das war eine Verkennung der Lage“

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Dank an die Politik: Geld in der Tasche – Turnschuhe im Beutel.
Was ein  ergrauter Greis –  jetzt alles weiß?

Ein Interview von Peter Unfried mit Joschka Fischer

Ex-Bundesaußenminister Joschka Fischer über Kooperationen in der Klimakrise und die Fehler der deutschen Russland- und Ukrainepolitik.

taz am wochenende: Herr Fischer, müssen die Deutschen sich im Angesicht des Krieges und der Klimakrise neu erfinden?

Joschka Fischer: Ein Stück weit. Sie sind schon dabei.

Was genau macht Sie optimistisch?

Zu sehen, was heute möglich ist unter dem Druck des Krieges. Und perspektivisch gilt das auch für die Klimakatastrophe.

Was war der fundamentale Fehler im bundesdeutschen Denken und Handeln, wo liegen wir falsch?

Was wir gerade erleben, ist das Ende einer langen Nachkriegszeit. Zu glauben, wir könnten als Konsequenz unserer missratenen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Abschreckung und militärische Sicherheit verzichten, das war ein Irrtum. So sehr ich mir das wünschen würde, das geht geopolitisch nicht, dafür sind wir zu groß und zu exponiert. Aus dem Irrtum ist auch die Illusion in der Beziehung zu Russland erwachsen, man könne dort durch Austausch langfristig eine friedliche Systemveränderung erreichen. Jeder, der die politische Elite in Russland kennt, weiß, dass die das völlig anders sehen. Und wie sie es sehen, das erleben wir gerade. Diese Illusion hat uns in Abhängigkeiten geführt, für die wir jetzt einen hohen Preis bezahlen müssen.

Wir Bundesdeutsche sind kulturell-mental überfordert mit Krieg, geprägt von dem kategorischen Imperativ des „Nie wieder“ und von dem Eindruck, das Wort „Nachkriegszeit“ habe für uns ewige Gültigkeit, politisch gab es bisher nicht mal eine Sicherheitsstrategie.

Oh doch, die gab es immer, man redete nur nicht gerne darüber: Nato, Westbindung, europäische Integration durch die EU. Ich verstehe vollkommen, dass man nach der katastrophalen ersten Hälfte des Jahrhunderts, zwei Weltkriegen, zweimal Deutschland als Aggressor, barbarischen Verbrechen, die Deutsche begangen haben, dass man da nach dem großen Turnaround nie wieder militärisch gestützte Außenpolitik und nie wieder Großmachtpolitik machen wollte. Man sagte, das hat die Schutzmacht, die USA, zu übernehmen, und wir konzentrieren uns auf friedliche Geschäfte. Das war nach 1945 völlig verständlich. Aber nach 1989 zog die Schutzmacht faktisch ab, dann brach auch schon Jugoslawien auseinander, und es kamen die Balkankriege. Jetzt ist alles eskaliert, eine nukleare Weltmacht hat unter fadenscheinigsten Vorwänden ihren Nachbarn überfallen.

Der Verzicht der Ukraine auf Atomwaffen im Budapester Memorandum 1994 stellt sich heute als schwerer Fehler dar.

Im Rückblick ja, aber damals waren wir alle dafür, auch im Westen, dass es keine vagabundierenden Nuklear­waffen gibt, das war der Albtraum schlechthin. Deswegen erschien es besser, sie dem Haupterben der Sowjetunion in die Hand zu geben, der russischen ­Föderation. Im Vertrauen, dass das auch auf der sicherheitstechnischen Ebene durch Russlands Erfahrung des Kalten Krieges funktionieren wird. Die neue Situation heute wird schlimme Konsequenzen für die Zukunft haben, denn es ist nun offensichtlich für jedermann: Nur wenn du Nuklearwaffen hast, dann bist du wirklich souverän und sicher. Hast du sie nicht, verfügst du nur über eine eingeschränkte Souveränität. Diese Erfahrung wird zu einer wesentlich unsichereren Welt führen.

Was bedeutet „Nie wieder Auschwitz“ unter den Bedingungen der Gegenwart?

Man kann hier im Grunde auf die entsprechende Konvention der Vereinten Nationen zurückgreifen, die noch unter dem Eindruck der völkermordenden Praxis der Nationalsozialisten verfasst wurde: Eine Kriegsführung, die darauf hinausläuft, das Existenzrecht von ganzen Völkern oder auch Minderheiten in Frage zu stellen, darf es nie wieder geben. Das steht in anderen Worten auch im Grundgesetz. Es ist die Aufgabe aller staatlichen Gewalt bei uns in Deutschland, dass die Menschenwürde gewahrt bleibt. Artikel 1 Grundgesetz.

Braucht die EU eigene Atomwaffen?

Die EU ist kein Staat, sondern ein Staatenverbund. Ich sehe nicht, wie das geschehen sollte ohne eine sehr viel vertieftere Integration.

Ihr Weggefährte Daniel Cohn-Bendit sagte gerade, unsere deutsche Freiheit werde mit französischen, britischen und amerikanischen Atombomben verteidigt.

Vor allen Dingen sind es amerika­nische.

Einige taz-Leser waren ja empört.

Ich wäre enttäuscht, wenn das anders wäre.

Europa muss sich so verteidigen können, dass es keiner anzugreifen wagt, auch ohne US-Schutz – das ist jetzt Grundlage jeder emanzipatorischen Zukunftspolitik?

Hören Sie, ich bin Jahrgang 1948, ich fühle mich derzeit sehr oft erinnert an meine Kindheitstage, als der Kalte Krieg oft zu eskalieren schien und man nie sicher sein konnte, dass es wieder losgeht. Nuklear wird Europa noch lange nicht ohne die US-amerikanische Schutzgarantie auskommen.

Im Vergleich zu Putin scheint aus heutiger Sicht die Sowjetunion ein Hort der Vernunft gewesen zu sein.

Der Unterschied ist, dass die Sowjetunion spätestens nach der Kuba-Krise am Erhalt des europäischen Status quo interessiert war. Putins Russland ist das Gegenteil, eine revisionistische Macht, der es in der Ukraine nicht wirklich um die Ukraine geht, sondern um eine Revision der europäischen Ordnung und der Weltordnung.

Wann genau und warum haben Sie den Glauben an die Friedensdividende verloren, also die Umwandlung von Militärausgaben in gesellschaftlichen Gewinn nach dem Ende des Kalten Krieges?

Mit dem Abgang von Boris Jelzin und der Machtübernahme durch Putin war recht früh absehbar, dass dieser eine revisionistische Politik verfolgt, die mich mehr als misstrauisch machte.

Es geht nicht gegen die Nato, es geht gegen uns, die EU und unsere liberale Demokratie, schreiben Sie in Ihrem neuen Buch.

Ja, stellen Sie sich vor, dass sich in der Ukraine mit allen Schwierigkeiten ein Land entwickelt, das wirtschaftlich erfolgreich ist, sich zunehmend an europäischen Normen orientiert, eine Erfolgsstory. Dann wäre doch sofort die Frage der Bevölkerung an Putin und die Oligarchie in Russland: Warum die und warum nicht wir?

Welchen Fehler hat Deutschland gemacht, was die Ukraine angeht?

Wir haben die Ukraine immer als den weniger ernstzunehmenden kleinen Bruder Russlands gesehen. Das war eine völlige Verkennung der Lage. Die Ukraine ist alles andere als klein. Und wie wir jetzt sehen einer der weltweit größten Agrarexporteure. Ein Ausfall als Getreideproduzent wird eine ­weitere globale Krise nach sich ziehen.

Wenn vom Westen im Sinne einer Co-Existenz mit Russland eines Tages eine amputierte und entmilitarisierte Ukraine akzeptiert werden sollte, geht das auf Kosten der Leute dort.

Ich glaube, so wird es nicht kommen. Was schwer wiederherzustellen sein wird, ist ein Minimum an Vertrauen gegenüber Russland. Der zentrale Fehler von uns allen war, zu glauben, dass wir Russland vertrauen können ohne innere Demokratisierung. Die sogenannte Machtvertikale …

…die Machtkonzentration jenseits von Institutionen und Verfassung …

… existiert seit Iwan dem Schrecklichen, und genauso existiert immer noch diese Obsession, Weltmacht sein zu müssen. Das kann nur durch eine demokratische Revolution in Russland überwunden werden. Das meint nicht ein zweites 1917, sondern institutionelle Veränderungen.

Außenministerin Baerbock hat am Tag nach dem Einfall der Russen in der Ukraine gesagt, wir seien „in einer anderen Welt aufgewacht.“ Damit hat sie ein verbreitetes Gefühl grüner Milieus bedient, aber die Aussage steht doch auch für unsere Naivität. Wir lebten doch längst in dieser anderen Welt, wir hatten nur die Augen zu, damit wir sie nicht sehen.

Wen meinen Sie mit „wir“?

Die Bundesdeutschen, die Links­liberalen.

Lassen Sie uns die Dinge benennen. An erster Stelle wollte die russische Realität von der deutschen Wirtschaft, vorneweg dem „Ostausschuss“, und der SPD nicht gesehen werden. An zweiter Stelle mit geringem Abstand von der Union. Machen Sie sich da keine Illusionen. Im Übrigen finde ich die Aussage von Annalena nicht naiv, sondern zutreffend. Hoffentlich sind wir aufgewacht.

Sie sprechen im Buch von einer „doppelten Realität“. Die alte Realität der Machtpolitik bleibt und eine neue Realität der nachhaltigen globalen Kooperation muss dazukommen, in der das Terrestrische nach dem französischen Philosophen Bruno Latour nicht mehr als Rahmen, sondern als Teil menschlichen Handelns verstanden wird.

Wir mussten seit Beginn der Zivilisation nie als Menschheit agieren, sondern immer nur als eigene Gruppe. Es begann mit Familien, dann kamen Stämme, Nationen, Imperien, aber das Prinzip war immer die eigene Gruppe. Entweder machst du, was ich will – oder ich schlag dir den Schädel ein. Das Konfrontationsprinzip. Aber das funktioniert so nicht mehr. Klimaschutz setzt Kooperation voraus.

Das sieht Putin anders.

Er lebt im späten 19. und nicht im 21. Jahrhundert. Das unterscheidet China von Russland. Die Klimakrise ist mit Gewalt nicht zu lösen. Nur mit Kooperation, also dem Gegenteil der erlernten Kultur. Das wird zu einer doppelten Realität führen, die gleichzeitig angegangen werden muss. Die traditionelle Machtpolitik, auf Konfrontation gegründet, und die neuen planetaren Herausforderungen, die Zusammenarbeit erfordern. Etwa das Corona-Virus, dem weitere folgen werden. Oder die Klimakrise. Wir können nicht mal sagen, okay, dann machen wir das halt in Europa. Das führt zu nichts. Die Klimakrise ist global wie das Virus. Der reiche Norden wird nicht auf der sicheren Seite sein, wenn der arme Süden vergessen wird. Die westlichen Industrienationen müssen fossil abrüsten, der Süden muss sich industrialisieren, um nicht in Hunger und Chaos zu versinken, aber auf neuen nachhaltigen Pfaden. Und der reiche Norden muss das bezahlen.

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Sie reden wie ein Pastor, Herr Fischer. So kenne ich Sie gar nicht.

Ich rede überhaupt nicht wie ein Pastor.

Doch, und in der Kirche nicke ich auch schön planetarisch. Aber dann gehe ich raus und muss meine eigenen ­Interessen sichern.

Aber, mein Lieber, der Unterschied ist, dass wir vor der praktischen Aufgabe stehen, das zusammenzufügen. Mein Parteifreund Robert Habeck steht vor dieser Ausgabe, Annalena Baerbock genau­so. Wir sind stark beeinflusst durch den Krieg in der Ukraine. Aber die Klimakrise beeindruckt das überhaupt nicht. Wenn sich das für Sie wieder zu pastoral anhört, tut’s mir leid.

Nein, das ist Wissenschaft.

Genauso ist es Wissenschaft, dass wir sowohl bei der Virus- als auch der Klimakrise den globalen Süden nicht vergessen dürfen, eben nicht nur aus moralischen Gründen.

Mir leuchtet Ihre Analyse völlig ein, nur was sollen die Russen denn ­verkaufen, wenn nicht mehr Öl, Gas und Kohle? Die nationalstaatlichen und die planetarischen Interessen gehen hinten und vorn nicht zu­sammen.

Die Politik wird es sich nicht so einfach machen können wie Sie und sagen: Das geht halt nicht.

Das hoffe ich sehr.

Das ist keine Frage der Hoffnung. Das ist ein Zwang. Wir entkommen den Herausforderungen der Klimakrise nicht. Es gibt keinen zweiten Planeten, auf den wir auswandern könnten.

Der Klimapakt von Paris ist das zentrale Instrument planetarischer Verantwortungsübernahme – aber die Emissionen steigen weiter, weil sich fast keiner daran hält.

Aber ohne das Abkommen von Paris wären wir sehr viel weiter zurück. Damit ist der Rahmen und das Ziel ­definiert, das ist ein gewaltiger Schritt nach vorn. Aber unter einem Gesichtspunkt haben Sie natürlich Recht, das Steuer herumzureißen, dafür reicht Paris nicht. Auch wenn alle Punkte erfüllt wären, würde die Erderwärmung erst einmal verlangsamen, aber nicht stoppen.

In Ihrem Buch, das vor dem russischen Angriffskrieg fertig war, schreiben Sie: Dekarbonisierung ist das Gebot der Stunde. Aber bei einem russischen Angriff geht es erst einmal um Versorgungssicherheit.

So ist es. Fragen Sie unseren Energieminister. Der erlebt und erleidet das 24 Stunden am Tag.

Teile seiner Milieus sagen: Jetzt buckelt er zum Emir von Katar. So nicht.

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben       —       Joschka Fischer (Vizekanzler und Außenminister a.D.) Foto: stephan-roehl.de Veranstaltung „Europa im Aufbruch? Ideen für eine progressive Politik“ in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin

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Unten        —           41. Münchner Sicherheitskonferenz 2005: Von links: Die demokratische US-Senatorin Hillary Clinton, Prof. Dr. Horst Teltschik, der Bundesaußenminister Joschka Fischer und der polnische Außenminister Prof. Dr. Adam Rotfeld.

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Der zerbrochene Spiegel

Erstellt von DL-Redaktion am 12. April 2022

Die Verlogenheit der Staats-Politiker und der Staats-Medien.

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War ihre Politik denn wirklich schlechter als die des lauten Zwerges ?

Von Wolfgang Gerecht, 11.04.2022

Sie wollte keine Verantwortung übernehmen.

Nicht als Umwelt-Ministerin in Rheinland-Pfalz. Auch nicht als sie zur Familien-Ministerin der Bundesregierung „aufgestiegen“ wahr.

Ihr Totalversagen in der Ahrtal – Katastrophe, war mit ein Grund, das es zu der hohen Todeszahl von etwa 134 Menschen alleine im Ahrtal kam. Frau Anne Spiegel hatte nichts Eiligeres und nichts Besseres zu tun, als sich sofort um ihr Image in der Öffentlichkeit zu kümmern.

Das die Menschen im Ahrtal immer noch zum großen Teil „in der Scheiße“ stecken und nicht wenige auf die bei den Merkel-Scholz „Besichtigungen“ großspurig angekündigten Finanzhilfen noch warten, ist dem Politiker-Pack – wie immer – egal. Für dieses Versagen, im Politik-Sprech „Leistungen“ genannt, wurde die „Dame“ sogar von Ihrer Polit-Clique der Grünen, stellvertretend seien hier Habeck, Baerbock, Lang und Nouripour genannt, erfolgreich zur Familien-Ministerin der Bundesregierung vorgeschlagen und ernannt.

Die Charakterlosigkeit von Frau Anne Spiegel, neben ihren – in der ntv  Sendung vom 11.04.22 erwähnten objektiven Lügen – zeigt ja auch das Heranziehen der Gesundheits- Probleme ihres Ehemannes als zusätzliche Begründung ihres schändlichen Verhaltens in den Katastrophen-Tagen im Ahrtal.

Kein Wort hat diese grüne „Dame“, die in der Außen-Darstellung wie „die heilige Anne“ wirkt, für die Toten,
für die Verletzten, für die Geschädigten Menschen im Ahrtal übrig gehabt.

Der einzige Fehler der grünen Dame war der Urlaub. Und die Medien fahren natürlich voll darauf ab.

Das Einzige was für diese grüne Ministerin zählt, ist     — „Anne Spiegel“. Eine bis „zum geht nicht mehr“ egoistische GRÜNE. Der „Cum-Cum“ Bundeskanzler der SPD, Scholz, hatte sich noch kurz vor ihrem heutigen (dann doch) Rücktritt, vor sie gestellt.

Unter kleinen Politiker-Innen erscheint die Welt sehr groß. Vor den Fahnen locken die Bananen. Der Chef unter den GROSSEN steht Mittig!

 Die ganze Scheinheiligkeit der Staatspartei SPD und der Block-Parteien GRÜNE und FDP mit deren Qualitäts-Medien kam in den Kommentaren zu dem (dann doch noch) erfolgten Rücktritt zu Ausdruck.

Auch von den eben Genannten waren die Schwerpunkt und Erklärungen zum Verhalten der „heiligen Anne“ „der Urlaub“, die „menschliche Notlage“ und „Große Härte und Schwierig-keiten in der Entscheidung“, Größten Respekt vor ihrem Mut und ihrer Klarheit. Alles dreht sich um das Wohl von Frau Spiegel. So die Vorsitzenden der Grünen Partei, Frau Lang und Herr Nouripour.

Für die Toten, Verletzten und um ihre Haus und Hof und Vermögen gebrachten Menschen im Ahrtal, hatten auch sie kein Wort übrig.

Verwendete Quellen: Demokratisch – Links ,t-online.de, ntv

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Grafikquellen      :

Oben       —   Anne Spiegel (* 15. Dezember 1980 in Leimen (Baden)) ist eine deutsche Politikerin (Bündnis 90/Die Grünen) und Mitglied des Landtages von Rheinland-Pfalz.

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Das Gespräch der Woche

Erstellt von DL-Redaktion am 9. April 2022

„Unrecht zu benennen, ist der erste Schritt“

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Das Interview mit Barbara Unmüßig führte Waltraud Schwab

Menschenrechte treiben sie um. Barbara Unmüßig hat zwanzig Jahre lang die parteinahe Heinrich-Böll-Stiftung geleitet, ohne den Grünen nach dem Mund zu reden. Jetzt geht sie in Rente. Ein Gespräch über kulturelle Überheblichkeit, die One-Billion-Dollar-Frage und den Mut, sich einzumischen.

Das Interview mit Barbara Unmüßig von der Heinrich-Böll-Stiftung findet an zwei Terminen statt. Der erste kurz vor dem Krieg in der Ukraine, der zweite am 34. Tag des Krieges. Dazwischen liegt die politische Zäsur, die vieles, was Unmüßig im ersten Teil anspricht, noch wichtiger macht. Und noch schwieriger umzusetzen.

taz am wochenende: Frau Unmüßig, zwanzig Jahre standen Sie der Heinrich-Böll-Stiftung vor; jetzt beenden Sie Ihre Arbeit. Woran ist Ihre Handschrift zu erkennen?

Barbara Unmüßig: Erst einmal daran, wen ich für die internationale Arbeit ausgewählt habe. Ob in den 34 Auslandsbüros, die die Heinrich-Böll-Stiftung hat, oder in der Zentrale in Berlin: Ich habe nach Leuten gesucht, die machtkritisch, menschlich und vor allem nicht paternalistisch sind. Leute, die die internationale Arbeit der Stiftung, die Menschen bei ihrem Kampf für Zivilgesellschaft, Klimaschutz, Menschen- und Frauenrechte unterstützt, verstehen.

Nicht paternalistisch, wie geht das?

Indem man nicht alles besser weiß, sondern auch demütig zuhört und die Werte der Menschen, mit denen man zusammenarbeitet, von Chile bis China, von Kapstadt bis Kiew, von Bogota bis Berlin, teilt. Ich kann auf dem Papier für Menschenrechte sein. Aber wie lebe ich das konkret? Wie verzichte ich darauf, unsere Sicht zum Maßstab zu machen? Wir sollten nicht vergessen, dass wir als Geldgebende schnell auch in eine Machtposition geraten. Daraus keine Macht zu ziehen, ist eine große Herausforderung, die Fingerspitzengefühl und Charakter erfordert.

Also ist Ihre Handschrift an Charakterstärke ausgerichtet?

Ich würde es Haltung nennen. Aber es gibt noch etwas, an dem man meine Handschrift erkennt: Ich habe mitgeholfen, der Stiftung eine Unabhängigkeit und eine eigene Stimme zu geben – auch innerhalb der sogenannten „grünen Familie“. Auf diese Eigenständigkeit kommt es jetzt, wo die Grünen in der Regierung sind, an. Es ist eine Riesenchance, dass durch die grüne Stiftung eine Vielfalt an Perspektiven auf die Welt sichtbar wird. Sie kann den grünen Po­li­ti­ke­r:in­nen den Welt-Spiegel vorhalten: Auf wessen Seite stehst du? Geht es dir wirklich um internationale Gerechtigkeit?

Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

In letzter Zeit hat mich Impfgerechtigkeit umgetrieben. Es regt mich auf, dass die Bundesregierung sich nicht einmal zur temporären Freigabe der Impfpatente entschließen kann. Die Pandemie ist ein Gerechtigkeitsthema. Unsere internationalen Part­ne­r:in­nen fordern, dass die Impfpatente freigegeben werden als struktureller Hebel, Almosen brauchen sie nicht.

Was wollen Parteien eigentlich mit Stiftungen?

Unsere hat das Motto „Einmischen“. Das geht auf Heinrich Böll zurück, der sagte: „Einmischen ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben.“

Er sagte es aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Aber ist Einmischen heute nicht der Bequemlichkeit geopfert?

Einmischen wird vielfach mit Repression geahndet. Das ist das Problem. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit sind vielerorts massiv eingeschränkt oder verboten. Damit ist Einmischung und Teilhabe nicht möglich. Und hierzulande hat die Merkel-Regierung mit ihrer Politik des Vertagens uns eingelullt. Da ist es gut, dass durch Fridays for Future die Arbeit der Stiftung zur Klimakatastrophe wieder Rückenwind bekommen hat. Das zieht sich doch wie ein roter Faden durch mein Berufsleben, dass ich die Mitverantwortung der Industrieländer für die Klimakatastrophe und die Ungleichheit in der Welt thematisiere.

Die Stiftungskultur, die Sie gefördert haben, ist demnach: machtkritisch sein, menschlich, nicht paternalistisch, ökologisch, feministisch und absolut für Gerechtigkeit und Menschenrechte.

Menschenrechte sind wahnsinnig wichtig für mich. Ich habe die Wichtigkeit erst kapiert durch die Arbeit der Stiftung.

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Barbara Unmüßig

Wie genau?

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wenn du erlebst, wie im Globalen Süden, aber auch in Russland oder China Menschenrechte jeden Augenblick mit Füßen getreten werden, weil sie nicht institutionalisiert sind, weil es da keine Rechtsstaatlichkeit gibt, sondern Willkür und Nepotismus, dann weißt du erst zu schätzen, was wir uns hier erstritten haben. Ich weiß, es ist nicht perfekt, wie es hier läuft, aber es ist so, wie es ist, auch schon eine große Errungenschaft. Und das Selbstbestimmungsrecht, das ist für mich nicht nur im Völkerrecht total zentral, sondern gerade wenn es um Frauen und queere Menschen geht.

Viele hierzulande denken, in Sachen Selbstbestimmungsrechte gehe es weltweit vorwärts. Aber passiert nicht das Gegenteil?

Definitiv. Gucken Sie sich etwa El Salvador an, wo selbst Fehlgeburten kriminalisiert werden. Oder Südafrika, wo die Verfassung Rechte für Queere garantiert, aber gesellschaftlich ein Gegentrend herrscht und es Jagd auf Queere gibt. Und was in Polen los ist, das wissen Sie selbst.

Abtreibung unmöglich, Homosexualität gesellschaftlich verfolgt.

Aber gerade in Polen und Argentinien bewundere ich die Hartnäckigkeit der Frauen. Die Stiftung unterstützt sie. In Argentinien haben die Frauen es geschafft, dass Abtreibung legal ist. In Kolumbien übrigens auch.

Hatten Sie vor 20 Jahren eine Vorstellung, wie die Arbeit der Stiftung sich gestalten soll?

Die feministische Arbeit war von den Vor­gän­ge­r:in­nen konturiert, aber die internationale Arbeit hatte noch keinen Fokus, es war nicht klar, um welche Themen es gehen soll. Damals war die Hochzeit der neoliberalen Globalisierung. Sie steht im kompletten Widerspruch zur ökologischen Nachhaltigkeit. Als ich anfing, gab es noch die große Hoffnung, dass das mit der Demokratieentwicklung immer weitergeht. Dass afrikanische Länder und selbst China sich weiter demokratisieren werden. Das hat sich nicht erfüllt.

Hat der Raubbau an der Natur zur Entdemokratisierung geführt?

Es ist komplizierter. Die ökonomische Globalisierung hat zu einer Verschlechterung der Situation des Planeten und aller sogenannten Umweltgüter geführt. Jeder Winkel des Planeten ist voller Plastik. Globalisierung befördert etwa auch fortgesetzte Abholzung und Überfischung und sorgt überhaupt dafür, dass das Treibhaus weiter angeheizt wird. Alle negativen Großtrends sind intensiviert worden. Gleichzeitig hat die ökonomische Globalisierung das Wohlstandsversprechen nicht erfüllt. Außer vielleicht in China. Weltweit hat die Globalisierung aber nicht dazu geführt, dass es den Leuten besser geht. Das glaubt heute auch niemand mehr, dass Globalisierung den Menschen Wohlstand bringt. Im Gegenteil: Sie hat Ungleichheit massiv verschärft.

Also hat Globalisierung den Raubbau an der Natur und der Raubbau an der Natur die Entdemokratisierung gefördert.

Dass wir im Ökologischen Irreversibles anzetteln, deprimiert mich. Für mich ist bitter, dass ich seit den 80er Jahren gegen die ökologische Zerstörung gearbeitet habe und sehe, dass es nicht reicht, was wir getan haben. Ich bin international vernetzt, und da sehe ich, wie Repression und Zerstörung in manchen Ländern Hand in Hand gehen. Aber es ist so: Einen Diktator kann man bekämpfen, auch wenn es dramatisch werden kann. Die Geschichte zeigt doch, dass Menschen Unrechtsregime zu Fall bringen können. Aber einen zerstörten Planeten kann man nicht so einfach wiederherstellen. Zerstörte Natur zu revitalisieren, das geht gar nicht oder dauert länger als viele Herrscherleben. Manche sagen: So what? Der Planet wird schon ohne uns oder mit weniger von uns zurechtkommen. Was ist das für ein Denken? Die Fülle und Vielfalt des Lebens ist das Wertvollste, was ich mir vorstellen kann.

Es deprimiert Sie, sagen Sie. Wie kann man unter der Prämisse so eine Institution leiten?

Gar nicht. Zum Professionellen gehört: optimistisch sein, den Mut fördern, die Optionen erkennen. Wir schaffen das. Aber ich zweifle, ich zweifle auch, dass das 1,5-Grad-Ziel noch zu erreichen ist. Es treibt mich um, dass 1992 in UN-Dokumenten festgehalten wurde, dass das nördliche Konsum- und Produktionsmodell nicht globalisierbar ist. Das war eine irre Erkenntnis, über die ich mich damals sehr gefreut habe. Aber es ist keine Konsequenz daraus gezogen worden. Der Norden hat hie und da ein wenig was gemacht, in erneuerbare Energien investiert etwa, aber es gab kein politisch konsequentes Umsteuern, um in den sogenannten planetaren Grenzen zu bleiben.

Liegt es daran, dass der westliche Lebensstandard doch globalisiert worden ist?

Da kommt es immer darauf an, wer das so erzählt. Leute, die am Amazonas in noch relativ intakten Communitys leben, orientieren sich nicht unbedingt an unserem Lebensstandard. Aber wenn ihre Lebensgrundlagen zerstört werden, wird auch ihr ökologisch integrer Lebensstil zerstört. Es geht nicht darum, indigene Lebensformen zu idealisieren. Und Strom, Bildung, Gesundheitsvorsorge gehören zum guten Leben. Die gibt es dort.

Gibt unser Lebensstil also vor allem eines vor: kulturelle Überheblichkeit?

Das kann man so sagen. Gucken Sie doch mal, welche Debatten gesellschaftlich und politisch aus dem Blick geraten sind. Zum Beispiel wird die Idee, dass weniger mehr ist, immer noch als etwas beschrieben, was man am besten nicht in den politischen Diskurs aufnimmt. Auf der anderen Seite wird aber nie infrage gestellt, dass technologischer Fortschritt grundsätzlich aus der ökologischen Krise führen kann. Wo sind die Belege dafür?

Im ersten Gespräch hatten wir auch über die Situation an der ukrainischen Grenze gesprochen, wo Russland von drei Seiten Truppen aufmarschieren ließ. Dass Putin einen völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine beginnen könnte, schien dennoch unvorstellbar. Jetzt, beim zweiten Treffen, ist der Krieg in vollem Gange.

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Christa Wolf hat geschrieben: Wann Krieg beginnt, kann man wissen, wann aber beginnt der Vorkrieg? – Wie konnten wir übersehen, was sich da anbahnt?

Wir haben nicht wirklich hingeschaut, haben verdrängt. Ich denke, dass die Strategie der Merkel-Regierung, Russland durch wechselseitige ökonomische Abhängigkeit einzubinden, schiefgegangen ist. Sie hat uns stattdessen in eine massive Abhängigkeit von russischem Gas gebracht und entsprechend erpressbar gemacht. Spätestens mit der Krimannexion hätte der Westen aus Nord Stream 2 aussteigen und mit den Sanktionen, die wir heute haben, reagieren müssen.

Das erklärt nicht, warum wir es übersehen haben.

Quelle        :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Zentrale der Heinrich-Böll-Stiftung, 10117 Berlin, Schumannstaße 8, am 31.05.2014

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Frankreich wählt

Erstellt von DL-Redaktion am 3. April 2022

„Das ist mir zu billig“

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Interview von Andreas Fanizadeh mit Daniel Cohn-Bendit

Frankreich und die Deutschen – Daniel Cohn-Bendit über die Chancen Macrons, wiedergewählt zu werden, den Ukrainekrieg und die atomare Frage.

taz am wochenende: Herr Cohn-Bendit, Sie pendeln immer noch zwischen Frankfurt und Paris?

Daniel Cohn-Bendit: Ja. Ich habe wöchentlich eine Fernsehsendung im TV, bei einem französischen Nachrichtensender. „Die Debatte“, zusammen mit dem liberalkonservativen Luc Ferry. Da bilanzieren wir, was politisch in der Woche so angefallen ist.

Zuletzt sicher auch den Krieg in der Ukraine. Wie nahe ist die Ukraine von Frankreich aus betrachtet?

Sehr nah. Der Krieg in der Ukraine ist natürlich jetzt auch Thema im Präsidentschaftswahlkampf. Emmanuel Macron war als Vermittler und Sprecher der Europäischen Union gegenüber Putin sehr präsent.

Wie sind Macrons Bemühungen in der französischen Öffentlichkeit angekommen?

Also bezüglich der Ukraine sehr gut. Seine Position genießt eine hohe Akzeptanz, Frankreich steht ganz klar auf der Seite der Ukrai­ne und unterstützt diese im Krieg gegen Putin. Im Gegensatz zu US-Präsident Biden beschimpft Macron aber Putin nicht verbal. Er versucht bei aller Distanz zu Putin-Russland sich weiterhin als Vermittler anzubieten. Was sich aber derzeit als eher schwierig erweist.

Waren Frankreich und Macron besser als Deutschland auf den Angriff Putins vorbereitet?

Ja und nein. Also in Frankreich ist das Bewusstsein, sich im Zweifelsfall auch militärisch verteidigen zu müssen, sicher viel stärker verbreitet als in Deutschland. Das hat mit der Geschichte zu tun. Macron vertrat in den letzten Jahren dabei auch ziemlich einsam die Idee einer autonom funktionierenden Verteidigungsfähigkeit Europas. Für ihn hängt die Verteidigungsfähigkeit Frankreichs von einer gemeinsamen Europas ab. Man muss auf Eventualitäten wie den Einmarsch der Russen in die Ukraine vorbereitet sein. Aber er ging sicher nicht davon aus, dass Putin tatsächlich so handelt, wie er es jetzt tut.

Hat Frankreich ein anderes Realitätsbewusstsein für mögliche unangenehme Entwicklungen als Deutschland?

Absolut. Frankreich hat nach 1945 nicht allein von einer unendlichen Friedensdividende geträumt, sondern auch auf die Verteidigung seiner Unabhängigkeit durch die Bejahung militärischer Dominanz gesetzt, inklusive atomarer Abschreckung. Ähnlich ist das auch bei der Atomenergie. Man will zwar erneuerbare Energien entwickeln, aber solange die Energieunabhängigkeit nicht gesichert ist, will man an der Atomenergie festhalten.

Hat man in Frankreich verstanden, warum die Deutschen die letzten Jahrzehnte so unverdrossen an der Energiepartnerschaft mit Russland festhielten und diese immer weiter ausbauten?

Nein, das erscheint hier als ein großes Rätsel. Ist es mir selber auch. Diese Blindheit. Das hatten ja weder die deutsche Politik, Gerhard Schröder oder Angela Merkel, noch Wirtschaft, Mehrheitsgesellschaft und Medien wirklich in Frage gestellt. Es wäre von daher falsch, die Fehler allein der deutschen Politik in die Schuhe zu schieben. Billige Energie war den Deutschen mehrheitlich wichtiger als jegliche andere Überlegung. Dass man in Deutschland so schnell aus der Atomenergie ausgestiegen ist, bevor man aus der schmutzigen Kohleenergie rauskam, das versteht man in Frankreich aber auch nicht. Vom CO2-Ausstoß müsste es andersherum sein.

Herr Cohn-Bendit, für das erste Kabinett Präsident Macrons wurden Sie 2018 als künftiger Umweltminister gehandelt. Warum sind Sie es nicht geworden?

Ich bin nicht ministrabel.

Warum nicht?

Damals habe ich das so begründet: Angenommen, ich bin jetzt Umweltminister. Dann kann ich wichtige Entscheidungen zur ökologischen Transformation vorantreiben. Stimmt. Aber gleichzeitig hätte ich zum Beispiel die französische Flüchtlingspolitik mittragen müssen. Und das kann ich nicht. All die Flüchtlinge auf den Schiffen da, die Frankreich abweist. In eine solche Kabinettsdisziplin kann ich mich nicht einbinden. Und da hätte ich ganz schnell wieder zurücktreten müssen. Ich bin immer ein überzeugter Abgeordneter im Europäischen Parlament gewesen, aber Minister sind besser andere geworden.

Sie sprachen es an, die Franzosen gelten klimapolitisch als relativ unbekümmert und bei Atom geradezu als unerschrocken. Der Ukrainekrieg hat dies wohl eher noch verstärkt?

Wenn wir den Klimawandel als Herausforderung betrachten, ist der schnelle Ausstieg aus der Kohleenergie wichtiger als der aus der Atomenergie.

Sagt der grüne Dany oder sagen die Franzosen?

Sagen diejenigen, die rasch eine bessere CO2-Bilanz wollen. Aufgrund der kriegerischen Situation wird sich jetzt jedoch einiges verschieben. Es gibt schmerzhafte Diskussionen. In Belgien haben die Grünen gerade akzeptieren müssen, dass der Ausstieg aus der Atomenergie sich um zehn Jahre verzögern wird. Auch die Deutschen werden nun manches überdenken, ohne dass man sich gleich in Verratsvorwürfen ergehen sollte.

Verstanden, wir stehen vor neuen Herausforderungen, aber wie sieht der französische Energiemix derzeit aus? Plant Macron bei einer zweiten Amtszeit größere Veränderungen in Richtung der Erneuerbaren?

Macron wird derzeit keine weiteren Atomkraftwerke mehr abschalten. Er will die be­stehenden rundum erneuern und sie länger laufen lassen. Gleichzeitig plant er eine Offensive in Richtung erneuerbare Energien. Wobei man wissen muss, die Ablehnung von Windenergie ist in Frankreich geradezu atemberaubend.

Warum das?

Die französische Kultur hat ein ästhetisches Problem damit. Man will sie nicht in der Landschaft stehen sehen. Aber auf dem Meer, Offshore-Windparks, das geht. Sonnenkollektoren fördern, das auch. Macron will auch in neuste Atomkraftwerke investieren, solche, wie in Finnland gebaut werden. Die Sicherheitsanforderungen sind sehr hoch; bis sie in Betrieb gehen, wird es dauern. Für die Mobilität setzt man zugleich sehr stark auf Energie durch CO2-neutralen Wasserstoff. Bis das alles so weit ist, setzt Frankreich für den Übergang auf die Atomenergie.

Und der grüne Dany?

Der hört sich alles an und sagt: Die Texte, die wir in den 1970er Jahren geschrieben haben, waren gegen die Atomenergie. Es ging um die Gefahren durch Verstrahlung, den Atommüll, die einseitigen Interessen der Energiewirtschaft. Aber die Dramatik des Klimawandels hatten wir noch gar nicht richtig auf dem Schirm. Das ist heute eine andere Diskussion. Aber noch einmal zu Frankreich und seinem Verhältnis zu Atomenergie und Atomwaffen: In Frankreich bedeutet die Parole „Nie wieder …“ etwas anderes als in Deutschland. In Frankreich meint dieses „Nie wieder …“ nie wieder feindliche Soldaten auf unserem Gebiet. Während man in Deutschland mit „Nie wieder …“ meint: nie wieder deutsche Soldaten außerhalb der deutschen Grenzen. Das waren zwei unterschiedliche Lehren aus zwei Weltkriegen. Für Frankreich bedeuten Atomenergie und Atomwaffen die Garantie für seine Souveränität.

Die französischen Grünen sind im jetzigen Wahlkampf relativ blass geblieben. Links von Macron werden die besten Chancen dem sehr klassenkämpferisch auftretenden Jean-Luc Mélenchon eingeräumt. Warum ist das so?

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Ich glaube, da zeigt sich ein grundsätzliches Problem der französischen Linken, einschließlich der Sozialistischen Partei. Man träumt immer noch gerne von Revolution, schätzt demokratische Reformprozesse gering. Da ist viel verbale Rhetorik dabei, vom Generalstreik, der Mythos des Mai 68 …

An dem Sie einst selbst führend beteiligt waren …

Ja, aber ohne das für immer nostalgisch zu verklären. Aber auch die französischen Grünen wollen im traditionellen Sinne sehr radikal sein, reden vom Bruch mit dem Kapitalismus. Doch als Grüne haben sie eben auch einen Anspruch auf Vermittlung und ein Funktionieren der gesamten Ökonomie. Mélenchon hingegen setzt kulturell auf den Mythos des Proletariers. Er versucht das Erbe von François Mitterrand und der Sozialistischen Partei in Besitz zu nehmen. Wer den Kapitalismus nicht mindestens rhetorisch überwinden will, gehört da nicht dazu. Mélenchon ist autoritär, zentralistisch, Putin konnte er auch immer ganz gut verstehen, und Venezuela oder Kuba sollen vornehmlich Opfer des Yankee-Imperialismus sein. Man sollte nicht vergessen: Trotz der Millionen Opfer von Gulag- und Sowjetsystem kam die KP in Frankreich bis Anfang der 1980er Jahre immer auf über 20 Prozent der Stimmen. Das ist alles nicht leicht zu begreifen. Aber in dieser Tradition steht ein Mélenchon.

Links außen Mélenchon, auf der populistischen Rechten wütende Gelbwesten, die für billigen Sprit Geschäfte demolieren, dazu wahrscheinlich über ein Drittel rechtsextreme Wähler für Le Pen und Éric Zemmour – wie stabil erscheint die französische Demokratie im Jahr 2022?

Quelle      :        TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Veranstaltung „Die grüne Erzählung 2018: Grüne Ideengeschichten“ der Heinrich Böll Stiftung in der Kalkscheune. Daniel Cohn-Bendit. Foto: Stephan Roehl

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Unten     —       Collectie / Archief : Fotocollectie Anefo Reportage / Serie : [ onbekend ] Beschrijving : Aankomst linkse studentenleider Karl Dietrich Wolff op Schiphol. De Franse studentenleider Daniel Cohn- Bendit tijdens persconferentie Schiphol [links van hem Ad van Praag van ML Centrum Nederland] Datum : 22 mei 1968 Locatie : Schiphol Trefwoorden : aankomsten, activisten, persconferenties Persoonsnaam : Cohn-Bendit, Daniel, Praag, Ad van Fotograaf : Nijs, Jac. de / Anefo, [onbekend] Auteursrechthebbende : Nationaal Archief Materiaalsoort : Negatief (zwart/wit) Nummer archiefinventaris : bekijk toegang 2.24.01.05 Bestanddeelnummer : 921-3748

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Es ist mehr als Gedöns ?

Erstellt von DL-Redaktion am 1. April 2022

Noch geht es im Krieg in der Ukraine um klassische Militär fragen.

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Der Gedöns-Kanzler mit einen kleinen Teil seines Partei-Clan

Von :   Simone Schmollack

Nach dem Krieg aber wird feministische Außenpolitik wichtiger denn je sein. Auch Selenski, der sich selbst gern in maskuliner Pose präsentiert, scheut sich nicht, den Blick zu weiten.

Mit Annalena Baerbock als erste Frau an der Spitze des Außenamts hielt ein neuer und weitgehend unbekannter Politikansatz in Deutschland Einzug: feministische Außenpolitik. Wie gering das Verständnis dafür hierzulande ist, zeigte die Geste des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz während der Generaldebatte in der vergangenen Woche. Merz griff sich theatralisch ans Herz, als Baerbock in ihrer Rede den Satz sagte: „Es zerreißt mir das Herz.“ Sie sprach über die systematischen Vergewaltigungen während des Jugoslawienkrieges, über ihren kürzlichen Besuch bei Frauen in Srebrenica, die die Folgen des Völkermords im Juli 1995 dort noch immer in sich tragen. In Kriegen wird Vergewaltigung als Waffe eingesetzt.

Feministische Außenpolitik sei „kein Gedöns“, sagte sie: „Das ist auf der Höhe der Zeit.“ Man kann Baerbocks Worte als pathetisch und Merz’ Geste als zynisch empfinden. Vor allem aber ist Merz’ Reaktion ein politisches Statement: für einen weiterhin männlichen Blick bei Kriegsfragen, ein Ausdruck der Verachtung für einen anderen, einen weiblichen Fokus auf das Kriegsgeschehen.

Nun ist das Konzept der feministischen Außenpolitik zugegebenermaßen nicht leicht zu erklären – und oft leider auch wenig konkret. Grob zusammengefasst lässt sich feministische Außenpolitik als Paradigmenwechsel bei Sicherheitsfragen definieren: weg vom rein militärischen Denken hin zu einem erweiterten Fokus, der – neben dem Kriegsgeschehen – die Zivilbevölkerung berücksichtigt: Frauen, Kinder, Alte, Kranke. Eine feministische Außenpolitik setzt unter anderem darauf, soziale, gesundheitliche und ernährungspolitische Kriegsfolgen mitzudenken und Frauen viel mehr als bislang an Friedensgesprächen zu beteiligen.

Dass das keine Utopie ist, zeigt Schwedens Außenpolitik seit Jahren. Die schwedische Prämisse: Frieden und Sicherheit können nur unter Einbeziehung von Frauen erreicht werden. Die außenpolitische Strategie des skandinavischen Landes geht davon aus, dass Gleichstellung keine Frauenfrage ist, sondern die gesamte Gesellschaft betrifft. Zahlreiche Studien belegen, dass Friedensprozesse, an denen Frauen beteiligt sind, nachhaltiger werden. Trotzdem liegt der Anteil von Frauen an den Verhandlungstischen im einstelligen Prozentbereich. In Bosnien-Herzegowina, wo der Genozid in Srebrenica wütete, auf den Baerbock in ihrer Rede Bezug nahm, waren keine Frauen vertreten.

Dabei fordert die UN-Resolution 1325 seit Oktober 2000, Frauen verstärkt in Friedensverhandlungen einzubeziehen und vor sexueller Gewalt im Krieg zu schützen. Doch was nützt eine solche Vorgabe in einer Zeit, die durch Falken bestimmt wird und nicht durch Tauben? In der also ein Hardliner wie der russische Diktator Wladimir Putin die Ukraine mit Terror überzieht, gnadenlos die Zivilbevölkerung bombardiert und nicht einmal vor Luftangriffen auf Orte zurückschreckt, an denen sich insbesondere Kinder, Schwangere und Frauen aufhalten, die gerade in den Wehen liegen?

Denys Shmyhal traf sich mit dem deutschen FM Baerbock in Kiew 2022 (9).jpg

In einer solchen Zeit mit Pazifismus zu antworten ist selbstredend naiv und weltfremd. Die Ukraine verteidigt sich mit Waffen sowie mit strategischem und lokalem Wissen, das der russischen Seite teilweise fehlt. Den ukrainischen Truppen ist es zu verdanken, dass sich Russland die Ukrai­ne bislang nicht einverleiben konnte. Das gelingt auch, weil Präsident Selenski allen ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 Jahren verboten hat, das Land zu verlassen. Von feministischer Sicherheitspolitik ist das weit entfernt; die andauernden Kämpfe kosten viele Menschenleben.

Wer von Selenski anderes erwartet, hat die Logik eines Krieges nicht verstanden. Selenski agiert klar als Kriegsherr, was bleibt ihm auch anderes übrig? Gleichzeitig bietet er immer wieder Verhandlungen an, zeigt sich kompromissbereit, sendet Videoansprachen an die russischen Mütter. „Schicken Sie Ihre Kinder nicht in den Krieg in einem fremden Land“, appellierte er kürzlich an Mütter russischer Wehrpflichtiger in einem Video. Die Mütter sollten nicht glauben, dass ihre Söhne auf „Übungen“ geschickt würden, wie der russische Präsident Putin vorgibt. „Handeln Sie, um zu verhindern, dass er (der Sohn) getötet oder gefangen genommen wird“, sagt Selenski.

Das ist ein neues Bild in einer kriegerischen Auseinandersetzung: Ein Mann, der sich selbst gern mit olivgrünem T-Shirt in maskuliner Pose präsentiert, scheut sich nicht, den Blick zu weiten und die Folgen des Krieges auch für Frauen und Familien mitzudenken.

Quelle       :      TAZ-online      >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Franz Müntefering (l.) und Gerhard Schröder (r.) bei der Abschlusskundgebung im Bundestagswahlkampf 2005 in Frankfurt am Main

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Unten       — Ministerpräsident Denys Shmyhal traf sich am 7. Februar 2022 mit der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock.

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Philister des Volkes

Erstellt von DL-Redaktion am 26. März 2022

„Ich bin nicht Minister für Grüne“

Für ein Stück vom Kuchen des Staat wurden die Grünen Wähler betrogen ?

Interview von Malte Kreutzfeldt und Bernhard Pötter mit Robert Habeck

Er wollte Windräder bauen, jetzt kämpft er für billiges Benzin. Der Wirtschafts- und Klimaminister erklärt, warum er gegen ein Gas- und Ölembargo ist.

Der Minister sieht müde aus und das hat einen Grund. Am Donnerstagnachmittag empfängt der grüne Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck zum Interview nach einer durchgemachten Nacht. Bis acht Uhr morgens hat er mit den Koalitionspartnern über das Entlastungspaket verhandelt. Dann schnell nach Hause, duschen, Zähne putzen und wieder in den Bundestag: Rede zur Vorstellung seines Haushalts. Am Nachmittag sitzt er in seinem riesigen Amtszimmer im Wirtschaftsministerium. Nach einer kurzen Pause eine Cola gegen die Müdigkeit. Dann geht es los.

taz am wochenende: Herr Habeck, eine Frage, die man eigentlich nicht laut stellen darf: Ist dieser fürch­terliche Krieg in der Ukraine die Gelegenheit, auf die alle ­gewartet haben, die die Energiewende voranbringen wollen?

Robert Habeck: Jeden Tag sterben Menschen, werden verletzt, sitzen verzweifelt in Kellern, in der Hoffnung, von Bomben verschont zu bleiben. Also nein, alle Menschen wären froh, wenn es den Krieg nicht gäbe. Aber was zu spüren ist, ist die Entschlossenheit und die Geschlossenheit, dem etwas entgegenzusetzen. Wir wollen unabhängig werden von russischen Importen. Und dazu braucht es die Energiewende. Die Stimmung ist: Komm, jetzt ziehen wir es durch.

Sogar die FDP nennt die Erneuerbaren inzwischen Freiheitsenergie.

Wer das Klima schützt, schützt die Freiheit. Diese Erkenntnis hat jetzt noch mal eine neue Dimension. Alles hängt daran, dass sie auch trägt, wenn es zum Schwur kommt. Aber den Schwur bereiten wir vor, mit allem, was wir haben.

Was heißt das?

Wir bringen zu Ostern ein Gesetzespaket mit 56 verschiedenen Einzelmaßnahmen auf den Weg. Die wichtigsten davon: die größte Reform des EEG, die es je gab, mit neuen Ausbauzielen und der Abschaffung der Umlage, neuen Regelungen für Offshore-Wind und Photovoltaik, Änderungen im Gebäude-Energie-Gesetz. Auch in der Fläche wollen wir mehr Windenergieanlagen installieren. Im Sommer kommen dann noch die Regeln zum Netzausbau. Dazu ein großes Effizienzprogramm. Das ist dann unser Fahrplan für die nächsten Jahre, um Deutschland bis zum Jahr 2045 klimaneutral zu machen.

Aber das meiste davon war ja schon vor Kriegsbeginn geplant. Hätten Sie unter dem Druck des Krieges nicht noch mehr durchsetzen können?

Nein, die Ziele waren ja schon so extrem ehrgeizig. Deutschlands Energieunabhängigkeit und Klimaneutralität werden wir nur in einem großen, gemeinsamen Kraftakt erreichen, zu dem alle Ebenen – Bund, Länder, Kommunen, Unternehmen, private Haushalte – etwas beitragen. Der Ausbau von Windkraft und Photovoltaik in den jetzt vorgesehenen Größenordnungen wird das Land verändern und fordern. Noch mehr geht einfach nicht, auch schon physisch. So viele Hände gibt es gar nicht, die das alles umsetzen und verbauen. Aber wenn wir uns in den nächsten acht Jahren an die zwei Prozent der Landesfläche für Windanlagen heranarbeiten und die Verfahren beschleunigen, dann wäre das schon ein wahnsinniger Erfolg.

Dafür sind Sie auf die Länder angewiesen. Müssen Sie da den Druck nicht noch mehr erhöhen?

Wir könnten da als Bund vieles auch allein machen, aber wir wollen das als gesellschaftliche Gemeinschaftsleistung vollbringen.

Und wenn das nicht klappt mit der Gemeinschaftsleistung?

Im ersten Jahr der Legislaturperiode musst du anschieben, reden, fördern, überzeugen. In der Mitte der Legislatur muss ein Schalter umgelegt werden. Da muss es dann eine gesellschaftliche Dynamik geben: dass man Zustimmung gewinnt, wenn man Wind- und Sonnenkraft ausbaut und Landtagswahlen verliert, wenn man sich dagegenstellt. Wenn das nicht passiert, wird ein Bundesminister scheitern, auch wenn er noch so fleißig ist. Und weil ich nicht scheitern will, ist es meine Aufgabe, diese Dynamik zu orchestrieren. Die Logik ist: Jedes Land trägt Verantwortung, und wer die Veränderung mit aufs Gleis setzt, wird davon profitieren. Aber ein Verharren im Weiter-so darf politisch nicht belohnt werden.

Ein Verharren im Weiter-so gibt es aber beim Tempolimit. Warum ist das nicht durchsetzbar, obwohl es die Ölimporte verringern und bei den Klimazielen helfen würde?

Es ist kein Geheimnis, dass ich ein Tempolimit richtig finde. Wir reden ja viel über ein Embargo von russischem Öl. Ein Drittel unseres Öls kommt aus Russland. Und auch beim Klimaziel im Verkehr sind noch nicht alle Antworten gefunden. Aber ich weiß, dass unsere Koalitionspartnerin, die FDP, da anders draufschaut. Beim zweiten Problemfeld, bei den Gebäuden, haben wir jetzt im Entlastungspaket viele gute Sachen hinbekommen: Der neue KfW-Standard 55 für Neubauten ab nächstem Jahr, und ab 2024 gibt es keine reinen neuen Gasheizungen mehr.

Sie müssen laut Gesetz ein Sofortprogramm vorlegen. Aber alle diese Maßnahmen wirken nicht sofort.

Nein, natürlich wirken die Maßnahmen erst mit der Zeit. Ich habe ja schon gesagt, dass wir 2022 und wahrscheinlich auch 2023 kaum eine Chance haben, die Klimaziele im Gesetz in allen Ressorts einzuhalten. Da war die aktuelle Explosion der Preise noch nicht einberechnet. Es könnte sein, dass dadurch die Emissionen stärker sinken als wir dachten. Nur ist das keine Erfolgsmeldung: Denn bei den Unternehmen und bei einigen Bürgerinnen und Bürgern geht die blanke Existenzangst um. Manche Industriezweige fahren jetzt schon die Produktion zurück, Aluminium beispielsweise. Eine Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Abbruch von Produktionsketten, Abwanderung von Industrie – das ist kein Klimaschutz, den man feiern sollte. Im Gegenteil: Es ist das Scheitern von Politik, wenn man die eine Krise, den Krieg, braucht, damit die andere Krise, die Klimakrise, nicht so schlimm wird.

Sie bekommen jetzt eine Minute zum Jammern: Was hat die Vorgängerregierung Ihnen hinterlassen, wo Sie sagen: Oh, mein Gott!

Ich habe ein paar Sachen vorgefunden, wo man sagt: Wie kann das eigentlich sein? Wir haben keine politische Möglichkeit, um eine Versorgungskrise im Gasbereich zu unterbinden? Oder, dass die Überförderung bei der Neubauförderung nicht erkannt wurde, das war schlechtes politisches Handwerk, das viel Geld kostet. Wer zu lange im Amt ist, verliert die Selbstkritik. Sollte ich sehr lange Minister sein, werde ich auch irgendwann im eigenen Saft schmoren. Das Gute an der Demokratie ist aber: Es kommen neue Leute, die hinterfragen das.

Habeck sitzt auf der Couch in seinem Ministerbüro, konzentriert vornübergebeugt. Er spricht mit leiser, belegter Stimme. Der riesige Raum ist karg möbliert. Deutschland- und EU-Fahne in der Ecke sind der einzige Schmuck. Die Schränke, bei seinem Vorgänger Peter Altmaier voller Geschenke und Andenken, sind noch leer. Der große Schreibtisch ist säuberlich aufgeräumt. Das habe er früh von einem seiner Büroleiter gelernt, sagt Habeck: Abends muss der Schreibtisch leer sein wie eine Landebahn.

Sie kommen gerade aus einer Verhandlung, die Ampel hat sich die ganze Nacht um ein Entlastungspaket gestritten. Wie schwierig ist denn die Umsetzung all dieser großen Ziele mit FDP und SPD?

Ich will es mal so beantworten: Dass wir unterschiedlich auf Dinge gucken, dass wir eine unterschiedliche politische Wertevorstellung haben, das ist einfach so. Bei vielen gesellschaftspolitischen Fragen passen wir sehr gut zusammen. Und es gibt andere Sachen, wo Ordnungsrecht und haushalts- oder finanzpolitische Aspekte berührt sind, wo die Spannungen größer sind. Und das sind jetzt interessanterweise eher die Bereiche, die ich betreue. Aber ich habe sehr gute Kollegen, mit denen ich das auch auf dieser handwerklichen Ebene immer wieder gut lösen kann. Mit dem Finanzministerium und auch ausdrücklich mit dem Verkehrsministerium.

Im Entlastungspaket geben Sie viel Geld aus, um den Benzinpreis zu senken. Wie schwer fällt Ihnen das als Politiker einer Partei, die diesen Preis mal auf fünf D-Mark hochsetzen wollte?

Das fällt mir nicht so schwer, weil ich sehe, wie die Preise für viele Leute extrem bedrückend sind. Bei Speditionen, Unternehmen, bei Taxifahrern, bei Berufspendler entstehen da materielle Nöte. Und die hohen Preise für Heizen und Strom werden mit Verzögerung ein noch größeres Problem darstellen. Das wird vielen Leuten richtig wehtun, da müssen wir Entlastung schaffen. Ich finde es aber noch besser, dass wir im öffentlichen Nahverkehr das Angebot attraktiver machen.

Mehr als die Hälfte der Preissteigerung bei Benzin und Diesel bleibt als Extragewinn bei Raffinerien und Zwischenhändlern. Muss man das noch mit Staatsgeldern subventionieren? Hätte man das nicht mit Gewinnabschöpfung mit Preisobergrenzen verhindern können?

So geht Politik – Zusagen im Wahlkampf nicht einhalten, bedeutet auch seine Wähler-Innen zu spalten.  Darum : “ Schau – Trau, nie eine-n/r Politiker-Inn!

Übergewinne abzuschöpfen finde ich als Idee richtig und sie sollte unbedingt auf der politischen Agenda bleiben. Kriegsgewinnlertum darf kein Geschäftsmodell sein. Wir haben die Abschöpfung der Gewinne aber nicht in dieses Paket reinbekommen, weil es noch kein durchgerechnetes, rechtssicheres Modell gibt. Das Steuerrecht ist komplex, und der Schuss muss sitzen.

Ein Geschäftsmodell, das in der akuten Krise jedenfalls wieder zurück ist, heißt Kohle. Die bisherige Planung zum Kohleausstieg beruhte darauf, dass es billiges Gas gibt. Muss man da nicht ganz neu nachdenken?

Die Notwendigkeit, aus der Kohle schnell auszusteigen, bleibt. Ohne hier wieder zu jammern: Die alte Bundesregierung hat zwei Gesetze geschaffen, die nicht miteinander kompatibel sind. Einmal das Kohleausstiegsgesetz mit 2038 als Enddatum und einmal das Klimaschutzgesetz mit seinen Minderungspfaden bis 2030 auf minus 65 Prozent und bis 2040 auf minus 88 Prozent der Emissionen gegenüber 1990. Wenn der Kohleausstieg erst 2038 erfolgt, ist das schlicht unmöglich. Die Ministerpräsidenten der Kohleländer haben darauf hingewiesen, dass es quasi eine Art Vertrauensschutz gibt mit dem Kohleausstieg 2038. Es gibt aber auch einen Vertrauensschutz gegenüber der Gesellschaft und anderen Staaten, um die Klimaziele zu halten. Dafür stehe ich. Wir müssen die Klimaschutzziele einhalten und dafür die Hilfen für die betroffenen Regionen beschleunigen.

Schneller weg vom Gas heißt aber: mehr Kohle und mehr C02.

Schneller weg vom Gas kommen wir durch den schnelleren Ausbau der Erneuerbaren und einer früheren Umstellung auf Wasserstoff. Auf zusätzliche Kohle wollen wir nur im Notfall zurückgreifen. Es sollen zwar mehr Kohlekraftwerke in die Sicherheitsbereitschaft, das heißt aber nicht, dass diese dann tatsächlich auch zum Einsatz kommen. Wenn wir in den nächsten Jahren mehr Kohle verfeuern sollten, müssen wir natürlich den zusätzlichen CO2-Ausstoß ausgleichen. Und ich bin da optimistisch: Beim Wasserstoff jedenfalls gibt es eine unglaubliche Dynamik.

Sie waren gerade in den Golfstaaten auf Energie-Shopping-Tour. Gibt es da jetzt Zusagen, was die Preise und die Mengen angeht?

Ja, es gab politische Zusagen und deswegen bin ich dorthin gefahren. Mengen und Preise verhandeln im Detail die Unternehmen.

Die Bilder, wie Sie vor dem Emir von Katar einen Diener machen, sind ja nicht überall so gut angekommen. Wie schwer fällt es Ihnen, bei diesen Regimes, die Menschenrechte missachten und Kriege führen, als Bittsteller aufzutreten?

Quelle        :      TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —  Unterzeichnung des Koalitionsvertrages der 20. Wahlperiode des Bundestages am 7. Dezember 2021

Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

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Minister- + Philister-Innen

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Februar 2022

Baerbock im deutsch-russischen Porzellanladen

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So ganz ohne Deutsche Fahne – da grämen selbst die Ahnen.

Quelle      :      Ständige Publikumskonferenz der öffentlichen Medien e.V.

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Noch keine 100 Tage im Amt, und schon ist die Grünen-Kriegerin bereit, unser Land „einen sehr hohen Preis zahlen“ zu lassen

Außenministerin Baerbock gibt den Maas 2.0: Voll dabei, die letzten Reste von Sachlichkeit und Zurückhaltung fallen zu lassen und sie mit NATO-typischer Aggressivität und Drohungen zu ersetzen. Den „deutsch-russischen Medienkrieg“ – hie der Sender RT DE unter Verbot, dort die Moskauer Dependance der Deutsche Welle geschlossen – hat niemand anderes als das Berliner Außenministerium erklärt. Der deutsche Medien-Chor der Selbstgerechten versucht das zwar zu übertönen. Der Redaktion ARD-aktuell ist jedoch zu bescheinigen, was für viele Propagandisten unseres regierungshörigen öffentlich-rechtlichen Rundfunks gilt: Wozu noch das journalistische Handwerk bemühen, wenn plumpe Hetze für die beste Sendezeit ausreicht?“ (1) Danach fragt kaum einer mehr, wer wie und warum das Übel eigentlich angerichtet hat, obwohl das doch die Voraussetzung für eine rationale Konfliktlösung wäre.

Historische Parallelen werden erst recht nicht gezogen. Zapfenstreich-Deutschland hat reiche Erfahrung mit der Gleichschaltung der Presse und der Hetze gegen seine Nachbarn. Der Versuch, hierzulande kritische Gegenstimmen auszuschalten, dient ja obendrein dem Ausbau des repressiven Staates. (2) Eine typische Entwicklung in Zeiten der provozierten Kriegsangst und Kassandra-Rufe.

Am 3. Februar reagierte die russische Regierung und schloss das Moskauer Büro der Deutschen Welle, verbot den Sender und entzog seinen 21 Mitarbeitern die Akkreditierung. Im Eifer des Nachrichten-Gefechts ließ die Tagesschau die Maske fallen: Mit dem Sendeverbot gegen die Deutsche Welle

„… reagiert Moskau offenkundig auf das Ausstrahlungsverbot des deutschsprachigen Ablegers seines Staatssenders RT. Zentraler Vorwurf der deutschen Behörden war, RT.DE verbreite im Auftrag Moskaus Verschwörungstheorien und Desinformationen.“ (3)

Hoppla, soviel hemmungslose Offenheit über den tatsächlichen Verbotsgrund war dann aber wohl doch nicht im Sinne der Redaktionsleitung und ihrer Gönner in Berlin. Die wiederholte beweislose Bezichtigung, RT DE verbreite im Auftrag Moskaus Falschinformationen, wirkte außerdem gar zu fadenscheinig. Nur zwei Stunden später stülpte denn auch Atlantik-Brücken-Moderator Zamperoni der verräterischen und dürftigen Begründung die Tarnkappe eines legalen Behördenbescheids über: Das Verbot sei unumgänglich gewesen, weil RT DE keine Sendelizenz habe. (4)

Unterm Scheinheiligenschein

Auf dieser Argumentationsbasis ließ sich auch besser behaupten, die russische Retourkutsche gegen die Deutsche Welle sei rechtswidrig und unverhältnismäßig. Im Talar eines Hohepriesters der Rundfunkfreiheit versuchte Zamperoni daher, den Eindruck zu verwischen, dass es bei der Kampagne gegen RT DE um die Unterdrückung unerwünschter Meinungen und unangenehmer Informationen gegangen war.

Baden-Württembergs Bevollmächtigter beim Bund, der Staatssekretär für Medienpolitik Rudi Hoogvliet, goss in Amtsdeutsch, was die Bundesregierung uns weismachen will:

Die Landesmedienanstalten der Länder haben dem russischen Sender RT DE aus ‚konkreten, objektiv nachvollziehbaren Gründen, nämlich aufgrund des Fehlens einer gültigen Sendelizenz‘, die Veranstaltung und Verbreitung in Deutschland untersagt.“ (5)  

Diese Behauptung wird nun gebetsmühlenartig wiederholt und über alle verfügbaren Rohre verbreitet, auch über die Tagesschau. Unsere Qualitätsjournalisten verhehlten in schöner Einigkeit mit ihren politischen Gönnern einfach, dass das von Moskau aus sendende RT DE zwar keine deutsche, wohl aber eine in Europa – und damit auch in Deutschland – gültige serbische Sendelizenz hat. Sie wurde, wie vielmals dargelegt, von der Regierung in Belgrad im Rahmen der europäischen „Übereinkunft für das grenzüberschreitende Fernsehen“ (6) erteilt.

Dass Serbien das Recht zur Lizenzvergabe hat, lässt sich nicht bestreiten. Deshalb griffen die Beamten der deutschen Landesmedienanstalten in die juristische Trickkiste, um dennoch gegen RT DE losschlagen zu können: Sie entschieden eigenmächtig, die medienrechtliche Verantwortung für die RT DE-Sendungen liege nicht beim Antragsteller RT in Moskau, sondern in Berlin-Adlershof. Absurder kann man kaum daherreden. Vergleichbar abwegig wäre die Behauptung, die redaktionelle Verantwortung für Beiträge des ARD-Studios in Moskau liege bei dessen Leiter in Russland und nicht beim Chefredakteur ARD-aktuell in Hamburg.

Die deutschen Medienbehörden biegen sich die Argumente zurecht, um den Russen eins auszuwischen. (7) Dabei tun sie so, als sei ihr Schlag gegen RT DE ohne enge Abstimmung mit der Bundesregierung erfolgt, speziell ohne Beteiligung des Außenministeriums. Als seien Verbotsverfügungen gegen einen ausländischen Sender das tägliche Brot deutscher Amtsstubenbewohner. (8) Das Außenministerium gibt sich gleich vollends als unzuständiger Unbeteiligter:  

Für RT DE gelten dieselben Regeln wie für alle anderen Sender – auch was den Aspekt der Staatsferne angeht. Die Bundesregierung kann und darf auf das Verfahren keinen Einfluss nehmen.“ (9) 

Was für ein Schmierentheater! 

Unter Außenpolitik ist die Gesamtheit der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Maßnahmen gegenüber anderen Staaten und internationalen Organisationen zu verstehen, der Umgang mit ausländischen Rundfunksendern inklusive. Für Außenpolitik ist allein die Bundesregierung zuständig. Die Behauptung, Beamte kleiner Landesmedienanstalten hätten die Kompetenz zu weitreichenden außenpolitischen Entscheidungen, bestätigt das Niveau der im unaufrichtigen und ahnungslosen Daherreden sehr geübten Grünen Baerbock. Tagesschau-Redakteure mögen ihr das vielleicht abkaufen. Der Bürger mit intaktem Politikverständnis sicher nicht.

dass sich die Balken biegen

Seit Adenauers Zeiten wissen wir, dass es die Wahrheit gibt, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Analog dazu gibt es die Lüge, die blanke Lüge und die nur noch saudumme Lüge. Mit einer solchen haben wir es hier zu tun. Schließlich ist weitgehend bekannt (und nie dementiert worden), dass die Bundesregierung (und das Bundesamt für Verfassungsschutz) die Finger drin hatten, als Luxemburg den ersten RT DE-Lizenzantrag für Europa abwies. (10)

Logisch, dass die federführende Medienanstalt Berlin-Brandenburg, MABB, jetzt nicht einräumt, auf Weisung aus dem Baerbock-Ministerium gehandelt zu haben. Dessen Herrschaften wollten unbedingt auf unbeteiligt machen. Der Schein (landes-)medienrechtlicher Legalität sollte gewahrt werden. Die Begründung, weshalb sich die MABB jedoch weigert, Akteneinsicht zu gewähren, lässt das genaue Gegenteil erkennen:

„… das Bekanntwerden des Inhalts der Verfahrensakte würde dem Wohle des Bundes schwerwiegende Nachteile bereiten. Es ist wahrscheinlich, dass eine Veröffentlichung des Inhalts der Verfahrensakte zu gewichtigen diplomatischen Spannungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Russland führen würde.“ (11)

Die Nachteile waren da bereits eingehandelt (Schließung des Moskauer Büros des Staatssenders DW) und die diplomatischen Spannungen längst (von Berlin) verstärkt worden. Wäre das Verbotsverfahren der MABB rechtlich einwandfrei begründet und methodisch sauber ausgeführt, dann könnte die Behörde ihre Akten selbstverständlich einsehen lassen. Stattdessen wird weiter gehetzt, was das Zeug hält:

Die Propagandastationen wirken auf die Meinungsbildung in den Ländern des Westens ein, in der EU insbesondere. Sie verharmlosen Putins Kriegstreiberei, verbreiten seine Lügen, stellen die Legitimität demokratisch gewählter Regierungen infrage und hofieren extreme Gruppen wie die von rechts außen bis links außen reichende Corona-Leugner-Front.“ (12)

Was Wahrheit ist, bestimmen wir. „Der Russe“ lügt nur. Und wie!

Darüber hinaus stellten russische Akteure – wie in den vergangenen Jahren – die NATO und die USA als Bedrohung für Russland und den Weltfrieden dar. … Ziele aller russischen Bemühungen sind die Diskreditierung der Bundesregierung, die polarisierende Zuspitzung des politischen Diskurses und das Untergraben des Vertrauens in staatliche Stellen“. (13)

Das geht gar nicht. Die NATO ist doch bloß für Folklore zuständig und die USA sind sogar friedlicher als der Windsbacher Knabenchor.

Wehrhafte Werte-Demokraten

Damit das alles so bleiben kann, muss ein in Deutschland tätiger russischer Sender auch vom Verfassungsschutz überwacht und stigmatisiert werden. Unbedingt. Der Verfassungsschutz ist nur eine amtliche Erscheinungsform unserer wehrhaften Demokratie. Die kommt leider ohne Geheime Gesinnungspolizei nicht aus. Die kostbarsten Güter unserer „Wertegemeinschaft“, nämlich „Freiheit“ und vor allem „Toleranz“, müssen schließlich geschützt werden (während man sie immer weniger werden lässt).

Dafür, dass das demokratische Mäntelchen der staatlich geschützten Meinungsmacher nicht bekleckert wird, sorgt unser ebenso aufgeblähtes wie ineffektives Parlament. Dessen Abgeordnete lassen sich bei Kleinen Anfragen von der Bundesregierung schon mal mit Antworten abspeisen, die nach Propaganda statt nach Fakten schmecken: Bei RT DE handle es sich um

einen der maßgeblichen Akteure eines komplexen Netzwerkes, das im Auftrag staatlicher russischer Stellen deren Narrative“ verbreite, um den „politischen Willensprozess in Deutschland zu beeinflussen.“ (14)

Böse Netzwerker sind demnach die anderen, speziell die Russen. Die Bundesregierung ist hingegen Mitglied im Kaffeekränzchen EU EAST STRATCOM, und falls wirklich jemand behauptet, dass das ein Netzwerk sei, dann ist es immerhin ein gutes, das unsere Demokratie verteidigt und dem Ausland sogar was von unseren freiheitlichen Informationen abgibt. Es wurde deshalb schon vor sieben Jahren gegründet, gleich nach dem aus Washington gesteuerten und finanzierten Staatsstreich in der Ukraine und dem Ausbruch der Maidan-Freiheit. Aufgabe: Es soll als Gegengewicht zu offiziellen russischen Mitteilungen fungieren. (15)

Die EU EAST STRATCOM TASK FORCE, so der vollständige Name dieser Einsatzgruppe, soll nach eigener Definition „kreative Informationen“ im Gebiet der EU-geführten Östlichen Partnerschaft verbreiten und dafür „neue Strategien und Methoden“ entwickeln. (16) Die TASK FORCE ist demnach für die anti-russische AgitProp der EU bei den Anrainerstaaten Russlands zuständig.

Wer meint, die EU sei die Koppel von Unschuldslämmern, irrt gewaltig. Die Bürger und Bürgerinnen unserer westlichen Fassadendemokratien sind trotz vermeintlicher Pressefreiheit nicht einmal vor der Propaganda und Desinformation seitens der eigenen Vorleute geschützt. Einflussnahme und Meinungsmache erfolgen hier allenfalls etwas subtiler. In Berlin ist dafür das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung zuständig. Es beschäftigt jede Menge professionelle Rosstäuscher. (17)

Fiese Meinungsmache

Auch in der EU EAST STRATCOM TASK FORCE sind Giftköche am Werk. Sie schaffen es sogar, die simpelsten, vielmals bestätigten Tatsachen zu leugnen, zum Beispiel diese:

Wladimir Putin - Besuch des Fernsehsenders Russia Today 10.jpg

Die NATO und der Westen sind schuld an der aktuellen Krise. Hätten sie sich an ihre Versprechen gehalten, die Allianz nicht zu erweitern, würde Russland sich nicht bedroht fühlen.“ (18)

Das Versprechen des vormaligen US-Außenministers James Baker ist nicht nur von ihm selbst und vom sowjetischen Staatspräsidenten Gorbatschow bezeugt, sondern von mehreren Teilnehmern an den 2+4-Verhandlungen zur Herstellung der deutschen Einheit. (19) Erst kürzlich hat der Hamburger Rechtswissenschaftler Norman Paech die Gegebenheiten wieder ausführlich dargelegt. (20)

Wer selber Propagandakompanien wie die EU EAST STRATCOM TASK FORCE finanziell unterstützt, kann keine Glaubwürdigkeit beanspruchen, wenn er russische Medien wie RT DE der Propagandamache bezichtigt. Die Bundesregierung ist kein Gralshüter der Wahrheit. Annalenchen Baerbock schon gar nicht, wie wir seit dem jüngsten Wahlkampf wissen.

Ihre ideologischen Unterstützer geben sich aber größte Mühe. Ein Vertreter des CIA-gesponserten Clubs Reporter ohne Grenzen (21, 22) behauptete sogar, die Deutschen Welle habe

einen Beitrag zur unabhängigen Information in einem autoritären Umfeld geleistet.“

Das wird allerdings auch nicht dadurch wahr, dass er es in einer Tagesthemen-Sendung vorbringen durfte. (23)

Die Deutsche Welle ist exakt das, was man gemeinhin unter Staatsfunk versteht: Der weitaus überwiegende Anteil ihres Haushaltes von 400 Millionen Euro wird vom Bundesfinanzminister aus Steuermitteln bereitgestellt und der DW von Kulturstaatsministerin Roth angewiesen. Der Sender ist zwar formal eine öffentlich-rechtliche Anstalt, wird aber faktisch vom Staat kontrolliert, trotz aller Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, die das verbieten. Nach dessen Urteil dürfen den Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zwar noch einige staatliche oder staatsnahe Vertretern angehören, allerdings liegt deren Quorum bei höchstens einem Drittel. Bei der Deutschen Welle sitzen im siebenköpfigen Verwaltungsrat drei Staatsrepräsentanten (jeweils ein Vertreter des Bundestages, des Bundesrates und der Bundesregierung). Im DW-Rundfunkrat geht die Regelüberschreitung sogar noch weiter: Sieben der 17 Mitglieder werden von Bundestag (2), Bundesregierung (3) und Bundesrat (2) benannt. Nur von fünf Mitgliedern lässt sich zweifelsfrei sagen, dass sie zumindest formal nichts mit dem Staat oder mit seinen Kirchen zu schaffen haben. (24) Die DW ist de facto ein Staatssender.  

Des ungeachtet behauptet die Grüne Claudia Roth:

Die DW ist zudem staatsfern organisiert. Das heißt, anders als bei RT DE nimmt der deutsche Staat keinen Einfluss auf die Programmgestaltung.“ (25)

Die Frau kann nichts dafür. Contradictio in adiecto: Sie ist Kulturstaatsministerin. Das würzt die absolut lächerlichste Bundesregierung, die wir je hatten. 

Intendant in Springer-Stiefeln

Dass Russland mit dem Verbot der Deutschen Welle unverhältnismäßig reagiert habe, ist ein weiterer Irreführungsversuch, dem auch die Tagesschau Vorschub leistet. Wieder wird der böse Russe abgemalt:

Unabhängiger Journalismus wird in Russland immer weiter zurückgedrängt“ (26), 

behauptet Demian van Osten, ein in Moskau aktiver ARD-Korrespondent. Es gehört schon eine Menge Dreistigkeit dazu, das russische Programm der Deutschen Welle als Ausdruck von Unabhängigkeit auszugeben. Intendant Peter Limbourg, vormals NATO-Korrespondent und erfahrener russophober Feindbildpfleger, hatte bereits anno 2014, als er vom Springer-Konzern kommend gerade sein Amt als DW-Intendant angetreten hatte, unter dem Beifall von CDU-Abgeordneten geprahlt, er werde die Deutsche Welle zum „Anti-Putin-Sender“ ausrichten. (27)

Es liegt ganz auf der transatlantischen AgitProp-Linie, RT DE als „Putins Propagandasender“ verächtlich zu machen, obwohl er zwar (wie die Deutsche Welle) aus Steuermitteln finanziert wird, aber als Privatkonzern organisiert ist. Es ist bezeichnend unredlich, ihm Desinformation und Falschnachrichten („fäjk njuhs“) vorzuwerfen, ohne dafür handfeste Nachweise zu führen. Oder Verfassungsschutz-Spitzel auf ihn anzusetzen und damit zu unterstreichen, welch geringen Wert unsere Regierung dem Recht auf abweichende Meinung und den Anspruch auf Zugang zu umfassender Information beimisst.

Dass umgekehrt die Deutsche Welle keinen professionellen Journalismus pflegt, sondern sich ähnlich wie das ARD-aktuell-Studio in Moskau auf Missionsreise im Auftrag des verkommenen „Wertewestens“ befindet, machen nicht nur Limbourgs Kraftsprüche deutlich. Es ist für die kritische deutsche Öffentlichkeit längst kein Geheimnis mehr. Auch nicht in der anglophonen Welt. (28)

In Russland kam ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zu dem Ergebnis, dass die Deutsche Welle im Sommer 2019 ihr Publikum zur Teilnahme an nicht genehmigten Protesten und illegalen Aktionen zur Störung der Wahlen aufgerufen habe. Schon damals war im Gespräch, die DW wegen ihrer Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands rauszuwerfen. Wider Erwarten wahrte die Regierung ihre erstaunliche Langmut. (29)

Zweifellos gilt: Wer ausländische Sender abschalten will, setzt sich meistens selbst ins Unrecht. Es ist allerdings ganz und gar nicht egal, wer aus welchen Gründen in einem bilateralen Konfliktfall damit angefangen hat. Das waren diesmal unsere böswilligen Berlin Politdarsteller. Ihr ebenso widerrechtliches (s. Anm. 6) wie wirkungsloses (30) und deshalb stupides Verbot des Senders RT DE zeigt, dass mindestens zwei ihrer drei Fraktionen an der deutschen Krankheit leiden, lustvoll-heldisch auf die Schnauze zu fliegen.

Quellen und Anmerkungen:

  1. https://form7.wordpress.com/2022/02/07/auslandsjournal-feindbild-china-als-auftakt-zu-olympia-neue-debatte/
  2. https://peymani.de/millionen-deutsche-in-sorge-auf-dem-weg-in-den-totalitaeren-staat/
  3. https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-49669.html
  4. https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-9153.html
  5. https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/hoogvliet-zur-schliessung-des-bueros-der-deutschen-welle-in-moskau/
  6. https://rm.coe.int/168007b0f0
  7. https://www.freidenker.org/?p=12140
  8. https://www.medienpolitik.net/2022/02/rt-de-kann-grundsaetzlich-eine-lizenz-beantragen/
  9. https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/aa-rus-massnahmen-gegen-deutsche-wellea/2510042
  10. https://www.sueddeutsche.de/medien/RT-DEutsch-youtube-russland-1.5489418
  11. https://www.anti-spiegel.ru/2022/ganz-schoen-viele-zufaelle-ist-die-bundesregierung-gegen-rt-de-aktiv-geworden/
  12. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/putin-gegen-freie-medien-vergeltung-17777481.html
  13. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2020-gesamt.pdf?__blob=publicationFile&v=5
  14. https://dserver.bundestag.de/btd/19/220/1922076.pdf
  15. https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-europaeische-union-tritt-gegen-putins-propaganda-an-a-1060182.html
  16. https://www.tepsa.eu/wp-content/uploads/2015/12/Kimber.pdf https://euvsdisinfo.eu/de/desinformation-ueber-den-aktuellen-russland-ukraine-konflikt-sieben-mythen-entlarvt/
  17. https://www.wuv.de/agenturen/syzygy_wird_digitalagentur_der_bundesregierung
  18. https://euvsdisinfo.eu/de/desinformation-ueber-den-aktuellen-russland-ukraine-konflikt-sieben-mythen-entlarvt/
  19. https://mltoday.com/new-document-us-promised-not-to-expand-nato-eastward/
  20. https://www.heise.de/tp/features/Osterweiterung-Wie-die-Nato-wortbruechig-wurde-6347016.html
  21. https://www.monde-diplomatique.fr/2007/07/CALVO_OSPINA/14910
  22. https://publikumskonferenz.de/forum/viewtopic.php?f=53&t=1083
  23. https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-9153.html
  24. https://www.dw.com/de/die-mitglieder-des-rundfunkrats/a-305442
  25. https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/die-staatsministerin-fuer-kultur-und-medien-claudia-roth-zum-sendeverbot-der-deutschen-welle-in-russland-lizenzrechtliche-probleme-des-senders-rt-nicht-fuer-eine-politische-reaktion-missbrauchen–2003102
  26.  https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-983271.html
  27. https://app.handelsblatt.com/politik/deutschland/plaene-des-intendanten-deutsche-welle-soll-anti-putin-sender-werden/10749874.html?ticket=ST-9909453-ScIPotWrCAzKTIw4FYRl-ap4
  28. https://detv.us/2022/02/07/balanced-journalism-or-propaganda-rt-de/
  29. https://www.dwdl.de/nachrichten/74228/russland_wirft_deutscher_welle_politische_einmischung_vor/
  30. https://www.spiegel.de/kultur/tv/russischer-staatssender-rt-de-der-medienkrieg-hat-gerade-erst-begonnen-a-d720e82e-f185-463e-9de2-e0a4cbcbbbcb

Das Autoren-Team: 

Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.

Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

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Grafikquellen          :

Oben     —       Heute war es mir eine offizielle Ehre, Ihre Exzellenz Annalena Baerbock, Bundesaußenministerin der Bundesrepublik Deutschland, im Kapitol der Vereinigten Staaten begrüßen zu dürfen, um über die transatlantische Sicherheit, die Ukraine und Russland sowie die Reaktion auf die COVID- und Klimakrise zu sprechen.

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Unten      ––     Wladimir Putin besuchte das neue Sendezentrum Russia Today und traf sich mit der Führung und den Korrespondenten des Senders

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Grün und sozial :

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Februar 2022

Mit der Greenflation zur Transformation

Datei:Der Grüne Punkt.svg

Von Rudolf Hickel

Als hätte die Ampel-Koalition nicht schon genug neue Probleme, ist sie zusätzlich noch mit einer altbekannten Thematik konfrontiert, der Inflation. Nach einer Inflationsrate nahe null im Corona-Abschwungjahr 2020 stieg die Geldentwertung 2021 von Monat zu Monat bis auf über fünf Prozent zum Ende des Jahres. Letztmals wurde ein derartiger Kaufkraftverlust vor 30 Jahren, im Juni 1992, erreicht.

Die Konsequenz: Inflationsängste machen sich breit, die zusätzlich mit der absurden historischen Anspielung auf die Hyperinflation von 1923 geschürt werden. Dabei dominierte noch vor kurzem die Sorge vor Deflation, die durch sinkende Preise auf breiter Front die Unternehmenserlöse verringert und somit die Gesamtwirtschaft schrumpfen lässt. Die Notenbank stand daher vor der Aufgabe, den zu niedrigen Preisindex in Richtung der Zielinflationsrate von zwei Prozent nach oben zu bewegen.

Angesichts der überraschend hohen Inflationsraten ist die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in die Kritik geraten. Wurde bislang die Zielinflationsrate von zwei Prozent zwecks Vermeidung einer Deflation als Schmiermittel zugunsten der wirtschaftlichen Dynamik gerechtfertigt, löst der aktuelle Inflationsanstieg nun die Forderung nach dem Tritt auf die geldpolitische Bremse aus.

Dabei sind es vor allem die Marktfundamentalisten, die attackieren. Jedenfalls ruft das jahrelange Regime der Niedrigzinsen den eigentlich tot geglaubten Monetarismus auf den Plan. Seine maßgeblich auf Milton Friedman zurückgehende Botschaft ist klar: Ein sich eigentlich aus eigener Kraft stabilisierendes Marktsystem werde durch aktive Finanzpolitik nur destabilisiert. Gefordert wird daher etwa von Hans-Werner Sinn, dem Ex-Chef des Ifo-Instituts, „das Ende der Geldschwemme“ durch einen höheren Leitzins und vor allem den Ausstieg aus den Programmen des allgemeinen und pandemiebedingten Ankaufs von Wertpapieren bei den Banken. Die Tatsache, dass die expansive Versorgung mit Zentralbankgeld im Euroraum wie auch in den USA über Jahre eher mit deflationär wirkenden Inflationsraten einherging, bleibt dabei unerwähnt. Was auch kein Wunder ist: Denn dass die Notenbank mit ihrer expansiven Geldpolitik den ökonomischen Crash des Eurosystems auch in Pandemiezeiten verhindern konnte – und zwar ohne dabei von der Finanzpolitik unterstützt zu werden –, entzieht sich der monetaristischen Trugschlussökonomik.

Die aktuelle Inflationsentwicklung lässt sich also mit der durch die Notenbanken erzeugten Schwemme mit billigem Geld nicht erklären. Im Gegenteil: Gerade der marktradikal getriebene Monetär-Reduktionismus versperrt den Blick auf die eigentlichen Ursachen der heutigen Inflation. Es handelt sich dabei nämlich um zwei bisher unbekannte Triebkräfte, die in den Lehrbüchern der Ökonomik schlicht nicht vorkommen.

Zum einen geht ein gehöriger Anteil der aktuellen Geldentwertung auf die ökonomische Entwicklung unter dem Regime der Pandemie und ihrer Bekämpfung zurück. Zum anderen wird erstmals der Anstieg der Lebenshaltungskosten infolge einer politisch unvermeidbaren Verpreisung des CO2-Ausstoßes spürbar. Diese neuartige Form einer „Greenflation“, die sich vor allem in steigenden Energiepreisen manifestiert, ist die zwingende Folge des ökologischen Umbaus.

Die Pandemie als Inflationstreiber

Zum pandemiebedingen Inflationsanstieg lässt sich Folgendes feststellen: Der Verlauf der Pandemie belastet grundsätzlich die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Dazu gehört auch der Anstieg der Preise auf breiter Front in Richtung Inflation. Die verschiedenen Lockdowns sorgten zunächst für einen erheblichen Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Doch inzwischen springt die Wirtschaft allmählich wieder an. Die wieder weltweit wachsende Nachfrage stößt allerdings auf zuvor abgebaute Produktionskapazitäten. Der dadurch „verzögerte Aufschwung“ erhöht zuerst die Hersteller- und dann auch die Verbraucherpreise auf breiter Front.

Dazu kommt die bremsende Rückwirkung der unterschiedlichen Lockdowns in wichtigen Ländern des internationalen Handels auf den weltweiten Warenverkehr. Während die Frachtraten insgesamt eklatant gestiegen sind, wird etwa in China durch die vorübergehende Schließung wichtiger Häfen Schiffsfracht nicht rechtzeitig befördert. Derartige Lieferkettenunterbrechungen belasten besonders das vom internationalen Handel abhängige Deutschland. Hier rächt sich die hoch gelobte Globalisierung mit ihrem Leitprinzip, alles möglichst billig irgendwo in der Welt unter Nutzung der „Just in Time“-Lieferfähigkeit zu produzieren. Aufgrund dieser bitteren Erfahrung arbeiten die Unternehmen bereits am Aufbau resilienter Lieferketten.

Nicht zuletzt beeinflussen diese weltweiten Abhängigkeiten auch die Nahrungsmittelpreise, die allein im Dezember vergangenen Jahres um sechs Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat gestiegen sind. Zudem haben Dürren und Überschwemmungen die Preise der Agrarprodukte nach oben getrieben. Ende November vergangenen Jahres erreichte etwa der Weizenpreis eine zuvor nicht gekannte Höhe.

Gegen diese Inflationseffekte mit Geldverknappung und steigenden Leitzinsen zu reagieren, wäre ökonomisch kontraproduktiv und sozial verheerend. Monetaristische Ratschläge taugen nichts, denn sie sind reines Gift für die Wirtschaft. Vielmehr muss die Geldpolitik mit dem fortgesetzten Null-Leitzins und dem Ankauf von Staatsanleihen die gesamtwirtschaftliche Entwicklung über die Versorgung mit billiger Liquidität stärken.

File:Ampel Beschimpfung.svg

Dieser Politik kommt die Tatsache zugute, dass es sich beim pandemiebedingten Preisanstieg im Energiebereich oftmals um „Sonderfaktoren“ handelt, die sich schon im Verlaufe dieses Jahres erheblich verringern dürften. Dies gilt nicht zuletzt für die preistreibenden Unterbrechungen der Lieferketten. Doch die Monetaristen sind nicht bereit, die für den Verlauf des Jahres absehbare Auflockerung der Lage auch bei den Energiepreisen zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen attackieren sie in „vorauseilendem Gehorsam“ die von ihnen beschworene Selbstverstärkung der Inflation durch eine prophezeite aggressive Tarifpolitik. Im Zentrum des neoliberalen Krisenszenarios steht das Gespenst der Lohn-Preis-Lohn-Spirale: Höhere Löhne sorgen für höhere Preise, die wiederum für höhere Löhne sorgen und so weiter und so fort. Dabei wird für diese Spirale keinerlei Beleg präsentiert.

Seit Jahren orientiert sich die Tarifformel der Gewerkschaften beim Inflationsausgleich am Ausmaß der symmetrischen EZB-Zielrate von zwei Prozent. Und das ist auch gut so. Denn Gewerkschaften wissen, dass Geldpolitik die nicht gewollte Inflation erfolgreich bekämpfen kann. Allerdings ist der Preis verdammt hoch, wie die fatale Schrumpfpolitik durch die Deutsche Bundesbank gegen eine hohe Inflationsrate zu Beginn der 1970er Jahre offenbart hat, nämlich eine schwere Wachstumskrise und steigende Arbeitslosigkeit.

Die gewollten Kosten der grünen Transformation

Ein zweiter, völlig neuer Inflationstreiber ist die ökologische Transformation. In der Wirtschaftswissenschaft vor allem in den USA ist deshalb bereits die Rede von der „Greenflation“.

Dieser Umbau zur Nachhaltigkeit erzeugt eine riesige Nachfrage nach den dafür notwendigen knappen Rohstoffen, etwa nach seltenen Erden für den Bau der E-Autos. Das Gleiche gilt für Stromleitungen und Solarsysteme samt den Chips zur Steuerung. So steigt durch den ökologischen Umbau die Nachfrage nach dem dafür enorm wichtigen Kupfer, was wiederum den Kupferpreis massiv steigen lässt. All das treibt die „grüne“ Inflation.

Hinzu kommt die politisch zu Recht gewollte Verteuerung der Treibhausgase – die „grüne Inflation“ als Triebkraft der ökologischen Modernisierung. Sie folgt zum einen aus dem massiv gestiegenen Preis für das Recht, CO2 auszustoßen. Der Preis der an der Börse gehandelten Zertifikate für die Energiewirtschaft sowie energieintensive Produktionsstätten (etwa Stahl) ist von durchschnittlich 25 Euro pro Tonne CO2 in 2020 im vergangenen Jahr auf 53 Euro gestiegen. Dabei wurden Ende 2021 auch schon mal Tageskurse von über 80 Euro notiert.

Quelle        :        Blätter-online          >>>>>          weiterlesen

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Verfasser Stefan-Xp      /         Quelle   :    Eigene Arbeit       %      Datum    :      13 Januar 2007, 09:54 (UTC)

Dieses Werk ist nicht urheberrechtlich geschützt und daher gemeinfrei, da es vollständig aus Informationen besteht, die Allgemeingut sind und keine ursprüngliche Urheberschaft enthalten.

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Unten     —     Neue Version von Ampel.JPG

Author Original:Stefan-XpVector: Jfd34       /     Source    : 

Transferred from de.wikipedia to Commons.      /    Date    :  6 December 2005
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Attribution: Stefan-Xp

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Hoppla, die Portokasse!

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Januar 2022

Untreue-Ermittlungen gegen Grünenspitze

Bündnis 90 - Die Grünen Logo.svg

Ein Gastbeitrag von Thomas Fischer

Der grüne Parteivorstand, auf dem Weg in die Moderne, verhakelt sich in einer Parteikasse. Wer vom Völkerrecht kommt, kann nicht auf alles achten, oder?

Weihnachten

Es läuft, das darf man so sagen, nicht wirklich gut für das Team Annalena. Die Kranzniederlegung in Moskau war zwar, vom Völkerrecht her, durchaus mal ein Einstieg, wenngleich man schon beim Betrachten der Fotos ein wenig fröstelt und der Protagonistin einen ordentlichen Sankt Petersburger Zobelmantel wünscht. Aber der Heiko hätte das vielleicht im körpernahen Leinenanzug erledigt, und so wollen wir vorsichtshalber auch hier diplomatische Kontinuität signalisieren. Die Sache mit dem Sergej war dann schon eine etwas ernstere Nummer, und wirklich erschrocken sah er ja auch nicht aus, wie man zugeben muss. Immerhin ging’s noch ein Stündchen in die Kunstgalerie, sehr schön, sehr schön, und dann, mit 99 Luftballons hoch über das Aufmarschgebiet dahingebraust, wieder zurück beim Robert und bei der Katrin, die zwar nicht vom kursorischen Völkerrecht, aber immerhin von der abgebrochenen Theologie herkommt und schon allein deshalb gern mindestens fünf Weihnachtsansprachen gehalten hätte, aber auch hier: leider!

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Ein Generationenkonflikt

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Januar 2022

„Fragt nach der Macht, emanzipiert euch!“

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Das Interview mit Daniela Dahn und Sarah-Lee Heinrich führte Elsa Koester

Daniela Dahn wollte die DDR demokratisieren, Sarah-Lee Heinrich kämpft gegen Ungerechtigkeit. Ein Streitgespräch über Naivität, Scheitern und die Zukunft. Die Idee eines gemeinsamen Gesprächs begeistert Daniela Dahn, 72, und Sarah-Lee Heinrich, 20. Spontan: wie spannend! Die linke Intellektuelle und die Bundessprecherin der Grünen Jugend sagen sofort zu. Die Terminfindung wird kompliziert. Die eine denkt an einen Videocall, die andere geht vom persönlichen Treffen aus, fragt, ob es bei ihr zu Hause ginge, sie meide wegen Corona öffentliche Verkehrsmittel. Ein Generationengespräch inmitten einer Pandemie. Aber wir finden uns, in einem warmen Wohnzimmer tief im Osten Berlins.

der Freitag: Frau Heinrich, wie weit ist für Sie 1989 entfernt?

Sarah-Lee Heinrich: Weit. Der Mauerfall und die ganze DDR waren für mich geschichtliche Ereignisse, von denen ich im Unterricht gelernt habe.

So weit weg wie … 1968?

Daniela Dahn: Viel weiter. Dreißigjähriger Krieg!

Heinrich: Hahaha, ja, fast …

Dahn: Junge Leute interessieren sich nicht für die DDR, weil sich in der Geschichtsschreibung durchgesetzt hat, dass da nichts von Interesse war.

Heinrich: Im Geschichtsunterricht wurde ich misstrauisch, als eine Freundin anfing, über Frauenrechte in der DDR zu recherchieren, und ein Referat hielt. Warum haben wir darüber nicht mehr gesprochen? Ich habe dann mehr erfahren über Polikliniken in der DDR, über das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, über Gleichstellung …

Dahn: Ja, ich komme aus einer Gesellschaft, in der man das Gendern nicht in die Grammatik verlegte, sondern die Berufstätigkeit von Frauen selbstverständlich war – das Wichtigste für Gleichstellung.

Gendern Sie, Frau Dahn?

Dahn: Nein. Das führt nur zu Sexualisierung. Nach der Wende wurde ich von Feministinnen kritisiert, ich hätte eine „maskuline Sprache“. „Ich bin Autor“ – das fand ich emanzipierter, weil es eine Art von Gleichwertigkeit beschreibt, die das Weibliche nicht in eine Substandard-Abteilung auslagert: Es war mir lieber, wenn eine DDR-Frau sagte: „Ich bin Traktorist“, als wenn sie nach der Wende, klüger geworden, sagen musste: „Ich war Traktoristin.“

Heinrich: Das verstehe ich. Gendern ist jedoch eine Frage der Gewohnheit: In meiner Generation denken inzwischen viele nur an Männer, wenn sie das Wort „Autor“ hören.

Dahn: Ich habe nie nur an Männer gedacht, wenn ich so eine Berufsbezeichnung gehört habe. Sondern gleiche Liga, bitte kein Damenprogramm. In modernen Sprachen wie dem Japanischen oder Schwedischen hört man inzwischen auch auf mit diesem unsinnigen Anhängsel.

Heinrich: So sind wir nicht aufgewachsen. Für mich klingt gegenderte Sprache normal, das geht mir flüssig über die Zunge. Aber wenn Frau Dahn andeutet, die Linke tendiere dazu, bestimmte systemische Probleme zu sehr in die Sprache auszulagern – dann kann ich mit dieser Kritik etwas anfangen. Ich komme aus einem Haushalt, der in Armut gelebt hat. Mich mit meiner Mutter darüber zu streiten, welchen Begriff für Berufe sie verwenden soll, kommt mir absurd vor. Ein Hartz-IV-Bescheid, der gegendert ist, hätte uns keine Verbesserung gebracht.

Sind Sie der Meinung, dass jüngere Protestbewegungen gegen Sexismus oder Rassismus die ökonomischen Aspekte sozialer Ungleichheit vernachlässigen?

Dahn: Die letzte starke Bewegung, die soziale Ungleichheit bis in ihre Rechtsform hinein analysierte und dagegen protestierte, war Occupy. Ich habe die Platzbesetzung in New York erlebt. Erst wollte die Bewegung die Börse und Banken blockieren, dann das Wirtschaftssystem, dann kam sie dazu, ein neues Recht formulieren zu wollen: Occupy the Law. Völlig richtig!

Das ist nun zehn Jahre her.

Dahn: Man muss sich fragen: Wo sind die 99 Prozent geblieben? Wie wurden diese und andere Bewegungen zersetzt? Da gab es Diffamierung, weit hergeholte Antisemitismus-Vorwürfe, Probleme bei der Finanzierung, polizeiliche Räumung. Aber auch einen Mangel an klaren Zielen … Bei der jetzt aufbrechenden Generation vermisse ich eine Analyse des Scheiterns vorheriger linker Kämpfe.

Heinrich: Da bin ich bei Ihnen, Frau Dahn: Wie arbeitet Macht? Die Arbeiterklasse wurde in den vergangenen Jahrzehnten ganz gezielt demobilisiert, besonders mit der Agenda 2010. Da stellte sich eine linke Regierung hin und sagte: Deine eigene Leistung muss es reißen, und wenn du es nicht aus Hartz IV schaffst, bist du selber schuld. Diese Ideologie hat gezogen! Ich dachte ganz lange, ich sei schuld an meiner Armut. Erst als ich verstand, dass sie systemisch ist, begann ich zu protestieren!

Wann haben Sie verstanden, dass Ihre Armut die Folge eines Gesetzes war?

Heinrich: Mit 14. Im Schulunterricht haben wir über die Agenda 2010 gesprochen, und ich verstand zum ersten Mal, dass Hartz IV das Ergebnis einer politischen Entscheidung war.

Dahn: Und nicht vom Himmel gefallen.

Heinrich: Genau. Ich hörte von den Protesten gegen die Einführung von Hartz IV und war überrascht: Es gibt noch andere Leute, die dagegen sind! Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nur verstanden, dass meine Rassismus-Erfahrungen politisch sind. Da hat man einen sichtbaren Gegner: Die Person, die einen rassistisch diskriminiert. Bis es mir dämmerte: Auch Armut ist politisch.

Ist das auch den privilegierten Menschen Ihrer Generation klar?

Heinrich: Bei der Grünen Jugend haben wir viele junge Menschen, die aus Haushalten mit akademischem Hintergrund kommen – und gelernt haben, ihre Privilegien zu sehen: Ich bin weiß, ich bin ein Mann, also bin ich privilegiert. Diese Studierenden arbeiten meist in absolut prekären Jobs – tun aber nichts dagegen, weil sie ja davon ausgehen, dass sie privilegiert sind, und sich selbst für diese Prekarisierung beschuldigen!

Dahn: Dieser Jugend fehlt eben die Analyse der Machtverhältnisse.

Heinrich: Es fehlt das Gefühl der Zugehörigkeit zur Arbeiter*innenklasse. Diese prekär arbeitenden Studierenden sind ja kein Unternehmen – sondern sie verkaufen ihre Arbeitskraft!

Jungen Menschen fällt es also schwer, den Interessengegensatz zwischen Arbeiterinnen und Unternehmern wahrzunehmen, weil dieser im Alltag weniger sichtbar ist?

Heinrich: Es stimmt ja auch: Es gibt nicht diesen einen bösen Mann, der Zigarre raucht und die Arbeiter unterjocht. In der Logik des Kapitalismus können alle ihr Recht geltend machen: der Arbeitgeber, der hohe Profite erwirtschaften möchte, und der Arbeitnehmer, der einen hohen Lohn erhalten möchte. Die Ausbeutung dahinter ist verschleiert.

Dahn: Es kommt nicht mehr, wie früher im mittelständischen Betrieb, jeden Tag der Boss durch. Aber dafür kommt doch der Abteilungsleiter. Oder er kontrolliert digital. Wieso ist es denn heute so schwer, die Frage zu stellen: Wem gehört das Ganze?

Häufig gehört es verschiedenen Aktionär*innen …

Dahn: Eher einigen großen, Kleinaktionäre sind die Minderheit. Aber es gibt die kritischen Aktionäre, Belegschaftsaktionäre – per Mausklick gelangt man zu den Eigentümern oder ins aufschlussreiche Aktiengesetz. Mit etwas Mühe kann man die Kapitalisten unserer Zeit sehr wohl sichtbar machen. Und die Folgen ihrer Entscheidungen. Es brennt, es vertrocknet oder wird überschwemmt … In der Klimakrise ist sichtbar, was dieses System anrichtet.

Heinrich: Es gibt doch eine junge Bewegung, die es geschafft hat, Akteure sichtbar zu machen: „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ in Berlin. Die haben gefragt: Wer profitiert davon, dass es uns mit unseren Wohnungen schlecht geht? Sie wollen diese Wohnkonzerne enteignen und vergesellschaften und haben dafür eine Mehrheit bekommen. Das Bewusstsein gegenüber Ungleichheit und kapitalistischer Ausbeutung kommt langsam wieder. In den USA wurde eine junge Generation stark von den Bernie-Sanders-Wahlkämpfen 2016 und 2020 geprägt. Auch ich wurde davon abgeholt.

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Dahn: Was hat Sie überzeugt?

Heinrich: Da stehen Hunderttausende Arm in Arm hinter einem Kandidaten, der sagt: Ich stehe hier für die Arbeiterklasse! Was geht, so was gibt’s?! Das hat viele abgeholt. Darunter auch die Klimabewegung in den USA, die dann sagte: Wir gehen dem Unternehmen an den Kragen, und nicht seinen Arbeitern.

Von Fridays for Future fühlen sich in Deutschland vor allem Gymnasiast*innen abgeholt – kaum Auszubildende oder junge Erwerbslose. Woran liegt das?

Heinrich: Es gibt einen Spruch der französischen Gelbwesten: Man kann sich schwer Gedanken machen über das Ende der Welt, wenn man sich Gedanken über das Ende des Monats machen muss. Als Klimabewegung haben wir uns hierzulande über Jahre hinweg sehr konsumkritischen Debatten hingegeben. Es wurde darüber diskutiert, ob man mit Plastikgabeln essen darf oder wie schlimm es ist, einen Kaffee im Pappbecher zu kaufen. Das ist abschreckend. Und wenn der Sprit teurer gemacht wird, ohne dass der Bus häufiger kommt, dann ist nur die Fahrt teurer, und dem Klima bringt es gar nichts. Aber vieles ändert sich. Daher freue ich mich, dass in den USA eine moderne Form der Klassenpolitik im Kommen ist, die es schaffen könnte, verschiedene Kämpfe zu verbinden.

Studien zufolge lehnen mehr als 50 Prozent der jungen Menschen in den USA den Kapitalismus als Wirtschaftssystem ab.

Heinrich: Alexandria Ocasio-Cortez ist eine prominente Vertreterin so einer modernen, klassenbewussten Linken. In unserer Generation ringen wir darum, wieder eine gemeinsame Analyse zu finden, um zusammenzukommen.

Dahn: Ich beobachte dieses Ringen mit Sympathie, muss aber auch sagen, dass ich zum Teil fassungslos bin … Moment, ich hole mal dieses Buch von Extinction Rebellion.

Daniela Dahn geht in ihr Arbeitszimmer und kommt mit dem Buch Wann wenn nicht wir* der Klimaschutz-Organisation zurück.

Dahn: Hier. Ich war baff über das Nebeneinander von richtigen Forderungen bei gleichzeitig völliger Abwesenheit von Überlegungen dazu, ob sie durchsetzbar sind. Das soll mit Liebe und Altruismus gehen, aber wo bleibt die politische Analyse der Macht? Oder hier, das Buch vom Jugendrat der „Generationen Stiftung“: Ihr habt keinen Plan, darum machen wir einen!

Haben Sie keinen Plan, Frau Dahn?

Dahn: Genau: Wir sind die Generation, die alles versaubeutelt hat. Und jetzt kommt die junge Generation und bringt den Plan. Diese Anmaßung finde ich erst mal völlig in Ordnung. Aber sie birgt Probleme in sich: Da findet keine Analyse vorangegangener Pläne statt, so als würde man bei null anfangen. Und dann kommen Forderungen – die ziehen mir die Schuhe aus! „Bis 2022 Erstellen eines Zukunftsszenarios für eine generationsgerechte Wirtschaft durch die Bundesregierung“. Durch die Bundesregierung?! Und zwar sofort? Ja, geht’s noch? Hat man denn überhaupt kein Bewusstsein dafür, dass im bürgerlichen Staat die Regierung durch den „Code des Kapitals“, wie etwa die Juristin Katharina Pistor analysiert, gesetzlich verpflichtet ist, Privateigentum zu schützen – und nicht eine neue, „gerechte Wirtschaft“?

Sie finden das naiv?

Dahn: Hochgradig unwissend. Ich habe mal den Koalitionsvertrag der Ampel danebengelegt. Von den 100 sehr berechtigten Forderungen aus dem Buch sind fünf beachtet. Bei sehr gutem Willen!

Also, Frau Heinrich: Wo bleibt die Rebellion?

Heinrich: Eine der Autorinnen hat nach diesem Buch ein zweites geschrieben, Franziska Heinisch: Wir haben keine Wahl. Ein Manifest gegen das Aufgeben. Darin stellt sie fest, dass diese Forderungen nichts bringen, wenn wir keinen Weg finden, sie durchzusetzen. Es geht dann um das Organisieren von Menschen von unten: Organising. Diese Prozesse finden in der jungen Linken gerade statt.

Das behauptet die junge Linke, seit ich sie kenne. Ein Ausdruck der Hilflosigkeit.

Heinrich: Wieso das denn?

Moment, wieso bin jetzt ich in der Rolle der altklug Daherredenden, die war doch Frau Dahn zugedacht! Aber ich habe 2010 viel Hoffnung in einen Organising-Versuch am Jobcenter in Berlin-Neukölln gesteckt, der kläglich scheiterte – wie viele andere.

Heinrich: Was ist denn dann die Antwort auf unsere soziale und politische Situation? Das Einzige, was wir in den gesellschaftlichen Machtverhältnissen auf unserer Seite verbuchen können, ist die Tatsache, dass wir im Vergleich zur Kapitalfraktion einfach mehr Menschen sind, die von einer Politik profitieren würden, die nicht profitorientiert handelt.

Quelle       :         Der Freitag-online           >>>>>         weiterlesen 

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Oben          —       Twitter     –    Sarah Lee 

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Unten      —       Berlin, 09.12.12 Szenische Lesung über „Stefan Heym – Einer,der nie schwieg“ im Palais am Festungsgraben. Mit Daniela Dahn.. Foto. Ulli Winkler

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Grüne BTA zur Impfpflicht

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Januar 2022

„Eine Pflicht auch für den Staat“

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Das Interview führte Eiken Bruhn

Kirsten Kappert-Gonther, Grüne und Psychiaterin, war lange gegen eine Impfpflicht. Nun ist sie dafür – nennt für deren Einführung aber eine zentrale Voraussetzung.

taz: Frau Kappert-Gonther, ursprünglich sollte in der kommenden Woche im Bundestag über die Impfpflicht debattiert werden. Jetzt wird das auf Ende Januar verschoben. Wie finden Sie das?

Kirsten Kappert-Gonther: Die Debatte wurde nicht verschoben, weil sie noch gar nicht angesetzt war. Es ist notwendig, diese Diskussion mit Zeit und Sorgfalt zu führen. Ich gehe davon aus, dass wir uns noch im Januar mit konkreten Vorschlägen entlang den Empfehlungen des Ethikrats beschäftigen werden und anschließend ins Gesetzgebungsverfahren einsteigen. Aus meiner Sicht ist das in Anbetracht der Entwicklung des Pandemiegeschehens geboten.

Aber es gibt starke Vorbehalte – vor allem in der FDP, aber sicher auch bei den Grünen.

Dass das Impfen der Weg raus aus der Pandemie ist, da gibt es unter den Abgeordneten der demokratischen Fraktionen ein weitgehendes Einvernehmen. Ob wir eine allgemeine Impfpflicht brauchen und wie diese ausgestaltet werden sollte, dazu wird es vermutlich unterschiedliche Meinungen und Vorschläge in Form von fraktionsübergreifenden Gruppenanträgen geben.

Sie haben selbst die Impfpflicht lange abgelehnt. Warum sind Sie jetzt dafür?

Ich gehe davon aus, dass die Impfpflicht einen signifikanten Beitrag dazu leisten kann, diese Pandemie zu überwinden. Wegen Delta und jetzt Omikron brauchen wir eine höhere Impfquote, als wir sie bisher ohne die Pflicht erreicht haben. Allerdings müssten wir gar nicht über eine Impfpflicht sprechen, wenn die bisherige Impfkampagne bundesweit besser gewesen wäre.

Das heißt, sie ist eine Notlösung?

Sie ist ein Baustein zur Überwindung der Pandemie, und sie wird erst mittelfristig als Schutzschild gegen zukünftige Wellen greifen, das muss allen klar sein. Deshalb bleibt es erst einmal notwendig, Maske zu tragen, Abstand zu halten und Kontakte zu reduzieren. Und damit die Impfpflicht überhaupt wirksam werden kann, muss sie gut ausgestaltet sein.

Der Ethikrat hat sich kurz vor Weihnachten ähnlich geäußert. Die Impfpflicht sei „kein Allheilmittel“, es brauche auch eine „flächendeckende Infrastruktur“ mit „niedrigschwelligen Impfangeboten“. Aber wenn es solche Angebote bisher nicht gegeben hat in den meisten Bundesländern, warum sollen die sich jetzt noch anstrengen? Mit der Impfpflicht wird die Verantwortung an die Bür­ge­r:in­nen abgegeben.

Nein, es muss eine doppelte Verpflichtung geben, also auch für den Staat, die geeignete Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Wir sehen ja an Bremen, welche Quoten möglich sind, wenn die Impfkampagne gut organisiert ist. Politik und Verwaltung haben dort eine Positivspirale in Gang gesetzt: Je mehr Menschen sich impfen lassen, desto mehr ziehen sie mit. Da kann die Impfpflicht einen Beitrag leisten, aber nur, wenn der Staat die Impfung wie in Bremen zu den Menschen bringt: als ermöglichender, nicht verfolgender Staat. Dazu gehört, dafür zu sorgen, dass auch diejenigen den Schritt gehen können, die bisher Zweifel haben oder sogar Angst.

Die Impfpflicht kann für diese Menschen auch ein Segen sein, weil sie endlich nicht mehr abwägen müssen, wovor sie sich mehr fürchten: der Impfung oder der Krankheit.

Ich vermute, dass das auf diejenigen zutrifft, die sehr ambivalent sind und sich gedanklich im Kreis drehen. Die sind vielleicht sogar erleichtert. Aber die Gruppe der Ungeimpften ist heterogen. Es gibt auch diejenigen, die es bisher einfach nicht geschafft haben, die Impfung in ihren Alltag zu integrieren. Und ich gehe davon aus, dass es auch Menschen gibt, die eigentlich große Angst vor der Pandemie haben, das aber verdrängen und die Angst unbewusst verschieben. Auf etwas, das sich – anders als die Pandemie – vermeiden lässt, nämlich auf die Impfung. Dann werden Widerstände gegen die Impfung entwickelt, ohne sich der Ursache bewusst zu sein. Für viele dieser Menschen können Gesprächsangebote zum begleiteten Impfen sinnvoll sein.

Also mehr als das ärztliche Aufklärungsgespräch?

Ja, eine Impfpflicht bedeutet nicht weniger, sondern mehr Kommunikation. Es braucht Personen, die geschult sind im Gespräch, zum Beispiel Psychotherapeut:innen, um Sorgen und Widerstände in Ruhe zu besprechen. Und das mehrsprachig.

Sie sind Psychiaterin und Psychotherapeutin. Wie entstehen solche Sorgen und Widerstände?

Dahinter können biografische Gründe stecken, zum Beispiel eine Traumatisierung, Erlebnisse in einem autoritären Staat oder eine erfahrene Impfnebenwirkung bei sich oder nahen Menschen.

Waldprotest Dannenrod vor grünen Parteizentrale Berlin Diskussion mit Robert Habeck 28.10.2020 09.jpg

Wer hat die Protestierenden verraten? Es waren die Grüne welche es taten !

Das heißt, es geht bei vielen womöglich um ihre Selbstwirksamkeit, sich nicht ausgeliefert fühlen zu müssen?

Ja, und dieser Punkt ist mir sehr wichtig. Es darf heute zum Glück nur noch medizinische Eingriffe geben, wenn die Patientin oder der Patient eingewilligt hat. Dazu gehört auch eine Impfung. Immerhin überwindet eine Spritze die Hautschranke zwischen Außen und Innen. Ohne Einwilligung wäre das ein Impfzwang – den darf es nicht geben.

Also auch keine Sanktionen?

Doch, eine Impfpflicht wäre verbunden mit Bußgeldern, wenn ihr nicht nachgekommen wird.

Wären die Beratungsgespräche ergebnisoffen, so wie in der Schwangerschaftskonfliktberatung?

Nein, das ist eine andere Situation. Der Staat will, dass du dich impfen lässt und soll dich in den Stand versetzen, Sorgen, Ängste, Ambivalenzen zu überwinden.

Das ist doch keine Beratung, das ist Überreden.

Das Ziel ist es, den Menschen alle Informationen in einem geeigneten Rahmen zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen, um zu einer informierten Entscheidung zu kommen – im Sinne der Pandemiebekämpfung.

Aus Studien geht hervor, dass bei vielen die Ablehnung der Impfung nichts mit Ängsten vor Nebenwirkungen zu tun hat, sondern sie ihre Unzufriedenheit mit der Regierung an sich ausdrücken wollen. Da helfen keine psychotherapeutischen Gespräche.

Quelle       :          TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Kirsten Kappert-Gonther (Bündnis 90/Die Grüne) beim Bundestagsprojekt 2020

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Unten        —         Protestaktion an der Bundesgeschäftsstelle der Partei Bündnis 90/Die Grünen gegen den Bau der Autobahn 49 am 28. Oktober 2020. Bei der Aktion wurde ein Gespräch mit einer Person aus dem Parteivorstand gefordert. Der Bundesvorsitzende Robert Habeck kam daraufhin zu einem Gespräch.

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Das Licht geht aus

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Dezember 2021

AKW – Brokdorf wird zum Jahresende abgeschaltet

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Von Rainer Paul

425 Mahnwachen in 36 Jahren. Am Nikolaustag gab es die letzte. Die Demonstranten feierten, dass das AKW Brokdorf nun vom Netz genommen wird.

Dieselben Wiesen, dieselben Gräben, derselbe scharfe Wind. Als wir in Wewelsfleth aus dem Auto steigen, haben wir den Eindruck, dass sich hier in der Wilstermarsch (eine der vier holsteinischen Elbmarschen, nordöstlich der Elbe – Anm. d. Red.) in den vergangenen 45 Jahren gar nicht so viel verändert hat. Wir gehen noch einmal denselben Weg wie am 31. Oktober 1976, als wir das erste Mal in Brokdorf waren. Von Wewelsfleth Richtung Elbe, dann weiter auf dem Deich, insgesamt etwas mehr als fünf Kilometer.

Doch wo damals eine Baustelle war, von der Polizei zur Festung ausgebaut, steht jetzt das Atomkraftwerk. Hellgrau die Reaktorkuppel und der Abluftkamin, weiß das wuchtige Maschinenhaus. An einem Baum hat sich eine Fahne verfangen, dreckverschmiert ist die aufgedruckte lachende Sonne, das Symbol der Anti-Atom-Bewegung.

Die Flagge ist vermutlich ein Überbleibsel der Mahnwache vom Nikolaustag. Seit 36 Jahren haben sich an jedem 6. Tag eines Monats Umweltschützer am Haupttor des AKWs zum stillen Protest versammelt. Am 6. Dezember dieses Jahres fand die 425. und zugleich letzte Mahnwache statt. Außer Tee und Gebäck gab es auch Sekt. Die Demonstranten feierten, dass Brokdorf zum Jahresende für immer abgeschaltet wird.

Hans-Günter Werner gehört zu den Kirchenleuten, die die Mahnwache 1986 nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl ins Leben riefen. „Wir haben damals versprochen, dass wir kommen, bis das AKW abgeschaltet wird“, sagt er. „Jetzt ist es endlich so weit.“ Werner hat kaum eine Mahnwache verpasst, sogar seine Urlaube plante er nach dem wiederkehrenden Datum.

In einer Nacht- und Nebelaktion

Mit Brokdorf gehen zeitgleich zwei weitere der sechs noch laufenden Atomkraftwerke dauerhaft vom Netz, Grohnde in Niedersachsen und Gundremmingen-C in Bayern. Deutschland, das gefühlt schon vor Jahrzehnten aus der Atomkraft ausgestiegen ist, verliert damit seinen Platz als zweitgrößter Atomstrom- und Atommüllproduzent in der Europäischen Union hinter Frankreich.

Deutschland verliert damit seinen Platz als zweitgrößter Atomstrom- und Atommüllproduzent in der Europäischen Union hinter Frankreich

Brokdorf ist das am heftigsten umkämpfte deutsche AKW. Schon gegen den in einer Nacht- und Nebelaktion erfolgten Baubeginn demonstrierten am 30. Oktober 1976 rund 8.000 Menschen, einige hundert besetzten das Baugelände. Im Morgengrauen trieben Polizisten die Besetzer mit Hunden, Knüppeln und Tränengas vom Platz. „Die Polizei ging mit unfassbarer Brutalität vor“, hieß es damals in den NDR-Nachrichten.

Auf dem Elbdeich protestierten einen Tag später 4.000 Menschen gegen die Polizeiübergriffe. Bei dieser Demo gelang dem Fotografen Günter Zint das berühmte Gegenlichtfoto von den Menschen auf dem Deich, das später immer wieder auf Plakaten und Flugblättern der Anti-AKW-Bewegung gedruckt wurde. Wir hatten die Räumung des Baugeländes am Vorabend in den Fernsehnachrichten gesehen und waren aus Neugier nach Brokdorf gefahren.

Obwohl die Polizei weiträumig Straßen absperrte, zogen zwei Wochen später, am 13. November, 40.000 durch die Wilstermarsch zum Bauplatz. Der Versuch einer erneuten Besetzung misslang. Polizisten und Grenzschützer verteidigten das Gelände, warfen Tränengaskartuschen aus tief fliegenden Hubschraubern in die Menge. Hunderte wurden verletzt.

Rebellion gegen das kapitalistische System

Waren die ersten großen Anti-AKW-Proteste im badischen Wyhl noch stark regional geprägt und zielten vorrangig auf den Schutz der eigenen Lebensumgebung ab, gelangte in Brokdorf die Auseinandersetzung um die Atomkraft auf eine grundsätzlichere Ebene: Sie entwickelte sich zu einer Rebellion gegen das kapitalistische System und gegen den „Atomstaat“. Weite Teile vor allem der städtischen und studentischen Bewegung verschmolzen die Ökologie- mit der Systemfrage.

Ende 1976 verfügte das Verwaltungsgericht Schleswig einen Baustopp für Brokdorf. „Richtersprüche machen Atomkraftwerke auch nicht sicherer“, hielt die Anti-Atom-Bewegung dagegen. Trotz beispielloser Hetze und dem Heraufbeschwören einer „Schlacht um Brokdorf“ in den Medien – die Bild fantasierte den von den „Chao­ten“ zu Propagandazwecken einkalkulierten Tod von Demonstranten herbei –, und trotz Versammlungsverbots fand am 19. Februar 1977 die bis dahin größte Demo gegen das AKW statt. 50.000 Menschen zogen Richtung Bauplatz – und kehrten nach einer Kundgebung an der ersten Polizeisperre wieder um. Die Massen folgten dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW), der zum „Schleifen der Festung“ aufruft, nicht.

„Richtersprüche machen Atomkraftwerke auch nicht sicherer“, hielt die Anti-Atom-Bewegung dagegen

In den Kämpfen um Brokdorf entdeckten die damals starken „K-Gruppen“ ihre Liebe zur Anti-AKW-Bewegung. Sie sahen in den überall neu entstehenden und wachsenden Initiativen ein ideales Propaganda- und Rekrutierungsfeld. Manch hart gesottener K-Grüppler etwa aus dem KBW oder der Abspaltung „Gruppe Z“ des Kommunistischen Bunds (KB) hielt sich indes gar nicht lange in der Bewegung auf, sondern marschiert gleich weiter in die sich Ende der 1970er Jahre bildenden grünen und bunten Listen.

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Wer weiß – vielleicht sitzen heute einige der damaligen Verschwörungs-Theoretiker von der Grünen in der Regierung? 

Am 28. Februar 1981 protestierten 100.000 in der Wilstermarsch gegen das Auslaufen des Baustopps. Ein gewaltiges Polizeiheer mit Hubschraubern und Wasserwerfern empfing die Demonstranten. Es folgten stundenlange Auseinandersetzungen, es gab zahlreiche Verletzte und Verhaftete. Wenige Tage später veröffentlichte der Stern ein Foto: Es zeigte drei AKW-Gegner, die einen Polizisten verprügeln. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen versuchten Mordes, zwei Männer wurden verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Radioaktive Wolke über halb Europa

Die juristische Auseinandersetzung um das Demo­verbot mündete im Mai 1985 im Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. In seinem Urteil traf es weit reichende Aussagen zur Bedeutung der Versammlungsfreiheit, das Gericht erarbeitete Begriffe wie Eilversammlung und Spontanversammlung und betonte ausdrücklich, dass Bürokratie und Protest sich nicht gut vertragen und dass es „… seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers galt, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln“.

Zehntausende machten sich am 7. Juni 1986 erneut auf dem Weg nach Brokdorf. Wenige Woche zuvor war Reaktor Nummer 4 im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl explodiert, eine radioaktive Wolke hatte sich über halb Europa ausgebreitet. Die Demo wurde von der Polizei zerschlagen. Den Hamburger Konvoi – acht Kilometer lang, mehr als 10.000 Leute – überfielen die Beamten schon auf dem Hinweg. Sie schlugen bei mehr als hundert Fahrzeugen die Scheiben ein, zerstachen die Reifen, brachen die Kofferräume auf oder schoben die Autos gleich ganz in den Graben. Die Straße bei Kleve glich einem Schrottplatz.

Quelle         :        TAZ-online        >>>>>         weiterlesen 

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Grafikquellen          :

Oben     —    Atomkraftwerk Brokdorf von der Elbe aus gesehen

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Unten        —   Demonstration gegen den Bau des Kernkraftwerks Brokdorf. Etwa 5.000 Menschen zogen durch die Innenstadt zum Landeshaus. Das Regierungsviertel ist von der Polizei abgeriegelt. Texte: „Baustopp in Brokdorf“, „Brokdorf kein KZ, Stoltenberg muss weg!“.

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Die Erbschaftsteuer :

Erstellt von DL-Redaktion am 23. Dezember 2021

Wie von Oligarchen bestellt

Man sollte annehmen, dass das Grundgesetz über den Interessen einiger weniger Schwerreicher steht. Doch weit gefehlt: Bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer ist seit mehr als 15 Jahren eine verfassungswidrige Regelung in Kraft – trotz zweimaliger Reformversuche. Umso dringlicher aber ist es, dass die kommende Regierung endlich eine verfassungskonforme Lösung herbeiführt und damit zugleich für mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft sorgt.

Personen, die viel erben, zählen in der Geburtenlotterie zu den klaren Gewinnern. Ihr Erbe erhalten sie in der Regel, ohne dafür etwas geleistet zu haben. Eine Besteuerung von Erben und Schenkungen kann daher die unterschiedlichen Chancen von Menschen in Deutschland angleichen. Hohe Erbschaften sollten folglich auch höher besteuert werden als kleinere.

Doch in der Realität zeigt sich ein gänzlich anderes Bild. Die größten Vermögen werden oftmals niedriger besteuert als kleinere, obwohl das gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz unseres Grundgesetzes verstößt. Denn weitreichende Ausnahmen sorgen dafür, dass hochprofitable und milliardenschwere Familienunternehmen nahezu steuerfrei weitergegeben werden können – ganz im Gegensatz zu privaten Erbschaften, auf die – je nach Verwandtschaftsgrad – bis zu 50 Prozent Erbschaftsteuer entfallen. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 wurden die 127 größten Schenkungen mit einem Volumen von insgesamt zwölf Mrd. Euro mit weniger als einem Prozent besteuert.

Diese hochgradig ungerechte Belastung bei der Erbschaftsteuer ist keinesfalls ein Zufall, sondern vielmehr politisch gewollt und historisch gewachsen.

Historisch gewachsene Ungleichheit

Die preußische Erbschaftsteuer aus dem Jahr 1873 und das darauf aufbauende Reichserbschaftsteuergesetz von 1906 sahen noch keine Abgaben für Ehegatten und Kinder vor. Erst die Erzbergersche Steuerreform aus dem Jahr 1919 änderte dies: Sie setzte Steuersätze von bis zu 90 Prozent bei großen Vermögen und vermögenden Erben fest. Und auch wenn die Steuersätze und Freibeträge in den darauffolgenden Jahrzehnten mehrmals angepasst wurden, unterlagen auch Betriebsvermögen damals der üblichen Besteuerung.

Das änderte sich erst vor knapp dreißig Jahren, als Bundestag und Bundesrat im Februar 1992 das „Gesetz zur Entlastung der Familien und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze“ verabschiedeten. Das Gesetz entlastete die Betriebsvermögen über einen Trick: Diese wurden fortan nicht mehr zum jeweils aktuellen, sondern stattdessen zum historischen Wert versteuert. Mit dem „Gesetz zur Verbesserung der steuerlichen Bedingungen zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland im Europäischen Binnenmarkt“ kam dann ein gutes Jahr später noch ein Freibetrag in Höhe von 500 000 DM für Betriebsvermögen hinzu. Vier Jahre darauf, 1997, führte das Jahressteuergesetz dann weitere Vergünstigungen ein, so dass nach und nach die rechtliche Ausgangslage dafür geschaffen wurde, dass vererbte Betriebsvermögen in den Folgejahren kaum oder gar nicht mehr besteuert wurden.

Bewusste Verfassungsbrüche

Erst am 7. November 2006 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass das Erbschaftsteuergesetz in dieser Form gleichheits- und damit verfassungswidrig war. Und zwar vor allem aufgrund der vom jeweils aktuellen Wert abweichenden Bewertung der Betriebsvermögen.

Daraufhin reformierten Bundestag und Bundesrat zwei Jahre später, 2008, das Erbschaftsteuergesetz. Nun sollte Betriebsvermögen wieder nach dem aktuellen Wert bemessen werden, allerdings wurde der Freibetrag durch einen unbegrenzten „Verschonungsabschlag“ ersetzt. Dieser sorgte nun dafür, dass Betriebsvermögen komplett steuerfrei blieben, wenn die Summe der ausgezahlten Löhne in den folgenden sieben Jahren weitgehend konstant gehalten wurde.

Wie nicht anders zu erwarten war, entkräftete diese Reform keineswegs die verfassungsrechtlichen Einwände. Im September 2012 stellte der Bundesfinanzhof fest, dass die „Steuervergünstigungen nicht durch ausreichende Sach- und Gemeinwohlgründe gerechtfertigt sind und einen verfassungswidrigen Begünstigungsüberhang aufweisen“. Er berief sich dabei unter anderem auf den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium der Finanzen. Dieser kommt zu dem Schluss, dass es weder empirische Belege dafür gebe, dass die Erbschaftsteuer den Fortbestand von Unternehmen gefährdet, noch dafür, dass die Begünstigungen Arbeitsplätze sichern.[1] Darauf folgte weitere zwei Jahre nichts, erst am 17. Dezember 2014 schloss sich das Bundesverfassungsgericht dieser Argumentation des Bundesfinanzhofes an und erklärte die Ausnahmen für Betriebsvermögen für verfassungswidrig.

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Gerhard Schick

Ende 2016 reformierte die damalige große Koalition daraufhin ein weiteres Mal die Erbschaftsteuer und führte zwar eine Obergrenze von 90 Mio. Euro für steuerliche Begünstigungen ein, schuf aber zugleich mehrere Ausnahmen und Erleichterungen – darunter eine Ausnahme von dieser Obergrenze für Erben oder Beschenkte, die die Steuer nicht aus ihrem verfügbaren Vermögen bezahlen können.

Diese Privilegien für Superreiche sind so offensichtlich verfassungswidrig, dass man von bewussten Verletzungen unseres Grundgesetzes sprechen muss. Denn sie erlauben es den Reichen und Superreichen in diesem Land, immense Vermögen weiterzugeben: So erbten Minderjährige allein in den Jahren 2011 bis 2014 rund 37 Mrd. Euro. Ein Großteil davon – insgesamt 29,4 Mrd. Euro – erhielten dabei 90 Kinder im Alter von unter 14 Jahren. Dies entspricht im Schnitt 327 Mio. Euro pro Kind.[2] Eine groteske Summe, die unbedingt einer gerechten Erbschaftsteuer unterliegen sollte.

Diese Einschätzung unterstrich einmal mehr auch der Bundesfinanzhof, als er am 24. November 2017 die Regelungen bei der Erbschaftsteuer erneut für verfassungswidrig erklärte. Dieses Mal verwies er insbesondere auf eine Entscheidung der Finanzämter, den Besitz von Wohnimmobilien ab einem Bestand von 300 Wohnungen pauschal als Betriebsvermögen zu klassifizieren und damit so gut wie nicht zu besteuern und legte dieser Vorgehensweise enge Grenzen auf.

Quelle         :           Blätter-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben      —     Graffiti „Destroy Capitalism!“ auf einer Fabrikmauer

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Unten    —       Foto: Stephan Röhl

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Marina Weisband

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Dezember 2021

„Ich habe einen kaputten Akku“

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Interview von Manuela Heim

Marina Weisband hat eine komplizierte Krankheit mit einem komplizierten Namen: ME/CFS. Das chronische Erschöpfungssyndrom könnte wegen Corona bald noch viel mehr Menschen betreffen. Ein Gespräch über Energie in Löffeln und Vorträge im Liegen.

taz am wochenende: Frau Weisband, Anfang des Jahres haben Sie im Bundestag eine kraftvolle Rede zum Holocaust-Gedenktag gehalten. Es gab viel Applaus. Inzwischen wissen wir: Da waren Sie schon am chronischen Erschöpfungssyndrom ME/CFS erkrankt.

Marina Weisband: Diese Rede, das waren die aufregendsten zehn Minuten meines Lebens. Eine Holocaust-Überlebende hatte für mich auf Redezeit verzichtet. Das war also sehr wichtig und ich hatte mich sehr gut vorbereitet. Es ist für mich immer noch leicht, öffentlich aufzutreten, weil ich dann meine Energie fokussiere. Das Danach ist das Problem.

Die zehn Minuten hatten ihren Preis?

Am nächsten Tag bin ich nach Hause gefahren und lag eine Woche im Bett. Die zehn Minuten Rede haben mich also eine Woche gekostet. Das mache ich sonst nur noch für wichtige Talkshows oder den Bundespräsidenten.

ME/CFS bedeutet Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Ein komplizierter Name für eine komplizierte Krankheit. Wenn Sie es jemandem erklären müssen, was sagen Sie dann?

Wenn ich es Erwachsenen erkläre, sage ich, es fühlt sich an, als ob ich ständig eine schwere Grippe hätte – nur ohne Husten und Schnupfen. Da ist Watte im Kopf, die ganze Zeit nur liegen wollen, jedes Geräusch ist zu viel. Der Begriff Fatigue leitet in die Irre. Ich bin nicht müde. Ich fühle mich krank und erschöpft. An sehr guten Tagen versuche ich, einen Kilometer spazieren zu gehen. An schlechten komme ich nicht aus dem Bett. Meiner Tochter erkläre ich, dass mein Akku nie voll ist. Auch wenn ich nachts an der Steckdose war, also geschlafen habe. Ich kann nicht mehr voll laden, ich habe einen kaputten Akku.

Immer noch schwer greifbar.

Es gibt die Löffeltheorie, bei der Energie in Löffeln angegeben wird. Jeder Mensch hat, wenn er aufsteht, ein Set von Löffeln. Sie haben vielleicht dreißig und ich heute nur sechs. Zähneputzen kostet mich einen Löffel, Duschen kostet mich zwei Löffel, Anziehen kostet mich einen Löffel. Das sind schon vier Löffel und ich brauche noch einen, um abends ins Bett zu kommen. Also habe ich für den ganzen Tag noch einen Löffel. Leute, die ihre Energie wie ich in Löffeln verwalten müssen, nennen sich Spoonies.

Es gibt geschätzte 250.000 ME/CFS-Betroffene in Deutschland, weltweit sollen es rund 17 Millionen sein …

Ja, und durch die Coronapandemie könnten es noch viel, viel mehr werden. ME/CFS wird meist durch eine Viruserkrankung ausgelöst, bei mir kommt das Epstein-Barr-Virus, also Pfeiffer’sches Drüsenfieber, infrage. Aber man weiß einfach so wenig. Das ist das, was einen fertig macht.

Deshalb ist ME/CFS auch so schwer zu diagnostizieren. Wie war das bei Ihnen?

Im Sommer letzten Jahres hatte ich mehrere Zusammenbrüche, nach denen ich keinen einzigen Muskel meines Körpers mehr bewegen konnte. Ich merkte, dass ich nicht mehr regeneriere. Aber obwohl ich davor von ME/CFS schon gehört hatte, habe ich das nicht gleich miteinander verbunden. Ich war noch nie gesund in meinem Leben und bin erst Monate später zu meinem Arzt, weil das was Ernsteres war als die üblichen schlechten Phasen. Wir begannen andere mögliche Ursachen abzuklären. Ich hatte unendliches Glück, dass mein Arzt Fortbildungen zu chronischer Fatigue besucht hatte und die typischen Symptome erkannte.

Viele Pa­ti­en­t:in­nen wandern Jahre durchs Gesundheitssystem.

Furchtbar. Sie werden sehen, dass ich an vielen Stellen eine privilegierte Patientin bin. So wusste ich jedenfalls relativ schnell, dass Sport jetzt gar nicht das Richtige für mich ist. Das ist sehr wichtig, denn das ist ja die Geschichte der meisten ME/CFS-Erkrankten. Bei fast allen Krankheiten mit unklaren Symptomen wird viel Bewegung empfohlen. Aber ME/CFS wird dadurch immer schlimmer. Und so richten sich die Betroffenen zugrunde bis zur Bettlägerigkeit. Durch diese Hölle bin ich nicht gegangen und deshalb bin ich auch auf dem Niveau seit Sommer 2020 relativ unverändert geblieben.

Sie sagen, Sie waren nie ganz gesund.

Ich war als kleines Kind in der Ukraine lange Zeit bettlägerig. Die Ärzte haben meiner Mutter gesagt, dass ich sterbe, wenn sie nicht mit mir das Land verlässt. „Sie ist halt ein Tschernobylkind“, haben sie gesagt, wir wohnten damals nur 100 Kilometer entfernt. Eine genauere Diagnose gab es nicht. Erst in Deutschland ging es mir nach und nach besser.

Das erinnert mich an die Gesundheitskurve, die Sie mal für die Zeit gezeichnet haben. Mit diesem tiefen Tal in der Kindheit, dann einem nicht ganz so tiefen Tal in der Pubertät …

Da bin ich immer umgekippt. Ach, da liegt sie wieder, die Marina …

Dann kam ein Tief am Ende Ihrer Zeit als Geschäftsführerin der Piratenpartei und eins im Wochenbett und schließlich 2019 ein Plateau auf hohem Niveau. „Jetzt habe ich genug Gesundheit“, haben Sie damals gesagt. Was ist denn „genug Gesundheit“?

Ich konnte im Wesentlichen alles machen. Ich wurde bei Anstrengung und Kälte manchmal ein bisschen schwach. Aber das war okay. Ich konnte mein Leben leben, ich konnte mich selbst verwirklichen. Das hat mir mein Körper erlaubt. Jetzt tut er es nicht mehr.

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Sie waren nie ganz gesund und dann kommt eine neue Erkrankung dazu, die auch kaum bekannt ist und schlecht diagnostizierbar – wie lässt sich das trennen?

Ich kann nicht ausschließen, dass ich ME/CFS bekommen habe, weil ich als Tschernobylkind ohnehin kein gesundes Immunsystem habe. Was aber wichtig zu betonen ist: Die meisten ME/CFS-Erkrankten waren vorher ganz fitte Menschen, teils Athleten.

ME/CFS-Betroffene sehen in der Regel gesund aus.

Meine Umwelt ist für Gesunde gemacht und dadurch, dass ich gesund aussehe, erwartet meine Umwelt auch von mir, dass ich keine Extraansprüche stelle. Diese Erwartung internalisiere ich und schäme mich. Wenn ich bei einem Stehempfang des Bundespräsidenten auf dem einzigen Stuhl sitze, dann schäme ich mich. Wenn ich für manche Wege einen Rollstuhl brauche, ist das unangenehm, weil ich doch eigentlich laufen kann. Und ich schäme mich zu sehr, in einem öffentlichen Verkehrsmittel nach einem Sitzplatz zu fragen. Dabei kann ich aber nicht lange stehen.

Was hilft gegen die Scham?

Darüber reden. Deshalb habe ich meine Erkrankung jetzt öffentlich gemacht. So betreibe ich Erwartungsmanagement bei meiner Umwelt. Wenn ich offen meine Bedürfnisse kommuniziere, kommen mir Leute entgegen. Das funktioniert tatsächlich. Aber auch das ist ein Privileg, das ich als Person des öffentlichen Lebens habe.

Auch über Ihr Jüdischsein haben Sie vor einiger Zeit angefangen öffentlich zu reden. „Sich normal machen“ haben Sie das genannt. Menschen mit chronischen oder psychischen Beeinträchtigungen haben oft nicht die Kraft dafür.

Ich habe auch nicht wirklich die Kraft, all diese Interviews zu ME/CFS zu geben, die ich im Moment gebe. Ich schäme mich auch, wenn in den Zeitungen groß steht, hier ist Marina mit ihrer Krankheit. Aber ich bin recht bekannt und deshalb werde ich nach Interviews gefragt. Ich muss meine Privilegien nutzen, um die Marginalisierungen, die ich habe, zu verbalisieren und zu normalisieren für alle, die es nicht können.

Sie haben erst den Nichtnerds das Internet erklärt, dann Jugendlichen Demokratie, den nichtjüdischen Menschen das Jüdischsein, der Polizei den Antisemitismus und jetzt den Nichtkranken diese chronische Krankheit?

(Lacht) Ich bin in meinem Wesen Pädagogin und erkläre gern Dinge.

Wie arrangiert man sich mit einer Krankheit, bei der man sich nicht anstrengen darf?

Was die Fatigue des ME/CFS so besonders macht, ist, dass erst rund einen Tag nach der Anstrengung die Erschöpfung kommt. Im Grunde darf ich also niemals an die Grenze gehen, nie mehr als meine Löffel aufbrauchen. Die Grenze ist aber jeden Tag eine andere. Sobald ich mich bemühen muss, müsste ich aufhören. Das passiert in der Praxis natürlich ganz oft nicht, gerade bei Meetings, Schulungen, öffentlichen Auftritten. Dann gehe ich über die Grenze und kann danach wieder ein paar Tage gar nichts. Wenn es wieder besser wird, schreie ich juchhu und überanstrenge mich wieder. Aus diesem Kreislauf rauszukommen, ist eine Kunst. Vor allem, wenn man noch etwas vorhat in diesem Leben.

Eigentlich wollen Sie die Welt aus den Angeln heben.

Es ist Trauerarbeit, damit umzugehen, dass ich manche Dinge jetzt nicht kann. Aber ich will mich auch nicht zurückziehen, mir wurden so viele Türen geöffnet. Eine meiner größten Ängste im Leben ist es, Potenziale zu verschenken.

Haben Sie Sorge, nur noch als die Kranke wahrgenommen zu werden?

Es gibt natürlich auch das Bedürfnis, das zu verstecken. Aber ich kann es nicht mehr. Ich spiele ja leidenschaftlich gern Live-Rollenspiele, bei denen man sich über das ganze Wochenende eine Rolle selbst gestaltet. Ich habe in der Zeit seit meiner Erkrankung zwei Conventions mitgemacht und ich habe dabei gemerkt, dass ich keinen gesunden Charakter mehr spielen kann. Ich weiß, es klingt seltsam, aber das hat mir im Rollenspiel mehr ausgemacht als in der realen Welt. Ich kann nicht mal mehr so tun, nicht mal für ein Wochenende.

Keine Krankheit sei so dermaßen düster, hat mal der Angehörige einer Betroffenen gesagt.

Quelle      :         TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben     — Marina Weisband

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Unten      —   Berlin im Juni 2008.

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Jugend als Stimmungskiller 

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Dezember 2021

Grüner Parteinachwuchs zur Ampel

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Von Jan Feddersen

Die Freude von Jusos und Grüner Jugend über die Ampelkoalition ist begrenzt. Ihren Frust laden sie beim Koalitionspartner FDP ab.

Nun mag die politische Schlechtgelauntheit der Jusos und der Grünen Jugend, die auf ihren Versammlungen zum Regierungsvertrag der künftigen Ampelkoalition spürbar wurde, sehr viel mit Corona zu tun haben. Es ist ja auch verstörend: Wesentliche Teile der bundesdeutschen Einwohnerschaft berufen sich auf ihre persönlichen Freiheiten, um sich einer Impfung zu verweigern und damit tatsächlich alle in Gefahr zu bringen.

Die Jusos und die Grüne Jugend jedenfalls verströmten mit ihren Beratungen ein Gefühl, als stünde mit der SPD/Grünen/FDP-Koalition ein Bündnis auf den Fußmatten der Ministerien und des Kanzleramts, das kaum der sich erfreuenden Rede wert sein kann. „Von Ampel-Euphorie keine Spur“, so fasste die Tagesschau ihren Bericht von den Nachwuchsökos zusammen. Zu den zeitgleich tagenden Jusos heißt es in der Überschrift nur lapidar „Die Union kritisieren, nicht die Ampel“.

Es ist deprimierend, aber wahr: Die Nachwuchseliten von zwei der drei künftigen Regierungsparteien tun so, als sei alles wie immer – ein Land unter der Glocke der Union. Dass es die FDP ist, an der sich beide Nachwuchsorganisation, wie bei einem schlechten Voodoozauber, abarbeiteten, ist dafür nur ein platzhalterischer Umstand: Jusos und Grüne Jugend vermögen sich nicht grundsätzlich, dass dieser 16 lange Jahre dauernde gewisse Spuk der von der Union dominierten Regierungen ein Ende hat.

Die FDP ist die Puppe, in die man spitze Nadeln steckte – die Bösen, die Lindner-Jünger*innen, die Antisozialen. Bis in heutige Tage gelten in linken und in den sozialen Netzwerken beflügelten Bubbles die Liberalen als „Rechte“. Ohne Sinn und Verstand werden Buzzwords ins Orbit gemeinsam verblödender Universen der Selbstbestätigung gesandt.

Dass diese Atmosphäre auf den zentralen Versammlungen des Regierungsnachwuchses weder empört noch achtsam zurückgewiesen wurde, muss zu denken geben. Woran das liegt, weshalb also die künftigen Mover und Maker kaum ein gutes Haar an den Erwachsenen in ihren Parteien lassen, hat mit einer sehr deutschen Tradition zu tun: mit dem, was hier „Konsequentismus“ genannt sei, quasi die Entsprechung in der (linken) Szene zum Impfverweigerermilieu in puncto Corona.

Die FDP muss den Kopf hinhalten

Pocht man hier auf die persönliche Freiheit zulasten aller anderen, kommentiert man im Politischen mit: „Viel zu wenig“. Eigentlich ist die Spezialistin in dieser Disziplin in jüngerer Vergangenheit stets die Linkspartei gewesen – nichts war ihr je hinreichend. Immer folgte ein Appell, „endlich“ und „konsequent“ durchzusetzen, was demoskopische Umfragen angeblich belegten. Die gültige Währung war und ist indes das Wahlergebnis, nicht irgendeine Umfrage:

Kevin Kühnert (Vorsitzender Jusos) - 49509011673.jpg

Und dem Wahlergebnis nach gibt es eine Koalition, in der SPD und Grüne keine Mehrheit haben, von ihr gar weit entfernt sind. Insofern war das Backenaufgeblase der Jusos und der Grünen Jugend mehr als eine Spur von den politischen Fakten entfernt. Sei’s drum: Wählende erwarten von der Politik konkrete Besserungen ihrer Lebensbedingungen. Und für eine Mehrheit der proletarischen Schichten ist zwar kein Manna vom Himmel zu erwarten, aber immerhin 12 Euro Mindestlohn.

Mehr als zehn Millionen Beschäftigte werden von diesem Gesetz profitieren. Das wissen sie und freuen sich darauf. Rent­ne­r*in­nen haben das Signal bekommen, dass ihre Altersgelder nicht gekürzt werden, und wer möchte – das übrigens ist der FDP zu verdanken –, kann länger arbeiten. Wer das nicht kann, kommt zu besseren Bedingungen in die Gunst einer Erwerbsminderungsrente.

Der Paragraf 219a-StGB wird abgeschafft, eine grauslige Bestimmung, die für die Union identitär war. Das Elternrecht lesbischer Paare wird diskriminierungsfrei. Und, last but not least: Hunderttausende von neuen deutschen Bürger*innen, die in unserem Land als Flüchtlinge im rechtlich prekärsten Zustand und dauernder Angst vor Abschiebung leben, bekommen einfache Wege zum deutschen Pass aufgezeigt.

Quelle       :          TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben        —       Neue Version von Ampel.JPG

Author Original:Stefan-XpVector: Jfd34       /     Source    :

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Attribution: Stefan-Xp

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Unten      —       Kundgebung „Kein Hanschlag mit Faschist*innen“: Kevin Kühnert (Vorsitzender der Jusos) spricht bei der Kundgebung gegen das Zusammenarbeiten von FDP, CDU und AfD bie der Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen vor dem Bundkanzleramt, Berlin, 08.02.20

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„Für Werte werben“

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Dezember 2021

Designierte Außenministerin Baerbock

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Achtung – das ist nicht das Kölner-Dreigestirn

Interview von Jasmin Kalarickal, Felix Lee und Tobias Schulze

Die künftige Außenministerin Annalena Baerbock über grüne Personalquerelen, schwierige Koalitionskompromisse und den außenpolitischen Klimawandel.

taz: Frau Baerbock, die Ampelkoalition war in den letzten Wochen sehr um Harmonie bemüht. Nun gab es ausgerechnet bei den Grünen parteiinternes Gerangel bei der Vergabe der Ministerposten. Warum war das so schwierig?

Annalena Baerbock: Personalentscheidungen sind immer schwierig, wenn man viele kluge Köpfe hat, aber nur eine begrenzte Anzahl von Ressorts. Das sind mit die schwersten Momente in einer Partei. Wir haben ein starkes, kompetentes Team für die Regierung aufgestellt, das viel mitbringt: verschiedene Generationen, Ost und West, Männer und Frauen und Menschen mit Migrationsbiografie.

Im Endeffekt bekommt Cem Özdemir, der außenpolitisch versiert ist, das Landwirtschaftsministerium. Und Anton Hofreiter, der dafür besser qualifiziert gewesen wäre, geht leer aus. Heißt das: Quote schlägt Kompetenz?

Ganz und gar nicht. Wir setzen auf alle klugen Köpfe. Dazu wird auch Toni Hofreiter gehören. Damit diese Koalition gut funktioniert, braucht es auch starke Leute im Parlament. Gemeinsam entfalten wir am meisten Stärke. Was die Landwirtschaftspolitik betrifft: Cem Özdemir hat sich immer die Versöhnung von Ökologie und Ökonomie auf die Fahnen geschrieben, dafür ist Landwirtschaft ein Schlüsselressort.

Die Fundis fühlen sich jetzt übergangen – droht die Rückkehr des Flügelstreits?

Nein. Es hat geruckelt, solche Momente gibt es immer wieder im Leben – auch im Parteileben. Aus den vergangenen Jahren wissen wir zugleich, wie stark wir sind, wenn wir geschlossen als Partei agieren. Das werden wir jetzt in die Regierung tragen. Und allein schon angesichts der Pandemie ist wichtig, dass diese jetzt sehr zügig gebildet wird und ihre Arbeit aufnimmt.

Gibt es schon eine Idee, welchen Posten Anton Hofreiter übernehmen kann?

Er wird im Bundestag eine starke Rolle spielen.

Am 6. Dezember endet die Urabstimmung über den Koalitionsvertrag. Wie zuversichtlich sind Sie?

Voll und ganz. In zentralen Bereichen wie Klimaschutz, Familien- und Gesellschaftspolitik, europäische Außenpolitik oder Digitalisierung steckt ein wirklicher Paradigmenwechsel. Auf den 177 Seiten gibt es auch viele Punkte, die auf den ersten Blick klein erscheinen, die für manche aber das Leben verändern.

Zum Beispiel wenn ein Kind in eine Familie mit zwei Müttern hineingeboren wird: Zukünftig werden beide Mütter endlich auch automatisch als Mütter anerkannt. Familien, die hier seit Jahren leben, bislang aber nur geduldet sind, bekommen endlich die Sicherheit, dass ihre Kinder, die hier geboren sind und zur Schule gehen, auch in Zukunft bleiben können. Oder die Abschaffung des Paragrafen 219 a – wie viele Jahre haben wir Frauen dafür gekämpft. Damit kommt das Land auf die Höhe der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Es bleiben dennoch strittige Punkte. Hartz IV heißt bald Bürgergeld – aber zur Höhe der Regelsätze steht nichts im Koalitionsvertrag.

Stimmt, aber auch bei der sozialen Grundsicherung ändert sich einiges. Wir stellen die Würde der Menschen in den Mittelpunkt und stärken die individuelle Unterstützung. Statt vor allem zu sanktionieren, wird aktiviert. Menschen, die eine Weiterbildung machen oder an anderen Fördermaßnahmen teilnehmen, bekommen zusätzlich einen Bonus in Höhe von bis zu 150 Euro im Monat.

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An Sanktionen hält die Ampel trotzdem fest. Gab es da große Auseinandersetzungen in den Koalitionsverhandlungen?

Bei der Frage, wie wir das Hartz-IV-System weiterentwickeln, gab es natürlich unterschiedliche Auffassungen. Das hat man ja bereits in den Wahlprogrammen gesehen. Und bei drei Parteien am Tisch konnte sich niemand bei allem zu hundert Prozent durchsetzen. Wir wollten trotzdem nicht nur kleinste gemeinsame Kompromisse machen, sondern einen neuen Weg wagen.

Das tun wir jetzt mit dem Bürgergeld und den Weiterbildungsmöglichkeiten. Und zugleich gibt es ein Sanktionsmoratorium: Bis zu ihrer gesetzlichen Neuregelung setzen wir die Sanktionen unter das Existenzminimum aus. Das heißt, wir werden Sanktionen einschränken und so den Kulturwandel in den Jobcentern verstärken. Man hat ja schon in der Coronapandemie gesehen, dass es sinnvoll ist, Sanktionen zurückzunehmen. Wichtig ist mir auch, dass in Zukunft die Kosten der Unterkunft von Sanktionen ausgenommen werden und wir die verschärften Sanktionen für junge Menschen unter 25 Jahre abschaffen.

Mit der Kindergrundsicherung sollen bisherige Leistungen gebündelt werden. Wie hoch wird sie ausfallen und bis wann kommt sie?

Die Kindergrundsicherung ist für mich eines der zentralen Projekte der nächsten Regierung. Kinder werden nicht mehr wie kleine Erwachsene behandelt und Familien und Kinder nicht mehr wie Bittsteller an den Staat. Stattdessen hat der Staat nun die Verantwortung, alles dafür zu tun, die Jüngsten aus der Armut herauszuholen. Zugleich unterstützen wir durch die Bündelung und automatische Auszahlung bisheriger Familienleistungen.

Gerade Alleinerziehende, die arbeiten und trotzdem mit ihren Kindern in Armut leben, auch weil sie oft gar keine Zeit und Kraft haben, ständig zig Anträge auszufüllen. Die automatische Auszahlung ist eine kleine Kulturrevolution, die wir da im Sozialversicherungssystem angehen. Sie wird daher sicher ein bisschen brauchen. Für den Übergang werden wir einen Sofortzuschlag für Kinder in Armut auszahlen.

Und die Höhe der Kindergrundsicherung?

Es wird für jedes Kind einen Garantiebetrag geben, der über dem derzeitigen Kindergeld liegen wird. Für die, die mehr Unterstützung brauchen, weil das Einkommen der Eltern nicht reicht, werden wir das Existenzminimum neu berechnen, damit Kinder und Jugendliche entsprechend ihrem Alter am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Auf der Grundlage dieser Neuberechnung wird dann auch die Höhe der Kindergrundsicherung stehen. Außerdem können Jugendliche, deren Eltern im Harz-IV-Bezug sind, künftig endlich ihr im Ferienjob verdientes Geld komplett behalten.

Kommen wir zur Außenpolitik. Im Koalitionsvertrag kündigen Sie eine „Klima-Außenpolitik“ an. Was genau verstehen Sie darunter?

Ich verstehe Außenpolitik als Weltinnenpolitik: Krisen wirken über Grenzen hinweg. Sie können nur global und kooperativ bewältigt werden. Und die größte globale Krise ist die Klimakrise. Um als Weltgemeinschaft überhaupt noch auf den 1,5-Grad-Pfad kommen zu können, brauchen wir nicht nur massive Technologiesprünge, sondern auch einen Technologietransfer.

Es reicht also nicht mehr, darauf zu schauen, dass jedes Land seine eigenen Klimaziele angeht, sondern wir müssen endlich unsere Kräfte bündeln. Ja, wir brauchen die großen Klimakonferenzen als Rahmen, aber genauso brauchen wir mehr Länder, die zeigen, dass eine klimaneutrale Wirtschaft Wohlstand sichert und die anderen Ländern die Hand reichen. Dafür sehe ich die Industriestaaten in der Pflicht. Schließlich haben wir in den letzten 100 Jahren der Welt diese Klimakrise eingebrockt.

Was konkret wird Ihre Rolle als Außenministerin dabei sein?

Im nächsten Jahr übernimmt Deutschland die G7-Präsidentschaft. Ich möchte, dass sie zur Startrampe für Klimapartnerschaften und einen für alle Staaten offenen Klimaclub wird. So wie wir vor 20 Jahren mit dem EEG die Energiewende in die Welt exportiert haben, können wir jetzt wieder voranschreiten und zum Vorreiter und vor allem Partner für klimaneutrales Wirtschaften werden.

Bei den Klimapartnerschaften dürfte es auch um die Finanzierung gehen. Das Entwicklungs- und das Finanzministerium haben die Grünen aber nicht bekommen. Haben Sie denn FDP und SPD bei diesem Vorhaben mit an Bord?

Ja. Die Pariser Klimaziele sind die Grundlage unseres gemeinsamen Koalitionsvertrages und damit auch für alle Ressorts. Um sie zu erreichen, brauchen wir massive Investitionen in Klimainfrastruktur. National wie international. Klimainvestitionen sind zugleich die Chance zur Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit.

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Hinter Gitter und Tore – da werkeln Sie, als Thore.

Wie werden Sie denn als Außenministerin mit Ländern umgehen, die bei den Klimaverhandlungen eher blockieren?

Die Idee des Klimaclubs und auch der Klimapartnerschaften ist ja gerade, sich weniger mit den Blockierern zu beschäftigen, sondern sich stattdessen mit den Vorreitern zusammenzutun. Ein globaler CO2-Preis zum Beispiel ist eine schöne Idee, aber eben auch eine gute Ausrede. Denn bis alle 190 Staaten dazu bereit sind, ist es wohl zu spät. Statt abzuwarten, möchte ich daher dafür werben, dass sich die Länder zusammentun, die ihre Industrie klimaneutral umbauen. Gemeinsame Standards und Leitplanken verhindern zugleich mögliche Wettbewerbsnachteile für Industriestandorte.

Unsere über 220 deutschen Auslandsvertretungen können dafür wichtige Klimabotschaften sein und auch zur Intensivierung des Technologietransfers beitragen. Klimapolitik ist dabei nicht nur moderne Wirtschafts-, sondern auch Sicherheitspolitik. In den vergangenen Jahren haben wir erlebt, wie die Folgen des Klimawandels Konflikte um Ressourcen wie Land oder Wasser verschärft haben. Wir erleben auch, dass fossile Energieabhängigkeit und Energieimporte als außenpolitisches Druckmittel und damit auch zur Destabilisierung eingesetzt werden können. Das dürfen wir nicht vergessen. Nicht ohne Grund gibt es diesen massiven Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2.

Nord Stream 2 taucht im Koalitionsvertrag gar nicht auf.

Quelle       :           TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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KOLUMNE * ERNSTHAFT?

Erstellt von DL-Redaktion am 26. November 2021

Grüner Zoff um Ministerposten: Abstreifen von Vorsitzenden

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Von  Ulrike Winkelmann

Cem Özdemir wird Minister, Toni Hofreiter muss weichen. Viele Parteilinke werden das nur schwer verzeihen. Die Grünen Flügel schlagen wieder.

Es gibt in der Politik wenige Floskeln, die so geradezu provokant gelogen sind, wie die Behauptung: „Wir reden erst über die Inhalte, dann über Personal“. Die Grünen können das besonders weihevoll sagen.

Erstaunlicherweise haben die Grünen seit der Bundestagswahl aber offenbar wirklich nicht übers Personal geredet – jedenfalls nicht abschließend. Der außerordentliche Krach, den es am Donnerstag über die grünen Ministersessel in der künftigen Ampel-Regierung gab, lässt nun mehrere Deutungen zu.

Möglicherweise wollten sich die Grünen im ritterlichen Kampf um die Inhalte des Koalitionsvertrags ja tatsächlich nicht mit persönlichen Ressortvorlieben einiger weniger belasten. Ein klein wenig wahrscheinlicher ist allerdings, dass der Stunt zugunsten von Cem Özdemir durchaus geplant war. Ziemlich wahrscheinlich ist, dass zwar pausenlos über Personen gesprochen wurde, nur eben nicht offen, nicht mit allen – und ganz sicher nicht ehrlich mit den beiden Fraktionsvorsitzenden.

Toni Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt müssen weichen, damit Cem Özdemir ins Kabinett einrücken kann. Das heißt nicht, dass Özdemir so viel wiegt wie zwei Grüne. Mit der Bitte um Entschuldigung für verkürzte Zuschreibungen: Die Logik dahinter lautet, dass ein Mann vom rechten Flügel nicht einen Mann vom linken Flügel ersetzen kann, ohne dass eine rechte Frau durch eine linke Frau ersetzt wird. Weil also Özdemir statt Hofreiter Landwirtschaftsminister werden soll, muss Anne Spiegel, Vize-Ministerpräsientin in Mainz, statt Göring-Eckardt Familienministerin werden.

Ulrike Winkelmann - Zukunft des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks (34715387826).jpg

Konflikt mit Folgen

Und wenn Sie jetzt meinen: Gut, die Grünen haben es geschafft, einen Deutschtürken in die ansonsten rein kartoffeldeutsche Regierung zu schicken – aber wo bleibt jetzt die Ostfrau? Nun, deshalb bekommt Steffi Lemke, die frühere Bundesgeschäftsführerin aus Sachsen-Anhalt, das Umweltministerium.

Lemke war 2013 nach der mies gelaufenen Bundestagswahl zusammen mit Jürgen Trittin – „die Parteilinken sind an allem schuld!“ – vom grünen Hof gejagt worden. Um nun gleich beide Fraktionsvorsitzende abzustreifen, scheint sie aber wohl geeignet genug.

Quelle         :            TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Katrin Göring-Eckardt et Cem Özdemir

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Einigungen der Ampel

Erstellt von DL-Redaktion am 25. November 2021

Das steht im Koalitionsvertrag

Ampel Sondierungen und FridaysForFuture protestieren 2021-10-15 169.jpg

Von Anna Lehmann, Jörg Wimalasena, Ralf Pauli, Konrad Litschko. Patricia Hecht, Jost Maurin, Pascal Beucker, Anja Krüger, Bernhard Pötter, Ulrike Herrmann, Tanja Tricarico, Malte Kreutzfeldt, Tobias Schulze, Jasmin Kalarickal, Barbara Dribbusch.

Was sieht der Koalitionsvertrag der Ampel fürs Klima vor? Was für Familien? Die Einschätzung unser Fachredakteurinnen im Überblick.

Knapp zwei Monate nach der Bundestagswahl steht der Vertrag zur Bildung der ersten Ampel-Koalition auf Bundesebene. Die Spitzen von SPD, Grünen und FDP haben ihre Beschlüsse am Nachmittag in Berlin vorgestellt. Aber was steht zu den einzelnen Themen drin? Unsere Fach­re­dak­teu­r*in­nen geben den Überblick.

Gesundheit und Pflege

Am Grundsystem der Krankenhausfinanzierung wird sich nur wenig ändern – allerdings soll es künftig Vorhaltepauschalen geben. Verschiedene Krankenhausbereiche würden dann nicht mehr primär über die Versorgung pro Patient finanziert, sondern auch dafür bezahlt, bestimmte Kapazitäten bereitzustellen. So könnten etwa in Pandemien Kapazitäten für Covid-Patienten freigehalten werden, ohne dass Krankenhäusern Verluste entstehen. Etwaige Vorschläge sollen aber von einer Kommission unterbreitet werden. Ganz unmittelbar soll sich nur die Finanzierung von Pädiatrie, Notfallversorgung und Geburtshilfe verbessern.

Das in der Pandemie überbean­spruchte Pflegepersonal soll offenbar weitere Zahlungen ­er­halten, eine Milliar­de Euro stehen dafür bereit. Der Pflegebonus soll bis zu 3.000 (bisher 1.500) Euro steuerfrei sein.

Um das alte Problem mit der Überlastung von Notaufnahmen zu lösen, sollen Kassenärzte und Krankenhäuser künftig in Integrierten Notfallzentren zusammenarbeiten. Die Idee: Patienten, die weniger akut gefährdet sind, können außerhalb der teuren Notaufnahme bedarfsgerecht behandelt werden. Zudem wollen SPD, FDP und Grüne die Digitalisierung des Gesundheitssystems weiter vorantreiben. Dazu gehört die beschleunigte Einführung der elektronischen Patientenakte und des E-Rezepts.

Vor allem der grüne Ex-Parlamentarier Hans-Christian Ströbele („Gebt das Hanf frei“) darf sich freuen: Die Ampel führt die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene „zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften“ ein. Grüne und FDP hatten sich dafür stark gemacht. Insgesamt zeigt die Koalition sich zögerlich. Zwar will man die bedarfsgerechte Finanzierung des Krankenhaussystems voranbringen, allerdings eher durch Feinjustierung als eine grundlegende Neuordnung. Jörg Wimalasena

Fortschrittsfaktor: 4 von 10 👎

Klima

Für die Grünen war der Auftrag klar: Regieren nur mit dem 1,5-Grad-Ziel im Blick. Folgerichtig heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir werden national, in Europa und international unsere Klima-, Energie- und Wirtschaftspolitik auf den 1,5-Grad-Pfad ausrichten.“ Ob die Maßnahmen dazu ausreichen, ist aber noch unklar; viele ExpertInnen brauchen für eine seriöse Einschätzung dieser Frage ein paar Tage. Aber wenn man die Vereinbarung an dem misst, was Thinktanks und grüne Lobbys fordern, zeigt sich: Sie schreibt ehrgeizige Ziele fest, bleibt allerdings in manchen Feldern unscharf.

Vor allem beim Ausbau der Erneuerbaren herrscht großer Ehrgeiz: 80 Prozent des Strombedarfs soll bis 2030 aus Ökoquellen kommen, nicht nur 65 Prozent wie bislang geplant. Dabei rechnet die Ampel mit 20 bis 30 Prozent mehr Stromverbrauch als heute. Um das zu erreichen, soll der Bau von Erneuerbaren schneller und unbürokratischer werden und nun als „öffentliches Interesse definiert werden“.

Der Kohleausstieg und die Unterstützung der betroffenen Regionen sollen schon bis 2030 gelingen. Dabei bleibt es bei der umstrittenen Ankündigung, dass dies „idealerweise“ gelingen soll; und zwar – konkreter als im Sondierungspapier – mit einem Mindestpreis oder anderen Maßnahmen, die verhindern, dass der CO2-Preis im EU-Emissionshandel unter 60 Euro fällt.

Zum deutschen CO2-Preis auf Heizöl und -gas sowie Benzin und Diesel findet sich – wohl aus Sorge vor einer neuen „Benzinwut“-Debatte – dagegen nichts. Hier bleibt es bis 2025 bei den Erhöhungen, die bereits die Groko beschlossen hatte. Die EEG-Umlage soll verschwinden und Menschen so von hohen Energiepreisen entlasten. Die Wasserstoffwirtschaft soll überall vorangetrieben werden.

All diese Punkte wird wohl Robert Habeck als neuer Minister für Wirtschaft und Energie selbst vorantreiben können. Auch bei der Landwirtschaft, die fürs Klima ebenfalls wichtig ist, werden die Grünen vieles selbst entscheiden können. Und das ebenfalls grün geführte Außenministerium soll künftig eine „Klimaaußenpolitik“ machen und „Klimagerechtigkeit“ in den Vordergrund stellen. Der Einfluss der Grünen auf andere Ressorts ist dagegen geringer als gehofft: Klimaschutz wird zwar als „Querschnittsaufgabe“ definiert und alle Sektoren haben weiterhin genaue Einsparziele. Aber statt des geforderten Vetorechts des Klimaministeriums sieht der Koalitionsvertrag nur einen „Klimacheck für alle Gesetze“ vor, den jedes Ressort selbst macht.

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Doch auch für Ministerien, die an die anderen Parteien gehen, werden ehrgeizige Vorgaben gemacht: Bis 2030 soll auch beim Heizen 50 Prozent erneuerbare Energie genutzt werden, Solaranlagen sollen auf neuen Gewerbebauten zur Pflicht und bei Privathäusern zur Regel werden. Im Verkehrsbereich werden mit 15 Millionen E-Autos bis 2030 mehr als in den ambitionierten Studien etwa der „Agora“ gefordert. „Deutlich vor 2035“ sollen keine neuen Verbrennungsmotoren mehr zugelassen werden. Beim Subventionsabbau traut sich die Ampel dagegen bisher nur an die Lkw-Steuer ran; das Dieselprivileg bleibt zunächst erhalten.

Durchgesetzt haben sich viele Ideen der Grünen – auch wenn man die roten Linien der anderen deutlich sieht. Bernhard Pötter/Malte Kreutzfeldt

Fortschrittsfaktor: 6,5 von 10 👍

Frauen und Familie

Es ist durchaus ein Aufbruch: Das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und deren Schutz vor Gewalt wird gestärkt, das Familienrecht entstaubt, das Transsexuellengesetz abgeschafft. Der Bereich trägt die Handschrift der Grünen, die SPD hat wohl den Rücken gestärkt – und die FDP sich zumindest in den meisten Bereichen nicht konsequent quergestellt. Einig war man sich wohl vor allem gesellschaftspolitisch, konkrete Zahlen werden nicht genannt.

„Familie ist vielfältig und überall dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen“, heißt es im Vertrag: Soziale Eltern sollen das „kleine Sorgerecht“ bekommen können, lesbische Mütter bei Geburt ihres Kindes automatisch die Mütter sein.

„Die Gleichstellung von Frauen und Männern muss in diesem Jahrzehnt erreicht werden.“ Dazu soll unter anderem die ressortübergreifende Gleichstellungsstrategie weiter entwickelt und künftige Gesetze einem „Gleichstellungscheck“ unterzogen werden. Die Istanbulkonvention gegen Gewalt gegen Frauen soll – endlich – „vorbehaltlos und wirksam“ umgesetzt werden, die Finanzierung von Frauenhäusern einen bundeseinheitlichen Rahmen bekommen.

Der Paragraf 219a wird wie erwartet abgeschafft. Auf straffreien Schwangerschaftsabbruch, wie bei Grünen und SPD vereinbart, konnte man sich nicht einigen. Er scheint innerhalb der Verhandlungen das Gegenstück zur Liberalisierung von Eizellspende und altruistischer Leihmutterschaft gewesen zu sein, die wohl die FDP gepusht hat. Eine Kommission soll prüfen, welche Möglichkeiten es bei Abbrüchen wie auch in den reproduktionsmedizinischen Bereichen gibt. Immerhin: Die Ko­ali­tio­nä­r:in­nen erkennen Abbrüche als Grundversorgung an, Ärz­t:in­nen sollen sie in der Ausbildung üben.

Durchgesetzt hat sich die FDP beim Wechselmodell für getrennt lebende Eltern, was für Kritik bei Mutterinitiativen sorgen wird. Väter sollen in bestimmten Fällen durch einseitige Erklärung das gemeinsame Sorgerecht bekommen können. Im Fall eines Widerspruchs muss das Familiengericht ran. Immerhin: Häusliche Gewalt muss im Umgangsverfahren berücksichtigt werden. Patricia Hecht

Fortschrittsfaktor: 8 von 10 👍

Migration und Integration

Im Vergleich zur Groko kündigt die Ampel eine liberalere Migrations- und Integrationspolitik an. So wollen SPD, Grüne und FDP mehr legale Fluchtwege schaffen und die Integration von Mi­gran­t:in­nen in Deutschland erleichtern. Gleichzeitig will die künftige Bundesregierung die „irreguläre Migration“ reduzieren und Straftäter und Gefährder „konsequenter“ abschieben. Minderjährige sollen aber grundsätzlich nicht mehr in Abschiebehaft genommen werden.

Konkret möchte die Ampel mehr Schutzsuchende über Resettlement- und humanitäre Programme aufnehmen. Sollte eine Reform hin zu einem faireren EU-Asylsystem nicht klappen, will die Ampel mit einer Koalition der Willigen mehr Verantwortung unternehmen. Auch sollen Schutzsuchende in Deutschland leichter ihre Verwandten nachholen können. Zur Erinnerung: Die Groko hatte den Familiennachzug bei subsidiär Schutzberechtigten erst ausgesetzt und dann auf 12.000 Menschen im Jahr begrenzt.

SPD, Grüne und FDP garantieren, die Liste der „sicheren Herkunftsländer“ nicht auszuweiten und von den „Anker-Zentren“ abzurücken. Um das Sterben auf dem Mittelmeer zu beenden, will die Koalition die Seenotrettung auf dem Mittelmeer unterstützen. Übernehmen soll dies die EU-Agentur Frontex. Die Ampel will auch dafür eintreten, dass die zivile Seenotrettung nicht mehr behindert wird.

Zudem möchte die Ampel bessere Bleibeperspektiven schaffen. So sollen künftig „alle Menschen, die nach Deutschland kommen“, Anspruch auf einen Integrationskurs erhalten. Arbeitsverbote und Kettenduldungen sollen wegfallen, geduldete Azubis eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Schutzsuchende sollen künftig Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen. Dieser „Spurwechsel“ scheiterte bislang an der Union. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll um ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild ergänzt werden, auch Nichtakademiker sollen künftig per „Blue Card“ einreisen dürfen. Neu wäre auch die doppelte Staatsbürgerschaft: Deutsche mit Migrationsgeschichte dürfen demnach künftig ihren zweiten Pass behalten. Auch wollen SPD, Grüne und FDP die Einbürgerung nach fünf Jahren ermöglichen. Ralf Pauli

Fortschrittsfaktor: 8 von 10 👍

Europa und Außenpolitik

Die meisten Aussagen in diesem Kapitel bleiben eine Auslegungssache. Eine eindeutige Aussage gibt es allerdings zu Kampfdrohnen: Die Bundeswehr darf ihre unbemannten Flugzeuge bewaffnen. Grüne und SPD, bisher kritisch eingestellt, hatten sich dafür in den letzten Monaten geöffnet. Die Ankündigung im Koalitionsvertrag kommt daher nicht überraschend.

Ob der Verteidigungshaushalt weiter steigen wird, bleibt dagegen offen. Dass 2-Prozent-Ziel der Nato wird im Koalitionsvertrag zwar nicht explizit erwähnt. Die Ampel will aber „langfristig“ 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Entwicklung, Diplomatie und die „in der Nato eingegangenen Verpflichtungen“ stecken.

Unklar bleibt auch die Zukunft der in Deutschland stationierten US-Atomwaffen. So will die neue Regierung zwar einen Beobachterstatus beim internationalen Atomwaffenverbotsvertrag einnehmen. Ob die Bundeswehr weiterhin bereitstehen soll, um im Ernstfall in Zusammenarbeit mit den US-Amerikanern Atombomben einzusetzen, ist aber offen.

Ähnlich beim Thema Waffenexport: Die Ampel will ein Rüstungsexportgesetz einführen. Damit könnten Regeln verbindlicher werden. Ausnahmen sollen aber möglich bleiben. Welche das sind? Man weiß es nicht.

In der Praxis muss sich zudem noch zeigen, wie die neue Koalition gegenüber autoritären Regierungen auftritt. Laut Koalitionsvertrag will sie ihre Außenpolitik auf „Freiheit, Demokratie und Menschenrechten“ aufbauen. Innerhalb der Europäischen Union will sie sich dafür einsetzen, dass es strenger geahndet wird, wenn Mitgliedsländer gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstoßen. In Bezug auf Problemstaaten außerhalb der EU wie Russland, China und die Türkei dominiert das für Koalitionsverträge typische Sowohl-als-auch: Uns sind gute Beziehungen wichtig, wir sprechen aber auch Probleme an. Dabei wird der zweite Teil diesmal vielleicht ein bisschen stärker betont wie zum Beispiel im Absatz zu China, in dem Xinjiang, Taiwan und Hongkong explizit erwähnt werden. Tobias Schulze

Fortschrittsfaktor: 5 von 10 👎

Innere Sicherheit

Das Innenministerium geht an die SPD, sein Zuschnitt wird gestutzt: Bauen wandert ab, Heimat bleibt bestehen. Die Ampel gibt sich staatstragend. „Leben in Freiheit braucht Sicherheit“, heißt es. Die Sicherheitsbediensteten verdienten „unseren Respekt“, die Polizei werde besser ausgestattet. Der Kampf gegen die organisierte Kriminalität und Kindesmissbrauch sollen zu Schwerpunkten werden.

Gleichzeitig aber wird ein progressiver Schwenk vollzogen, hin zu einer „grundrechtsorientierten Sicherheitspolitik“, wie es die Ampel benennt. Alle Sicherheitsgesetze sollen künftig wissenschaftlich evualiert werden, mit einer unabhängigen „Freiheitskommission“ und mit Blick auf die Auswirkungen für die Bürgerrechte. Flächendeckende und biometrische Videoüberwachung wird abgelehnt, ebenso Staatstrojaner für die Bundespolizei. Beim Verfassungsschutz soll die Überwachungssoftware nochmal auf den Prüfstand. IT-Sicherheitslücken, die für Überwachung genutzt werden könnten, sollen geschlossen werden. Eine Absage an die Vorratsdatenspeicherung aber fehlt: Diese soll nun „rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss“ stattfinden – was eine Massenüberwachung praktisch weitgehend verunmöglicht.

Als größte Sicherheitsbedrohung wird der Rechtsextremismus benannt, so wie es zuletzt auch die Groko tat. Als Gegenmittel sollen Gefährder koordinierter überwacht, Extremisten entwaffnet und Deradikalisierung gestärkt werden. Das lange geforderte Demokratiefördergesetz soll kommen, das Projekte gegen Extremismus langfristig absichert. Frauen- und queerfeindliche Straftaten sollen besser erfasst werden. Geschaffen wird ein Anti-Rassismus-Beauftragter. Der Begriff Rasse soll aus dem Gesetz gestrichen werden – in der vergangenen Legislatur war dies noch gescheitert.

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Endlich  –  Die Grünen ziehen die Banane hoch

Gleichzeitig soll mehr Kontrolle für die Sicherheitsbehörden her. Ein unabhängiger Polizeibeauftragter und eine Kennzeichnungspflicht für die Bundespolizei wird geschaffen.

Der Einsatz von V-Leuten soll parlamentarisch „überprüfbar“ werden, Akten höchstens noch für 30 Jahre geheim eingestuft. Bei der Polizei soll eine Sicherheitsüberprüfung für Be­wer­be­r:in­nen extreme Ansichten verhindern und unabhängige Forschung dem nachgehen. Ein Archiv zum Rechtsterrorismus wird geschaffen. Und der 11. März soll nationaler Gedenktag für Opfer terroristischer Gewalt werden – so wie auf europäischer Ebene schon, in Erinnerung an den Anschlag 2004 in Madrid.

Ergo: Vieles, was unter Seehofer noch unmöglich war – die Umsetzung bleibt abzuwarten. Konrad Litschko

Fortschrittsfaktor: 8 von 10 👍

Finanzen

Der Staat wird weiter Schulden machen – obwohl SPD und FDP in ihren Wahlprogrammen die Schuldenbremse propagiert haben. Doch nun werden gleich drei Tricks genutzt, um Kredite zu ermöglichen. Erstens: Die Ampel profitiert davon, dass die Merkel-Regierung für 2022 bereits neue Schulden in Höhe von 100 Milliarden Euro vorgesehen hatte. Offiziell sollen damit die weiteren Coronakosten finanziert werden, doch war immer klar, dass so viel Geld nicht nötig würde. Der Rest kann also in die Ampel-Projekte fließen.

Zweitens: Die Coronaschulden sollen zwar getilgt werden, wie es die Schuldenbremse vorsieht – aber die Tilgungszeit wird verlängert. Die Merkel-Regierung wollte die Pandemie-Kredite bis 2043 abstottern. Die Ampel will es jetzt erst bis 2058 schaffen. Drittens: Es wird Schattenhaushalte geben, obwohl die FDP dies ausgeschlossen hat. Sie werden bei der Förderbank KfW, bei der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben und bei der Bahn eingerichtet.

Teure und ökologisch schädliche Subventionen wie das Dienstwagenprivileg oder die Pendlerpauschale werden nicht beschnitten, obwohl davon vor allem Wohlhabende profitieren. Immerhin: Auch Immobilienkonzerne müssen künftig Grunderwerbssteuer zahlen. Außerdem dürfen Immobilien nicht mehr bar bezahlt werden, um die Geldwäsche zu bekämpfen.

Steuererhöhungen sind nicht geplant, was keine Überraschung ist. Grüne und SPD hatten in ihren Wahlprogramm zwar eine Vermögenssteuer von einem Prozent und höhere Spitzensätze bei den Einkommenssteuern gefordert, aber diese Projekte hatten sowieso keine Chance, weil der Bundesrat zustimmen müsste – und dort hat die Union eine Veto-Macht. Für Grüne und SPD war es also schmerzfrei, der FDP entgegenzukommen, die immer erklärt hatte, dass Steuererhöhungen eine „rote Linie“ seien.

Interessant ist, dass das Wort „Soli“ mit keinem Wort auftaucht. Noch zahlen die reichsten fünf Prozent der Bundesbürger etwa 10 Milliarden Euro pro Jahr. Die FDP wollte den Soli eigentlich abschaffen, aber wahrscheinlich hoffen die Liberalen jetzt darauf, dass das Bundesverfassungsgericht den Soli kippt. Ulrike Herrmann

Fortschrittsfaktor: 2 von 10 👎

Soziales

Neue Begriffe, aber kaum zusätzliches Geld gibt es für die Emp­fän­ge­r:in­nen von Leistungen der Grundsicherung. „Anstelle der bisherigen Grundsicherung (Hartz IV) werden wir ein Bürgergeld einführen“, heißt es im Koalitionsvertrag. Genaueres über eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze beziehungsweise des Bürgergelds wird nicht gesagt.

Es gibt eine Erleichterung: „Wir gewähren in den ersten beiden Jahren die Leistung ohne Anrechnung der Vermögen und anerkennen die Angemessenheit der Wohnung.“ Neu­an­trag­stel­le­r:in­nen auf die Hartz-IV-Leistung bekommen also zwei Jahre lang das Geld samt Regelsatz und Miete, auch wenn die Wohnkosten relativ hoch sind und ein größeres Vermögen vorhanden ist. Diese Erleichterung gilt schon seit Corona.

Das betrifft allerdings nur Neuanträge. Die 17 Prozent der Hartz-IV-Empfänger:innen, die jetzt schon aus dem Regelsatz einen Teil der Miete mitbestreiten müssen, weil ihre Wohnkosten die Grenze der „Angemessenheit“ überschreiten, haben nichts von dieser Regelung.

Eine „Kindergrundsicherung“ soll kommen, die die Leistungen aus steuerlichem Kinderfreibetrag, Kindergeld, Kinderzuschlag und Sozialgeld (im Hartz-IV-Bezug) „bündelt“ und in Teilen einkommensabhängig ist. Über die Höhe der Leistung und den Zeitpunkt der Einführung wird nichts gesagt. Eine „ressortübergreifende Arbeitsgruppe“ soll eingesetzt und der „Einkommensbegriff“ bis Mitte 2023 in allen Gesetzen „harmonisiert“ werden. „Bis zur tatsächlichen Einführung der Kindergrundsicherung werden wir von Armut betroffenen Kindern, die Anspruch auf Leistungen gemäß SGB II, SGB XII oder Kinderzuschlag haben, mit einem Sofortzuschlag absichern“, heißt es. Über die Höhe des „Sofortzuschlages“ wird nichts gesagt.

In der Rentenversicherung will die Koalition das Niveau von 48 Prozent halten und – jedenfalls „in dieser Legislaturperiode“ – den Rentenbeitrag auf 20 Prozent begrenzen. Ein Kapitalstock von 10 Milliarden Euro aus Steuermitteln soll aufgebaut werden. Der „Nachholfaktor“ soll ab 2022 wieder eingeführt werden, was eine Dämpfung des Rentenanstiegs bewirkt. Barbara Dribbusch

Fortschrittsfaktor: 5 von 10 👎

Wohnen

Verkehr

Ernährung und Landwirtschaft

Arbeit

Bildung

Digitalisierung

Inklusion

Quelle       :            TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben          —   Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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Schland und Anarchie? Nie!

Erstellt von DL-Redaktion am 24. November 2021

Ampel kurz vor Fertigstellung

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Die neuen Hofnarren ?

Ein Schlagloch von Georg Seeßlen

Zum Glück ist das Vakuum in Deutschlands Che­f-In­nen­e-Ta­ge bald vorbei. Denn eine Regierung wollen und brauchen wir.

Wir bekommen jetzt wahrscheinlich eine Regierung. Egal ob man die jetzt toll oder eher so na ja findet: Wir kriegen eine Regierung. Ohne eine Regierung ist kein Staat zu machen. Kann man sich überhaupt Länder, Gesellschaften, Gemeinschaften oder einfach Menschen vorstellen, die keine Regierung haben? Der Mensch ist ein Wesen, das eine Regierung braucht. Sonst ist er ein Wilder, und die sind, wenn es keine Menschenfresser sind, vielleicht manchmal edel, aber auch zum Aussterben verdammt.

Schauen sie sich Winnetou an. Das war ein edler Wilder und außerdem ein Roter. Und sehen Sie, was aus ihm geworden ist. Und dann gibt es auch noch Anarchisten. Aber die gehören eh alle erschossen. Da sind sich Volk und Regierung meistens einig. Überhaupt weiß man nicht, vor welchem Zustand man mehr Angst haben sollte. Vor dem, wo sich Volk und Regierung gegenseitig bekriegen, oder vor dem, wo sie sich so was von einig sind.

Das Volk und die Regierung schützen sich gegenseitig vor allem anderen. Diesen Zustand nennt man normal. Das Meiste, was Volk und Regierung verbindet, ist der Abscheu vor allem, was nicht normal ist. Der Mensch braucht eine Regierung. Sonst fällt ihm alles Mögliche ein. Oder vielleicht auch gar nichts mehr. Aber die Regierung braucht auch ein Volk und einen Staat, sonst macht das Regieren keinen Spaß. Eine Regierung will natürlich ein Volk, das ihr passt, und ein Volk will eine Regierung, die ihm passt.

Das ist eine schwierige Beziehung, weil eine Regierung und ein Volk, die müssen sich gegenseitig lieben und gleichzeitig voreinander Angst haben, sonst wird das nichts. Das Volk muss an eine Regierung glauben, und eine Regierung muss an das Volk glauben. Nicht, dass man sich gegenseitig super finden müsste, nein, glauben muss man, dass die Gegenseite überhaupt existiert.

Regierungen wechseln – das Volk nicht

Stellen Sie sich vor, ein Volk merkt, dass es eigentlich gar keine Regierung hat, sondern bloß ein paar Hanseln und Greteln, die Regierung spielen, oder stellen sie sich vor, eine Regierung merkt, dass es eigentlich gar kein Volk gibt, sondern bloß Leute! Es ist schwierig. Daher gibt es seit der griechischen Antike schlaue Leute, die den Regierungen die Kunst des richtigen Regierens beibringen. Und es gibt Polizisten, Geheimdienstler, Soldaten und Verwalter. Und immer gibt es auch so was wie Hof- und andere Narren.

Das sind Leute, die unangenehme Wahrheiten über das Volk oder über die Regierung sagen. Man weiß nicht, was gefährlicher ist: unangenehme Wahrheiten über die Regierung oder über das Volk. Bei jeder Regierung gibt es drei Fragen: Ob es eine „rechtmäßige“ Regierung ist. Ob es eine starke Regierung ist. Ob es eine gute Regierung ist. Über die Rechtmäßigkeit bestimmt das Gesetz, also sagen wir eine Erbfolge oder eine Wahl.

Über die Stärke bestimmt der entschlossene Einsatz von Regierungsmitteln und das Geld, das mit ihnen aus dem Volk für die Regierung zu holen ist. Und ob eine Regierung gut oder schlecht ist, darüber bestimmt jede*r, der/die sich traut, oder spätestens die Geschichte beziehungsweise Leute, die sie schreiben. Natürlich gibt es Regierungen, die von vornherein nicht funktionieren. Das ist weniger skandalös, als wenn es ein Volk gibt, das von vornherein nicht funktioniert.

File:Ampel Beschimpfung.svg

Keine Ordnung ohne Regierung

Gut, dass man eine Regierung leichter auswechseln kann als ein Volk. Regieren heißt Macht ausüben, Ordnungen errichten, eine Ökonomie ermöglichen, die zugleich das Volk ernährt und eine der besagten Ordnungen aufrechterhält, die Grenzen des Staates „sichern“, und irgendwas mit Zukunft machen, bauen, planen, ordnen, richten, verhindern, Verträge schließen, Menschen einladen oder umbringen, Fortschritt generieren und nicht zuletzt: das Prinzip Regierung erhalten.

Regieren ist ein System, in dem Gewalt zu Macht, Macht zu Ordnung, Ordnung zu Gesetz, Gesetz zu Common Sense geworden ist – in dialektischer Aufhebung, was bedeutet, dass selbst im Common Sense die ursprüngliche Gewalt in drei Formen enthalten ist: als praktischer Teil des Regierens, als Potenzial, mit dem noch stets gedroht werden kann, und als symbolische Feier bis in die Sprache hinein.

Quelle        :           TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Unten        —     Neue Version von Ampel.JPG

Author Original:Stefan-XpVector: Jfd34       /     Source    :

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Attribution: Stefan-Xp

 

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Der Grüne Kapitalismus

Erstellt von DL-Redaktion am 14. November 2021

Neuzusammensetzung des Kapitals im ”Grünen Kapitalismus”

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Quelle:    Scharf  —  Links

Von Iwan Nikolajew

  1. Prolog

Die kommende Bundesregierung, wie immer sie konkret auch aussehen mag, wird die „Corona-Hilfen“ zurückfahren, jedoch den „Corona-Notstand“ in der Hinterhand halten. In der „Corona-Zeit“ begann die Restrukturierung des Kapitals Die Arbeiterklasse soll für die Neuformierung des deutschen Kapitals die Kosten tragen und mit ihrem gegenwärtigen Niveau der gesellschaftlichen Reproduktion bezahlen. Die alte Bundesregierung organisierte passiv den Bruch des neoliberalen deutschen Akkumulationsmodells in den multipolaren Weltmarkt. Jedoch die neue Bundesregierung hat dann die Aufgabe, den Bruch in den multipolaren Weltmarkt offensiv zu gestalten.

  1. Neuformierung des deutschen Kapitals

Nun kommt es dem Kapital darauf an, den Bruch aktiv zu gestalten, nachdem der Bruch in dem multipolaren Weltmarkt eingetreten ist. Das deutsche Kapital verteidigte den neoliberalen Weltmarkt vergeblich. Langsam muß auch das deutsche Kapital die neue Realität anerkennen und sich in den neoliberalen Weltmarkt integrieren. Die Realität des multipolaren Weltmarktes ist die „Neue Normalität“. Diese „Neue Normalität“ versucht das deutsche Kapital zu gestalten. Die Bundestagswahlen vom September dieses Jahres übersetzt die „Neue Normalität“ des multipolaren Weltmarktes in die politische Sphäre der multipolaren Weltordnung. Auch in der politischen Sphäre des deutschen Imperialismus verwandelt sich das bisherige Parteiensystem, welches um zwei Großparteien kreiste, in ein multipolares Parteiensystem, was die Regierungsbildung erschwert und die Regierung instabiler werden läßt. Auch dies ist ein Moment der „Neuen Normalität“.

Die neue Bundesregierung ist dann ebenfalls ein Produkt der „Neuen Normalität“ der multipolaren Weltordnung und ihre Aufgabe ist es dann, die „Neue Normalität“ der multipolaren Weltordnung aktiv zu gestalten. Erst dann kommt der Bruch in den multipolaren Weltmarkt an. Dieser nun auch formale Bruch in den multipolaren Weltmarkt beginnt in der „Corona-Krise“ und dem „Corona-Notstand“ und zerstört negativ vermittelnd den neoliberalen Weltmarkt und die neoliberale Weltordnung. Nach dieser Zeit der wertgesetzlichen Zerstörungen im Kapitalismus muß ein Neuaufbau der Akkumulation in Angriff genommen werden. Dies gelingt nicht, wenn man auf den zerstörten neoliberalen Boden aufbaut, sondern nur dann, wenn auf festen und neuen multipolaren Boden die Akkumulation neu errichtet wird. Dies ist dann konkret die Aufgabe einer neuen Bundesregierung, wie immer sie auch zusammengesetzt sein wird. Erst dann beginnen auch die Angriffe auf das gesellschaftlich notwendige Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse über eine Radikalisierung der Deflationspolitik. Bisher hoffte das Kapital den neoliberalen Weltmarkt verteidigen zu können und die „Corona-Krise“ sollte nur eine kurze Unterbrechung darstellen. Erst nach längerer Dauer und der Tiefe wie Breite der Auswirkungen der „Corona-Krise“ realisiert das deutsche Kapital, daß die materielle Basis für eine einfache Rückkehr zur neoliberalen Akkumulationsweise nicht mehr vorhanden ist, während die Arbeiterklasse noch Hoffnungen hegt, wieder an die Zeit vor der „Corona-Krise“ anschließen zu können. Wie immer auch die neue Bundesregierung aussehen mag, sie hat objektiv die historische Aufgabe, den deutschen Imperialismus aktiv in den multipolaren Weltmarkt zu integrieren. Diese Integration in den multipolaren Weltmarkt erfolgt unter dem ideologischen Deckmantel des „Grünen Kapitalismus“. Die Restrukturierung des Kapitals im Sinne des multipolaren Weltmarktes erfolgt über das Ideologem des „Klimaschutzes“ bzw. des „Umweltschutzes“ im Sinne eines „Grünen Kapitalismus“. Damit wird dann versucht, eine Massenlegitimation für eine Deflationspolitik zu organisieren. Die Arbeiterklasse soll zum Verzicht gezwungen werden, der Notstandsstaat steht schon notfalls dafür bereit, doch dies geht nur dann, wenn die Politik des Notstandsstaates eine Massenlegitimation aufweist, wenn die mittleren und höheren Schichten des Kleinbürgertums auf die Seite des Kapitals gezogen werden können. Ein Verzicht zum Wohle des „Klimas“ zum „Schutz der Menschheit“ und zum „Schutz von uns allen“. Dann erscheint der „Verzicht“ als alternativlos, als „Sachzwang“ und als ein Verzicht für eine „höhere“ und „gute Sache“. Dies die ideologische materielle Basis, um nicht nur den „freiwilligen Verzicht“ einzufordern, sondern auch diesen Verzicht notfalls zu erzwingen. Wer nicht „freiwillig“ verzichten will, wird dazu gezwungen. Gezwungen aufgrund einer angeblich höheren Gefahr, die unmittelbar eintreten soll und eines höheren Ziels. Der „Corona-Notstand“ kann beibehalten werden und sich dann noch in einem „Klima-Notstand“ verdoppeln. Ein „Corona-Notstand“ kann den „Klima-Notstand“ einleiten. Ein solcher Notstand kann dann damit begründet werden, daß hinter der SARS-Corona-Pandemie und dem „Klimawandel“ alles andere sofort zurückzutreten hat. Die SARS-Corona-Pandemie, wie auch der „Klimawandel,“ stellen eine Bedrohung für die „nationale Sicherheit“ dar. Notstand baut immer auf die „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ auf. Und hinter dem Notstand als Verteidigung gegen eine „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ müssen nach bürgerlichem Klassenstandpunkt alle anderen Interessen und Rechte zurückstehen. Damit trägt die Generalklausel der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ den Notstand und den Kriegsfall in sich und bezieht sich auf die Souveränität und der Staatsräson. Dann gibt es keine Rechte mehr, sondern nur noch Pflichten. Die Pflicht dem Staat zu dienen, die Pflicht, die „Gefährdung“ des Staates abzuwehren. Damit setzt die „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ auf das Feindrecht. Ein gewöhnliches Verbrechen stört nur das Gleichgewicht der Gesellschaft, aber eine „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ ist keine Störung des Gleichgewichts der Gesellschaft, sondern ein Feindakt gegen die gesamte Gesellschaft, setzt ein Feindverhältnis voraus. Der „Störer“ unterliegt der normalen bürgerlichen zivilen Gerichtsbarkeit, aber ein „Gefährder der nationalen Sicherheit“ negiert den bürgerlichen Staat als Garant der bürgerlichen Klassengesellschaft als Ganzes. Das Feindrecht geht weiter weit über das Feindstrafrecht hinaus und schlägt sich im jedem bürgerlichen Staatsapparat, in jedem Kapitalkommando, nieder. Die „Gefährdung“ der nationalen Sicherheit“ verlangt unbedingten Gehorsam gegenüber dem individuellen Kapitalkommando und gegenüber dem gesellschaftlichen Kapitalkommando des ideellen Gesamtkapitalisten. Wer sich diesem unbedingten Gehorsam verweigert wird zum Feind, wird zum „Gefährder der nationalen Sicherheit“ und damit zu einem „nationalen Sicherheitsrisiko. Bei „Gefahr für die nationale Sicherheit“ wird das Militär, sichtbar oder unsichtbar, zum zentralen Staatsapparat im bürgerlichen Klassenstaat. Es setzt sich dann der Militarismus durch. Befehl und Gehorsam sind die normalen Abläufe bei einer „Gefährdung der nationalen Sicherheit“; die Abläufe der Kaserne werden zur neuen Norm. Im Militär gibt es keine Demokratie, keine Rechte, keine Diskussion. Nur Befehl und Gehorsam. Damit ist der Notstand immer gegen die Arbeiterklasse gerichtet, denn die historischen Klasseninteressen des Proletariats werden rücksichtslos durch den Notstand negiert.

Wer als „Gefährder“ identifiziert ist, unterliegt dem Feindrecht als einem Ausnahmerecht. Nur der gewöhnliche „Störer“ fällt in das gewöhnliche zivile Recht. Auch wenn der „Gefährder“ ebenfalls formal in das normale Recht fällt, wird im Sinne des Staatsschutzes geurteilt. Mit dem Feindrecht schreibt sich unsichtbar in das gewöhnliche Recht ein Willens(straf-)recht ein. Es kommt nicht so sehr auf die Tat an, sondern auf den Willen hinter der Tat, konkret auf die (politische) Gesinnung und wird so zum (politischen) Gesinnungsrecht. Damit kann eine Tat verschieden geahndet werden. Wird der Tat ein politischer Wille, eine politische Gesinnung, in Richtung „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ zugrunde gelegt, wird das Delikt im Sinne des Feindrechts verhandelt. Ein gleiches Delikt wird ungleich bewertet. Entscheidend wird, ob ein konkretes Subjekt als „Störer“ oder als „Gefährder“ vom bürgerlichen Klassenstaat klassifiziert wird. Indem die Bourgeoisie verlauten läßt, daß „wir“ uns im Krieg mit dem SARS-Corona-Virus befinden, wird der Boden für die Feinderklärung geschaffen. Nebenbei ist vollkommen irrational, einem Virus den Krieg erklären zu wollen. Der Krieg ist ein bewußter Akt und ist ein Produkt der humanen Geschichte, vor allem der Geschichte von Klassengesellschaften. Das Auftreten eines Virus fällt nicht in die humane Geschichte, es sei denn, dies wurde Virus in der Klassengesellschaft produziert. Damit deutet die Bourgeoisie an, daß das SARS-Corona-Virus industriell produziert wurde und die Reaktionen der bürgerlichen Staaten auf das Auftreten des SARS-Corona-Virus wäre dann rational erklärbar. Wenn man aber einem Virus nicht den Krieg erklären kann, dann wohl aber den infizierten Menschen als Träger des konkreten Virus. Diesen mit dem SARS-Corona-Virus infizierten Menschen kann man den Krieg erklären, d.h. sie können zu Feinden erklärt werden. Vor diesem Hintergrund erschließt sich dann auch der „Corona-Notstand“. Der „Corona-Notstand“ ist eine Feinderklärung an die mit SARS-Corona infizierten Menschen bzw. an die Menschen, welche sich weigern, den „Corona-Notstand“ zu akzeptieren. Wenn der SARS-Corona-Virus irrational zum „Feind“ erklärt wird, zur „Gefahr für die nationale Sicherheit“ und mit dem Krieg auf eine Stufe gesetzt wird, dann ist nicht so sehr der SARS-Corona-Virus der Feind, sondern die humanen Träger des SARS-Corona-Virus in aktueller oder potentieller Form, dann werden bestimmte Bevölkerungsteile zum Feind erklärt und der „Corona-Notstand“ zur Waffe im Kampf gegen den SARS-Corona-Virus bzw. konkret eine Waffe im Kampf gegen die mit dem SARS-Corona- Virus infizierten Subjekte bzw. gegen Subjekte, welche sich leicht infizieren könnten und die Infektionskette weitertragen würden. Wer vom Krieg gegen den SARS-Coroa-Virus spricht, spricht vom Krieg gegen bestimmte Bevölkerungsteile vermittels des „Corona-Notstands, spricht von einer Feinderklärung an bestimmte Bevölkerungsteile und da die Arbeiterklasse aufgrund ihrer materiellen Lebenslage durch die SARS-Corona-Pandemie gefährdet ist, ist der „Krieg gegen „Corona“ ein Klassenkrieg gegen die Arbeiterklasse.

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In Turnschuhe gekommen     ………

Zentral ist der sicherheitspolitische Blick und damit verbunden der psychiatrische Blick des bürgerlichen Staates und des Kapitals auf das bisher normale Verhalten der Arbeiterklasse. Das Kräftegleichgewicht zwischen den beiden antagonistischen Klassen verschiebt sich in der gegenwärtigen Krise des Bruchs in den multipolaren Weltmarkt immer mehr zu Gunsten des Kapitals, konkret durch den „Corona-Notstand“, welcher die „Corona-Deflationspolitik“ vom aktiven Widerstand der Arbeiterklasse abschirmt. Das deutsche Kapital, der deutsche Imperialismus, richtet sich neu aus. Die „Staatssicherheit“ und „Unternehmenssicherheit“ sind enger miteinander vermittelt, als in der Epoche des neoliberalen Kapitalismus. Nun wird das bisherige normale Verhalten der Arbeiterklasse, welches für den neoliberalen Kapitalismus funktional war, im multipolaren Kapitalismus dysfunktional. Es werden mehr Schwerpunkte auf Gehorsam und Unterordnung, auf formale Hierarchien, gesetzt als im neoliberalen Kapitalismus. Die Arbeiterklasse wird vom Kapital neu zusammengesetzt und zwar nach auch nach sicherheitspolitischen Momenten. Die Repression setzt niedrigschwellig auch bei neoliberalen Verhalten ein, welches jetzt immer mehr als ein negatives Verhalten erscheint. Loyalität und Gehorsam stehen im Mittelpunkt des multipolaren Kapitalismus, der Betrieb, die Psychiatrie, das Gefängnis und die Kaserne wachsen wieder tendenziell enger zusammen. Für das Kapital ist jedes Verhalten widerständiges Verhalten, dann, wenn es im Widerspruch zu den Anforderungen des multipolaren Weltmarktes gerät, d.h. wenn sich die Arbeiterklasse in ihrem Verhalten weiterhin sich auf den neoliberalen Weltmarkt bezieht. Die Aufgabe des „Corona-Notstandes“ ist es, die Arbeiterklasse im Sinne des multipolaren Weltmarktes zu disziplinieren und ihr Verhalten gemäß einem multipolaren Kapitalismus neu auszurichten. Dazu muß das bisherige neoliberale Verhalten der Arbeiterklasse im neoliberalen Kapitalismus, die neoliberale Normalität, zerstört werden. Dies ist die Aufgabe des (Corona-)Notstandes. Erst nach der Zerstörung der neoliberalen Normalität in der Arbeiterklasse ist es möglich, sie multipolar, nationalliberal, auszurichten, ihr eine neue multipolare Normalität aufzuzwingen, wie zuvor die neoliberale Normalität. Das Entscheidende am „Corona-Notstand“ ist die Disziplinierungswirkung desselben, eine Wirkung, die sich auf die gesamte bürgerliche Gesellschaft ausdehnt, in jede Pore der Gesellschaft eindringt und eine neue multipolare Normalität hervorbringt, auch und gerade dann, wenn der Notstand zeitweise gelockert oder gar aufgehoben wird. Die „neue Normalität“ kommt von dem Begriff Norm, kommt von dem Begriff Normung. Das Kapital setzt der Arbeiterklasse eine neue Norm und normiert die Arbeiterlasse in neuer Weise. Eine Norm fixiert das gesellschaftlich akzeptierte Verhalten. Wer von der Norm abweicht, der wird in der bürgerlichen Gesellschaft geächtet und isoliert, bzw. ist ein Fall die offene bürgerliche Repression. Der multipolare Kapitalismus beginnt nun zu definieren, welches gesellschaftliche Verhalten normal ist und welches gesellschaftliche Verhalten nicht normal ist und damit zu unterlassen ist. Abweichendes Verhalten von der neuen multipolaren Normalität kann mit Repression gekontert werden. Auch nur neoliberales Verhalten geht nicht mit dem multipolaren Weltmarkt konform und kann die Repression des bürgerlichen Staates herausfordern. Es wird konkret versucht, den Datenschutz der Arbeiterklasse zu zerstören. Der Versuch, jeden Lohnarbeiter zur Offenlegung seines Impfstatus bei Strafe von Sanktionen und letztlich der Entlassung zu zwingen, dient der Disziplinierung und Abschreckung. Die Daten können in letzter Konsequenz ohne großen Datenschutz auch direkt von den Datenbanken abgefragt werden. Aber es geht nicht in erster Linie um den Impfstatus. Es geht primär um Forderung nach offener Unterwerfung unter den bürgerlichen Staat mit seinem Notstand und konkret um völlige Unterwerfung unter das Kapitalkommando. Wer sich weigert, an dem wird ein Exempel zur Abschreckung für alle anderen statuiert. Die Diskussion um die Offenlegung des Impfstatus ist nur der erste Schritt zur Aufhebung des Datenschutzes der Arbeiterklasse überhaupt, der erste Schritt in eine „Sicherheitsüberprüfung“ zum Zwecke der Feststellung der „politischen Zuverlässigkeit“. Die „politische Zuverlässigkeit“ wird zentral hinter dem Rücken des Lohnarbeiters festgestellt. Aber der Zwang, in der Öffentlichkeit selbst den Auftrag zu geben, seine „politische Zuverlässigkeit“ zu untersuchen, bzw. selbst seine „politische Zuverlässigkeit“ zu beweisen, führt real zu einem Staatsgerichtshof des Kapitalkommandos. Die Loyalität gegenüber dem konkreten Einzelkapital ist gleich der Loyalität dem bürgerlichen Staat gegenüber. Eine geteilte Loyalität ist in der „Neuen Normalität“ nicht mehr tragbar. In der Offenlegung des Impfstatus des Lohnarbeiters liegt der Beweis für die ungeteilte Loyalität dem individuellen Kapitalkommando und dem gesellschaftlichen Kapitalkommando des ideellen Gesamtkapitalisten. In der Öffentlichkeit wird dann das betriebliche Urteil gefällt. Fällt das betriebliche Urteil negativ aus, kommt es zur Repression gegen den bestimmten Lohnarbeiter und diese Sanktionen dienen als Abschreckung für alle anderen Lohnarbeiter. Die Offenlegung des Impfstatus, ob unter Zwang oder „freiwilligen“ Zwang, ist gegenwärtig der Loyalitätsbeweis dem konkreten Einzelkapital und dem bürgerlichen Staat gegenüber, der Beweis der Treue zum konkreten Unternehmen und zum „Vaterland“. Die Drohung mit Sanktionen bei Verweigerung des Treuebeweises bewirkt „Wunder“. Aber mit diesem Treuebeweis ist es nicht getan. Es werden weitere Treuebeweise verlangt werden. Die Gewerkschaftsbürokratie reiht sich schon ein in das Glied der „Vaterlandsverteidiger“ gegen die „Gefährder“. Nun fordert der DGB seine Mitglieder auf, „freiwillig“ ihren Impfstatus offen zu legen, statt die Verteidigung des Datenschutzes für Lohnarbeiter zu organisieren. Und der Bundesdatenschutzbeauftragte marschiert mit und fordert die Offenlegung des Impfstatus. Der bürgerliche Staat und das individuelle Kapitalkommando wollen durchregieren, den vollen Zugriff auf die Arbeiterklasse erhalten und treiben deshalb die restlose Erfassung der Arbeiterklasse voran.

Der ideelle Gesamtkapitalist gibt nur den Anstoß zur formalen Neuformierung der Ausbeutung, die realen Tendenzen in der Akkumulation erzwingen dies schon vorher unterirdisch in der Aktion der vielen Kapitale; die Aktion des ideellen Gesamtkapitalisten formalisiert und fixiert nur die untergründige Bewegung des Wertgesetzes, welches die Neuzusammensetzung des Kapital hervorbringt und treibt sie dadurch weiter, organisiert damit einen offiziellen Anstoß zur Neuformierung des Kapitals.

Mit dem formellen Anstoß der Neuzusammensetzung des Kapitals durch den ideellen Gesamtkapitalisten kommt es zu einem qualitativen Sprung in diesem Prozeß. Der bürgerliche Staat gibt lediglich der Neuzusammensetzung des Kapitals Raum und stützt diesen Prozeß ab. Die Neuzusammensetzung des Kapitals und damit die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse ist konkret die multipolare De-Globalisierung des vormals neoliberalen Weltmarktes, konkret in der Auflösung der neoliberalen Lieferketten. Über den „Corona-Notstand“ wurde dieser Prozeß nur formal eingeleitet, real jedoch entspringt dieser Prozeß der neoliberalen De-Globalisierung der Akkumulationsnotwendigkeiten des Kapitals, sowie die Corona-Pandemie selbst das Produkt des Kapitalismus in neoliberaler Form ist, bzw. des niedergehenden neoliberalen Kapitalismus und damit auch nur die neoliberale De-Globalisierung ausspricht, aber selbst nicht schafft. Keine Pandemie kann den Kapitalismus aus dem Gleichgewicht bringen, nur der Kapitalismus selbst und damit der Klassenkampf besitzt die Macht, den Kapitalismus aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die SARS-Corona-Pandemie und damit der „Corona-Notstand“ können den Kapitalismus nur überformen, jedoch nicht formen. Vermittelt über die Bewegung des Kapitals im Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate ist die Neuzusammensetzung des Kapitals notwendig, da das mehrwertheckende Kapital nicht mehr in der Lage ist, das fiktiven Kapital zu tragen, welches sich in einer Quantität ausgedehnt hat, daß in keinem Verhältnis mehr zum produzierten Mehrwert steht. Die Neuformierung der internationalen Mehrwertproduktion wird dann schlagend notwendig und dies führt nur über den Weg der Entwertung des Kapitals vermittelt über die Überakkumulation von Kapital zu einem neu strukturierten Weltmarkt. Seit dem Ausbruch der Großen Krise der Akkumulation in den Jahren 2007/2008 ist es dem neoliberalen Kapitalismus nur noch notdürftig gelungen, die Akkumulation zu stabilisieren. Ab 2014 nahmen die protektionistischen Tendenzen weiter zu und im Herbst 2019 gab es wieder große Probleme am Interbankenmarkt, was einen neuerlichen Krisenschub ankündigte. Doch schon das ansteigende Niveau der Klassenkämpfe, vor allen in der Form von Revolten des Jahres 2019, machte deutlich, daß sich das Akkumulationsmodell des neoliberalen Kapitalismus erschöpft hatte. Die Zeit des langsamen Verwesens und Verfaulens des neoliberalen Akkumulationsmodelles ging seinem Ende entgegen und es war klar, daß ein qualitativer Bruch des neoliberalen Akkumulationsmodells notwendig wurde und nah bevorstand. Dieser qualitative Bruch erfolgte mit der „Corona-Krise“ im Jahr 2020. Die weltweite „Corona-Krise“ und der ebenso weltweite „Corona-Notstand“ zerstörten die großen Revolten des Proletariats und des Kleinbürgertums des Jahres 2019. In diesem Sinne ist der „Corona-Notstand“ die Antwort auf die proletarischen und kleinbürgerlichen Revolten des Jahres 2019. Mit dem Notstand gegen den Aufschwung des Klassenkampfes der Arbeiterklasse. Die proletarischen und kleinbürgerlichen Revolten des Jahres 2019 kündigten das nahe Ende des neoliberalen Kapitalismus an, ein neuerlicher Krisenschub war unvermeidlich und damit auch die Neuzusammensetzung des Kapitals, als abstrakte Bedingung, irgendwann einmal den Krisenmodus verlassen zu können. Im Jahr 2019 scheiterte die neoliberale Zusammensetzung des Kapitals an sich selbst und macht Platz für eine multipolare Neuzusammensetzung des Kapitals, wenn es der Arbeiterklasse nicht gelingt, diesen zu überwinden. Das Ziel des „Corona-Notstandes“ ist es nicht primär die SARS-Corona-Pandemie zu bekämpfen, sondern die Neuzusammensetzung des Kapitals zu befördern.

Der „Corona-Notstand“ hat nicht zentral zum Ziel, die SARS-Corona-Pandemie einzugrenzen, sondern die Neuzusammensetzung des Kapitals voranzutreiben, den multipolaren Weltmarkt zum Durchbruch zu verhelfen und damit konkret die Lieferketten neu zu organisieren. Die protektionistischen Tendenzen kommen offen zum Durchbruch und finden ihren deutlichsten Ausdruck in den Grenzschließungen in der ersten Phase des „Corona-Notstandes“. Diese Grenzschließungen sind der entscheidende Anstoß, nicht aber Grund für die Neuformierung des Kapitals, denn diese Grenzschließungen brechen die Tendenz zur Auslagerung der Mehrwertproduktion an verschiedene geographische Orte, weil die Grenzschließungen die Lieferketten zerbrechen, welche die Einheit eines real fungierenden Einzelkapitals garantieren. Langsam setzt eine Tendenz zur Rückverlagerung des Kapitals in die Nähe der zentralen Akkumulationsstrukturen des multipolaren Weltmarktes ein, denn nur dann können die Lieferketten tendenziell garantiert werden. Der ideelle Gesamtkapitalist nimmt auch einen wesentlichen Einfluß auf die Neuzentrierung des Kapitals, denn die Neuausrichtung des Kapitals vollzieht sich auch unter militärpolitischen Vorgaben einer möglichen Umstellung auf eine Kriegswirtschaft zur Sicherstellung der Akkumulation innerhalb der imperialistischen Blockkonkurrenz. Es entsteht in der Tendenz eine engere Zusammenarbeit zwischen dem individuellen Kapitalkommando im ideellen Gesamtkapitalisten im Vergleich zum neoliberalen Kapitalismus. Es ist dann konkret eine paramilitärische Zusammenarbeit, im harten Notstandsfall gar eine offen militärische „Zusammenarbeit“ von individuellem Kapitalkommando und bürgerlichen Staat. gegen die Arbeiterklasse. Auf jeden Fall ist die engere Zusammenarbeit zwischen dem individuellen Kapitalkommando und dem ideellen Gesamtkapitalisten ein Moment der inneren Militarisierung. Der „Corona-Notstand“ schirmt die eingeleitete „Corona-Deflationspolitik“ gegen den Widerstand der Arbeiterklasse ab. In der „Corona-Krise“ wurden mehr Arbeitsplätze im Monopolkapital abgebaut, als am Beginn der Großen Krise in den Jahren 2008/2009. Man kann davon ausgehen, daß auch auf das Gesamtkapital bezogen mehr Arbeitsplätze vernichtet wurden als in den Jahren 2008/2009. Der korporatistische Block aus Kapital, bürgerlichen Staat in Notstandsform und Gewerkschaftsbürokratie setzte den Arbeitsplatzabbau geräuschlos durch. Wieder einmal hat sich das Modell Deutschland (die Hegemonie der Weltmarktsektoren über die Binnenmarktsektoren) für das Kapital bewährt. Die Kernbelegschaften konnten ungefähr ihre Position halten und wurden gleichzeitig verkleinert, während die Randbelegschaften dafür die Rechnung zu begleichen haben und anwachsen. Modell Deutschland heißt auch, daß mit massiver präventiver Repression der Widerstand der Verlierer dieser selektiven Deflationspolitik gebrochen wird. Das Repressionsniveau des bürgerlichen Staates wird durch den „Corona-Notstand“ noch erhöht. Schon die vorhandenen Spaltungen in der Klasse lähmen den kollektiven Widerstand der ganzen Klasse; der „Corona-Notstand“ verdoppelt noch die Spaltungen. Kleinere Teile der Klasse können die Angriffe des Kapitals zurückschlagen, jedoch sind dies Ausnahmen. Auch die Erfolge der Gewerkschaft der Lokomotivführer gegen die Bundesbahn können die Gesamttendenz nicht ändern. Dem Kapital gelang es, die von der Gewerkschaftsbürokratie geführten Gewerkschaften, sich unterzuordnen. Es gab von der Gewerkschaftsbürokratie nicht einmal den Versuch, die „Corona-Deflationspolitik“ zu modifizieren. Diese „Corona-Deflationspolitik wurde als „alternativlos“ akzeptiert. Mit dem „Corona-Notstand“ macht das Kapital deutlich, daß es keinen noch so geringen Widerstand gegen die „Corona-Deflationspolitik“ duldet. Eine klare Warnung an die Gewerkschaftsbürokratie. Bei organisierten Widerstand der Gewerkschaften gegen die „Corona-Deflationspolitik“, sei sie auch noch so gering, droht die offene terroristische Zerschlagung der Gewerkschaften. Der Gewerkschaftsbürokratie wurde diesmal kein Spielraum eingeräumt. Die Gewerkschaftsbürokratie kapitulierte wieder und die Gewerkschaft nähert sich damit tendenziell immer mehr einer Arbeitsfront an, da sie objektiv immer mehr zum Transmissionsriemen des Kapitals und objektiv in den bürgerlichen Staat eingebaut wird. Nur der proletarische Widerstand kann diese Bewegung aufhalten. In der „Corona-Krise“ wurde das Paradigma der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ bzw. der „Staatssicherheit“ auch von der Gewerkschaftsbürokratie akzeptiert.

———————     In Samt und Seide gereist

Eine gesellschaftliche Organisierung nach dem Paradigma „Staatssicherheit“ bzw. unter dem Blickwinkel der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ stellt die „Staatsräson“ in den Mittelpunkt der bürgerlichen Gesellschaft. In der „Staatsräson“ ist die „Staatssicherheit“ aufgehoben. Die „Staatssicherheit“ ist das höchste Ziel und alles muß ihr untergeordnet werden. In letzter Konsequenz wird damit auch der bürgerliche „Rechtsstaat“ ausgeschlossen, denn die Staatsräson und damit die „Staatssicherheit“ steht über dem Gesetz. Wenn das Gesetz die „Staatssicherheit“ beeinträchtigt, wird es vom bürgerlichen Staat ignoriert. In der „Staatsräson“ entledigt sich der bürgerliche Staat den Fesseln des Gesetzes und damit auch zumindest temporär der parlamentarisch-demokratischen Form des bürgerlichen Staates und geht tendenziell in den bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) über. Die „Staatsräson“ ist der Ausnahmezustand, der Notstand. Nur im Ausnahmezustand, aufgrund der „Staatsräson,“ ist die Bourgeoisie souverän. Dann gilt der Satz von Carl Schmitt, daß nur der souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Der bürgerliche Ausnahmestaat ist ein Machtstaat, der an keinerlei Gesetz mehr gebunden ist, der sich auf Erlasse stützt, auf Notverordnungen, die flexibel, je nach konkreter Situation erlassen werden. Das unsichtbare Grundgesetz des bürgerlichen Ausnahmestaates ist die „Staatsräson“.

Die „Staatsräson“ bedroht die Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse kann ihr gesellschaftlich notwendiges Reproduktionsniveau nur in einer parlamentarisch-demokratischen Form des bürgerlichen Staates erhöhen und verteidigen. Nur dort kann die Arbeiterklasse Eroberungen im Kapitalismus machen und verteidigen. Das Gesetz und der Tarifvertrag sind die Hebel in einem parlamentarisch-demokratisch organisierten Kapitalismus für die Erhöhung der gesellschaftlich notwendigen Reproduktion der Arbeiterklasse. Der bürgerliche Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) negiert Gesetz und Tarifvertrag und damit Gewerkschaften und auch reformistische proletarische Parteien und andere proletarische Massenorganisationen, negiert individuelle und kollektive Grundrechte. Die „Staatsräson“ der „Staatssicherheit“ ist eine große Bedrohung für die Arbeiterklasse, denn diese wird durch die „Staatsräson“ politisch atomisiert. Die „Staatssicherheit“ duldet keine Meinungsfreiheit und eine Pressefreiheit, sondern stützt sich auf die Zensur. Ohne Meinungsfreiheit gibt es keine politische Organisierung der Arbeiterklasse. In der Staatsräson setzt sich die Bourgeoisie als absolut, entweder im bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) als besondere Formbestimmung des bürgerlichen Staates oder verdeckt hinter den formalen Linien der parlamentarisch-demokratischen Form des bürgerlichen Staates, als Staat im Staat, als eigentlicher bürgerlicher Staat. Dann erscheinen an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse die konkrete bürgerliche Gesellschaft und der konkrete bürgerliche Staat nicht mehr als eine bürgerliche Klassengesellschaft bzw. bürgerlicher Staat, sondern als „Nation“ und die „Nation“ ist dann nichts anderes als eine „Schicksalsgemeinschaft“ bzw. „Volksgemeinschaft,“ eine militarisierte bürgerliche Gesellschaft. Der Militarismus kennt keine Rechte, nur Pflichten, kennt nur Befehl und Gehorsam und auch keine parlamentarisch-demokratische Willensbildung samt Mitbestimmung und Tarifvertragswesen. Die „Staatsräson“ kennt nur die „Staatssicherheit“. Wer sich den Befehlen widersetzt, gefährdet die „Staatssicherheit“, gefährdet die „nationale Sicherheit“ und wird damit zum Feind und verwirkt damit auch weitgehend die Rechte als Staatsbürger, steht außerhalb allen Rechts und steht dann somit im Zentrum des Feindrechts, ist dann in der Tendenz vogelfrei und kann nur auf Gnade hoffen. Wer nicht zum Feind des bürgerlichen Staates werden möchte, muß kapitulieren und sich in die „Staatssicherheit“ einreihen. Eine passive Unterordnung reicht nicht aus. Es wird das aktive Eintreten für die „Staatssicherheit“ gefordert und so tritt auch die DGB-Bürokratie aktiv für das „Staatswohl“ ein und arbeitet aktiv am „Corona-Notstand“ und verteidigt diesen auch gegen die Kritik aus der Arbeiterklasse. Die DGB-Bürokratie mag an Einzelmaßnahmen Kritik üben, unterstützt jedoch zur Gänze den „Corona-Notstand.“ Auch führt die Kritik an den Einzelmaßnahmen des „Corona-Notstandes“ nicht dazu, daß die DGB-Bürokratie Widerstand organisiert, sondern es bleibt bei einem hilflosen Protest bei der gleichzeitigen Versicherung, daß man den „Corona-Notstand“ zur Gänze unterstützt. Auf diese Weise wurde der betriebliche Datenschutz der Arbeiterklasse unterlaufen, während der bürgerliche Staat den „gläsernen Bürger“ schafft und das individuelle Kapitalkommando die „gläsernen Belegschaften“

Der Überwachungsstaat ist real. In den Betrieben im Gesundheitssektor und im Bildungssektor muß nun der „Corona-Pass“ offengelegt werden und damit der Impfstatus. Es ist zwar formal keine Impfpflicht, denn es geht „nur“ um den Impfstatus, aber wer in diesen Bereichen nicht geimpft ist, wird an den Rand gedrängt, sofern ein anderes Einsatzfeld möglich ist, droht die Ausweisung aus dem bisherigen Tätigkeitsbereich. Ist ein anderes Tätigkeitsfeld nicht möglich, droht die Entlassung. Real bedeutet aber die Abfrage des Impfstatus eine indirekte Impfpflicht. Die DGB-Bürokratie meldete sich mit Kritik gegen diese Regelung, organisierte aber keinen Widerstand und ruft auch noch nicht einmal zum juristischen Widerstand auf. Im Gegenteil. Die Betriebsräte sollen sich der Sache annehmen und so die Auswirkungen der Impfstatusabfrage reduzieren, d.h. die Betriebsräte sollen die Impfstatusabfrage begleiten, damit mit dieser kein Mißbrauch getrieben werden kann. Widerstand sieht anders aus. Es ist eine verklausolierte Kapitulation. Und diese Kapitulation zieht weitere Forderungen des Kapitals nach sich. Nun wird weiter gefordert, daß die Impfauskunftspflicht auch auf alle Lohnarbeiter mit Kundenkontakt ausgeweitet werden soll. Wird dies realisiert, kommt als Folge eine weitere Forderung auf. Dann wäre die Gesamtheit der Lohnarbeiterklasse, wenn nicht gar der gesamten Erwerbsbevölkerung, von der Impfstatusabfrage betroffen. Durch die Weigerung der DGB-Bürokratie gegen die Impfstatusabfrage durch das Kapitalkommando oder dem bürgerlichen Staat offenen Widerstand zu organisieren und die versteckte Aufforderung an die Betriebs- und Personalräte diese Impfstatusabfrage, welche eine versteckte Impfpflicht in sich trägt, zu sekundieren wird das Kapitalkommando direkt und aktiv unterstützt, ist ebenfalls eine aktive Unterstützung des „Corona-Notstandes“. Wie weit die Unterstützung des „Corona-Notstandes“ geht, hängt von der Politik des Notstandsstaates ab. Die DGB-Bürokratie hat dem „Corona-Notstand“ die Treue geschworen und die „Staatsräson“ internalisiert.

Die Neuzusammensetzung des Kapitals in der gegenwärtigen Krisenphase kann ohne organisierten Widerstand aus der Arbeiterklasse unter dem Schutz des Notstands realisiert werden. Es werden die Lieferketten dem multipolaren Weltmarkt gemäß ausgerichtet. Das multipolare Zerreißen der neoliberalen Lieferketten stört die Akkumulation, führt zu steigendem Inflationsdruck, da Roh-Hilfs- und Betriebsstoffe, wie Fertigwarenvorprodukte nicht mehr im ausreichendem Ausmaß zur Verfügung stehen. Doch vor allem führt die Spekulation des fiktiven Kapitals zu den höheren Preisen, denn bestimmte Waren, vor allem Rohstoffe, werden durch die Spekulation nach oben gehebelt. Die expansive Geldpolitik und mit ihr die Spekulation des fiktiven Kapitals erschaffen inflationäre Tendenzen. Gleichzeitig ermöglicht die expansive Geldpolitik und mit ihr die expansive Kreditpolitik, die multipolare Neuausrichtung der Lieferketten. Die derzeitigen inflationären Tendenzen sind nicht so sehr den beschädigten Lieferketten geschuldet, sondern der multipolaren Neuorganisation des Kapitals als Totalität. Die Neuorganisation des Kapitals, konkret die Neuorganisation der Lieferketten, führt auch in Deutschland zu Tendenzen, welche die Versorgung mit Waren beeinträchtigen.

Mit der Neuzusammensetzung des Kapitals im multipolaren Weltmarkt verändert sich auch der bürgerliche Staat. Die Repression des bürgerlichen Staates nimmt gegenüber der Arbeiterklasse tendenziell zu und verdoppelt die strukturelle Gewalt des Wertgesetzes. Im neoliberalen Weltmarkt bedurfte es vor allem in den Metropolen nur der strukturellen Gewalt des Wertgesetzes für die reale Subsumtion der Arbeiterklasse unter das Diktat des Kapitals. Die direkte Gewalt des bürgerlichen Staates wurde nur zur Implementierung der neoliberalen Akkumulationsweise und bei der Verteidigung der neoliberalen Akkumulationsweise gegen Revolten aktiviert. Im neoliberalen Weltmarkt brachte sich das Wertgesetz tendenziell auf seinen Begriff. Die Deregulierung des Kapitals in der Tendenz auf den Freihandel erhöhte die Beweglichkeit des Kapitals. Das Kapital lagerte immer mehr Produktionsstätten aus, zergliederte die Produktion in immer kleinere Produktionseinheiten, welche geographisch weit auseinanderlagen und sich über verschiedene Staaten der Welt verteilten. Proletarischer Widerstand gegen die Deregulierung der Klassenbeziehungen wurde mit der Drohung und auch tendenziell mit der Realisation der Verlagerung der Produktion begegnet. Die Drohung mit Massenentlassungen und Werksschließungen brach im neoliberalen Kapitalismus fast jeden kollektiven und individuellen Widerstand.

Jedoch im multipolaren Weltmarkt kann das Kapital nicht mehr auf diese Weise verfahren. Das Kapital verliert tendenziell seine Beweglichkeit, Produktionsverlagerungen sind seit der „Corona-Krise“ mit einem hohen Risiko behaftet. Der Bruch der Lieferketten in der „Corona-Krise“ ist eine ständige Bedrohung der inneren Einheit des neoliberalen kapitalistischen Arbeits- und Verwertungsprozesses. Damit ist die materielle Basis für einen verstärkten proletarischen Widerstand gegeben. Die Schlagkraft der strukturellen Gewalt des Wertgesetzes hat tendenziell abgenommen. Aus diesem Grund greift der bürgerliche Staat stärker in den Klassenkampf ein, um die abschwächende Tendenz der strukturellen Gewalt des Wertgesetzes zu kompensieren. Der bürgerliche Staat hält sich nicht mehr wie im neoliberalen Kapitalismus im Klassenkampf direkt zurück, sondern greift sogar präventiv ein. Im multipolaren Kapitalismus ist der bürgerliche Staat permanent direkt im Klassenkampf präsent. Das Wertgesetz macht sich nicht direkt, sondern indirekt, über die Aktionen des bürgerlichen Klassenstaates, geltend. Zwar steigt im multipolaren Weltmarkt relativ die Verhandlungsmacht der Arbeiterklasse an, doch gleichzeitig wird diese wieder durch die Aktionen des bürgerlichen Staates tendenziell überspielt. Die mächtigste Waffe des Kapitals unter der Schwelle der direkten Repression der Arbeiterklasse stellt die Bundesbank dar. In Notfall wird diese bei hohen Lohnforderungen die Zinsen erhöhen und so die Akkumulation deutlich abschwächen. Jetzt würde dies jedoch das Platzen der Immobilienblase bedeuten und es würde eine deflationäre Spirale drohen. Derzeit bleibt noch die Gewerkschaftsbürokratie das zentrale Bollwerk des Kapitals, denn diese akzeptiert die Reallohnverluste der Gewerkschaftsbasis und begrenzt so die inflationären Tendenzen. Im multipolaren Kapitalismus formiert sich die Bourgeoisie leicht im bürgerlichen Ausnahmestaat (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus), d.h. die Arbeiterklasse wird öfters mit dem bürgerlichen Ausnahmestaat konfrontiert. Das historische Ziel des bürgerlichen Ausnahmestaates ist es, die Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus, d.h. das Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse, drastisch zu senken und auf diese Weise die Akkumulation zu vitalisieren. Damit sekundiert der bürgerliche Staat die Bewegung des Wertgesetzes, bzw. die Entwertungsbewegung der Ware Arbeitskraft verdoppelt sich in der unmittelbaren Entwertung der Ware Arbeitskraft im kapitalistischen Produktionsprozeß und gleichzeitig in der Aktion des bürgerlichen Staates in der politischen Sphäre. Vor dem Zusammenbruch der bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten und der Ausbreitung des neoliberalen Kapitalismus war auch in Westdeutschland der bürgerliche Staat aktiver am Klassenkampf beteiligt. Die Aktivität des bürgerlichen Staates im Klassenkampf sank im neoliberalen Akkumulationsmodel und steigt jetzt im offenen Durchbruch des multipolaren Kapitalismus wieder an.

Der Zusammenbruch des neoliberalen Weltmarktes ist eine Hegemonie-Krise innerhalb der imperialistischen Kette und ist konkret der Zusammenbruch des US-Imperialismus als hegemonialer Imperialismus. Es war der US-Imperialismus, welcher den Weltmarkt seit 1945 in seinen verschiedenen Formen garantierte. Der neoliberale Weltmarkt ist nun die letzte historische Form des Weltmarktes seit 1945, welcher sich einer Garantie des US-Imperialismus erfreuen konnte. Während der neoliberale Weltmarkt das Produkt eines hegemonialen Imperialismus, konkret des US-Imperialismus war, ist der multipolare Weltmarkt ein Weltmarkt ohne einen Hegemon und so gewissermaßen ein Vakuum, ein Durchgangsstadium zu einem neuen Hegemon, welcher dann die imperialistische Kette und damit den Kapitalismus als Totalität organisiert. Erst mit einem neuen Hegemon ist der multipolare Weltmarkt beendet und das Vakuum innerhalb der imperialistischen Kette beseitigt, solange jedoch stellt der multipolare Weltmarkt eine Hegemonie-Krise dar. Eine Hegemonie-Krise nicht bezogen auf eine bestimmte Metropole, sondern bezogen auf die imperialistische Kette als Totalität. Ohne einen Hegemon der imperialistischen Kette bleibt der Weltmarkt ungarantiert und somit prekär. Es setzt notwendig ein Kampf um die Hegemonie innerhalb der imperialistischen Kette ein, d.h. der multipolare Weltmarkt ist nur ein Durchgangsstadium zu einem neuen garantierten und geordneten Weltmarkt. Ein neuer Hegemon entsteht nur aus einer innerimperialistischen Konfrontation, welche sich in Form eines Dritten Weltkrieges oder durch eine Kette von imperialistischen Kriegen unmittelbar in den Metropolen oder indirekt in der Peripherie vollziehen kann. Der innere Druck nimmt durch die weitere Entfaltung der Großen Krise zu, außert sich in Streiks und Revolten und die Bourgeoisie versucht diese inneren Widersprüche nach außen gegen einen äußeren Feind zu kanalisieren, womit dann in der internationalen Arena die Eskalation der Widersprüche erfolgt. Alle Metropolen sind gegenwärtig mit einer Welle proletarischen und kleinbürgerlicher Massenunzufriedenheit konfrontiert, denn die inflationären Tendenzen aufgrund der Tendenzen zur internationalen Entflechtung (De-Globalisierung) des Kapitals senken die Reallöhne und vor allem real sehr deutlich die sozialen Transferleistungen. Die Große Krise, der Klassenkampf, zwingt dem Kapital das Tempo der Neuzusammensetzung des Kapitals auf. Die verstärkte Tendenz des Klassenkampfes auf Basis einer breiten proletarischen Massenunzufriedenheit treibt das Kapital voran, durch eine Neuzusammensetzung des Kapitals in einem vermeintlich „Grünen Kapitalismus“ ein neues Gleichgewicht der sozialen Klassen, ein neues Akkumulationsregime zu schaffen. Der „Grüne Kapitalismus“ weist eine Tendenz zur Autarkie auf und ist eine Antwort auf die Probleme des zusammenbrechenden neoliberalen Weltmarktes. Durch die multipolare Entflechtung des neoliberalen Weltmarktes erschwert sich der Einkauf von strategischen Rohstoffen. Vor allem der deutsche Imperialismus hat relativ wenig Rohstoffvorkommen im allgemeinen und noch weniger Rohstoffvorkommen bezüglich der strategischen Rohstoffe im besonderen, ist also besonders vom Weltmarkt abhängig. Das deutsche Kapital ist hautsächlich auf die Weiterverarbeitung ausgerichtet und weist nur eine relativ geringe Grundstoffindustrie aus. Das deutsche Kapital kontrolliert auf dem Weltmarkt relativ nur geringe Rohstoffvorkommen. Aus diesem Grunde muß das deutsche Kapital mit anderen Metropolen kooperieren. Dies wird noch deutlicher, wenn man die Transportwege miteinbezieht. Vor allem der US-Imperialismus kontrolliert die Transportwege der strategischen Rohstoffe und ist kein enger Verbündeter des deutschen Imperialismus mehr. Immer mehr wird Verhältnis zwischen dem US-Imperialismus und dem deutschen Imperialismus ein Feindverhältnis. Um die Energieversorgung des deutschen Kapitals sicherzustellen, versucht das deutsche Kapital seine Energieversorgung auf erneuerbare Energieträger umzustellen, um so eine relative Unabhängigkeit in der Energieversorgung von seinen Weltmarktkonkurrenten zu erreichen. Der US-Imperialismus, der britische Imperialismus, der französische Imperialismus und auch der russische Imperialismus haben einen besseren Zugang zu den Rohstoffvorkommen und können auch die Transportwege besser schützten als der deutsche Imperialismus. Die Energieversorgung ist die Achillesferse des deutschen Imperialismus. Aus diesem Grunde ist auch der Rückgriff auf die Atomkraft für das deutsche Kapital keine Lösung, denn das benötigte Uran oder gar Plutonium kann das deutsche Kapital nur bei seinen oben genannten Weltmarktkonkurrenten erwerben und der deutsche Imperialismus ist zu schwach, die Transportwege militärisch zu schützen. Nun versucht der deutsche Imperialismus über den Ausbau von regenerativen Energien wie Windkraft, Wasserkraft, Solarenergie, Biomasse und „grünen Wasserstoff“ eine neue Energie-Souveränität zu gewinnen. Es ist auch ein Autarkie-Moment im Sinne einer Autarkie-Tendenz, welche den multipolaren Weltmarkt durchzieht. Es geht dem deutschen Kapital nicht um den Umweltschutz, um den „Klimaschutz“, sondern um seine Neuorganisation auf dem Weltmarkt. Der „Grüne Kapitalismus“ ist ein „Grüner Imperialismus“. Auch der deutsche Imperialismus kann sich nur relativ in der Energiefrage vom Weltmarkt abkoppeln, d.h. Öl und Erdgas bleiben weiterhin strategische Rohstoffe. Ohne Öl und Erdgas kann das deutsche Kapital nicht akkumulieren, es kann über den Ausbau der regenerativen Energien nur relativ seine Abhängigkeit von Öl und Erdgas reduzieren. Auch weiterhin stehen Öl und Erdgas im Zentrum imperialistischer Politik und somit auch im Zentrum der Politik des deutschen Imperialismus. Die Energieversorgung des deutschen Imperialismus ist nur dann gesichert, wenn das deutsche Kapital bereit ist, gegen die anderen imperialistischen Metropolen notfalls in einem Dritten Weltkrieg für die Sicherung des zentralen Zugriffs des deutschen Kapitals zu kämpfen. Diese potentielle Kriegsbereitschaft des deutschen Imperialismus in einem notwendigen dritten Griff zur Weltmacht wird durch einen „Grünen Kapitalismus-Grünen Imperialismus“ abgetarnt. Einen höheren Grad der relativen Unabhängigkeit von der Energiezufuhr des Weltmarktes, ist die Vorbedingung für den imperialistischen Krieg. Hinter dem „Grünen Kapitalismus-Grünen Imperialismus“ wartet geduldig der Dritte Weltkrieg. Der Krieg ist nichts anderes als die Fortsetzung der Konkurrenz, bzw. der Weltmarktkonkurrenz mit anderen Mitteln. Ein „Grüner Kapitalismus-Grüner Imperialismus“ ist damit kein Beitrag zum Weltfrieden, sondern ein Beitrag zum Dritten Weltkrieg. Da der „Grüne Kapitalismus-Grüner Imperialismus“ das Problem der sicheren Energieversorgung des deutschen Kapitals nicht lösen kann, weil die regenerativen Energiequellen kein Ersatz für die konventionellen Energieträger sind, bleibt eine Entspannung in der Energiefrage zwischen den Metropolen unmöglich.

Die „Energiefrage“ kompliziert sich noch dadurch, daß seit dem Ende des Bretton Woods-Systems der US-Dollar an das Öl gebunden ist. Nur deshalb blieb nach dem Ende der Golddeckung der US-Dollar noch Weltgeld. Der US-Imperialismus konnte hatte das Privileg sich in eigener verschulden zu können. Die derzeitige Große Krise nimmt dem US-Imperialismus seine hegemoniale Position innerhalb der imperialistischen Kette und stellt auch den US-Dollar als Weltgeld zur Disposition. Damit hat der US-Dollar nur dann eine Aussicht als eine Funktion von Weltgeld zu fungieren, wenn der US-Imperialismus de facto das Öl und auch das Erdgas, wie auch weitere strategische Rohstoffe monopolisiert. Doch eben daran scheitert der US-Imperialismus. Die enorme Verschuldung des US-Imperialismus läßt sich nur durch Monopolisierung der strategischen Rohstoffe realisieren und so hängt der US-Dollar, hängt der US-Imperialismus an der Fakturierung des Öls in US-Dollar. Dies ermöglicht den US-Imperialismus als Importeuer der letzten Instanz den Weltmarkt zu stabilisieren. Nur durch die Ölbindung des US-Dollar kann die US-Verschuldung bewältigt werden, ansonsten bricht der US-Imperialismus unter seiner Schuldenlast zusammen. Ein „Grüner Kapitalismus-Grüner Imperialismus“ ist ein verdeckter Angriff auf den US-Dollar, auf den US-Imperialismus. Der US-Imperialismus tritt die Flucht nach vorn an und muß sich auch selbst neu organisieren, denn für eine einfache Abwehr ist er bereits zu schwach.

Kapitalistischer Barnstar.png

Gegenwärtig trifft der US-Imperialismus auf China als seinen härtesten Konkurrenten. China ist der größte Gläubiger des US-Imperialismus und die USA stellen für China den größten Exportmarkt dar, wie im Gegenzug China das immer weiterwachsende US-Defizit finanziert, zumindest bis jetzt. Für den US-Imperialismus stellt China mittlerweile ein Problem dar, da China in seiner kapitalistischen Produktivkraftentwicklung in den Bereich der kompliziert-zusammengesetzten Arbeit vorstößt und damit hochentwickelte Waren produzieren kann, welche den technischen und ökonomischen Vorsprung der USA vor China bedrohen. Aus diesem Grunde der Wirtschaftskrieg des US-Imperialismus gegen China, der jedoch scheitert. Wenn der Wirtschaftskrieg gegen China scheitert, kann der US-Imperialismus nur auf den Krieg zurückgreifen und riskiert dann den Dritten Weltkrieg. Die derzeitige Situation eines sich beschleunigen relativen Abstiegs des US-Imperialismus, materialisiert in der Niederlage im Afghanistan-Krieg, führt zu einem relativen Aufstieg Chinas im Verhältnis zum US-Imperialismus und drängt den US-Imperialismus in den Krieg gegen China. Noch ist der US-Imperialismus China militärisch überlegen, doch die schnelle Entwicklung Chinas geht auch mit einer chinesischen Aufrüstung daher, so daß mittelfristig China mit den USA auf militärischen Gebiet tendenziell gleichziehen kann. Diese Zeitspanne ist dann eine gefährliche Zeitspanne, denn der absteigende US-Imperialismus hat noch die vage Möglichkeit, den Aufstieg Chinas über einen Großkrieg oder gar Dritten Weltkrieg aufzuhalten. Bisher wurde der US-Imperialismus von einem Krieg gegen China nur vom russischen Imperialismus zurückgehalten, denn ein Bündnis zwischen China und Rußland stellt China unter dem Schutz des russischen Imperialismus. Nur der russische Imperialismus ist militärisch in der Lage jetzt mit dem US-Imperialismus gleichzuziehen und so steht China auch unter dem Schutz des russischen thermonuklearen Arsenals. Nur der militärische russische Schutzschirm hat China bis jetzt vor einem Angriff des US-Imperialismus bisher bewahrt. Die militärische Abschreckungswirkung des russischen Imperialismus läßt den US-Imperialismus vor einem Angriff auf China zögern. Je länger der US-Imperialismus einen Angriff gegen China hinauszögert, desto stärker wird der eurasische Kapitalismus, der sich zentral um Rußland und China bildet. Langsam aber sicher werden Rußland und China zusammen mit der Zeit immer stärker. Die Zeit spielt für Rußland und China und wendet sich gegen den US-Imperialismus. Das Kräfteverhältnis zwischen den USA auf der einen Seite und Rußland und China auf der anderen Seite verschiebt sich langsam zugunsten von Rußland und China. Diese Entwicklung läßt sich nur über einen Dritten Weltkrieg oder über eine Kette von imperialistischen Kriegen umkehren und dieser Krieg muß jetzt geführt werden, denn je länger er von dem US-Imperialismus hinausgezögert wird, desto schwächer wird der US-Imperialismus, desto geringer der Sieg. Wird der imperialistische Krieg nicht jetzt geführt, dann zerbricht der Weltmarkt in verschiedene imperialistische Großräume und die imperialistische Kriegsgefahr zwischen den verschiedenen imperialistischen Blöcken wächst zeitverzögert an. Die USA und China sind zwei feindliche Brüder, welche ohne einander nicht leben können, aber doch in einem so scharfen Widerspruch zueinander stehen, daß sie in einem Existenzkampf fixiert sind, wo es nur einen Überlebenden geben kann, es ist ein Verhältnis von Zerstörung und gleichzeitiger Selbstzerstörung. Die USA und China können nicht gemeinsam leben, sondern nur gemeinsam sterben. Nach dem Untergang des US-Imperialismus als Hegemon ist China nicht automatisch der neue Hegemon und auch nicht zukünftig. Der Thron des Hegemons ist verwaist und die Thronfolge ist unklar und offen und wird erst im Dritten Weltkrieg oder in einer Kette von imperialistischen Kriegen geklärt. Eine Weltmacht geht nicht friedlich unter, sondern reißt die Welt mit in seinen Untergang. Der reale Untergang des chinesischen Immobilienkonzerns „Evergrande“ wird die Akkumulation des chinesischen Kapitals erheblich verlangsamen und mit der Verlangsamung der Akkumulation der USA wird sich die Große Krise verschärfen. Dies wird auch der deutsche Imperialismus merken, denn dessen zentrale Märkte sind China und die USA. Das deutsche Kapital wird nun notwendig seine Deflationspolitik forcieren, um die Rückschläge aus dem chinesischen Markt zu kompensieren, vor allem aber wegen der Eskalation des transatlantischen Wirtschaftskrieges gegen China. Unter dem Label des Umweltschutzes, konkret „Klimaschutz“ wird ein transatlantischer Wirtschaftskrieg gegen China geführt. Das Ziel ist nicht die Verbesserung des ökologischen Zustandes der Welt, sondern das chinesische Kapital von dem Ausbau der Mehrwertproduktion auf Basis kompliziert zusammengesetzter Arbeit abzudrängen, denn dann bleibt China von den transatlantischen Metropolen abhängig, welche mit höherer Produktivkraft der Arbeit produzieren. Aus diesem Grunde versuchen die transatlantischen Metropolen neue Normen international zu verankern. Unter dem Ziel der „sauberen“ Produktion versteckt sich der Wirtschaftskrieg. Es sollen nur noch Investitionen aus „sauberer Produktion“ gefördert bzw. gar finanziert werden. Der bürgerliche Staat, das Monopolkapital und internationale transatlantisch determinierte Organisationen der imperialistischen Kette versuchen gegen China neue Normen für die Mehrwertproduktion zu setzten. Damit soll konkret die imperialistische Hegemonie über die Peripherie abgesichert werden. Die neuen angestrebten Regelwerke über „saubere Produktion“ sollen für den ganzen Weltmarkt gelten. Die Peripherie erhält nur dann finanzielle Ressourcen für ihre Entwicklung, wenn sie sich dem neuem ökonomisch-ökologischen Regelwerk des Imperialismus unterwirft. China setzt dagegen eigene Normen und versucht ebenfalls auf dem Weltmarkt zu realisieren. Dies firmiert unter dem Begriff „Projekt Seidenstraße“. Der transatlantische Wirtschaftskrieg gegen China wird China dazu zwingen, aus sich selbst heraus den „Großen Sprung“ in die Mehrwertproduktion vermittels kompliziert zusammengesetzter Arbeit zu versuchen. Das Ende ist offen. Klar ist jedoch, daß China auch auf anderen Gebieten zurückschlagen wird und dies kann den deutschen Export nach China deutlich treffen. Der US-Imperialismus ist bereit in diesem Wirtschaftskrieg gegen China weiter zu gehen, als der deutsche Imperialismus gewillt ist, denn der deutsche Imperialismus ist für die nächste Zeit auf den chinesischen Exportmarkt angewiesen. Der transatlantische Wirtschaftskrieg gegen China ist selbst prekär und von Widersprüchen durchzogen, wie Anlaß zu steigenden Zerwürfnissen zwischen dem deutschen und dem US-Imperialismus.

Die Neuformation der imperialistischen Kette materialisiert sich in dem US-Rückzug aus Afghanistan, der zur Flucht ausartete, in den Ereignissen um Syrien, d.h. um die Rückeroberung des gesamten südlichen Syriens durch die Regierungstruppen mit der Grenzöffnung zu Jordanien und dem Ende des syrischen Boykotts durch die arabischen Staaten, was Syrien wieder in das internationale System integriert. Auch die Differenzen der NATO-Staaten mit ihrem Verbündeten Türkei und gleichzeitig die Differenzen Rußlands mit der Türkei sind ein Moment der Neuordnung des Mittleren Ostens und damit der imperialistischen Kette. Die Türkei versuchte die USA/NATO auf der einen Seite und Rußland auf der anderen Seite auszuspielen. Bezüglich der Türkei scheinen sich die USA und Rußland zu verständigen um der Türkei Grenzen zu setzen. Hier geht es auch um die türkische Besetzung von syrischen Territorien. Die Syrien-Frage ist eine zentrale Frage bei der Neuformierung der imperialistischen Kette. In Ostasien scheint der russische Imperialismus China und Nordkorea mit Hyperschallwaffen tendenziell zu unterstützen, um das Gleichgewicht dort zu erhalten. Die „Corona-Krise“ tritt in eine finale Phase ein, wo weltweit die Neuzusammensetzung des Kapitals im multinationalen Weltmarkt langsam sichtbar wird.

Vor 1989 war es der „Systemwettbewerb“ gegen die bürokratisch entarteten Arbeiterstaaten, heute bezeichnet die Bourgeoisie ihr Verhältnis zum imperialistischen und kapitalistischen ebenso als „Systemwettbewerb“, wie auch zum kapitalistischen China. Der Begriff „Systemwettbewerb“ im Programm der Bourgeoisie bedeutet für die Arbeiterklasse im ein Mehr an Repression des bürgerlichen Staates. Der Begriff „Systemwettbewerb“ meint „Systemkonkurrenz“ und ist ein Synonym für den Begriff „äußerer Feind“. Jedoch kein „äußerer Feind“ ohne einen „inneren Feind“ um umgekehrt. Der „äußere Feind“ ist nur dann ein „äußerer“ Feind, wenn man einem Staat beschuldigt, sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen, z.B. indem die Opposition unterstützt oder gar finanziert wird. Auf diese Weise wird die Opposition zum „inneren Feind“. Mit der Bestimmung eines „äußeren Feindes“ wird der „innere Feind“ bestimmt.

Für den bürgerlichen Staat im multipolaren Kapitalismus erscheint die Opposition, hier vor allem die außerparlamentarische Opposition und tiefergehende gesellschaftliche und politische Kritik, als „Extremismus,“ wenn nicht gar als „Terrorismus“. Die „Staatssicherheit“ steht an erster Stelle. Die Bourgeoisie und ihr bürgerlicher Staat erklären eine Deflationspolitik als notwendig und jeden Widerstand gegen diese Deflationspolitik als „Gefährdung der nationalen Sicherheit“. Eine politische Opposition gegen die Deflationspolitik wird vom bürgerlichen Staat im multipolaren Kapitalismus nicht geduldet. Die explizite Gewichtsverlagerung des bürgerlichen Staates wird eingeleitet, daß der Begriff des „Linksextremismus“ wieder aktiviert wird. Dieser Begriff des „Linksextremismus“ wird als spezifische „Menschenfeindlichkeit“ gegen bestimmte soziale Gruppen und Personen vom bürgerlichen Staat definiert und damit auf der gleichen Stufe gestellt wie der „Rechtsextremismus“. Der bürgerliche Staat aktiviert jetzt wieder die „Totalitarismusdoktrin“, welche die Repression des bürgerlichen Klassenstaates legitimieren soll. Die Gleichsetzung von „Rechtsextremismus“ und „Linksextremismus“ kann dann dazu führen, daß der bürgerliche Staat ein „Querfront-Ideologem“ konstruiert, so daß jede Kritik an der Deflationspolitik als offen oder verdeckt totalitär denunziert werden kann. Damit erhalten dann die repressiven Staatsapparate die ideologische Rückendeckung für eine Ausweitung der Repression gegen die Arbeiterklasse. Ausweitung der Repression der Repressionsapparate des bürgerlichen Klassenstaates gegen die Arbeiterklasse meint vor allem auch eine engere Zusammenarbeit mit den sozialen Staatsapparaten des bürgerlichen Staates, hier vor allem mit dem Arbeitsamt-Agentur für Arbeit, Jobcenter gegen die erwerbslosen Lohnarbeiter und Lohnarbeitern, die ihren geringen Lohn mit ergänzenden sozialen Transferleistungen aufstocken, aber vor allem auch mit dem Kapitalkommando. Die schon heute schon mehr oder minder „gläsernen Belegschaften“, bzw. die „gläsernen“ Lohnarbeiter werden einer informellen, bzw. „wilden“ Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Der digitale „Impfpass“ ist schon heute ein „Passierschein“ und kann das System kann noch zum chinesischen Sozialkreditsystem ausgebaut werden. Das Ziel ist das Zusammenwachsen der Datenspeicher des bürgerlichen Staates mit den Datenspeichern des Kapitalkommandos für die Erstellung Schwarzer Listen, die auf neue Berufsverbotspraxis zielen. Eine präventive Rasterfahndung nach „Sicherheitsrisiken.“ Wer nur als „Sicherheitsrisiko“ eingestuft wird, wird der Repression zugeführt. Die Repression des bürgerlichen Staates geht präventiv vor, will schon vor Entfaltung der Klassenkämpfe die potentiellen „Rädelsführer“ einer autoritären Sonderbehandlung zuführen. Dies läßt sich nur dann realisieren, wenn vor allem der bürgerliche Staatsapparat eng mit dem Kapitalkommando zusammenarbeitet und am besten noch mit der Gewerkschaftsbürokratie.

Ohne die Ausweitung der Repression des bürgerlichen Staates und der Repression des individuellen Kapitalkommandos gegen die Arbeiterklasse läßt sich eine Deflationspolitik im gegenwärtigen krisenhaften multipolaren Weltmarkt nicht realisieren. Die neue Bundesregierung aus SPD, Grüne und FDP unter Führung der SPD unter dem neuen Bundeskanzler Scholz bezieht sich abstrakt auf „Systemwettbewerb“ und „Bekämpfung des Linksextremismus“, aber sehr konkret auf die Flexibilisierung der Arbeitszeit mit gewerkschaftlicher Mitsprache. Die Gewerkschaften sollen wie bei der Leiharbeitsbranche untertarifierte Tarifverträge abschließen, welche negativ von den gesetzlichen Vorschriften abweichen. Dies wird dann als „Experimentierklauseln“ bezeichnet. Soziale Experimente an Lohnarbeitern. Vor allen das enge Verhältnis zwischen der SPD und der Gewerkschaftsbürokratie läßt befürchten, daß diese Flexibilisierung der Arbeitszeit im Sinne des Kapitals Wirklichkeit werden könnte. Die Gewerkschaftsbürokratie hatte unter der SPD-Grüne-Regierung unter Bundeskanzler Schröder Hartz IV, Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen und untertarifierte Tarife bezüglich der Leiharbeitsbranche akzeptiert. Unter den gegenwärtigen Zuständen der Massenunzufriedenheit in einem neuerlichen Krisenschub der Großen Krise droht offener Widerstand durch die Arbeiterklasse. Auch Revolten sind möglich. Hartz IV wurde in einer Krise friedlich durchgesetzt, nicht aber in einer Großen Krise, wie sie seit 2007/2008 besteht. Dies ist ein qualitativer Unterschied. Es bedarf ein Mehr an bürgerlicher Repression von Seiten des Kapitals und des bürgerlichen Staates, wenn das Kapital eine Deflationspolitik und konkret eine Flexibilisierung der Arbeitszeit erreichen will. Aus diesem Grunde wird die Gefahr des „Linksextremismus“ zum Anschlag gebracht. Widerstand gegen die Arbeitszeitflexibilisierung wird als „linksextremistisch“ denunziert und legitimiert dann den Terror des Kapitalkommandos und des bürgerlichen Staates. Die Mobilisierung des Begriffs „Linksextremismus“ macht deutlich, daß der bürgerliche Staat bereit ist, die Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus frontal anzugreifen, d.h. die Neuzusammensetzung des Kapitals tritt in die entscheidende Phase, d.h. die Arbeiterklasse steht konkret von der Neuzusammensetzung durch das Kapital, wenn sie nicht ihre eigenen historischen Interessen formuliert und vertritt.

Der Notstand, ob erklärt oder nicht erklärt, ob „Corona-Notstand“ oder ein anderer Notstand, er wird erhalten bleiben, entweder offen oder verdeckt in der Hinterhand. Entweder ist „Gefahr im Verzuge“ durch die SARS-Corona-Pandemie“ oder aus einem anderen Grund, z.B. durch die sich vertiefende Krise der Akkumulation. Die Bourgeoisie muß keinen gesetzmäßigen Notstand realisieren. Auch hier wieder Carl Schmitt: Souverän ist der, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Die normative Macht des Faktischen, die Klassenherrschaft, entscheidet immer politisch, niemals juristisch. Die Frage des Notstands ist keine juristische Frage, sondern eine politische Frage, eine Frage des Klassenkampfes.

Die Repression des bürgerlichen Staates zielt auf die Vertiefung der Spaltung in der Klasse, zielt auf die Desorganisation der Arbeiterklasse bis hin zur Atomisierung. Der „Corona-Notstand“ hat es geschafft, die Arbeiterklasse in die Atomisierung zu desintegrieren. Individuum steht gegen Individuum, jedes andere Individuum stellt für ein anderes Individuum eine Gefahr, eine Bedrohung dar. Der bürgerliche Notstandsstaat verspricht den vereinzelten Individuen Schutz und fordert im Gegenzug Gehorsam ein. Widerstand gegen diese Notstandsregelung ist faktisch ein Staatsverbrechen, ist Hochverrat an Staat und Volk. Widerstand gegen den Notstandsstaat, in welcher Form auch immer und schon Kritik gehört dazu, führt zur Kennzeichnung als „Staatsfeind“ und verfällt dem Feindrecht. Wer sich dem Gehorsam gegen über der Politik des Notstandsstaates verweigert, d.h. konkret sich der Deflationspolitik verweigert, wird zum „Extremisten“, ob Links- oder Rechtsextremist“ oder beides zusammen einer vermeintlichen Querfront. Ein „Staatsfeind“ ist immer ein „Extremist“, ist immer ein potentieller „Terrorist“. Wer sich dem Notstandsstaat verweigert und den Begriff „Demokratie“ benutzt, ist ebenfalls ein „Extremist“ und wird dementsprechend behandelt. Die Bourgeoisie formuliert ein „Neusprech“: Notstand ist Demokratie. Um die inneren Widersprüche zu überdecken bedarf es eines äußeren Feindes, der das Land im inneren gegen den äußeren Feind eint.

Die Arbeiterklasse wird zentral um den Begriff „politischer Zuverlässigkeit“ und damit um „Loyalität“ zur bürgerlichen Gesellschaft (das schließt „Loyalität“ zum Kapitalkommando und zum bürgerlichen Staat mit ein) vom Kapital neu organisiert. Es reicht nicht mehr, im kapitalistischen unmittelbaren Produktionsprozeß im Sinne des Kapitals zu funktionieren, sondern es muß vermehrt die „Loyalität“, die Treue, zur bürgerlichen Gesellschaft als Ganzes nachgewiesen werden. Nicht nur die aktuelle und vergangene Treue zur bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch die zukünftige Treue zu derselben wird gefordert und wird auch versucht zu erfassen. Die KI (Künstliche Intelligenz) hat die Aufgabe „Pre-Crime-Daten“ zu erfassen und über die KI wird eine Hierarchie von möglichen „Sicherheitsrisiken“ konstruiert. Der Lohnarbeiter wird im multipolaren Weltmarkt vermehrt durch die Brille des „Sicherheitsrisikos“ betrachtet und bezieht sich auf den ganzen Lohnarbeiter und nicht nur auf den Lohnarbeiter im unmittelbaren Produktionsprozeß. Auch die Lebensäußerungen des Lohnarbeiters außerhalb der Fabrik werden in das Arbeitsverhältnis in Form der „Sicherheitsrisikoerfassung“ durch das Kapitalkommando unter Nutzung von privaten und staatlichen Datenbanken. zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter einbezogen. Die Erfassung des individuellen „Sicherheitsrisikos bei jedem Lohnarbeiter ist die materielle Grundlage für eine „Sicherheitsüberprüfung“ durch das Kapitalkommando bzw. dem bürgerlichen Staat. Und diese direkte oder indirekte „Sicherheitsüberprüfung“ durch Kapitalkommando und bürgerlicher Staat wird immer mehr ein zentrales Selektionsinstrument für die Distribution der Lohnarbeiterklasse in die Kernbelegschaft-Randbelegschaft und industrielle Reservearmee. Über die permanente Sicherheitsüberprüfung eines jeden Lohnarbeiters bleibt der Selektionsdruck nicht nur bei der Einstellung in ein Arbeitsverhältnis hoch, sondern auch im langjährigen Arbeitsverhältnis. Fällt die Sicherheitsüberprüfung negativ aus, droht Repression. Versetzung und Entlassung sind dann die Folgen, wie Aufnahme in die „Schwarzen-Listen“ des Kapitals und des bürgerlichen Staates, was ein Berufsverbot zur Folge haben kann.

Politische Zuverlässigkeit heißt auch, Wahrung des Betriebs- und Geschäftsgeheimnisses, wie und vor allem auch des Staatsgeheimnisses. Die Tendenzen zum Notstandsstaat führen auch zur Ausbreitung des „Geheimschutzes.“ Das Kapitalkommando, wie der bürgerliche Staat versuchen immer mehr Sektoren des Alltags dem „Geheimschutz“ zu unterwerfen. Hinter dem Betriebs- und Geschäftsgeheimnis, hinter dem Amtsgeheimnis, dem Staatsgeheimnis beginnt die Macht der Bourgeoisie. In der Bourgeoisie geht die Angst um, daß Julian Assange und Edward Snowden auf vielen gesellschaftlichen Ebenen Nachahmer finden, und die Geschäfts-Betriebs- und Staatsgeheimnisse der proletarischen Öffentlichkeit übergeben. Über die Ausdehnung des „Geheimschutzes“ werden immer mehr Bereiche des Alltags zu Tabuzonen für den proletarischen Meinungsaustausch erklärt und den Lohnarbeitern der Mund verschlossen. Das Prinzip der herrschenden Klasse „Teile und herrsche“ wird weiter vorangetrieben. Damit ist die Ausdehnung des „Geheimschutzes“ nur ein Moment in der Ausdehnung der Zensur. Der „Geheimschutz“ ist Zensur, für die unmittelbar Betroffenen, wie für Dritte und hier besonders für die bürgerlichen Medien. Eine Politik ausgedehnten „Geheimschutzes“ ist Gleichschaltung im Rahmen einer Zensur. Immer mehr taucht eine indirekte moderne Zensur in den bürgerlichen Medien auf, welche zentral auf Selbstzensur zielt. Die bürgerlichen Medien sind im wesentlichen gleichgeschaltet zur Verteidigung des „nationalen Wohls“ bzw. der „Staatssicherheit“ im Sinne einer psychologischen Kriegsführung gegen die Arbeiterklasse. Das Ziel der psychologischen Kriegsführung ist die Kontrolle über die Meinungsbildung und damit die politische Kontrolle über die Arbeiterklasse. Gerade in der sich verschärfenden gegenwärtigen Krise ist dies eine gefährliche Waffe gegen das Proletariat. Die Psychologische Kriegsführung zielt darauf ab, die Arbeiterklasse zu desorganisieren und zu atomisieren. Die stärkste Waffe des Proletariats ist die Organisation, das demokratisch abgestimmte freiwillige kollektive Handel im Sinne einer Einheitsfront gegenüber dem Kapital. Ohne eine freie Meinungsbildung, ohne eine freie Diskussion, kann sich kein proletarischer-demokratischer Wille herausbilden, der sich den proletarischen Massenorganisationen vergegenständlicht. Mit den Methoden der Psychologischen Kriegsführung versucht die Bourgeoisie die Arbeiterklasse politisch zu zersetzten und zu steuern. Die materielle Basis für die Psychologische Kriegsführung ist der Komplex des „Geheimschutzes“, also das Betriebs- Geschäfts- und Amtsgeheimnis, Staatsgeheimnis. Aus diesem Grund fordert die Arbeiterklasse die Aufhebung dieses „Geheimschutzes“, die Aufhebung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnis, wie aller Arten des Amtsgeheimnisses, bzw. Staatsgeheimnisses.

Der Bourgeoisie geht es um die kapitalistische Pazifizierung. Vor allem über die Repression soll der „innere Frieden“ garantiert werden. Konkret geht es um die Entpolitisierung der Arbeiterklasse. Eigenständige, autonome, proletarische Massenorganisationen werden vom Kapital nicht geduldet. Vermehrt wird versucht den offiziellen Notstand der „nationalen epidemischen Notlage“ in die normale Gesetzgebung einzuarbeiten und damit wird diese normale Gesetzgebung mit dem Notstand indiziert und in einen permanenten Notstand umgearbeitet. Auch wenn der formale nationale Notstand aufgehoben wird, besteht er inoffiziell weiter, da seine einzelnen Momente in die normale Gesetzgebung eingearbeitet wird. Alle Beschränkungen des Alltags bleiben potentiell erhalten und werden von der Bundesregierung oder von den Landesregierungen aktiviert oder deaktiviert. Damit kann weiter die Massenorganisierung behindert oder gar verhindert werden, wenn es dem bürgerlichen Staat notwendig erscheint. Die politische Atomisierung der Arbeiterklasse bleibt erhalten, sie kann gelockert oder angezogen werden, bleibt aber immer präsent. Die neue Bundesregierung unter der Bundeskanzlerschaft von Olaf Scholz plant nur ein formales Ende der „nationalen epidemischen Notlage“ auf Bundesebene. Sie wird durch eine neue Übergangsregelung bis Ende März 2022 ersetzt. Man hätte bis Ende März auch die alte Regelung in Kraft lassen können, denn es ändert sich nur unwesentliches. Ob die Übergangsregelung dann Ende März 2022 ausläuft bleibt real offen.

Entscheidend ist niemals der formale Notstand, sondern der reale, auch informelle, Notstand. So hat es auch nichts zu bedeuten, daß die Übergangsregelung des „Corona-Notstandes“ im März 2022 ausläuft. Ohne weiteres kann er jederzeit offen oder verdeckt mit einer beliebigen Begründung wieder in Kraft gesetzt werden.

Der „Corona-Notstand“ bezeichnet nur den Beginn der Neuzusammensetzung des Kapitals. Das primäre Ziel des Notstands ist es, die Arbeiterklasse zu disziplinieren, indem die widerständigen proletarischen Kerne, welche als „Sicherheitsrisiken“ gelten, mit Hilfe der tendenziell gleichgeschalteten Gewerkschaften, einschließlich der Betriebsräte, aus den Betrieben gesäubert werden. Es wurden im Notstand die gesamte Lohnarbeiterklasse und ihre Massenorganisationen, vor allem hier die Gewerkschaften, diszipliniert. Aus Angst vor der Repression des bürgerlichen Staates unterwarf sich die Gewerkschaftsbürokratie dem bürgerlichen Notstandsstaat und lähmte damit den proletarischen Widerstand. Sollte der „Corona-Notstand“ aufgehoben werden, bleibt die Disziplinierung weiterbestehen, sie verschwindet nicht mit dem Notstand. Die Disziplinierung der Arbeiterklasse dem multipolaren Weltmarkt gemäß ist die „Neue Normalität“ und das Ziel des Notstandes ist es, eine „neue multipolare Normalität“ zu schaffen. Der Notstand ist kein Selbstzweck. Ein Zurück zur „neoliberalen Normalität“ ist nicht mehr möglich. Kommt die Bourgeoisie zu dem Schluß, daß die Arbeiterklasse noch nicht genug diszipliniert ist, wird der Notstand mit einem Vorwand wiedereingeführt, ob offen oder verdeckt. Es wird mit Zuckerbrot und Peitsche vorgegangen, um die Arbeiterklasse auf die „neue multipolare Normalität“ zuzurichten.

Ohne eine Massenorganisierung kann die Arbeiterklasse nicht ihre materiellen Interessen vertreten und verbleibt dem Kapital gegenüber in der Defensive. Damit rückt auch das „Geheimhaltungsgebot“ immer weiter in der bürgerlichen Gesellschaft vor. Über das Betriebs- und Geschäftsgeheimnis, wie über das Staatsgeheimnis wird immer mehr der proletarische Alltag reguliert. Weite Bereiche des proletarischen Alltags werden über die Forderung nach „Vertraulichkeit“, bei dessen Bruch mit Repression durch Entlassung und/oder strafrechtlicher Verfolgung entpolitisiert. Eine Diskussion und Meinungsäußerung auch gegenüber Dritten über die konkrete Lage bezüglich eines Moments des proletarischen Klassenalltags wird damit deutlich erschwert. Auf diese Weise werden ideologisch Tabuzonen geschaffen, zu Themen, wozu es besser ist, sich nicht zu äußern und wenn, dann im Sinne der gerade vorherrschenden Position der herrschenden Klasse. Hinter dem Betriebs-Geschäfts- und Staatsgeheimnis verschanzt sich die bürgerliche Klassenmacht.

Während das Betriebs-Geschäfts- und Staatsgeheimnis repressiv Tabuzonen in der bürgerlichen Gesellschaft ausweitet und mit der „Sicherheitsüberprüfung“ (in welcher Form auch immer), die „Risikopersonen-Sicherheitsrisiken“ identifizieren will Hand in Hand geht, dient die gegenwärtige „Identitätspolitik“ als ideologische Vorhut.

Bevor die repressiven Maßnahmen des bürgerlichen Klassenstaates greifen, dient die „Identitätspolitik“ als ideologisches Glacis für den repressiven Zugriff. Längst bevor die materielle Repressivität einsetzt, setzt die ideologische Zurichtung ein, d.h. die ideologische Ausrichtung und Ausweitung von politischen Tabuzonen. Bei Mißachtung der politischen Verbotszonen droht politische und soziale Ausgrenzung. Dogmatisch wird eine „Identität“ willkürlich konstruiert, behauptet und jede andere noch so wohlwollende Position diskriminiert. Eine Diskussion ist nicht erwünscht, sogar gefürchtet. Irrationaler Moralismus ersetzt Rationalität, denn es geht nicht um eine politische Verständigung, um die Ausarbeitung einer gemeinsamen politischen Plattform, sondern um die Verhinderung einer politischen Verständigung, wobei die Differenzen als absolut gesetzt werden. Es soll ein Feindbild aufgebaut werden. Wer die ideologischen Tabuzonen der herrschenden Klasse in Frage stellt, ist schon ein „Extremist“, welcher politischen Richtung auch immer und ist schon damit ein Staatsfeind und kann ein Fall für Repressionsapparate werden. Wer die politischen Tabuzonen nicht respektiert ist „politisch unzuverlässig“ und muß auch mit beruflichen Konsequenzen rechnen, so geht die ideologische Repression in die materielle Repression über. Die ideologische Repression ist die Erscheinungsweise der materiellen Repression, ihre Aufgabe ist es, eine Massenlegitimation für die materielle Repression auszuformulieren und so die Entpolitisierung der Arbeiterklasse voranzutreiben und gleichzeitig im Schatten dieser Entwicklung die Politisierung der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums in Richtung multipolarer Kapitalismus zu fördern.

Das Ziel der „Identitätspolitik“ ist es, die Spaltung der Arbeiterklasse zu vertiefen, sie politisch zu desorganisieren. Die Diskussionen verlaufen nicht entlang der sozialen Klassenlinien, sondern es werden einzelne soziale Momente aus der Totalität der Klassenfrage willkürlich herausgelöst und zur Totalität der Klassenfrage abstrakt im Gegensatz gesetzt, um die Klassenfrage politisch auszulöschen. Damit wird innerhalb der Lohnarbeiterklasse gespalten. Statt sich auf die Klassenfrage zu beziehen, bezieht sich die „Identitätspolitik“ auf die „Menschheit“ und damit auf die „Menschheitsfragen“. In der „Menschheit“ und der „Menschheitsfrage“ verschwindet die Klassenfrage und auch die „soziale Frage“. Die Gesellschaft besteht eben nicht abstrakt aus „Menschen“, sondern konkret aus sozial ungleichen Menschen, die sich aufgrund der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse gemäß auf verschiedene und sozial ungleiche Klassen aufteilen. Die Menschen einer Gesellschaft sind nur abstrakt gleich, konkret jedoch gleichzeitig sozial ungleich, haben also unterschiedliche und gegenläufige Interessen. Jedes Individuum ist auch gleichzeitig ein Klassenindividuum. Eine Gesellschaft ist mehr als die Summe ihrer einzelnen Teile. Die Gesellschaft ist bisher eine Klassengesellschaft, damit sozial ungleich und jede soziale Klasse vertritt ihr Klasseninteresse gegenüber der anderen Klasse. Nicht die „Menschheit“ oder der „Mensch“ steht im Vordergrund, sondern die bestimmte soziale Klasse und damit das konkrete Klassenindividuum. Konkret existiert die „Menschheit“ und der „Mensch“ nur in der Klassengesellschaft und damit in der Geschichte. Die „Menschheit“ bzw. der „Mensch“ ist nicht abstrakt-ahistorisch, sondern ein offener historischer Prozeß. „Menschheitsfragen“ sind konkret Klassenfragen, sind konkret historische Fragen und somit Fragen des Klassenkampfes.

Die Natur steht den „Menschheitsfragen“ nicht abstrakt gegenüber, denn der historische Mensch ist ein Teil der Natur und geht gleichzeitig über diese hinaus. Der historische Mensch einer bestimmten historischen Produktionsweise arbeitet die Natur um und humanisiert diese Natur. Auch die Natur ist ein Moment der Geschichte, sie erscheint wie der Mensch niemals a-historisch, abstrakt, sondern nur konkret in der Geschichte einer Produktionsweise. Der „Mensch“ wie die „Natur“ ist immer materiell geprägt von einer historischen Produktionsweise mit ihrer antagonistischen Klassenspaltung und somit auch objektiv geprägt vom Klassenkampf. Wer von „Menschheitsfragen“ redet will vom Klassenkampf schweigen. Der Klassenkampf selbst ist die „Menschheitsfrage“ und damit auch die „ökologische Frage“. Die „Menschheitsfrage“ und die „ökologische Frage“ kann nur im Klassenkampf gelöst werden und ist selbst nur ein Moment der „Klassenfrage“.

Wer, wie die „Identitätspolitik“, die „Menschheitsfrage“ und die „ökologische Frage“ gegen die „Klassenfrage,“ welche als „soziale Frage“ verharmlost wird, ausspielt, schadet der „Menschheitsfrage“ und der „ökologischen Frage“, da die innere Einheit von Klassenfrage, Menschheitsfrage und ökologische Frage im Klassenkampf willkürlich zerrissen wird.

Die Ausblendung der Klassenfrage ist konstitutiv für die „Identitätspolitik“. Aus nur wenigen abstrakten Punkten wird eine „Identität“ konstruiert und daraus ein Partikularinteresse, d.h. konkret ein Privileg, abgeleitet, welches man versucht mit Hilfe des bürgerlichen Klassenstaates durchzusetzen. Als Grund wird angegeben, daß die besondere „Identität“ Opfer von Diskriminierungen sei und diese nun durch eine bevorzugte Behandlung von Seiten des bürgerlichen Staates und des Kapitals kompensiert werden könnte. Statt den Klassenkampf gegen die Bourgeoisie zu organisieren, wird um die Gunst der Bourgeoisie und des bürgerlichen Staates gebuhlt. Verzichten soll nicht die Bourgeoisie, sondern die Lohnarbeiterklasse. Die Schuld der Diskriminierungen und der Umweltzerstörung wird nicht dem Kapitalismus und damit der Bourgeoisie angelastet, sondern der Arbeiterklasse. Durch ihre gesellschaftlich notwendige Reproduktion zerstört sie die Umwelt und bereitet auch gesellschaftlichen Diskriminierungen den Weg. Der Bourgeoisie trifft keine Schuld. Im Gegenteil, es wird ein Auftrag an die Bourgeoisie und ihrem bürgerlichen Staat „erteilt“, die Lohnarbeiterklasse zu zügeln und zu disziplinieren im Sinne der „Menschheitsfragen“ und der „ökologischen Frage“. Auf diese Weise wird ein bunter Strauß von „Identitätsfragen“ an den bürgerlichen Staat gestellt, von „Identitätsfragen“, welche sich gar untereinander ausschließen können, dabei wird dann die Klassenfrage als „soziale Frage“ dann beiläufig begraben. Ist dann die Klassenfrage als „soziale Frage“ begraben, wird die Arbeiterklasse und nicht das Kapital für die negativen Momente der kapitalistischen Produktionsweise verantwortlich gemacht und soll vom bürgerlichen Staat gemaßregelt werden.

Es ist das mittlere und höhere Kleinbürgertum, welches der Träger der „Identitätspolitik“ ist. Die Resignation der Arbeiterklasse im neoliberalen Akkumulationsmodell führt dazu, daß das Kleinbürgertum, hier vor allem die mittleren und höheren Schichten desselben, in das politische Vakuum, welches der tendenzielle Rückzug der Arbeiterklasse hinterlassen hat, vorstößt. Die politische Initiative ging vor allem nach der Niederlage im Kampf gegen die Agenda 2010 und Hartz IV ab dem Jahr 2004 langsam auf die mittleren und höheren Schichten des Kleinbürgertums über. Die Resignation der Arbeiterklasse ist die materielle Basis für die derzeitige Konjunktur der „Identitätspolitik“ der mittleren und höheren Schichten des Kleinbürgertums und zielt auf die Desorganisation der Arbeiterklasse. Das Projekt des „Grünen Kapitalismus“ hat in der „Identitätspolitik“ seine Wurzeln. Auch der „Grüne Kapitalismus“ schweigt sich über die Klassenfrage in Form der „sozialen Frage“ aus, d.h. sie spielt im „Grünen Kapitalismus“ keine Rolle. Der Verzicht der Arbeiterklasse ist vorausgesetzt und die Deflationspolitik in „grüner, ökologischer, identitätspolitischer Form steht bereit und wird rücksichtslos durchgesetzt. Proletarischer Widerstand ist dann „extremistisch“ und „zukunftsgefährdend“ und somit im Sinne der „Menschheitsfragen“ egoistisch und unsolidarisch, unpatriotisch. Dies ist dann die ideologische Massenlegitimation für das Eingreifen des bürgerlichen Ausnahmestaates (Bonapartismus, Diktatur, Faschismus) um den Verzicht der Arbeiterklasse zu erzwingen. „Identitätspolitik“ arbeitet der Repression des bürgerlichen Staates voraus und fungiert als ideologische Repression.

Diese ideologische Repression schwebt nicht in freien Raum, sondern materialisiert sich in der kleinbürgerlichen „Zivilgesellschaft“ in vielfältiger Form und ist ebenso vielfältig mit dem Kapital verbunden. Diese kleinbürgerliche „Zivilgesellschaft“ ist eine Vorfeldorganisation des Kapitals gegen die Arbeiterklasse und spaltet zwischen Arbeiterklasse und Kleinbürgertum, zieht das Kleinbürgertum und hier besonders das mittlere und höhere Kleinbürgertum über die „Identitätspolitik“ auf die Seiten des Kapitals, d.h. die kleinbürgerliche „Zivilgesellschaft“ steht im relativer Autonomie zum Kapital, ist aber strukturell auf dieses ausgerichtet, wird vom Kapital finanziert, wobei das Kapital nur selten eingreift und das Kleinbürgertum der „Zivilgesellschaft“ sich selbst grundsätzlich überläßt. Entweder finanziert das Kapital seine „Zivilgesellschaft“ über „Stiftungen“ und/oder über den bürgerlichen Staat, was auch internationale Institutionen miteinschließt, Die „Stiftungen“ sind das Herz der kleinbürgerlichen „Zivilgesellschaft“; sie sind eine Tarnorganisation des Kapitals. Nur selten finanziert ein Einzelkapital ein Moment der kleinbürgerlichen Zivilgesellschaft. Denn in den „Stiftungen“ konzentriert sich das Kapitalinteresse, dort findet ein Ausgleich der Kapitalinteressen abstrakt statt und damit tritt das Kapital tendenziell als Gesamtkapital auf und nicht als vereinzeltes Einzelkapital. Um die „Stiftungen“ herum gruppiert sich die kleinbürgerliche „Zivilgesellschaft“ in einem System konzentrischer Kreise und zielt auf die mittleren und höheren Schichten des Kleinbürgertums. Die „Stiftungen“ sind mit den ideologischen Staatsapparaten des bürgerlichen Staates eng verbunden. Oftmals auch verbirgt sich die Staatsfinanzierung der kleinbürgerlichen „Zivilgesellschaft“ ebenfalls hinter den „Stiftungen.“ Die kleinbürgerliche „Zivilgesellschaft“ wird von oben nach unten, hierarchisch, organisiert.

Dies ist auch bei „Friday for Future“ so. Es gibt einen hierarchischen Aufbau von oben nach unten und keinen demokratischen Aufbau von unten nach oben. In Schweden wurde „Friday for Future“ als Markenname eingetragen und ist somit juristisch geschützt. Auf diese Weise agiert „Friday for Future“ als Vorfeldorganisation des Kapitals für das Projekt eines „Grünen Kapitalismus-Grünen Imperialismus“. Interessant wird es, wenn die weitgehend rechtlose Basis nicht mehr auf das Ziel eines „Grünen Kapitalismus-Grünen Imperialismus“ hin kanalisiert werden kann und beginnt, den Kapitalismus in Frage zu stellen. Dann würde der Kampf um „Friday for Future“ beginnen und politische und organisatorische Brüche wären unvermeidlich. Die neue Bundesregierung aus SPD, Grüne und FDP führt zu Protesten von „Friday for Future“. Es wird sich zeigen, ob die Führung von „Friday for Future“ mittelfristig in der Lage ist, diese Proteste zu kontrollieren. Auch die kleinbürgerliche „Zivilgesellschaft,“ welche durch die Organisationen des Kapitals finanziert und geführt wird, bedarf einer sozialen und politischen Massenbasis, ansonsten greifen sie ins Leere, d.h. sie müssen im gewissen Grade mit den Massen marschieren und versuchen, sie wieder einzufangen. Damit müssen sie in Worten weitergehen, als in ihren Taten. Wohin sich die kleinbürgerliche „Zivilgesellschaft“ und ihre „Identitätspolitik“ entwickelt, hängt vom Klassenkampf ab.

Die „Identitätspolitik“ marschiert gut mit dem Notstandsstaat, wobei der Notstandsstaat zum Beschützer der jeweiligen „Identität“ mutieren soll. Eine Massendiskussion wird verweigert, stattdessen soll der bürgerliche Staat autoritär das konkrete Identitätsinteresse gegen ein anderes konkretes Identitätsinteresse durchgesetzt werden. Statt Diskussion wird die Repression gefordert. Der Rückgriff auf die Zensur und vor allem auf die „freiwillige“ Zensur ist in der „Identitätspolitik“ weit verbreitet. Eine freie Diskussion und Meinungsbildung wird gefürchtet, denn eine freie Meinungsbildung stellt potentiell auch den Kapitalismus in Frage. Die „Corona-Krise“ führt zur Reduktion der relativen Autonomie der Kulturindustrie von der Mehrwertproduktion und vom bürgerlichen Staat. Die Kulturindustrie trägt die Hauptlast der „Corona-Krise“ und wird nationalliberal abgewickelt. Der bürgerliche Staat garantiert in der „Corona-Krise“ die Existenz der Kulturindustrie, welche durch die „Corona-Krise“ durchkapitalisiert und durchstaatlicht wird. Der Schein der Freiheit über den Klassen zu stehen, den „freien Geist“ zu repräsentieren, ist verflogen. Wer sich in der Kulturindustrie gegen den Notstand wendet, wird aus ihr ausgestoßen oder steht kurz davor und wer sich in der Kulturindustrie verdingen will, wird dem Notstandsstaat akzeptieren müssen. Auch die Kulturindustrie und mit ihr die kleinbürgerliche „Zivilgesellschaft“ wird in der „Corona-Krise“ neu ausgerichtet. Der Notstandsstaat fordert selbst seine „Identität“ ein. Eine Kritik an dem Notstandsstaat und an dem Notstandskapitalismus wird nicht akzeptiert. Die „Identität“ eines Notstandskapitalismus, welcher tendenziell im multipolaren Weltmarkt notwendig ist, ist die „Identität“ der Volksgemeinschaft, egal ob sie völkisch oder nicht völkisch verstanden wird. Die „Nation“, ob völkisch verstanden oder nicht, stellt ihre Forderungen an die Arbeiterklasse, fordert bedingungslose Unterwerfung. Wird diese verweigert, wird die innere Feinderklärung vorgenommen. Die „Identität“ eines Notstandskapitalismus führt in dann in der Arbeiterklasse zur Notwendigkeit einer „Identität“ als Lohnsklave und damit zum Verlust aller Eroberungen der Arbeiterklasse im Kapitalismus; die „Identität“ des Notstandsstaates führt im politischen Bereich für die Arbeiterklasse zur „Identität“ des Untertan. Eine „Identitätspolitik“ reduziert dann die Arbeiterklasse auf eine bestimmte Quantität und Qualität abstrakter Arbeit, statt auf einer sozialen Klasse, welche alleinig den gesellschaftlichen Reichtum schafft. Wer die „Harmonie“ des multipolaren Kapitalismus beeinträchtigen kann, wird sozial und politisch, notfalls auch in zugespitzten Krisensituationen physisch beseitigt. „Identität“ wird im Kapitalismus von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen über das Wertgesetz fixiert und garantiert vom bürgerlichen Staat, welcher die „Identität“ juristisch fixiert. Die „“Identität“ kann sich im Kapitalismus niemand aussuchen, sondern die soziale Klassenspaltung setzt die „Identität“ voraussetzungslos, d.h. „Identität“ ist gesellschaftlich bestimmt. „Identität“ heißt für die Arbeiterklasse nichts anderes als eine Ausbeutungsmasse zu sein und „Nicht-Identität“ sich als Klasse an und für sich zu formieren, als soziale und politische Klasse im Gegensatz zu einer formlosen Masse. Die „Nicht-Identität“ ist der Bruch mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Während die Arbeiterklasse auf die „Nicht-Identität“ setzt, setzt das Kapital auf die „Identität“. Die Aufgabe des bürgerlichen Staates ist es, die „Identität“ der Arbeiterklasse als formlose Ausbeutungsmasse zu erzwingen. Dazu muß jedes einzelne Glied der Arbeiterklasse „identifiziert“, d.h. restlos für den Ausbeutungsprozeß erfaßt werden, im unmittelbaren Produktionsprozeß als Lohnarbeiter, in der politischen Sphäre als Staatsbürger, d.h. der Lohnarbeiter ist nirgends Subjekt, sondern nur Objekt des Kapitals in der Neuzusammensetzung von Kapital. Nur der proletarische Widerstand im Klassenkampf macht den Lohnarbeiter zum Subjekt und damit zur „Nicht-Identität“ zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Die Repression des Kapitalismus setzt auf „Identität“, während der Klassenkampf des Proletariats auf die „Nicht-Identität“ setzt. „Identität“ ist eine Klassenfrage. Konkret heißt für die Bourgeoisie „Identität“ Rasterfahndung, denn „Identität“ kommt von „identifizieren“ und zwar „identifizieren im Kapitalismus durch das Kapital“. Konkret heißt „Identität“ im multipolaren Kapitalismus nichts anderes als Identifizierung von „Sicherheitsrisiken“ von „Risikopersonen,“ welche die Akkumulation bedrohen könnten. Im multipolaren Kapitalismus geht es bei der „Identität“ um die Identifizierung möglicher Gefahren für die „nationale Sicherheit“ und damit auch um den Notstand. Das Kapital fürchtet die „Nicht-Identität“ mit dem Kapitalismus, während die Arbeiterklasse versucht ihre „Identität“ mit der Mehrwertproduktion abzustreifen. Die Frage von „Identität“ und „Nicht-Identität“ ist eine Frage des Klassenkampfes. Die „Nicht-Identität“ im Kapitalismus ist die bestimmte Negation des Kapitalismus, das Ende der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, während die „Identität“ die Ausbeutung festschreibt. Identität im Kapitalismus heißt immer auch Identifizierung des proletarischen Klassenfeindes durch das Kapital und wird durch das Kapital erzwungen und heißt konkret immer auch „Sicherheitsüberprüfung“, d.h. Feststellung der politischen Zuverlässigkeit und damit der Treue zum Kapitalismus.

Der bürgerliche Staat fixiert die „Identität“ der Arbeiterklasse in der Großen Krise immer repressiver und setzt auch den Notstand ein. Mit einem Notstandsstaat gibt es für die Arbeiterklasse im Kapitalismus keinen materiellen Spielraum mehr, um ihre gesellschaftlich notwendige Reproduktion zu sichern. Es kann dann erst Recht keine Kompromiße mit der Bourgeoisie geben, denn der Notstandsstaat ist die offene Verweigerung durch die Bourgeoisie mit der Arbeiterklasse einen Klassenkompromiß zu schließen. Dann verbleibt nur die revolutionäre Lösung des Problems Kapitalismus. Die Zerschlagung des bürgerlichen Klassenstaates durch die revolutionäre Massenaktion und die Errichtung der Räteorgane der Arbeiterklasse- die Diktatur des Proletariats. Konkret: die Beseitigung der verfassungsrechtlichen Ordnung der BRD durch die revolutionäre Massenaktion, Generalstreik, massenhafte Betriebsbesetzungen, Arbeiterkontrolle über die Produktion, Bildung proletarischer Hundertschaften. Dies ist praktische Negation, dies ist praktische „Nicht-Identität“.

Der „Grüne Kapitalismus“ ist praktische, reaktionäre „Identität“ mit dem Kapitalismus und ist die ideologische Form, unter der ein Angriff auf die Reproduktionsbedingungen der Arbeiterklasse gestartet wird. Die Notwendigkeit der Absenkung der gesellschaftlich notwendigen Reproduktionsbedingungen wird nicht mit den Notwendigkeiten der Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsverhältnisse begründet, sondern mit „ökologischen“ Gründen aus dem verzerrten und verdinglichten Blickwinkel der „Menschheitsfragen“. Es wird die Endlichkeit der kapitalistischen Natur behauptet und gleichzeitig die historische Unendlichkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Der Kapitalismus produziert auch ökologische Krisen aufgrund seiner immanenten Verwertungslogik, doch er wird niemals aus ökologischen Gründen zusammenbrechen, denn er schafft gleichzeitig auch die materiellen Grundlagen für die Eingrenzung der ökologischen Krise, ohne sie zur Gänze abzuschaffen. Mit der „Identität“ des Kapitalismus läßt sich nicht die ökologische Krise lösen. Dazu bedarf es der proletarischen „Nicht-Identität“. Der „grüne“ Kapitalismus leitet nur eine „grüne“ Deflationspolitik ein. Das gesellschaftliche Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse soll formal aus „ökologischen“ Gründen abgesenkt werden, real jedoch aus Gründen der Kapitalverwertung. Deshalb wird das Hartz IV-System weiter beibehalten werden. Das Hartz IV-System ist der letzte Referenzpunkt der Bourgeoisie in der Deflationspolitik. An dem Hartz IV-System läßt sich die allgemeine Richtung eines „grünen Kapitalismus ablesen. Das Hartz IV-System wird nur ein wenig modifiziert und bekommt einen grünen Anstrich, bleibt aber erhalten und damit die absolute Verelendung der Hartz IV-Bezieher. Jedoch gilt: Die kapitalistische Ausbeutung der Natur kann nur dann beendet werden, wenn die kapitalistische Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Ausbeutung des Arbeiters durch den Kapitalisten, aufgehoben wird. Man kann nicht die „Natur“ aus der kapitalistischen Ausbeutung befreien, aber die kapitalistische Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beibehalten. Der Klassenkampf gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen schließt den Kampf gegen die Ausbeutung der Natur durch den Menschen ein. Konkret: Hartz IV paßt nicht mit einer ambitionierten ökologischen Politik zusammen. Wer für eine ambitionierte ökologische Politik kämpft, kann dies nur erfolgreich tun, wenn er gegen das Hartz IV-System kämpft. Das Hartz IV-System muß zerschlagen werden, wenn eine progressive ökologische Politik erfolgreich sein soll. Die Zielrichtung ist die Überwindung des Kapitalismus. Es gibt damit keinen Widerspruch zwischen einer progressiven ökologischen Politik und dem gesellschaftlichen Reproduktionsniveau der Arbeiterklasse, wohl aber einen Widerspruch zwischen einer progressiven ökologischen Politik und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Dieser Widerspruch kann nur durch die Einheitsfront der Arbeiterklasse überwunden werden. Der „Grüne Kapitalismus“ ist ohne weiteres bereit, auch den Notstandsstaat gegen die Arbeiterklasse einzusetzen. Dazu muß die ökologische Krise nur als „Gefahr für die nationale Sicherheit“ eingeordnet werden. Bei einer „Gefahr für die nationale Sicherheit“ ist vor allem die Arbeiterklasse in Gefahr.

Das schwarze Herz des „Grünen Kapitalismus“ bleibt das Hartz IV-System. Es wird in seiner Substanz nicht angetastet, sondern nur modifiziert. Es wird zwar der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht, aber die inflationären Tendenzen lassen real den Mindestlohn trotzdem weiter absinken. Zudem wird durch die Ausweitung des Zuverdiensts bei nicht sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung immer mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse ersetzt und der Mindestlohn gilt nur für sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Real wird der Mindestlohn als Ganzes ausgehebelt. Der Arbeitszwang wird bleiben und die Hartz IV-Zwangsarbeit wird modifiziert werden. Der zweite Arbeitsmarkt mit seiner Verschränkung von Niedriglohn und ergänzendes Arbeitslosengeld II wird ausgebaut werden. Damit wird der Druck im Hartz IV-System über den Arbeitszwang noch zunehmen. Es geht um Aktivierung der industriellen Reservearmee in den prekären zweiten Arbeitsmarkt.

Im Hartz IV-System muß jede Arbeit angenommen werden, einen Qualifikationsschutz oder einen Tarifvorbehalt gibt es nicht. Es darf nur Arbeit abgelehnt werden, die sittenwidrig ist. Um den Arbeitszwang noch zu erhöhen, wird die „parlamentarisch-demokratische“ Klassenjustiz tendenziell außer Kraft gesetzt. Nun muß der Antragsteller beweisen, daß eine Arbeit nicht zumutbar ist. Vor Hartz IV mußte das Arbeitsamt dem Erwerbslosen die Zumutbarkeit einer konkreten angebotenen Arbeit beweisen. Real jedoch kann kaum ein Erwerbsloser beweisen, daß eine konkret angebotene Arbeit nicht zumutbar ist. Weigert sich ein Erwerbsloser die angebotene Arbeit anzunehmen, werden Sanktionen verhängt, die im Wiederholungsfall bis auf Null gekürzt werden. Damit droht dann die Wohnungslosigkeit. Das in sich widersprüchliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts verhindert keine Sanktionen.

Um die „Arbeitsfähigkeit“ zu prüfen, kann der Erwerbslose in den kommunale Hartz IV-Zwangsarbeit abkommandiert werden. Bei Verweigerung drohen hier ebenfalls die Sanktionen. Der „Dienst“ in der kommunalen Zwangsarbeit konstituiert kein Arbeitsverhältnis, sondern ist ein Sozialrechtsverhältnis. Lohn wird nicht gezahlt, sondern nur eine Aufwandsentschädigung. Es gelten auch nicht die Arbeitsgesetze zur Gänze. Ein Betriebsrat darf nicht gebildet werden und die Gewerkschaft darf nur organisieren, aber keine Arbeitskampfmittel einsetzten.

Es wird eine engmaschige Kontrolle über den Hartz IV-Bezieher verhängt. Die Repression richtet sich nicht nur gegen den einzelnen Hartz IV-Bezieher, sondern gegen die gesamte „Bedarfsgemeinschaft“. Es existiert somit eine soziale Sippenhaft. Dem Arbeitszwang unterliegt nicht nur der Hartz IV-Bezieher, sondern seine gesamte „Bedarfsgemeinschaft“. Die „Bedarfsgemeinschaft“ ist eine Setzung des Hartz IV-Systems und hat nichts mit der Realität zu tun.

Die engmaschige Kontrolle führt zu Hausdurchsuchung und gar zu Razzien, wobei die gesamte Habe des Hartz IV-Beziehers durchsucht wird. Es soll die „Bedürftigkeit“ kontrolliert werden. Das Hartz IV-System hat dafür eigene „Ermittlungsorgane“ aufgebaut und stützt sich dabei auch auf Denunziation.

Die größte Hürde überhaupt ist es, als Hartz IV berechtigt vom Hartz IV-System anerkannt zu werden. Die „Bedürftigkeitsprüfung“ muß erst überwunden werden. Es wird das Einkommen und Vermögen des Antragstellers und seiner „Bedarfsgemeinschaft“ einer engmaschigen Kontrolle unterworfen. Ist das Vermögen und das Einkommen der „Bedarfsgemeinschaft“ zu hoch, wird der Antrag auf Hartz IV zurückgewiesen. Dann muß der Antragsteller von der „Bedarfsgemeinschaft“ gesellschaftlich notwendig reproduziert werden und nicht vom bürgerlichen Staat. Erst dann, wenn die Bedarfsgemeinschaft kein Vermögen und kein anderes Einkommen hat, greift der bürgerliche Staat durch das Hartz IV-System ein.

Der „Grüne Kapitalismus“ wird das Hartz IV-System nur modifizieren, aber seinen Kern unangetastet lassen, denn das Hartz IV-System macht erst einen Niedriglohnsektor möglich und übt nicht nur auf die Randbelegschaften, sondern auch auf die Kernbelegschaften einen erheblichen Druck aus.

Letztlich ist der Begriff des „Grünen Kapitalismus“ nur ein Begriff für die Entflechtung des Kapitals, für die De-Globalisierung des Weltmarktes und die Transformation in einen multipolaren Weltmarkt imperialistischer Blöcke. Die aktuellen G-20 Treffen dienen der möglichst geordneten Entflechtung des zusammengebrochenen neoliberalen Weltmarktes. Eine naturwüchsige Entflechtung des Weltmarktes nur durch das Wertgesetz allein, also nicht durch politische Aktion modifiziert, ist für alle Metropolen risikoreich, aus diesem Grunde der Versuch einer geordneten Abwicklung des neoliberalen Weltmarktes. Ob dieser Versuch gelingt, ist offen. Die Metropolen grenzen ihre Einflußsphären mit protektionistischen Maßnahmen ab und diese protektionistischen Maßnahmen erscheinen nicht als solche, sondern werden mit einer ökologischen Politik getarnt. Strafzölle auf nicht-ökologische Produktion ist ein Moment, denn über den ökologischen Standard der Produktion wird man sich nicht einigen können und so kommt man zu einem „Grünen Imperialismus-Ökoimperialismus“, gegen andere Metropolen, wie auch vor allem gegen die Peripherie.

  1. Der proletarische Weg

-Radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, ansetzend an der alltäglichen Sabotage der Ausbeutu