DEMOKRATISCH – LINKS

                      KRITISCHE INTERNET-ZEITUNG

RENTENANGST

Archiv für die 'Mensch' Kategorie

Irgendwas mit Internet:

Erstellt von Redaktion am 27. Februar 2023

Die Akte Pegasus – Das Buch zum Staatstrojaner-Skandal

File:Adi Holzer Werksverzeichnis 269.jpg

Selbst wenn die Erde unten bebt – der Politiker dort oben schwebt

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Das Buch „Die Akte Pegasus“ der beiden Journalist:innen Laurent Richard und Sandrine Rigaud beschreibt eindrucksvoll und anschaulich die Recherchen rund um die Staatstrojaner des israelischen Unternehmens NSO. Es ist ein Plädoyer für kollaborativen investigativen Journalismus, für Pressefreiheit und gegen Überwachung.

Es beginnt mit einer Liste mit 50.000 Telefonnummern, die Laurent Richard und Sandrine Rigaud vom kollaborativen Recherchenetzwerk Forbidden Stories von einer Quelle zugespielt wurden. Die Telefonnummern sollen alle Ziele der Staatstrojaner der israelischen Digitalwaffen-Firma NSO sein.

Mit der Liste fliegen sie nach Berlin, um mit Claudio Guarnieri und Donncha Ó Cearbhaill von Amnesty Tech das Pegasus-Projekt zu starten. Die Auswirkungen der Recherche sind heute, nach zwei Jahren immer noch zu spüren.

Die Akte Pegasus“ der beiden Forbidden-Stories-Journalist:innen ist spannend wie ein Krimi. Und zugleich ein großartiges Plädoyer für die Kraft des investigativen Journalismus. Detailliert beschreiben sie ihre Herangehensweise an eine Recherche, die zum Schluss dutzende Medien in zahlreichen Staaten zusammenschließt und viele Opfer unter den Telefonnummern identifiziert.

Dabei ist das keine herkömmliche Recherche. Es gibt am Anfang nur Telefonnummern aus vielen Staaten und die Personen dahinter müssen identifiziert werden. Gleichzeitig ist stets zu befürchten, dass die Opfer immer noch über ihre Kommunikationswege überwacht werden. Zum Schluss decken sie auf, dass zahlreiche Politiker:innen unter den Opfern sind, aber noch viel mehr Journalist:innen.

Die beiden Autor:innen geben eindrucksvolle Einblicke in die Schicksale vieler betroffener Medienschaffender und ihre jeweiligen individuellen Situationen in ihren Ländern, wo sie wegen ihrer Arbeit mit Repression zu kämpfen haben und gleichzeitig totalüberwacht werden.

In Berlin setzen sich Claudio und Donncha daran, die Spuren der Staatstrojaner forensisch zu finden und Werkzeuge zu bauen, mit den sich (frühere) Infektionen identifizieren lassen. Diese Einblicke in die Entwicklung der Forensik durch Amnesty Tech und die niedrigschwelligen Erklärungen, wie die Trojaner-Mechanismen funktionieren, machen das Buch zusätzlich interessant. Die Leser:innen werden auf die Reise mitgenommen und lernen ebenso die Hintergründe, wie die beiden Journalist:innen sie auch erst verstehen lernen.

In diesem Fenster soll ein YouTube-Video wiedergegeben werden. Hierbei fließen personenbezogene Daten von Dir an YouTube. Wir verhindern mit dem WordPress-Plugin „Embed Privacy“ einen Datenabfluss an YouTube solange, bis ein aktiver Klick auf diesen Hinweis erfolgt. Technisch gesehen wird das Video von YouTube erst nach dem Klick eingebunden. YouTube betrachtet Deinen Klick als Einwilligung, dass das Unternehmen auf dem von Dir verwendeten Endgerät Cookies setzt und andere Tracking-Technologien anwendet, die auch einer Analyse des Nutzungsverhaltens zu Marktforschungs- und Marketing-Zwecken dienen.

Gleichzeitig wird die Geschichte der Staatstrojaner-Industrie beschrieben und wie diese ihre Produkte im vergangenen Jahrzehnt vor allem an Staaten verkauft, die diese Waffen gegen Oppositionelle und Journalist:innen einsetzen. Denn die Nachfrage ist groß und es gibt viel Geld zu verdienen.

„Die Akte Pegasus“ ist eine lesenswerte Heldengeschichte einer kollaborativen globalen Recherche, deren Auswirkungen heute immer noch spürbar sind. Es ist zugleich das beste Buch zum Thema Staatstrojaner. Das Buch endet mit der ersten Welle der Enthüllungen im Sommer 2021. Die Enthüllungen lösten unter anderem einen Pegasus-Untersuchungsausschuss im Europäischen Parlament aus, über den wir seitdem sehr detailliert auf netzpolitik.org berichten.

„Die Akte Pegasus“ hat die ISBN-Nimmer 978-3-426-27890-1, ist 416 Seiten lang und ist im Droemer-HC-Verlag erschienen. Das Buch kostet 22 Euro im Hardcover.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

********************************************************

Grafikquelle :

Oben       —   Deutsch: Serigrafie «Das Wichtige ist nicht immer wichtig» von Adi Holzer aus dem Jahr 1976 (Werksverzeichnis 269).

© The copyright holder of this file, Adi Holzer, allows anyone to use it for any purpose, provided that the copyright holder is properly attributed. Redistribution, derivative work, commercial use, and all other use is permitted.
Attribution:

Adi Holzer

Abgelegt unter International, Mensch, Politik und Netz, Regierung | Keine Kommentare »

Un­sichtbare Leichen

Erstellt von Redaktion am 23. Februar 2023

Todesfälle von wohnungslosen Menschen

File:Armut Bettler Obdachlos (12269249596).jpg

Von Carolina Schwarz

Wohnungslose Menschen werden immer wieder Opfer von tödlicher Gewalt. Eine taz-Recherche rekonstruiert die bestätigten Todesfälle von 2022.

Mindestens 16 wohnungslose Menschen wurden 2022 in Deutschland getötet. Grundlage für die Recherchen der taz waren Daten der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. Jedes Jahr sammelt der Verein in einer systematischen Medienanalyse die Gewaltfälle gegen wohnungslose Menschen in Deutschland. Dabei werden alle Fälle aufgelistet, über die in regionalen und überregionalen Medien berichtet wird.

Wohnungslose Menschen werden bespuckt und beschimpft, ihre Schlafplätze werden angezündet, sie werden Opfer von Raubüberfällen, Farbattacken oder Messerattacken. Viele der Taten bleiben straffrei. Die BAG Wohnungslosenhilfe e. V. kommt auf eine dreistellige Zahl an Gewaltvorfällen für das Jahr 2022. Klar ist, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist, weil über viele Gewalttaten nicht berichtet wird.

Die tödlichen Gewalttaten der Dokumentation hat die taz recherchiert und mit zuständigen Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften gesprochen. Nicht immer gab es in der Recherche eindeutige Ergebnisse.

Wie im Fall eines 64-jährigen obdachlosen Mannes in Berlin. Dieser sollte im September von Polizisten aus einem Heim in ein Krankenhaus verlegt werden, dabei brach er zusammen, fiel ins Koma und starb kurz darauf im Krankenhaus. Der Fall wurde im Kommissariat für Beamtendelikte im Landeskriminalamt untersucht. Der Opferverband ReachOut wirft der Polizei brutale Gewalt im Umgang mit dem Schwarzen Mann vor und beruft sich dabei auf Zeugenaussagen.

Die Polizeipräsidentin Barbara Slowik sagte damals, der Mann sei „unerwartet kollabiert“. Auf Anfrage der taz sagt die Berliner Staatsanwaltschaft heute, dass eine Leichenschau „keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden“ ergeben habe. Die Todesursache bleibt ungeklärt. Der Fall taucht deswegen nicht in der Dokumentation der taz auf.

Die dokumentierten Fälle zeigen tödliche Gewalt in Obdachlosenunterkünften, bei Polizeieinsätzen oder auf der Straße. Die Tä­te­r*in­nen sind selbst wohnungslose Menschen, Verwandte oder bislang Unbekannte. Sie zeigen, dass das Leben von obdachlosen Menschen nicht sicher ist.

Nicht nur Gewalt durch Behörden und andere Menschen sind eine Gefahr für sie. Hitze, Kälte, Drogen oder unbehandelte Krankheiten und eine Politik, die sie nicht davor schützt, können zum Tod führen. Wie viele wohnungslose Menschen 2022 durch diese Umstände gestorben sind, ist nicht bekannt.

1. Frankfurt am Main: Am 22. Januar wird auf einem Brachgelände am Frankfurter Ostbahnhof in einem Wohnwagen die Leiche einer 40-jährigen Frau gefunden. Ermittlungen der Polizei ergeben, dass sie vor der Tötung Opfer sexualisierter Gewalt wurde. Der 38-jährige Tatverdächtige ist ebenfalls wohnungslos und sitzt seit einem Jahr in Untersuchungshaft. Einen Prozesstermin hat das Gericht bislang nicht anberaumt.

2. Frankfurt am Main: Am 12. März stirbt ein 45-jähriger Mann an schwerwiegenden Schädelverletzungen. Seine Leiche wird gut eine Woche nach der Tötung in einem Barackenlager gefunden. Ein 44-jähriger ebenfalls wohnungsloser Mann soll ihn im Streit mit einem oder mehreren Gegenständen geschlagen haben. Er konnte im Dezember festgenommen werden und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Die wegen des Verdachts des Totschlags geführten Ermittlungen dauern an.

3. Sigmaringen: Am 18. März tötet ein 60-jähriger Mann in einer Obdachlosenunterkunft einen 28-jährigen Mann mit einem Messer. Zuvor war es zum Streit zwischen den zwei Männern, die beide in der Unterkunft lebten, gekommen, es ging dabei auch um zu laute Musik. Gegen den Täter ist wegen Totschlags eine Gefängnisstrafe von zehn Jahren verhängt worden, er sitzt in Haft.

4. Neuss: Am 22. April wird in einem provisorischen Nachtlager die Leiche eines 31-jährigen mit zwei Stichwunden in der Brust gefunden. Tatverdächtig ist ein 18-Jähriger, der zuerst als Zeuge auftrat und einen anderen Mann belastete. Im Zuge der Ermittlungen verdichtete sich die Beweislage gegen den jungen Mann. Es wurde ein Haftbefehl gegen den ebenfalls Wohnungslosen erwirkt, das Motiv ist noch Gegenstand der laufenden Ermittlungen.

WerHatDerGibt demonstration Berlin 2020-09-19 28.jpg

5. Düsseldorf: Am 26. April wird im Parkhaus am Flughafen Düsseldorf die Leiche eines obdachlosen Menschen entdeckt. Die Obduktion legt eine Gewalttat nahe. Ein Tatverdächtiger konnte bislang nicht ermittelt werden, das Motiv ist unklar. Die Ermittlungen dauern an.

6. Berlin: Ein 39-jähriger Mann stirbt am 27. April nach einem Polizeieinsatz in Treptow-Köpenick. Bei einer „Durchsetzung eines Aufenthaltsverbots“ in einem Hausdurchgang eine Woche zuvor fixierten Beamte den Mann am Boden und setzten Pfefferspray ein, nachdem dieser sich gewehrt hatte. Das Verfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung wurde eingestellt, die Ermittlungen kamen zum Schluss, dass der Einsatz des Pfeffersprays wegen einer „Notwehrlage“ gerechtfertigt war.

7. + 8. Offenburg: Am 31. Juli soll eine 44-jährige Frau in einem städtischen Obdachlosenheim ihre Schwester und ihre Tochter mit verschiedenen Küchenutensilien getötet haben. Dem war ein Streit vorausgegangen. Die Staatsanwaltschaft hat wegen des Vorwurfs des zweifachen Totschlags Anklage vor dem Landgericht Offenburg erhoben.

9. Frankfurt am Main: Am 2. August soll ein 23-jähriger Mann bei einem Polizeieinsatz im Frankfurter Bahnhofsviertel getötet worden sein. Der Mann soll mit einem Messer mehrfach auf einen Diensthund eingestochen haben. Er verstarb nach einem Schuss noch am Tatort. Die Ermittlungen gegen den Polizeibeamten wegen des Verdachts des Totschlags geführten Ermittlungen dauern noch an.

10. Köln: Am 3. August stirbt ein 48-jähriger Mann bei einem Polizeieinsatz im Zuge einer Zwangsräumung. Die Ermittlungen wurden eingestellt, „da der Schusswaffeneinsatz der Polizeibeamten durch das Notwehrrecht gerechtfertigt war“. Der Mann war mit einem Messer bewaffnet.

Quelle       :         TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —

Description Armut Bettler Obdachlos
Date
Source Armut Bettler Obdachlos 

Author blu-news.org
w:en:Creative Commons
attribution share alike
This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0

********************************

Unten        —       Demonstration unter dem Motto „Wer hat der gibt!“ für die Umverteilung von Reichtum am 19. September 2020 in Berlin.

Abgelegt unter HARTZ IV - (Bürger-Geld), Mensch, Positionen, Sozialpolitik | Keine Kommentare »

Das Leiden der Familien

Erstellt von Redaktion am 22. Februar 2023

Eine Kindheit im Luftschutzbunker

Von Anna Jikhareva

Lisa Dmitrijewa hatte ihr ganzes Leben noch vor sich, doch sie wurde nur vier Jahre alt. Das Mädchen mit Down-Syndrom kam gerade von der Sprachtherapie, die sie regelmäßig besuchte.

Zusammen mit ihrer Mutter überquerte sie einen belebten Platz im Zentrum von Winnyzja, einen Puppenwagen vor sich herschiebend, als mehrere russische Raketen einschlugen. Das Mädchen wurde bei der Explosion getötet, die Mutter kam schwer verletzt ins Krankenhaus.[1] An jenem Tag Mitte Juli 2022 starben in der zentralukrainischen Stadt, weit weg von der militärischen Front, 23 Menschen, darunter neben Lisa Dmitrijewa zwei weitere Kinder, 140 Personen wurden verletzt.

Ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine fordert dieser noch immer täglich Tote und Verletzte; weiterhin zerstören Raketen und Artilleriegeschosse Häuser und Kraftwerke, Träume und Hoffnungen. Neben den Kämpfen in der Süd- und Ostukraine beschießt die russische Armee seit Monaten auch gezielt die kritische Infrastruktur des Landes – mit der Absicht, die Menschen zu zermürben, wenn sie in dunklen Wohnungen ausharren müssen, ohne duschen oder sich aufwärmen zu können.[2] Zu den größten Leidtragenden dieses ständigen Ausnahmezustands gehören die ukrainischen Kinder. Auf diesen Opfern der russischen Invasion liegt in der internationalen Berichterstattung allerdings nur selten der Fokus.

Laut der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft sind zwischen vergangenem Februar und Ende Januar insgesamt 459 Kinder gestorben, 914 wurden verwundet, 353 bleiben gemäß der Polizei verschwunden.[3] Zwar decken sich die Zahlen der Vereinten Nationen weitestgehend mit diesen Angaben – doch weil etwa verlässliche Zahlen aus den von Russland besetzten Gebieten und den frontnahen Landstrichen fehlen, dürfte die Dunkelziffer wesentlich höher liegen, davon gehen auch die ukrainischen Behörden aus. Tausende Kinder haben Angriffe zwar selbst überlebt, aber ihre Eltern, Geschwister, Freund:innen oder das Zuhause verloren. Sie alle sind durch den Krieg gezwungen, viel zu schnell erwachsen zu werden.

Laut Unicef hat praktisch keines der sieben Millionen zurzeit im Land lebenden Minderjährigen gesicherten Zugang zu Elektrizität, Heizung und Wasser. „Diese Kinder sehen einem trostlosen Winter entgegen, zusammengekauert in Kälte und Dunkelheit, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie oder wann sie sich erholen können“, sagt Catherine Russell, die Direktorin des UN-Kinderhilfswerks, in einer Stellungnahme. „Abgesehen von den unmittelbaren Gefahren, die der Frost mit sich bringt, wird den Kindern auch die Möglichkeit genommen, zu lernen oder mit Freunden und Familie in Kontakt zu bleiben, wodurch sowohl ihre körperliche als auch ihre geistige Gesundheit stark gefährdet ist.“[4] Gerade die Auswirkungen auf die Psyche sind in diesem Alter oftmals verheerend; Unicef spricht von einer „drohenden mentalen Gesundheitskrise“: Anderthalb Millionen Kinder seien bereits von Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischem Stress und anderen mentalen Erkrankungen betroffen. Die Kyjiwer Psychologin Kateryna Goltsberg schildert dem „Spiegel“ verschiedene Symptome von Traumata: „Neben Verschwiegenheit und Apathie sind da Aggressionen und Ticks wie Augenzucken oder häufiges Räuspern. Manche entwickeln sogar Krankheiten wie Asthma oder Schuppenflechte. Damit Kinder schreckliche Erlebnisse verarbeiten können, müssen sie unterstützt werden.“[5]

»Kein Kind hat Zugang zu geregelter Bildung«

Neben den direkten Folgen des Krieges für die Gesundheit der Kinder schränkt er deren Recht auf Bildung ein. Wie alles andere sind auch die Bedingungen dafür in den letzten Monaten immer schwieriger geworden: Zehntausende Kinder können nicht mehr regelmäßig zur Schule oder in den Kindergarten gehen. Dies nicht zuletzt, weil über 3000 Bildungseinrichtungen im Land beschädigt und fast 500 komplett zerstört sind, wie das ukrainische Bildungsministerium auflistet.[6] „Kein ukrainisches Kind hat mehr Zugang zu geregelter Bildung“, schreibt Unicef. Auch dadurch wird einer ganzen Generation die Zukunft genommen.

Als der russische Angriffskrieg vor einem Jahr begann, war das Schuljahr in vollem Gang. Zuerst wurden Schüler:innen und Lehrer:innen für zwei Wochen in die Zwangsferien geschickt, alle Einrichtungen schlossen ihre Türen – doch als absehbar wurde, dass der Krieg so schnell nicht vorbei sein würde, nahmen viele den Unterricht wieder auf – online. Eine Praxis, die bereits während der Coronapandemie weit verbreitet war und deshalb mehr oder weniger funktionierte.[7] Dies war auch ein Grund dafür, dass Lehrkräfte und Kinder, die nach Beginn der Invasion aus dem Land flohen, weiter unterrichten und lernen konnten. Das Bildungsministerium fällte zudem Entscheide, damit keine Lücken bei den Leistungsnachweisen der Schüler:innen entstehen: Es wies die Schulen etwa an, alle Kinder automatisch in die nächsthöhere Klasse zu versetzen und die Jahresendprüfungen ausfallen zu lassen. Die Abiturprüfung fand zwar trotzdem statt, konnte aber nicht nur im Land selbst, sondern auch in dutzenden Städten in ganz Europa absolviert werden, wie die „Ukrajinska Prawda“ berichtet.[8] So sorgte die Behörde zumindest in dieser Hinsicht für Chancengleichheit. Zum neuen Schuljahr im September 2022 öffnete dann rund die Hälfte der Schulen und Kindergärten wieder die Türen – jene, die den vorgeschriebenen Luftschutzbunker im Gebäude bereits hatten oder über die Sommerferien neu einrichten konnten. Die restlichen Kinder müssen weiterhin mit Fernunterricht vorliebnehmen – doch aufgrund der Stromausfälle infolge der Angriffe auf die kritische Infrastruktur ist der Zugang dazu oft nicht mehr gewährleistet.

Verändert haben sich nicht nur die Rahmenbedingungen des Lernens, sondern auch der Inhalt: So gilt seit diesem Schuljahr in der Ukraine ein neuer Lehrplan. In der Grundschule wird etwa unterrichtet, wie man verschiedene Arten eines Luftalarms auseinanderhält, was man im Falle eines Angriffs tun soll, wie man einen Schutzraum einrichtet, Erste Hilfe leistet oder mit Angst umgeht. Immer wieder üben die Kinder im Unterricht, wie sie rasch in den Keller kommen, wo der Unterricht bei Luftalarm weitergeht. Und ab der fünften Klasse gilt in Fächern wie Literatur und Geschichte ein neues Programm, wie etwa die „taz“ berichtet.[9] So werde den jungen Menschen nun etwa beigebracht, dass die Sowjetunion ein imperialistischer Staat gewesen sei, und wie sich die Ukrainer:innen der Repression dieses Staates widersetzt hätten. Aus dem Programm gestrichen worden seien Werke von vielen russischen Autoren, etwa Anton Tschechow, Lew Tolstoi oder Fjodor Dostojewski. Eingang in den Schulstoff hätten dafür Goethe oder Adam Mickiewicz gefunden. Der Unterricht droht damit zu einem ideologischen Kampffeld zu werden – in den von Russland besetzten Gebieten ist er das bereits. Russland nutzt die dortigen Schulen schon längst für Propagandazwecke: Der Lehrplan wurde geändert, vor allem im Geschichtsunterricht lernen die Kinder nun nur noch das, was dem Kreml genehm ist. „Nach Moskaus Plänen sollen die Schulen vor allem eine zentrale Rolle in der ideologischen Indoktrination der Kinder übernehmen und sie zu ‚russischen Patrioten‘ und Putin-Unterstützern machen“, schreibt etwa die Bildungsexpertin Tatiana Zhurzhenko.[10]

Dass dies meistens nicht freiwillig geschieht, legen diverse Berichte nahe. Demnach üben die Besatzungsbehörden Druck auf Lehrer:innen aus, damit diese ihren Schüler:innen die russische Sicht auf die ukrainische Geschichte vermitteln. So berichtete der „Guardian“ über den Fall einer Lehrerin, die sich weigerte, für die Besatzer:innen zu arbeiten, und deshalb entlassen wurde.[11] „Stellen Sie sich vor: Ich habe mehr als 25 Jahre an dieser Schule gearbeitet. Am Tag meiner Entlassung bin ich allein hinausgelaufen, trug eine Topfpflanze und einen Beutel mit Gedichten, Tränen flossen mein Gesicht hinunter.“ Kurze Zeit später sei sie bei einem Elternabend als „Verräterin“ denunziert worden, weil sie die Schule verlassen hatte. Daraufhin floh die Lehrerin in von der Ukraine kontrolliertes Territorium. Etwa ein Drittel der Lehrkräfte hätten sich dagegen zur Kollaboration bereiterklärt, einige aus Enthusiasmus, andere aus Pragmatismus.

Ähnliche Berichte darüber, wie Druck auf Lehrkräfte ausgeübt wird, sind aus den besetzten Gebieten immer wieder zu hören; der ukrainische Ombudsmann für Bildung spricht von „hunderten“ solcher Einflussnahmen. „Sie zwingen Lehrer, nach russischem Lehrplan zu unterrichten, sie bringen russische Lehrbücher mit, in denen steht, Ukrainer und Russen seien ein Volk, russischer Imperialismus, das volle Paket.“[12] Wer sich in der Ukraine umhört, stößt aber auch auf immer mehr Erzählungen von Lehrer:innen, die nach der Rückeroberung besetzter Städte durch die ukrainische Armee als Kollaborateure verfolgt würden. Ukrainische Politiker:innen fordern harte Gefängnisstrafen für jene, die mit dem russischen Bildungssystem kooperieren oder kooperiert haben. Russische Medienberichte legen derweil nahe, dass Lehrer:innen für die besetzten Gebiete auf der von Russland 2014 annektierten Krim-Halbinsel oder in Russland selbst angeworben werden; die Rekrutierung soll allerdings eher schleppend verlaufen.[13]

Quelle        :        Blätter-online           >>>>>         weiterlesen

********************************************************

Grafikquelle :

Oben       —     Station der Metro Kiew, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine (2022) in einen Luftschutzbunker umgewandelt wurde

****************************

Unten         —     Refugee children and babies in a basement in Kropyvnytskyi

Abgelegt unter Asien, Europa, Kriegspolitik, Mensch, Positionen | Keine Kommentare »

Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von Redaktion am 22. Februar 2023

„Krieg und Frieden“
Russisch im Lokal: Wenn Sprache in Scham mündet

AnneFrank1940 crop.jpg

Aus Warschau von Sandro Gvindadze

Kürzlich war ich in Warschau, um eine Freundin aus Belarus zu besuchen. Zusammen mit ihren Freunden gingen wir in ein ukrainisches Fischrestaurant, das gerade neu eröffnet worden war. Wir waren zu viert, wir hatten uns lange nicht gesehen. Jedenfalls sprachen wir ziemlich viel miteinander. Laut und auf Russisch. Wie immer.

Die Speisekarte war auf Ukrainisch. Mit der Kellnerin, die unsere Bestellung aufnahm, sprachen meine Freunde Polnisch. Sie antwortete auch auf Polnisch, aber man konnte hören, dass sie Ukrainerin war. Ich schwieg. Als die Kellnerin weg war, stockte unser Gespräch. Ich schaute mich um. Überall hingen Plakate zur Unterstützung der Ukraine, überall hörte man ukrainische Gespräche. Es schien, als sei unser Tisch, von dem gerade noch Gelächter und die russische Sprache zu hören gewesen waren, zufällig hierher geraten.

Zum ersten Mal im Leben fühlte ich mich schuldig, weil ich Russisch sprach. Ich hatte den Wunsch, mich vor allen zu entschuldigen. Vor jeden einzelnen Tisch zu treten und zu sagen, dass ich ein schlechter Mensch bin. Denn ich war aus Georgien hierher gekommen, in ihren Raum, und sprach in der Sprache, die ihnen und ihren Vorfahren jahrzehntelang aufgezwungen worden war. Und heute wird in dieser Sprache dazu aufgerufen, sie zu töten.

Wenn ich mit ukrainischen Geflüchteten in Georgien Russisch sprach, fühlte ich mich anders. Vermutlich, weil ich als Journalist einfach meine Arbeit machte.

2017-05-27 Plac Zamkowy w Warszawie 1.jpg

Während ich schweigend meine Muscheln aß, stelle ich mir weitere Fragen: Hätte ich dieses Schamgefühl auch, wenn Russisch meine Muttersprache wäre? Wie würde ich mich verhalten, wenn Georgien ein Nachbarland überfallen hätte?

Ich glaube, dass die meisten Russen diese negativen Gefühle nicht verstehen. Es geht ihnen nicht in den Kopf, warum ihre Rede die Georgier verärgern könnte. Dabei gibt es Ansätze von Problembewusstsein. Einige Russen etwa fragen Georgier zuerst auf Georgisch, ob sie lieber auf Russisch oder Englisch sprechen wollen. Auch ich tat was gegen meine sozialen Ängste: Auf Ukrainisch bestellte ich ein Bier. „Djakuju“, sagte ich extra laut, damit alle hörten, dass ich etwas Ukrainisch sprechen kann.

Als wir das Lokal verließen, hatte ich den Eindruck, dass meine Freunde ähnliche Gedanken hatten. Das ist ziemlich traurig. Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur Hunderttausende Menschen getötet und verletzt sowie Millionen Menschen ihr Zuhause genommen. Er hat auch die russische Sprache auf Jahrzehnte vergiftet.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —    Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

***************************** 

Unten        —         

Castle Square in Warsaw

Abgelegt unter Asien, Kriegspolitik, Mensch, Positionen | Keine Kommentare »

Umbauen statt schrumpfen

Erstellt von Redaktion am 20. Februar 2023

Klimaschutz ist ohne Wachstum nicht möglich: 

undefined

Ein Debattenbeitrag von Larl-Martin Hentschel

Eine Auseinandersetzung mit den Degrowth-Thesen aus Ulrike Herrmanns aktuellem Buch. Auch wenn wir den Energie- und Rohstoffverbrauch drastisch senken, wird das Bruttoinlandsprodukt wachsen.

Die taz-Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann hat mit ihrem neuen Bestseller eine wichtige strategische Debatte angestoßen. Doch kann man bei der Analyse, wie Deutschland so schnell wie möglich klimaneutral werden kann, auch zu völlig anderen Ergebnissen gelangen.

Herrmann hält es für entscheidend, das Wachstum zu stoppen. Sie will das Bruttoinlandsprodukt drastisch reduzieren: Wenn die Menschen nur noch halb so viel arbeiteten, fehle ihnen das Geld, um neues Wachstum anzuschieben. Daher sei es konsequent, dass die Degrowth-Bewegung die kommerzielle Lohnarbeit halbieren will. Herrmann argumentiert weiter, dass die erneuerbaren Energien und die Rohstoffe nicht reichen und dass „grünes Wachstum“ nicht funktionieren kann, da der Rebound-Effekt dazu führt, dass alle Einsparungen an Energie und Emissionen durch das Wachstum wieder aufgefressen werden. Da aber der Kapitalismus auf Wachstum angewiesen ist, fürchtet die Autorin, dass Degrowth zu einer Weltwirtschaftskrise führt. Deshalb schlägt sie als Weg aus dem Kapitalismus das Modell der Kriegswirtschaft in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg vor.

Dieser Vorschlag findet erstaunlich viel Zustimmung. Aber erstens wird das, was Herrmann vorschlägt, nicht ausreichen, um die Klimaerwärmung zu stoppen. Und zweitens kann diese Strategie ökonomisch nicht funktionieren. Drittens aber kann das Beispiel Großbritannien trotzdem sehr hilfreich sein.

Zum Ersten: Die Treibhausgas-Emissionen zu halbieren ist viel zu wenig. Nach unseren Rechnungen sollte Deutschland bis 2030 sie um 80 Prozent reduzieren und spätestens 2038 klimaneutral sein. Um das zu erreichen, sollte schon 2035 die Energie zu 100 Prozent erneuerbar erzeugt werden. Das ist möglich. Anders als Ulrike Herrmann behauptet, sind alle damit verbundenen Probleme seit Jahren in umfangreichen Studien analysiert und gelöst worden – von der Stromerzeugung, dem Leitungsbau, dem Import grüner Rohstoffe bis hin zu den Speichern für Strom und Wasserstoff, um auch im Fall einer längeren kalten Dunkelflaute die Stromversorgung zu sichern. Weiter sollten bis 2040 mindestens 80 Prozent der Häuser wärmetechnisch saniert oder sogar zu Nullemissionshäusern gemacht werden. Auch die Rohstofffragen sind ausführlich untersucht worden. Im „Handbuch Klimaschutz“ kommen wir zu dem Ergebnis, dass die Importe von Roh- und Brennstoffen um rund 80 Prozent bis 2040 zurückgehen können. Entscheidend dafür ist der konsequente Übergang zur Recyclingwirtschaft. Weiter rechnen wir mit einer Verdreifachung des Bahnverkehrs, des öffentlichen Nahverkehrs sowie des Fahrradverkehrs.

Zum Zweiten: Degrowth kann auch ökonomisch nicht funktionieren. Da heute nur noch 20 Prozent der Beschäftigten in der Produktion tätig sind, würde die Zahl der Arbeitsplätze selbst dann nicht wesentlich zurückgehen, wenn die Produktion von Waren und zugleich die Zahl der Geschäfte halbiert würden. Mehr als die Hälfte der Menschen arbeitet bereits in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Pflege, Kinderbetreuung und anderen Dienstleistungen. Dort werden in den kommenden Jahren noch viele neue Arbeitsplätze benötigt. Auch beim Umbau zu einer klimagerechten Gesellschaft werden Millionen neuer Arbeitsplätze entstehen: Die Sanierung der Häuser, der Ausbau der erneuerbaren Energien, der Umbau der Städte, der Ausbau von Bahnen und Stadtbahnen, die Umstellung auf ökologische Landwirtschaft, Renaturierung von Wäldern und Mooren – das alles erfordert viel Arbeit und Arbeitskräfte.

undefined

Ökonomisch bedeutet das: Auch wenn wir die Emissionen von Klimagasen auf fast null reduzieren, den Rohstoffbedarf um 80 Prozent senken und den Energieverbrauch halbieren, wird das Bruttoinlandsprodukt wachsen – wie es auch heute schon wächst, wenn wir Naturschutzgebiete ausweisen oder neue Kran­ken­pfle­ge­r*in­nen einstellen – also scheinbar „unproduktive“ Bereiche ausweiten.

Auch wenn Ulrike Herrmann hier irrt, so ist trotzdem gerade der dritte Teil ihres Buchs inspirierend, in dem sie vorschlägt, die Kriegswirtschaft in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg als Blaupause für die Klimapolitik zu nehmen. Zur Steuerung dieser Politik wurde damals das Bruttoinlandsprodukt (BIP) erfunden. Da Arbeitskräfte knapp waren, wurde das „Manpower Budget“ zum zentralen Steuerungsinstrument. Auch der Konsum wurde strikt geregelt: Milch und Eier nur für Kinder, Schwangere und stillende Mütter; Fleisch, Käse, Fett, Zucker, Tee und Seife wurden pro Kopf rationiert. Erstaunlicherweise war das System sehr beliebt, weil alle das Gleiche bekamen und die Unterschicht besser versorgt war als in Friedenszeiten.

Nun werden wir hoffentlich nicht so viel rationieren müssen. Trotzdem lässt sich daraus einiges für heute lernen: Um den gewaltigen Umbau zu schaffen, braucht es staatliche Planung und klare gesetzliche Regelungen. Ob dazu erst der Kapitalismus zu Ende gehen muss, wird sich zeigen. Auf jeden Fall aber wird Klimapolitik nur gelingen, wenn die Menschen fühlen, dass es gerecht zugeht. Und das wird auch die Gesellschaft grundlegend verändern.

Quelle       :           TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben        —        Auf Luftverschmutzung, wie beispielsweise hier durch ein Kohlekraftwerk, sind jährlich etwa acht Millionen vorzeitige Todesfälle zurückzuführen[142]

Abgelegt unter Energiepolitik, International, Umwelt, Wirtschaftpolitik | Keine Kommentare »

Die Seelen sind erschüttert

Erstellt von Redaktion am 19. Februar 2023

Erdbeben in der Türkei und in Syrien

Ein Artikel von Cem-Odos Güler

Fast zwei Wochen nach dem Erdbeben in Syrien und der Türkei harren die Überlebenden in Zeltstädten aus. Sie brauchen auch psychologische Hilfe.

Auf dem Sportplatz spielen Kinder Brennball. Betul Abras steht am Rand und deutet auf ein Mädchen mit dunkelblauem Kopftuch. „Sie war nach dem Erdbeben unter den Trümmern eingeschlossen“, erzählt Abras, eine Psychologin. Durch ein eingestürztes Haus krabbelnd habe die 13-Jährige ihre beiden Schwestern befreien können, die unter einer umgefallenen Tür eingeklemmt lagen. Bei ihrem 7 Jahre alten Bruder habe das Mädchen gesehen, wie ihm Blut aus dem Mund lief. Später stellt sich heraus, dass der Junge gestorben war. „Dieses Kind wird diese Bilder nie vergessen“, sagt Betul Abras. Wir befinden uns in der türkischen Stadt Kilis.

Mehr als 40.000 Menschen sind durch die beiden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ums Leben gekommen, ungezählte mehr wurden verletzt. Dazu kommen viele Wunden, die nicht auf den ersten Blick zu sehen sind: Hunderttausende Menschen sind seit den Beben am 6. Februar traumatisiert, darunter auch viele Kinder.

„Du bist raus“, ruft ein Junge beim Brennball einer Frau zu, die eine rote Weste trägt. „Ich habe dich getroffen.“ Die Frau arbeitet für das türkische Familienministerium und hat mit drei Kolleginnen das Spiel auf dem Sportplatz in Kilis organisiert. Sie sind als psychosoziale Ersthelferinnen im Einsatz und kümmern sich vor allem um die Kinder in den zahlreichen Erdbeben-Nothilfe-Camps in der südtürkischen Stadt. Kilis hat etwa 120.000 Einwohner*innen, der Ort und die gleichnamige Provinz waren auch von dem Erdbeben betroffen, doch sind weitaus weniger schwer beschädigt als die Provinzen Hatay, Kahramanmaraş oder Adıyaman. Zerstörte Häuser sind kaum zu sehen, dennoch leben hier viele Menschen in Camps, die von der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD errichtet wurden.

Der Stabilität der Häuser traut kaum noch jemand

Aus Angst vor möglichen Nachbeben kehren viele Be­woh­ne­r*in­nen von Kilis nicht in ihre Häuser zurück. Zu präsent ist die Erinnerung an das Beben von vor zwei Wochen, das für fast zwei Minuten die Erde erschütterte und in einem Gebiet, das halb so groß wie Deutschland ist, Menschen unter Schutt begrub.

undefined

Was in der gesamten Erdbebenregion jetzt am meisten gebraucht werde, seien warme Unterkünfte, Medizin, Essen und Wasser für die Betroffenen, sagt die 34-jährige Betul Abras. „Das Zweite, was dringend benötigt wird, sind Angebote für eine psychologische Unterstützung.“ Abras arbeitet in Kilis für die Malteser.

Die Malteser sind schon seit mehr als zehn Jahren in der Südtürkei tätig, mit 18 Leuten in zwei Büros, eines in Gaziantep, eines in Kilis. Von hier aus haben sie in den vergangenen Jahren Hilfsaktionen für Syrien organisiert, sie arbeiten mit vier Partnerorganisationen zusammen, die dort etwa Krankenhäuser betreiben. Jetzt haben die Malteser die Zahl ihrer Mit­ar­bei­te­r*in­nen in der Südtürkei aufgestockt, um Hilfe für die in vom Beben betroffenen Gebiete zu organisieren. Auch die Hilfslieferungen nach Syrien sollen ausgebaut werden. Dafür hat die Organisation fünf Lastwagen von Deutschland aus auf den Weg gebracht, sie sind beladen mit Medikamenten, Heizgeräten, Decken und Zelten.

Viele der Kinder, die in dem Lager im Kiliser Sportkomplex herumrennen, sprechen Arabisch. Sie stammen aus dem benachbarten Syrien und leben seit Beginn des dortigen Krieges mit ihren Familien in der Türkei. Wie tausende andere haben auch sie durch das Beben ihre Häuser verloren, nur dürfte ihre Lage jetzt doppelt schwer sein: Viele Sy­re­r*in­nen arbeiten in der Türkei als Ta­ge­löh­ne­r*in­nen und haben außerdem keine türkische Staatsbürgerschaft. Ihr Auskommen in den nächsten Monaten ist höchst ungewiss.

„Hol deine Freunde und komm spielen“, sagt eine Mitarbeiterin des türkischen Familienministeriums zu Betul Abras‘ Nichte. Auch Abras haust derzeit mit ihrer Familie in dem Erdbeben-Camp im Sportkomplex von Kilis. Die türkische Katastrophenschutzbehörde prüft derzeit Wohnhäuser auf mögliche Risse und andere Schäden, die durch das Beben entstanden sein könnten. Bis diese Kontrolle erfolgt ist, möchten auch Betul Abras und ihre Angehörigen noch nicht zurück in ihre Häuser.

Etliche Menschen im Camp sind aus Maraş und anderen vom Erdbeben betroffenen Städten in das weniger beschädigte Kilis geflüchtet und wohnen jetzt hier im Sportkomplex, der Platz für etwa 2.500 Menschen bieten soll. Auch das Mädchen, das seine beiden unter der Tür eingeklemmten Schwestern befreien konnte, lebte in Maraş – mit seiner syrischstämmigen Familie in einem mehrstöckigen Haus, das beim Erdbeben einstürzte. Erst acht Stunden, nachdem die 13-Jährige ihre beiden Geschwister befreien konnte, drangen Helfer zu ihnen durch und beförderten sie nach draußen. Vater, Mutter, Großeltern, Tante und drei Cousins überlebten. Der kleine Bruder des Mädchens und zwei ihrer Cousins nicht.

Betul Abras, Psychologin beim Malteser-Hilfsdienst„Viele der Erwachsenen hier haben noch kein einziges Mal geweint, um vor ihren Kindern stark zu sein“

Beschäftigungen wie Spielen oder Malen seien dringend benötigte Ablenkungen für die Kinder, sagt Psychologin Abras. Sie habe für die Kleinen Buntstifte und Papier geholt, aus den Beständen ihrer eigenen Familie, und alle Kinder seien gleich ins Malen versunken. Mit solchen Tätigkeiten könnten sie beginnen, das gerade erst Erlebte zu verarbeiten. In der Traumabewältigung für Erwachsene gehe es eher darum, mit Panikattacken zurecht zu kommen. Dafür seien Gespräche wichtig, aber auch Atemübungen oder Momente der Ruhe. „Viele Erwachsene hier haben noch kein einziges Mal geweint, um gegenüber ihren Kindern stark zu sein“, sagt Abras. Andere aber könnten irgendwann nicht mehr an sich halten, dann breche es aus ihnen heraus.

In Iskendurun, einer Stadt in der vom Erdbeben besonders schwer getroffenen Provinz Hatay, ist die komplette Gesundheitsversorgung zusammengebrochen. Das Krankenhaus in dem Ort mit einst 250.000 Ein­woh­ne­r*in­nen hielt den Erschütterungen nicht stand. Etwa hundert Menschen starben in seinen Trümmern, nur drei konnten lebend gerettet werden. Nun arbeiten die Ärzte in Iskendurun bis auf Weiteres in Zelten, die an der Krankenhausruine aufgebaut wurden. Allerdings gibt es nur eine Notaufnahme, die auch bloß eingeschränkt funktionieren soll.

2023 Gaziantep Earthquake-Diyarbakir 1.jpg

Am südlichen Stadtrand von Iskendurun am Messegelände steht eine weitere große Zeltlandschaft auf einem Schotter-Platz. Hier hat die spanische Agentur für internationale Entwicklungszusammenarbeit (AECID) ein Feldkrankenhaus eingerichtet. „Die Krankenhäuser in Iskendurun verfügten über Kapazitäten für 1.000 Betten. Jetzt haben sie gar keine mehr“, sagt Roberto Arranz, der örtliche Leiter. In den rund 30 Zelten, die die Spanier aufgebaut haben, befinden sich ein Operationssaal, eine Orthopädie, eine Gynäkologie – und eine psychiatrische Einheit. Eine Psychiater und eine Psychologin kümmern sich hier um die seelische Gesundheit der Menschen.

„Noch während wir hier am vergangenen Freitag aufgebaut haben, ist das Team in das benachbarte Camp gegangen und hat Gruppentherapie-Runden für die vom Erdbeben betroffenen Menschen angeboten“, sagt Arranz. Zwischen 500 und 1.000 Menschen haben in dem Expo-Areal von Iskendurun nun eine vorläufige Unterkunft gefunden.

Quelle       :         TAZ-online        >>>>>          weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —       im Uhrzeigersinn von oben links: Gaziantep, Adıyaman, Zitadelle von Gaziantep, Diyarbakır, Provinz Hatay (2mal)

**********************************

2.) von Oben       —     Karte der Anatolischen Platte, mit der Ostanatolischen Verwerfung (englisch East Anatolian Fault).

Abgelegt unter Asien, Mensch, Nah-Ost, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Grünes Schrumpfen

Erstellt von Redaktion am 17. Februar 2023

Eine neue Studie weist nach, dass „grünes Wachstum“ eine Illusion ist.

Logo Renewable Energy by Melanie Maecker-Tursun V1 bgGreen.svg

Ein Finanzkasino von Ulrike Herrmann

Denn Öko-Energie, die unsere Technik antreibt, hat schlicht zu hohe Kosten. Die Herstellung von grünem Kerosin dürfte insgesamt etwa 10- bis 40-mal so viel kosten wie die fossile Variante.

Klimaschutz scheint einfach: Man muss nur auf Ökoenergie setzen. Doch leider ist es nicht trivial, genug Ökoenergie zu mobilisieren. Energieexperten schätzen, dass Deutschland etwa 2.000 Terawattstunden (TWh) an Ökostrom benötigen würde, wenn „grünes Wachstum“ möglich sein soll. Das wäre rund 4-mal so viel Strom, wie Deutschland heute verwendet.

Diese Mengen kann die Bundesrepublik nicht komplett erzeugen. Selbst wenn so viele Solar­paneele und Windräder wie möglich installiert würden, kämen wohl nur 1.200 heimische Terawattstunden heraus. Die restlichen 800 TWh müssten importiert werden.

Wirtschaftsminister Robert Habeck ist daher kürzlich nach Namibia gereist, um dort ein Projekt anzustoßen, das 10 Milliarden Dollar kosten soll. Mit Sonne und Wind soll grüner Wasserstoff produziert und dann in Ammoniak umgewandelt werden. 2027 soll die erste Fuhre nach Deutschland gehen, um hier Dünger und andere Chemikalien klimaneutral herzustellen.

Die Idee hat Charme: Namibia ist mehr als doppelt so groß wie Deutschland, hat aber nur knapp 2,6 Millionen Einwohner – und damit viel Platz für Windräder und Solarpaneele. Zugleich würde auch Namibia Ökostrom erhalten, denn „eine Art von grünem Energie-Imperialismus“ schließt Habeck aus.

Bleibt die Frage: Wie teuer wird die gesamte Produktion? Es sagt wenig, dass ein Projekt 10 Mil­liar­den Dollar kosten soll. Um die Energiewende zu kalkulieren, ist wichtig, wie teuer die einzelnen grünen Energie-Einheiten im Vergleich zu den fossilen Varianten werden. Lange gab es nur vage Schätzungen – bis im Dezember eine Studie erschien, die das Bundeswirtschaftsministerium gefördert hat. Gerechnet wurden Modelle für das nördliche Afrika und den Nahen Osten, wo die Bedingungen ähnlich günstig wie in Namibia sind: Die Sonne scheint fast immer, und in den Wüsten leben kaum Menschen, die sich an den Solarpaneelen oder Windrädern stören könnten.

Immerhin: Theoretisch ließe sich genug Strom erzeugen, um ganz Europa zu versorgen. Doch der Rest ist schwierig. Denn der Wüstenstrom lässt sich nicht einfach nach Norden transportieren, weil Stromleitungen zu teuer wären. Um aber per Schiff oder Pipeline nach Europa zu ­gelangen, muss der Strom umgewandelt werden – erst in grünen Wasserstoff und dann in synthetische Kraftstoffe oder andere Basisprodukte. Schon dabei geht eine Menge Energie verloren. Zudem lässt sich Wasserstoff nur erzeugen, wenn ­Süßwasser vorhanden ist, das aber in Wüsten bekanntlich fehlt. Also muss Meerwasser entsalzt werden, was erneut Energie kostet. Ein weiteres Problem: Um grünes Kerosin oder andere Energieträger zu erzeugen, wird Kohlenstoff benötigt. Klima­neutral ist dies jedoch nur, wenn dafür CO2 aus der Luft gefiltert wird, weil auch wieder CO2 entsteht, wenn grünes Kerosin verfeuert wird. Leider kostet es erneut viel Energie, CO2 aus der Luft zu holen.

Die neue Studie hat daher errechnet, dass ein Liter grünes Kerosin 2030 zwischen 1,92 und 2,65 Euro kosten dürfte. Bis 2050 sollen die Herstellungskosten auf 1,22 bis 1,65 Euro fallen. Diese Preise wirken zunächst nicht besonders teuer – schließlich müssen Fluggesellschaften momentan etwa 2,81 Dollar pro Gallone Kerosin zahlen, wobei eine Gallone 4,4 Litern entspricht. Das grüne Kerosin scheint also „nur“ 4-mal so teuer zu sein wie die fossile Variante.

Doch dieser Vergleich führt in die Irre, weil Marktpreise mit Herstellungskosten verwechselt werden. Die Fluggesellschaften zahlen nicht nur für die Produktion des Kerosin, sondern finanzieren auch die enormen Gewinne der Ölstaaten – und die Spekulation an den Finanzmärkten. Das Öl selbst lässt sich relativ billig aus dem Boden holen. Im Nahen Osten liegen die Förderkosten bei etwa 10 Dollar pro Barrel (159 Liter), in den USA sind es rund 30 Dollar. Natürlich ist auch ein bisschen Aufwand nötig, um das Rohöl zu Kerosin zu raffinieren – aber insgesamt dürfte die Herstellung von grünem Kerosin etwa 10- bis 40-mal so viel kosten wie die fossile Variante. Damit wird „grünes Wachstum“ zur Illusion.

Stattdessen ist „grünes Schrumpfen“ angesagt. Denn die Energie treibt die ganze Technik an, die unseren Wohlstand produziert. Wird Energie knapp und teuer, muss die Wirtschaftsleistung sinken. Viele Klimaretter wollen nicht wahrhaben, dass es auf „grünes Schrumpfen“ hinausläuft. Sie führen gern zwei Argumente an, die aber beide falsch sind. Erstens: Nur die Marktpreise würden zählen, nicht die Herstellungskosten. Denn das hiesige Geld sei futsch, sobald wir unsere Öl­importe zahlen. Deswegen sei grünes Kerosin „nur“ 4-mal so teurer.

Quelle      :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —     Logo for renewable energies (solar energy, bio-energy, energy of water, wind energy) by German graphic designer and art director Melanie Maecker-Tursun from Hamburg.

Abgelegt unter Energiepolitik, Ernährungspolitik, International, Positionen, Umwelt | 1 Kommentar »

Drogenmafia + Paramilitärs

Erstellt von Redaktion am 17. Februar 2023

Vor Ort bei der Drogenmafia und den Paramilitärs

Quelle      :        INFOsperber CH.

Josef Estermann /   

Afro-kolumbianische Jugendliche kämpfen um Anerkennung, Integration und Arbeit – sie wollen Armut, Gewalt und Drogen entkommen.

Red. Josef Estermann befindet sich auf einer vierwöchigen Reise durch die Andenländer Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien. Er trifft alte Bekannte, Orte und eine Gegenwart, die von Widersprüchen und ungelösten Konflikten geprägt ist. Estermann lebte und arbeitete während 17 Jahren in Peru und Bolivien.

72 Prozent Arbeitslosigkeit

Die kolumbianische Stadt Tumaco an der Pazifikküste in unmittelbarer Nähe zur ecuadorianischen Grenze galt lange Zeit als ein Hotspot der Guerilla-Organisation FARC. Nach dem Friedensabkommen zwischen der Regierung und der FARC vor über sechs Jahren sind deren Mitglieder zwar weniger präsent, dafür machen sich umso mehr der Drogenhandel und paramilitärische Einheiten bemerkbar. Für Jugendliche bedeutet diese Situation eine schier unlösbare Herausforderung, da die Arbeitslosigkeit insgesamt bei 72 Prozent liegt, bei der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen sogar noch höher.

Tumaco zählt rund 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner. 95 Prozent davon sind Afro-Kolumbianerinnen und Afro-Kolumbianer, also Nachfahren von Sklavinnen und Sklaven , die aus Afrika verschleppt wurden. Eine kleine Minderheit bilden vertriebene indigene Menschen. Weisse oder Mischlinge sieht man praktisch keine. In ganz Kolumbien liegt der Anteil der afro-kolumbianischen Bevölkerung gemäss der Volkszählung von 2019 bei nur neun Prozent.  Sie gehört neben der indigenen Bevölkerung zu den am meisten diskriminierten Gruppen in Kolumbien.

Das Armenviertel «Nueva Esperanza»

Auf dem Landweg ist Tumaco nach 15 Stunden Busfahrt von Bogotá über Pasto erreichbar, oder dann wie jetzt – wo die Strasse wegen eines Erdrutsches gesperrt ist – mit dem Flugzeug, was sich aber kaum jemand leisten kann. Die Zentralregierung in Bogotá hat die Gegend an der Grenze zu Ecuador immer schon vernachlässigt, sodass sich in diesem Gebiet die verschiedenen Guerillagruppen, aber auch Schmuggler und Drogenhändler relativ ungestört bewegen konnten. Daran hat auch der Friedensvertrag wenig geändert.

Das Armenviertel «Nueva Esperanza» (Neue Hoffnung) beherbergt rund 10‘000 Menschen, die zum Teil wegen der Gewalt vom Land in die Stadt flohen, zum Teil aber auch dorthin zogen, weil die Stadt neue Möglichkeiten für eine (meist illegale) Tätigkeit eröffnet. Weit über 60 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner sind jünger als 25 Jahre alt. Die Lebensbedingungen sind miserabel. Wie auch in den anderen Teilen der Stadt sind die Häuser in «Nueva Esperanza» auf Stelzen über dem Meeresspiegel gebaut. Das Wasser bahnt sich wie eine riesige Kloake einen Weg durch die «Gassen». Über abenteuerliche Stege mit unregelmässigen Holzbrettern gelangt man zu den Häusern.

Ein Abwassersystem gibt es nicht. Alles wird direkt ins Meereswasser eingeleitet. Trinkwasser gibt es nur alle vierzehn Tage über ein behelfsmässig angelegtes Leitungssystem, um grosse Wassertanks zu füllen. Die Stadt stellt nur die Stromzufuhr und eine Kehrrichtabfuhr sicher; sonst ist die öffentliche Hand nicht präsent. Viele Menschen leiden an endemischen Krankheiten und Parasiten.

Von der FARC geschützt

Entgegen den üblichen Nachrichten sind die Mitglieder der FARC aufgrund des Friedensvertrags nicht einfach alle entwaffnet und in die Zivilgesellschaft zurückgeführt worden. Viele sind ob der nur halbherzigen Umsetzung der im Friedensprozess versprochenen Reformen enttäuscht wieder in den Dschungel zurückgekehrt und haben wieder zu den Waffen gegriffen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass «Nueva Esperanza» von den FARC beherrscht wird, auch wenn man keine maskierten oder uniformierten Guerillakämpferinnen und Guerillakämpfer sieht. Sie sind unsichtbar für jemanden, der oder die von aussen kommt. Aber es ist klar, dass sie unseren «Besuch» von allem Anfang an registriert haben.

Tumaco from Air.jpg

Wir konnten nur deshalb nach «Nueva Esperanza» gelangen, weil eine europäische Mitarbeiterin – nennen wir sie Klara – seit zehn Jahren im Stadtviertel wohnt und mit den Jugendlichen alternative Lebensprojekte aufzubauen versucht. Sie kennt die Menschen und weiss auch genau, wer zur Guerilla gehört. Polizei und Militär kommen normalerweise nicht ins Viertel. Sollten sie es trotzdem tun, gilt es, zu ihnen die nötige Distanz zu wahren, um nicht in den Verdacht einer Zusammenarbeit zu kommen und somit als «Verräter» gebrandmarkt zu werden.

Die FARC sorgt dafür, dass Ruhe und Ordnung im Viertel herrschen. Klara versichert uns, dass es praktisch keine Einbrüche und Diebstähle gibt. Unlängst sei ein Dieb auf frischer Tat ertappt und gelyncht worden. Wie komisch es auch tönt, aber Klara – und auch wir als Besucher – fühlen uns nicht trotz, sondern gerade wegen der Präsenz der FARC sicher.

Allerdings ist es ein offenes Geheimnis, dass die FARC im Drogenhandel aktiv ist. Die Gegend um Tumaco hat sich in letzter Zeit zu einem eigentlichen Koka-Anbaugebiet entwickelt. Zum Teil werden die Kokablätter vor Ort zu so genannter Pasta Básica (Kokapaste) verarbeitet, zum Teil gibt es sogar geheime Kokain-Labore im praktisch undurchdringlichen Dschungel. Leider ist der Koka-Anbau für die Bauern immer noch viel rentabler als der Anbau von Früchten, Soja oder Reis.

Drogenmafia und Paramilitärs

Die Drogenhändler gelten neben den paramilitärischen Gruppierungen – die in Kolumbien für die meisten Todesopfer verantwortlich sind – als jene Kreise, die skrupellos zur Gewalt schreiten und ihr Terrorregime mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten trachten. Zu den Methoden gehören Erpressung – praktisch alle Unternehmen in Tumaco bezahlen Schutzgeld an die «Narcos» – und Lynchjustiz, Bombenattentate und Entführungen. In letzter Zeit war es zwar relativ ruhig, aber es soll eine grosse Abrechnung zwischen Narcos und «Paras» bevorstehen. Die Paras näherten sich vom Land der Stadt.

Das Militär hat sich in Tumaco regelrecht eingebunkert, und auch die Polizei tritt nur selten in Erscheinung. Das eigentliche Verkehrsmittel sind die vielen Motorräder mit bis zu vier Passagieren, die auch als «Taxis» fungieren. Verkehrsregeln werden kaum beachtet. Nur unser Taxifahrer hält bei Rot, weil wir Gringos sind. Allerdings sollte man es sich mit der Polizei auch nicht verderben, gilt sie doch als die korrupteste Institution im Land.

Die Jugendlichen von «Nueva Esperanza» befinden sich zwischen allen Fronten: auf der einen Seite die Guerilla. Neben der FARC ist auch die ELN in der Gegend aktiv. Auf der anderen Seite die Paramilitärs und die Drogenhändler. Dazu kommen noch das Militär und die Polizei, mit denen man sich irgendwie arrangieren muss. Aufgrund der Perspektivenlosigkeit optieren viele junge Menschen, vor allem Männer, für die Guerilla oder den Drogenhandel, oft auch für beide.

Ein Zentrum für afro-kolumbianische Jugendliche

Angesichts dieser schwierigen Situation hat Klara vor Jahren mit der Hilfe der katholischen Kirche und Missionaren eines religiösen Ordens in «Nueva Esperanza» ein Zentrum aufgebaut – nennen wir es «Encuentro Afro» –, in dem junge Menschen Begleitung und Hilfe für ein Leben ohne Gewalt, Drogen und Waffen erhalten. Das Zentrum wurde mehrfach ausgezeichnet und leistet wertvolle Hilfe, damit die Jugendlichen aus dem Teufelskreis von Armut, Gewalt und Arbeitslosigkeit herausfinden. Alle sind im Zentrum willkommen, mit einer Bedingung: keine Waffen oder Drogen.

Gearbeitet wird mit kreativen Mitteln, um die gewaltlose Kommunikation zu fördern, das Selbstwertgefühl zu stärken in einer Gesellschaft, welche die Schwarzen generell diskriminiert und an den Rand der Legalität drängt, und um solidarische Selbsthilfe aufzubauen. Viele Jugendliche konnten so ihre Schulbildung abschliessen, einige schafften es sogar an die Universität. Aber dies alles ist noch keine Garantie dafür, dem erwähnten Teufelskreis zu entrinnen.

So zum Beispiel Ruben (Name geändert), der einen Master in Ingenieurwissenschaften erlangte, aber seit über einem Jahr händeringend nach einem Job Ausschau hält. Mit Gelegenheitsjobs hält er sich über Wasser und hilft im Zentrum «Encuentro Afro» mit. Trotzdem bleibt er der Misere und den Versprechungen der Guerilla, der Drogenmafia und der Paras weiter ausgesetzt.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

© Das Weiterverbreiten sämtlicher auf dem gemeinnützigen Portal www.infosperber.ch enthaltenen Texte ist ohne Kostenfolge erlaubt, sofern die Texte integral ohne Kürzung und mit Quellenangaben (Autor und «Infosperber») verbreitet werden. Die SSUI kann das Abgelten eines Nutzungsrechts verlangen.

Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —   Fotos Juan Pablo Bello SIG

   


Abgelegt unter Amerika, Innere Sicherheit, Kultur, Mensch, Positionen | Keine Kommentare »

Kolumne-Wir retten die Welt

Erstellt von Redaktion am 17. Februar 2023

Unser ganz privates Restbudget

Datei:120613 Doppelleben Artwork.pdf

Eine Kolumne von Bernhard Pötter

Es geht um Sekunden. 53…52…51… läuft die Digitalanzeige vor mir herunter. Wenn ich jetzt noch die Pennsylvania Avenue überqueren will, ohne von einem SUV zerquetscht zu werden, muss ich einen Schritt zulegen. Dann mal schnell…48…47…46… Die haben aber auch breite Straßen hier in Washington…42…41…40…

Über die USA lässt sich gut schimpfen, besonders bei einem Recherchebesuch zu Öko-Themen. Die Menschen jammern über hohe Spritpreise und lassen einfach immer die Motoren ihrer Busse und Autos laufen. Die rote Hälfte glaubt immer noch nicht an den Klimawandel, auch wenn ihnen Kalifornien unter den Füßen wegbrennt…37.. Sie lassen alle Lichter an, auch wenn keiner zuhause ist, ihre Straßenpanzer sind noch größer als bei uns, sie verbieten ungefährliche Bücher und verherrlichen gefährliche Menschen.

32…31…30… Aber dieses Amerika hat auch vorbildliche Seiten: ein Mega-Investitionsprogramm für Klimaschutz und Infrastruktur, eine dynamische Öko-Entschlossenheit in der blauen Hälfte der Bevölkerung; so viel Geld, Mut und Zukunftslust, dass man manchmal an die Rettung der Welt glauben kann. Und vor allem: Fußgängerampeln, die dir sagen, was deine Stunde geschlagen hat …27…26…

Das ist der Budget-Ansatz für das persönliche Verhalten. Totale Individualisierung der Welt- oder Selbstrettung. Schaffe ich es noch bis zur Ecke, ehe mir ab Sekunde 10 eine rote Hand „STOP“ entgegenblinkt? Und halte ich dann an – oder schlendere ich cool vor dem schulterhohen Kühler dieses Pickup-Trucks über den bröckeligen Asphalt?.. 15…14…

Wirklich innovativ wäre die drastisch-plastische Ermahnung, wie schnell uns die Zeit davonrennt: …11…10… Eine CO2-Uhr fürs Weltklima, wie sie auch die taz hat, schön und gut. Aber noch schöner und besser wären ganz persönliche Endzeit-Erinnerungen. Ein Tacho im Auto, der nicht angeberisch 130 Stundenkilometer in der Spielstraße zeigt, sondern die ausgestoßenen Gramm an CO2, Stickoxiden und Ruß. Ein Thermostat an der Heizung, das für jede Einstellung deren Beitrag am Klimakillen durchs Gas beklagt …7…6…5…Eine App auf dem Handy, die mich vielleicht schon im Juli daran erinnert, dass ich alle nachwachsenden Rohstoffe aufgebraucht habe, die mir für dieses Jahr global zustehen. Und die mir gleich einen Platz für den ressourcenschonenden Winterschlaf für den Jahresrest zuweist. Ein Zettel in jeder Steak-Verpackung, wieviel Hektar Regenwald dafür gefallen sind …4…3… Eine knallrote Grafik auf jedem Flugticket, dass der Flug nach Washington und zurück schon mein persönliches CO2-Jahresbudget doppelt aufgebraucht hat.

Quelle       :       TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —  Plakat „Doppelleben – Der Film“

Verfasser DWolfsperger      /      Quelle    :   Eigene Arbeit      /      Datum    :    1. August 2012

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.

*****************************

Unten        —       Leather wallets  – leer

Abgelegt unter Feuilleton, International, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Sprache als Klimakiller

Erstellt von Redaktion am 16. Februar 2023

2-Grad-Ziel, Umwelt, CO2-Äquivalente, Kompensation: 

Ein Debattenbeitrag von Ute Scheub

Viele Klimabegriffe sind verharmlosend oder sachlich falsch. Ein Plädoyer für klügere Sprache. Autos, Kühe und Reisfelder werden verrechnet, obwohl Verbrenner völlig andere Auswirkungen haben als Kühe.

Zu langsam, zu ineffektiv, zu häufig wirkungslos – die Pariser Klimaziele von „deutlich weniger als im Schnitt 2 Grad plus“ werden von keinem Land der Welt erreicht. So beurteilt die globale Klimabewegung die Maßnahmen der nationalen Regierungen rund um den Globus. Die fossile Lobby ist viel zu stark, die Regierungen sind zu sehr mit ihr verbandelt oder trauen sich zu wenig. Aber ein wenig ist auch die Klimawissenschaft verantwortlich – aufgrund ihrer Sprache.

Es fing bereits an mit dem Begriff „Klimawandel“. US-Wissenschaftler der 1970er und 1980er nannten das Phänomen immerhin noch „Treibhauseffekt“. Treibhäuser sind heiß, das begreifen Menschen intuitiv. Aber „Klimawandel“? Ach, irgendwas ändert sich doch immer. Und Wandel klingt nach Lustwandeln, nach Spaziergang in lauschigen Wandelhallen.

Dann, einige Zeit später, das „2-Grad-Ziel“. Gefühlt sind zwei Grad Unterschied nicht der Rede wert: Schon allein der Wärmeunterschied zwischen Tag und Nacht ist größer. Abermillionen von Menschen haben die dramatischen Konsequenzen von „plus 2 Grad“ nie verstanden. Das Rechnen mit globalen Mittelwerten, die auch Ozeane, sprich 70 Prozent der Erdoberfläche, miteinschließen, verschleiert das Wesentliche der Klimakatastrophe: Extremwetter und Landzerstörungen. Also Hitzewellen, Dürren, Wüstenbildung, Überflutungen, Meeresanstieg, Unberechenbarkeit von Jahreszeiten und Ernten, Unsicherheit von Leben überhaupt. Wäre als Kernbotschaft vermittelt worden, dass lokal viele höhere Temperaturen entstehen und somit Welternährung und Lebenssicherheit auf der Kippe stehen, wäre die Wirkung weit größer gewesen.

Sodann der Begriff „negative Emissionen“. „Negativ“ ist ein negativ besetztes Wort, „Emissionen“ auch. „Negative Emissionen“ müssen also etwas besonders Schreckliches sein. Was, es geht um Treibhausgas-Speicherung? Warum nennt man das dann nicht so? Der Begriff „Umwelt“ wiederum ist nicht den Klimawissenschaften anzulasten, weil schon älter, aber ebenfalls verhängnisvoll. Alles, was lebendige Natur ist, pulsierendes Leben, quirlige Artenvielfalt, wird in ein menschenzentriertes Wort gequetscht. Um-Welt, das ist die Welt um den Menschen herum, seine Bedürfnisse und Interessen. De facto eine Un-Welt, weil der Begriff leugnet, dass Menschen ohne Natur nicht existieren können. Um-Welt, das ist die fatale Fortsetzung des Bibelspruchs: „Macht euch die Erde untertan!“ Der Spruch wurde über Jahrhunderte benutzt, und bis heute gelten Tiere, Pflanzen und Ökosysteme juristisch als Dinge. Eine verdinglichte „Umwelt“ ist viel leichter zu erobern, auszubeuten und zu zerstören als das lebendige Subjekt einer „Mitwelt“ mit ihren nichtmenschlichen Mitgeschöpfen, die ihren Eigenwert in sich selbst trägt.

„CO2-Äquivalente“ ist ein weiterer Problembegriff. Er suggeriert, dass man alle Treibhausgase mit CO2 gleichsetzen und verrechnen könne. Dabei haben Lachgas, Methan und Stickoxide völlig unterschiedliche biologische Kurz- und Langzeitwirkungen. Auch Wasserdampf ist ein Treib­hausgas. Die Erfindung der „CO2-Äquivalente“ dient dazu, Computersimulationen für die Wirkung von Klimamaßnahmen zu erstellen. Sie führt aber auch dazu, dass Autos, Kühe und Reisfelder als CO2-Emissionsquellen mit Mooren oder Wäldern als CO2-Emissionssenken verrechnet werden – obwohl Verbrennermaschinen eine völlig andere Wirkung haben als Kühe. Die wegen ihres Methan-Rülpsens als „Klimakiller“ geschmähten Rinder etwa können mittels nachhaltiger Weidesysteme jede Menge CO2 auf Weiden speichern helfen.

Mit anderen Worten: Über die rein quantitative Verrechnung mittels „CO2-Äquivalenten“ gehen entscheidende qualitative Unterschiede verloren. Das wirkt sich zugunsten von großtechnischen Vorschlägen und Scheinlösungen aus und zulasten von natürlichen Klimalösungen. Inzwischen ist überall zu lesen, dass „wir“ nicht mehr umhinkommen, in Form der CCS-, DACCS- oder BECCS-Technik CO2 abzuscheiden und unterirdisch zu lagern. Auch der grüne Vizekanzler Robert Habeck redet so daher.

Quelle           :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

********************************************************

Grafikquelle :

Oben       — Karikatur: „Technischer Fortschritt“: Rückholung von Kohlenstoffdioxid (Stichworte: CO2, Energie, Technik, Klima)

Abgelegt unter Energiepolitik, International, Medien, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Stadtgespräch Berlin -Kotti

Erstellt von Redaktion am 16. Februar 2023

Polizeiwache in Berlin-Kreuzberg: Armut wegknüppeln

Von Caspar Shaller

Im Herzen von Berlin-Kreuzberg eröffnet eine umstrittene Polizeiwache. Soll sie etwa Probleme wie Armut, Wohnungsnot und Heroinsucht lösen?

Nun ist sie also da: Die umstrittene Polizeiwache am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg wurde am Mittwoch eröffnet. Über der Adalbertstraße schwebt die neue Wache, die bereits als Bullen-Balken verspottet wird. Satte 3,24 Millionen Euro hat dieser Bullenbalken gekostet. Dort sollen drei Polizisten in Schichten rund um die Uhr Dienst schieben und Ansprechpartner für Probleme in der Umgebung sein. Noch mehr Polizisten als bisher sind im Kiez auf Streife. Was soll das bringen?

Das Prestigeprojekt der Innensenatorin Iris Spranger (SPD) soll für mehr Sicherheit an diesem angeblich „kriminalitätsbelasteten Ort“ sorgen. Manche Anwohner und Vertreter der Geschäftswelt erhoffen sich Verbesserungen. Aber kann Law and Order wirklich die Lösung sein?

Viele im traditionell alternativen Kreuzberg kritisieren die Wache scharf. In einem offenen Brief an den Senat sprachen sich verschiedene An­woh­ne­r:in­nen­in­itia­ti­ven und soziale Träger wie der Quartierrat Zentrum Kreuzberg, der Mieterrat des Gebäudekomplexes und örtliche Gewerbetreibende gegen die Wache aus. Und kritisierten eine Mentalität des Durchregierens. Am Mittwoch demonstrierten etwa 200 Menschen gegen die verstärkte Polizeipräsenz, die gerade an dem Tag heftig war: 350 Beamte waren vor Ort, um die Eröffnung zu sichern.

Die Wache wirkt wie reine Symbolpolitik, ohne konkreten Nutzen. Sie erinnert an die Wache im Leipziger Viertel Connewitz, noch so ein Stadtteil, den nationale Medien gern zum Problemkiez stilisieren. Kriminalität gibt’s dort kaum – aber viele Linke. Um den harten Hund zu markieren, setzte die Politik dem Viertel eine Wache rein. Eine unnötige Aktion, allein dazu gedacht, Schlagzeilen zu generieren.

Selbst Beamte wollen sie nicht

Auch die Wache am Kotti wird wenig Konkretes verändern – außer dass Iris Spranger sich den vor Angst schlotternden Außenbezirken als eiserne Kümmerin präsentieren kann. Das Sicherheitsgefühl stärkt man jedoch nicht, in dem man ständig von angeblichen Gefahren und überall lauernden Kriminellen spricht. Selbst innerhalb der Polizei stößt Sprangers Projekt auf wenig Gegenliebe.

File:Armut Bettler Obdachlos (12269249596).jpg

Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei Berlin sagte im rbb am Mittwoch, er kenne keinen bei der Berliner Polizei, der da eine Wache wollte. Man fand dementsprechend nur schwer Personal für die Wache. Es hat sich offenbar nur ein einziger Beamter freiwillig gemeldet, in der Wache zu arbeiten. Peinlich für ein Prestigeprojekt.

„Damit kriegen wir nicht mehr Polizei auf die Straße, sondern eher weg von der Straße“, begründet Jendro seine Kritik. Doch ob mehr Beamte auf der Straße tatsächlich das Mittel gegen die am Kotti sichtbaren sozialen Verwerfungen sind, sei dahingestellt.

Polizei gegen Vermüllung?

„Es gibt hier viele Probleme. Meist sind sie jedoch nicht polizeilicher Art, sondern soziale Probleme, die durch soziale Organisationen gelöst werden müssen und nicht durch die Polizei. Davon gibt es jedoch zu wenige“, sagte der einsichtige Kiez-Polizist Norbert Sommerfeld vergangenen Sommer in der taz. Die heiße Frage ist: Lassen sich soziale Probleme wie Armut durch die Polizei lösen? Die Wache soll sogar gegen „Vermüllung“ helfen. Wie genau, bleibt unklar.

Droht die Verhaftung, wenn man die Tüte von Burgermeister fallen lässt? Wird man niedergeknüppelt, wenn man seine Cola-Dose in die Ecke wirft? Es scheint, als hoffe der Senat, dass sich Passanten vom Bullen-Balken so bedroht fühlen, dass sie sich besser verhalten. Sollte Innensenatorin Spranger Foucaults Gleichnis vom Panoptikon gelesen haben, hat sie es wohl als Bedienungsanleitung missverstanden.

Am Kotti kristallisieren sich Probleme der ganzen Stadt: Wohnungsnot, Armut, Verkehr, Dreck. Doch der Senat scheitert überall daran, diese Probleme zu lösen, nicht nur in Kreuzberg. Er weigert sich bisher, eine wirkungsvolle und demokratisch abgesicherte Maßnahme anzugehen, Mieten in der Stadt zu senken – nämlich große Wohnungskonzerne zu enteignen.

Auch beim Neubau kommt er nicht zu Potte. Die Unterbringung von Obdachlosen macht zwar Fortschritte, aber da geht noch deutlich mehr, wie Helsinki zeigt, wo Obdachlosigkeit komplett verschwunden ist, seit man Betroffenen unkompliziert und ohne Bedingungen einen Wohnort verschafft.

Putzen würde auch helfen

Quelle         :       TAZ-online       >>>>>         weiterlesen

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben      —     Zentrum Kreuzberg am Kottbusser Tor

Unten       —   

Description Armut Bettler Obdachlos
Date
Source Armut Bettler Obdachlos 

Author blu-news.org
w:en:Creative Commons
attribution share alike
This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0

Abgelegt unter Berlin, HARTZ IV - (Bürger-Geld), Mensch, Positionen, Sozialpolitik | Keine Kommentare »

Wider den Fatalismus

Erstellt von Redaktion am 15. Februar 2023

Der Planet wird uns – wenn nötig – abschütteln

The Blue Marble (remastered).jpg

Ein Schlagloch von Ilja Trojanow

Wenn ohnehin alles schon zu spät wäre, könnten wir uns die Mühe gleich sparen. Ist es aber nicht und Panikmache allenfalls kontraproduktiv. Der Planet wird uns – wenn nötig – abschütteln wie eine lästige Erkältung und ohne uns weiter existieren.

Zu spät“, sagte die Frau im Radio. „Es ist zu spät.“ Die Politikerin wiederholte ihre Klage ein Dutzend Mal. Um das Zögern des Bundeskanzlers bei Panzerlieferungen anzugreifen. Auf Kosten der deutschen Sprache, denn wenn etwas zu spät ist, kann man es auch gleich bleiben lassen. Wer zu spät zum Bahnhof kommt, verpasst den vorgesehenen Zug. Endgültig. Aber es gibt – bei der Bundesbahn wie auch im richtigen Leben – meist einen anderen Zug, einen nächsten. Laut Fahrplan und Lebenserfahrung. Einen Zug, in den man trotz vorangegangenen Gejammers einsteigen wird.

Wir sind derartige Hysterisierung inzwischen gewohnt. Seit einigen Jahren mit endzeitlichem Horizont. Ob beim Krieg gegen die Ukraine oder im Kampf gegen die Klimazerstörung, stets handelt es sich um unsere letzte Chance. Um einen finalen Showdown mit dem Schicksal. Als spielten wir beim Poker all-in. Ob es um unsere Freiheit oder das Überleben der Menschheit geht: It’s now or never!

Das Endgültige zeichnet sich dadurch aus, dass es selten vorkommt – die Apokalypse hat ein solides Alleinstellungsmerkmal. Das Hierundjetzt hingegen wiederholt sich unzählige Male, täglich, stündlich, augenblicklich. Es eignet sich schlecht zur Überdramatisierung, zur existenziellen Reizüberflutung. Und die Gelassenheit, die sich aus dem Wissen um eine weitere Chance ergibt, ermöglicht einen aufgeklärteren Diskurs als das Drohen mit dem Weltuntergang, das uns in die Arme der Alternativlosigkeit treiben soll.

Strukturell ist das Kröchsen der Krähen von allen Kriegstürmen herab dem Sirenengeheul an Bord des untergehenden Planeten Erde ähnlich. Natürlich bin auch ich angesichts der Faktenlage überzeugt, dass wir nur durch radikale Transformation schwerste ökologische Schäden vermeiden können. Weder technologische Lösungen noch grüner Habitus werden uns dabei wesentlich helfen. Aber ich bezweifle, angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre, dass krypto-religiöser Alarmismus einen wertvollen Beitrag leistet.

Zumal die apokalyptische Erwartung wenig mit der Realität zu tun hat. Unsere Freiheit wird natürlich nicht nur in der Ukraine verteidigt. Zum einen, weil sie sich vieler anderer Angriffe erwehren muss (das Erstarken autoritärer und repressiver Kräfte, Vermögenskonzentration, Überwachungskapitalismus, die globale Ungerechtigkeit usw.). Zum anderen, weil es gute Gründe gibt zu bezweifeln, dass eine geschwächte Armee, die nicht einmal einige Provinzen des Nachbarlandes okkupieren kann, in absehbarer Zeit Länder der Nato angreifen oder gar besetzen wird.

Ähnlich verhält es sich bei den ökologischen Herausforderungen. Die Erde wird nicht untergehen, sondern wenn überhaupt die Menschheit. Das Gleichnis von der Arche Noah, das uns hierzulande stark geprägt hat, entstand in einer Wüste, wo es wenige Tiere gab. Die Indigenen im Amazonas, umgeben von allem, was fleucht und kreucht, wären nie auf so eine Geschichte gekommen, weil sie wussten, dass es auch Tiere im Wasser gibt. Jede Dystopie trägt ihre eigenen Scheuklappen. Der Planet wird uns – wenn nötig – abschütteln wie eine lästige Erkältung und ohne uns weiter existieren. Und wer die Natur liebt oder verehrt, wird diese Aussicht vielleicht als beglückend empfinden – schließlich ist schwer erträglich, dass wir das Wunder des Urwaldes zerstören, um veganen Käse zu produzieren. Was untergehen könnte, ist unsere dekadent-destruktive Lebensweise.

Panische Zuspitzungen verhindern, dass wichtige Entwicklungen Beachtung finden. Ein Beispiel hierfür war die Berichterstattung über Lützerath. Die Medien servierten uns ein „High Noon in Niederrhein“: Bagger gegen Baumhäuser. Und übersahen dabei, dass sich dort lebendige und belebende Formen eines alternativen Miteinanders bildeten, wie mir drei Teilnehmerinnen erzählten. Das selbstorganisierte Wirken von Tausenden von Menschen (ein beeindruckendes Panorama der Klimabewegung von gemäßigt bis radikal), die auf basisdemokratische Weise ein funktionierendes Kollektiv formten.

Quelle        :          TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —     Full disk view of the Earth taken on December 7, 1972, by the crew of the Apollo 17 spacecraft en route to the Moon at a distance of about 29,000 kilometres (18,000 mi). It shows AfricaAntarctica, and the Arabian Peninsula.

Abgelegt unter International, Kriegspolitik, Religionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Ganz oder gar nicht ?

Erstellt von Redaktion am 13. Februar 2023

Bis zur Geburt oder gar nicht

Entwicklungsstadien des Kindes während der Schwangerschaft

Ein Debattenbeitrag von Eiken Bruhn

Wer sachlich auf die Debatte guckt, kommt zum Schluss: Abtreibungen auf Wunsch der Schwangeren müssen ganz verboten – oder ganz erlaubt werden.

Der Paragraf 218, der Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellt, soll abgeschafft werden. Das wollen SPD und Grüne, die FDP ist strikt dagegen. Einigen konnte sich die Ampel deshalb nur auf eine Kommission, die eine Regelung außerhalb des Strafgesetzes prüfen soll. Vor Ostern, das hat Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) am Freitag gesagt, werde diese ihre Arbeit aufnehmen.

Diese Kommission muss sich nun auch mit einem Thema beschäftigen, das im öffentlichen Diskurs bislang fehlt. Denn darin geht es nur um Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Woche nach Empfängnis*, die 96,7 Prozent aller Abbrüche ausmachen. Dabei sind die vom Paragrafen 218 verursachten Versorgungslücken nach diesem Zeitpunkt sehr viel größer.

Geg­ne­r:in­nen eines liberalen Abtreibungsrechts werfen SPD und Grünen zwar vor, die Entscheidung über Schwangerschaftsabbrüche „bis zum letzten Tag“ vor der Geburt Frauen selbst überlassen zu wollen. So die rechtspolitische Sprecherin der FDP, Katrin Helling-Plahr, in einer Bundestagsdebatte im März 2021 zu einem Antrag der Linken, der von SPD und Grünen unterstützt worden war. Darin geht es aber lediglich um die Entkriminalisierung von Abtreibungen. Zu späten Abbrüchen äußern sich die beiden Parteien nicht. Erst recht nicht über die nach der 21. Woche, wenn die Föten mit medizinischer Hilfe außerhalb des Mutterleibs überlebensfähig wären und deshalb vor der Geburt mit einer Kaliumchloridspritze ins Herz getötet werden.

Über solche Fetozide redet niemand gern, Wahlen gewinnt man damit nicht. Als 2009 das Gesetz zu Spätabbrüchen verschärft wurde, geschah dies mit Stimmen von SPD und Grünen. Selbst die taz fragte in einem Leitartikel vor zwei Jahren, ob man nicht „zwischen Abbrüchen im Frühstadium und Spätabbrüchen“ unterscheiden müsse.

Eine schlüssige Begründung fehlt sowohl in dem Text als auch in der Argumentation derjenigen, die den Paragrafen 218 verteidigen – der bereits zwischen Abbrüchen vor und nach der 12. Woche unterscheidet. Es ist eine willkürliche Frist, der Unterschied ein gefühlter. Wer sich sachlich mit dem Thema auseinandersetzt, kommt zu dem Schluss: Abtreibungen auf Wunsch der Schwangeren müssen ganz verboten – oder ganz erlaubt werden, so wie es in Kanada seit 1988 der Fall ist.

Es istwahrscheinlich, dass die Zahlen dann leicht ansteigen – allein, weil nicht mehr jährlich 1.200 Deutsche in die Niederlande fahren müssen, wo nach taz-Recherchen jede dritte bis vierte Schwangerschaft zwischen der 12. und 22. Woche abgebrochen wird. Aber Frauen werden die Entscheidung wie bisher nicht leichtfertig treffen und Me­di­zi­ne­r:in­nen werden weiter verantwortungsvoll handeln. Dafür spricht: In Kanada liegt seit 2007 die Zahl der dokumentierten Abtreibungen nach der 19. Woche stabil zwischen 500 und 700 Fällen im Jahr. 2021 waren es in Deutschland 728 nach der 22. Woche, Tendenz stetig steigend.

Wie viele Schwangerschaften im letzten Trimenon abgebrochen werden, lässt sich aus den offiziellen Statistiken beider Länder nicht erkennen. Nach Untersuchungen der Universitätskliniken Gießen und Leipzig handelt es sich um Einzelfälle. Sie zeigen auch, dass Abbrüche nach der 22. Woche so gut wie immer aufgrund einer schweren Behinderung des Fötus geschehen. Das ist der Grund, warum selbst Fe­mi­nis­t:in­nen das Selbstbestimmungsrecht der Frau einschränken wollen, wenn es um späte Abbrüche geht. Alles andere wäre behindertenfeindlich, in Deutschland nach der NS-Euthanasie ein No-Go, sagen sie.

Nur: Deutschland wird immer behindertenfreundlicher – und trotzdem trauen sich weniger Frauen die Pflege eines schwerstbehinderten Kindes zu. Soll man sie zwingen, die Kinder zu bekommen, so wie es „Lebensschützer:innen“ fordern? Treibt das die Inklusion voran? Wie? Eignen sich aus feministischer Perspektive Frauenkörper wirklich als anti-ableistische Barriere?

Zudem sind weitere medizinische Fortschritte bei der Versorgung von Frühgeborenen nicht ausgeschlossen. Was passiert, wenn die Grenze zur Überlebensfähigkeit außerhalb des Uterus nicht mehr bei 21, sondern bei 16 oder 10 Wochen liegt? Und warum sollte es akzeptabel sein, wenn ein Fötus stirbt, weil er aus der Gebärmutter entfernt wird, nicht aber, wenn er darin getötet wird? Wer dem Fötus nach der 21. Woche Rechte zuspricht, bestätigt letztlich die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts. Das hatte vor 30 Jahren die Rechte von Frau und Fötus für gleichwertig erklärt.

Quelle       :         TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —       Entwicklungsstadien des Kindes während der Schwangerschaft

Abgelegt unter Deutschland_DE, Gesundheitspolitik, Mensch, Umwelt | 1 Kommentar »

Überall geheime Verträge

Erstellt von Redaktion am 13. Februar 2023

Vom Fussball bis zu den Impfungen: Geheime Verträge

Quelle      :        INFOsperber CH.

Bernd Hontschik / 

Die Geheimhaltung greift um sich und untergräbt die Gewaltenteilung und das Vertrauen in Behörden.

Ein Fussballspieler kracht im WM-Endspiel 2014 Kopf an Kopf mit einem Gegenspieler zusammen, torkelt, verliert die Orientierung und fragt den Schiedsrichter, ob das hier wirklich das WM-Finale sei. Erst nach einer Viertelstunde wird er vom Feld genommen und kann sich bis heute an nichts erinnern. Vom Vortrag eines renommierten Sportmediziners über die «Rolle von Kopfbällen auf das Gehirn» schloss die UEFA in Frankfurt jüngst sämtliche Medienvertreter aus. Warum, was will die UEFA verbergen?

Als die Universitätskliniken Marburg und Giessen 2006 von der Regierung Koch an den Rhön-Konzern verscherbelt wurden, konnte der Kaufvertrag nicht öffentlich diskutiert werden, obwohl es sich hier um öffentliches Eigentum handelte. Der Kaufvertrag ist bis heute geheim! Warum, was will die Landesregierung verbergen?

In der allgemeinen Seuchenhysterie veranlasste der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Anfang 2020 ein sogenanntes Open-House-Verfahren. Ohne jede Ausschreibung erhielt jeder Verkäufer einen Vertrag, der FFP-2-Masken für 4,50 Euro und OP-Masken für 60 Cent anbieten konnte – Wucherpreise für diese Pfennigartikel. Schon nach wenigen Tagen waren 733 Verträge mit 535 Lieferanten über mehr als 6,4 Milliarden Euro zu Stande gekommen. Aber ein grosser Teil dieser Masken war minderwertig. Man schämte sich nicht, Millionen mangelhafter Masken an Pflegeheime und andere Einrichtungen zu verschicken und einen grossen Teil der nutzlosen Masken an Menschen mit Behinderung, an Obdachlose und an Hartz-IV-Empfänger zu verschenken. Dann kaufte man auch noch 570’000 FFP2-Masken von der Burda GmbH, dem Arbeitgeber von Daniel Funke, dem Ehemann von Jens Spahn. Die Einzelheiten sämtlicher Kaufverträge sind geheim. Warum, was will das Bundesgesundheitsministerium verbergen?

Es folgten etwa hundert Klagen von Maskenlieferanten, weil das Ministerium ihre Rechnungen nicht bezahlt hat. Allein an die Ernst & Young Law GmbH hat das Ministerium 42 Millionen Euro für Anwaltstätigkeiten bezahlt, um diese Klagen abzuwehren. Auch unter Karl Lauterbach bleibt das Ministerium intransparent und erklärte lapidar gegenüber der BILD-Zeitung: «Bisher sind rund 50 Vergleiche geschlossen worden. Zu den Vertragsdetails gibt das Bundesministerium für Gesundheit keine Auskunft.» Warum, was will das Ministerium verbergen?

Geheimhaltung greift um sich. Geheimhaltung untergräbt die Dreiteilung der Gewalten. Geheimhaltung ist Gift für das Vertrauen in die demokratischen Institutionen. Geheimhaltung ist Wasser auf die Mühlen von Verschwörungstheoretikern und Staatsverächtern. Geheimhaltung ist ausserdem eine arrogante Anmassung von Regierungen gegenüber dem eigenen Volk, obwohl es in Artikel 20 des Grundgesetzes heisst, dass «alle Staatsgewalt vom Volke» auszugehen hat: «Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.»

Von Geheimhaltung durch die vollziehende Gewalt ist da keine Rede.

Stellungnahme zur Geheimhaltung

upg. Der Arzt und Blogger Christian Haffner wollte eine Offenlegung von erwähnten Informationen und erhielt vom deutschen Bundesgesundheitsministerium folgende Antworten:

«Insbesondere sind von Biontec erstellte und an das BMG übermittelte Präsentationen urheberrechtlich geschützt und dürfen nicht herausgegeben werden.»

Informationen zur Impfallianz GAVI würden nicht erteilt, «wenn das Bekanntwerden von Informationen nachteilige Auswirkungen auf internationale Beziehungen haben kann.»

Unterlagen in Bezug auf die Gates Foundation werden verweigert, da die übermittelten Unterlagen als «strictly confidential» sowie «for internal use only» gekennzeichnet seien. Das Gleiche gelte für den Wellcome Trust.

Die Korrespondenz mit Biontec/Pfizer wurde nur in wesentlichen Teilen geschwärzt herausgegeben, da ein Teil «hochsensible Informationen enthält, die im Kontext der Pandemiebekämpfung vertraulich an das BMG übermittelt wurden [… ] und an denen weiterhin ein Geheimhaltungsinteresse besteht. Betroffen sind insoweit im Detail Verträge und Informationen zu Vertragsverhandlungen.»

______________
Dieser Beitrag erschien am 4. Februar in der «Frankfurter Rundschau». Ein Abschnitt über die Geheimhaltung der Medikamenten-Rabattverträge in Deutschland wurde weggelassen, weil in der Schweiz nicht die Krankenkassen eine Geheimhaltung wollen, sondern Pharmakonzerne die Geheimhaltung von Preisen teurer Medikamente gegen den Willen der Krankenkassen durchsetzten.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

© Das Weiterverbreiten sämtlicher auf dem gemeinnützigen Portal www.infosperber.ch enthaltenen Texte ist ohne Kostenfolge erlaubt, sofern die Texte integral ohne Kürzung und mit Quellenangaben (Autor und «Infosperber») verbreitet werden. Die SSUI kann das Abgelten eines Nutzungsrechts verlangen.

Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —        Bernd Hontschik fotografiert von Barbara Klemm (2009)

Abgelegt unter Deutschland_DE, Gesundheitspolitik, International, Mensch, Positionen | Keine Kommentare »

Fahrn, fahrn, fahrn

Erstellt von Redaktion am 12. Februar 2023

Auf der Autobahn – Ampel-Streit um Verkehrspolitik

Laufende und fest disponierte Projekte sowie der vordringliche Bedarf bei Autobahnen im Bundesverkehrswegeplan 2030 – Dann sehen wir Politiker-innen nur noch auf den E.- Roller wie  Pik – blöde.

Von     :    NIKOLA ENDLICH   –  CLAUDIUS PRÖSSER  –  TOBIS SCHULZE

Die FDP will schnell mehr Autobahnen bauen, die Grünen lieber weniger. Es rächt sich, dass sie den Liberalen das Verkehrsministerium überlassen haben.

An einem grauen Sonntagvormittag Anfang Februar warten rund 200 Menschen mit Fahrrädern vor dem S-Bahnhof Treptower Park in Berlin. Es gibt heißen Tee, Musik vom DJ-Lastenrad und nervöse Blicke bei den Organisator*innen, weil die Hauptperson auf sich warten lässt: Bettina Jarasch, Spitzenkandidatin der Grünen bei der Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus, soll hier kurz vor Schluss ihrer Kampagne ein Zeichen setzen – gegen den Weiterbau der Stadtautobahn A100.

Der Ort der Kundgebung markiert den Punkt, bis zu dem der Autobahn-Stadtring in zwei Jahren vorgestoßen sein wird: Seit 2013 wird an dem Bauabschnitt gearbeitet, rund drei Kilometer von Neukölln in den ehemaligen Ost-Teil der Stadt. Ginge es nach dem amtierenden rot-grün-roten Senat und seiner Verkehrssenatorin Jarasch, bliebe es auch dabei.

Der nächste Bauabschnitt – weitere fünf Kilometer über die Spree in Richtung Norden – würde dann nicht mehr gebaut. „Aberwitzig“ seien die Pläne, ruft Jarasch ins Mikrofon, als sie schließlich da ist. „Die Autobahn zieht neuen Verkehr und ist jetzt schon absurd teuer.“ Dann geht die Demo los, auf dem Fahrrad die potenzielle Trasse entlang: Vorbei an Brachflächen, ein paar Gründerzeit-Wohnhäusern, Kfz-Werkstätten und einigen Clubs, die dem Neubau weichen müssten.

Ob es dazu kommt? Dass die Berliner Landesregierung geschlossen gegen das Projekt ist, ist eine Besonderheit. In anderen Landeskoalitionen konnten sich die Grünen mit ihrem Nein zu Autobahn-Plänen nicht durchsetzen, in Schleswig-Holstein zum Beispiel, wo die umstrittene Küstenautobahn A20 verlängert werden soll. „Die Entscheidung über die Planung von Fernstraßen liegt in der Hand des Bundes“, heißt es dort im schwarz-grünen Koalitionsvertrag.

Über Autobahnbau entscheidet der Bund

Dass sich der Berliner Senat anders positioniert, wird am Ende womöglich nichts nützen: Die Hoheit beim Autobahnbau liegt tatsächlich beim Bund. Und obwohl die Grünen dort ebenfalls mitregieren: In Sachen Verkehrsplanung läuft es im Moment nicht in ihrem Sinne.

Prominent ficht die Ampel gerade den Streit um die Planungsbeschleunigung aus. Der dreht sich darum, ob beschlossene Autobahnprojekte in Zukunft schneller gebaut werden sollen. Ist dieser Konflikt irgendwann geklärt, steht schon der nächste an. Er ist noch grundlegender: Umstritten ist, ob jene Autobahnen überhaupt noch entstehen sollen, deren Bau vor Jahren einmal beschlossen wurde. Im Koalitionsvertrag ist vage von einer Revision die Rede. Volker Wissing (FDP) und sein Verkehrsministerium bremsen dabei aber.

Und so stellt sich die Frage, wie sich der Bau neuer Autobahnen überhaupt noch stoppen lässt – was angesichts der Klimakrise dringend nötig wäre.

Im Verkehr klafft eine große Lücke bei den Klimazielen. Die Ampel müsste den CO2-Ausstoß durch den Verkehr senken, um nicht weiter gegen das Klimaschutzgesetz zu verstoßen. 139 Millionen Tonnen CO2-Emissionen erlaubte es dem Sektor im vergangen Jahr. Laut der Denkfabrik Agora Energiewende wurden tatsächlich 150 Millionen Tonnen in die Luft geblasen. Der Klimaexpertenrat der Bundesregierung drängt den Verkehrsminister, bei der Einhaltung der Klimaziele nachzubessern.

Schritte bei der Umweltprüfung weglassen?

Doch die FDP verfolgt derzeit einen anderen Plan. Im Herbst reichte Wissing seinen Entwurf des „Gesetzes zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren“ ein, über den die Ampel jetzt so heftig streitet. Er will damit Planungsverfahren im Verkehrsbereich verkürzen. Neben einem schnelleren Bau von Schienen und Wasserstraßen, den auch die Grünen richtig finden, geht es ihm um den beschleunigten Bau von Autobahnen.

Bei bestimmten Straßenprojekten könnte künftig auf Schritte bei der Bürgerbeteiligung und Standards der Umweltprüfung verzichtet werden. Umweltverbände kritisieren das scharf.

In der Koalition kursieren verschiedene Listen von Autobahnprojekten, die die FDP trotz der Kritik priorisieren möchte. Laut dem Spiegel soll Wissing zuletzt im Januar in einem Kompromissvorschlag zwar nur noch schnellere Ausbauvorhaben vorgeschlagen haben, keinen beschleunigten Neubau mehr. Aus seinem Ministerium heißt es aber, auch für die A100 in Berlin sei der Turbo noch nicht vom Tisch.

Der Bundesverkehrswegeplan

Auch deswegen haben die Grünen im Bund bisher nicht eingeschlagen. Wurde ihnen aus der Klimabewegung zuletzt im Streit um Lützerath noch zu viel Kompromissbereitschaft vorgeworfen, stehen sie bei der Planungsbeschleunigung relativ geschlossen. Wenn es darum geht, kaputte Autobahnbrücken zu sanieren oder zu ersetzen, würden sie schnelleren Planungen zwar zustimmen. Darüber hinaus lassen sie aber kaum Entgegenkommen erkennen.

Drei Treffen zwischen Wissing, der grünen Umweltministerin Steffi Lemke und Bundeskanzler Olaf Scholz endeten ohne Einigung, zuletzt auch ein Treffen der Koalitionsspitzen. Anfang März will sich der Koalitionsausschuss erneut treffen. Ausgang: ungewiss.

Wie viele Autobahn-Kilometer in Deutschland noch entstehen werden – egal, wie schnell – ist primär allerdings gar keine Frage des Beschleunigungsgesetzes. Die grundsätzliche Frage, ob eine neue Straße gebaut werden soll, wird in einem anderen Dokument mit ähnlich sperrigem Namen geklärt: dem Bundesverkehrswegeplan. Auch um ihn schwelt ein Ampel-Streit.

Der Plan ist ein Herzstück der deutschen Verkehrspolitik. Alle 10 bis 15 Jahre wird er von der Bundesregierung neu erstellt – begleitet von lobbyierenden Abgeordneten, Bürgermeistern und Landrätinnen, die auf eine bessere Straßenanbindung ihrer Regionen oder die lang ersehnte Autobahnauffahrt für das örtliche Industriegebiet hoffen.

VB – Vordringlicher Bedarf

In unzähligen Listen enthält das Dokument neben geplanten Autobahnen und Bundesstraßen auch neue Schienen und Wasserstraßen. Dahinter stehen jeweils fachlich klingende Kürzel: VB steht für „Vordringlichen Bedarf“, sollte also bald gebaut werden. WB steht für „Weiteren Bedarf“, wäre also ganz schön, wird so schnell aber nichts. Kurz nach Erscheinen eines neuen Verkehrswegeplans verabschiedet der Bundestag auf dessen Basis für gewöhnlich sogenannte Bedarfspläne. Damit sind die Bauvorhaben dann Gesetz.

Die aktuelle Version stammt aus dem Jahr 2016, beschlossen noch unter CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer, und gilt bis zum Ende der 2020er Jahre. Das für die Umsetzung benötigte Finanzvolumen wurde bei der Verabschiedung mit 270 Milliarden Euro beziffert. Der Plan enthält mit großem Abstand vor allem eines: Bauvorhaben für Straßen.

Vollkommen überholt sei der Plan, kritisieren Umweltverbände. Bei seiner Aufstellung behandelte die damalige Große Koalition den Klimaschutz noch als Nebensache. Als der Plan beschlossen wurde, hatte Deutschland das Pariser Klimaabkommen noch nicht ratifiziert. In ferner Zukunft lag auch noch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Bundesregierung 2021 zu mehr Klimaschutz verdonnerte. „Auch die heute geltenden Ziele des Klimaschutzgesetzes sind darin nicht berücksichtigt“, sagt die grüne Umweltministerin Steffi Lemke der taz.

Autobahn-Gegner*innen argumentieren, dass mit der sich verschärfenden Klimakrise das Verkehrsaufkommen stark reduziert werden müsste. Mit dem Bau von immer neuen Asphaltpisten passiere das Gegenteil. Die Mehrheit der Wis­sen­schaft­le­r*in­nen spricht vom „induzierten Verkehr“: Der Bau von immer mehr neuen Straßen ziehe in der Regel mehr Verkehr nach sich. Kurz: Wer Straßen sät, erntet Verkehr.

Die Logik der FDP da­ge­gen: Gibt es zu viel Stau auf deutschen Straßen, müssen eben zusätzliche Spuren geschaffen oder neue Autobahnen gebaut werden. FDP-Chef Christian Lindner twitterte kürzlich, dass durch Staus und Umwege „unnötig produziertes CO2“ entstünde. Dies mit dem Bau neuer Autobahnen zu reduzieren, ist nach Ansicht der FDP im Sinne des Klimaschutzes.

Im Verkehrsministerium herrscht dazu die Sorge, dass der Wohlstand des Landes sinken könnte, wenn die Verkehrsleistung zurückgefahren wird, künftig also weniger Autobahnen gebaut würden. In fast jeder Rede, die Wissing zum Thema hält, betont er die Rolle des Gütertransports auf der Straße: LKW würden rund zehnmal so viele Waren liefern, als derzeit per Schiene durchs Land gefahren werden. Der Güterverkehr auf der Schiene sei „derzeit viel zu unpünktlich“, sagt der verkehrspolitische Sprecher der FDP, Bernd Reuther, der taz. Um ihn attraktiver zu machen, müsste erst die Pünktlichkeit verbessert werden.

Vage Formulierungen im Koalitionsvertrag

Quelle         :         TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben      —     Laufende und fest disponierte Projekte sowie der vordringliche Bedarf bei Autobahnen im Bundesverkehrswegeplan 2030

Abgelegt unter APO, Deutschland_DE, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Lützerath als Fanal

Erstellt von Redaktion am 12. Februar 2023

Warum wir transformative Strategien im Kampf gegen die Klimakrise brauchen

Von Markus WissenUlrich Brand

Lützerath bleibt. Selbst wenn die Kohle unter dem Ort im Rheinischen Braunkohlerevier irgendwann abgebaggert sein sollte, wird dessen Name fortwirken: als Symbol für den Mut und den Einfallsreichtum von Menschen, die sich einem mächtigen Konzern ebenso wie der Staatsmacht widersetzen. Lützerath steht auch als Symbol für eine Politik, die die Zeichen der Zeit nicht erkennt. Die Zeichen der Zeit, das sind der Kohleausstieg und der Übergang in eine Produktionsweise, in der das gute Leben aller und nicht die Verteidigung mächtiger Partikularinteressen den zentralen Bezugspunkt bildet.

Dass dies nicht im Sinne von konservativen und liberalen Parteien ist, kann kaum überraschen. Deren historische Funktion besteht darin, gesellschaftliche Veränderungen so lange im Sinne der herrschenden Interessen hinauszuzögern, bis ihre Notwendigkeit unabweisbar geworden ist. Die Empörung über die politischen Versäumnisse richtet sich deswegen in erster Linie gegen die Grünen. Und dies zu Recht: Kaum sind sie zum zweiten Mal nach 1998 Regierungspartei auf Bundesebene geworden, machen sie erneut Politik gegen jene Bewegungen, aus denen sie selbst einst hervorgegangen sind. Beim ersten Mal war es vor allem die Friedensbewegung, die die Grünen unter ihrer damaligen Leitfigur Joschka Fischer brüskierten. Heute enttäuschen sie die Anliegen der Klimagerechtigkeitsbewegung, deren Stärke sie ihre jüngsten Wahlerfolge mitzuverdanken haben.

Sicherlich hat niemand von der grünen Regierungsbeteiligung eine sozial-ökologische Revolution erwartet. Denn zum einen sind die Grünen nur Teil einer Koalition, in der mit der FDP eine antiökologische Kraft über ein erhebliches Druckpotenzial verfügt. Zum anderen steht außer Frage, dass staatliche Politik anderen Logiken folgt als das Handeln sozialer Bewegungen. Die Möglichkeiten staatlicher Politik werden systematisch durch die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse beschränkt. Diese schreiben sich in die staatlichen Apparate ein, sie prägen die Denkweisen ihres Personals und bestimmen, welche Probleme in welcher Form überhaupt debattiert werden können. Der von den 1968ern angestrebte „Marsch durch die Institutionen“ resultierte im Marsch der Institutionen durch die Protagonist:innen der Bewegung. Das war die Erfahrung der ersten grünen Regierungsbeteiligung: Schneller als ihm lieb war und meist ohne es zu bemerken, verinnerlichte das grüne Spitzenpersonal die institutionellen Restriktionen und missverstand dies als Ankunft auf dem harten Boden der Realität. Gemeint war die Realität der Herrschenden, die sie bis dahin kritisiert hatten und die sie nun mitgestalten wollten.

Das Versäumnis der heute tonangebenden Grünen liegt darin, diese Erfahrung nicht reflektiert zu haben. Stattdessen liefen sie blindlings und unvorbereitet in eine Situation, in der sie schließlich den Quasi-Freibrief für einen der weltweit größten Umweltsünder als klimapolitischen Kompromiss verkaufen sollten. Über so viel grünen Realitätssinn wird sich RWE vermutlich noch länger die Hände reiben. Denn in Zeiten einer eskalierenden Klimakrise darf der Konzern weitere 280 Mio. Tonnen Braunkohle abbaggern und verbrennen. Im Jahr 2030, acht Jahre früher als im Kohleausstiegsgesetz vorgesehen, lässt er es dann gut sein mit der heißen Luft und der verbrannten Erde – und kann sich auf der Gewissheit ausruhen, dass dann die gestiegenen Preise für Zertifikate aus dem europäischen Emissionshandel die Kohleverstromung ohnehin unrentabel gemacht haben werden. Als Zugabe obendrauf bekommt der Konzern die Zerstörung einer wichtigen Infrastruktur der Klimagerechtigkeitsbewegung, die ihm in den kommenden Jahren noch einiges an Ärger beschert hätte: Das besetzte Lützerath war ein Ort, an dem Menschen zu Aktionstrainings, Workshops und Festivals zusammenkamen.

Nun ließe sich einwenden, dass die Vorgängerregierung der Ampel die Energiewende systematisch ausgebremst und damit die Sachzwänge, mit denen Grüne und SPD als Regierungsparteien heute konfrontiert sind, erst geschaffen habe. Ohne die Grünen in der Regierung würde zudem alles noch schlimmer kommen. Und schließlich trage die derzeitige Regierung keine Schuld an den Gaspreissteigerungen infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine. All das ist richtig, trifft aber nicht den entscheidenden Punkt: Dieser besteht zunächst einmal in der simplen Tatsache, dass der Abbau der Kohle unter Lützerath aus Gründen der Versorgungssicherheit und Netzstabilität nicht nötig ist. Zu diesem Schluss kommen gleich mehrere Gutachten.[1] Sodann, und in der aktuellen politischen Diskussion weitgehend vernachlässigt, stellt sich die Frage: Für wen und wofür wird der Strom eigentlich erzeugt? Und um wessen Versorgungssicherheit geht es hier eigentlich?

Denn selbst wenn die Kohle benötigt würde, um den bestehenden Strombedarf zu decken, wäre es ökologisch naheliegend, erst einmal diesen Bedarf zu problematisieren, bevor zu seiner Deckung noch mehr CO2 emittiert wird: Müssen wir wirklich Strom für Autofabriken erzeugen, damit darin riesige Mengen an immer größeren Fahrzeugen hergestellt werden, die, einmal freigelassen, selbst Unmengen an Strom verbrauchen oder die fossilen Treibstoffe gleich selbst in Kohlendioxid verwandeln? Brauchen wir Energie für eine chemische Industrie, um diese in die Lage zu versetzen, Berge an Verpackungen aus Kunststoff zu produzieren, die nach einmaligem Gebrauch verbrannt oder ins Ausland exportiert werden? – Das ist die Versorgungssicherheit einer Produktions- und Lebensweise, die bereits heute unzählige Menschen in existenzielle Unsicherheit stürzt.

Warum soziale Bewegungen unerlässlich sind

Viel sinnvoller – und angesichts sich zuspitzender Krisen immer dringlicher – wäre es dagegen, innezuhalten und zu fragen, welche Dinge tatsächlich gesellschaftlich notwendig sind und sich zudem auf eine Weise herstellen ließen, die nicht die Erde weiter aufheizt und die Lebensgrundlagen von Menschen hierzulande, andernorts und in der Zukunft zerstört: ein nachhaltiges Mobilitätssystem, ein gut ausgebautes und für alle zugängliches Gesundheitswesen oder energetisch sanierte und preiswerte Wohnungen.

Auseinandersetzungen an den Polizeiketten vor Lützerath

Natürlich ist dafür genug Geld da. Die Gesellschaft ist so reich wie nie zuvor. Wer sich hunderte Milliarden Euro für die Bundeswehr oder die Bankenrettung leisten kann, der hat auch ausreichend Ressourcen dafür, die Gesellschaft zukunftsfähig zu machen. Warum sollten wir weiterhin Ressourcen und menschliche Kreativität dafür verschwenden, neue Finanzinstrumente zu entwickeln, SUVs zu designen oder Waffensysteme zu optimieren? Warum nicht stattdessen die gesellschaftlichen Anstrengungen, die praktische und kollektive Intelligenz von Beschäftigten in der Produktion, im Pflegebereich oder im Gesundheitswesen, die Kreativität von Ingenieur:innen in den Dienst des guten Lebens für alle stellen?

Solche Fragen lassen sich in den Parlamenten und Ministerien kaum diskutieren. Das ist kein Wunder, denn sie gehen ans Eingemachte der kapitalistischen Produktionsweise: an die Möglichkeit, das Privateigentum an Produktionsmitteln letztlich auch zum Schaden der Allgemeinheit nutzen zu dürfen, solange dabei Profite, Wachstum und Steuereinnahmen herauskommen. Übertüncht wird dies mit Begriffen wie „Wettbewerbsfähigkeit“, dem Verweis auf Arbeitsplätze oder dem Argument, dass „die Chinesen“ das Problem beim Klimawandel seien. Europa mache ja schon seine Hausaufgaben. Doch all diese Behauptungen sind Nebelkerzen.

Quelle         :      Blätter-online         >>>>>        weiterlesen

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben      —   Räumung Lützeraths, 11. Januar 2023

******************************

Unten     ––       Auseinandersetzungen an den Polizeiketten vor Lützerath

Abgelegt unter APO, Energiepolitik, Nordrhein-Westfalen, Positionen, Umwelt | 1 Kommentar »

KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von Redaktion am 12. Februar 2023

Erdbeben und Verantwortung: – Die Sache mit dem Schicksal

Rote Flagge II.svg

Kolumne von Fatma Aydemir

Das Schicksal des Menschen, ist der Mensch. Höhere Gewalt entzieht sich der Einflussnahme. Doch das Ausmaß der Erdbebenkatastrophe in der Türkei hat von Menschen gemachte Ursachen.

Im Türkischen gibt es diese Redewendung: Geografie ist Schicksal. Es ist ein wehmütiger Spruch, einer, der sich vor allem auf die negativen Einflüsse bezieht, die die geografischen Bedingungen eines spezifischen Orts auf die dort lebenden Menschen haben. Unausgesprochen impliziert er, dass es dem Menschen in einer anderen Region, einer westlicheren etwa, besser ergehen würde.

Erdbeben entziehen sich der Willenskraft, Vorkehrungen nicht

Zugleich verneint aber der Schicksalsgedanke, dass die Situation änderbar ist. Die Vorbestimmung entzieht sich der Entscheidungsfreiheit des Menschen, weshalb eine Auflehnung oder Vorkehrungen sinnlos sind: Es ist schrecklich, wie es ist, aber so ist es nun einmal.

Von Schicksal sprach auch der türkische Präsident Erdoğan am Mittwoch, als er mit drei Tagen Verspätung im Epizentrum des verheerenden Erdbebens, im kurdisch-alevitischen Pazarcık, eintraf. Keine Frage, das Wort passt wunderbar zur religiösen Haltung der Regierungspartei AKP sowie zum politischen Vokabular eines Staatsoberhaupts, das die eigene Autorität mit dem Gehorsamsprinzip der Gottesfürchtigen zu rechtfertigen sucht.

Aber es gehört schon eine besondere Dreistigkeit dazu, vor eine Gruppe von Menschen zu treten, die seit Tagen bei Minusgraden auf den Katastrophenschutz warten, weil ihre Angehörigen in den Trümmern ihrer Häuser begraben sind, vielleicht noch schreiend, vielleicht bereits erfroren, und von Schicksal zu reden – anstatt von Verantwortung.

Gewiss lässt sich der genaue Zeitpunkt und Ort eines Erdbebens nicht berechnen, verhindern lässt sich ein Erdbeben auch nicht. Insofern entzieht es sich jeder Willenskraft, existiert als höhere Gewalt. Doch lässt sich durchaus erforschen, in welchen Regionen stärkere Erdbeben erwartet werden, und dass die Türkei sich in einer tektonischen Hochrisikozone befindet, ist hinlänglich bekannt. Vorkehrungen können getroffen werden.

AKP und Korruption

Das Erdbeben mag ein naturgegebenes Schicksal sein, das Nichteintreffen des Katastrophenschutzes in weiten Teilen des Landes ist es nicht. Das Einstürzen angeblich erdbebensicherer Hochhäuser ist es auch nicht. Und die Einschränkung der sozialen Netzwerke, wo Betroffene Informationen mit potenziellen Helfer_innen teilten, ist alles andere als Schicksal. Die Sperrung wurde staatlich angeordnet, wie das Ministerium für Kommunikation am Mittwochabend bestätigte. „Desinformation“ lautet die offizielle Begründung; Regierungskritik unterbinden, vermuten Oppositionelle.

Turkey earthquake 2023 montage.png

Unterlassene Hilfeleistung ist das Eine. Vorkehrungen bewusst abzulehnen, um sich an den dafür nötigen Ressourcen zu bereichern, das Andere. Seit dem Korruptionsskandal Ende 2013 ist bekannt, dass die Familie Erdoğan und einige AKP-Minister profitable Beziehungen zum Bausektor pflegen. Zudem werden Fragen laut, wo die seit dem letzten großen Erdbeben 1999 erhobenen Erdbebensteuern abgeblieben sind. 37 Milliarden US-Dollar sollen seitdem von den Bürger_innen eingesammelt worden sein, für eine erdbebensichere Bebauung.

Quelle         :          TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —   Eine wehende rote Fahne

*******************************

Unten     —     A montage of the 2023 Turkey-Syria earthquake.

Abgelegt unter Asien, Mensch, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Afrika und der Papst

Erstellt von Redaktion am 9. Februar 2023

Bei Laune halten ist zu wenig

Vom Himmel hoch kommich nicht her

Ein Debattenbeitrag von Aram Ziai

Es ist eine höchst fragwürdige und interessengeleitete Annahme: Die Armen müssen nur in die moderne Weltwirtschaft integriert werden, dann wird alles gut. Wenn grüner Wasserstoff nach Europa importiert wird, dient dies primär nicht der Armutsbekämpfung im Süden.

Hände weg von Afrika? Den Postkolonialismus überwinden!“, hieß es kürzlich in der taz. Die Kritik bezog sich auf den Appell des Papstes, die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents zu überwinden. Hinter dem Appell verstecke sich eine „paternalistische Attitüde“ und eine „kolonialistische Perzeption Afrikas als Opfer und Rohstofflieferant“. Stattdessen verweist der Artikel auf das „gigantische Entwicklungspotenzial“ Afrikas und fordert eine partnerschaftliche Agrarstrategie Europas („Hand in Hand in Afrika“), gerade auch angesichts dessen, dass China seinen wirtschaftlichen und politischen Einfluss „skrupellos“ ausbaue. Ziel sei eine „nachhaltige Entwicklung“, mit der Afrika „der Sprung in die moderne, postkarbonisierte Weltwirtschaft gelingt“.

So weit, so plausibel, möchte man meinen. Bei näherem Hinsehen zeigen sich jedoch eine Reihe von Lücken und Ungereimtheiten. So mag es erstens vielleicht abgedroschen sein, aber Afrika ist tatsächlich seit dem Kolonialismus nicht aus der Rolle als Rohstofflieferant herausgekommen. Unter anderem aufgrund der Zolleskalation auch der europäischen Länder, die für verarbeitete Produkte meist deutlich höhere Zölle verlangen, und aufgrund der Investitionsabkommen, die es Regierungen verbieten, auf wertschöpfender Produktion im Inland zu bestehen. Laut UN machen für 45 der 54 Länder Afrikas Rohstoffe über 60 Prozent der Exporte aus. Opfer ist Afrika durchaus ebenfalls, etwa im Hinblick auf die hierzulande im Überfluss gehorteten Covid-19-Impfstoffe, deren Patente durch das Beharren der EU und vor allem Deutschlands die ersten Jahre nicht freigegeben wurden, zugunsten der Gewinne der öffentlich geförderten Pharmaunternehmen.

Oder im Hinblick auf die Finanztransfers vom Süden in den Norden: Laut dem European Network on Debt and Development fließen durch Schuldendienst, Gewinnrückführung multina­tio­naler Unternehmen, Steuerflucht und irreguläre Überweisungen (mutmaßlich Gelder aus Kriminalität und Korruption) etwa 1000 Milliarden. US-Dollar jährlich von den armen in die reichen Länder – netto, also nach Abzug von ausländischen Direktinvestitionen, offizieller Entwicklungshilfe und Rücküberweisungen von Migrant:innen. Der Schuldenstand der Länder des Südens hat mittlerweile die Höchstwerte der Schuldenkrise der 1980er Jahre erreicht, für die Länder mit mittleren und niedrigem Einkommen beträgt er im Schnitt 200 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Zum Vergleich: Die BRD hat 1953, zu Beginn des Wirtschaftswunders, einen umfangreichen Schulden­erlass bekommen, weil ihr Schuldenstand 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betrug. Einige Schuldner sind halt gleicher als andere. Was zweitens die eingeforderte partnerschaftliche Agrarstrategie angeht, so gab und gibt es sie bereits, etwa in Form der German Food Partnership und des Africa Agriculture and Trade Investment Fund. Hier stehen jedoch – genau wie bei den ach so skrupellosen Chinesen – die Interessen eigener Großunternehmen wie Bayer Crop Science und BASF im Vordergrund. Auch in neueren Initiativen wird immer wieder die Erzählung bedient, dass man durchaus im Süden Geschäfte machen und gleichzeitig die Armut bekämpfen könnte, über Public-private-partnerships und Win-win-Situationen. Genau das wurde im ersten „Entwicklungsprogramm“ 1949 auch behauptet, mit dem Ziel, die unabhängig werdenden Länder des Südens vom Überlaufen ins kommunistische Lager abzuhalten und gleichzeitig den Zugriff auf die Rohstoffe und Märkte des Südens zu sichern. Damals wie heute ist es eine höchst fragwürdige und interessengeleitete Annahme: Die Armen müssen nur in die moderne Weltwirtschaft integriert werden, dann wird alles gut – als ob sie das nicht schon längst wären, aber halt meist als Verlierer im globalen Kapitalismus. Das Entwicklungsversprechen soll sie bei Laune halten.

Daran ändert auch – drittens – ein grüner Anstrich wenig, wie er in den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen anklingt und ebenso in dem unter der Ampelregierung hierzulande forcierten Run auf die Gewinnung erneuerbarer Energien im Globalen Süden. Wenn grüner Wasserstoff in Megaprojekten des Südens nach Europa importiert wird, dient dies primär nicht der Armutsbekämpfung im Süden, sondern der Aufrechterhaltung einer imperialen Lebensweise der globalen Mittelklasse, die überwiegend immer noch im Norden angesiedelt ist. Einer Lebensweise, die auf billige Rohstoffe und billige Arbeit anderswo angewiesen und nicht verallgemeinerbar ist, also nur einer privilegierten Minderheit vorbehalten bleiben muss. Schon 1996 hat das (des Linksradikalismus unverdächtige) Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie darauf hingewiesen, dass, wenn wir in Deutschland nur unseren gerechten Anteil an den Ressourcen des Planeten nutzen wollen, unser Energieverbrauch um 80 bis 90 Prozent sinken muss. Bundeskanzler Scholz behauptet selbst 26 Jahre später unverdrossen, die Klimaziele seien nicht durch Verzicht zu erreichen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Quelle      :          TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben        —   El papa Francisco en el papamóvil durante la JMJ de 2013

Abgelegt unter Deutschland_DE, Gewerkschaften, Sozialpolitik, Umwelt | Keine Kommentare »

Australiens giftige Kohle

Erstellt von Redaktion am 9. Februar 2023

Australische Aktivist*innen, der Krieg und der Milliardär

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Public Eyeon          Public Eye

Während Europa aufgrund des Kriegs in der Ukraine nach Alternativen zu fossilen Energieträgern aus Russland sucht, eröffnet Australien Dutzende Kohleminen und opfert dafür seine Naturschutzgebiete und kulturellen Heiligtümer.

Um die Projekte durchzusetzen, verweisen die lokalen Behörden auf den Krieg in Europa, während sich hinter den Kulissen alles um die Interessen der in der Schweiz ansässigen Konzerne Glencore und Adani dreht. In Queensland organisieren Aborigines und Umweltschützer*innen den Kampf gegen die Rohstofflobby – unter dem heftigen Widerstand der Minenbetreiber.

Die ockerfarbene Erde durchdringt alles, sie ist rau wie die Menschen, die sie betreten, und in der Halbwüstenlandschaft allgegenwärtig. Die blassgelbe Rauchsäule, die etwa 50 Meter in die Höhe steigt, ist nicht zu übersehen. In dieser Landschaft gibt es kaum Echo, und so klingt die Sprengung wie ein kurzer, heftiger Schlag. Er kommt von der grossen Narbe, die die Carmichael-Mine im geologischen Galilee-Becken im Herzen von Queensland in Nordostaustralien hinterlassen hat.

Coedie MacAvoy hat schon einiges erlebt. Der 30-jährige Sohn eines Stammesältesten und Hüters des Wissens der Wangan- und Jagalingou-Gemeinschaften nennt voller Stolz die Anzahl Tage, während derer er das kleine Stück Land gegenüber dem Gelände schon besetzt hat, das der Adani-Konzern in eine der grössten Kohleminen der Welt umwandeln will. An diesem Nachmittag im Oktober sind es 406 Tage. So viele Tage zählt auch das Camp Waddananggu; der Name bedeutet «Diskussion» in der indigenen Sprache Wirdi.

Über ein Jahr Besetzung reichte zwar nicht, um den Produktionsstart im Dezember 2021 zu verhindern, doch dem ehrgeizigen Multi ist sie ein grosser Dorn im Auge. Adani wird vom indischen Milliardär Gautam Adani geführt, der dank dem Kohleboom zum drittreichsten Mann der Welt (142,4 Milliarden US-Dollar, Stand Mitte November 2022) aufgestiegen ist (siehe schwarze Box unten). Im April 2020 hat der indische Konzern in Genf einen Handelszweig eingerichtet, der seine Kohle verkaufen soll. Dieser ist bei einem lokalen Treuhandunternehmen domiziliert. Gemäss Daten, die Public Eye vorliegen, unterstützte Credit Suisse im Jahr 2020 Adani, indem die Grossbank dem Unternehmen ermöglichte, Anleihen im Wert von 27 Millionen US-Dollar auszugeben. Laut der spezialisierten Plattform Global Coal Mine Tracker ist Adani mit 60 Projekten hinter Coal India der multinationale Konzern mit den meisten Plänen zur Eröffnung neuer Kohleminen. Glencore belegt mit 37 Projekten den sechsten Platz in diesem Ranking.

Adani kontrolliert ein Drittel der indischen Kohleimporte. Wie das Magazin «The New Yorker» im November 2022 berichtete, ist der Konzern in seiner Heimat auch dafür bekannt, Dörfer zu schleifen und Wälder abzuholzen, um dort riesige Kohleminen zu graben.

In Waddananggu brennt seit dem 26. August 2021 das zeremonielle Feuer der ursprünglichen Besitzer*innen, in Australien «traditional owners» genannt. Die Aborigines werden zeitweilig begleitet von Klimaaktivist*innen und Menschen, die sich für die Rechte der indigenen Gemeinschaften einsetzen, manchmal in Gesellschaft ihrer Kinder. Insgesamt sind es etwa 15 Personen. «Atmet diese Scheisse nicht ein!», rufen sie all den Menschen zu, die aus den Zelten und Baracken kommen, um die dicke Rauchsäule zu beobachten, die sich in Richtung Horizont auflöst.

Australische Aktivist*innen, der Krieg und der Milliardär

Mit sonnenverbrannten Schultern und einer Feder, die vom Filzhut auf ihr blondes Haar fällt, filmt Sunny die Staubwolke, die sich nach Nordwesten in Richtung der umliegenden Felder und des Viehs bewegt, das dort weidet. Sunny, die die Zerstörung von uralten Artefakten der Aborigines anprangert, dokumentiert alle Sprengungen der Mine, die nach 15 Jahren rechtlicher Auseinandersetzungen nun rasant ausgebaut wird. Nachfrage nach australischer Kohle steigt

Nach zwei Jahren Pandemie laufen die Kohleminen auf Hochtouren, um aus den historisch hohen Preisen Kapital zu schlagen. Und nach dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 wird australische Kohle (der qualitativ am nächsten liegende Ersatz für Kohle aus Russland) zum Dreifachen des Durchschnittspreises der letzten zehn Jahre gehandelt. Länder wie Polen, die stark von russischen fossilen Brennstoffen abhängig sind, baten Australien, die Exporte von Kraftwerkskohle zu erhöhen. In Queensland nutzten die Behörden die Gelegenheit, um auch besonders unbeliebte Projekte wie das von Adani anzukurbeln.

Seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine hat Australien 3,3 Millionen Tonnen Kohle nach Europa exportiert. Dies geht aus Daten hervor, die Public Eye von der spezialisierten Agentur Argus Media zur Verfügung gestellt wurden. Fast die Hälfte dieser Kohle (1,4 Millionen Tonnen) stammte von elf Massengutfrachtern, die vom Hafen Abbot Point am Korallenmeer im Nordosten des Landes kamen, der von Adani kontrolliert wird.

Sunny ist empört. «Bei diesem Wind sollten sie keine Sprengungen durchführen», meint sie, ohne ihr Smartphone wegzulegen. «Eigentlich sollten sie dies sowieso nicht, aber heute erst recht nicht.»

Adani hat sich zum Ziel gesetzt, bis Ende 2022 mindestens 10 Millionen Tonnen zu produzieren. Der Konzern scheint es eilig zu haben – schliesslich waren ursprünglich 60 Millionen Tonnen pro Jahr geplant, die über eine 300 Kilometer lange Zuglinie mit zwei Gleisen nach Abbot Point befördert werden sollten. Von dort aus – nur wenige Dutzend Kilometer vom Great Barrier Reef entfernt, dem grössten Korallenriff der Welt, das seit 1981 zum Unesco-Weltnaturerbe gehört und gemäss einem Bericht von Expert*innen der UNO vom November 2022 «gefährdet» ist, wird die Kohle auf Massengutfrachter verladen, um hauptsächlich in fast 10’000 Kilometer entfernten indischen, chinesischen und koreanischen Kraftwerken verbrannt zu werden.

Dieses Projekt ist ein ökologischer und logistischer Unsinn, meint Grant Howard. Für den früheren Minenarbeiter aus der Region Mackay, der rund 30 Jahre in der Industrie gearbeitet hat, ist Carmichael «nur deshalb von wirtschaftlichem Interesse, weil Adani über die gesamte Infrastruktur verfügt und der indischen Bevölkerung zu hohe Energiepreise abverlangt».

Als Umweltschützer, der sich in den Busch zurückgezogen hat, um der Natur näher zu sein, verurteilt Howard das «unzeitgemässe» Projekt. Es droht, als trojanisches Pferd für andere gigantische Bergbauprojekte im Galilee-Becken zu dienen, das bis zur Ankunft von Gautam Adanis Leuten unberührt gewesen war.

Australien verfügt über die drittgrössten Kohlereserven der Welt – genug, um noch vier Jahrhunderte lang weiter zu produzieren.

Auf Anfrage erklärt die Credit Suisse, welche die Finanzierung von Adani unterstützt hat, dass sie ihre Verantwortung im Kampf gegen den Klimawandel wahrnehme. «Wir sind uns bewusst, dass auch die Finanzströme mit den Zielen des Pariser Klimaabkommens übereinstimmen müssen», meldet die Medienstelle der Bank und versichert, dass sie ihr finanzielles Engagement in Kohle im Jahr 2021 um 39% reduziert habe.

Die Sprecher*innen lassen jedoch offen, ob ein Kunde wie Adani, der den Grossteil seiner Einnahmen aus Kohle erzielt und die Eröffnung neuer thermischer Kohleminen plant, künftig von der Finanzierung ausgeschlossen wird. «Die Position der Credit Suisse im Bereich Nachhaltigkeit ist darauf ausgerichtet, unsere Kunden beim Übergang zu kohlenstoffarmen und klimaresistenten Geschäftsmodellen zu unterstützen», so die Bank.

Die blutige Geschichte des Landes

Für Coedie MacAvoy ist es eine Familienangelegenheit. Er unterstützt den Kampf seines Vaters Adrian Burragubba – der sich durch Prozesse gegen den multinationalen Konzern ruiniert hatte –, indem er 2019 allein das Carmichael-Gelände besetzte, um «Teile des Eigentums» auf dem Land seiner Vorfahr*innen zurückzuerobern und so die Bauteams von Adani aufzuhalten. Nach zwei Wochen schnitten die Sicherheitsbehörden seine Versorgungswege vollständig ab.

Er ist auch der Anführer der seit August 2021 andauernden Proteste, aber er ist nicht mehr allein. «Ich bestreite das Recht der Regierung, Land zu enteignen, um es in eine Bergbaukonzession umzuwandeln», sagt Coedie MacAvoy. Mit seinen stechend grünen Augen, dem Flow eines Rappers und seinem tätowierten Totem auf der Brust zählt sich der 30-Jährige gerne zu den Aktivist*innen, die sich an Bäume ketten – mit einer Extraportion «Fight the power». «Ich bin keiner dieser Grünen aus Melbourne», betont der Aborigine.

2019 hat die lokale Regierung von Queensland den indigenen Gemeinschaften die Eigentumsrechte aberkannt und diese dem Bergbaukonzern überlassen, der die Aborigines seitdem wie Eindringlinge behandelt. Nach dem hartnäckigen Widerstand von Coedie und seinem Vater wurde diesen vor Gericht immerhin das Recht zugesprochen, ihr Land zu besetzen, um «ihre Identität und ihr kulturelles Erbe zu überwachen, zu schützen und zu fördern», solange dies nicht mit den Bergbauaktivitäten in Konflikt gerät.

Dieses Recht geht aus dem Menschenrechtsgesetz von Queensland hervor, das am 1. August 2020 in Kraft trat. Die Gesetzeslücke, die damit gefüllt wurde, hängt mit der blutigen Geschichte dieser Region und mit den Bedingungen zusammen, unter denen das Land den Aborigines weggenommen worden war. «Es ist bekannt, dass die Weissen erst 1860, zur Zeit meines Urgrossvaters, hier eintrafen», sagt Coedie MacAvoy. «Sie erschossen alle Männer im wehrfähigen Alter.»

Die Aborigines wurden erst 1967 in die australische Volkszählung aufgenommen, und die australische Bundesverfassung gesteht ihnen bis heute keine Sonderrechte zu. Auf regionaler Ebene gewährleistet nun aber das Menschenrechtsgesetz ihr Recht, ihre Kultur zu schützen. «Wir haben gelernt, mit ihren Waffen umzugehen und diese nach besten Kräften einzusetzen; wir haben die Büchse der Pandora geöffnet», sagt Coedie MacAvoy stolz, der den von seinem Grossvater «geliehenen» irischen Namen beibehalten hat. Im Stil eines Stammesführers gibt er die indigene Sprache Wirdi an die Jüngeren weiter und träumt davon, ein Esperanto der Aborigine-Dialekte zu schaffen, denn «alles, was ich sage oder berühre, wird als kultureller Akt anerkannt». Sehr zum Ärger der Adani Group, die sich an ihre Bergbaukonzession klammert und immer wieder die 180 Kilometer entfernte Polizei ruft.

Public Eye konnte sich ein Bild davon machen, wie aggressiv der multinationale Konzern mit Menschen umgeht, die sich für seine Aktivitäten interessieren. Während unserer Recherche vor Ort verfolgte uns ein Geländewagen seines Sicherheitsdienstes entlang der öffentlichen Strasse, die zur Mine führt, und filmte uns, als wir vor dem Camp Waddananggu aus dem Fahrzeug stiegen. Einige Stunden später erreichte die Geschäftsleitung von Public Eye per E-Mail ein Schreiben, das uns aufforderte, das Gebiet zu verlassen – «leave immediately and do not return» –, und uns verbot, die vor Ort gemachten Aufnahmen zu verbreiten. Das Schreiben schloss mit dem Hinweis auf eine Beschwerde bei der örtlichen Polizei und der Androhung rechtlicher Schritte.

Public Eye hat Adani eine Liste mit detaillierten Fragen zukommen lassen. Der Konzern wollte jedoch weder die Pläne für seine Niederlassung in Genf oder seine Ziele für die Carmichael-Mine erläutern noch auf seine Haltung gegenüber kritischen Stimmen eingehen. Das multinationale Unternehmen weist stattdessen unsere Fragen «vollständig» zurück, die implizieren, dass seine Unternehmen unverantwortlich oder im Widerspruch zu den geltenden Gesetzen und Vorschriften gehandelt haben. «Es ist enttäuschend, dass Public Eye als Organisation mit Sitz in einer reichen und einkommensstarken Nation die eigene privilegierte Position nutzt und versucht, den ärmsten Menschen der Welt den Zugang zu derselben zuverlässigen und erschwinglichen Energie zu verweigern, von der die führenden Industrieländer seit Jahrzehnten profitieren», schliesst die Nachricht, die von einem Sprecher der australischen Niederlassung gesendet wurde.

Die Daten, die Public Eye vorliegen, zeigen allerdings, dass ein erheblicher Teil der Adani-Produktion derzeit auch deutsche, niederländische, schwedische und britische Häfen erreicht. Von wegen «die ärmsten Menschen der Welt».

Roter Teppich für die Konzerne

Der Kampf, den Coedies Familie gegen den multinationalen Konzern führt, ist höchst ungleich. Sowohl die Landesregierung als auch die Regierung von Queensland haben den roten Teppich für Bergbaukonzerne wie Adani ausgerollt, die nun dank den historisch hohen Preisen 120 Milliarden australische Dollar (76 Milliarden Franken) an Einnahmen für den Export von 400 Millionen Tonnen thermischer Kohle (für die Stromerzeugung) sowie metallurgischer Kohle (für die industrielle Nutzung) erwirtschaften sollen.

Der Zuger Konzern Glencore ist mit 15 Minen (die zwei Drittel seiner Produktion ausmachen) der führende Kohleförderer des Landes. Zusammen mit Adani und ihren australischen, chinesischen und japanischen Konkurrenten bildet er ein mächtiges und einflussreiches Netzwerk mit besten Verbindungen in die Medien und die Politik. In Queensland nimmt die Kohlelobby für sich in Anspruch, 58,8 Milliarden australische Dollar (über 37 Milliarden Franken) zur lokalen Wirtschaft beizutragen und 292’000 Arbeitsplätze zu schaffen, davon 35’000 direkte.

Der ehemalige konservative Premierminister Australiens, Tony Abbott, beschrieb im Juni 2015 das Adani-Projekt der Carmichael-Mine als «armutsbekämpfendes Wunder», das es «Australien ermöglichen wird, zu einer Energiesupermacht zu werden». Der indische Konzern erhielt Steuererleichterungen sowie ein undurchsichtiges, mehrjähriges Moratorium auf die Schürfgebühren. Erst unter Druck verzichteten die Behörden darauf, dem multinationalen Konzern ein Darlehen für den Ausbau seiner Eisenbahnlinie zu gewähren. 2019 hatte ein Bericht des Institute of Energy Economics and Financial Analysis – ein Thinktank, der Fragen im Zusammenhang mit Energiemärkten und -politik untersucht – das Ausmass dieser «Geschenke» auf über 2,7 Milliarden Franken geschätzt; eine Summe, die eine Voraussetzung für die Realisierbarkeit des Projekts gewesen sein soll.

Eine Touristikerin macht nicht mit

Die lokale Reiseveranstalterin Lindsay Simpson reiste selbst mit einer Gruppe australischer Aktivist*innen zu Gautam Adani in den indischen Bundesstaat Gujarat. Sie wollten sich 2017 zur Generalversammlung des Konzerns einladen und die Premierministerin von Queensland, Annastacia Palaszczuk, bei ihrem offiziellen Besuch abfangen, um ihr dann zu verkünden: «Sie werden den Tod des Great Barrier Reef mit ins Grab nehmen.»

Lindsay Simpsons erste Begegnung mit Adani fand 2013 statt. Der indische Konzern hatte zwei Jahre zuvor den Hafen Abbot Point erworben und wollte nun seine Transportkapazitäten durch spektakuläre Bauvorhaben direkt im Korallenmeer ausbauen. Um das zu erreichen, wollte er die Tourismusbranche dazu bringen, die Verklappung von 3 Millionen Kubikmetern Baggergut direkt ins Meer gutzuheissen. Die ehemalige Kriminalreporterin der Tageszeitung «Sydney Morning Herald», die mittlerweile auf die Organisation von Segeltörns umgestiegen ist, weigerte sich damals, das von Adani erstellte Dokument zu validieren, das der lokale Tourismusdachverband «gegen Entschädigungszahlungen» unterzeichnet hatte.

Lindsay Simpson bezeichnet sich heute als Autorin eines fiktiven Romans und elf Krimis, die auf wahren Verbrechen basieren, «darunter das Verbrechen von Adani»: In «Adani, Following Its Dirty Footsteps» schildert sie den Hang der lokalen Politik, vor der Bergbauindustrie zu kuschen. Sie zieht Parallelen zwischen der Kolonialisierung Australiens und der Geschichte des Bergbaus und kritisiert die fortwährende und heuchlerische «Huldigung» dieser «männlichen Helden der Arbeiterklasse mit Schutzhelmen».

Die ersten Kohlevorkommen in Queensland wurden 1825 westlich von Brisbane entdeckt, als die Region als Strafkolonie für die britische Krone dienen sollte. Nachdem das Land weniger als zwei Jahrzehnte später in freies Land umgewandelt wurde, ermöglichte der Abbau von Sedimentgestein in grossem Stil die Versorgung der Dampfschiffe, auf denen die ersten Siedler*innen ankamen.

Die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten im Landesinneren ist nach wie vor von diesen Arbeitsplätzen abhängig. Neben der Landwirtschaft stellt der Bergbau fast die einzige Einkommensquelle dar. In den Dörfern Collinsville, Clermont und Emerald – wo Glencore einige seiner Minen betreibt – sorgt die Blockadehaltung von Umweltschützer*innen und Aborigines für deutlich mehr Kritik, als es die Schattenseiten des Bergbaus tun. Medienschaffende sind selten gern gesehen, und nur wenige Einheimische sind bereit, sich gegenüber Medien zu äussern, die eine andere Sicht der Dinge vertreten.

Den Kids ein Leben ermöglichen

Luke Holmes zählt nicht zu diesen Menschen. Bei unserem Treffen beobachtet er von seinem Quad aus seine weidende Herde und spricht dabei über die notwendige Schaffung von Arbeitsplätzen. «Unsere Kinder müssen weiterhin Arbeit haben, denn hier wird man nicht Arzt», sagt er und spuckt seinen Kautabak aus, während seine beiden Hunde auf dem Rücksitz hecheln. Luke Holmes hat selbst etwa 15 Jahre lang für einen Bergbaukonzern gearbeitet. Das brachte ihm das nötige Geld für den Kauf eines Stücks Land ein, von dem er heute leben kann. Die Einstiegslöhne betragen ohne Weiteres 45 australische Dollar pro Stunde (29 Franken), qualifizierte Arbeitskräfte kriegen fast das Doppelte – und das bei Kost und Logis. Der Farmer ist Big Coal zwar weiterhin dankbar, gibt aber zu bedenken, dass «Kohlebergwerke viel weniger reguliert sind als die Landwirtschaft».

Klar, denn König Kohle beherrscht die Region und duldet niemanden neben sich. Derzeit sind in Australien 68 Projekte zur Ausweitung oder zur Eröffnung von Bergwerken in Planung, die Hälfte davon in Queensland, so die offiziellen Zahlen. Angesichts des Vormarsches der Kohle müssen nun einige Farmerfamilien schweren Herzens die zweite Zwangsenteignung ihres eigenen Grund und Bodens ertragen. Um dem Ganzen entgegenzuwirken, handeln die Bergbaukonzerne die Entschädigungen von Fall zu Fall aus und überbieten sich gegenseitig mit spektakulären Versprechen von Vorteilen für die lokalen Gemeinden und der Anzahl der Arbeitsplätze, die geschaffen werden würden. Adani hatte ursprünglich 1500 Arbeitsplätze während der Bauphase sowie 6750 indirekte Arbeitsplätze versprochen. Diese Zahlen sind inzwischen stark nach unten korrigiert worden.

Matthew Currell, Professor für Umwelttechnik, ist besorgt darüber, dass die Kohleminen die Wasserressourcen in diesen halbwüstenartigen Gebieten in Beschlag nehmen. «Die Regierung von Queensland hat Adani eine Lizenz erteilt, beliebig viel Grundwasser zu pumpen. Doch es fand keine seriöse Umweltverträglichkeitsprüfung statt», bemängelt Currell. Als Mitverfasser eines Meinungsartikels schrieb er im Mai 2020: «Australien hat beim Coronavirus auf die Wissenschaft gehört. Stellen Sie sich vor, wir würden dies auch bei den Kohleminen tun.» Für den Wissenschaftler des Royal Melbourne Institute of Technology (RMIT) ist das Risiko einer Kontaminierung oder Austrocknung des Ökosystems der Doongmabulla-Quellen – Lebensraum für seltene und den Aborigines heilige Pflanzenkulturen – offensichtlich; angesichts der wirtschaftlichen und der wahlpolitischen Interessen wurde es jedoch ignoriert.

Die Argumentation des Dealers

Auf globaler Ebene gibt es ein noch grösseres Problem: die Emissionen. Lange Zeit konzentrierte sich die Debatte auf Kohlendioxid (CO₂), das bei der Verbrennung von Kohle freigesetzt wird. Auf diese Kritik haben die Lobbys oft reagiert, indem sie das Problem auf die Länder abwälzten, in welchen die Kohle verbraucht wird.

Das klingt für mich wie die Argumentation eines Drogendealers», sagt Peter MacCallum, Koordinator der Umweltorganisation Mackay Conservation Group

«Ich kann noch so viel Heroin verkaufen, aber ich bin nicht verantwortlich für die Menschen, die es konsumieren.» Peter McCallum

Die lokale Regierung kündigte Ende September stolz an, dass sie bis 2035 auf den Verbrauch von thermischer Kohle als Energieträger im Inland verzichten wolle. Der Export von Kohle wurde jedoch mit keinem Wort erwähnt. Diese politische Ansage veranlasst Peter MacCallum zu dem ironischen Kommentar: «So werden wir wie die Schweiz: Unsere Hände bleiben sauber.»

Der ökologische Kampf dreht sich in Wirklichkeit immer mehr um das Methan, ein potentes Treibhausgas, das beim Kohleabbau freigesetzt wird. Es ist 82-mal stärker als CO₂ und soll laut einem der letzten Berichte des Weltklimarats IPCC für den Anstieg der globalen Temperaturen um 0,5 Grad in den letzten 100 Jahren verantwortlich sein. In Australien – dem Industrieland, das weltweit am anfälligsten für Klimakatastrophen wie steigende Meeresspiegel oder Waldbrände ist – verlagert sich der Fokus der ökologischen Anliegen daher von der Kohleverbrennung auf die Gewinnung und Verarbeitung. Damit sind die Worte des Dealers für das Förderland passé.

Mithilfe neuer Satellitenbilder der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde Nasa hat das kanadische Rechercheunternehmen Ember in einem Bericht vom Juni 2022 die Methanlecks aller australischen Kohleminen analysiert. Das Ergebnis: Die Verschmutzung ist fast doppelt so gross wie diejenige, die der lokale Autoverkehr verursacht. Und: Bergbauprojekte im Galilee-Becken wie das auf Jahrzehnte angelegte Adani-Projekt werden die Lage in Zukunft weiter verschlechtern.

Zu den umweltschädlichsten Tagebauminen Australiens gehört Hail Creek mit einer Fördermenge von rund 7 Millionen Tonnen, an der Glencore 2018 die Mehrheit übernommen hat. Satellitenbilder zeigen, dass aus der Mine mehr als zehnmal so viel Methan entweicht, als Glencore den Regulierungsbehörden gemeldet hat.

Der Zuger Konzern, den wir mehrere Wochen im Voraus kontaktiert hatten, verweigerte uns eine Besichtigung der Mine und begründete dies mit der «Revision des Jahresbudgets». Vor Ort, an der einzigen öffentlichen Zufahrtsstrasse zur Mine und zu ihrem Kontrollposten, wirbt ein Schild jedoch für Offenheit und Verantwortung als Glencores Werte. Auf Anfrage schickte uns der Zuger Konzern ein Merkblatt zum Thema Methanemissionen. Es beschreibt mit dem Tagebau verbundene Phänomene, lobt Glencores Bemühungen zur Reduzierung (durch die Gasverbrennung oder das Einfangen des Gases zur Umwandlung in Strom) und äussert Zweifel an der Verwendung von Satellitenbildern, da diese zu «unstet» seien, um sie mit den jährlich gemeldeten Emissionen zu vergleichen.

In Queensland wird es jedoch immer schwieriger, die Erderwärmung zu ignorieren. Das weltbekannte Great Barrier Reef – der Stolz der Region – erstreckt sich über 2000 Kilometer und wird von immer heftigeren Wirbelstürmen und einer beschleunigten Korallenbleiche heimgesucht. Im Mai 2022 waren laut einem Regierungsbericht 91% der Riffe von einer andauernden Hitzewelle betroffen. Es war die vierte seit 2016. In der Tourismusbranche, in der normalerweise nicht viel darüber gesprochen wird, um Tauch- und Segelliebhaber*innen nicht abzuschrecken, werden allmählich kritische Stimmen laut.

Der in Kalifornien geborene Tony Fontes kam 1979 an die Küste von Airlie Beach, «um seinen Traum vom Tauchen am Riff zu leben». Er ist geblieben. Aber heute ist es nicht mehr dasselbe Gefühl, weil das Great Barrier Reef so sehr gelitten hat. «Das Thema wird totgeschwiegen. Anstatt gemeinsam gegen die Interessen der Bergbaukonzerne vorzugehen, die dem Tourismus schaden, leugnen die Reiseunternehmen lieber die Folgen des Klimawandels, aus Angst, dass die Tourist*innen ausbleiben», kritisiert er. Die Reiseveranstalterin Lindsay Simpson beobachtet eine neue Tourismuskategorie, die sie «disaster tourism» nennt – Katastrophentourismus; Reisende, die das Great Barrier Reef unbedingt noch sehen wollen, bevor es zu spät ist.

Die goldenen Zeiten der Industrie

Die Kohleindustrie hat ihre Zukunft jedoch noch vor sich. Im Gebiet um die Ortschaften Capella und Emerald hat Glencore im April 2020 Genehmigungsanträge für die vielleicht grösste Mine Australiens eingereicht: sechs Kohleschächte mit einer Produktion von 20 Millionen Tonnen pro Jahr. Codename: Valeria Project. Baubeginn: 2024. Dauer: 30 Monate, einschliesslich des Baus der dazugehörigen Eisenbahn und Strominfrastruktur. Das Ganze soll 37 Jahre lang nutzbar sein. Das ist weit nach 2050, dem Jahr, in dem der Zuger Konzern bei den Emissionen netto null erreichen will.

File:Abbot Point Terminal.jpg

Unter dem Druck seiner Kapitalgeber verpflichtete sich der damals von Ivan Glasenberg geleitete Rohstoffgigant im Februar 2019, seine Kohleproduktion auf 150 Millionen Tonnen pro Jahr zu beschränken. Im Jahr 2021, das noch von der Pandemie geprägt war, produzierte er 103,3 Millionen. Seitdem hat Glencore ohne zu zögern die Anteile seiner Konkurrenten an der kolumbianischen Mine Cerrejón aufgekauft. Dies dürfte die eigene Kohleproduktion um weitere 14 Millionen Tonnen erhöhen.

Auf den rund 10’000 Hektaren, die Valeria auf dem Gebiet einnehmen wird, hat Glencore bereits gründlich aufgeräumt. Neun Familien wurden umgesiedelt und das Land, auf dem sich zwei staatliche Wälder befinden, ist fast vollständig eingezäunt. Nur noch ein Hubschrauberpilot lebt in einem kleinen Haus und wartet auf das Ende seines Pachtvertrags im Januar 2023.

In Capellas Zeitungskiosk, der auch als Informationszentrum dient, drückt die Besitzerin ihrer Kundschaft direkt eine von Glencore produzierte und mit Mai 2022 datierte Broschüre in die Hand, die den weiteren Ablauf der geplanten Arbeiten zusammenfasst. «Das Projekt läuft schon seit vielen Jahren, das kommt nicht überraschend», resümiert sie fatalistisch. «Wir haben viele Minen in der Umgebung, wir wissen also, worum es geht.»

Ein Farmer, der nicht namentlich genannt werden will, ist nicht erfreut darüber, dass er «im Staub von Glencore hockt». In Australien sorgen die Minen für leere Landstriche, denn seiner Meinung nach hat der Konzern keine besonders gute Bilanz in Bezug auf die Nachbarschaftsbeziehungen vorzuweisen. Sein Grundstück grenzt über mehrere Kilometer an die geplante Valeria-Mine. Und obwohl er überhaupt keine Lust hat, dieses Land zu verlassen, «das uns so viel gegeben hat und ein Teil von uns ist», wird er durch die vom Kohleabbau verursachte Umweltbelastung dazu gezwungen sein.

«Die Menschen in der Schweiz müssen sich bewusst werden, wie stark der Bergbau unser Leben hier verändert», sagt er. Ein Farmer, der anonym bleiben will

Auf dem Territorium der Aborigines

Auch Scott Franks wird das nicht bestreiten. Nachdem er sich gegen Glencores Pläne zur Ausweitung der Glendell-Mine auf dem Land seiner Wonnarua-Vorfahren gewehrt hatte, wurde der Aborigine (zusammen mit einem anderen Aktivisten) in einer ganzseitigen Anzeige des Zuger Konzerns in einem lokalen Medium mit Namen genannt, weil er «versucht hat, unser Projekt zu stoppen» und damit auch die gewerblichen Tätigkeiten auf einer Fläche von 156 Quadratkilometern im Hunter Valley in New South Wales. Es geht um 3000 Arbeitsplätze. «Die Strategie ist, die Bergbaugemeinschaft gegen die Aborigines, die Black Folks, aufzubringen. Bisher haben wir alle Minen unterstützt, aber uns bleiben lediglich noch 3% unseres Landes», analysiert Scott Franks voller Bitterkeit.

Die geplante Ausweitung von Glendell würde die Gedenkstätte eines Massakers betreffen, das 1826 von der berittenen Polizei in einer Aborigines-Siedlung verübt worden war und 36 Tote gefordert hatte. Glencore will dazu eine Farm umsiedeln und behauptet in der Anzeige, dass das Massaker in Wirklichkeit 20 Kilometer entfernt stattgefunden habe. Zudem bestreitet der Konzern die Eigentumsrechte der beiden Opponenten sowie ihre Rolle als Vertreter des Volks der Wonnarua. Die Unabhängige Planungskommission (IPC) der Regierung von New South Wales sprach Glencore Ende Oktober 2022 das Recht auf Ausweitung der Glendell-Mine ab. Auf Anfrage erklärte der Bergbaukonzern, dass er darüber nachdenke, diese Entscheidung anzufechten, da das «Massaker von 1826 ausserhalb von Ravensworth stattgefunden hat» und «die heutige Farm erst danach gebaut wurde». In seiner Antwort erwähnt der multinationale Konzern auch seine Programme zur Wiederherstellung von Bergbauland sowie zur Unterstützung junger Aborigines. «Wir anerkennen die einzigartige Beziehung der indigenen Gemeinschaften zu ihrer Umwelt», versichert Glencore und spricht von Beziehungen, die auf gegenseitigem Vertrauen, Respekt und im Bestreben nach «beidseitigem Nutzen» beruhen.

«Glencore verhandelt nur mit Gemeinden, die der Konzern kaufen kann», kritisiert hingegen Scott Franks. Klage gegen Glencore wegen Greenwashings.

Nachdem gegen den Konzern in den letzten Jahren wegen Korruption in den USA, Grossbritannien, Brasilien und der Schweiz eine Welle von Strafverfahren eingeleitet worden sind, scheint Glencore sich jedoch mehr um sein Image zu kümmern. Sowohl in der Schweiz als auch in Australien versucht der Kohleriese, sich als Hauptakteur der Energiewende zu profilieren, indem er seine Rolle beim Abbau von Kobalt und Kupfer betont, die für die Herstellung von Elektrobatterien unerlässlich sind.

In Australien hat dem Konzern seine Kampagne «Advancing Everyday Life» eine Anklage wegen «irreführenden oder täuschenden Verhaltens» bei der Behörde für Verbraucher- und Investorenschutz eingebracht. In der Schweiz hat die Koalition für Konzernverantwortung, zu der Public Eye gehört, Glencore zudem wegen Greenwashings im Zusammenhang mit der Plakatkampagne des Konzerns in öffentlichen Verkehrsmitteln und Bahnhöfen angeklagt. Dies beeindruckt den Zuger Multi jedoch keineswegs, denn er versichert, dass alle drei Klagen abgewiesen wurden, und es hält ihn auch nicht davon ab, neue Minen zu eröffnen – genauso wenig wie seinen Konkurrenten Adani.

Aber im Camp in Waddananggu hat Coedie MacAvoy zweifellos ein ebenso dickes Fell wie sein Vater. Und sein Humor ist so trocken wie die Erde, wenn sie in die Motoren der Geländefahrzeuge eindringt. Am Eingang des Lagers hat er mehrere Schilder aufgestellt, die vor unbefugtem Betreten warnen, da man sonst von der Stammesjustiz verurteilt werden könnte: «Haben Sie mein Schild gesehen? Es sieht aus wie jedes andere Schild, und in einer Welt voller Schilder kann niemand mehr den Unterschied erkennen.» Im vergangenen Jahr organisierte er seine eigene «Tour of Carmichael», bei der über 100 Velofahrer*innen in dem für Adani abgesteckten Gebiet zusammenkamen. «Wir haben die moralische Stärke. Wir leben weiter, also werden wir gewinnen», versichert der 30-Jährige.

Coedie MacAvoy lebte bei der Lancierung des Bergbauprojekts in Brisbane, der Hauptstadt von Queensland. Er gibt offen zu: «Ich glaube nicht, dass meine Familie auf das Land, von dem mein Grossvater mit vorgehaltener Waffe vertrieben wurde, zurückgekehrt wäre, wenn es nicht um Adani gegangen wäre.» Wollte Coedie, der mit den Ideen und Reden seines Vaters aufgewachsen ist, sich nie gegen das Familienschicksal auflehnen und etwas anderes tun? Hat er nicht das Gefühl, einen endlosen Konflikt geerbt zu haben? «Ich habe nie gedacht, dass die Generation meines Vaters den Ausschlag geben würde», antwortet er nur. «Dazu trägt sie noch zu viel Traumata und Wut in sich.»

Am Horizont geht die Sonne über Carmichael unter. Die Staubwolke hat sich aufgelöst, und die Mine ist in Stille getaucht. Coedie MacAvoy nutzt die Gelegenheit, um eine Palme zu pflanzen, die – so hofft er – in einigen Jahren Früchte tragen wird.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben        —   Kohle-Tagebau bei Collie in Western Australia

*******************************

Unten     —    Abbot point port terminal infrastructure

Author WikkiMediaa          /         Source      :: Own work      /     Date    :  1 April 2014, 00:06:31

This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.

Abgelegt unter Deutschland_DE, Energiepolitik, International, Positionen, Regierung, Umwelt | Keine Kommentare »

Der Holzbetrieb

Erstellt von Redaktion am 5. Februar 2023

Im Hamster-modus: „Brennholz ist das neue Klopapier“

Von Thomas Vogel

Putin eine lange Nase machen, soll er doch sein Gas behalten. Ersatz wächst auch bei uns vor der Türe. Wenn die Sache mit dem Brennholz nur so einfach wäre.

Die Deutschen und ihr Wald. Ein Thema, bei dem ganz, ganz viele Emotionen mitschwingen. „Wenn du ein tiefes Leid erfahren/Tief schmerzlich, unergründlich bang/Dann flüchte aus der Menschen Scharen/Zum Walde richte deinen Gang“, empfiehlt der Arzt und Dichter Ludwig August Frankl (1810-1894). Der Wald ist Trost, Zufluchtsort und in der deutschen Geschichte immer wieder Stoffspender für nationale Mythen, auch ganz fürchterliche. Vom Fällen der Baumstämme ist dabei ausdrücklich nie die Rede.

Dafür hat inzwischen sogar die russische Propaganda dieses Thema für sich entdeckt. Vergangenen November lancierte sie die Meldung in den medialen Raum, wonach die in bitterer Kälte darbende Berliner Bevölkerung bereits Hand an den Stadtpark Tiergarten lege, um ihn zu verfeuern.

Blanker Unsinn wieder mal. Zumal gutes Brennholz mindestens zwei Jahre lagern muss, um gut auszutrocknen, wie jeder Freizeitheizer mit Kaminofen-Expertise weiß. Besuch bei Gewährsmann Michael Mayr, Vollbart, verschmitzes Lächeln, verschmutzer Dienstwagen mit Waldbodenspritzern rundherum. Er ist Revierleiter in der Marktgemeinde Pfaffenhofen an der Roth in Bayrisch-Schwaben. Die Gegend ist waldreich, etwa ein Drittel der Waldflächen gehören privaten Besitzern. Mehr als 1.000 von ihnen steht er beratend zur Seite und ebenfalls fünf Gemeinden mit ihren Kommunalwäldern. Insgesamt ist er für 3.800 Hektar zuständig. Zwei Hektar beträgt die durchschnittliche Größe im Privatwald.

Das Brennholz, das aus Mayrs Beritt in den Verkauf kommt, reißen sie ihm derzeit förmlich aus der Hand. In den Wintermonaten, wenn die Bäume weniger Wasser führen, ist Hochsaison bei Waldarbeiten. Statt lieblichen Vogelstimmen hören Spaziergänger, die Erholung und Erbauung suchen, dann den grellen Aufschrei der Kettensägen und das Prasseln fallender Bäume.

Mit Beginn der Saison stand bei Mayr zeitweilig das Telefon nicht mehr still vor lauter Anfragen nach Brennholz. Mancher Private orderte unversehens die dreifache Menge. Anfragen von gewerblichen Interessenten trudelten ein, die weit außerhalb des üblichen Kundenradius ansässig sind. Die Leute, sagt Mayr, seien erneut im Hamstermodus wie in besten Coronazeiten: „Brennholz ist das neue Klopapier.“

Horten aber sei gar nicht so sinnvoll. „Holz hat zwar kein Haltbarkeitsdatum, aber es hält auch nicht ewig“. Nach ein paar Jahren, so Mayr, verliere es stark an Brennwert.

Eine zehnminütige Autofahrt oder acht Kilometer Luftlinie entfernt findet sich der nächste Stützpunkt der Waldbetreuung. Der Forstbetrieb Weißenhorn, zum staatlichen Unternehmen der Bayerischen Staatsforsten gehörend, residiert in einem historischen Forsthaus aus den 1920er Jahren am Rande der Altstadt. Ihm unterstehen die über 14.500 Hektar Staatswald in der Umgebung, was grob gerechnet mindestens ebenso vielen Fußballfeldern entspricht. Hier empfangen Forstbetriebsleiter Martin Eggert und sein Stellvertreter Christoph Kohler zum Gespräch.

Energiekrise? Aus Anlass des russischen Überfalls auf die U-kraine? Ganz weit weg, und doch ganz nah. Denn in Folge setzte auch bei ihnen ein bislang unbekannter Run auf die Holzscheite ein.

Eggert und Kohler, unprätentiöses Auftreten, dialektfreie Sprache, druckreife Ausdrucksweise, wären auch vorstellbar als Seminarleiter an einer Hochschule. Als Manager des Waldes jonglieren sie zwischen Naturbegeisterung und Zahlenwerk. Die Holzmenge, die „ihr“ Betrieb alljährlich dem Markt zur Verfügung stellt, ist imposant. Es sind insgesamt 131.000 Festmeter, wie es in der Fachsprache heißt. Einer ist ein Kubikmeter mit gestapeltem Holz. 11.000 Festmeter davon werden als Brennholz abgegeben. Doch wer als Neukunde nach einem Häppchen davon heischte, hatte zuletzt schlechte Karten. Selbst wenn die Nachfrage explodiere, werde nicht mehr Holz eingeschlagen, verlautet es aus beiden Forsteinrichtungen.

Wem gehört der Wald?

Unser Wald

Was für Wälder gibt es eigentlich? Sie lassen sich nach ganz unterschiedlichen Kategorien einteilen, zum Beispiel nach den Klimazonen, in denen sie natürlicherweise wachsen. Oder eben auch nach den Besitzverhältnissen. Und die kann man unseren Wäldern unter Umständen sogar ansehen. In den professionell gemanagten Staatswäldern, die dem Bund oder den Ländern gehören, führen im regelmäßigen Abstand von 30 Metern Rückegassen ab von den Haupterschließungswegen. Darauf verkehrt das schwere Gerät aus Harvestern und anderen Vollerntern, die mit ihrem langen Arm die Stämme von der Fläche holen können.

Die Besitzer

In Privatwäldern ist die Erschließung oft ein von den Besitzern vor sich hergeschobenes Problem. Es gibt Kleinwaldprivatbesitz und Großwaldbesitzer, darunter häufig Adelige und neuerdings vermehrt Investoren aus der Wirtschaft, darunter Aldi. Auch die Kirchen halten Waldbesitz und manche Gemeinden und Städte. So genannte Realwälder bilden eine Sonderbesitzform und eine sehr alte; dabei haben Besitzer von agrarischen Hofstellen verbriefte Rechte zur Waldnutzung: Zum Bezug von Brenn- und Bauholz ebenso wie zur Entnahme von Laub und Gras als Einstreu für die Ställe.

„Niemand plündert wegen eines momentanen Trends seinen Wald“, sagt Mayr. Wobei Privatwäldler da mehr Spielräume hätten. Doch die Waldgesetze, die etwa einen Waldfrevel verhindern sollen, gelten auch für sie.

Wenn man seine Kollegen in Weißenhorn auf das Thema Brennholz anspricht, bekommt man erst einmal einen Einführungskurs zum Thema Waldstrategie. Brennholz spielt darin nur insofern eine Rolle, dass es eben anfällt. Sei es bei der „Ernte“ von Bäumen aus dem Altbestand, sei es bei der „Durchforstung“ (Auslichtung) von dichten Jungbeständen. Dabei werden gezielt Jungbäume „entnommen“, damit es die anderen besser haben und auch Arten hochkommen können, die mehr Licht brauchen, langsam wachsen und erwünschter sind: Eichen zum Beispiel.

Rund zehn Kubikmeter Holz dürfen den Wäldern in der Region der beiden Reviere pro Hektar und Jahr entnommen werden, wenn die Nachhaltigkeitsformel Gültigkeit behalten soll. Das ist so viel, wie in dem Zeitraum auf der Fläche mit Altbestand auch wieder nachwächst. Gewähr, dass sie staatlicherseits eingehalten wird, liefert die alle zehn Jahre stattfindende Wald-inventur, nach der gegebenenfalls auch nachjustiert werden kann.

„Unser Spielraum ist allein durch gesetzliche Auflagen stark eingeschränkt“, sagt der Weißenhorner Forstbetriebschef. Anspruch sei kein geringerer, als „vorbildliche Wälder“ zu entwickeln. Im Betrieb läuft seit über drei Jahrzehnten der Waldumbau hin zu klimaresistenteren und stabilen Mischwäldern. Weg von den stark gefährdeten Fichtenmonokulturen, lautete seither die Parole, die heute im Zuge des Klimawandels aktueller denn je ist. Wenigstens fünf Baumarten sollen jetzt auf der Fläche vorkommen und möglichst alle Altersklassen. Die Strategie trägt längst Früchte.

Weiteres Ziel ist ein werthaltiges Holz aus ebenmäßigen und astlosen Stämmen. In den Sägewerken werden daraus Balken, Bretter oder Latten geschnitten, Material für Möbel, Dachstühle und vieles mehr. Zu Brennholz werde allein jenes Material, das für eine höherwertige Nutzung ausscheidet, versichert Eggert. Man kann das im Handel ofenfertig erwerben oder selbst mit Genehmigung und auf Zuteilung im Wald aufarbeiten. Die Zahl derer, die dieses Holz mit eigener Kräfte Arbeit aus dem Wald holen, sei zuletzt auffallenderweise gestiegen.

Laubbäume sind als Quelle für Brennholz ergiebiger als Nadler und für diesen Zweck eindeutig beliebter. Betriebswirtschaftlich fällt dieses ins Segment „Industrieholz“, das eine völlig unterschiedliche Verwendung findet. In der Papier- und Spanplattenindustrie ebenso wie bei der „thermischen Verwertung“.

Sowieso werden bei der Holzverbrennung die Schlünde immer gieriger. Da sind zum einen die privaten Kaminöfen, die das Heizen zu Hause mit der Gemütlichkeitssteigerung verbinden. Dazu kommen aber viele weitere Verbrenner, von Zentralheizungen, die Pellets verschlingen, über Hackschnitzelanlagen für Blockheizkraftwerke bis hin zu Großanlagen im Fernwärmebereich.

Die zur Verfeuerung genutzte Holzmenge habe sich seit 1990 glatt verdreifacht, führt der Bund Naturschutz in Bayern (BUND) an.

Quelle         :        TAZ-online             >>>>>         weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben       —     Beseitigung der Fichte am Rande eines Naturschutzgebietes in Form eines Kahlschlags

Abgelegt unter Energiepolitik, International, Positionen, Umwelt, Wirtschaftpolitik | Keine Kommentare »

Proteste in Iran

Erstellt von Redaktion am 1. Februar 2023

Das Volk und der Prinz

Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Die Hoffnung auf einen raschen Sturz des iranischen Regimes hat sich nicht erfüllt. Im US-Bürger Reza Pahlavi suchen manche jetzt ihren Kronprinzen.

Die Hoffnung so vieler, es werde kurzfristig zu einem Sturz des Regimes in Iran kommen, hat sich nicht erfüllt. Gleichwohl ist nichts wie zuvor; die Proteste haben das Land verändert, neue Allianzen der Solidarität hervorgebracht, die Bedeutung der Frauen unauslöschlich auf den Mauern verzeichnet. Über eine von Wut und Schmerz zerklüftete Landschaft wird sich keine Ruhe senken.

Der entscheidende Hebel zum Sturz des Re­gimes wäre allerdings die Beteiligung jener breiten Bevölkerungskreise, die sich der Bewegung bisher nicht anschließen mochten. Das sind keineswegs nur Loyalisten, die durch Jobs und Vergünstigungen vom System profitieren. Abseits steht auch, wer Zweifel daran hegt, ob die eigenen Bedürfnisse nach einem Umsturz bessere Berücksichtigung fänden. Und natürlich gibt es auch Opportunisten: Sie warten auf deutliche Anzeichen für einen Zerfall des Machtapparats. Etwa die Superreichen; sie verlachen Islam und Geistlichkeit und sorgen sich einzig darum, wohin sie ihr Vermögen transferieren könnten.

Aber dann sind da – und dies ist vielleicht das Wichtigste – die Konservativ-Religiösen und jene, die ihren Glauben gegen staatlichen Missbrauch verteidigen. Begegnungen mit ihnen haben mich am meisten über Iran gelehrt. Doch diese Menschen werden leicht übersehen, unter anderem weil die Diaspora zu diesen Kreisen weniger Verbindungen hat. Eine Bekannte, die dem Milieu familiär verbunden ist, schrieb mir unlängst aus Iran, der Streit um Orientierung habe sich tief in die privaten Verhältnisse eingegraben; die Polarisierung bringe Verwandte gegeneinander auf.

Im Text einer iranischen taz-Autorin begegnete mir am selben Tag folgender Satz: „Der Islam ist seit 1.400 Jahren ein Zwang in Iran.“ Ungewollt wird hier herabgesetzt, was geehrt werden soll. Der Philosoph Ramin Jahanbegloo, der in Delhi lehrt, schrieb einmal, es sei „eine der kulturellen Katastrophen der iranischen Gesellschaft“, die drei Schichten ihrer geistig-moralischen Substanz immer neu gegeneinander auszuspielen, nämlich vorislamisches Persertum, schiitische Identität und Modernismus. Das legt die Schlussfolgerung nahe: In einer Revolution, die das Verhängnis von 1979 nicht mit anderen Vorzeichen wiederholt, müssen all diese Identitätsschichten aufgehoben sein, in einer gewiss schwierigen Balance.

Die Herrschenden der Islamischen Republik zu „Fremden“ zu erklären, die gegen das Volk Krieg führen, macht es eher schwer, das Beharrungsvermögen des Machtapparats zu verstehen. Auf Demonstrationen hierzulande begegnete mir in Gesprächen öfter die Redewendung vom Krebsgeschwür: das Regime ein Tumor, der herausgeschnitten werden müsse; dann werde der Volkskörper gesund. Das gute Volk – darin liegt die Sehnsucht nach einem Kollektiv, das Identifikation erlaubt, aber auch ein Abspalten von Schuld: Die Gesellschaft ist frei von Verantwortung für das, was seit 1979 geschehen ist.

Diese Sicht ist mir in Iran nie begegnet. Eher hörte ich Klagen, wie sehr Moral und Anstand gelitten hätten und wie das staatliche Vorbild schäbiger, strafloser Korruptheit Nachahmer zeuge. Aus diesem Wissen speist sich übrigens die Angst, in einer Umbruchsituation könnten offene Rechnungen in nächster Nachbarschaft durch Selbstjustiz beglichen werden.

Die Aktivistinnen der Diaspora und ihre Unterstützer haben getan, was sie konnten, um Solidarität zu mobilisieren – in der westlichen Welt. Aber die Fähigkeit dieses Teils der Welt, Geschehnisse außerhalb zu beeinflussen, wird überschätzt. Zum Vergleich: Die EU vermochte es durch ein Jahr koordinierter Sanktionen nicht, Putin so zu schwächen, dass er wenigstens an den Verhandlungstisch kommt.

Um die Verurteilten in Teheran vor dem Henker zu retten, bräuchte es politischen Druck aus Indien, China, aus muslimischen Ländern. Ich höre, wie manche bitter auflachen – und ich teile die Bitterkeit. Aber so sind die Weltverhältnisse, jedenfalls in Bezug auf Iran. Dem Westen ist es auch nicht gelungen, das Teheraner Nuklearprogramm einzudämmen, obwohl dazu die Chance bestanden hätte. Trump setzte lieber auf maximum pressure und verhob sich daran. Nun deutet der israelische Angriff auf eine Militäranlage in Iran eine neue Phase an; sie dürfte den zivilen Aufstand eher erschweren, denn das Regime weiß solche Angriffe für sich zu nutzen.

Eine inklusive Erinnerung, die den Widerstand gegen zwei Folterregime unterschiedlicher Natur integrieren könnte, hat sich im Exil wenig entwickelt. Die Schah-Ära wird im heutigen Blick geschönt; es gibt Enkel, die ihrem Großvater nicht glauben wollen, dass er in einem Schah-Gefängnis saß. Nur vor diesem Hintergrund ist erklärlich, dass der Sohn des 1979 gestürzten Monarchen nun zur starken Figur innerhalb einer provisorischen Auslandsführung zu geraten scheint. Fast eine halbe Million Unterzeichner haben den US-Bürger Reza Pahlavi, der sich von seinen Anhängern „Kronprinz“ nennen lässt, zu ihrem Repräsentanten erklärt.

Quelle         :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben        —       Cartoon of HezbollahIranHamas, with Iran as puppetmaster.

Abgelegt unter Asien, Kultur, Positionen, Schicksale | 1 Kommentar »

Die Armen zahlen für Reiche

Erstellt von Redaktion am 29. Januar 2023

Für ihre Superjachten zahlen Milliardäre keine CO2-Abgaben

Aaint-Trop2.jpg

Quelle      :        INFO Sperber CH.

Von      :          Pascal Derungs /   

Die EU weitet den CO2-Emissionshandel aus, auch der Schiffsverkehr wird künftig einbezogen. Doch die Superreichen werden verschont.

Ein Mensch in Deutschland verursacht im Schnitt etwa elf Tonnen Treibhausgase pro Jahr, dieselbe Menge produziert eine Superjacht bereits nach einem Dutzend Fahrstunden. Im Jahr können es mehrere Tausend Tonnen CO2 werden. Dennoch sollen die Besitzer oder Mieter von Jachten nach NDR-Informationen weiterhin von einer Ausnahmeregel im CO2-Emissionshandel profitieren. Infosperber fasst im Folgenden die relevantesten Fakten und Erkenntnisse des NDR-Berichts zusammen.

Stossende Ungleichbehandlung im Emissionshandel

Seit 2005 müssen einige grosse Industriebetriebe Zertifikate für ihren Treibhausgas- Ausstoss kaufen, seit 2012 auch Luftfahrtunternehmen für innereuropäische Flüge. Nun wird die EU dieses System ausweiten. Auch der Strassenverkehr und Gebäude sollen erfasst werden, ebenso der Schiffsverkehr. Allerdings müssen ab 2024 nur für sehr grosse Passagier- und Frachtschiffe ab 5000 Bruttoregistertonnen CO2-Zertifikate erworben werden. Für «nicht-gewerbliche Betreiber oder reine Freizeitboote» gelte das nicht, unabhängig von der Grösse. Das teilte die EU-Kommission auf Anfrage des NDR mit. Davon profitieren selbst Milliardäre mit ihren riesigen Schiffen, wenn sie sie selber nutzen. Dabei sind die Emissionen gigantisch.

Superjachten sind wahre Treibhausgas-Schleudern

Das haben unter anderem die beiden US-Wissenschaftler Beatriz Barros und Richard Wilk untersucht. Sie haben die Emissionen von 20 Milliardären weltweit analysiert. «Unter den zahlreichen Besitztümern von Milliardären sind grosse Superjachten die mit Abstand grössten Verursacher von Treibhausgasen», schreiben Baros und Wilk. «Superreiche Jachtbesitzer verursachen an einem Sommertag mehr Umweltverschmutzung als die Mehrheit der Menschen in ihrem ganzen Leben, doch die Politiker lassen sie weiterhin ungeschoren davonkommen», kritisiert auch Jacob Armstrong von der Nichtregierungs-Organisation «Transport & Environment». Er hat analysiert, für welche Mengen an Treibhausgasen Jachten insgesamt verantwortlich sind. Demnach gibt es etwa 1500 grössere Jachten in Europa, die im Schnitt je etwa 725 Tonnen CO2 pro Jahr ausstossen. Sie würden weiter vom Emissionshandel ausgenommen bleiben, so Armstrong. Die EU-Kommission verweist darauf, dass grosse gewerbliche Charter-Jachten unter das EU-Emissionshandelssystem fallen, doch das dürften nur sehr wenige sein. In den Top-Listen der grössten Jachten der Welt finden sich vielleicht fünf Schiffe in dieser Grösse (ab 5000-Bruttoregistertonnen), die zum Chartern angeboten werden.

«Bürokratischer Aufwand zu gross»

Als Begründung dafür, warum die meisten Schiffe beim Emissionshandel aussen vor bleiben dürfen, heisst es von der EU, die grossen Fracht- und Passagierschiffe jenseits der 5000-Bruttoregistertonnen-Grenzen seien für 90 Prozent der Emissionen im Schiffsverkehr verantwortlich. Um kleinere Schiffe ebenfalls zu erfassen, sei der bürokratische Aufwand zu gross.

Laut NDR-Bericht hatte das Europäische Parlament vorgeschlagen, den CO2-Preis einfach auf den getankten Treibstoff aufzuschlagen, ähnlich wie es auch jetzt schon in Deutschland im Strassenverkehr geschieht. Aber das hätten die anderen Institutionen der EU, der Rat und die Kommission, wegen «zu grossem administrativem Aufwand» abgelehnt. Es sei offenbar das Ziel, Besitzern von kleineren Privatbooten, Fischern oder etwa Betreibern von Inselfähren keinerlei zusätzlichen Kosten aufzubürden.

Auch Privatjet-Besitzer bleiben verschont

Auch bei Privatjets werden Ausnahmeregeln weiter bestehen bleiben, besagt ein weiterer NDR-Bericht. Viele Betreiber bleiben unter den festgesetzten Schwellenwerten, ab der sie Emissionsrechte erwerben müssten. Wer privat oder für die eigene Firma einen Jet nutzt, darf bis zu tausend Tonnen CO2 kostenfrei ausstossen. Bei gewerblichen Betreibern, also etwa Charterfirmen, liegt die Grenze sogar bei Zehntausend Tonnen.

Verhöhnung des Verursacherprinzips

Einige reiche Menschen können sich also weiterhin extrem CO2-intensiv fortbewegen, ohne dafür zusätzliche Kosten zu bezahlen, wohingegen etwa der Strassenverkehr künftig europaweit in den Emissionshandel eingebunden sein wird. «Diese Ungleichbehandlung ist wirklich verblüffend und sehr unfair», sagt dazu Armstrong von der NGO «Transport & Environment».

FREIE NUTZUNGSRECHTE

© Das Weiterverbreiten sämtlicher auf dem gemeinnützigen Portal www.infosperber.ch enthaltenen Texte ist ohne Kostenfolge erlaubt, sofern die Texte integral ohne Kürzung und mit Quellenangaben (Autor und «Infosperber») verbreitet werden. Die SSUI kann das Abgelten eines Nutzungsrechts verlangen.

Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —      The port of Saint-Tropez (Var, France).

Abgelegt unter Finanzpolitik, International, Positionen, Umwelt, Wirtschaftpolitik | 2 Kommentare »

„Lassen wir das Rumnölen!“

Erstellt von Redaktion am 28. Januar 2023

Robert Habeck über Klimapolitik und Krieg

Hier ist aber auch nur noch die Dekoration grün ! Und was WIR machen bestimmt ein Jeder  selbst.

Das Interview mit Robert Habeck führten Anja Krüger, Tobias Schulze und Peter Unfried.

Die Räumung von Lützerath sei richtig gewesen. Warum er der Klima­bewegung trotzdem dankbar ist, sagt Vizekanzler Robert Habeck im taz-Gespräch.

wochentaz: Luisa Neubauer spricht wegen der Räumung von Lützerath und angesichts der LNG-Terminals von einer Re-Fossilisierung deutscher Energiepolitik. Was ist das Gegenargument, Herr Habeck?

Robert Habeck: Das Gegenargument ist, dass Putin die Gaslieferungen nach Deutschland gestoppt hat, wir damit die Hälfte des Gases zur Versorgung verloren haben und schmerzhafte Entscheidungen treffen mussten, um eine Notlage zu verhindern. Wir haben aktuell 8,8 Gigawatt Kohlekraftwerke mehr am Netz als ursprünglich vorgesehen. Den Kohlestrom setzen wir ein, um Gas zu sparen. Der klimapolitische Gau wäre, wenn wir nach dem nächsten Winter sagen müssten: Wir müssen diese Kohlekraftwerke doch noch länger laufen lassen, weil wir uns nicht um eine ausreichende Versorgung mit Gas gekümmert haben. Kohle für Stromerzeugung ist eine klimapolitische Sünde. Um die nicht weiter zu begehen, brauchen wir derzeit noch Gas.

Man sieht Sie jetzt dauernd bei Einweihungen von LNG-Terminals, wo verflüssigtes fossiles Gas gelagert und weiterverteilt wird. Wäre mehr persönliche Zurückhaltung nicht angebracht?

Ohne jemandem zu nahe zu treten: Es spricht ganz schön viel Vergessen aus dieser Haltung. Eine Gasmangellage – und mit ihr schwere Schäden für Wirtschaft und Gesellschaft – ist eine ernsthafte Gefahr. Das, was wir jetzt erreicht haben – Unabhängigkeit von russischem Gas, volle Gasspeicher, wieder gesunkene Preise – ist kein selbstverständlicher Zustand. Die Gasspeicher sind nur voll, weil wir gehandelt haben. Weil wir die Gesetze geschrieben und uns um Ersatz gekümmert haben. Weil wir Gasimporteure vor dem Zusammenbruch bewahrt haben. Und weil viel Geld dafür ausgegeben haben.

Wie viel Geld?

Viele Milliarden. Die waren notwendig, um eine tiefe Krise abzuwenden. Allein für die Uniper-Rettung und dann die Übernahme des Konzerns haben wir rund 30 Milliarden bereitgestellt. Ob wir das am Ende alles brauchen, wissen wir nicht, aber sie als Sicherheit bereitzustellen, war nötig. Sonst wären hunderte Stadtwerke in Gefahr geraten und damit die Versorgung der Haushalte.

Fühlen Sie sich von Neubauer und der Klimabewegung unverstanden?

Nein. Wir brauchen Protest. Die Klimabewegung und gerade Fridays for Future haben die Klimapolitik ganz oben auf die Agenda in Deutschland gebracht. Das war eine große Leistung. Dafür bin dankbar.

Sie sprechen sehr nett über die Klimabewegung.

Nett wäre paternalistisch. Es geht mir um das gegenseitige Verständnis der unterschiedlichen Rollen. Eine Protestbewegung darf sich auf das Dagegen konzentrieren und muss mehr fordern, als der Status quo ist. Sie muss kritisieren, antreiben. Und sie muss Aufmerksamkeit schaffen. Das ist sinnvoll. Meine Rolle ist eine andere. Da geht es darum, Entscheidungen und Gesetze in Regierung und Parlament durchzusetzen, Alternativen zu schaffen, ja, auch Kompromisse einzugehen. Und ich muss die Energiesicherheit gewährleisten.

Die Kritik an der LNG-Infrastruktur zielt darauf, dass nach dem Ende des Energiemangels sehr viel fossiles Gas genutzt werden könnte, einfach weil es zur Verfügung steht – und zwar auf Kosten der Erneuerbaren.

Die Gefahr sehe ich nicht. Erstens: Unser politisches Handeln zielt ja voll auf den Ausbau der erneuerbaren Energien. Schneller und mehr – daran arbeiten wir. Wir haben durchgesetzt, dass die Erneuerbaren europaweit im überwiegenden öffentlichen Interesse liegen. Zweitens: Der Energiemangel geht nur vorbei durch Infrastruktur, die wir bauen. Wir kommen durch diesen Winter, weil wir anfangs noch russisches Gas hatten, weil wir jetzt LNG-Terminals in Betrieb nehmen und weil wir aus Norwegen und den Benelux-Staaten mehr Gas bekommen haben.

Andersrum gilt, dass die Versorgung der südöstlichen Nachbarn auch durch Deutschland erfolgt, inklusive eines Teils der Ukraine. Aktuell sind wir Transitland, künftig können wir über die schwimmenden Terminals aber auch Lieferungen für unsere Nachbarn ermöglichen. Wenn wir nur den nationalen Blick haben, machen wir also einen doppelten Fehler. Wir dürfen nicht verkennen, dass die anderen Länder uns versorgen, und nicht verkennen, dass durch uns auch andere Länder versorgt werden müssen.

Sie sagen es: EU-Länder waren in der Energienot solidarisch mit Deutschland, haben aber den Eindruck, dass Deutschland nicht so solidarisch ist – etwa wie es sein Gas in der Welt zusammengekauft hat. Ist es naiv, dass man das zusammen macht?

Das geht und das ist vereinbart worden. Richtig ist aber, dass Deutschland in der Vergangenheit sehr viele seiner Gaseinkäufe in Russland getätigt hat. Deutschland hat Nord Stream 1 und dann auch noch 2 gebaut. Die deutsche Energiepolitik hat lange die Warnungen – gerade von Polen und den baltischen Ländern – komplett ignoriert. Hauptsache, Gas aus Russland war billig.

Die Vorgängerregierungen haben es trotzdem gemacht.

Ja, und es ist schiefgegangen. Das war ein Grund für die hohen Gaspreise, auch in Ländern, die gar kein Gas oder nicht viel aus Russland bekommen haben. Dass andere europäische Länder deshalb zornig sind, kann ich verstehen.

Was folgt daraus für Sie?

Ich sehe die Fehler des letzten Jahrzehnts und bin deshalb der Meinung, Deutschland muss im Zweifelsfall immer ein Stückchen mehr geben. Es ist jetzt unsere Aufgabe, dienend Europa zusammenzuführen.

Gilt dieses Motto „immer ein Stückchen mehr“ auch in der Frage deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine? Oder ist mit dem Kampfpanzer Leopard 2 nun Schluss?

Putin hat mit der europäischen Nachkriegsordnung gebrochen und einen souveränen Staat überfallen – hier, in Europa. Ich halte es für notwendig, die Ukraine bei ihrer Selbstverteidigung zu unterstützen. Putin und sein Imperialismus dürfen nicht siegen. Wir haben deshalb die Unterstützung immer wieder angepasst und werden sie sicher immer wieder überprüfen. Es gilt aber weiter: Deutschland ist keine Kriegspartei und wird es nicht werden. Das ist die Grenze.

Grüne und FDP mussten den Kanzler wochenlang drängen. Warum handeln Scholz und die SPD immer erst nach langem Zögern?

Wir haben mit der Lieferung von Kampfpanzern jetzt eine große Entscheidung getroffen, die der Ukraine helfen wird. Aber das ist kein Grund zum Jubeln. Es ist eine Entscheidung, die man gut abwägen musste. Jede Leichtigkeit ist fehl am Platz.

Als Alternative zur militärischen Verteidigung der Ukraine gegen den Aggressor Russland werden gern „Verhandlungen“ beschworen. Unter welchen Umständen könnte es aus ihrer Sicht dazu kommen?

Mit Verlaub, Russland hat die Ukraine angegriffen, mit Panzern, Raketen. Es hat Städte und Dörfer besetzt, Männer, Frauen und Kinder werden getötet, gefoltert, verschleppt. Die russische Armee zerstört gezielt Wasserversorgung und Stromversorgung. Wer eine Alternative zur militärischen Verteidigung der Ukraine will, verlangt, dass sie sich von Putins Russland niederrennen lässt. Das gesagt: Glauben Sie mir, es vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht wünsche, dass der Krieg ein Ende hat. Aber für Verhandlungen muss die Ukraine in eine militärische Situation kommen, die ihr erlaubt, ihre territoriale Integrität wiederherzustellen.

Auf einer Skala von 1 bis 10: Wo steht die Energiewende in Deutschland heute?

Bei vier.

Wo steht Deutschland, wenn die Legislaturperiode zu Ende ist?

Bei sechs. Acht ist 2030 und 9,5 ist 2040 erreicht. 2045 soll Deutschland klimaneutral sein. Die Vorgaben sehen vor, dass wir bis 2040 die CO2-Emissionen um 88 Prozent reduziert haben müssen. Die letzten 10 oder 12 Prozent sind sicherlich die schwersten. Aber die entscheidende Frage ist: Schaffen wir 90 und 95 und bleiben nicht bei 40 oder 45 stehen? Damit wären die großen Bereiche Verkehr, Gebäude und Energie umgestellt.

Wie kommt die Energiewende jetzt tatsächlich voran, werden wirklich plötzlich schnell viele Windräder gebaut?

Da bin ich zuversichtlich. Mir ist aber noch etwas wichtig, nämlich, dass wir bei der Energieeffizienz vorankommen. Energieverbräuche runterbringen ist genauso Teil der Energiewende. Das bringt Unternehmen große Effizienzgewinne, sprich: wirtschaftliche Vorteile.

Mit der Atom-Entscheidung des Bundeskanzlers ist ja das Energieeffizienzgesetz versprochen worden. Warum ist es noch nicht da?

Wir haben das Gesetz geschrieben, noch mal überarbeitet, was ich selbst wichtig fand, jetzt liegt es in der Ressortabstimmung.

Muss der Kanzler dafür gegenüber der FDP noch ein sogenanntes Machtwort sprechen?

Es ist klar, dass das Gesetz zeitnah kommen muss.

Was heißt zeitnah?

Von unserer Seite aus sind wir fertig.

Ist die Atomdebatte wirklich erledigt?

Die Atomdebatte spielt keine Rolle mehr.

Die FDP hat es immer wieder probiert.

Ende des Winters werden die drei letzten AKWs abgeschaltet. Punkt.

Haben Sie schon Pläne für den 15. April, Mitternacht, wenn die letzten AKWs vom Netz gehen sollen?

Um Mitternacht werde ich hoffentlich schlafen.

Sie behaupten immer, Lützerath sei das „falsche Symbol“ für die Forderung nach Klimapolitik, die das Paris-Abkommen einhält. Welches wäre denn das richtige?

Lützerath ist per Gesetz das Ende des Braunkohleabbaus, nicht das Weiter so. Welches Symbol das richtige ist – nun, das wird die Klimabewegung selbst finden. Es kann nur schiefgehen, wenn ein Energieminister ihr sagen würde, wo sie demonstrieren soll.

Nach den Erfahrungen der letzten Wochen: Würden Sie mit Blick auf Lützerath etwas anders machen?

Wir beenden die Braunkohleverstromung im Westen acht Jahre früher als vorgesehen. Wir halbieren die Menge des erlaubten Braunkohleabbaus. Wir retten fünf Orte und drei bewirtschaftete Höfe. Wir schaffen Planungssicherheit, damit in Wasserstoffkraftwerke investiert wird. Deshalb: Nein. Die Lösung konnte nur so gefunden werden, wie wir sie gefunden haben. Sie war energiepolitisch nötig und klimapolitisch richtig.

Erwarten Sie eine zunehmende Verhärtung zwischen Aktivismus und Staat?

Es ist nicht akzeptabel, wie Polizistinnen und Polizisten pauschal verunglimpft werden und wie ein Teil der Aktivisten nach einer „Welt ohne Polizei“ ruft. Polizistinnen und Polizisten setzen jeden Tag ihre eigene Sicherheit für die Sicherheit anderer aufs Spiel. Die Polizei ist Teil unseres demokratischen Rechtsstaats. Wenn es Vorwürfe gegen Polizisten gibt, werden sie aufgeklärt, wie es Nordrhein-Westfalens Innenminister Reul gesagt hat.

Umgekehrt erwarte ich, dass sich die Klimabewegung glasklar von Gewalt distanziert. Ohne Hintertür. Gerade Klimaschutz handelt davon, Freiheit und Leben in einer Demokratie zu schützen. Und Gewalt ist kein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Diese Frage finde ich viel relevanter als die, wie die Klimabewegung und die Grünen klarkommen. Für eine Regierungspartei ist es die logische Konsequenz, in einem Spannungsverhältnis zu einer Bürgerbewegung zu stehen.

Die Spannung haben Sie aber auch innerhalb der Partei. Grüne Beschlüsse in der Regierung, grüner Polizeipräsident setzt sie durch – gegen Grüne Jugend im Widerstand?

Das zeigt nur, wie weit wir gesellschaftlich verankert sind.

Die romantische Illusion gibt es bei manchen immer noch, in der Opposition moralisch unantastbar zu bleiben und dabei den größeren Unterschied machen zu können?

Nein. Die Partei will regieren. Das ist ganz anders als in einer Zeit, die ich noch eher aus der Halbdistanz beobachtet habe. Damals hieß es: In der Regierung muss man so schwierige Entscheidungen treffen. Gehen wir lieber raus. Heute heißt es: Geht es nicht schneller? Kann man nicht mehr umsetzen? Gibt es nicht machtpolitische Hebel, die wir noch nicht gezogen haben? Ich finde das gut.

Einige Grüne finden, Sie sollten in der Regierung mehr Konfrontation wagen, härter verhandeln.

Quelle          :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben     —     Wahlkampf Landtagswahl NRW 2022 von Bündnis 90/Die Grünen auf dem Heumarkt in Köln. Zu Gast waren Robert Habeck (Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz) und Spitzenkandidatin Mona Neubaur

Abgelegt unter Debatte, P.Die Grünen, Regierung, Umwelt | 1 Kommentar »

Vom Holocaustgedenktag

Erstellt von Redaktion am 27. Januar 2023

Die Aufarbeitung kommt spät

Ein Debattenbeitrag von Litz van Dijk

Zum ersten Mal bekommen queere Opfer der Naziverfolgung beim Gedenken im Bundestag Aufmerksamkeit. Überlebende gibt es heute nicht mehr.

In der Gedenkstunde im Bundestag an die Opfer des Nationalsozialismus, die zuerst 1996 unter Bundespräsident Roman Herzog stattfand, wurden von Anfang an auch Homosexuelle in einer Aufzählung der Opfergruppen erwähnt. Eine eigene Aufmerksamkeit wurde sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten bislang indes verweigert.

Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ließ im Januar 2019 mitteilen, er stehe „der Aufteilung des Gedenkens in einzelne Opfergruppen […] aus grundsätzlichen Erwägungen skeptisch gegenüber“. Tatsächlich gab es bereits eigene Gedenkstunden für Zwangsarbeiter*innen, behinderte Menschen, Roma und Sinti.

Hoffnung auf ein besonderes Gedenken kam erst mit dem Regierungswechsel in Berlin auf. Bereits im November 2021 schrieb die neue Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, dass unser Anliegen „besondere Berücksichtigung finden“ würde und bestätigte dies im Juni 2022. Ein respektvoller Dialog begann, wobei es auch in unserem Interesse war, dass dies eine offizielle Veranstaltung des Bundestags bleiben würde mit Anwesenheitspflicht für alle Abgeordneten.

Da es heute keine Überlebenden mehr gibt, die selbst hätten berichten können, entstand die Idee, die Geschichten zweier Opfer vorlesen zu lassen, wofür die offen lesbische Kabarettistin Maren Kroymann und der offen schwule Schauspieler Jannik Schümann gewonnen werden konnten. Beide stehen auch für unterschiedliche Generationen. Bei Mary Pünjer (1904–1942) wird deutlich, dass auch lesbische Frauen in der NS-Zeit verfolgt wurden, auch wenn es keinen eigenen Strafparagrafen gegen sie gab.

Zweimal vom gleichen Richter verurteilt

Mary Pünjer wurde als „Asoziale“ verhaftet und ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht, obwohl sie auch als Jüdin hätte deportiert werden können. Dem KZ-Arzt Friedrich Mennecke war es jedoch wichtig, ihre „Unheilbarkeit“ als „Lesbierin“ als Grund anzugeben, um sie in der „Heil- und Pflegeanstalt Bernburg“ vergasen zu lassen. Gleichwohl liegen keine eigenen Aussagen von Mary Pünjer über ihr Lesbischsein vor.

Karl Gorath (1912–2003) wird 1934 im Alter von 22 Jahren nach Paragraf 175 verurteilt. Eine erneute Verhaftung vier Jahre später führt zuerst zu einer Zuchthausstrafe und anschließend, weil er als „Wiederholungstäter“ galt, ins KZ Neuengamme. Von dort aus wird er 1943 nach Auschwitz deportiert und überlebt die NS-Zeit nur knapp. Unfassbarerweise wird er bereits 1947 erneut vom gleichen Richter verurteilt, der ihn schon während der NS-Zeit schuldig gesprochen hatte.

1989, im Alter von 77 Jahren, fährt Karl Gorath mit uns, einer offen schwulen Gruppe aus Norddeutschland, ins „Staatliche Museum Auschwitz“, um vor allem herauszufinden, ob seine beiden jungen polnischen Liebhaber und Mitgefangenen überlebt hatten. Die offiziellen Stellen lassen ihn damals glauben, dass sie umgekommen waren, obwohl einer der beiden bis 1989 sogar noch Führungen in Auschwitz leitete.

Der 27. Januar ist auch eine Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die sowjetrussische Armee 1945. 2005 haben die Vereinten Nationen dieses Datum zum „Internationalen Holocaust-Gedenktag“ erklärt. Obwohl die Gedenkstunde im Bundestag an alle Opfer des Nazi-Terrors erinnern möchte, bleibt dieser Zusammenhang bedeutsam.

Paragraf 175 galt bis 1994

Von Anfang an war es ein Anliegen unserer Petition, weit über unsere Gruppe der „Betroffenen“ hinaus um Unterstützung zu werben. So gehörten auch mehrere Holocaust-Überlebende zu unseren Unterzeichner*innen, wie Ruth Weiss (*1924) und auch Rozette Kats (*1942), die als kleines Kind bei einem niederländischen Ehepaar überlebte, bei dem ihre Eltern sie vor ihrer Deportation nach Auschwitz zurückgelassen hatten.

Rozette Kats wird gleich im Anschluss an Bundestagspräsidentin Bas als Erste reden, auch um deutlich zu machen, dass ein Verstecken der eigenen Identität immer schrecklich ist. Zweifellos können in 60 Minuten nicht alle wichtigen Aspekte dargestellt werden. Jedoch erstmals seit 1996 wird durch den abschließenden Beitrag von Klaus Schirdewahn (*1947), der 1964 als 17-Jähriger nach Paragraf 175 verhaftet worden war, deutlich, wie die Verfolgung einer Opfergruppe auch nach Kriegsende andauerte.

Quelle        :          TAZ-online       >>>>>         weiterlesen 

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben        —   January 27 2012, Holocaust Remembrance Day. 100 years ago, Raoul Wallenberg was born. Memorial Ceremony at the Raoul Wallenberg Square in Stockholm with Holocaust survivors. Mr Eskil Franck, Director of the Living History Forum, Kofi Annan and Per Westerberg. Participants: Crown Princess Victoria and Prince Daniel, Nina Lagergren, Georg Klein and Hédi Fried, among others.

Abgelegt unter Debatte, Deutschland_DE, Positionen, Schicksale, Traurige Wahrheiten | 1 Kommentar »

Im Zyklus der Klimakrise

Erstellt von Redaktion am 27. Januar 2023

Internationalistische Bewegungen? Klimakrise, Arbeiter*innenklasse und Produktionsmittel

Quelle        :     Berliner Gazette

Von       :         Boris Kagarlitsky

Angesichts “unseres gemeinsamen Feindes” (der Klimakrise) hat das Kapital einen neuen Zyklus der schöpferischen Zerstörung initiiert. Die daraus resultierende Enteignung der Mittelklasse, die zunehmende Ausbeutung der Arbeiter*innen im Namen der “Rettung des Planeten” und die wachsende Belastung des Globalen Südens könnten und sollten neue internationalistische Bewegungen auslösen, argumentiert der marxistische Sozialtheoretiker Boris Kagarlitsky in seinem Beitrag zur BG-Textreihe “Allied Grounds”.

Bereits in den frühen 2000er Jahren wurde die Klimakrise als die größte Herausforderung angesehen, der sich die Menschheit im 21. Jahrhundert stellen müsse. Und die große Mehrheit der Wissenschaftler*innen und Politiker*innen hat die Schlussfolgerung der Forscher*innen unterstützt, die darauf bestehen, dass die massive Nutzung von Kohlenwasserstoffbrennstoffen die Hauptursache für die Erderwärmung sei.

Zwar gibt es in der wissenschaftlichen Gemeinde eine Minderheit, die diese Schlussfolgerung anzweifelt. Der “Klimawandel” findet jedoch so oder so statt. Und es gibt allen Grund, das Problem ernst zu nehmen. Denn selbst wenn wir den Standpunkt der Skeptiker*innen akzeptieren, die auf Ursachen für die Erderwärmung hinweisen, die nichts mit menschlicher Aktivität zu tun haben, wird dadurch das Problem der Umweltverschmutzung und Naturvernutzung ebenso wenig beseitigt wie das Problem der nicht nachhaltigen Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen.

Die Diskussionen über die gesellschaftlich dringenden Veränderungen, die durch die Umwelt- und Klimakrise hervorgerufen werden, sind jedoch schnell in eine Sackgasse geraten: Es geht nicht um sozioökonomische Transformationen, sondern um Technologie und wissenschaftliche Theorien, und sie werden von Laien diskutiert, die wenig bis gar nichts über Wissenschaft und Technologie wissen.

Unabhängig davon, welche Klimatheorien objektiv richtig sind, geht es in jedem Fall darum, die Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft zu verändern. Wie Eve Croeser darlegt, sind linke Aktivist*innen gespalten in diejenigen, die glauben, dass “der Kapitalismus nicht so reformiert werden kann, dass die Klimakrise überwunden wird”, und diejenigen, die gemäßigter sind, die glauben, dass Teilreformen noch möglich sind, und die versuchen, “solche Reformen als Plattform zu nutzen, von der aus radikalere und tiefgreifendere Veränderungen eingeleitet werden können.”

Aber genau das ist die Krux: Das Hauptproblem ist nicht das Klima, sondern die wirtschaftlichen Interessen, die auf die eine oder andere Weise von der Umweltagenda betroffen sind. Unabhängig davon, welche technologischen Entscheidungen getroffen werden, stellt sich die offensichtliche Frage: “Wer wird für das Bankett bezahlen?”

Der Neustart des Kapitalismus

Mitte der 2010er Jahre zeigte der rasche Wandel des vorherrschenden Diskurses von der Leugnung des Klimawandels zu einem Thema der internationalen Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs, dass die herrschende Klasse ihre Agenda mehr oder weniger neu ausgerichtet hatte. Der Kern dieses Ansatzes besteht darin, die öffentliche Meinung zugunsten von Maßnahmen zu mobilisieren, die darauf abzielen, Umweltprobleme durch eine drastische Verringerung der Nutzung fossiler Brennstoffe zu lösen, d. h. Probleme im Zusammenhang mit dem strukturellen Umbau der Wirtschaft im Interesse des Unternehmenskapitals zu lösen.

In den 2000er Jahren kam es zu einer allmählichen Abschwächung des Wirtschaftswachstums, einem langsameren Produktivitätswachstum und einer erhöhten Marktvolatilität. All dies zusammengenommen deutet auf die Erschöpfung des bestehenden Entwicklungsmodells hin. Dies bezieht sich sowohl auf die sozioökonomische Politik des Neoliberalismus, die zu einer allmählichen Verengung der Nachfrage und einem Anstieg der Kreditverschuldung von Bevölkerungen aufgrund niedrigerer Löhne geführt hat, als auch auf die Erschöpfung der Möglichkeiten des vorherrschenden produktionstechnischen Modells.

Das Problem, vor dem die politischen und unternehmerischen Vertreter*innen der herrschenden Klasse stehen, ist dies: Sie wollen das Wirtschaftswachstum wieder ankurbeln, ohne die Grundprinzipien des Neoliberalismus zu opfern, insbesondere ohne das Machtgleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital zu verändern. Es ist notwendig, stark in technologische Projekte zu investieren, aber es ist wichtig, dass dies, wo immer möglich, auf Kosten der Gesellschaft und nicht auf Kosten der Unternehmen geschieht. Und es ist auch wichtig, dass das Wachstum der Wirtschaft nicht zu einem starken Anstieg der Löhne und einer Stärkung der Gewerkschaften führt und dass die staatliche Regulierung und Stimulierung der Wirtschaft nicht mit einem System der öffentlichen Kontrolle über die getroffenen Entscheidungen einhergeht.

Die Vorbereitung und Verabschiedung von Beschlüssen muss ein völlig geschlossenes Verfahren bleiben, dessen Sinn nur von Spezialist*innen verstanden wird (eigentlich von Vertreter*innen der herrschenden Klasse, die den Spezialist*innen Aufgaben übertragen), aber gleichzeitig muss die öffentliche Unterstützung für diese Beschlüsse erhalten bleiben und der Prozess selbst als legitim wahrgenommen werden. Die Formulierung eines Ziels, das von der öffentlichen Meinung und sogar von radikalen Systemkritiker*innen unterstützt wird, ist zu diesem Zweck sehr wichtig.

Vergesellschaftung der Kosten

Mit Blick auf die Umweltagenda, wie sie von Greta Tunberg und anderen populären Aktivist*innen präsentiert wird, kommt der Wirtschaftsjournalist Nikolai Protsenko zu dem Schluss, dass diese Bewegung “ganz organisch in die neuen Ziele der Konzerne eingebunden ist”. Die Einführung neuer Technologien, die nicht nur zur Lösung von Umweltproblemen, sondern auch zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums im Rahmen einer solchen Agenda erforderlich sind, soll auf Kosten öffentlicher Mittel und im Interesse des Großkapitals erfolgen. Wie Protsenko feststellt, reduzieren die Öl- und Gaskonzerne bereitwillig und ganz freiwillig ihre Investitionen in rentable Projekte zur Förderung und Raffinierung fossiler Brennstoffe, während sie gleichzeitig enorme staatliche Subventionen für unrentable Programme für saubere Energie fordern.

Wo die Regierungen nicht in der Lage sind, die Last zu tragen, springen die globalen Finanzmärkte ein. So hat sich beispielsweise das 2020 geschaffene Konjunkturprogramm der Europäischen Union verpflichtet, Investitionen in Höhe von 750 Milliarden Euro zu finanzieren, die für die sogenannte Energiewende erforderlich sind, unter der Bedingung, dass die Mittel durch Anleihen auf den internationalen Finanzmärkten beschafft werden. Wie Protsenko anmerkt, hat Greta Tunbergs Generation diese Agenda mit Begeisterung unterstützt, ist aber nicht in die Diskussion über die finanzielle Komponente einbezogen worden und wird am Ende die Rechnung bezahlen müssen.

Es ist kein Zufall, dass die scharfe Hinwendung der herrschenden Kapitalistenklasse zu Klimafragen parallel zur Verschärfung der systemischen Probleme erfolgt. Doch jede Umgestaltung des Systems, selbst wenn sie auf die Erhaltung seiner grundlegenden Parameter abzielt, geht zwangsläufig mit Kämpfen zwischen Interessengruppen einher. Einige Unternehmen und Branchen verlieren an Boden, während andere stärker werden. Der konservative Widerstand gegen die Klimaagenda ist nicht auf die Einschränkungen von Menschen zurückzuführen, die nicht an die einschlägigen Theorien glauben wollen, sondern auf die Bedenken von Unternehmer*innen, die ernsthafte Probleme fürchten oder unnötige Kosten vermeiden wollen.

Je größer jedoch der Widerstand innerhalb der Unternehmen ist, desto logischer wird es, die Probleme auf die breite Bevölkerung abzuwälzen und so den Konflikt zwischen innerhalb der herrschenden Klasse zu entschärfen. Somit setzt die Umweltagenda der Unternehmen nicht zuletzt voraus, dass die Arbeiter*innenklasse Opfer bringt, um die Effizienz des Kapitals zu erhalten. Kurz gesagt: Enteignung der Mittelschicht und verstärkte Ausbeutung der Arbeiter*innen im Namen der “Rettung des Planeten”.

Abwälzung der Kosten auf die Peripherie

Die Länder der kapitalistischen Peripherie, insbesondere diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten die Industrialisierung vorangetrieben haben, erhalten ebenfalls ihren Anteil an der zusätzlichen sozialen und ökonomischen Belastung. Das Wachstum der Produktion in diesen Ländern ist in erster Linie auf Kosten “billiger Arbeitskräfte” und schwacher Umweltvorschriften erfolgt, die die Kosten der Investor*innen stark reduzierten. Gleichzeitig blieb die Abhängigkeit von den Märkten in den Ländern des kapitalistischen Zentrums weitgehend intakt. Der Anstieg der Löhne, verbunden mit den Erfolgen der Industrialisierung, hat die Binnenmärkte der Peripherieländer aber auch Chinas (das allerdings nicht mehr als klassische Peripherie eingestuft werden kann) etwas gestärkt, aber auch die Waren verteuert und die Exportmöglichkeiten verringert, so dass einige Länder des Globalen Südens nun indirekt den Konsum im Westen subventionieren.

Ein wichtiger Aspekt der Dekarbonisierungspolitik ist die Einführung einer Kohlenstoffsteuer bzw. von Strafzöllen auf Waren und Dienstleistungen, die in die Europäische Union importiert werden, abhängig von der Größe ihres Kohlenstoff-Fußabdrucks. Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben die westlichen Länder ihr Umweltbewusstsein gestärkt und die Unternehmen in der EU und den USA haben systematisch schmutzige Produktion in ärmere Länder verlagert, die nun auch die Kosten der neuen Klimaagenda tragen müssen. Indirekt kann diese Politik dazu beitragen, dass ein Teil der industriellen Produktion – auf einem neuen technologischen und ökologischen Niveau – in die historisch weiter entwickelten Länder zurückkehrt. In jedem Fall werden die globalen Ungleichheiten reproduziert und verschärft.

“Offensichtlich”, so Protsenko, “reproduziert dieser Ansatz lediglich die übliche Beziehung zwischen dem Zentrum und der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems und spiegelt die Ungleichheit der Chancen im kapitalistischen Akkumulationsprozess wider.”

Ein neuer Zyklus der “schöpferischen Zerstörung”

Unter den neuen Bedingungen, unter denen die westlichen Regierungen den Weg des ökologischen (Klima-)Protektionismus einschlagen, stehen die peripheren Volkswirtschaften vor einem äußerst schwierigen Dilemma. Die Erhaltung externer Märkte kann nur durch die Akzeptanz der neuen Regeln erreicht werden. Das bedeutet, dass Ressourcen, die zur Erhöhung des Lebensstandards der eigenen Bevölkerung und zur Schaffung zumindest von Elementen eines Wohlfahrtsstaates hätten eingesetzt werden können, zur Deckung der Kosten für die Anpassung an die veränderten Bedingungen verwendet werden. Gleichzeitig wird es zu einer teilweisen Rückverlagerung der Produktion in die alten Industrieländer kommen, die über die notwendige Technologie und das Personal verfügen. Dadurch wird sich der Arbeitsmarkt in den peripheren Ländern weiter anspannen.

Natürlich werden die fortschrittliche westliche Öffentlichkeit und die linken Bewegungen fordern, dass die reicheren Länder einen Teil der finanziellen Mittel und der Technologie, die für einen solchen Übergang erforderlich sind, mit den ärmeren Ländern teilen. Und vermutlich werden diese Forderungen nach einigem Ringen teilweise erfüllt werden. Aber erstens werden diese Subventionen nur einen Teil der Kosten abdecken, die der Peripherie auferlegt werden, und zwar in ungleicher Weise, so dass es innerhalb des Globalen Südens Verlierer*innen und Gewinner*innen geben wird, das Kräfteverhältnis sich ändern wird und neue Widersprüche und Konflikte entstehen dürften. Und zweitens wird diese globale Wohltätigkeit wieder aus den Staatshaushalten bezahlt werden. Mit anderen Worten, wieder auf Kosten der Arbeiter*innen, auf Kosten der Gesellschaft.

All dies bedeutet natürlich nicht, dass die Linke die Sorge um die Ökologie aufgeben muss. “Das Problem dabei ist jedoch”, so Protsenko, “dass diese Art von Zielsetzung dem Wesen des Kapitalismus widerspricht, einem dynamischen Nicht-Gleichgewichtssystem, das in ständiger ‘schöpferischer Zerstörung’ begriffen ist und auf dem Prinzip der endlosen Akkumulation beruht, die ungleichmäßig zwischen seinem Zentrum und seiner Peripherie verteilt ist. Die berüchtigte Energiewende ist ein neuer Zyklus der schöpferischen Zerstörung. Um dem Kapitalismus einen neuen Impuls zu geben, muss seine bisherige, auf fossilen Brennstoffen basierende technologische Plattform beseitigt und durch “grüne” Technologien ersetzt werden, wobei alle Verluste routinemäßig vom Staat (und letztlich von Steuerzahler*innen) getragen und die Gewinne von den Unternehmen privatisiert werden.”

Soziale Bewegungen mit Arbeiter*innenbewegungen verbinden

Es sind also die ärmsten und schwächsten Teile der Weltbevölkerung, die nicht nur zu Opfern des strukturellen Umbaus werden, sondern auch als “schuldig” erscheinen, weil sie sich ökologisch unverantwortlich verhalten, während ihr Widerstand als unmoralisch angesehen wird. Die “Gelbwesten-Bewegung” in Frankreich wäre als ein von vielen Symptomen für diese Schieflage zu nennen: Als die Einführung einer weiteren “ökologischen” Steuer auf Kohlenstoffbrennstoffe die Budgets der ärmsten Familien in der Provinz schwer belastete, kam es, wenig überraschend, zu landesweiten Massenprotesten.

Der Umweltdiskurs, wie er von der herrschenden Klasse und den von ihr finanzierten Nichtregierungsorganisationen, die Greta Thunbergs leidenschaftliche Reden freundschaftlich unterstützt haben, gefördert wird, unterstüzt eine Strategie der kapitalistischen Erneuerung, die weit davon entfernt ist, den sozialen Schichten ernsthafte Zugeständnisse zu machen, und stattdessen zu einer noch radikaleren Segregation und Spaltung der Gesellschaft führt, sowohl auf nationaler als auch auf globaler Ebene. Ob diese Strategie im Prinzip durchführbar ist, sowohl sozial als auch organisatorisch und technologisch, bleibt eine große Frage. Aber es ist klar, dass die Umweltagenda keine Antwort auf die Krise des Kapitalismus ist, sondern lediglich ein Vorwand für die Entfesselung einer neuen und gewaltsamen Weiterentwicklung des Systems, bei der alle seine Widersprüche in vollem Umfang zutage treten werden.

Ökologische Reformen im Interesse der Mehrheit der Menschheit sind prinzipiell unmöglich, solange die kapitalistische Ordnung so bleibt, wie sie ist. Daher sind die umweltbewussten sozialen Bewegungen der Generation Greta Tunberg gefordert, eine tiefgreifende Neuorientierung vorzunehmen und sich mit den Arbeiter*innenbewegungen im Globalen Norden und im Globalen Süden zu verbinden. Letztlich bedeutet dies den Aufbau neuer internationalistischer Bewegungen, die von der potenziellen Macht derjenigen inspiriert und angetrieben werden, die sich der Produktionsmittel bemächtigen und die kapitalistische Ordnung als solche herausfordern könnten.

Anm.d.Red.: Dieser Essay ist ein Beitrag zur Textreihe “Allied Grounds” der Berliner Gazette. Die englische Version ist im Berliner Gazette-Blog auf Mediapart verfügbar. Weitere Informationen über das Projekt “Allied Grounds” finden Sie hier: https://allied-grounds.berlinergazette.de

Copyright | Creative Commons-Lizenz

Dieses Werk ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Keine Bearbeitung 3.0 Unported Lizenzvertrag lizenziert. Um die Lizenz anzusehen, gehen Sie bitte auf creativecommons.org oder schicken Sie einen Brief an Creative Commons, 171 Second Street, Suite 300, San Francisco, California 94105, USA.

*********************************************************

Grafikquellen     :

Oben       —         Climate Change Donation and Nonprofits. Global Warming Donation by https://caritafoundation.world/

Abgelegt unter Energiepolitik, International, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Die „Letzte Generation ?“

Erstellt von Redaktion am 25. Januar 2023

Es ist Zeit, dass unsere Demokratie demokratischer wird!

Carla Hinrichs, Sprecherin der „Letzten Generation“

Quelle       :        Scharf  —  Links

Statement zum Jahrestag der Letzten Generation

Die Welt ist in Ordnung, es regnet. Lange. Das nervt. Aber es ist doch nur Regen?

Mit diesen Worten beginnt Andy Neumann seinen Bericht über die Flutkatastrophe im Ahrtal. Neumann ist Polizist. Als das Wasser stieg, dachte er noch, er sei vorbereitet, brachte abends seine Kinder ins Bett. Wie immer.

Doch dann kam das Wasser, drückte durch die Fenster ins Wohnzimmer, stieg die Treppen hoch, ins oberste Stockwerk. Neumann packte die Angst. Angst, dass seine Frau und Kinder sterben würden. Die Feuerwehr riet ihnen, auf das Dach zu klettern, doch eine Rettung sei auch von dort nicht möglich.
Panik war in ihnen, bis die Pegel begannen zu fallen.

Neumann und seine Familie überlebten.

Doch 180 Menschen starben.

Wissenschaftler:innen sagten später: Ohne die Klimakrise hätte das Hochwasser so nicht stattgefunden.

Die Überschwemmungen im Ahrtal haben sich in unser Gedächtnis gebrannt. Doch jeden einzelnen Tag sterben Menschen wegen der Klimakrise.

Es sind alte Menschen, die an heißen Tagen in ihren Wohnungen dehydrieren und plötzlich zu schwach sind, um den Notruf zu wählen. Schwangere erleiden durch die Hitze mehr Fehlgeburten. Menschen mit Asthma kämpfen mit Atembeschwerden, vor allem kleine Kinder leiden. An extrem heißen Tagen sterben rund ein Drittel mehr Menschen als üblich. Im Sommer 2022 sind in Europa rund 100.000 Menschen an Hitze gestorben.

Während das reichste 1 Prozent am Starnberger See, im Odenwald, in Berlin-Steglitz sich in ihre schattigen Gärten verzieht, leiden migrantische Viertel wie Berlin-Neukölln unter dem Hitzeinseleffekt: Enge, urbane Räume heizen sich noch schneller auf, als das Umland, die Hitze staut sich in den Straßen, Schüler:innen kämpfen darum, sich in den Klassenräumen konzentrieren zu können, verlieren dabei Bildungschancen.

In Ostafrika leiden 36 Millionen Menschen unter einer seit Jahren anhaltenden Dürre, alle 48 Sekunden stirbt jemand an Hunger. Ein Drittel Pakistans wurde überflutet.

Die Klimakrise ist da. Genau so, wie der Ölkonzern Exxon es in einem internen Memo 1981 vorhersagte: das Verbrennen fossiler Brennstoffe wird „in der Zukunft zu katastrophalen Konsequenzen führen.“

Exxon wusste schon damals Bescheid. Genau wie die Ölmultis Shell und British Petroleum. Was taten die CEOs? Sie ließen die Studien in der Schublade verschwinden und begannen, die Wahrheit zu attackieren. Hunderte von Millionen US-Dollar gaben sie pro Jahr aus, erstellten falsche Studien, griffen Klimawissenschaftler:innen und den Journalismus an, verbreiteten die Lüge, dass es keine globale Erwärmung gebe. Und sie hatten nicht nur Erfolg, sie verdienten auch gut daran. Drei Milliarden Dollar Profit am Tag. Rund ein Prozent des globalen Wohlstands.

„Mit all diesem Geld kann man jeden Politiker und jedes System kaufen“, sagt der belgische Forscher Aviel Verbruggen.

Und das tun sie: Konzerne haben gelernt, unsere repräsentative Demokratie zu manipulieren. Das zeigte sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder: In den erfolgreichen Kampagnen, die verschleierten, dass Rauchen Krebs erzeugt. In den erfolgreichen Kampagnen, die verschleiern, dass das Düngemittel Glyphosat schädlich ist. Das zeigt sich erneut in der Klimakrise.

Christian Lindner erhält für Auftritte als Redner bis zu fünfzehntausend Euro, zu seinen Auftraggebern gehören fossile Konzerne wie E.ON, mindestens eine halbe Million Euro macht er mit Nebeneinkünften pro Jahr. Kein Wunder, dass er den Klimaschutz “dem Markt” überlässt.

Friedrich Merz arbeitete als Anwalt für die Ruhrkohle AG, lobbyierte auch als Politiker gegen den Ausstieg aus den Fossilen. 13 000 Menschen arbeiten in Deutschlands Lobbyorganisationen, fossile Konzerne gehören zu den größten Geldgebern.

Das bittere Ergebnis:

Der Ausbau erneuerbarer Energien wird sabotiert.
RWE-Mitarbeiter:innen schreiben Gesetze für das Wirtschaftsministerium.
Die Bundesregierung zahlt jährlich 70 Milliarden Subventionen an fossile Konzerne.

Das heißt: Konzerne kapern unsere Demokratie – und keiner tut etwas dagegen.

Nicht “Klimakanzler” Olaf Scholz.
Nicht “Klimaminister” Robert Habeck.
Schon gar nicht Volker Wissing.

Unsere Regierung bricht damit geltendes Recht, unser Grundgesetz – im April 2021 entschied das Bundesverfassungsgericht in einer richtungsweisenden Entscheidung, dass Deutschlands Emissionen sinken müssen. Sofort. Nicht irgendwann nach 2030. Doch das passiert nicht. Wir rasen weiterhin auf die 1,5-Grad-Grenze zu, dahinter lauern die Kipppunkte des Klimas: Die Arktis schmilzt ab. Der Golfstrom kommt zum Erliegen. Der Amazonas stirbt. Und mit ihm unser klimatisches Gleichgewicht.

„Ich sage Ihnen, dass wir unsere Kinder in einen globalen Schulbus hineinschieben, der mit 98% Wahrscheinlichkeit tödlich verunglückt”, sagt Hans Joachim Schellnhuber, Weltweit renommierter Klimaforscher und Gründer des Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung.

Doch die Regierung drückt sich. Vertröstet auf später, findet immer neue Entschuldigen.

Und ja, die Wende zu Erneuerbaren wurde verschleppt. Ja, es braucht Energiesicherheit. Ja, es braucht Arbeitsplätze. Aber all das wäre möglich mit regenerativen Energien. Doch die Regierung schafft es nicht, gegen den Einfluss von Konzernen wie RWE anzukommen. Sie kommt ihrer Verantwortung, unser Leben zu schützen, nicht nach.

Deshalb ist es an der Zeit, dass unsere Demokratie demokratischer wird. Es ist an der Zeit, dass die Macht wegkommt vom 1 Prozent und hin zu den 99 Prozent. Es ist Zeit, dass Bürger:innen selbst entscheiden können über Klimaschutz.

Wir wollen, dass endlich jene die Entscheidungen treffen, die von der Klimakrise betroffen sind. Während das 1 Prozent mit seinen Reichtümern schon heute Notfallpläne anlegt für den Tag, wenn Hunger und Kriege eintreten, sich Bunker baut in Neuseeland, sind wir darauf angewiesen, dass der Staat Vorsorge trifft, der Klimakrise zu begegnen.

Deshalb fordern wir: einen verbindlichen Gesellschaftsrat, der erarbeitet, wie Deutschland bis 2030 Nullemissionen erreichen kann.

In diesem kommen Menschen aus allen Bevölkerungsschichten Deutschlands zusammen, erarbeiten mithilfe von Expert:innen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft bindende Vorschläge dazu, wie es weitergehen kann.

Veganer:innen und Autofans diskutieren gemeinsame Lösungen, denn auch sie haben ein geteiltes Interesse: die Lebensgrundlagen auf diesem Planeten schützen und den Weg dahin sozial gerecht gestalten.

Die Regierung hat sich in den Koalitionsvertrag geschrieben: “Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren.” Wir nehmen sie beim Wort, denn Vorbilder aus Frankreich, Irland, Belgien zeigen, dass das Format Menschen in ihrer Anstrengung vereint und konstruktive Ansätze hervorbringt.

Wir fordern die Bundesregierung auf, einen Gesellschaftsrat einzusetzen und seine Beschlüsse umzusetzen. Wir fordern, dass wir, die 99 Prozent, endlich mitentscheiden dürfen über den Erhalt unserer Lebensgrundlagen.

Denn es hat sich gezeigt: immer da, wo Bürger:innen informiert über ihr Schicksal mitentscheiden dürfen, wartet eine bessere, sicherere, gerechtere Welt auf uns.

Nachweise:

Bericht von den Überschwemmungen in Westdeutschland:
Andy Neumann – Es war doch nur Regen!?

Auswirkungen der Klimakrise auf die Überschwemmungen in Westdeutschland

Gefahren für alte Menschen in Hitzewellen

Hitzewellen und Fehlgeburten

Asthma, COPD und Hitzewellen

Übersterblichkeit und Hitzewellen

Übersterblichkeit und Hitzewellen 2

Hitzeinseln in Berlin

Effekt von Hitze auf Denkleistung

Dürre in Ostafrika

Dürre in Ostafrika 2

Überschwemmungen Pakistan

ExxonMobile und Klimastudien

Profite der Ölkonzerne und wie sie sich Einfluss erkaufen

Christian Lindner erhält Lobbygelder:
Annika Joeres, Susanne Götze – Die Klimaschmutzlobby, S.191

Christian Lindners Nebeneinkünfte

Friedrichs Merz lobbyiert für fossile Konzerne

Lobbyismus in Deutschland

Ausbau erneuerbarer Energien wird sabotiert

70 Milliarden fossile Subventionen

RWE-Mitarbeiter schreiben Gesetze für das Wirtschaftsministerium

Urteil des Bundesverfassungsgericht

Die Überlebenspläne der Superreichen, Bunker in Neuseeland

Schellnhuber-Zitat

Erfolgreiche Bürgerräte

Koalitionsvertrag und Bürgerräte

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-cc

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben       —   Carla Hinrichs, Sprecherin der „Letzten Generation“

Abgelegt unter APO, Kultur, Regierung, Umwelt | Keine Kommentare »

Proteste in Lützerath

Erstellt von Redaktion am 24. Januar 2023

Vorteile der Bewegung

Demozug in Keyenberg

Ein Debattenbeitrag von Alicia Mengelkamp

In Lützerath stießen mit Polizei und Pro­tes­tie­renden zwei unterschiedliche soziale Gruppen aufeinander. Eine organisationssoziologische Analyse.

Die Räumung Lützeraths ist vorbei; die Diskussion über das Geschehene allerdings noch lange nicht. Ein Protestmittel, welches besonders die medialen Bilder prägte und in der Kritik stand, waren Steine. Steine, die auf das Einsatzpersonal der Polizei flogen. Nicht nur Polizei und Po­li­ti­ke­r*in­nen verurteilten dies scharf. Videos in den sozialen Medien zeigen, dass auch Protestierende immer wieder „Keine Steine!“ riefen, sobald diese in Richtung Einsatzpersonal flogen.

Warum versuchten auch Protestierende aktiv, dies zu unterbinden? Für die Protestbewegung bedeuteten diese Steine neben ihrer moralischen Fragwürdigkeit vor allem eines: die Gefahr, den eigenen Erfolg zu riskieren. Proteste leben von der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Aktionen, die umstrittenes Handeln von Staat und Unternehmen skandalisieren und Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sind ihr Lebenselixier. Überraschende Aktionen mit viel Masse und Wucht sind ihre Spezialität.

Prägen aber Bilder von Gewaltaktionen – wie hier die fliegenden Steine – das Image der Proteste in den Massenmedien, besteht die Gefahr, Solidarität in der Bevölkerung zu verlieren. Doch diese ist essenziell für den Erfolg von Protestbewegungen. Bestenfalls müssen Proteste also die Entscheidung treffen, lediglich friedlichen Widerstand zu leisten, um keine Körperverletzung von Einsatzpersonal und womöglich Ak­ti­vis­t*in­nen zu riskieren.

Und hier wird es spannend: Warum fällt diese Entscheidung der Protestbewegung so schwer? Der Grund liegt nicht etwa am mangelnden Willen oder der Qualität eines Protests. Er liegt in seiner Struktur.

Organisationen, wie sie in Lützerath in Form der Polizei auftreten, haben gegenüber Protestbewegungen einen strukturellen Vorteil. Sie können verpflichtende Erwartungen stellen: Wenn man bei ihnen Mitglied ist, hat man sich an formale Bedingungen zu halten, denen man mit Eintritt in die Organisation zustimmt: Sie beinhalten, eigenes Handeln an den Zielen der Organisation und nicht an seine eigenen Überzeugungen anzupassen – selbst wenn also in Lützerath Po­li­zis­t*in­nen vor Ort waren, die sich emotional mit den Protestierenden solidarisierten, musste dies privat bleiben.

Es durfte nicht ihre Handlungen als Einsatzkräfte beeinträchtigen. Erhalten sie die Anordnung, eine Blockade zu räumen, müssen sie dieser Folge leisten, egal was sie gerade darüber denken. Und mit Rückblick auf die Proteste ist dies auch nicht passiert: Bislang ist kein Fall von Dienstverweigerung seitens der Po­li­zis­t*in­nen bekannt. Denn diese hätte für sie dienstrechtliche Sanktionen zur Folge.

Bei den Protestierenden war genau das Gegenteil der Fall: Sie waren gerade wegen ihrer persönlichen Meinung anwesend. Die Ak­ti­vis­t*in­nen waren dabei bedeutend weniger an die Erwartungen einer überstehenden Instanz gebunden. Dabei waren Ermahnungen zur Friedlichkeit von eigenen Führungspersonen vermutlich prägend – wenn die Protestierenden diese jedoch nicht umsetzen wollten, griff kein Sanktionsmechanismus wie bei der Polizei. Die Protestierenden waren nämlich statt Organisationsmitgliedern lediglich Anhänger des Protests.

Demozug zur Schlusskundgebung zwischen Keyenberg und Lützerath

Als solche konnten sie sich selbst Aufgaben und die Art ihres Protests aussuchen – auch wenn sie sich ethisch fragwürdig verhielten, mussten sie nicht mit einem Rausschmiss rechnen. Denn erstens zählte für die Protestbewegung immer noch jede Person, die sich mit ihrem Körper der Räumung Lützeraths entgegensetzte. Und außerdem gab es keinen Sanktionshebel: Kei­n*e Ak­ti­vis­t*in konnte von der Protestbewegung selbst des Geländes verwiesen werden, weil es keine legitimierte Instanz gab, die dies entscheiden konnte.

Eine Anhängerschaft hat jedoch auch Vorteile gegenüber der Mitgliedschaft: Wegen ihres leichten Einstiegs schaffen es Bewegungen gegenüber Organisationen nahezu unbegrenzt, An­hän­ge­r*in­nen zu rekrutieren. Auch wenn die Polizei NRW weiterhin Einsatzkräfte aus ganz Deutschland mobilisiert hat – die Protestierenden schafften es, mehr Menschen als erwartet nach Lützerath zu bringen.

Diese Menschen ließen sich bei der Umsetzung des Protestes zwar strategisch nicht auf einen Nenner bringen. Aber es waren doch Menschen, die die gleichen Werte und vor allem das gleiche Ziel verfolgten. Dass die Protestierenden es deshalb schafften, trotz Polizeiketten zu dem Tagebau vorzudringen, war deshalb wenig überraschend.

Weitere Begegnungen mit der Polizei

Quelle          :        TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —       Demozug in Keyenberg

Abgelegt unter APO, Nordrhein-Westfalen, Positionen, Überregional, Umwelt | Keine Kommentare »

Gezwitscher schräger Vögel

Erstellt von Redaktion am 24. Januar 2023

Neue Vögel, neue Lieder.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Neue Länder, neue Vögel, neue Vögel, neue Lieder. Dieser von Heinrich Heine höchst feinfühlig und romantisch verfasste Reim ist mehr als ein schönes Gedicht.

Es ist auch eine ebenso zwingende wie richtige Beschreibung von anderen Kulturen und Veränderungen, politisch wie privat und aller Art. Heute leben wir – wieder einmal – in einer Zeit großer, globaler Veränderungen, und es ist vernünftiger, sich offen diesen Veränderunegn zu stellen, als sie stolz zu übergehen. Am Beispiel China zeigt sich das besonders eindrucksvoll.

Nun ist China mit seiner über 4000-jährigen Geschichte und Hochkultur nict gerade neu, für viele aber weitgehend unbekannt, obwohl wir täglich unzählige Produkte und Dienstleistungen aus China nutzen, um unser Leben so zu führen, wie wir es gerne haben wollen. In diesem fernen China leben andere Vögel mit anderen Gesängen und Menschen wie Du und ich mit anderen Einstellungen, Gebahren und Wichtigkeiten. Und das in einer für uns nicht vorstellbar großen Völkergemeinschaft von 1,4 Mrd. Menschen hinter der Chinsischen Mauer als Schutzsymbol gegen unerwünschte Eindringlinge. Wäre es da nicht angebracht, mehr über die für uns neuen Vögel mit ihren neuen Liedern zu wissen, um deren Verhaltensweisen und Wertvorstellungen besser zu verstehen und sachlich beurteilen zu können?

Aber nein, im Zusammenhang mit dem weltweiten Aufstieg Chinas und dem ungekehrt proportioanlen Abstieg des Westens stellt Prof. Dr. Wolfram Elsner in einem bemerkenswerten Interview im Portal TELEPOLIS fest, „dass der westliche Medien- und Politik-Mainstream …… vor allem ideologisch und nicht sachlich motiviert ist: Hauptsache „bashen“ und die Welt weiter spalten.“ Diese bewußte Verdummung und Voreingenommenheit widerspricht nun aber ganz und gar derchinesischen Grundeinstellung, wonach der Mensch durch Bildung „edel“ wird (Konfuzius). Das ist ein ganz anderer Gesang von einem uralten Vogel, der uns auch die Goldene Regel (Zwinge niemals anderen auf, was du nicht für dich selbst wählen würdest) für den ehrlichen Umgang miteinder empfiehlt.

Ohne sachlich auf die neuen Lieder der neuen Vögel hinzuweisen, verführen nach Elsner „Panik und geringe Handlungsfähigkeit……den Westen dazu, eine Eskalationsstrategie zu betreiben, die Kalaschnikows aus dem Schrank zu holen, die Mafia anzurufen und vor das Headquarter des Konkurrenten zu ziehen.“ Die Verzerrungen und mit blumigen Worten begründten Falschmeldungen und Vermutungen über China sind nach Elsner „Das Elend des Westens – seiner Medienindustrie, „Dienste“, „Denkpanzer“ (Think Tanks), und der von den Medien vorangetriebenen Politiker.“ Und an diesem Elend wird der Westen ersticken, wenn er sich nicht endlich besinnt, sachlich, respektvoll und auf Augenhöhe mit der chinesischen Gesellschft und deren Politik umzugehen. Ja, Chinesen singen andere Lieder, die sich in vielen Bereichen wohltuend von dem kakophonen und eingebildeten Geplärre in westlichen Ländern abheben. Wir haben nur eine Welt, die sich laufend verändert, und wir alle müssen jeder nach seiner Art so singen, dass uns diese Welt zum Wohl aller Menschen erhalten bleibt.

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-cc

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben       —    Kanrienvogel in Tianjin

Abgelegt unter Asien, Kommentar, Kultur, Mensch | Keine Kommentare »

Politik und Arbeit ??? Nie

Erstellt von Redaktion am 23. Januar 2023

Die Politik hat den Ernst der Lage nicht begriffen

Räumung Lützeraths, 11. Januar 2023

Quelle:    Scharf  —  Links

Gemeinsame Erklärung von Wissenschaftlern, Autoren, Politikern, Klimaaktivisten und Bürgerrechtlern zur gewaltsamen Räumung von Lützerath.

Schon die ersten Tage des Jahres erinnerten uns daran, dass 2023 viel auf dem Spiel steht. Bei sommerlichen Temperaturen zu Silvester und einem bisher etwa 10 Grad zu warmen Januar hat jeder empfindende und denkende Mensch mittlerweile das mulmige Gefühl, dass wir ganz bestimmt keine 20 Jahre Zeit mehr haben um die Klimakatastrophe noch zu verhindern. Doch die Stimmen des fossilen „Weiter so!“ sind noch viel zu laut in der Gesellschaft und die Macht der Fossillobby scheint ungebrochen.

Es macht uns fassungslos, dass sich die Politik entgegen der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Klimakatastrophe für die Zerstörung des Dorfes Lützerath und weitere Braunkohleverstromung entschieden hat. Lützerath ist ein Beleg dafür, wie wenig ernst die Politik den Klimaschutz und ihre eigenen Gesetze nimmt.

Am 24. Juni 2021 wurde ein neues Bundesklimaschutzgesetz verabschiedet. Zweck dieses Gesetzes ist „die Erfüllung der nationalen Klimaschutzziele sowie die Einhaltung der europäischen Zielvorgaben zu gewährleisten. Grundlage bildet die Verpflichtung nach dem Übereinkommen von Paris aufgrund der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen. Danach soll der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter zwei Grad Celsius und möglichst auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau begrenzt werden, um die Auswirkungen des weltweiten Klimawandels so gering wie möglich zu halten.“ (Bundes-Klimaschutzgesetz, Gesetze und Verordnungen, BMUV, 2021).

Der „Expertenrat für Klimafragen“ dessen Mitglieder von der Bundesregierung ernannt werden stellt fest, dass eine „sehr große Lücke“ zu den Zielen des Klimaschutzgesetzes besteht, dessen erlaubte Restemissionen sogar auf mindestens 2 Grad Erderwärmung hinauslaufen würden. Doch auch diese ungenügenden Verpflichtungen werden nicht eingehalten.

https://expertenrat-klima.de/content/uploads/2022/11/ERK2022_Zweijahresgutachten.pdf
Wir sind weiter völlig ungebremst in Richtung Klimakatastrophe unterwegs. Laut einer aktuellen Studie der Weltmeteorologieorganisation WMO, https://library.wmo.int/index.php?lvl=notice_display&id=22083#.Y5HsjMuZMY0
könnte eine Erderwärmung von 1,5 Grad bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre erreicht sein und damit eine eskalierende Klimakettenreaktion drohen.

Eine brandaktuelle Studie namhafter Klimawissenschaftler mit dem Titel „Klima-Endspiel“ (2022) verweist auf die bisherige Vernachlässigung und Unterschätzung von Kipppunkten im Klima- und Erdsystem und auf eine bisher viel zu optimistische Einschätzung von Risiken.

Eine schnelle Erderwärmung von 3 Grad gefährdet möglicherweise bereits das Überleben der Menschheit
(siehe: Klimakrise: Was passiert bei drei Grad Erderwärmung, Spektrum der Wissenschaften).
https://www.spektrum.de/news/klimakrise-was-passiert-bei-drei-grad-erderwaermung/2044870
Wird die Kohle unter den Garzweiler-Dörfern verbrannt, sind die Pariser Klimaziele für Deutschland nicht einzuhalten. Der 2030-„Kompromiss“ mit RWE bedeutet nur, dass die gleiche Menge Kohle früher verheizt ist.

Die 1,5-Grad-Grenze verläuft vor Lützerath

Wir zeigen uns solidarisch mit den Aktivist:innen vor Ort und unterstützen ihre Forderungen. Unser noch verfügbares CO2-Budget erlaubt keine weitere Verschwendung. Es ist nur noch schnelle konsequente Emissionseinsparung möglich, wenn wir der Verantwortung die wir in Paris 2015 übernommen haben ernsthaft nachkommen wollen.

Die Zerstörung von Lützerath und die Verbrennung der Kohle wäre ein weiterer Schritt Richtung Verschärfung der Klimakatastrophe und bedroht direkt die Gesundheit und das Leben der Menschen. Jede Tonne CO? die ausgestoßen wird führt dazu, dass noch mehr Menschen unter Hitzewellen, Extremwetter, Dürren, Hunger und sich ausbreitenden Krankheiten leiden werden. Jede weitere Tonne CO? destabilisiert die Lebensbedingungen der Zukunft weiter, – deshalb muss die Kohle unter Lützerath im Boden bleiben, das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig.

Wir haben inzwischen das Vertrauen in die Regierungspolitik auf Länder- und Bundesebene verloren. Angesichts der Klimakatastrophe, die mit brennenden Wäldern, ausgetrockneten Flüssen, Extremhitze vor unseren Haustüren angekommen ist, rufen wir alle Menschen auf sich am gewaltfreien zivilen Widerstand in Lützerath und anderswo zu beteiligen und die Politik und die Konzerne unter Druck zu setzen. Insbesondere die Wissenschaftler*innen dürfen sich nicht hinter komplizierten Modellen und Forschungsprojekten verschanzen, sondern müssen viel offensiver die Gesellschaft und die Politik über die drohenden Gefahren aufklären und sich dafür Verbündete in Medien und in der Zivilgesellschaft suchen. Eine Pressemitteilung reicht nicht zur Verbreitung der Wahrheit!

Es gibt keine Energiekrise, sondern eine lebensgefährliche Energie- und Ressourcenverschwendung

Wir fordern die Überwindung der Zwangswachstumsgesellschaft und ihrer unverantwortlichen Klima- und Verkehrspolitik durch  geeignete,  konsequente ordnungspolitische Maßnahmen, d.h. auch durch Verbote (z.B. von Kurzstreckenflügen und von Autowerbung), durch die Streichung und Umlenkung von fossilen Subventionen, den konsequenten Ausbau und die Subventionierung von ÖPNV und Zugverkehr, ein Tempolimit auf Autobahnen und warum nicht, durch ein wechselndes Fahrverbot in Abhängigkeit von der Endziffer des Nummernschildes, wie es die Internationale Energieagentur (IEA) vorschlägt? E-Autos sind keine Lösung der Klimakrise und nicht klimafreundlich,- schon wegen dem CO2- Rucksack ihrer Batterien. Der motorisierte Individualverkehr müsste insgesamt bald ein weitestgehendes Ende finden und wieder Raum geben für die Menschen und die Natur. Neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien müssen vor allem Energie, Rohstoffe und Transporte eingespart werden,- es muss also endlich der Übergang zu einer regional orientierten, naturverträglichen, klimaneutralen und lebensdienlichen Wirtschaftsweise in Angriff genommen werden. Machen wir Lützerath zum Fanal eines Aufbruchs in diese Richtung und zum Symbol des Widerstands gegen die weitere Zerstörung der Lebensgrundlagen,- setzen wir der fossilen Wirtschaft und Politik endlich Grenzen. Seien wir ungehorsam, – aus wissenschaftlicher Einsicht und aus Liebe zu allem Lebendigen bleibt uns nichts anderes übrig.

Wer diese Gemeinsame Erklärung unterzeichnen und unterstützen möchte, bitte auf folgende Seite gehen: https://earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com/

Dort bitte eine kurze Nachricht über Kontakt senden. Vielen Dank!

 Erstunterzeichner:

Jürgen Tallig, Autor, Klimaaktivist und Bürgerrechtler

Prof. Dr. Helge Peukert, Wirtschaftswissenschaftler, Scientist Rebellion (SR)

Dr. Maiken Winter, Klimaaktivistin

Dr. Harald Bender, Akademie Solidarische Ökonomie

Dr. Hans-Jürgen Fischbeck, Bürgerrechtler, Physiker

Dipl.-Ing Dr. Wolfgang Neef, ehem. TU Berlin

Dr. Winfried Wolf, Zeitschrift „Lunapark21“

Dr. Bruno Kern, Theologe, Initiative Ökosozialismus

Hartmut Plötz, Diplom-Volkswirt, Diplom-Sozialökonom

Marcus Otto, Sprecher Ökologische Plattform

Prof. Dr. Franz Segbers, Konstanz

Dr. Peter Häp, ATTAC-Krefeld

Prof. D.-Ing. Jochen Hanisch (1. Vorsitzender) Verein zur Förderung der angewandten Nachhaltigkeit (VaN e.V.)

Ergänzung zur Gemeinsamen Erklärung

Zahlenmagie und Kipppunkte. Wie viel Zeit haben wir wirklich noch?

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hat im Juni 2022 eine Stellungnahme veröffentlicht:

„Wie viel CO? darf Deutschland maximal noch ausstoßen? Fragen und Antworten zum CO?-Budget“ https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2022_06_fragen_und_antworten_zum_co2_budget.pdf

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen ist das höchstrangige wissenschaftliche Beratungsgremium der Bundesregierung und er sagt in seiner Stellungnahme:
“Das noch verfügbare faire CO2-Budget Deutschlands für einen 1,5°C-Pfad läuft 2031 ab, das für 1,75°C 2040. Das geltende Klimaschutzgesetz entspricht nach der Berechnung des SRU einer Begrenzung der Erhitzung der Erde auf weniger als 2, aber deutlich über 1,5°C.”
Das heißt Null Emissionen bis 2031 um die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, wozu die Regelungen des Klimagesetzes nicht ausreichen. Schauen wir mal etwas genauer hin, denn bekanntlich ist oft das Kleingedruckte das Entscheidende:
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) schreibt in seiner 30-seitigen Stellungnahme weiter , unter Punkt 6. auf Seite 7:
“6. Wie groß ist das aktualisierte CO?-Budget für Deutschland und die EU-27 ab 2022?

Aktualisiert beträgt das maximale Budget ab 2022 für Deutschland 6,1 Gt CO? (1,75 °C, 67 %), 3,1 Gt CO? (1,5 °C, 50 %) bzw. 2,0 Gt CO? (1,5 °C, 67 %). Bei linearer Emissionsreduktion ab 2022 wären diese Budgets 2040, 2031 bzw. 2027 aufgebraucht. ”
Die Prozentangaben in den Klammern drücken die Wahrscheinlichkeit aus, mit der eine solche Begrenzung möglich ist. Also, um die Erderhitzung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% auf 1,5 Grad zu begrenzen haben wir noch 8 Jahre Zeit, bei 67% Wahrscheinlichkeit sind es nur noch vier Jahre und bei 100% sind es in etwa nur noch zwei Jahre.

Doch von 100 % wird prinzipiell nie gesprochen. Aber wer würde denn in ein Flugzeug steigen, dass mit 50%iger Wahrscheinlichkeit abstürzt…? Niemand!

Aber die Klimakatastrophe wird schöngerechnet und die CO2- Budgets werden als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis gehandelt, dabei sind sie eigentlich nur schwarze Zahlenmagie.

Auseinandersetzungen an den Polizeiketten vor Lützerath

Nun hat man sich auf den Emissionspfad einer Begrenzung auf eine 1,75 Grad- Erhitzung mit 67 %iger Wahrscheinlichkeit festgelegt und sich damit vermeintlich klimapolitisch Luft bis 2040 verschafft. Aber bei 100% wäre auch hier die Klimaneutralität schon 2035 fällig und hatte man sich denn nicht in Paris auf 1,5 Grad festgelegt, weil jenseits dieser Marke Kippelemente und eine Selbstverstärkung der Erderhitzung zu erwarten sind…!?

Ist es also nicht völlig unverantwortlich, seine Klimapolitik auf ein ungewisses 1,75 -eher sogar ein 2 Grad-Ziel auszurichten, wenn wahrscheinlich schon bei 1,5 Grad alles völlig aus dem Ruder läuft?

Wir werden jetzt die Klimakatastrophe begrenzen oder wir werden sie überhaupt nicht mehr begrenzen können, weil sie sich dann verselbständigt hat und selbst verstärkt. Das meint ganz konkret den auftauenden Permafrost, das schwindende Meereis, die brennenden Wälder, -alles Verstärkungen der Erderhitzung, die bereits in vollem Gange sind, aber in diesen Budgetzahlenspielereien gar nicht berücksichtigt werden. Laut einer neuen Studie haben wir die ersten Kipppunkte bereits erreicht und werden absehbar weitere überschreiten:

“Aus der Analyse der Forscher geht hervor, dass selbst eine globale Erwärmung von ein Grad Celsius – die wir bereits überschritten haben – kritische Kipppunkte auslösen kann. Die aktuelle Erderwärmung von 1,1 Grad über dem vorindustriellen Niveau liege bereits am unteren Ende der Schwellenwerte von fünf Kipppunkten. Bei einem Anstieg auf 1,5 bis 1,9 Grad seien sechs Auslösungen wahrscheinlich. ”
https://t3n.de/news/klimastudie-warnt-5-kippunkte-15-grad-erreicht-klimawandel-1497539/

Und zu guter Letzt sei noch darauf hingewiesen, dass der Weltklimarat IPPC seine Budgetberechnungen an die Annahme geknüpft hat, dass ab 2050 jährlich 10 Gigatonnen (Milliarden Tonnen) CO2 aus der Atmosphäre zurückgeholt werden, was heute schon unmöglich ist.

Man kann eine sich aufschaukelnde Klimakatastrophe nicht später wieder rückgängig machen, genauso wenig wie man den Tod rückgängig machen kann.

Deshalb müssen wir uns heute für das Leben entscheiden.
Jürgen Tallig 20.01.2023

Als Kommentar unter dem Offenen Brief von Scientists for Future in der Leipziger Internetzeitung veröffentlicht:

https://www.l-iz.de/melder/wortmelder/2023/01/offener-brief-ein-moratorium-fuer-die-raeumung-von-luetzerath-506623

weitere Informationen unter: https://earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben      —   Räumung Lützeraths, 11. Januar 2023

******************************

Unten     ––       Auseinandersetzungen an den Polizeiketten vor Lützerath

Abgelegt unter Kriegspolitik, Kultur, Nordrhein-Westfalen, Positionen, Umwelt | 1 Kommentar »

60 Jahre Élysée-Vertrag

Erstellt von Redaktion am 22. Januar 2023

50 Jahre grenzüberschreitende Zusammenarbeit –
der Umweltbewegung am Oberrhein

Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein

Von      :      Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein

Am 22. Januar 1963 wurde der deutsch-französische Freundschaftsvertrag (Élysée-Vertrag) von Bundeskanzler Konrad Adenauer und vom französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle unterzeichnet. Dieses wichtige Abkommen hat Deutsche und Franzosen nach den Schrecken des Ersten und Zweiten Weltkriegs ein wichtiges Stück zusammengeführt.

Wenn jetzt überall an 60 Jahre Élysée-Vertrag erinnert wird, dann ist das zumeist eine „von oben nach unten Erzählung mit folkloristischem Beiwerk“. Wir wollen an das von uns fünfzig Jahre lang erkämpfte, immer gefährdete Europa der Menschen, an das „Europa von unten am Oberrhein“ erinnern. Ein Europa, zu dem für uns immer auch die Schweiz zählte.

Auf den besetzten AKW-Bauplätzen inWyhl (D)Kaiseraugst (CH) und Gerstheim (F)haben wir drei Jahrzehnte nach Kriegsende den europäischen Traum vom grenzenlosen Europa geträumt und erkämpft und im Jahr 2020 grenzüberschreitend die Abstellung des Pannenreaktors in Fessenheim erreicht. Wir haben die realen und die inneren Grenzen und die alte, verlogene „Erbfeindschaft“ überwunden, Bauplätze und Brücken besetzt, Gifteinleitungen in Rhein und Luft abgestellt, für Leben und Zukunft gekämpft und gemeinsam viele ökologische Gefahren am Oberrhein abgewehrt. Und dies immer alles ohne europäische Fördertöpfe und Interreg-Gelder.

Dort wo nicht auf unsere Kritik gehört wurde, wie bei der Giftmülldeponie Stocamine, kommt das die Allgemeinheit heute teuer zu stehen und wir schauen aktuell mit Sorgen auf die Schweizer Endlagerpläne.

Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit war immer eine Sache auf Gegenseitigkeit. Schon 1970 haben sich die AKW-GegnerInnen in Kaiseraugst und Fessenheim organisiert, 1971 dann die badischen PartnerInnen in Breisach, 1973 in Wyhl. Elsässische und Schweizer Aktive brachten wesentliche Ideen und Erfahrungen über die Grenze herüber nach Breisach und Wyhl, und nirgendwo wurde jemals nach der Staatsangehörigkeit gefragt. Der alemannische Dialekt hat in diesen frühen Konflikten immer eine wichtige Rolle gespielt. Wir waren stets selbstbewusst, trinational „provinziell“. Ohne die grenzüberschreitende Zusammenarbeit hätten wir an keinem der besetzten Plätze Erfolg gehabt und auch der Giftmüllofen in Kehl wäre nicht verhindert worden.
Auf den besetzten Bauplätzen in Wyhl, Marckolsheim, Gerstheim und Heiteren und bei vielen Demos und Aktionen wurde die alte deutsch-französische „Erbfeindschaft“ überwunden. Auch hier entstand das Europa der Menschen.Einige der vielen Wurzeln Europas und der deutsch-französischen Aussöhnung,
aber auch eine Wurzel der heutigen Klimaschutzbewegung liegt im elsässischen Marckolsheim. Hier haben wir 1974 den Bauplatz eines extrem umweltvergiftenden Bleiwerks besetzt und die Vision vom grenzenlosen Europa gesponnen. François Brumbt sang auf dem besetzten Platz:„Mir keije mol d Gränze über de Hüfe und danze drum erum“. Als endlich die Schlagbäume zwischen Frankreich und Deutschland fielen, hatten wir, wieder einmal, eines unserer Ziele erreicht.

Seit dieser Zeit erleben wir am Oberrhein immer wieder, wie geschickt, gezielt und erfolgreich in ökologisch-ökonomischen Konflikten (Fessenheim-Abstellung, Atommüll Schweiz, Flugplatz Zürich …) die Menschen gegeneinander ausgespielt werden, während gleichzeitig das Hohelied des Élysée-Vertrages, der Regio und wuchernden Metropolregion gesungen wird.

Immer wieder überlagern alte und neue, geschickt geschürte (noch kleine) Nationalismen und traurige Feindbilder auf beiden Rheinseiten die Europa-, Regio- und Dreyeckland-Mythen und diese Feindbilder werden aus ökonomischen Gründen gezielt aufgebaut. Erschreckend ist nicht, dass Konzerne und Lobbyisten versuchen, uns gegeneinander auszuspielen. Erschreckend ist, dass die „nationale Karte“ immer noch häufig sticht und sich auch in Wahlergebnissen ausdrückt.

Um so wichtiger ist unser Europa von unten, abseits aller Verträge und europäischer Fördertöpfe, Metropolregion-Pläne und Interreg-Gelder, bei der Stocamine, beim Hochwasser- und Naturschutz am Rhein, beim regionalen Klima- und Artenschutz. Überall wo sich in Zeiten zunehmender ökonomischer, ökologischer und sozialer Krisen Menschen grenzüberschreitend für Mensch, Natur, Umwelt, Zukunft, Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und Freiheit engagieren.

60 Jahre Élysée-Vertrag sind ein guter Anlass, um zu feiern, um gleichzeitig aber auch das stets gefährdete „Europa der Umwelt und der Menschen“ zu thematisieren.

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben      —  Kontakt/Impressum | Mitwelt 

Urheberrechtshinweise
Kopien, Texte und Textfragmente dieser Internetseiten dürfen nicht sinnentstellend verwendet werden. Ansonsten dürfen alle Texte, Grafiken und und Bilder an den ich die Rechte habe, bei Angabe der Quelle und Information an mich, natürlich verwendet werden.
Kopiert was das Zeug hält und legt viele viele Links zu dieser Seite

******************************

Unten       —     For documentary purposes the German Federal Archive often retained the original image captions, which may be erroneous, biased, obsolete or politically extreme. Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle unterzeichneten am 22.1.1963 im Pariser Elysée-Palast einen Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit, der politische Konsultationen beider Regierungen und eine verstärkte Zusammenarbeit in der Außen- und Verteidigungspolitik sowie in Erziehungs- und Jugendfragen festgelegt. Regelmäßige Treffen zwischen den Regierungschefs und den zuständigen Ressortministern beider Länder sollen die praktische Durchführung des Vertrages gewährleisten. Im Bild (v.l.n.r.) am Tisch: Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Gerhard Schröder, Bundeskanzler Konrad Adenauer, Staatspräsident Charles de Gaulle, Premierminister Georges Pompidou und der französische Außenminister Maurice Couve de Murville

Abgelegt unter APO, Baden-Württemberg, Europa, Kultur, Umwelt | Keine Kommentare »

Wohin mit dem CO2 ?

Erstellt von Redaktion am 15. Januar 2023

Diese Debatte wird für alle Beteiligten unbequem

Ein Debattenbeitrag von Felix Schenuit

EU und Bundesregierung sehen die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid als Chance. Wer darf im Jahr 2045 noch wie viel emittieren, und wer bezahlt die Investitionen in Lösungen zum nötigen Ausgleich?

Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck sieht CO2 lieber im Boden als in der Atmosphäre. Während seines Norwegen-Besuchs vergangene Woche dokumentierte er damit die Renaissance eines in Deutschland umstrittenen Themas: die Abscheidung und Speicherung von CO2 (Englisch: Carbon Capture and Storage, CCS).

Mit dem Ziel, bis Mitte des Jahrhunderts Treibhausgasneutralität zu erreichen, hat sich in den letzten Jahren ein grundlegender Wandel in der deutschen und europäischen Klimapolitik vollzogen. Dies wirft die politisch unbequeme Frage auf, wie mit den schwer vermeidbaren Emissionen im Industrie-, Landwirtschafts- und Verkehrssektor umgegangen wird. Gerade in einer Zeit, in der die Angst vor einer Deindustrialisierung den politischen Wettbewerb prägt, gewinnt dieses Thema an Brisanz.

Auch deshalb ist gerade viel die Rede von CCS. In Brüssel treibt die Europäische Kommission das Thema mit dem Strategiedokument „Nachhaltige Kohlenstoffkreisläufe“ und politischen Initiativen voran. Ähnliche Impulse gehen in Deutschland vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aus, das mit dem Evaluierungsbericht zum Kohlenstoffspeichergesetz einen Wandel der deutschen Position zu CCS initiierte. Der Besuch Habecks in Norwegen und die für dieses Jahr geplante Carbon-Management-Strategie sind die nächsten Schritte in der Wiederbelebung des Themas. CCS, das jetzt als ein Bestandteil des Oberbegriffs „Carbon Management“ firmiert, wird an der Schnittstelle von Industrie- und Klimapolitik offensiv angegangen. CCS ist nicht gleich CCS: Es ist Teil unterschiedlicher Prozessketten, deren klimapolitische Funktion vom Ursprung des CO2 abhängt. Die folgende Unterscheidung wird in der Debatte oft vernachlässigt.

Zum einen gibt es Prozessemissionen, die ohne CCS nicht vermieden werden können. Dazu gehören zum Beispiel die Emissionen aus der Zement- und Kalkherstellung. Hier wird unabhängig von der Verbrennung fossiler Brennstoffe CO2 freigesetzt. Auch durch den Umstieg auf erneuerbare Energie könnten diese Emissionen nicht vermieden werden. Diese Prozesse werden nur dann nahezu CO2-neutral, wenn das CO2 abgetrennt und dauerhaft gespeichert wird. Zweitens kann CCS zur Speicherung des bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe freigesetzten CO2 eingesetzt werden. Im Rahmen der angekündigten Kooperation zwischen Deutschland und Norwegen steht die Anwendung von CCS bei der Nutzung von Erdgas in Prozessketten für „blauen“ Wasserstoff im Vordergrund. Drittens ist CCS Bestandteil verschiedener Negativemissionstechnologien. Ein Beispiel ist die Abscheidung aus der Umgebungsluft (Direct Air Capture) in Kombination mit CCS. Negative Emissionen werden in Zukunft benötigt, um Restemissionen – zum Beispiel aus der Landwirtschaft – auszugleichen und so Netto-null-Emissio­nen im Jahr 2045 und Netto-negativ-Emissionen nach 2050 zu ermöglichen.

Wenn über CCS gesprochen wird, sollten diese drei Bereiche unterschieden werden. Sammelbegriffe wie Carbon Management sind politisch attraktiv. Sie unterschlagen aber die unterschiedlichen Einsatzbereiche, Regulierungen sowie politische Allianzen.

Im Zuge des neuen Vorstoßes der Bundesregierung haben sich einige Umweltverbände dem Thema CCS als Lösung für den Umgang mit den Restemissionen angenähert, andere hingegen lehnen CCS unter Verweis auf mögliche Risiken strikt ab. Wie auch bei politischen Parteien und Ministerien bergen das Thema und der steigende Positionierungsdruck erhebliches Konfliktpotenzial innerhalb und zwischen Organisationen.

Die Debatte wird jedoch für alle Beteiligten unbequem. Auch für die Industrie, die ihre Restemissionen glaubwürdig darlegen muss und so Verteilungsfragen zwischen den Branchen, aber auch innerhalb der Unternehmen klären muss. Wer darf im Jahr 2045 noch wie viel emittieren, und wer bezahlt die Investitionen in Lösungen zum Ausgleich dieser Restemissionen? Diese Frage wird in den kommenden Jahren zu erheblichen politischen Konflikten führen.

Nur wenn es eine offene Debatte darüber gibt, welche Emissionen in Deutschland im Jahr 2045 als unvermeidbar gelten, kann eine glaubwürdige Auseinandersetzung über den Einsatz von Carbon Management erfolgen. Für eine ernsthafte und umfassende Debatte braucht es deshalb eine klare Taxonomie für Restemissionen.

Quelle          :        TAZ-online            >>>>>           weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —     Demonstranten bei einer Klimademo verlangen Einführung einer CO2-Steuer

****************************

Unten       —       Climate March 0241 – Covered wagon with arrows. „Defend colonialism – Defend CO2 colonialism.“

Abgelegt unter Energiepolitik, International, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Stadtgespräch aus Lützerath

Erstellt von Redaktion am 13. Januar 2023

Nicht mehr normal

Von Gereon Asmuth

Warum gilt es als angemessen, dass Hundertschaften Kli­ma­ak­ti­vis­t:in­nen räumen. Nicht aber, dass sie klimaschädliche Braunkohlebagger stoppen? Ein Gedankenspiel.  – Sie fordern keinen Quatsch, sondern worauf sich 2015 in Paris geeinigt wurde.

Das ist ja wieder mal alles ganz normal. Hunderte, vielleicht Tausende Po­li­zis­t:in­nen sind seit Mittwoch in Lützerath im Einsatz. Sie räumen das von Ak­ti­vis­t:in­nen besetzte Dorf an der Abbruchkante zum Braunkohletagebau. Sie kesseln Menschen ein, tragen sie durch die Gegend, schubsen mal hier, drängeln mal dort. Sie holen Ak­ti­vis­t:in­nen von den Bäumen, schmeißen Holzhütten um, fahren mit Blaulicht durch die Gegend.

Das ist normal. Oder besser gesagt, es gilt als normal, weil es der Rechtslage entspricht. Weil Gerichte den Einsatz bestätigt haben. Weil es um ein von Parlamenten und Regierungen beschlossenes Vorgehen geht. Aber dafür kann die Polizei ja nichts. Sie setzt um, was andere beschlossen haben. So weit so gut?

Auf Facebook schrieb jemand am ersten Tag der Räumung: „Der Tag ist nicht mehr fern, da wird der Bau von Windrädern wie der Abbau von Kohle in Lützerath durchgesetzt werden.“

Klar, das klingt irgendwie gaga. Aber ist es das auch?

Führen wir den Gedanken doch mal zu Ende: Warum eigentlich gibt es keine Einsatzhundertschaften, die in windradresistenten Gegenden die Blo­ckie­re­r:in­nen vertreiben, damit dort ein paar Anlagen in den Boden gebracht werden können? Und wieso holt die Polizei landauf, landab die Menschen von der Straße, die sich für den Klimaschutz auf den Asphalt kleben, nur um für freie Fahrt für klimaschädliche Autos zu sorgen, anstatt genau diese von den Straßen zu verbannen?

Oder wieso räumt die Polizei eigentlich die paar Hundert Ak­ti­vis­t:in­nen aus dem kleinen Lützerath, anstatt selbst in die daneben liegende Grube zu springen und die dort nach Kohle grabenden Bagger stillzulegen? Die machen schließlich nicht nur die Gegend zwischen Köln und Aachen kaputt, sondern in logischer Konsequenz gleich noch das Weltklima.

Dort wo der Verstand von Politiker-innen das Ende der Republikanischen-Fahnenstange erreicht hat, reagiert die Macht mit Gewalt und zeigt das wahres Gesicht „Ihrer Demokratie!“

Schon klar, auf solch utopische Weltverdrehungen kann nur ein ökoverliebter Schreiberling von der taz kommen. Für alle anderen klingt das – ja was? Lustig?

Ist es aber nicht. Im Gegenteil. Der Klimawandel ist real. Und ein drängendes Problem. Ein sehr drängendes. Und die Aktivist:innen, die gerade in erster Linie der aus allen Ecken der Republik zusammengetrommelten Polizei, tatsächlich aber vor allem den sich hinter ihr versteckenden Braun­koh­le­ver­hei­zer:­in­nen im Wege stehen, fordern ja auch nicht irgendeinen weltfremden Quatsch, sondern genau das, worauf sich die Weltgemeinschaft in einem einmaligen Schritt bei der Klimakonferenz 2015 in Paris geeinigt hat: die Einhaltung des 1,5-Grad-Zieles.

Und dieses Ziel ist auch nicht irgendeine ice-to-have-schön-dass-wir-mal-drüber-geredet-haben-aber-ansonsten-völlig-egale Absichtserklärung. Nein, es wurde 2021 durch einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts faktisch in den Verfassungsrang gehoben. Je weiter der Klimawandel voranschreitet, umso mehr Gewicht habe dieses Klimaschutzgebot, argumentierte Deutschland höchstes Gericht.

Dass es dennoch keine Polizeieinsätze zugunsten des Klimaschutzes gibt, hat mehrere Gründe. Da ist als erstes die aktuelle Bundesregierung. Die behandelt wie ihre Vorgängerin das Paris-Abkommen eben doch wie eine nice-to-have-schön-dass-wir-mal-drüber-geredet-haben-aber-ansonsten-völlig-egale Absichtserklärung. Bei der Umsetzung in Recht und Gesetz hapert es an allen Ecken und Enden.

Damit hat die Polizei natürlich auch keine Handhabe, keinen Auftrag, an irgendeiner Stelle in dieser Richtung tätig zu werden.

Quelle         :        TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —    Aktivisten diverser Klimagruppen solidarisieren sich mit dem Aufstand der Letzten Generation und blockieren die Straße zum Verkehrsministerium. Invalidenpark, Berlin, 18.11.22

Abgelegt unter Nordrhein-Westfalen, Positionen, Regierungs - Werte, Überregional, Umwelt | Keine Kommentare »

Ein verpatzter Putsch

Erstellt von Redaktion am 12. Januar 2023

Die brasilianischen Unruhestifter gehören vor Gericht

Wenn aber die Demokratie kaum ein anderes Gesicht zeigt als die Militärdiktatur ?

Ein Debattenbeitrag von Gabi Fürst

Klar muss dabei sein, dass es nicht um Vergeltung geht, sondern um Maßnahmen einer Demokratie. Millionen Brasilianer haben ganz offensichtlich die schwierige Zeit der Militärdiktatur vergessen.

In einem politischen Umfeld, das bereits für die brasilianische Demokratie vermint ist, sind die Fragen im Moment vielfältig, aber eine davon sticht klar heraus: Werden all diese Leute, die in Brasília an den gewalttätigen Unruhen beteiligt gewesen sind, und diejenigen, die sie gesponsert haben, zur Verantwortung gezogen? Wird es eine gerichtliche Verfolgung geben? Von der Antwort hängt die Zukunft Brasiliens ab.

Millionen Brasilianer haben ganz offensichtlich die schwierige Zeit der Militärdiktatur vergessen und sehnen sich nach einer Rückkehr des Militärs an die Macht. Dieser Eindruck entsteht bei den Demonstrationen und den landesweiten Lagern vor Militärstützpunkten. Nicht zuletzt hatte Präsident Jair Bolsonaro einen erheblichen Anteil der Kabinettssitze an Offiziere vergeben, für die er unverhohlenen Respekt empfindet.

In einer beispiellosen Initiative sammelte eine Gruppe, die sich selbst den Namen „Gegen den Putsch“ gab, in den sozialen Medien binnen eines Tages über eine Million Klicks. Follower identifizierten anhand von Fotografien zahlreiche Täter, die an der Stürmung des Kongresses beteiligt waren. Auch brasilianische Zeitungen bemühten sich um eine gemeinsame Suche nach den gewalttätigen Unruhestiftern im Regierungsviertel.

Die Rädelsführer kommen offenbar aus einem rechtsextremistischen Milieu, sind weiße Menschen, die der Mittelklasse angehören. In Brasilien sind über die Hälfte der Bevölkerung Schwarze Menschen. Wenn von Armut die Rede ist, geht es nahezu ausschließlich um PoC. Gerade sie machen indes nur einen kleinen Teil der Verdächtigen aus, die die Polizei inzwischen identifizieren konnte. Viele trugen T-Shirts der brasilianischen Fußballmannschaft, Kleidung in den Farben der brasilianischen Flagge oder sie hüllten sich gleich in die Flagge ein. Sie nennen sich Patrioten und treten offen für einen Militärputsch ein, um die Regierung des neu vereidigten Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und seiner Arbeiterpartei (PT) zu stürzen. Zahlreiche Militärs auch in höheren Rängen solidarisierten sich bereits öffentlich mit dem Protest gegen Lula.

Der Politikwissenschaftler Rafael Cortez von dem Beratungsunternehmen Tendencias in São Paulo rechnet mit massivem öffentlichem Druck für eine gerichtliche Verfolgung der Unruhestifter. Die Räumung der Camps, die seit drei Monaten vor den Militärstützpunkten stehen, ist ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung, auch wenn es noch immer an verschiedenen Orten im Land zu gewaltsamen Demonstrationen kommt. Cortez erkennt jedoch eine Dezentralisierung der Proteste und generell eine Verringerung der organisierten Aktionen.

Mit der ohnehin tiefen sozialen Ungleichheit ist Brasilien mit einem weiteren ideologisch-politischen Problem konfrontiert. Die Diskussion zieht sich durch Institutionen bis hin auf die Straße. Sie bestimmt entscheidend den alltäglichen Diskurs, wobei die große Zahl von Waffen in den Händen von Zivilisten besonders problematisch ist. Die Zahl der Gewalttaten war während des Wahlkampfs im letzten Jahr erneut gestiegen.

Ungeachtet der zahlreichen Verhafteten und des großen Drucks weiter Teile der Bevölkerung, die Übeltäter vor Gericht zu bringen, kommt es landesweit immer wieder zu Protestaktionen von Anhängern Bolsonaros. Parallelen zu der Kapitol Erstürmung in Washington vor zwei Jahren liegen auf der Hand. Doch das offensichtliche Déjà-vu sollte nicht den Blick dafür trüben, dass es auch klare Unterschiede gibt. So fand der Sturm auf das Kapitol vor der Vereidigung von Joe Biden als US-Präsident statt, wohingegen die Amtsübergabe am Neujahrstag an Lula da Silva friedlich ablief und er bereits brasilianischer Präsident war, bevor die Aktion begann. Im Unterschied zu Trump verurteilte Bolsonaro die Gewalt, wobei er wie Trump die Wahl seines Nachfolgers nicht anerkennen wollte. Die Unruhen im brasilianischen Regierungsviertel fanden an einem Sonntag statt, als die Büros leer waren. Außer dass einige Journalisten leichte Verletzungen davontrugen, kam niemand zu Schaden. Dementgegen starben in Washington fünf Menschen, Hunderte wurden verletzt.

Unisono verurteilten zahlreiche Staaten den Angriff der Bolsonaro-Anhänger auf das Kongresse Baude, auf den Präsidentenpalast und den Obersten Gerichtshof. Die ausdrückliche internationale Solidarität mit der demokratisch gewählten Regierung Lula da Silvas ist ein wichtiges Signal an die Antidemokraten in Brasilien.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

***********************************************

Grafikquellen        :

Oben     —      Pascal ThibautVerifizierter Account

Grafikquelle: Verlinkung mit Twitter 

***********************

Unten        —       Protesto Fora Bolsonaro em Campinas em 29.05.2021. O protesto partiu do Largo do Rosário, atravessando a Av. Francisco Glicélio, pela Av. Dr. Moraes Sales e pela Rua Irmã Serafina.

Abgelegt unter Amerika, Arbeitspolitik, Kultur, Mensch, Positionen | Keine Kommentare »

Alle Gewalt nach Lützerath

Erstellt von Redaktion am 10. Januar 2023

Protest gegen Kohleabbau in NRW: Großaufgebot für Lützerath

Von Konrad Litschko

Mit hunderten Beamten will die Polizei ab Mittwoch das besetzte Dorf räumen. Der Verfassungsschutzpräsident erwartet „gewalttätige Krawalle“.

In Lützerath braut sich einer der größten Polizeieinsätze der jüngsten Zeit zusammen. Ab Mittwoch kann die Polizei das dort besetzte Dorf neben dem RWE-Kohletagebau räumen. Mehrere hundert Beamte aus fast allen Bundesländern werden erwartet – eine genaue Zahl nennt die Einsatzführung aus taktischen Gründen nicht. Der zuständige Aachener Polizeipräsident Dirk Weinspach sprach am Montag von einem „schwierigen, herausfordernden Einsatz mit erheblichen Risiken“. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang sagte der taz, er erwarte „gewalttätige Krawalle“.

Weinspach erklärte, am Dienstag wolle die Polizei eine Informationsveranstaltung in Erkelenz abhalten, ab Mittwoch dann sei mit einer Räumung „jederzeit“ zu rechnen. Er appellierte an Protestierende, friedlich zu bleiben. Dass am Sonntag Steine geflogen seien und auch bürgerliche Demonstrierende mit an Barrikaden bauten, sei aber beunruhigend. Man werde auf Deeskalation setzen, aber wohl „auch gewaltbereiten Straftätern gegenüberstehen“.

Einsatzleiter Wilhelm Sauer warnte vor Barrikaden und Gräben, die in Lützerath derzeit angelegt würden. Dazu kämen Mono- und Tripods, von Ak­ti­vis­t:in­nen besetzte Pfahlkonstrukte, die aufwendig zu räumen seien. Auch wisse man nicht, ob nicht auch in den besetzten Gebäuden Fallen warteten. Zudem habe man Steinkatapulte entdeckt, was „jede Grenze jedes hinnehmbaren Szenarios“ überschreite. Gleiches gelte für Anschläge auf Logistikfirmen, die die Polizei oder RWE unterstützten. Letztlich müsse man das gesamte Braunkohlerevier im Blick behalten, weil Ak­ti­vis­t:in­nen überall Aktionen starten könnten, um Polizeikräfte zu binden. Die Polizei werde mit „Zurückhaltung bis zum äußerst Machbaren“ vorgehen. „Aber ich werde nicht zulassen, dass meine Beamten zur Zielscheibe roher Gewalt werden.“

Wer will das Dorf fressen – die staatlichen Deppen !!

Die Initiative „Lützerath bleibt“, die den weiteren Kohleabbau verhindern will, wirft der Polizei dagegen vor, zu eskalieren und zuletzt rabiat gegen eine friedliche Menschenkette vorgegangen zu sein. Die folgenden Steinwürfe hatten Ak­ti­vis­t:in­nen mit „Keine Steine“-Rufe quittiert. Für die Initiative selbst haben „alle Aktionslevel ihren grundsätzlichen Daseinszweck“. Auf dem Szeneportal Indymedia gibt es offenere Aufrufe, den Preis für die Räumung hochzutreiben. Angeregt wird auch, dezentral Tagebaueinfahrten zu blockieren, Bagger zu besetzen oder Pumpen „abzuschalten“.

Verfassungsschutzchef Haldenwang sagte der taz, friedliche Proteste seien in einer Demokratie legitim. „Die Protestbewegungen in Lützerath sind allerdings sehr heterogen.“ Relevant werde der Protest für den Verfassungsschutz, wenn Linksextremisten versuchten, friedliche demokratische Proteste zu unterwandern und instrumentalisieren. „Versuche nehmen wir bereits wahr“, so Haldenwang. „Wir sehen, dass bundesweit auch gewaltbereite Linksextremisten gegen die Räumung mobilisieren und sich bereits vor Ort sammeln. Teils wird zu militanten Aktionen aufgerufen.“ Haldenwang verwies auf die Proteste im Hambacher und Dannenröder Forst, wo es „ein brutales Vorgehen gegen die Räumung“ gegeben habe. „Insofern erwarte ich auch in Lützerath gewalttätige Krawalle.“

Quelle         :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —     Transparente in Lützerath, errichtet von Kohleabbaugegnern.

Abgelegt unter Medien, Nordrhein-Westfalen, Positionen, Überregional, Umwelt | Keine Kommentare »

lrre und krank ? ……

Erstellt von Redaktion am 8. Januar 2023

Sehnen sich die Täter nach demselben?

Charleroi - station Janson - Les psy - 01.jpg

…..   Nicht alle Tassen im Schrank ? – Würde man eher bei vielen Politikern erwarten

Von   :  Konstantin Nowotny

Wenn in Deutschland extreme Taten begangen werden, ist oft von psychisch kranken Einzeltätern die Rede. Was aber, wenn nicht die Tä­te­r*in­nen krank sind, sondern das System? Sehnen sich die Täter nach demselben? Danach, in einer imaginierten Zukunft zu den Gewinnern zu gehören?

Im Oktober 2019 werden in Deutschland zwei Menschen ermordet. Ein 27-jähriger Mann wollte in Halle an der Saale eine ­Synagoge stürmen, scheiterte und brachte anschließend zwei Menschen um. Der Attentäter veröffentlichte zuvor ein umfassendes Pamphlet voller rassistischer und antisemitischer Gedanken. Er glaubte an eine jüdische Weltverschwörung. Er hasste unter anderem auch den Feminismus, war sich aber sicher, dass hinter allem, was ihm sein Leben erschwert, letztlich die Juden steckten.

Krank. Der „fanatisch-ideologische Einzeltäter“ habe sich als „Teil“ eines rechtsextremen Netzwerks „verstanden“, argumentierte die Staatsanwaltschaft. Ein forensischer Psychiater bescheinigte dem Täter später nach dreimaliger Befragung eine „komplexe Persönlichkeitsstörung mit autistischen Zügen“. Im vergangenen Dezember nahm der Täter nach knapp zwei Jahren Haft in der JVA Burg zwei Geiseln und versuchte zu fliehen. Er scheiterte.

Im Februar 2020 werden in Deutschland neun Menschen ermordet. Bevor der 43-jährige Täter in einer Shishabar um sich schoss, veröffentlichte er einen Text, gesättigt mit rassistischen und antisemitischen Ideologien. Er glaubte an einen Rassenkrieg, der bevorstehe oder bereits im Gange sei. Und er glaubte daran, dass Geheimdienste mitverantwortlich dafür seien, dass ihn keine Frau liebe.

Krank. Der Terrorismusexperte Peter Neumann sprach von einem „massiv psychisch gestörten Einzeltäter“. Krankheit und Ideologie seien beim Täter „untrennbar miteinander verschmolzen“, zudem fehle ihm die Fähigkeit, sich mit seiner „krankhaft verformten Weltsicht“ auseinanderzusetzen, urteilte ein forensisch-psychiatrisches Gutachten.

„Untrennbar verschmolzen“, „krankhaft verformte Weltsicht“: Sind Rassismus und Antisemitismus nun eine Weltsicht oder eine Krankheit? Geht das eine aus dem anderen hervor?

Noch keine hundert Jahre ist es her, dass die Theo­re­ti­ke­r*in­nen der Frankfurter Schule sich in ihren „Studien zum autoritären Charakter“ der Frage widmeten, warum Menschen faschistischen Ideologien verfallen. Mit Blick auf den Nationalsozialismus fragten sich die Forscher*innen, warum Menschen Lust aufs Töten verspüren, sich als Teil eines mächtigen Kollektivs verstehen wollen, warum sie mörderische Befehle geben und ausführen. Die Studien offenbarten, wie viele Menschen insgeheim daran glaubten, dass an ihrem individuellen Schicksal ganz konkrete Personen und keine „überindividuellen“ Strukturen schuld sind. Das nütze den „falschen Propheten“ der herrschenden Klasse, argumentierten die Autor*innen: Statt dass sich der Ärger über persönliche Missstände gegen das System richtet, glauben die Leute lieber, ihr Nachbar sei schuld am eigenen Elend.

Die Studien waren nicht unumstritten, aber einflussreich. Jüngst wurden sie wieder öfter diskutiert – etwa im Band „Konformistische Rebellen“ aus dem Jahr 2020 –, weil die falschen Propheten in Form von autoritären Bewegungen wieder erstarken. Weil es wieder Mächtige gibt, die sagen, dass am Weltelend nicht falsche Strukturen schuld sind, sondern falsche Menschen.

Von Sozialpsychologie, vom Zusammenhang zwischen Charakter und Erziehung, Gesellschaft und Ideologie wollten nach Hanau und Halle aber nur wenige etwas wissen. Zu unangenehm sind die Fragen, die eine solche Analyse provoziert. Leben wir etwa in einer Welt, die systematisch potenzielle Mörder hervorbringt?

Nein, das kann nicht sein. Komfortabler: Die Täter sind irre, gestört, autistisch, narzisstisch, schizophren oder paranoid oder paranoid-schizophren; bedauerliche Einzelfälle in einer tragischen, aber losen Reihe; braun verblüht kranke Pflänzchen auf einer ansonsten intakten Wiese. „Es reicht nicht, einen Anschlag wie den in Halle zu verurteilen – und dann wieder zur Tagesordnung überzugehen“, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am ersten Jahrestag des Attentats. Man müsse „die Motive ergründen, die Hintergründe solcher Taten aufklären“. Die „Ergründung“ sah in etwa so aus: Der Täter war einzeln und krank, so wie alle anderen, die Krankes tun.

Selbst wenn die potenziellen Mörder in Kollektiven auftreten, sind es irgendwie doch Einzelfälle. Eine „dreistellige Anzahl von Verschwiegenheitserklärungen“ sollen die Er­mitt­le­r*in­nen bei einer Gruppe von 25 Festgenommenen gefunden haben, die sie der sogenannten Reichsbürgerbewegung zuordnen. Eine Gruppe, bestehend aus ehemaligen Soldaten, Polizisten, Juristen, AfD-Mitgliedern, Neonazis und weiteren Personen hatte einen Putsch geplant, angeführt von einem Adligen. Sie verfügten über Kampferfahrung, Waffen und Geld. Der Adlige selbst schwang zuvor große Reden darüber, dass die Juden Kriege und Revolutionen anzettelten. Seine Gefolgschaft fand das überzeugend. Teile der Gruppe glaubten an die sogenannte QAnon-Theorie, nach der unter anderem Juden Teil einer blutrünstigen Weltverschwörung seien. Auch der Attentäter von Hanau glaubte das wie laut Studien etwa 15 Prozent aller Amerikaner*innen.

Scrooge-Romney.jpg

Krank. Reichsbürger seien „psychisch auffällig“, kommentierte der prominente Jurist und Spiegel-Kolumnist Thomas Fischer nach der Razzia. Er gab aber Entwarnung: „Deutschland drohte weder ein Staatsstreich noch ein Putsch.“ So sahen es viele. Eine Reporterin der Welt sprach auf Twitter von „verstrahlten Reichsbürger-Rentnern“ und wunderte sich über die „äußerst eigenartigen Hysterie“ rund um den Fall. Der ehemalige Innenminister Otto Schily gestand, er habe zwar „keine Erkenntnisse über Organisationsgrad und Gefahrenpotenzial“ der Reichsbürger-Bewegung, halte sie aber dennoch für eine „eher skurrile Spinner-Truppe“, die keine reale Gefahr darstelle. Das reimte sich mit den Deutungen ordinärer Faschisten: Von einer „Seifenoper“ rund um einen Staatsstreich, geplant von einem „Häuflein“, sprach Björn Höcke am Tag nach dem Zugriff. Ein Häuflein: Etwa 23.000 Menschen umfasst laut Bundesverfassungsschutz das „Personenpotenzial von Reichsbürgern und Selbstverwaltern“. Gerade einmal 5 Prozent gelten für die Behörden als „rechtsextrem“, fand die Süddeutsche Zeitung heraus. Und der Rest? „Nur“ verrückt?

Psychische Krankheiten fallen nicht vom Himmel. Sie entstehen in einer bestimmten Gesellschaft, in einem bestimmten Zustand. Der Kulturtheoretiker Mark Fisher erklärte so unter anderem, warum Millionen Menschen unserer Zeit depressiv werden: Das Erodieren der staatlichen Vorsorgenetze – Rentensystem, Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Bildungssystem – mache Menschen unsicher, nervös und auf lange Sicht krank. „Depression ist die Schattenseite unserer Wirtschaftskultur, sie ist, was passiert, wenn der magische Voluntarismus auf eingeschränkte Möglichkeiten stößt.“ Diejenigen, die das System am Laufen halten wollen, so Fisher, hätten ein Interesse daran, dass psychische Krankheiten Privatsache bleiben. Sie sollen nicht politisch thematisiert werden, damit keiner auf die Idee kommt, dass irgendetwas faul sein könnte.

„Magischen Voluntarismus“ nannte Fisher den Glauben, dass man sich nur genug anstrengen müsse, um seine Ziele zu erreichen. In der Realität finden sich die meisten, die in diesem Glauben erzogen wurden, in einem System wieder, dass davon lebt, dass es einigen ohne erkennbaren Grund schlechter und anderen besser geht. Ist es denkbar, dass sich der Ärger darüber, die Aggression, nicht nur nach innen richten kann wie bei der Depression, sondern auch nach außen, gegen andere, vermeintlich Schuldige?

Quelle       :           TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen     :

Oben          —     Charleroi (Belgique) – Station Janson du métro légerLes Psy.

Abgelegt unter Innere Sicherheit, Kultur, Positionen, Schicksale | Keine Kommentare »

Fordern ohne zu Liefern ?

Erstellt von Redaktion am 8. Januar 2023

Deutschland zum Jahreswechsel – von Böllern bedroht?

 

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      : Renate Dillmann

Forderung nach härteren Strafen und besserer Ausrüstung der Polizei. Das fängt ja gut an. Während die Berichterstatter der Nation im Rest der Welt Silvesterfeiern mit „berauschendem Feuerwerk“, ausgelassener Stimmung am Big Ben, der Copa Cabana und New York sehen, macht der Blick ins eigene Land ihnen schon wieder Sorgen.

So berichtet die Tagesschau am Neujahrstag gleich in ihrer ersten Meldung, dass Ordnungskräfte, Rettungsdienste, Feuerwehren und Straßenreinigung es zur Jahreswende „mal wieder“ und zugleich „so schwer wie noch nie“ hatten!

Als ob die Staatsmacht nicht schon 364 Tage und Nächte genug zu tun hätte im endlosen Kampf gegen das Böse, gegen Extremisten, Terroristen, Spione, Islamisten, Faschisten, Kommunisten, Anarchisten, Chaoten, Clans, Kriminelle, Illegale, Irre im Inland und beim Export ganz anderer Böller und Raketen in alle Welt (zur Bewahrung von Frieden und Freiheit natürlich) nun auch noch das.

Das Volk böllert am 365. Tag – ohne heißen Herbst wohlgemerkt und bei 15 Grad plus zu Silvester – trotz lokaler Feuerwerks-Verbote und Klimawandel wild drauf los! Schlimmer noch: Die „Ordnungskräfte“, medial verkörpert durch die Feuerwehr, nicht durch die Polizei, berichten von zahlreichen Angriffen auf die „Helfer“.

Zwar fehlt es an jeglichen Beweisen für die unsagbare Brutalität, die ansonsten stets zumindest durch Amateuraufnahmen belegt werden kann (die „Tagesschau“ suggeriert durch den Schnitt ihrer Bilder tatsächlich, dass Feuerwehr beim Löschen eines Hausbrands behindert wurde, während die „junge Welt“ von „brennenden Mülltonnen“ berichtet), aber das Urteil steht fest: Grundlos und wider aller Vernunft greifen in deutschen Großstädten unbestimmte Subjekte jene Kräfte an, die ihnen doch nur helfen wollen!

Eine Erfindung der Presse? Oder Propaganda der zunehmend von AfD und Nazis unterwanderten Berufsvereinigungen von Polizei und insbesondere der Feuerwehr? Mag sein. Und wenn nicht?…

Dann hätte eine um Aufklärung bemühte Presse zumindest die Aufgabe zu ermitteln, wie es zu dieser vermeintlich irrationalen Wut auf die Ordnungskräfte kommt. Anhaltspunkte gäbe es ja:

1. Eine zunehmend grosse Zahl angestammter, sowie zugezogener und geflüchteter, in jedem Fall aber verachteter armer Teufel, die sich sinn- und zwecklos an einer Ordnung (ab)arbeiten, die ihnen kein materielles Zurechtkommen, keine Familie, keine gesellschaftliche Anerkennung und kaum eine gesellige Zusammenkunft gewährt.

2. Die erzwungene Ergebenheit braver Knechte gegenüber den „Sachzwängen“ einer Nation der steigenden Preise, Renditen und Ansprüche gegen jene, die das Privileg eines Arbeitsplatzes im Menschenrechts Paradies Deutschland genießen.

3. Die kleine kompensatorische Hoffnung, wenigstens nach vollbrachter Dienstbarkeit am Ende des Jahres (ziemlich grund- und sinnlos übrigens!) einmal ein Recht auf Krach, ein Recht auf Ausgelassenheit und ein Recht auf die Straße zu haben, in der man sonst als Paketzusteller, Bettler, Putzfrau, Müllmann und Taugenichts existiert und wahrgenommen wird. Und in der einen die Polizei auch am Silvesterabend als Problem einstuft und vorsorglich in Mannschaftsstärke aufmarschiert.

4. Vielleicht auch die „Testosteron gesteuerten Party People“, die die Gelegenheit nutzen, einmal im Beisein des weiblichen Publikums den eigenen Mut und die Kampfbereitschaft jenseits allen Klassenbewusstseins unter Beweis zu stellen…

All das böte reichlich Stoff, nachzufragen und über Ursachen nachzudenken, wenn man der vermeintlich grundlosen Aggressivität (so sie denn überhaupt so wie behauptet stattgefunden hat) auf die Spur kommen wollte.

Die Presse lässt sich allerdings nicht beirren: Es braucht keine Aufklärung über die Fakten und schon gleich keine (soziologische) Ursachenanalyse für die einseitige und ungeprüfte Beschuldigung. Was die Nation stattdessen braucht, ist klar: Der Rechtsstaat kann „solche Formen der Verrohung von Gewalt nicht hinnehmen“ (Nancy Faeser, Tagesschau vom 2.1.): Die Konsequenzen heißen härtere Strafen, bessere Ausrüstung der Polizei (nicht der Rettungsdienste – oder kriegen die Sanitäter jetzt mehr Geld, kürzere Einsatzzeiten und bessere Ausrüstung?!) und überhaupt mehr innere Sicherheit.

Das BILD von der „notorisch bedrohten Nation“ gehört bekanntlich zu den alltäglichen Kontinuitäten der öffentlichen Berichterstattung vor und nach 1945 im Reich der Dichter und Henker, also mit und ohne Gleichschaltung ihrer Presseorgane. Das gilt für den letzten Tag des alten Jahres wie den Start ins neue…

Na dann, Prosit Neujahr!

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben        —   Feuerwerksverkauf in Berlin-Marzahn

Abgelegt unter Berlin, Kriegspolitik, Mensch, Positionen | Keine Kommentare »

Die Grünen in der Ampel ?

Erstellt von Redaktion am 7. Januar 2023

Ihr habt euch verrechnet

File:Ampel Beschimpfung.svg

Geht es um den Topf der Steuerzahler finden alle Parteien ihre Clan-Zuhälter.

Von Luisa Neubauer und Pauline Brünger

Die Grünen haben sich auf einen fatalen Deal mit RWE eingelassen. Die Kohle unter Lützerath darf nicht verbrannt werden. Ein Gastbeitrag von Luisa Neubauer und Pauline Brünger von Fridays for Future.

Es haben alle geklatscht. Damals, als wir im April 2021 vor dem Verfassungsgericht standen. In einer historischen Entscheidung erklärte die höchste juristische Instanz Deutschlands, dass wir einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Klimaschutz à la Pariser Abkommen haben.

Das Pariser Klimaabkommen heißt übersetzt: Irgendwo muss Schluss sein. Schluss mit der Zerstörung, dem Verbrennen, dem Emittieren. Und vielleicht fiel das Klatschen 2021 auch deswegen so leicht: Das Schluss-Machen fühlte sich damals weit weg an, klatschen ohne Konsequenzen. Genau genommen war es damals natürlich nicht weit weg, gefühlt aber eben schon.

Jetzt aber haben wir eine Grenze erreicht. Der Kohlebagger im Tagebau Garzweiler II stammt aus dem Jahr 1961. Alt und überholt, genau wie die Idee, dass Kohlekraft friedensbringend und sicherheitsschaffend ist. Gegenüber vom Kohlebagger steht das 21. Jahrhundert, das Pariser Abkommen und die Klimabewegung in einem besetzten Lützerath.

Die Kohleflöze unter dem Dorf sind besonders dick, bis zu 280 Millionen Tonnen CO2 würden emittiert, sollte die gesamte Menge verbrannt werden. Laut Studien des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung wird es praktisch unmöglich, die Pariser Klimaziele und damit das Verfassungsgerichtsurteil noch einzuhalten, sobald diese Kohle unter Lützerath einmal im Kraftwerk am anderen Ende der Garzweiler Grube angekommen ist. Doch genau das soll passieren – in diesem Moment dreht sich der Schaufelradbagger 261 von RWE weiter. Stück für Stück Richtung Lützerath.

Was nun? Wie läuft es mit dem Aufhören? Bisher nicht so gut.

Damit sich die Grünen in diesen Tagen nicht zerreißen, haben sie sich eine Geschichte gebaut, die das ganze Drama erklärbar machen soll.

Die Geschichte geht etwa so: Durch den Krieg in der Ukraine wird akut mehr Kohle gebraucht, leider muss man kurzfristig einlenken, aber dafür kommt der Kohleausstieg 2030, endlich, Robert Habeck sei Dank. Das Ganze hat natürlich einen Preis, und der ist das Dorf Lützerath. Jetzt regen sich noch ein paar Radikalos über die Räumung eines verlassenen Dorfes auf, sollen sie doch, wir Öko-Pragmatiker wissen, dass hier ganz große Schritte gemacht werden.

Manche Dinge sind aber zu schön, um wahr zu sein. Und diese grüne Erzählung vom Kohleausstieg 2030, der auf magische Art sowohl für RWE und das Klima gut sein soll, ist so etwas.

Klimaschutz passiert nicht dann, wenn Ausstiegszahlen nach vorne verschoben werden, sondern wenn real Emissionen Richtung Null gefahren werden. Der Kohleausstieg 2030 ist für uns als Klimabewegung deshalb wichtig, weil wir dahinter einen realen Rückgang der Kohleverstromung in Deutschland fordern. Genau diese Idee entkernen die Grünen und RWE in ihrem Deal. Zwar werden die Ausstiegsdaten für die Kraftwerke vorgezogen, die Menge an Kohle jedoch nicht begrenzt. Mehrere unabhängige Berechnungen legen nahe, dass durch den Deal keine einzige Tonne CO2 eingespart wird. Die Kohlemenge, die RWE vorher bis 2038 fördern und verbrennen wollte, wird jetzt schlicht schon in der Hälfte der Zeit verstromt. Aus Kohleausstieg wird Kohleintensivierung. Kleines Detail, die Kohle unter Lützerath braucht es laut Berechnungen auch überhaupt nicht für die Energieversorgung Deutschlands.

Nicht brennt schöner als der Mitgliederausweis einer Partei

RWE macht dabei richtig Geld: Das Handelsblatt kalkuliert bis 2024 Zusatzgewinne von einer Milliarde Euro für den Konzern. RWE wurde garantiert, dass sie die beim Kohleausstieg 2038 zugesicherten Gelder – 2,6 Milliarden Euro – in jedem Fall erhalten. Zusätzlich profitiert der Konzern von einem reduzierten CO2-Preis. Ab 2030 werden die CO2-Zertifikate auf dem europäischen Emissionsmarkt für Kohlekonzerne so teuer werden, dass die Rentabilität ihrer Kohleverkäufe drastisch sinkt.

Nicht jeder Kohleausstieg ist eine Klimaschutzmaßnahme. Dieser Kohleausstieg ist vor allem eins: eine Profitschutzmaßnahme für RWE. Dass ein notorisch unglaubwürdiger Kohlekonzern auch 2023 mit falschen Erzählungen seine Profite verteidigt, ist zu erwarten. Nicht aber, dass sich die Grünen auf diesen Deal eingelassen haben, ohne zu irgendeinem Punkt aufzustehen und sich zu fragen, was zum Henker sie da verhandeln.

Man würde meinen, die letzen 30 Jahre Energiewende wären eine Lehre gewesen. Immer wieder hat man versucht, den Ausstieg aus fossilen Energien so zu gestalten, dass fossile Konzerne zufrieden irgendwem die Hände schütteln können. Nach Jahren verpasster Ausbauziele, nach über 100.000 verlorenen Jobs in der Solarbranche und einer abgewanderten Windradindustrie könnten man sagen: Hat so mittel gut geklappt.

Oder so: Solange fossile Konzerne die Regeln für die Energiewende machen, wird es keine geben. Schon gar keine, die schnell und gerecht genug kommt.

Dass es so nicht aufgeht, wie die Grünen und der klimabewegte Teil der Regierung sich das gedacht haben, wird vor allem in der Stille deutlich. Man muss an die kleinen Emoji-Affen von Whatsapp denken: Hände vor dem Mund, den Ohren, den Augen. Bloß nichts sehen, hören, sagen. Noch im Oktober stimmten knapp die Hälfte der Delegierten auf dem Bundesparteitag für einen Antrag der Grünen Jugend, der ein Moratorium für Lützerath forderte. Während #LützerathBleibt seit Tagen trendet, bleiben die Accounts der Partei bemerkenswert still. Ab und zu ruft Mona Neubaur im Chor mit RWE, der CDU und der Polizei zur friedlichen Räumung auf. Als Op­po­si­ti­ons­po­li­ti­ke­r:in war sie mehrmals in Lützerath, als Vize-Ministerpräsidentin noch nie.

Das, was von der Grünen-Spitze als staatsmännischer und vor allem ultra pragmatischer Coup aufgesetzt war, entpuppt sich in diesen Tagen als undurchdachte Bulldozer-Politik. Statt die Krise argumentativ zu nutzen, um das Ende von Kohle, Öl und Gas einzuläuten, räumen die Grünen den Weg frei für weitere Energieverschwendung. Alles für das fossile Weiter-So, koste es, was es wolle. In diesem Falle: Milliarden Euro und unsere Lebensgrundlagen.

Die Grünen missbrau-chen die Energiekrise

Wir hatten gehofft, die Grünen würden die ökologischen Linien in der Ampel ziehen und verteidigen. Nun sind sie diejenigen, die sie einreißen wollen.

Nachdem nun selbst die Grünen die Energiekrise missbraucht haben, um ihre kontroverse Entscheidung zu legitimieren, ist es wenig überraschend, dass die FDP parallel erklärt, vor lauter Krise brauche es jetzt neue Atomkraftwerke. Es scheint ein postfaktischer Energiediskurs parteiübergreifend in Mode. Und das kommt einem erdgasbegeisterten Kanzler natürlich gelegen, kann er direkt weitere Autokraten zu verlässlichen Energiepartnern erklären. Die Krise als rhetorisches Mittel, nie als materieller Zwang, sie reicht aus, um Entscheidungen zu legitimieren, die das Weltklima belasten, sie reicht nie für Entscheidungen zu Lasten des Koalitionsklimas. Lieber schickt man Bagger gen Lützerath, als die lange Liste an schnellen, wirksamen und notwendigen Maßnahmen zur Energiereduktion tatsächlich anzugehen.

Bis heute gibt es kein ausreichendes Klimaschutzsofortprogramm, kein (von Olaf Scholz persönlich eingefordertes) Energieeffizienzgesetz, der CO2-Preis stagniert, die Abschaffung fossiler Subventionen ist einer Einführung neuer Subventionen gewichen. Bei 1,2 Grad Celsius globaler Klimaerhitzung ist für all das anscheinend nicht genug Krise. Wir fragen uns, wie viele hitzetote Großeltern es braucht, bis genug Krise für ein kleines Tempolimit ist.

Wir hätten nach fast einem Jahr Energiekrise auch noch einige Anschlussfragen. Wohin soll sie denn gehen, die Reise? Wie sieht denn der Plan aus, durch den wir bis 2030 die Emissionen um 65 Prozent gesenkt haben, nachdem sie im letzten Jahr trotz geringeren Energieverbrauchs stagniert sind? Wo, lieber Robert Habeck, wird die Gesamtrechnung aufgemacht, in der die Vereinbarkeit von alledem mit dem Pariser Klimaschutzabkommen abgestimmt wird?

Quelle     :         TAZ-online           >>>>>           weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —     Neue Version von Ampel.JPG

Author Original:Stefan-XpVector: Jfd34       /     Source    :

Transferred from de.wikipedia to Commons.      /    Date    :  6 December 2005
This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.
Attribution: Stefan-Xp

*****************************

2.) von Oben      —   Luisa Neubauer auf der TINCON re:publica in Berlin-Kreuzberg am 7. Mai 2019

*****************************

Unten       —     Pauline Brünger und Carla Reemtsma von Fridays For Future sprechen auf einem Traktor bei der Blockade der SPD-Parteizentrale, Berlin, 22.10.21

Abgelegt unter Nordrhein-Westfalen, P.Die Grünen, Regierung, Umwelt | Keine Kommentare »

Kolumne * FERNSICHT Polen

Erstellt von Redaktion am 7. Januar 2023

An der Mission Versöhnung gescheitert

Vogelbeobachtung (8618362879).jpg

Von  :  Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz

Kurz nachdem Joseph Ratzinger die Nachfolge von Karol Wojtyła auf dem päpstlichen Thron angetreten hatte, unternahm er seine erste Pilgerreise nach Polen, dem Land seines „großen Vorgängers“, wie er es ausdrückte.

Als Journalisten beobachteten wir damals, inwieweit die Polen, die daran gewöhnt waren, ihren Landsmann auf dem Heiligen Stuhl zu sehen, einen Deutschen als seinen Nachfolger akzeptieren würden.

Natürlich wurde Ratzinger als Papst in Polen nie so behandelt wie Wojtyła. Zwar mangelte es nicht an Ehrungen, aber man betrachtete ihn nicht als Nachfolger, sondern allenfalls als Stellvertreter. Ratzinger wirkte kein bisschen wie der Showman Wojtyła, der die kollektiven Emotionen der Gläubigen wie ein Berufspolitiker lenkte. Fotos von ihm mit der Brille von Bono von U2 gingen um die Welt. Ein solcher Moment in der Karriere von Benedikt XVI., dem todernsten Geistlichen aus Marktl, wäre unvorstellbar.

Heute ist der Ton, in dem über den einen und den anderen Papst gesprochen wird, in unserem Land hingegen auffallend ähnlich. Polen wird mehr denn je von der Empörung über die Missbrauchsskandale der Kirche erschüttert. Wenn sich vor nicht allzu langer Zeit mehr als 90 Prozent der Bevölkerung als Katholiken bezeichneten, geben heute nur noch 42 Prozent der Befragten an, ihren Glauben regelmäßig zu praktizieren. Die Unterlassungssünden beider Päpste sind für die Zeitgenossen schwer zu akzeptieren, und so finden sie sich Jahre später an der gleichen Stelle wieder.

In Rom Vor der Generalaudienz 2. Mai 2007

Viele Tausende von Gläubige aus aller Welt nahmen dennoch an der Beerdigung von Benedikt XVI. teil. Auf die Frage, was ihnen an seinem Charakter wichtig war, antworten sie oft, dass es sich um theologische Schriften handelt. Ob dies auch aus polnischer Sicht der Fall ist, darf bezweifelt werden, denn die Polen kennen die Schriften Ratzingers kaum. Allerdings ist aus hiesiger Sicht vor allem die Diskussion über die christliche Theologie des Holocaust interessant, der Ratzinger viele Jahre seines Lebens gewidmet hat, noch bevor er Papst wurde.

Während seiner Pilgerreise 2006 gab es nur einen einzigen Ort, an dem Benedikt XVI. nicht in die Fußstapfen von Johannes Paul II. trat: das ehemalige deutsche Nazi-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Viele Menschen erinnern sich noch gut an die Bilder dieses Besuchs und besonders an den Regenbogen, der erschien, als er seine Predigt hielt.

Quelle         :       TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

Abgelegt unter Bayern, Europa, Religionen, Schicksale | Keine Kommentare »

Klimaterrorismus :

Erstellt von Redaktion am 6. Januar 2023

 Mein Vorschlag für das Unwort des Jahres 2022

Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein

Von      :      Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein

Dass junge, verzweifelte Umweltaktive von Klimakatastrophenverantwortlichen als „Klimaterroristen“, als Mitglieder einer „Klima-RAF“ und „Klima-Chaoten“ bezeichnet und in Präventivhaft genommen werden, ist mehr als ein Skandal. Auch wenn sich über die Aktionsformen streiten lässt: So wie der Begriff des Klimaterroristen bisher verwendet wird, ist dies eine typische, perfekt organisierte Täter-Opfer-Umkehr. Aktivistinnen und Aktivisten machen gewaltfrei auf Missstände aufmerksam und werden dafür kriminalisiert. Wer einmal den Begriff „Klimaterroristen“ bei der Bildsuchfunktion einer Suchmaschine eingibt, sieht, aus welcher Richtung der vergiftete Wind weht. Der rechte Rand der Gesellschaft streut gemeinsam mit rechts-libertären Medien und der BILD-Zeitung Begriffe in die öffentliche Debatte, die an Orwellsches Neusprech erinnern. In dieser Debatte zeigt sich nicht nur Definitionsmacht sondern auch tatsächliche Macht und dies in einer Zeit, in der die erkennbaren Folgen der Klimakatastrophe immer verheerender werden.

Die Umweltbewegung und der nachdenkliche Teil der Gesellschaft müssen endlich wieder die Begriffe zurechtrückenm zurückholen und die tatsächlichen Klimaterroristen benennen:

  • Ist umweltzerstörender Weltraumtourismus „just for fun“ nicht Klimaterror?
  • Der ESSO-Mutterkonzern ExxonMobil zählt mit einem Gewinn von 37,6 Milliarden Dollar in einer einzigen Jahreshälfte des letzten Jahres nicht nur zu den größten Kriegsgewinnlern im Ukraine-Krieg, sondern ist auch Kriegstreiber im Krieg gegen Mensch, Klima und Umwelt. Seit Jahrzehnten finanziert der Konzern Klimawandelleugner und Energiewendegegner. Er ist verantwortlich für Tod und Leid. Zählt ExxonMobil damit nicht zu den tatsächlichen Klimaterroristen?

Ein Versuch, dem Begriff des Klimaterrors wieder seine tatsächliche Bedeutung zurückzugeben, ist mein Wunsch, ihn zum Unwort des Jahres zu erklären.

18.12.2022
Sehr geehrte Damen und Herren
im Auswahlgremium zum Unwort des Jahres,

ich würde Ihnen gerne zwei Begriffe „zur Auswahl“ vorschlagen:
Klimaterrorismus oder Klimaterroristen
Die beiden Begriffe werden aktuell stets im Zusammenhang mit jungen Klimaaktiven genannt. Menschen, die sich für Klimaschutz, für Mensch, Natur und Umwelt engagieren, sollen diskreditiert werden. Wenn Sie einmal bei der Bildsuchfunktion von GOOGLE den Begriff „Klimaterroristen“ eingeben, sehen Sie aus welchen Quellen diese Zuschreibung stammt.

Sie kommt von der AfD, von CDU, CSU und FDP, von Klimawandelleugnern, rechts-libertären Netzwerken und insbesondere auch von der Springer-Presse. Es ist erschreckend, dass in Deutschland die Klimakatastrophenverantwortlichen immer noch die Definitionsmacht haben.

Selbstverständlich gibt es Klimaterrorismus.
Ich meine damit allerdings nicht die jungen Umweltaktiven. Ich denke eher an die Spitzen der großen Öl-, Gas- und Kohlekonzerne und ihre globalen Netzwerke, die seit Jahrzehnten mit gezielter PR, mit Macht und Geld den ihnen bekannten menschengemachten Klimawandel und seine Folgen leugnen, verharmlosen und herunterspielen, und an die bezahlten Mietmäuler dieser Konzerne in Wissenschaft, Politik, Medien, industriegelenkten Initiativen und PR-Agenturen. Ihre Aktivitäten werden millionenfaches Leid und Tod verursachen.

Schon der Hitzesommer 2003, ein Vorgeschmack kommender Hitzesommer, hat ca. 70.000 Tote alleine nur in Europa gefordert.
Aus meiner Sicht spricht dies dafür, einen der beiden Begriffe „Klimaterrorismus oder Klimaterroristen“ zum Unwort des Jahres 2022 zu machen.

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben      —  Kontakt/Impressum | Mitwelt 

Urheberrechtshinweise
Kopien, Texte und Textfragmente dieser Internetseiten dürfen nicht sinnentstellend verwendet werden. Ansonsten dürfen alle Texte, Grafiken und und Bilder an den ich die Rechte habe, bei Angabe der Quelle und Information an mich, natürlich verwendet werden.
Kopiert was das Zeug hält und legt viele viele Links zu dieser Seite

Abgelegt unter APO, Baden-Württemberg, Energiepolitik, Regierung, Umwelt | Keine Kommentare »

Armut ohne Perspektiven

Erstellt von Redaktion am 5. Januar 2023

Kaum Vertrauen, kaum Freiheit

AMMAN 2.jpg

Ein Debattenbeitrag von Serena Bilanceri

Die hohen Treibstoffpreise waren nur Auslöser der Proteste in Jordanien. Dahinter steckt ein tiefes Bedürfnis nach gesellschaftlichem Wandel. Es geht auch um Armut und Perspektivmangel: Unter den Jüngeren sind fast 50 Prozent arbeitslos.

Es ist kein verspäteter Arabischer ­Frühling. Die Proteste, die Jordanien gut zwei Wochen lang in Aufruhr versetzt haben, haben ihre Wucht verloren. Die Sicherheitskräfte haben Dutzende Protestteilnehmer verhaftet, darunter einen Ex-Bürgermeister. Und der König, Abdullah II., hat die Regierung angewiesen, die Steuern auf Kerosin einzufrieren. Ob dies genug sein wird, um den Unmut in der Gesellschaft zu besänftigen, bleibt abzuwarten. Doch eines zeigen die jüngsten Proteste gewiss: was sich ändern soll, damit sie nicht wieder aufflammen.

Anfang Dezember organisierten Lkw-Fahrer Streiks und Proteste gegen die Erhöhungen der Treibstoffpreise, die sich zu einem breiteren Protest gegen die steigenden Lebenskosten und auch gegen die Führungsklasse ausweiteten. Vier ­Polizisten wurden getötet – offenbar durch radikale Islamisten, die wenig mit den Protesten zu tun haben. Doch das Land steht unter Schock.

Jordanien gilt bislang als sicherer Hafen in ­einer Region, die von Konflikten geplagt ist. Das Königreich, ressourcenarm und teils auf aus­ländische Hilfe angewiesen, hat allerdings in den vergangenen Jahren mehrere Rückschläge erlebt. Die ­Konflikte in Syrien, im Jemen und Irak ließen die Zahl der Geflüchteten im Land rasch auf mehrere hunderttausend steigen. Die Coronapandemie trieb Arbeitslosigkeit und Armut in die Höhe.

Seine Stabilität bewahrte das Königreich früher, indem es den Stämmen, traditionell das „Rückgrat der Monarchie“, Unterstützung und Jobs gewährte. Außerdem wurden wichtige Güter stark subventioniert. Doch der Staat hat inzwischen Schulden für mehr als 40 Milliarden Dollar und einen aufgeblasenen öffentlichen Dienst. Die Sparmaßnahmen, die das Land mit dem Internationalen Währungsfonds vereinbart hat, haben dazu geführt, dass einige Subventionen gestrichen wurden. Dies trifft jetzt auf einen Anstieg der Lebenskosten durch die Pandemie und den Ukrainekrieg.

Der Arabische Frühling ging an Jordanien relativ spurlos vorbei. In den vergangenen Jahren gab es aber immer wieder Proteste, gegen Preiserhöhungen, Korruption oder niedrige Gehälter. Sie wurden unterdrückt, schwelen aber weiter unter der Oberfläche. Vor zwei Jahren gab es Massenverhaftungen nach Streiks der Lehrergewerkschaft, die Gewerkschaft selbst wurde verboten. 2021 und Anfang 2022 hatte es wieder vereinzelte Demonstrationen gegeben, laut Medienberichten soll teilweise sogar der König kritisiert worden sein, was in Jordanien ein Tabu ist.

Die jüngsten Proteste haben sich an den hohen Benzin- und Heizölpreisen entzündet, doch diese sind nur ein Symptom tiefer sitzender Probleme. Es geht auch um Armut und Perspektivmangel, vor allem für die Jüngeren. Die Arbeitslosigkeit liegt in Jordanien bei 22,6 Prozent, unter jungen Menschen sogar bei knapp 50 Prozent. Der Durchschnittslohn beträgt etwa 700 Euro, der Mindestlohn etwa 350 Euro. Es geht aber ebenso um Repression und mangelndes Vertrauen in die politischen Institutionen des Landes. Laut einer jüngsten Umfrage des Forschungsinstituts Nama und der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung denken 64 Prozent der befragten Student*innen, dass ihr Stamm ihre Interessen am besten repräsentiert, nur 5 Prozent denken jedoch dasselbe über die Regierung. 63 Prozent gaben an, nicht für politische Parteien stimmen zu wollen. Auf die Frage, welches System das beste sei, um Probleme zu lösen, war die meistgewählte Antwort: „Ein System geregelt durch das islamische Gesetz, ohne politische Parteien oder Wahlen“.

العربية: وسط عمّان Englisch: Central Amman

Jordanien ist eine Monarchie mit parlamentarischem System, der König hat aber einen großen Einfluss auf das politische Leben. Bei den Wahlen haben die Stämme Gewicht, Parteien spielten bislang keine große Rolle – die einzig erfolgreichen waren die islamischen. Bei den letzten Parlamentswahlen gingen lediglich knapp 30 Prozent der Wäh­le­r*in­nen an die Urnen.

Das soll sich jetzt ändern: König Abdullah II. hatte vor über einem Jahr politische Reformen angekündigt, die die Rolle der Parteien stärken und das politische System „modernisieren“ sollen. Die Frage ist nur: Wie? Denn im Ranking der US-Organisation Freedom House wurde Jordanien als „nicht frei“ herabgestuft, ein jüngster Bericht der NGO Human Rights Watch beklagt die Verfolgung und Schikanierung von Aktivist*innen, Jour­na­lis­t*in­nen und Gewerkschaftler*innen. Die Stabilität scheint zunehmend vom Sicherheitsapparat gewährleistet zu werden. Selbstzensur ist sogar unter Jour­na­lis­t*in­nen sehr verbreitet. Im April hatte der Halbbruder des Königs, Prinz Hamza, angekündigt, auf seinen Titel zun verzichten. In jordanischen Medien hat man kaum davon gelesen. Und über die Vorfälle rund um die Lehrergewerkschaft gab es vor zwei Jahren eine Nachrichtensperre.

Quelle         :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     — Eine Kombination für die Bilder von ِAmman, Jordanien. Der Ort, an dem die Bilder von rechts nach links und von oben nach unten aufgenommen wurden: Ammans Skyline von Sport City aus gesehen, Herkulestempel in der Zitadelle von Amman, Omayyaden-Palast, osmanischer Hejaz-Bahnhof, römisches Theater, Abdoun-Brücke, König-Abdulla-I-Moschee und Raghadan-Fahnenmast.

Abgelegt unter Medien, Nah-Ost, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Die Natur schlägt zurück

Erstellt von Redaktion am 4. Januar 2023

Die Kältekatastrophe in den USA

File:Main Street inmitten des Wintersturms November 2022, Buffalo, New York - 20221120.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      :    Klaus Hecker

Aber stimmt das überhaupt? Unbestreitbare Tatsache ist, dass ungeheure Schneemassen über Teilen der USA niedergegangen sind und eine sibirische Kältewelle diese Gebiete heimgesucht hat.

Abertausende waren eingeschlossen und bibberten sich zu Tode. Ja, und es gab auch nicht wenige Tote.

Aber wieso wird die Natur in Gestalt des Winters und einer Kältewelle dafür verantwortlich gemacht. Wir befinden uns im entwickeltesten Industriestaat der Welt mit Silicon Valley and so on.

Die jeweiligen natürlichen Verhältnisse, auch wenn sie von grimmiger Kälte sind, stellen bestenfalls äußerliche Bedingungen dar, mit denen umzugehen ist.

Strom- und Wasserversorgung brachen vielerorts zusammen

Und das machen die Amerikaner ja auch, aber wie? Ich greife mal einen Punkt heraus, nämlich die Stromversorgung. 90% der amerikanischen Stromversorgung ist als marode einzustufen, mit äußerst anfälligen Strommasten im Überlandverkehr. Und das blieb auch so, obwohl es ja in den letzten Jahrzehnten etliche Zusammenbrüche des Stromnetzes gegeben hat. Begründung: Sanieren und Leitungen unter die Erde legen, sei zu teuer.

Das neu aufgelegte Mondprogramm Artemis kostet nieder angesetzt 98 Mrd. Dollar, laut FAZ. Der Afghanistankrieg kostete 32,2 Billionen Dollar – eine Billion hat 12 Nullen.

Teuer ist also keine absolute Zahl, im Sinne von – das ginge sachlich nicht, das sei Zuviel. Vielmehr wird mit „teuer“ eine relative Grösse angegeben, ein Verhältnis von Aufwand und einem angesteuerten Nutzen.

Eine winter-, katastrohengerechte Versorgung der Bevölkerung ist offenbar für die US Regierung kein Ziel, lohnt sich daher nicht.

Lehre: Der Kapitalismus könnte die einfachsten Grundbedürfnisse, oder besser Lebensbedingungen der Bevölkerung sicher stellen, möchte das aber nicht. Präziser: Der Diktatur des Profits huldigend, ist die Bevölkerung als Mittel diesen zu mehren, gerne gesehen, aber doch nicht, wenn Kosten anfallen, insbesondere, wenn sie nicht als lohnende Kosten betrachtet werden.

Zur Lage in den USA schreibt das nicht gerade revolutionäre Handelsblatt in einem ironisch tituliertem Artikel

„Die verfallenden Staaten von Amerika“ (1)

„Die USA sind nach Angaben des Auswärtigen Amts weltgrößter Absatzmarkt für Importgüter und standen als Exporteur 2013 (nur Waren) hinter China an zweiter Stelle.

In einem Land, in dem Privatvillen für 195 Millionen Dollar in Beverly Hills zum Verkauf stehen, fehlt das Geld, um Gasleitungen zu flicken. Im September 2010 verwandelte eine explodierende Gasleitung San Bruno, einen Vorort von San Francisco, in eine brennende Apokalypse. Die nachfolgenden Untersuchungen offenbarten gravierende Sicherheitsmängel in weiten Teilen der über alternden Gasversorgung. In einem Gewaltakt stellte der Energielieferant PG&E in den kommenden Jahren wenigstens die Sicherheit wieder her.

Einsturzgefährdete Brücken, löchrige Straßen, zerberstende Wasserrohre, Gasexplosionen: Es sind Horrormeldungen, die die täglichen Nachrichten im US-Fernsehen beherrschen. Die Versäumnisse sind gigantisch.“

So so, der nicht vorhandene Wille für die Versorgung Geld in die Hand zu nehmen , verwandelt das Handelsblatt in: Es fehle Geld. Unsinn, wie gezeigt.

Der auf der einen Seite vorhandene gewaltige Reichtum, bebildert mit den Villen Beverly Hills und auf der anderen Seite die verarmte öffentliche Versorgung sollen so unerklärt wie das in dem Artikel des Handelsblattes stehenbleibt, fuer sich stehend Kopfschütteln hervorrufen. Unsinn: So wie in der Ökonomie die Ausbeutung und Verarmung der arbeitenden Bevölkerung den Reichtum der anderen Seite beschert, so wird die hervorragende Energieversorgung und öffentliche Infrastruktur in Beverly Hills – von der öffentlichen Hand organisiert – ja, aus dem maroden Energieversorgungsprogramm, welches im Land besteht, herausgepresst.

Soweit, so schlecht.

Zurück zur Natur – wofür steht sie?

Eine Ursache, ein Schuldiger ist ausgemacht – die Natur.

So wird sich mehr als 200 Jahre nach der Aufklärung eines vor aufklärerischen Weltbildes bedient.

Diese dreiste Lüge von der uns überwältigenden Natur und auf der Gegenseite einer Gesellschaft, die gemeinschaftlich dagegen – hier Schneemassen – kämpft, verbreiten die Tagesschau und im Prinzip alle deutschen Gazetten mit Fleiß. Warum wohl?

(1) Die verfallenden Staaten von Amerika, Handelsblatt, 17.11.2014, Axel Postinett

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben        —    Ein Blick nach Süden entlang der schneebedeckten Main Street in Buffalo, New York, an einem Morgen im November 2022, nach einem Wintersturm, der etwa anderthalb Fuß Schnee auf die Stadt selbst und unglaublicherweise sechseinhalb Fuß in einigen Gebieten im Süden fallen ließ.

Verfasser Andre Karottenblume       /    Quelle    :     Eigene Arbeit        /       Datum    :   20.11.2022

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International Lizenz.

 

Abgelegt unter Amerika, Medien, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Verdienen statt malochen

Erstellt von Redaktion am 2. Januar 2023

Debatte um Rente mit 70

Nur Politiker-innen haben mit über 70 noch Träume, da sie nie gearbeitet haben.

Ein Debattenbeitrag von Simone Schmollack

Das liberale Modell, über die Rente hinaus weiterzuarbeiten, ist besser als die diskutierte Rente mit 70. Die Regierung muss hier standhaft bleiben.

Für Rent­ne­r:in­nen beginnt das neue Jahr mit einer guten Nachricht: Nicht nur das Ruhegeld steigt – im Westen um rund 3,5 Prozent und im Osten um 4,2 Prozent – ab 1. Januar 2023 entfallen auch die Hinzuverdienstgrenzen für Menschen im vorzeitigen Ruhestand. So hat es das Bundeskabinett Ende August 2022 beschlossen und so tritt es jetzt in Kraft. SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil begründet den Vorstoß damit, dass die Bundesregierung „den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand flexibel“ gestalten möchte – und das dauerhaft für alle Betroffenen, insbesondere für jene Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht bis zum offiziellen Renteneinstiegsalter arbeiten können oder wollen. Bislang war die Summe, die Früh­rent­ne­r:in­nen verdienen durften, ohne dass ihnen der zusätzliche Verdienst auf die Rente angerechnet wurde oder sie dafür Steuern zahlen mussten, gedeckelt. Diese Grenze fällt jetzt komplett weg.

Der Grund für die „Großzügigkeit“ der Ampel erschließt sich sofort: Arbeitskräftemangel. Überall fehlen Fachkräfte, vor allem in der Kinder-, Jugend- und Sozialarbeit, in den Schulen und Kitas, in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, in der Suchtberatung – also überall dort, wo Menschen persönliche Hilfe brauchen. Im Sommer 2021 wurden dem Institut der deutschen Wirtschaft in Köln zufolge bundesweit allein 20.578 sozialpädagogische und 18.279 Pflegefachkräfte gesucht. Aber auch IT-Spezialist:innen und Hand­wer­ke­r:in­nen wie Heizungs- und Kfz-Monteur:innen sowie Kraft­fah­re­r:in­nen fehlen zuhauf.

Was es heißt, wenn die Zahl der Lkw-Fahrer:innen rapide sinkt, erlebt aktuell Großbritannien: Der Güterverkehr funktioniert nicht mehr wie sonst, Lieferketten sind unterbrochen. Das sorgt für leere Warenregale, lange Schlangen an den Tankstellen, stillstehende Fabrikproduktionen. Die britische Regierung versucht Abhilfe zu schaffen, indem sie über gelockerte Einreisebestimmungen ausländische Kraft­fah­re­r:in­nen auf die Insel lockt.

Deutschland setzt auf Vergünstigungen für einheimische Arbeitskräfte, vor allem für jene, die nicht bis zum „bitteren Ende“ malochen wollen. Zwar können manche von ihnen bereits heute schon früher in Rente gehen – so sie mindestens 35 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben und Abschläge bei ihrer Rente in Kauf nehmen. Um die niedrigere Rente aufzubessern, arbeiten viele Rent­ne­r:in­nen weiter. So wie Guntram Jordan.

Als der heute 69-Jährige vor neun Jahren vorzeitig in Rente ging, bekam er 712 Euro Ruhegeld: 800 Euro Bruttorente minus 11 Prozent Abschlag, weil er mit 60 Jahren in den Ruhestand trat. Aufgrund eines Unfalls ist er schwerbehindert und hätte, so sagt er, nicht einmal bis zu seinem wegen der Beeinträchtigung vorgezogenen Renteneintrittsalter von 63 Jahren so arbeiten können. Jedenfalls nicht so, wie das sein Job als Concierge eines großen Berliner Hotels vorsah: Dreischichtsystem, bis zu zehn Stunden stehen, das fünf bis sechs Mal in der Woche. Dazu stets freundlich und zuvorkommend sein müssen.

Hogar-de-ancianos.jpg

Ohne die Behinderung hätte Jordan, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, bis zu einem Alter von 65 Jahren und 7 Monaten arbeiten müssen. Die Geburtsjahrgänge ab 1964 müssen in der Regel arbeiten, bis sie 67 Jahre alt sind – es sei denn, sie nehmen hohe Rentenabschläge in Kauf. Guntram Jordan hat das gemacht, „obwohl meine Rente überhaupt nicht berauschend war und die Abschläge sie noch einmal gesenkt haben. Sonst wäre ich jetzt vermutlich schon tot“, sagt der Mann.

Weil er von so wenig Geld nicht leben konnte, arbeitete er als Rentner weiter. Aber so, wie er es schaffte und wollte: wenige Stunden täglich, höchstens zwei oder drei Tage hintereinander, kein Schichtsystem. Allerdings war der von ihm selbst stark reduzierten Arbeitszeit ohnehin ein gesetzliches Limit gesetzt: die damalige Hinzuverdienstgrenze von höchsten 450 Euro monatlich. Jeder Euro, den er darüber hinaus erarbeitet hätte, wäre ihm von der Rente abgezogen worden. Für Betroffene, die wie Guntram Jordan im Niedriglohnsektor arbeiten – auf dem Bau, in der Pflege, im Einzelhandel – und oft kaputte Knochen oder chronische Krankheiten haben, war dieses Limit eine harte Einschränkung. Dass die jetzt fällt, ist ein positives Signal der Ampel an alle Früh­rent­ne­r:in­nen – Fachkräftemangel hin oder her.

Quelle        :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben     —   Встреча Владимира Путина с Президентом Чехии Милошем Земаном

Abgelegt unter Deutschland_DE, Gesundheitspolitik, Mensch, Positionen | Keine Kommentare »

Zwischen den Welten

Erstellt von Redaktion am 31. Dezember 2022

Ukrainer-innen nach ihrer Flucht in  Deutschland

Viele Menschen hinter einer Absperrung, auf der anderen Seite Helfer mit Westen und Megaphonen

Von Michael Bartsch, Patrick Guyton und Dinah Riese

Vor acht Monaten hatte die taz Ukrai­ne­r:in­nen getroffen, die gerade nach Deutschland geflohen waren. Wie geht es ihnen heute?

Kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hat die taz im April Menschen getroffen, die einzeln oder mit ihren Angehörigen nach Deutschland geflohen waren. „Vier von fast 400.000“ schrieben wir damals (online unter taz.de/Gefluechtete). Zu einer Ukrainerin, die es nach Karlsruhe verschlagen hatte, haben wir den Kontakt verloren. Die anderen Geflüchteten haben wir gegen Ende des Jahres noch einmal getroffen, um zu erfahren, wie es bei ihnen weiterging.

Valentina, Radeberg

Die Eineinhalbzimmerwohnung in einem Plattenbau am Rand von Radeberg in Sachsen wirkt noch sehr provisorisch eingerichtet. Stühle stehen mehr zufällig herum, Waschmaschine und Herd sind noch nicht angeschlossen, die Spüle lehnt noch an der Wand. Für das Gespräch werden Sitzgelegenheiten zusammengeschoben.

Bis vor drei Wochen hatte Valentina, 64 Jahre alt, aus Tscherniwzi in der Bukowina, noch bei Cornelia Pfeil im acht Kilometer entfernten Dresdner Vorort Langebrück gewohnt. Ihren ganzen Namen möchte Valentina nicht öffentlich machen. Sie war eine von drei Frauen, die seit März in Pfeils ausgebautem alten Bauernhof wie in einer Flüchtlings-WG lebten. Für die anderen beiden Frauen und das sechsjährige Schulkind Milena hatte Pfeil bereits im April eine eigene Wohnung gefunden.

Auch für Cornelia Pfeil war es jetzt nicht einfach, ein Treffen mit Valentina zu organisieren. Sie neigt dazu, sich abzuschotten. Bis zu ihrer ersten dreiwöchigen Heimfahrt im September in die Westukraine zeigte sie auch wenig Antrieb, die deutsche Sprache zu lernen, pflegte kaum Verbindungen mit Landsleuten im Raum Dresden. Bei unserer Begegnung Mitte Dezember ist sie dann aber aufgeschlossen und gefasst. Schon vor acht Monaten kamen die emotionalsten und lebensklügsten Sätze der drei Frauen aus Langebrück von Valentina, die als einfache Marktfrau in ihrer Heimat gearbeitet hatte.

Auch in Deutschland hat sie einen Job gefunden, durch Vermittlung Cornelia Pfeils in einer Gärtnerei im Nachbardorf. „Das hat mir sehr gefallen, wir haben mit Deutschen, Polen und Ukrainern freundschaftlich zusammengearbeitet“, sagt Valentina. Und dass sie sich darauf freue, wenn es dort im März weitergeht – jetzt ist in der Gärtnerei Winterpause. Sie brauche die Motivation zum frühen Aufstehen ebenso wie die Kontakte mit anderen Menschen, sagt Valentina. Schon beim ersten Treffen im April erklärte sie, dass sie ihren Lebensunterhalt zumindest teilweise selbst verdienen möchte. Sie wolle nicht nur dem Gastgeberland auf der Tasche liegen.

Das alles übersetzt sicherheitshalber eine freundliche russischstämmige Musiklehrerin, aber Valentina hat auch einige Brocken Deutsch gelernt. Sie kann sich nach dem Weg und einfachen Informationen erkundigen. „Entschuldigung“, lautet jedes dritte Wort von ihr auf Deutsch.

Eine genaue Übersetzung ist besonders wichtig bei dem, was sie über ihre Heimat und ihre „gespaltenen Empfindungen“ im deutschen Exil sagt. „Hier ist es wie im Märchen“, sagt Valentina. „Man kommt mit nichts und erhält alles, das gibt es sonst nirgendwo.“ Überschwänglich lobt sie Cornelia Pfeil, die sich „rührend um mich gekümmert hat“. Und doch: „Mein Herz will natürlich zurück in die Ukraine.“ In ihre westukrainische Heimat könnte sie derzeit auch halbwegs gefahrlos zurückkehren, aber sie zögert.

Es wird nicht ganz deutlich, welche Wirkung die drei Wochen Heimatbesuch bei ihr hinterlassen haben. Ihr Sohn dient in der ukrainischen Armee, musste aber nach Gallenproblemen während der Ausbildung operiert werden und ist nicht einsatzfähig. „Ich bin stolz auf unsere Männer, die die Ukraine beschützen“, sagt Valentina. „Ich bete täglich für sie, und so viele sind schon gestorben.“

Ihr Besuch zu Hause scheint aber auch ihre Hoffnungen auf ein baldiges Kriegsende und ihre dauerhafte Rückkehr gedämpft zu haben. Selbstverständlich wünscht sie sich, „dass alles gut wird und die Kinder und Enkel in einem befreiten Land aufwachsen können“. Aber sie kann sich heute schwerer als zuvor vorstellen, „dass das Volk das, was es erlebt hat, verzeihen kann“. Die Russen haben viele Zivilisten getötet, Kinder entführt, das halbe Land „vernichtet“. Auch ihre Eltern wurden von den Russen erschossen.

Ob all das mit einem Friedensabkommen jemals gut werden kann? „Die Wunde wird wahrscheinlich noch lange offen bleiben“, sagt Valentina und wiegt nachdenklich den Kopf. Und das, obschon sie sich gut an die Zeit in der gemeinsamen Sowjetunion erinnert, „in der wir das Letzte, was wir hatten, geteilt haben“. Deshalb scheint sie sich nach ihrem Heimatbesuch nun stärker um Integration in Deutschland zu bemühen.

Zu den anderen geflüchteten Frauen, die zunächst zusammen mit Valentina bei ihr wohnten, hat Cornelia Pfeil seit deren Auszug kaum noch Kontakt, aber besonders mit einer von ihnen hatte sie schon in den wenigen Wochen in Langebrück Probleme wegen ihrer Anspruchsmentalität. Nehmen, was zu bekommen ist in Deutschland, sei der Plan gewesen – das war zumindest der Eindruck von Pfeil.

Die ehemalige Gastgeberin spricht lachend über ihr „Helfersyndrom“. Sie würde aber künftig genauer hinschauen, wen sie sich ins Haus holt, sagt sie. Am 5. März dieses Jahres, als sie spontan einem Vermittlungsangebot folgte und die durch den Auszug von drei ihrer vier Kinder frei gewordenen Plätze in ihrem Haus anbot, wusste sie das nicht. Ernüchtert haben sie auch die Erfahrungen mit deutschen Behörden. Die Vermittlung Valentinas in eine preiswerte Wohnung für 335 Euro im Monat scheiterte, weil das finanzierte Limit bei 333 Euro liegt.

Valentina feiert in diesem Jahr nicht russisches Neujahr und nicht das atheistische Jolka-Fest, aber in bescheidenem Maß feierte sie deutsches Weihnachten mit Besuchen und Anrufen zu Hause. Ihre nächsten Schritte? Die kahle Wohnung gemütlich einrichten und sich auf Arbeit und mehr Selbstständigkeit vorbereiten. Zum Abschied wünscht sie: „friedlichen Himmel über allen“.

Marianna Kazatska und Marina She­miat­­kina, München

„I’m fine“ – mir geht es gut, sagt Marina Shemiatkina in einem Besprechungsraum ihres Arbeitsgebers WTS im Münchner Werksviertel. Die 45-Jährige aus der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw ist Juristin, WTS ist eine große, internationale Steuerberatungsgesellschaft. She­miat­kina hat hier einen Job, schon in ihrer Heimat hatte sie für den ukrainischen Partner von WTS gearbeitet. Als der Krieg begann, waren sie und ihre Arbeitskollegin Marianna Kazatska mit ihren Kindern im Auto zunächst ins Ungewisse geflohen. An der polnisch-deutschen Grenze kam dann der Anruf von WTS: Sie sollen nach München fahren, alles sei vorbereitet. Am 6. März kamen sie an.

Mit ihrer Tochter lebt Shemiatkina in einer Dreizimmerwohnung in Kirchheim im Osten von München. Die 16-Jährige geht aufs Gymnasium, ist in der zehnten Klasse und macht viel Sport. „Vor allem Leichtathletik“, sagt ihre Mutter. Der Vater lebt in Kyjiw, das Paar ist seit Langem geschieden. In She­miat­kinas Wohnung in Kyjiw sind wiederum Freunde eingezogen. „Sie kommen aus der Ostukraine und mussten fliehen.“

Arbeit, Wohnung, Kind in der Schule – also offenbar alles im Griff in Deutschland. Und doch fängt Shemiatkina an zu weinen, wenn sie von ihrer Mutter erzählt. Die wohnt in einem Haus auf dem Land bei Kyjiw. „Da ist mittlerweile kaum jemand mehr“, sagt sie, „alle sind geflohen.“ Vor der Flucht hat sie der Mutter ihren Hund gebracht, die Katze, den Papagei.

Innerhalb von sechs Stunden musste Shemiatkina im März entscheiden, ob sie das Angebot von Marianna Kazatska annimmt. Die hatte ihr abends gesagt, dass sie am nächsten Morgen ganz in der Früh aufbricht, mit ihrer Mutter und den drei Kindern, heute 11, 8 und 1 Jahr alt – es wäre noch Platz im Auto. Ihren Mann Alexander musste Kazatska zurücklassen, Männer in wehrfähigem Alter dürfen die Ukraine nicht verlassen.

Jetzt arbeitet Marianna Kazatska ebenfalls bei WTC, in der Marketingabteilung. „Ich kümmere mich etwa um die internationale Homepage“, erzählt sie. „Die ist auf Englisch.“ Es hat sich viel getan seit dem Frühjahr. Erst war sie in eine Wohnung gezogen, die eine Bekannte von Bekannten zur Verfügung gestellt hatte. Im Juni durfte dann auch ihr Mann Alexander nach Deutschland kommen, denn Väter von mindestens drei minderjährigen Kindern wurden in der Ukraine von der Einberufung in die Armee freigestellt.

Nun lebt die Familie Kazatska in einer Doppelhaushälfte im Münchner Vorort Vaterstetten. „Wir sind sehr froh darüber“, erzählt Kazatska. „Die Vermieter sind sehr nett.“ Ihr Mann Alexander hat in Kyjiw eine eigene Steuerkanzlei. Diese existiert weiterhin, allerdings fast nur digital. Er arbeitet von Vater­stetten aus im Homeoffice, die meisten Mitarbeiter sind weiter in der Ukraine, ebenfalls im Homeoffice. So wird der Betrieb aufrechterhalten. „Aber das ist schon schwierig“, sagt Marianna Kazatska. „In Kyjiw gibt es oft tagelang keinen Strom.“

Ihre elfjährige Tochter geht aufs Gymnasium und spielt viel Klavier, bald wird sie an „Jugend musiziert“ teilnehmen. Die Achtjährige ist in der Grundschule, um den Einjährigen kümmert sich die Oma. Deren Mann wiederum ist in der Heimat in der Ostukraine geblieben – „ein Bauer verlässt sein Land nicht“, sagt Kazatska über ihren Vater. Als die Kämpfe in der Nähe seines Dorfs zu heftig wurden, zog er für einige Zeit in die leere Wohnung von Marianna und Alexander in der Hauptstadt. Jetzt ist er wieder zurück im Osten.

Die Kinder kommen so weit alle gut zurecht. „Sie spüren aber, dass sie Flüchtlinge sind“, erzählt Kazatska. Die Grundschülerin etwa hätte nicht gewagt, der Lehrerin zu erzählen, dass sie von einem Mitschüler geschlagen wurde. „Sie dachte, dass sie dann von der Schule ­gehen muss.“

Marina Shemiatkina und Marianna Kazatska wissen beide nicht, wie es weitergeht. „Ich gehe nur zurück, wenn es für meine Kinder zu hundert Prozent sicher ist“, sagt Kazatska. Ihre Freundin plant, dass ihre 16-jährige Tochter wohl in Deutschland das Abitur machen wird.

Quelle      :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben      —     Empfang von Flüchtlingen am Berliner Hauptbahnhof. Viele Berliner boten dort freiwillig einen Schlafplatz in ihrer Wohnung an.

Abgelegt unter Flucht und Zuwanderung, Kriegspolitik, Medien, Mensch | Keine Kommentare »

DIE LINKE im Jahr 2023 ?

Erstellt von Redaktion am 31. Dezember 2022

 Das entscheidende Jahr für DIE LINKE ?

BEIDE  –  WIE und WOHIN ?

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Edith Bartelmus-Scholich

Das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 als DIE LINKE mit 4,9 Prozent nur durch ihre drei Direktmandate in den Bundestag einzog, hat der Partei auferlegt nach den Ursachen ihres Abstiegs zu suchen und die Weichen neu zu stellen.

Diese Aufgaben hat sie nur ungenügend erledigt und im Laufe des Jahres 2022 hat sich ihre Lage noch verschlimmert. Während sie von Wahlniederlage zu Wahlniederlage taumelte (LTW Schleswig-Holstein 1,7%, Saarland 2,9 %, NRW 2,1%, Niedersachsen 2,7%), verließen die Mitglieder zu tausenden die Partei. Diese ist nun außerhalb der Parlamente vielerorts kaum noch handlungsfähig. Der Bundesparteitag im Juni musste sich neben der linken Existenzfrage von Krieg und Frieden mit Sexismus und sexuellen Übergriffen vornehmlich gegen Frauen beschäftigen. Bei beiden Themenblöcken wurden Beschlüsse gefasst, die eine Minderheit nicht zufriedenstellen. Und diese Minderheit um Sahra Wagenknecht erwägt seitdem ein eigenes sozialkonservatives Parteiprojekt zu starten. Gleichzeitig kündigen sich schon jetzt Wahlniederlagen im Jahr 2023 an. DIE LINKE.Hessen wird heute zur Landtagswahl im Herbst 2023 mit 1,5% umgefragt.

Wieso die Spaltung droht

Von Anfang an war DIE LINKE als plurale Partei konzipiert worden. Nur so war gesichert, bundesweit parlamentarisch wirksam zu werden. Und das war das eigentliche Ziel der Fusion aus Linkspartei.PDS und WASG. Zwei Partner, die aufgrund unterschiedlicher eigener Schwächen allein den Einzug in den Bundestag eher verfehlen würden, erreichten dieses Ziel gemeinsam. Von Anfang an waren die Differenzen in dem politischen Zweckbündnis hinderlich für einen nachhaltigen Erfolg. Dennoch konnten zunächst tragfähige Kompromisse zwischen den Parteiflügeln mit ihren unterschiedlichen strategischen und taktischen Ansätzen geschlossen werden. Heute ist das praktisch unmöglich geworden.

Die Zeit nach 2007 war politisch anspruchsvoll. Auf die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008, von der DIE LINKE noch profitieren konnte, folgte ein weltweiter Rechtsruck, der sich in Deutschland auch am Aufstieg der AfD festmachen lässt. Gleichzeitig nimmt mit dem Klimawandel, dem Artensterben und der Erschöpfung vieler Rohstoffe eine planetare Krise Fahrt auf, die von einer linken Partei völlig neue Antworten verlangt. Und zuletzt ist nach vier Jahrzehnten Neoliberalismus der Widerstand der gesellschaftlich progressiven Kräfte enorm geschwächt.

Auf diese Problemstellungen hätte die Partei Antworten finden müssen. Doch dies misslang. Auf dem Parteitag 2012 in Göttingen stand die Partei vor der Spaltung. Angesichts von strategischen und taktischen Differenzen sahen sich viele um die Hoffnungen, die sie mit dem Projekt verbunden hatten, betrogen und die Bereitschaft alte Gewissheiten auf den Prüfstand zu stellen um neue tragfähige Lösungen zu erarbeiten, war nicht mehr gegeben. In einem langwierigen und kleinschrittigen Prozess erarbeitete sich die Parteispitze aus Bernd Riexinger und Katja Kipping eine Mehrheit für eine sozial-ökologische Politik auf Basis der verbindenden Klassenpolitik. Da aber eine Minderheit die Neuausrichtung ablehnte, kam es in der Folge vor allem in Wahlkämpfen ständig zu Kompromissen auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners. Gleichzeitig hatte „das Trauma von Göttingen“ für die Partei negative Auswirkungen: Strittige Themen wurden nicht mehr offen innerparteilich diskutiert und Mehrheitsentscheidungen wurden in der politischen Praxis oft nicht mehr durchgesetzt.

In den zehn Jahren nach dem Göttinger Parteitag entwickelten sich die Flügel der Partei an den praktischen politischen Herausforderungen auseinander. Dabei wurden tiefgreifende Spaltungslinien sichtbar.

2015 und 2016 gab die Mehrheit der Partei eine internationalistische, inkludierende Antwort auf die „Flüchtlingskrise“. Wagenknecht stellte dem eine nationalistische, exkludierende Position entgegen. Darauf folgte seit 2017 und 2018 eine Sammlung zunächst als „Team Sahra“ und dann als „AUFSTEHEN“ um Druck aufzubauen und eine Veränderung der Beschlüsse zu erreichen. Dabei formierte sich um Wagenknecht ein sozialkonservativer Flügel, der sich nicht nur gegen die Migrationspolitik wendet, sondern auch die verbindende Klassenpolitik und die sozial-ökologische Transformation ablehnt. Wagenknecht schloss die Formierung dieses Flügels 2021 mit ihrer Streitschrift „Die Selbstgerechten“ ab. In dieser stellt sie ein Programm um die zentralen Werte Nation, Leitkultur und Leistungsgesellschaft vor und schlägt eine Klassenzusammenarbeit zwischen den leistenden Teilen der Arbeiterschaft und den leistenden Teilen der nationalen Bourgeoisie vor. Sie offenbart ein geschlossen rechtes Weltbild. Sie hat vor der Herausforderung des weltweiten Rechtsrucks kapituliert. Sie bedient rechte Narrative und schlägt politische Lösungen vor, für die sie Beifall aus der AfD erhält. Sie holt sich Zustimmung nicht in der Partei oder der gesellschaftlichen Linken sondern aus rechten Protestbewegungen.

Die Idee des sozialkonservativen Flügels ein eigenes Parteiprojekt zu starten, ist nur folgerichtig. Formelkompromisse um den sozialkonservativen Flügel um jeden Preis in der Partei zu halten, sind nicht zielführend, denn DIE LINKE muss mit einem klaren, zukukunftsweisenden Programm auftreten, will sie überleben.

Krieg, Verarmung, Klimawandel: Die Weichen neu stellen

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat linke Gewissheiten erschüttert. DIE LINKE steht vor der Aufgabe sich als Friedenspartei neu aufzustellen und rasch zu konsolidieren. Dazu muss sie Pazifismus und Antimilitarismus – beide unverzichtbar – neu ausbuchstabieren. Ihre Friedenspolitik muss die Lohnabhängigen, die unter einem Krieg leiden oder in diesen hineingezwungen werden, gleichermaßen berücksichtigen. Sie muss sich zudem gegen kriegführende Eliten und Profiteure eines Krieges richten. Dafür braucht es grundsätzliche, praktikable und in Maßen flexible politische Vorschläge. Am Anfang eines solchen zielgerichteten Prozesses muss zwingend eine breite innerparteiliche Debatte stehen.

Wer und wo sind die Weichensteller-Innen ? Sahra ?

Die Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln werden tiefgreifende Folgen für die Gesellschaft haben: Die Anzahl der Armen wird deutlich steigen, viele Haushalte werden Not leiden. Es wird zu viel mehr Strom- und Gassperren kommen als bisher und auch der Anteil der Obdachlosen wird zunehmen. Auch Menschen, die sich bisher zur Mittelschicht zählen, werden verarmen. Es war daher richtig, dass DIE LINKE im Herbst 2021 zu Protesten aufgerufen hat. Es gibt aber sehr zu denken, dass sie nur wenige Betroffene mobilisieren konnte. Sie muss sich überlegen mit welchen niederschwelligen Angeboten sie ärmere Menschen noch aktivieren kann. Vielleicht sollte sie die Facette der Kümmerer-Partei wieder mehr pflegen? Gleichzeitig benötigt sie politische Lösungen, die Armut wirksam verhindern. Hier hat die Mitgliedschaft der Parteispitze eine Entscheidung abgenommen: Im Herbst 2021 sprach sich eine deutliche Mehrheit (57%) der Mitglieder in einem Mitgliederentscheid dafür aus ein emanzipatorisches Grundeinkommen in das Programm aufzunehmen.

Die von den Grünen verantwortete Klima- und Umweltpolitik der Bundesregierung ist ein Desaster. Durch langfristige Bindungen an fossile Energieträger werden mehr klimaschädliche Emissionen erzeugt werden, als mit dem 1,5°-Ziel verträglich sind. Die Grünen haben alle Wahlversprechen zum Erhalt des Dorfes Lützerath gebrochen. Die Braunkohle unter dem Dorf darf abgebaggert werden, obwohl sie nicht zur Versorgungssicherheit benötigt wird. Bereits auf dem Gelände stehende Windkraftanlagen werden abgebrochen und verschrottet. Die Stimmung in der Klimagerechtigkeitsbewegung ist von Ernüchterung und Wut geprägt. DIE LINKE hat bereits ein weit gehendes Programm für einen sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft entwickelt. Sie muss es jetzt konkretisieren und offensiv gegen die Illusion eines „grünen Kapitalismus“ vertreten. Damit stellt sie sich auch der bedeutendsten Herausforderung der Zukunft: Das Klima erträglich halten, damit der Planet nicht noch mehr geschädigt wird und damit die Folgen der Erderwärmung auch für den ärmeren Teil der Bevölkerung erträglich bleiben.

Radikale, emanzipatorische Realpolitik

Bald nach der Bundestagswahl 2021 erstellte die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Analyse für DIE LINKE. Im Ergebnis bleibt danach festzuhalten, dass sich die potentiellen WählerInnen von der Partei vor allem die organische Verbindung von sozialer und ökologischer Politik wünschen. Weiterhin sagte eine Mehrheit der Befragten, DIE LINKE solle stärker antikapitalistisch auftreten.

Die multiple Krise des Kapitalismus erfordert einen Bruch mit dem System. Viele Menschen wissen das, kaum jemand hat allerdings eine Vorstellung wie so etwas funktionieren kann. Dieses Spannungsverhältnis lähmt. Will DIE LINKE erfolgreicher werden, muss sie an den Problemen der Menschen vor Ort ansetzen und gleichzeitig sowohl glaubwürdiger als auch radikaler werden. Sie sollte sich dabei vor appellatorischen Auftritten und vor Stellvertreterpolitik hüten. Statt dessen soll sie Politik nicht für sondern mit den Lohnabhängigen machen. Das geht auf jeder Ebene und in jedem Umfang. Es erfordert Offenheit und den Mut praktische politische Lösungen mit den Betroffenen und vor Ort zu erarbeiten.

DIE LINKE muss dabei die Werte, die sie für sich reklamiert, in der Partei und in ihrer praktischen politischen Arbeit mindestens auffindbar machen. Niemand nimmt einer Partei das Ziel einer solidarischen Gesellschaft ab, wenn nicht einmal in der Partei der Umgang solidarisch ist. Wer die Wirtschaft demokratisieren will, aber sich mit innerparteilicher Demokratie schwer tut, wird unglaubwürdig. Und, wer sich als feministische Partei versteht, aber Sexismus, Übergriffe und Antifeminismus duldet, erst recht.

Das kommende Jahr wird für DIE LINKE darüber entscheiden, ob sie als bundespolitische Kraft auch nach 2025 erhalten bleibt. So sehr es eine linke Partei in den Parlamenten braucht, so wenig wird das ein Selbstläufer. Das immerwährende „Weiter so“, der Zweckoptimismus und die Scheu politische und organisatorische Entscheidungen zu treffen, hat die Partei an den Rand des Abgrunds gebracht. Die nächste Halbherzigkeit führt in die politische Bedeutungslosigkeit.

Edith Bartelmus-Scholich, 30.12.2022

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-cc

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben      —     Politik, News, Bundesparteitag Die Linke: die neu gewählten Parteivorsitzenden Martin Schirdewan und Janine Wissler

*********************************

Unten      —       Einfache Weichen und Kreuzungsweichen im Frankfurter Hauptbahnhof

Abgelegt unter Berlin, P. DIE LINKE, Positionen, Schicksale | 1 Kommentar »

Räumung Lützerath stoppen

Erstellt von Redaktion am 29. Dezember 2022

„Stoppen Sie die Räumungsvorbereitungen in und um Lützerath!“

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Michael Zobel aus Aachen – Naturführer und Waldpädagoge

Offener Brief an Innenminister H. Reul, Wirtschaftsministerin M. Neubaur, Ministerpräsident H. Wüst, Landrat S. Pusch, Polizeipräsident D. Weinspach, Bischof H. Dieser, Bürgermeister S. Muckel, an alle rund um Lützerath eingeplanten Polizistinnen und Polizisten…

Guten Tag zusammen,

Ende 2022, in wenigen Tagen beginnt das neue Jahr. Gute Wünsche? Das wird besonders zum Start 2023 schwierig. Beginnen wir tatsächlich mit der Räumung und endgültigen Zerstörung von Lützerath? Haben wir nichts gelernt, begehen wir die gleichen Fehler immer wieder?

Die Maschinerie scheint zu rollen, unaufhörlich.

Stimmen überhaupt die veröffentlichten Gründe, die die kommende Räumung legitimieren sollen? Es ist alles unausweichlich? Lützerath muss in wenigen Tagen geräumt und zerstört werden, um die Energieversorgung unseres Landes in diesem Winter zu sichern?

So ist es angekündigt, alle Verantwortlichen haben sich auf diese Erzählung geeinigt.

Ich sage, alle vermeintlichen Fakten beruhen auf vorgeschobenen Gründen, auf Vorwänden, genau wie 2018, als der Hambacher Wald geräumt wurde. Damals war es der angeblich fehlende Brandschutz (inzwischen vom Gericht als Vorwand geoutet), jetzt sind es die Energiekrise, der Krieg und die Versorgungssicherheit.

Obwohl diverse Studien, auch im Namen der Bundesregierung, das Gegenteil beweisen, auch in Zeiten des Krieges und des zusätzlichen Kohlebedarfs wird die Kohle unter Lützerath eben nicht gebraucht. Alle jetzt herangezogenen Gutachten zur angeblich unvermeidbaren Inanspruchnahme von Lützerath beruhen ausschließlich auf Zahlen und Berechnungen von RWE. Erinnert sich noch wer? In 2018 hieß es, ohne die sofortige Rodung des Hambacher Waldes wäre die Stromversorgung NRWs gefährdet…   sind bei Ihnen die Lampen ausgegangen?

Stattdessen ist die Räumungsmaschinerie in vollem Gang, unter anderem

– um die besten landwirtschaftlichen Böden NRWs zu vernichten

– um dutzende von geschützten Tieren aus den Winterquartieren zu vertreiben

– um viele jahrhundertealte Bäume zu fällen

– um denkmalgeschützte Gebäude und Höfe und Kulturdenkmale abzureissen (erinnert sich wer an den Aufschrei bei Kartoffelpürree auf Glascheiben vor Gemälden…?

– um unüberschaubare Kosten zu generieren, die Räumung im Hambacher Wald hat zwischen 30 und 50 Millionen Euro gekostet…

– um schwerste Verletzungen und Traumatisierungen von Menschen auf beiden Seiten zu riskieren, wieso sind eigentlich die Politiker*innen noch im Amt, die die rechtswidrige Räumung 2018 zu verantworten haben, in deren Verlauf der junge Blogger Steffen Meyn starb?

– um einzig und allein die wirtschaftlichen Interessen eines Konzerns (RWE) zu sichern, der selber sagt „Ein Umplanen oder gar Verkleinern des Tagebaus, um Lützerath zu schonen, ist nur unter betriebswirtschaftlichen Einbußen möglich.“

– um die völkerrechtlich verbindliche Einhaltung des 1,5 Grad-Zieles vollkommen unmöglich zu machen

– um Fakten zu schaffen, obwohl entgegen aller Behauptungen eben nicht alles rechtlich geklärt ist, die Eibenkapelle in Lützerath ist im Besitz der katholischen Kirche, eine Wiese gehört nicht RWE, weitere Prozesse sind anhängig

– um ein zweifelhaftes Rechtsverständnis zu zementieren, ist es ein Zufall, dass Landrat Pusche in seiner Neujahrsansprache die Aktivisten in Lützerath und die Reichsbürger in einem Atemzug nennt?

– um das Vertrauen vieler vor Allem junger Menschen in die Glaubwürdigkeit von Politik vollends zu erschüttern. Es ist noch nicht lange her, da haben viele der jetzt handelnden Politiker*innen Wahlkampf mit dem Erhalt von Lützerath gemacht. Frei nach dem Motto: Was schert mich das Geschwätz von gestern…

Werte Politiker*innen, werte Entscheidungsträger*innen, werte Polizist*innen, ich und viele andere Menschen appellieren an Sie:

Stoppen Sie die Räumungsvorbereitungen in und um Lützerath!

Sorgen Sie für eine dauerhafte Befriedung im Rheinischen Revier.

Damit die 1,5 Grad-Grenze eingehalten wird, muss die Kohle unter Lützerath im Boden bleiben! Die Landesregierung muss mit RWE ein Räumungsmoratorium für Lützerath vereinbaren. Statt auf eine unnötige Eskalation der Situation unter Gefährdung von Menschenleben zu setzen, sollten Gespräche für eine friedliche Lösung vereinbart werden.

Die Braunkohle unter Lützerath wird auch in der aktuellen Krisensituation nicht benötigt. Versorgungssicherheit braucht Investitionen in erneuerbare Energien. Für 100 Prozent Sonne und Wind! Die Zukunft ist Erneuerbar.

RWE versucht am Tagebau Garzweiler Fakten zu schaffen. Doch Deutschland und die Welt können sich die Klimaschäden durch die rheinische Braunkohle nicht länger leisten.

Aus allen diesen Gründen appellieren wir an Sie: Sorgen Sie bitte dafür, dass die Vorbereitungen zur Räumung von Lütezrath umgehend eingestellt werden.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns einen gesegneten Jahreswechsel und ein räumungsfreies 2023.

Mit freundlichen Grüßen,

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-cc

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben      —       Westlicher Ortseingang aus Richtung Landstraße 277 im Januar 2018

Abgelegt unter Medien, Nordrhein-Westfalen, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Lügen über Katalysatoren

Erstellt von Redaktion am 28. Dezember 2022

Die Lüge von den wirksamen Katalysatoren

Quelle      :        INFO Sperber CH.

Esther Diener-Morscher /   

Die heutigen Katalysatoren funktionieren noch immer viel zu schlecht. Weil die Autoindustrie von laschen Vorgaben profitiert.

Marc Gonin fährt jeden Morgen mit dem Velo durch zwei Wohnquartiere zur Arbeit. Ihm fällt dabei jedes Mal auf, dass es in den Quartieren viel mehr nach Abgasen stinkt als in der Thuner Innenstadt. Nun ist Marc Gonin nicht nur Velofahrer, sondern auch Physiker und Chef der Thuner Firma Tofwerk. Diese stellt Geräte her, die Luftverschmutzungswerte messen. Deshalb ging er den Ursachen für seine Sinneseindrücke mit wissenschaftlichen Methoden auf den Grund.

Geräte messen im Sekundentakt

In einem Gastbeitrag im Velojournal zeigte er, wie es um die Luftqualität in Thun bestellt ist. Eine Besonderheit seiner Messstation ist, dass sie nicht nur Durchschnittswerte über eine Viertelstunde liefert, sondern die Luftqualität im Sekundentakt messen kann. Das Gerät zeigte einzelne, sehr hohe Schadstoffspitzen, die bis das Zwanzigfache der Durchschnittswerte betrugen. Die Luftverschmutzung sei wie Lärm neben einem Schiessstand, kurze aber unglaublich intensive Ereignisse, kommentierte Gonin die gemessenen Werte.

Er fragte sich, warum das so ist und kam zum Schluss: Die Abgasbelastung stammt weitgehend von einzelnen «Stinker»-Autos, welche kurzfristig ein Hundertfaches der Immissionen eines normalen Autos produzieren. Seine Analyse an zwei Messstellen zeigte auch: Je weniger lang die Autos bereits unterwegs waren, umso mehr schädliche Stoffe stiessen sie aus.

Gonin geht davon aus, dass die Schadstoffspitzen, die er mit seinem Gerät gemessen hat und die er mit seiner Nase jeweils morgens im Quartier auch riecht, von kalten oder von kaputten Katalysatoren herrühren. Wissenschaftliche Untersuchungen geben Marc Gonin recht.

«Nur ein heisser Kat ist ein guter Kat»: Das haben zum Beispiel Viola Papetti und Panayotis Dimopoulos Eggenschwiler von der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) schon vor drei Jahren gezeigt.

In den ersten drei Minuten sind Autos unglaubliche Dreckschleudern

Bei einem Kaltstart bläst der Motor heisse Verbrennungsgase in den kalten Katalysator. Dieser muss sich aber erst aufwärmen, damit er seine chemische Reinigungswirkung entfalten kann. Solange er kalt ist, entweichen Kohlenmonoxid (CO), Stickoxide (NOx) und unverbrannte Kohlenwasserstoffe ungehindert an die Aussenluft. Die guten Emissionswerte erreichen auch moderne Fahrzeuge erst bei warmem Katalysator. Die Unterschiede sind drastisch: Bei Minus-Temperaturen stösst ein Fahrzeug in den ersten drei Minuten nach dem Kaltstart mehr Schadstoffe aus als bei einer 1000 Kilometer langen Fahrt mit betriebswarmem Motor.

Ausgerechnet die als umweltfreundlicher geltenden Hybridautos können sogar besonders viele giftige Schadstoffe absondern. Denn in der Stadt schalten sie besonders oft zwischen Elektro- und Verbrennungsmotor um. Im Elektrobetrieb kühlt der Katalysator immer wieder ab. Startet der Verbrennungsmotor danach wieder, strömen Abgase teils ungereinigt durch den Katalysator.

Den Katalysator vorzuwärmen, wäre einfach

Es gäbe eine Lösung für das Kaltstartproblem, das die Luft vor allem in Städten und bei kalten Aussentemperaturen stark belastet.

Das Empa-Forschungsteam mit Pananyotis Dimopoulos Eggenschwiler hat eine wirksame Vorheizung für Katalysatoren entwickelt. Sobald die Autotür geöffnet wird, heizt Mikrowellenstrahlung den Katalysator auf. Die dazu nötige Leistung von einem Kilowatt kommt aus der Autobatterie.

Kaltstart-Emissionen könnten somit längst Geschichte sein. Doch solche Verbesserungen der Katalysator-Wirkung kosten etwas. Viele Autohersteller begnügen sich deshalb damit, den Katalysator möglich nahe am Motor zu platzieren, damit er schneller aufgewärmt wird.

Wirksamere Massnahmen sind für die gesetzlich vorgeschriebenen Abgasmessungen nicht nötig, weil die Testbedingungen derzeit noch zu wenig streng sind. Der «Kaltstart» wird bei einer Umgebungstemperatur von 23 Grad durchgeführt.

Damit die Hersteller auf Katalysatoren umstellen, die ihre Wirkung schneller entfalten, bräuchte es strengere Abgasvorschriften. Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) setzt sich zwar gemäss eigenen Angaben «für strengere Kaltstart-Vorgaben ein, die den Temperaturen in unserem Land gerecht werden» – vorgesehen ist unter anderem auch ein Kaltstart bei minus 7 Grad –, doch bis solche Vorschriften kommen, dauert es noch mindestens bis 2025. Mindestens. Denn einflussreiche Organisationen, wie der deutsche Verband der Automobilindustrie (VDA), haben bereits Opposition gegen «die unrealistischen Extrem-Ziele» angekündet. Der Verband prophezeit «signifikante Preiserhöhungen», während die EU-Kommission abwiegelt und die Mehrkosten pro Fahrzeug auf 80 bis 180 Euro schätzt.

Die Schweiz wartet nun ab, was die EU dereinst beschliesst. Hierzulande gab es bis 1995 zwar eigene und im Vergleich mit anderen Ländern viel strengere Abgasgrenzwerte. Diese hatten denn auch zur Folge, dass sich der Katalysator in der Schweiz früher als anderswo etablierte. Seit 1995 sind die Abgasvorschriften aber vollständig mit denjenigen der EU harmonisiert.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

© Das Weiterverbreiten sämtlicher auf dem gemeinnützigen Portal www.infosperber.ch enthaltenen Texte ist ohne Kostenfolge erlaubt, sofern die Texte integral ohne Kürzung und mit Quellenangaben (Autor und «Infosperber») verbreitet werden. Die SSUI kann das Abgelten eines Nutzungsrechts verlangen.

Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —    Abgase eines Autos

Abgelegt unter Gesundheitspolitik, International, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Iran: Rund um die Rebellion

Erstellt von Redaktion am 28. Dezember 2022

Der Aufstand im Evin Gefängnis von Teheran

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von         :      Slingers Collectives   —     Übersetzung von Sūnzǐ Bīngfǎ

Dies ist die Übersetzung eines Berichts, der zuerst von Manjanigh veröffentlicht wurde, mit einigen zusätzlichen Informationen über die Geschichte und die bauliche Struktur des Evin-Gefängnisses für englische Leser, die mit dem Kontext des Gefängnisses nicht vertraut sind.

Dieser Bericht ist eine der detailliertesten Beschreibungen des Brandes im Evin-Gefängnis und der darauf folgenden Unruhen, die am 15. Oktober 2022 ausbrachen. Im Folgenden geben wir zunächst eine kurze Beschreibung der historischen und politischen Bedeutung des Evin-Gefängnisses. Dann folgt eine kurze Beschreibung der Ereignisse vom 15. Oktober, gefolgt von einer detaillierteren Darstellung aller Phasen des Aufstands auf der Station 8, dem Innenhof und der anschließenden Übergriffe auf die Gefangenen in der Sporthalle am nächsten Morgen.

Im Gegensatz zu den herablassenden Darstellungen von profitorientierten „Menschenrechts“-Organisationen zielt dieser Bericht nicht darauf ab, Gefangene zu Opfern zu machen. Vielmehr werden die an dem Aufstand beteiligten Gefangenen als die mutigen Kämpfer dargestellt, die sie sind. Diejenigen, die trotz der brutalen Unterdrückung, umgeben von Mauern aus Projektilen, zerschrammt von Schlagstöcken, ohne Schlaf, durstig, mit verbrannten Schuhen und Kleidern, vom 15. Oktober als „einer der schönsten Nächte im Evin-Gefängnis“ sprechen. Die Nacht, in der alle Kräfte des Unterdrückers (einschließlich der Gefängnisleitung, der Spezialeinheiten, der Basij-Miliz und der Polizeikräfte) und ihre Waffen dem Willen und der Entschlossenheit der Gefangenen nicht standhalten konnten. Die Nacht, in der der Unterdrücker innerhalb der Mauern seiner eigenen Gefängnisse bis ins Mark gedemütigt wurde. Der 15. Oktober machte das Evin-Gefängnis zu einem weiteren Schlachtfeld gegen die Tyrannei, parallel zu dem weit verbreiteten sozialen Aufstand. Über Evin Evin ist eines der größten und berüchtigtsten Gefängnisse, in dem politische Gefangene untergebracht sind, denen die nationale Staatssicherheit vorgeworfen wird. Das Gefängnis befindet sich auf einem 40 Hektar großen Gelände im Stadtteil Evin im Norden der Stadt Teheran. Das Gefängnis wurde in den 1960er und 1970er Jahren gebaut, aber erst 1972 in Betrieb genommen. Vor der Revolution von 1979 stand Evin unter der direkten Aufsicht und Kontrolle der SAVAK (der Geheimdienst- und Sicherheitsorganisation des Schahs).

Das Gefängnisgebäude umfasste ursprünglich 20 Hafträume und 2 Gemeinschaftsstationen mit einer Kapazität von 320 Häftlingen. In den folgenden Jahren wurde das Gefängnis um weitere Gebäude erweitert, z.B. um eine spezielle Abteilung für politische Gefangene, einen Hinrichtungshof, einen Gerichtssaal und separate Abteilungen für weibliche Gefangene und nicht-politische Häftlinge. Bis 1978 (ein Jahr vor der Revolution) verfünffachte sich die Zahl der Zellen auf etwa 100, und die nominelle Kapazität stieg auf mehr als 1500 Personen, obwohl die Zahl der Insassen mehr als doppelt so hoch war. Gegenwärtig ist das Evin-Gefängnis mit zwei- bis dreitausend Insassen belegt, und in Zeiten des Aufruhrs sind es bis zu doppelt so viele.

Evin war von Anfang an eines der berüchtigtsten politischen Gefängnisse (viel schlimmer als andere grosse Gefängnisse). Vor der Revolution gehörten die Insassen einem breit gefächerten politischen Spektrum an, das sich gegen die Pahlavi-Monarchie richtete (einschließlich verschiedener linker Gruppen, Mudschaheddin und Islamisten). Zu den wichtigsten Hinrichtungen in diesem Gefängnis gehörten die von Mitgliedern der Fedaijin (Organisation der iranischen Volksfedayin-Guerillas) und zwei Mitgliedern der Mudschaheddin (Volksmudschaheddin-Organisation des Iran) im Jahr 1975 auf den Hügeln hinter dem Gefängnisgelände. Sie wurden hingerichtet, obwohl sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden waren und nicht die Todesstrafe erhalten hatten.

Kurz nach der Revolution wurden in Evin weiterhin einige der politischen Gefangenen untergebracht, die bereits während der Herrschaft des Schahs verurteilt worden waren (hauptsächlich die linke Opposition und die Mudschaheddin). Doch erst im berüchtigten Sommer 1988 wurde das Evin-Gefängnis zum Hauptschauplatz einer der grössten Massenexekutionen von politischen Dissidenten in der Geschichte Irans. Tausende von Gefangenen aus dem ganzen Land, die des Verrats beschuldigt wurden („Apostaten“, „Atheisten“ und „eingeschworene Feinde der Islamischen Republik Iran“), wurden auf direkten Befehl Khomeinis hingerichtet. Die bauliche Struktur von Evin Evin steht unter der Aufsicht der Gefängnisbehörde, einer staatlichen Organisation, die der Justiz untersteht. Je nachdem, welche Behörde für die Verhaftung verantwortlich ist, werden die Gefangenen jedoch in verschiedenen Abteilungen und Stationen von Evin untergebracht, die von verschiedenen Organisationen (einschliesslich des Geheimdienstes und der Revolutionsgarden) überwacht und kontrolliert werden.

Die Struktur der Abteilungen hat sich im Laufe der Zeit geändert. Gegenwärtig umfasst der Unterbringungsbereich:

Station 325 (klerikale Gefangene);

Station 240 (hauptsächlich für nicht-binäre Häftlinge und andere vorübergehende Häftlinge)

Abteilung 2-A (politische Gefangene der Nachrichtendienste der IRGC); Abteilung für weibliche Gefangene

Station 4 (Quarantäne und Angeklagte, die auf ihre endgültige Verurteilung warten)

Station 350 (ehemals politische Abteilung, seit 2014 als Arbeitsstation eingerichtet)

Abteilungen 209 und 240: sind die berüchtigten Haftzentren für politische Gefangene und stehen unter der Kontrolle des Geheimdienstministeriums, ohne Verbindung zur Justiz und zur Gefängnisverwaltung

Abteilung 7: Hauptsächlich für Personen, die wegen Finanzdelikten verurteilt wurden, und bekannt als die am besten ausgestattete Gefängnisabteilung des Landes. Diese Abteilung umfasst 8 Säle mit einer Kapazität von jeweils 200 Gefangenen, wobei manchmal mehr als 700 Gefangene in einem Saal untergebracht werden können. Von diesen 8 Hallen sind 7 Hallen für nicht-politische Gefangene reserviert, aber manchmal werden auch politische Gefangene aufgenommen.

Skyline von Teheran, dahinter das Elburs-Gebirge

Station 8: Diese Station ist als das Verbannungslager des Gefängnisses bekannt, in dem politische Gefangene untergebracht sind. Der Brand in Evin am 15. Oktober Der Gefängnisaufstand vom 15. Oktober brach in der fünften Woche des Aufstands im Iran aus und sollte als integraler Bestandteil des Widerstands des Volkes betrachtet werden. Der Evin-Aufstand war eine Revolte gegen die ständige Demütigung, Beleidigung und Unterdrückung innerhalb des Gefängnisses, die im September und Anfang Oktober zugenommen hatten.

Bei diesem Bericht handelt es sich um ein Zeugnis, das von den an dem Aufstand in Abteilung 8 beteiligten Gefangenen bestätigt wurde. Den Zeugenaussagen zufolge hatten die Gefängniswärter einen fortgeschrittenen Plan, um die Gefangenen zu provozieren, indem sie einige von ihnen in andere Gefängnisse verlegten. Als Reaktion darauf organisierten die Gefangenen der Abteilungen 7 und 8 während des Hofgangs einen Marsch und skandierten „Tod der Islamischen Republik“, „Tod für Khamenei“ und „Verdammt sei Khomeini, Tod für Khamenei“. Außerdem wurde den Gefängniswärtern befohlen, seit dem Morgen des 15. Oktober in Alarmbereitschaft zu sein. Einige der Gefangenen, die der herrschenden Klasse nahe stehen, wurden zwei Tage zuvor gewarnt, „in den kommenden Tagen vorsichtig zu sein“.

Obwohl die Regierung Spannungen schürte, um die Verlegung und Hinrichtung politischer Gefangener zu rechtfertigen, zwang die Rebellion gegen diese Bemühungen die Todesschwadron zu einem Verteidigungsmanöver gegen die Rebellen, die ihr Gefängnis in Brand setzten. Dieser kollektive Akt des Widerstands zeigte, dass die Islamische Republik auch hier nicht sicher war. Während dieser Rebellion wurde viel Blut vergossen. Viele Menschen verloren ihr Leben, die als Märtyrer der Bewegung in Erinnerung bleiben sollten. Dieser Aufstand wird als ein mutiger Akt des Widerstands in Erinnerung bleiben. Hintergrund Der unmittelbare Anlass für diesen Aufstand waren die verschärften Restriktionen in der Station 8, die die schlechten Bedingungen, unter denen die Gefangenen bereits litten, noch verschlimmerten.

Einige dieser Einschränkungen waren:

  • Der obligatorische Einschluss um 17 Uhr, der auch für die Bibliothek galt.
  • Dieser früher als üblich verhängte Einschluss wurde zu Beginn des Aufstandes verhängt, da die Wärter die Möglichkeit eines Aufstandes vermuteten
  • Der vorzeitige Einschluss war von besonderer Bedeutung, da das Gebäude der Station 8 nicht über Sicherheitsvorkehrungen verfügte und die Abriegelung der Station die Gefahr von Bränden erhöhte.
  • Die Zwangsverlegung einiger Gefangener, die sich am lautesten über die schlechten Sicherheitsbedingungen im Gefängnis beschwerten, in andere Städte, darunter das Rajaee-Shahr-Gefängnis in Karadsch. Diese Zwangsverlegung wurde als Strafe durchgeführt, obwohl sich die Gefangenen dagegen gewehrt hatten.
  • Die Anwesenheit von Anti-Aufruhr-Polizisten in den Abteilungen 7 und 8: Tage vor dem Brand wurden Anti-Aufruhr-Polizisten in den Abteilungen 7 und 8 postiert, die die Gefangenen verärgerten, indem sie in der Abteilung aufmarschierten und religiöse (Kriegs-)Parolen wie „Haydar Haydar“ riefen (Haydar ist der Spitzname des ersten Imams der Schiiten und wurde zuvor von der Miliz und den Streitkräften als Sprechgesang verwendet).
  • Das häufige Abstellen von fliessendem Wasser (z. B. warmes Wasser zum Duschen) ist eine gezielte Schikanemethode.

Die Kombination dieser Bedingungen schuf eine bedrückende Atmosphäre für die Gefangenen. Nach Aussage der Gefängniswärter selbst würden diese Bedingungen so lange anhalten, wie die Strassenproteste andauerten. Die Unfähigkeit des Staates, den Aufstand auf der Strasse zu unterdrücken, gab den Gefängniswärtern einen Grund, dies durch die Unterdrückung der Gefangenen zu kompensieren, was jedoch spektakulär nach hinten losging. Widerstand der Station 8 Am 15. Oktober 2022, gegen 20.30 Uhr, hörten die Häftlinge der Station 8 Schreie und Schüsse aus der Station 7. Durch die Fenster, die die beiden Stationen untereinander als Sichtachse verbinden, konnten die Häftlinge der Station 8 sehen, wie auf die Häftlinge der Station 7 geschossen wurde, während das Feuer loderte. Station 8 brach aufgeregt die Türen in ihren Fluren auf, skandierte „Tod für Chamenei“ und „Tod für die Islamische Republik“ und versuchte, Station 7 zu helfen.

Um den Flammen und dem Tränengas zu entgehen, versuchten die Gefangenen, den Haupteingang von Station 8 mit Hilfe der Insassen von Station 7 zu öffnen. Sie fanden jedoch heraus, dass der Spion/Gefangene Irfan Hatami in Zusammenarbeit mit dem Wachoffizier der Station, Tavakoli, die Türen der Station 8 verschlossen hatte.

Die Häftlinge der Station 8 bewegten sich daraufhin auf die Hoftür zu und brachen sie auf. Nachdem die Gefangenen der Station 8 aus der Station in den offenen Hof ausgebrochen waren, versuchten sie, ein Feuer zu entfachen, um die durch die Intensität des Tränengases verursachten Erstickungserscheinungen zu überwinden. Unter dem Bombardement von Kugeln, Schrotkugeln und Tränengas, das die Gefängniswärter auf sie abfeuerten, wehrten sich die Gefangenen und skandierten gleichzeitig Slogans gegen das Regime. Der Innenhof verwandelte sich in ein Kriegsgebiet, wobei eine Seite unbewaffnet war. Nach offiziellen Angaben wurden fast 700 Spezialkräfte nach Evin geschickt.

Aufgrund des schweren Kugel- und Feuerregens hatten die Gefangenen der Station 8 keine Möglichkeit, in die Säle zurückzukehren. Während dieses Beschusses des Hofes und der Station 8 wurde Mehran Karimi von einer Kugel in den Unterleib getroffen. Auf dem Hof war die Situation noch schlimmer: Yashar Tohidi wurde ins Bein getroffen, und auch Mohammad Khani wurde getroffen. Die Schwere der Wunden der Häftlinge zeugt von einem regelrechten Krieg gegen sie. Darüber hinaus wurde eine Reihe weiterer Gefangener durch Gummigeschosse getroffen. Zu ihnen gehören Ayub Ahrari, Reza Salmanzadeh, Seyed Javad Sidi, Mehdi Vafaei, Omid Rafiei und Mohsen Sadeghpour. Während dieses brutalen Angriffs wurde die Parole „Tod der Islamischen Republik“ ohne Unterlass gerufen, während die Gefangenen dem Tod ins Auge blickten.

Als schliesslich die Spezialeinheit, die Wachoffiziere und der Leiter der 8. Abteilung (Oberst Mahmoudi) den Hof betraten, mussten sich die Gefangenen im Hof, die sich um ihre verletzten Freunde kümmerten und vor dem Kugelregen unter einem kleinen Dach im Hof Schutz gesucht hatten, ergeben und wurden auf dem Boden fixiert.

Die Sicherheitskräfte waren äusserst wütend. Ihre Autorität war stark untergraben, und die Parolen der Gefangenen hatten ihren Stolz verletzt. Der Kugelregen war nun einem Regen von Beleidigungen, Demütigungen und Schlagstöcken gewichen. Sie schlugen die Köpfe, Hände und Füsse der Gefangenen und beschimpften sie. Die Intensität der Schläge war so gross, dass einige Agenten der Spezialeinheit die anderen daran hinderten, auf die Gefangenen einzuschlagen. Bei einem der brutalsten Vorfälle beschimpfte Oberst Mahmoudi, der Leiter der 8. Abteilung, Arash Johari und schlug ihm mit einem Schlagstock so heftig auf den Kopf, dass sein Kopf fast zerbrochen wurde und blutete, so dass sein Sehvermögen für mindestens drei bis vier Stunden beeinträchtigt war. Die Grausamkeit von Oberst Mahmoudi gegenüber Johari rührte daher, dass Johari zu den lautstarken Gefangenen gehörte, die sich zuvor für seine Mitgefangenen eingesetzt hatten.

Auch die übrigen Gefangenen blieben von den brutalen Schlägen Mahmoudis und seiner Offiziere nicht verschont. Die Körper der Gefangenen wurden von Schlagstöcken getroffen, aber sie zeigten keinerlei Anzeichen von Reue. Zu dieser Gruppe von Gefangenen gehörten Amir Abbas Azarmvand, Meytham Dehbanzadeh, Mojtaba Tavakol, Mohammad Irannejad, Ayub Ahrari, Pouria Mazroub, Yashardar Dar Al-Shafa, Kaveh Dar Al-Shafa, Adel Gorji, Abolfazl Nejadfath, Ismail Gerami, Loqman Aminpour, Mohsen Sadeghpour und viele andere. Der Zustand der Haft-Säle Nach der ersten Niederschlagung setzten die Gefängniswärter weiterhin Tränengas in den Sälen ein, um die volle Kontrolle zurückzugewinnen. Die Gefangenen in den Sälen hatten keine andere Wahl, als in die Küche zu gehen und durch die Fenster zu atmen. Gegen 14.00 Uhr kam Oberst Mahmoudi mit einigen seiner Spezialeinheiten herein und schrie die Gefangenen über die Lautsprecher an. Er betrat die Räume mit Schuhen und riss wütend die Vorhänge auf und zerstörte die Klimaanlage, den Fernseher und einige Möbel. Auf die Frage der Gefangenen nach dem Zustand ihrer Kameraden im Hof antwortet er: „Sie werden alle umgebracht“. In dieser Situation, in der der Hof mit Blut bedeckt ist, befinden sich die verbliebenen Häftlinge in einem mentalen und emotionalen Dilemma, da sie glauben, dass einige ihrer Kameraden getötet worden sind. Am Morgen nach der höllischen Nacht des 15. Oktober betrat der stellvertretende Kommandant Karbalaie mit einer Spezialeinheit das Gefängnis und begann, die Häftlinge zu bedrohen und zu misshandeln. Daraufhin stellten sich einige Gefangene mutig vor ihn hin, lachten und verhöhnten ihn. Die Wärter schlugen diese Gefangenen brutal zusammen und brachten sie aus der Abteilung zu den anderen angeketteten Gefangenen in den Hof. Zu dieser Gruppe von Gefangenen gehörten Hojatullah Rafei, Mehdi Savaralia, Parsa Golshani und Mehdi Abbaspour. Die Ereignisse in der Sporthalle Am Ende des Aufstands wurden die Gefangenen der Station 8, die im Hof angekettet waren, barfuss in die gemeinsame Sporthalle der Stationen 7 und 8 geschickt, da ihre Hausschuhe von der Spezialeinheit ins Feuer geworfen wurden. Das Bild, das sich den Häftlingen in dieser Halle bot, ist vergleichbar mit den Ereignissen im chilenischen Sportstadion während des Pinochet-Putsches. Mehr als tausend Gefangene mit blutigen Gesichtern und Händen über dem Kopf waren in Gruppen zusammengekauert. Knapp 60 Rebellen aus Abteilung 8 und etwa 1.600-1.800 Rebellen aus Abteilung 7 füllten die Halle.

Datei:Evin-Gefängnis nach dem Brand 2022 (10).jpg

Die mit Schlagstöcken bewaffnete Spezialeinheit patrouillierte zwischen den Gefangenen, und ab und zu schlugen sie jemanden und beschimpften ihn. Es herrschte eine Atmosphäre wie in einem Hühnerstall, in dem Metzger mit ihren Fleischermessern paradieren. Dann fesselten die Beamten die Gefangenen sowohl mit Plastik- als auch mit Metallhandschellen. Während dieser Prozedur hörten die Beleidigungen und Schläge nicht eine Sekunde lang auf. Aber das war nicht die ganze Geschichte. Durch die Dunkelheit des Gefängnisses schimmerten weiterhin bemerkenswerte Szenen des Widerstands: Die Gefangenen der Station 8 schickten Grüsse an ihre Kameraden der Station 7 und beglückwünschten sie zu dieser epischen Nacht. Trotz der Anwesenheit der repressiven Einheiten begannen die Gefangenen von Station 8 für Station 7 zu klatschen, was die Wärter erzürnte. Nachdem sie mit ansehen mussten, wie ein Mitgefangener zu Tode geprügelt wurde, fordern die Gefangenen weiterhin ihre Freiheit und ein Ende der Unterdrückung durch die Regierung. Die Wärter konnten nicht glauben, dass die Gefangenen nach den ständigen Schlägen, Schüssen und Bränden weiterhin Widerstand leisteten und sie herausforderten.

Die Schikanen nahmen kein Ende. Die schlaflosen Beamten liessen ihre Wut an den Gefangenen aus. In einem Fall schlugen die Wärter ununterbrochen einen jungen Mann, dessen „Verbrechen“ darin bestand, dass er Afghane war. Den Gefangenen wurde Wasser verweigert, und der zunehmende Durst machte die Situation noch schwieriger. Der Geruch von Atem, Zigaretten und Schweiss erschwerte das Atmen zusätzlich. Die Peiniger traten mit Wasserflaschen unter die Gefangenen, und die aufgesprungenen Lippen öffneten sich, um einen Schluck des in die Luft geschütteten Wassers zu erhaschen. Um Mitternacht färben sich die Wasserflaschen gelb, da sie nun mit Urin gefüllt sind, dessen Geruch die Luft erfüllt. Wer für einen Moment einschläft, wird mit einem Schlagstock geweckt und angeschrien: „Du hast uns wachgehalten, du musst wach bleiben.“ In diesem Moment setzt sich ein Lächeln auf die Lippen der Gefangenen: „Wir haben sie schlaflos gemacht; lang leben wir.“

Am nächsten Morgen erscheint der Leiter des Evin-Gefängnisses, Farzadi, mit einer Delegation von Regierungsbeamten (von der Leitung der Gefängnisbehörde und der Justizbehörde). Als Belohnung für ihren Widerstand wurden den Gefangenen bei diesem Besuch die Fussgelenke gefesselt. Angekettet, mit blauen Flecken und nackten Füssen werden die Gefangenen in einen Bus gepackt, um in andere Gefängnisse verlegt zu werden. Die zerzausten Wärter, die verbrannten Gebäude und die verzweifelten Behörden zaubern ein zufriedenes Lächeln auf die Gesichter der Gefangenen: Dies war die schönste Nacht von Evin.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben        —   Evin-Gefängnis

Abgelegt unter Asien, Mensch, Positionen, Religionen | Keine Kommentare »

Kampf um ein Kohledorf

Erstellt von Redaktion am 26. Dezember 2022

Die letzten Lichter von Lützerath

Aus Lützerath von Alexandra Hilpert,

Rund 70 Ak­ti­vis­t:in­nen halten über Weihnachten die Stellung in Lützerath. Wie bewahrt man Hoffnung bei Kälte und drohender Räumung?

Hinter dem roten Laster liegt bäuchlings ein Mann auf dem Boden. Sein Blick ist auf zwei Holzplanken gerichtet, die den Wagen tragen. Sie überbrücken eine knietiefe Rinne, gefüllt mit schlammigem Wasser. Die Planken biegen sich gefährlich unter dem Gewicht des ausgemusterten Feuerwehrautos. „Stopp, nicht so schnell!“, schreit der Mann. Mit einem Ruck kommt der Wagen zum Stehen. Eigentlich soll die Rinne Fahrzeuge der Polizei aufhalten, nun müssen die beiden um ihren eigenen Wagen bangen

Der Mann auf dem Boden und die Person auf dem Fahrersitz sind zwei von derzeit etwa 70 verbliebenen Ak­ti­vis­t:in­nen in Lützerath. Es ist der 7. Dezember, der Himmel über dem Dorf in Nordrhein-Westfalen färbt sich rosa, bald geht die Sonne unter. Gestern hat man dem Dorf den Strom gekappt, die Wasserkocher und Heizlüfter sind verstummt, nun müssen die Dorf­be­set­ze­r:in­nen den Baum verheizen, den der Energiekonzern RWE Anfang 2021 fällen ließ. Und dieser Baum liegt zersägt auf dem Laster.

Den Wagen fährt Ronni Zeppelin, Ende 20, große Augen und durchdringender Blick. Zeppelin heißt eigentlich anders, aber das ist geheim, denn eigentlich dürften sie hier gar nicht sein. Im Frühjahr 2022 verlor der Lützeraths letzter Bewohner, Eckhart Heukamp, den Gerichtsprozess um seinen Hof, seit Oktober gehört das Land dem Konzern RWE. Und der will seinen Braunkohletagebau Garzweiler II erweitern.

Es heißt, die Kohle unterhalb von Lützerath werde gebraucht, um die Energieversorgungssicherheit zu gewährleisten. Lediglich eine Mahnwache am Dorfeingang dürfen die Ak­ti­vis­t:in­nen offiziell abhalten. Tatsächlich aber halten sie mehrere Häuser im Dorf besetzt. Sie wollen es vor dem Abriss retten. Mitte Januar soll geräumt werden. Wie bleibt man hoffnungsvoll, wenn die Temperaturen unter Minus fallen, der Strom wegbleibt und eine Räumung droht?

Hoffnung? Motivation!

„Hoffnung allein hilft nicht viel“, sagt Zeppelin. „Was mich motiviert, ist zu wissen, dass es Lösungen gibt.“ Manchmal sei allerdings auch das frustrierend: „Es kommt mir so offensichtlich dumm vor, dass wir das Klima nicht schützen.“ Die Menschen müssten sich nur endlich ihrer Macht bewusst werden und die Sache selbst in die Hand nehmen. „Denn die Politik macht es nicht“.

Seit Beginn der Besetzung von Lützerath im Jahr 2020 ist Zeppelin fast durchgängig vor Ort, war schon dabei, als das Dorf spontan die erste Mahnwache errichtete, und in den fast drei Jahren nur für wenige Wochen mal woanders. Es ist deshalb nicht das erste Manöver, das Zeppelin mit dem Feuerwehrwagen fährt. Der hat es nun über die Rinne geschafft, das nasse, mit Pilzen überwucherte Holz kann weiter ins Dorf transportiert und in den Kaminen und Öfen der besetzten Häuser verfeuert werden. Nach Weihnachten fühlt sich das nicht an, eher nach Notlösung.

Am Morgen des selben Tages stößt Zeppelin zur Mahnwache am Eingang von Lützerath dazu. Die fünf Ak­ti­vis­t:in­nen sitzen etwa 50 Meter von der Abbruchkante der RWE-Baugrube entfernt. Man kann das Rattern der Bagger hören. Gerade wird Lützeraths Nachbardorf Immerath dem Erdboden gleichgemacht. Dafür wurden nach Angaben von RWE die Stromleitungen, die Lützerath bis dahin versorgt haben, gekappt.

Vom Himmel fällt kalter Nieselregen, die Ak­ti­vis­t:in­nen wärmen sich an heißem Kaffee. „Die Stimmung im Camp hängt stark mit dem Wetter zusammen“, sagt Zeppelin, „auch für mich ist es im Moment schwer, mich jeden Tag zu motivieren, aufzustehen.“ Seit bekannt wurde, dass die Räumung erst Mitte Januar starten soll, haben viele Ak­ti­vis­t:in­nen das Dorf verlassen. Letzte Woche seien noch etwa 130 Menschen vor Ort gewesen. Die Abwanderung rüttele auch an den internen Strukturen. Die Arbeitsgruppen der Dorfgemeinschaft seien zum Teil unterbesetzt. Umso mehr Arbeit bleibt für die Zurückbleibenden.

Wie eine dunkle Wolke schwebt die anstehende Räumung über dem Dorf

Der fehlende Strom mache alles nur noch schlimmer. „Alles wird komplizierter. Ist die Sonne einmal weg, ist auch das Licht weg, und man kann nichts mehr wirklich schaffen“, sagt Zeppelin genervt. Am bedrückendsten aber sei die anstehende Räumung. „Ich habe Angst“, sagt Zeppelin, „dass sich die Polizei gewaltvoll verhält und dass Menschen verletzt werden.“ Wie eine dunkle Wolke schwebt die Räumung über dem Dorf.

Am Nachmittag sitzt Ronni Zeppelin mit dem rund zehnköpfigen „Mobi-Team“ in einer stickigen Holzhütte. Es riecht nach Gas-Heizstrahler, Orangenschalen und ungewaschenen Haaren. „So, what is our plan?“, fragt eine junge Frau. Es geht um Mobilisierung: Wie bekommt man Menschen dazu, sich im kältesten Monat des Jahres einem Räumungsversuch durch die Polizei entgegenzustellen? Partnergruppen sollen angefragt, Social Media bespielt werden. Zeppelin bleibt schweigsam, zerteilt die Orangenschalen mit den Fingern in immer kleinere Stücke, bis nur noch Krümel auf dem Tisch liegen.

Die Steigerung der  Corona Epidemie – Die Dummheit von blinden Politiker-innen  !!

Nach dem Treffen tritt Ronni Zeppelin vor die Holzhütte, bahnt sich in der Dunkelheit zielsicher einen Weg durch Laub und Matsch und sagt: „Ich fühle mich ungeduldig.“ Es bestehe eine Chance, dass sie das Dorf im Januar erfolgreich verteidigen. Mehr als 11.000 Menschen haben seit dem Sommer in einer Online-Absichtserklärung auf der Petitionsplattform von Campact angegeben, beim Räumungsversuch nach Lützerath zu kommen, um sich „der Zerstörung in den Weg zu stellen“.

Vor allem für die Rettung der Baumhäuser haben sie Hoffnung: Die Rodungssaison im Rheinland geht nur noch bis Februar, danach dürfen keine Bäume mehr abgeholzt werden. „Sechs Wochen müssen wir die Bäume im Dorf verteidigen“, sagt Zeppelin, „Das könnten wir schaffen.“ So oder so – Lützerath sei eine wichtige Bastion der Klimabewegung und ihre Verteidigung entscheidend: „Die Klimagerechtigkeitsbewegung braucht einen Erfolg.“

So wie vor knapp drei Jahren im Hambacher Wald. Jahrzehntelang wurde der Wald immer wieder besetzt. Jede neue Räumungsankündigung war begleitet von Protesten und zivilem Ungehorsam. Im Januar 2020 wurde der Erhalt des Hambacher Walds schließlich beschlossen. „Es hat schon mal geklappt“, sagt Zeppelin. „Dann kann es wieder passieren.“

Quelle        :        TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —       Westlicher Ortseingang aus Richtung Landstraße 277 im Januar 2018

Abgelegt unter Deutschland_DE, Mensch, Positionen, Regierung | Keine Kommentare »

Merz und seine Botschaft

Erstellt von Redaktion am 26. Dezember 2022

Weihnachtliches Energiesparen mit Friedrich Merz:
Die schönsten Weihnachtsmärchen schreibt das Leben

Die  Republikaner feiern Friedrich Merz, dem gerade die Windeln gewechselt wurden.

Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein

Von      :      Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein

Heute, am 24.12.2022 ploppte in vielen Medien die frohe, nachhaltige DPA-Weihnachtsbotschaft von Friedrich Merz auf:

„Auch der Unionsfraktionschef will in der Energiekrise sparen. Weihnachten feiert Merz nach eigener Aussage mit einem Baum mit echten Kerzen. Alleine dadurch erhöht sich natürlich die Raumtemperatur.“
„Wo kannst du noch Energie sparen“, 
sagt der CDU-Vorsitzende in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. „Ich habe sowohl in meiner Berliner Wohnung als auch in unserem Haus in Arnsberg die Raumtemperatur reduziert und heize Räume nur, die ich auch nutze.“

Ist das nicht schön? Friedrich Merz spart Energie. Der Parteichef mit dem eigenen Privatflugzeug heizt sein Haus mit Kerzen. Ach da vergessen wir doch, dass Privatflüge pro Passagier 5- bis 14-mal umweltschädlicher als normale Verkehrsflugzeuge und 50-mal umweltschädlicher als Züge sind.

Ist das nicht schön? Friedrich Merz heizt nur die Räume, die er tatsächlich auch nutzt. Da vergessen wir doch gerne, dass er zu den Klimakatastrophenverantwortlichen zählt, die schon jahrzehntelang für Kohle, Öl, Gas und gegen ein Tempolimit streiten und dass er zu den obersten Energiewende-Gegnern zählt. Da vergessen wir doch gerne seine Zeit als Aufsichtsrats-Chef der deutschen Abteilung von Blackrock und die Blackrock-Verbindung zu Kohle- und Atom.

Die heutige DPA-Nachricht zeigt, in welch putzig-ablenkenden Nischen wir über Energiesparen und Klimawandel diskutieren und diskutieren sollen. Und dennoch die Meldung auch: Die schönsten Weihnachtsmärchen schreibt das Leben.

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben      —   Ausschnitt aus einer über Jahrzehnte entstandenen privaten Krippenlandschaft, ausgestellt im Stadtmuseum Mülheim-Kärlich

Abgelegt unter Baden-Württemberg, Deutschland_DE, Medien, P.CDU / CSU, Umwelt | Keine Kommentare »

Weihnachten in Israel

Erstellt von Redaktion am 25. Dezember 2022

Lametta als Akt zivilen Ungehorsams?

Von Judith Poppe aus Jerusalem

Feiern oder lieber doch nicht? Das Christfest sorgt in Israel für Streit. Einige sehen darin eine Möglichkeit, gegen die neue Regierung zu protestieren.

„Es fing mit Netflix an“, erzählt Shahar Narkis am Telefon, „mit ‚Scrooge‘, einem Weihnachtsmusical und Angelas Weihnachten.“ Plötzlich wollten auch seine zwei Töchter in Ramat Gan, einer Stadt direkt angrenzend an Tel Aviv, einen Weihnachtsbaum. Wollten bunte Lichter, rote Kugeln – und natürlich Geschenke.

Da steht er nun, ein grüner, kniehoher Tannenbaum aus Plastik, geschmückt mit silbernem Lametta und einem goldenen Stern auf der Spitze. Direkt neben der Chanukkia, dem achtarmigen Leuchter, mit dem das jüdische Lichterfest Chanukka begangen wird. Oft, wie auch in diesem Jahr, fallen Chanukka und Weihnachten zusammen. Zu Weihnukka konnten die beiden Mädchen allerdings nicht einladen – Oma wäre nicht begeistert, erklärte Avneri seinen Töchtern und schrieb „Chanukka“ auf die Einladung. Der Baum aber konnte stehen bleiben.

Im religiösen Judentum ist es verboten, Statuen und Bilder anzubeten. Nun ist der Weihnachtsbaum streng genommen weder Statue noch Bild und wird auch nicht angebetet. Aber es gibt auch christlichen Symbolen gegenüber mitunter Vorbehalte. In der Geschichte der jüdischen Diaspora haben einige Rabbis dazu aufgerufen, vom Weihnachtsbaum Abstand zu nehmen – wobei viele jüdische Familien in den westeuropäischen Ländern Weihnachten gefeiert haben – jedoch ohne religiöse Bedeutung.

Weihnachten wird in Israel mittlerweile genauso gefeiert wie Halloween und Valentinstag. Dass Jesus vermeintlicher Geburtsort Bethlehem um die Ecke liegt – wenn auch in den besetzten Gebieten und für Israelis eigentlich nicht erreichbar –, dürfte den meisten in diesem Kontext entgehen. Genauso spielt keine Rolle, dass palästinensische Christen das Fest schon seit Langem feiern, in Israel wie im Westjordanland.

Inspiration in Italien

Yosi Avinoam, der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte, ist in diesem Jahr sogar nach Italien gereist, um sich in Sachen Weihnachtsschmuck inspirieren zu lassen. Umringt von goldenen Weihnachtsbaumkugeln, rot-weißen Weihnachtsmannmützen und aufblasbaren Nikoläusen steht er in seinem Laden in der Matalon Straße in Tel Aviv. „Die Leute fragen mich oft, ob ich ein Problem damit habe, Weihnachtsschmuck zu verkaufen“, sagt er und zeigt auf die Kippa auf seinem Kopf: „Aber ich feiere das Fest ja nicht.“

Nebenan sieht es anders aus. „Ich fühle mich furchtbar“, sagt die Ladenbesitzerin, Tattoos auf den Armen, blondierte Haare und kantige, schwarze Brille: „Jahrelang habe ich mich dagegen gewehrt, Weihnachtsaccessoires zu verkaufen“, sagt sie: „Alle sollen die Feste feiern, die sie feiern wollen. Aber ich bin gläubige Jüdin.“ Sie zeigt auf die Weihnachtsmützen und verzieht ihr Gesicht: „Das zerstört meinen Glauben.“

Dass ein Posting der Tel Aviver Stadtverwaltung allerdings einen Shitstorm auslösen würde, hatten wohl die wenigsten erwartet. Auf der Facebook-Seite kündigte die Stadtverwaltung öffentliche Veranstaltungen zu Chanukka und Weihnachten an. „Dies ist ein jüdisches Land!“, schreibt eine Userin erzürnt.

„So viele von euch denken, dass es niedlich ist, Weihnachten zu feiern. Gott sei Dank ist jetzt die richtige Regierung im Amt. Wir werden die jüdischen Werte wiederherstellen. Langsam werden die Linken, die das Christentum mehr lieben als das Judentum, nicht mehr die Mehrheit stellen. Ich bin mehr als angewidert, dass dies Tel Aviv ist.“

Weihnachtlicher Aufruhr

Quelle          :          TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —       Altes Jerusalem Neues Tor Weihnachtsbeleuchtung

Abgelegt unter Mensch, Nah-Ost, Positionen, Religionen | Keine Kommentare »

Die Erde von der Sonne

Erstellt von Redaktion am 24. Dezember 2022

„Nichts Schöneres unter der Sonne …“

The Blue Marble (remastered).jpg

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

Von    :      Petra Ziegler

Ich habe es immer als ein großes Glück empfunden, zu den ersten Generationen zu gehören, die den Erdball von außen betrachten konnten. Als Ganzes. Die ikonische Fotografie der aufgehenden Erde, von der Mondumlaufbahn gesehen, entstand 1969. Ich habe sie schon so oft betrachtet, und immer noch raubt es mir fast den Atem. Der Blick auf dieses „funkelnde blauweiße Juwel“, diese „helle, zarte, himmelblaue Kugel, umkränzt von langsam wirbelnden weißen Schleiern“ (E. Mitchell, Apollo 14, 1971) löst in mir verlässlich ein Gefühl von äußerster Freude, gefolgt von leiser Trauer aus. Wir können doch sehen, warum sehen wir nicht? Frei von derlei Sentimentalitäten schreibt Günther Anders in Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge (1970) davon, „dass die Erde zum ersten Mal die Chance hat, sich selbst zu sehen“. Was eine damit einhergehende menschliche Bewusstseinserweiterung angeht, zeigt er sich allerdings bereits damals wenig zuversichtlich: „Wir werden durch die Erweiterung unserer Welt nicht erweitert werden.“

Sorge um den Zustand der Erde ist Selbstsorge. Das sollte nicht extra erwähnt werden müssen. Dem Planeten sind wir wurscht. Auch das macht die Sicht von außerhalb überdeutlich. Unsere Existenz ist äußerst prekär. Rundherum nichts als unendliches Schwarz. Hauchdünn ist die erdumspannende Schicht, die unser Leben erst möglich macht.

„Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein …“ Diese Empfindung von Wärme, die langsam unter die Haut geht, ein Moment umfassender Geborgenheit. „Und meine begeisterten Augen / Weiten sich wieder und blinken und brennen sich wund“, jubiliert Ingeborg Bachmann An die Sonne. Ziehen wir es wirklich vor, im Dienst der kapitalistischen Selbstzweckbewegung mitsamt ihrer in wahnwitziger Konsequenz immer noch weiter erhöhten Taktfrequenz in einer der Megacities dieser Welt oder irgendwo im Staub der Peripherie unser Dasein zu fristen? Kein Horizont, Tag um Tag graue Leere, kein schönes Blau, nur grelles Neongelb. Hektische Geschäftigkeit unter dichtem Smog, ein Leben in gekühlten Innenräumen, Aschewolken in der Atmosphäre. (Ja, auch die Natur kann Ungemach bereiten. Da brauchen wir uns auf den menschengemachten Dreck gar nichts einzubilden.) Einen atomaren Winter denken und immer noch weiter machen? Uns vergeuden, alles vergeuden, alles opfern an den Selbstzweck der Geldvermehrung? Die Maschinerie am Laufen halten – „Koste es was es wolle!“. Ist es die Furcht vor dem Unbekannten, die uns am Bestehenden festhalten lässt? Der Mangel an einer bis ins Detail ausgearbeiteten Alternative? Der ruinöse Realismus einer Gesellschaft, nach deren Rationalität wir Hunderttausende im Überfluss verhungern lassen und allesamt langsam am Feinstaub ersticken? Oder letztlich doch an der Hitze verrecken? Oder verrecken wir lieber am Stress, im täglichen Wettlauf, aus Sorge, ob die Rechnungen zu Monatsende bezahlt werden können? Es braucht keinen weiteren UN-Klimabericht, keinen drohenden Kollaps, es braucht keine Satellitenaufnahmen, die den Kahlschlag an zahllosen Stellen der Erdoberfläche offenbaren, es braucht nicht einmal Greta, um all das schnellstens in den Orkus der Geschichte zu wünschen. Es braucht nur die Weigerung gegenüber dem obszönen Raub an Lebenszeit. Der zunehmend prekäre Status alles Lebendigen ist eine einzige Zumutung!

Der Planet wird die Menschheit irgendwann wieder los sein. So oder so. Ich kann es wieder nicht lassen und frage mich, ob es dann noch Wesen geben wird mit Augen, die staunen, oder wären die allenfalls tränenblind angesichts der Verheerungen?

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —   Full disk view of the Earth taken on December 7, 1972, by the crew of the Apollo 17 spacecraft en route to the Moon at a distance of about 29,000 kilometres (18,000 mi). It shows AfricaAntarctica, and the Arabian Peninsula.

Abgelegt unter International, Kultur, Positionen, Regierung, Umwelt | Keine Kommentare »

Wer Oben sitzt weiß alles

Erstellt von Redaktion am 24. Dezember 2022

Was können wir von pandemischen Abstandskultur für den Umgang mit der Öko-Katastrophe lernen?

Die Oben sitzenden wollen belehren da sie glauben alles zu wissen und zu können.  

Quelle        :     Berliner Gazette

Von          :    Kilian Jörg

Die Welt steht in Flammen, real und virtuell. Was läge näher als Weltflucht? Eskapismus – dieses tendenziell unpolitische, reaktionäre und verantwortungslose Verhalten – ist in Zeiten des Umbruchs immer wieder zu beobachten gewesen. Nichts Neues im Westen, also? Der Autor Kilian Jörg schlägt vor, sich nicht mit Diagnosen des Zeitgeists zu begnügen, sondern die Frage nach den politischen Lektionen zu stellen.

Die letzten Jahre haben einen Boom des politischen Aktivismus erlebt: Die Ungerechtigkeit der Welt wird wieder vermehrt in ihren rassistischen, sexistischen und ökologisch katastrophalen Problemzusammenhängen erfasst und mannigfaltig auf den Straßen, in den Wäldern und Zeitungen, auf den Messen und Social Media-Plattformen skandiert und bekämpft. Gleichzeitig macht sich ein großes Bedürfnis nach Rückzug und Desinvolvierung aus der rasenden, hypervernetzten Welt des Desasterkapitalismus bemerkbar, welches wohl seinen stärksten Ausdruck in der euphorischen Überaffirmation des sogenannten Social Distancing in der ersten pandemisch bedingten Lockdownphase 2020 erlebt hat: Landflucht, Rückzug, Nicht-Berührbar-Sein-Wollen und ein oftmals strenges Sich-Raushalten aus den als falsch erkannten Diskursen haben zum ersten Mal landläufig eine positive, gar progressive Konnotation erfahren.

Hierin besteht eine Grundspannung der aktivistischen Gegenwart: Die Welt ist eine vielfache, beinahe unüberschaubare Katastrophe und es gilt unbedingt etwas an ihr zu ändern. Gleichzeitig muss man seine Angriffsfläche mit Bedacht wählen und von ganz vielen Dingen wegschauen, um an einer Stelle überhaupt produktiv handeln zu können. Um etwas zu ändern, muss man von viel anderem wegsehen – denn das Zuviel lähmt zu leicht.

Sich-Raushalten?

Traditionellerweise wird Sich-Raushalten als reaktionärer Eskapismus und bürgerlicher Defaitismus verstanden. „Wie kannst Du im Angesicht der Lage nur untätig bleiben?“ Eine progressive Affirmation der Desinvolvierung fehlt in den meisten aktivistischen Kontexten, weswegen Burnout, Erschöpfung und Zersetzung so oft zum Problem werden. Es mag zur Zeit des Ausnahmezustandes während der Covid-19-Pandemie gar nicht richtig aufgefallen sein, bedarf meines Erachtens aber umso mehr einer gründlichen, theoretischen Nachbetrachtung: Zum ersten Mal war Sich-Raushalten und Zuhause-Bleiben die progressive Tugend der Stunde.

Wann wird eine kompromisslos und unabdingbar vorpreschende Haltung zum Problem? Wieviel Filterarbeit und Blasenbildung braucht ein effizienter Aktivismus? Und wann und wie kann Sich-Raushalten nicht als stillschweigendes Einlenken mit der furchtbaren Norm, sondern als notwendiges Fokussieren und Konzentrieren der Kräfte für den Kampf um Veränderung verstanden werden?

Grundannahme einer hier tentativ skizzierten Ethik einer „Neuen Vorsicht“ ist, dass es das Bedürfnis nach Desinvolvierung stets und in egal welchem politischen Lager gibt, es bislang aber noch kaum gelungen ist, dieses Bedürfnis auf einen progressiv-emanzipatorischen Begriff zu bringen.

Neue Vorsicht

Neue Vorsicht. – Lasst uns nicht mehr so viel an Strafen, Tadeln und Bessern denken! Eine*n Einzelne*n werden wir selten verändern; und wenn es uns gelingen sollte, so ist vielleicht unbesehens auch Etwas mitgelungen: wir sind durch sie* verändert worden! Sehen wir vielmehr zu, dass unser eigener Einfluss auf alles Kommende ihren* Einfluss aufwiegt und überwiegt! Ringen wir nicht im directen Kampfe! – und das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Sondern erheben wir uns selber um so höher! Geben wir unserm Vorbilde immer leuchtendere Farben! Verdunkeln wir die Andere*n durch unser Licht! Nein! Wir wollen nicht um ihretwillen selber dunkler werden, gleich allen Strafenden und Unzufriedenen! Gehen wir lieber bei Seite! Sehen wir weg!“

In diesem Aphorismus Friedrich Nietzsches aus der Fröhlichen Wissenschaft (§ 321 – gegendert von mir)drückt sich eine Intuition einer progressiven Desinvolvierung aus, der ich in diesem Essay nachgehen möchte.

Einer Haltung der Vorsicht und des Wegsehens werden in klassisch linkem Politikverständnis leicht reaktionäre und eskapistische Tendenzen vorgehalten. Diese Art von negativ verstandener Vorsicht wird mit privilegierter Zurückgezogenheit, Borniertheit und der Unfähigkeit assoziiert, aus sich selbst herauszukommen. Dem entgegen stellt man den Wagemut des Aktivisten, der aus der eigenen Komfortblase und der eigenen sicheren Umgebung ohne Rücksicht auf Verluste heraus prescht, um die Ungerechtigkeit der Welt zu bekämpfen. Der Aktivist in diesem Beispiel ist nicht mit Genderstern angeführt, um auf den meines Erachtens maskulinistischen Heldenpathos in dieser Konfrontationslogik hinzuweisen – wobei ich selbstverständlich damit nicht ausschließen will, dass auch weiblich gelesene Personen diese Art von Maskulinums performen können (oder teilweise sogar sollen).

Doch auch jenseits einer solchen feministischen Kritik an einer konfrontativen Aktivismus Logik ist noch etwas dran an der Gefahr, aufgrund einer Haltung der Vorsicht und des Vorzugs der Desinvolvierung in eine Art bürgerlichen Eskapismus abzurutschen, der sich den Problemen der Welt nicht (mehr) stellen möchte und also in eine privilegierte Komfortblase flüchtet. Die Wahrnehmung wird dann selektiv und baut auf einem Ausblenden der Strukturen auf, die den eigenen Komfort auf der Ausbeutung von anderen basieren lässt.

Alte und Neue Vorsicht

Zum Zweck der analytischen Abgrenzung möchte ich diese Art Vorsicht tentativ als „Alte Vorsicht“ bezeichnen und von der „Neuen Vorsicht“ abgrenzen, wobei die Adjektive „neu“ und „alt“ nicht so sehr als eine zeitliche Abfolgenordnung verstanden werden sollen, sondern eher als eine Unterscheidung der Einstellung gegenüber Neuem bzw. Altem. Ich glaube nicht, dass es die hier so bezeichnete „Alte Vorsicht“ zeitlich eher gab als die Neue. Vielmehr denke ich, dass beide Varianten in fast allen Haltungen der Vorsicht angelegt und stets latent vorhanden sind – es handelt sich immer um einen Balanceakt zwischen ihnen, was ein Nachdenken über sie so leicht ambivalent und explosiv macht.

Keine der beiden Vorsichten existiert jemals in Reinform – die Distinktion ist also bloß eine analytische. Die „Alte Vorsicht“ wird demnach als solche bezeichnet, weil sie das Alte und Bestehende akzeptiert und eskapistisch bejaht, während eine dem entgegengestellte „Neue Vorsicht“ versucht, den Rückzug und die Desinvolvierung dahingehend zu nützen, um einen feineren Geschmack für die latenten Potenziale zur Erneuerung zu entwickeln.

Diese Potenziale finden sich nämlich, wie diverse Theoretiker*innen des Minoritäten in der Folge von Gilles Deleuze und Felix Guattari argumentieren, zumeist außerhalb des Bereich des in der majoritären Ordnung Sichtbaren, weswegen eine Haltung der Vorsicht gegenüber dem Zuviel an sichtbaren (Ungerechtigkeiten) notwendig wird. Man kann den ganzen Tag und die ganze Nacht damit verbringen, sich über jeden problematischen Twitter-Post aufzuregen, der einer* angezeigt wird – doch ändern wird dies nichts an der problematischen Ordnung der Welt.

Vorsicht in einer anderen Natur

Die „Alte Vorsicht“ kann im klassischen Philosophiekanon mit diversen Positionen assoziiert werden, unter anderem jener der antiken Traditionen der Stoa oder der Kyniker, in modernen Texten besonders mit jenen von Kierkegaard und Schopenhauer. Schnell zusammengefasst, um nicht zu sehr in diese Denkgeschichte weißer Männer abzudriften, lässt sich die Tendenz der „Alten Vorsicht“ mit einer Ausrichtung des Lebens im Einklang mit den vorgefundenen Umständen (oftmals: „der Natur“) identifizieren. Ziel ist die Entwicklung einer Art Gelassenheit gegenüber diesen vorgefundenen Umständen, die man nicht ändern kann. Man zuckt die Achseln gegenüber der Schlechtigkeit der Welt und zieht sich in die Komfortblase einer stoischen Ruhe zurück. Das Problem an der Haltung der „Alten Vorsicht“ wäre aus aktivistischer Perspektive demnach, dass man sich durch eine als statisch und unveränderlich definierte „Natur“ der Dinge die Umstände der eigenen Lebensweise diktieren lässt und man also reaktionär in dem Maße wird, wie man sich an die vorgegebenen und sichtbaren Seins-Umstände anpasst.

Wohingegen dieser Traditionslinie einer Alten Vorsicht im Kanon viel Raum zugestanden wird, ist einer anderen Vorsicht, die innerhalb dieser „Natur“ Potenziale zur Veränderung und Erneuerung sucht, wenig Theoriebildung gewidmet. Deswegen konnte sie Nietzsche wohl auch als „Neue Vorsicht“ bezeichnen.

Diese „Neue Vorsicht“ zeichnet sich meines Erachtens durch einen radikal veränderten – und nicht mehr modernen – Begriff von „Natur“ aus. Zu lange wurde im abendländischen Kanon „Natur“ als etwas dem Menschen Äußeres verstanden – etwas, dem man entweder seinen* Willen aufzwingen muss oder dem man sich defätistisch fügen muss. Doch spätestens in einem Zeitalter der Katastrophen, wie Isabelle Stengers das vom „Einbrechen des Ökologischen“ gekennzeichnete Anthropozän nennt, ist dieser moderne Begriff der „Natur“ an seine semantischen Grenzen gestoßen. Die scharfe Trennung zwischen menschlicher Kultur und äußerer Natur ist in der Zeit des Ozonloch oder des Klimawandel hinfällig geworden: Unsere Kulturen haben massiven Einfluss auf das, was wir „Natur“ nannten und die jeweilig spezifische “Natur“ hat einen wesentlichen Einfluss auf die Bildung von „Kultur“. Wir Menschen können uns nicht mehr als der Natur Äußeres begreifen. „Wir verteidigen nicht die Natur, wir sind die Natur, die sich verteidigt“ –in diesem aktivistischen Slogan, der ursprünglich aus den französischen „ZADs“ stammt, drückt sich dieses neue politische Verhältnis am bisher klarsten aus.

In dieser neuen politischen Gemengelage nimmt auch die Vorsicht einen neuen und für die Neuerung oder Veränderung wesentlichen Platz ein. Entgegen einer „Alten Vorsicht“ kultiviert eine „Neue Vorsicht“ das Wegsehen und In-die-Blase-Gehen dann nicht als Selbstzweck einer ethischen Beruhigung und Befriedigung, sondern um die Veränderungs- wie Gefahrenpotentiale der sogenannten Natur, von der man sich nicht mehr abgrenzen kann, besser schmecken zu können. Diese Art von „Neuer Vorsicht“ blendet bewusst und gekonnt die allerorts sichtbaren Seins-Zustände aus, um sich für das Werden der Welt mitgestaltend zu sensibilisieren.

Das Virus zersetzt die Natur-Kultur-Dichotomie

Meine These ist, dass im Zuge der Pandemie-bedingten Lockdowns der letzten Jahre ein Vorzeichenwechsel entstanden ist, der die Entwicklung einer solchen Ethik der Neuen Vorsicht gleichzeitig notwendig und möglich macht. Das Virus verdeutlicht am vielleicht klarsten, dass die Natur auch in unserem Inneren ist. Die Kultur-Natur-Dichotomie hält dem mikrobiellen Bereich keine Sekunde stand und in Zeiten einer Pandemie merken wir plötzlich alle, dass alle unsere kulturellen Institutionen stets unter dem Einfluss der sogenannten „Natur“ stehen: gänzlich neue soziale Gepflogenheiten und Selbstverständlichkeiten mussten sich aufgrund der Pandemie entwickeln.

Der Begriff des „Social Distancing“ konnte sich während der Pandemie trotz seiner seltsamen antisozialen Konnotationen deshalb so breit durchsetzen, weil er ein bislang auf linker Seite eher moralisch verfemtes Bedürfnis nach Abstandskultur auf einen majoritären Begriff gebracht hat, der plötzlich progressiv und emanzipatorisch konnotiert war. Zum ersten Mal konnte man sich distanzieren und raushalten, ohne vom nagenden schlechten Gewissen heimgesucht zu werden. Plötzlich stand man auf der moralisch guten Seite, wenn man sich raushielt.

Niemand hat Politiker-innen gerufen – die Schwachköpfe fühlen sich berufen.

Weil die Natur im landläufigen Verständnis intuitiv als etwas Äußeres verstanden wurde, puschte man sich, wie der Stroh männische Aktivist am Anfang dieses Kapitels, zu oft in die permanente Aktion gegen das Schlechte in der Welt und konnte dem Bedürfnis nach Rückzug kaum Positives abgewinnen. Auch noch während der Pandemie verzweifelten linke Denker*innen älterer Schule, wie Giorgio Agamben, über diesen Verlust der für sie als politisch unumgänglich betrachteten Nähe-Involvierung, während jüngere, Queer-Denker*innen, wie Eva von Redecker, darin die Utopie eines „solidarischen Distanzgebens“ sahen.

Wenn die Natur hingegen stets in mannigfaltiger Weise auch in uns vorhanden ist, bedarf es einer vorsichtigen Filterarbeit, den richtigen Impulsen und Potentialen zu folgen. Vieles nicht sehen, um das produktive Chaos der Welt zu spüren und mit ihm plural, vielfältig, kreativ und gleichzeitig vorsichtig spielen zu können.

Freilich liegt auch in dieser neuen Haltung die Gefahr einer moralisierenden Normierung, wie wir in der Corona-Krise und ihrem sozialen Ergebnis einer extremen Polarisierung in zwei verfeindete (und gleichermaßen auf komplexitätsfeindliche Slogans verkürzte) Lager bereits bezeugen mussten. Doch gerade in der Kultivierung (anstatt eben der Moralisierung) einer Neuen Vorsicht und Abstandskultur auch noch lange nach der Covid-19-Pandemie liegt ein wesentliches politisches Potenzial, dem rasenden Stillstand unserer spätkapitalistischen Welt zu entkommen und im Zeitalter der Katastrophen der Komplexität der Lage gerecht zu werden.

Das Streben nach Wegsehen und (sicherer) Blase ist kein bloß reaktionäres und rechtes. Besonders in Zeiten von extremen Umweltkatastrophen und globaler Vernetzung, in der uns die Schreckensnachrichten der Gegenwart in eine Art schockierte Dauerlähmung bringen können, entpuppt sich eine Neue Vorsicht als wichtige Übung zur Bewahrung eines kühlen Kopfes und guten Geschmacks, um nicht bloß den majoritären Affektstimuli und ihren vorgegebenen Handlungsschemata hilflos ausgeliefert zu sein. Neue Vorsicht wird dann zu einer zentralen Voraussetzung für das Beibehalten von nachhaltiger Solidarität und Handlungsfähigkeit.

Anm. d. Red.: Mehr zu dieser hier skizzierten Neuen Vorsicht findet sich im jüngst erschienen Buch des Autors „Neue Vorsicht – Philosophie des Abstands im Zeitalter der Katastrophen.“

Copyright | Creative Commons-Lizenz

Dieses Werk ist unter einem Creative Commons Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Keine Bearbeitung 3.0 Unported Lizenzvertrag lizenziert. Um die Lizenz anzusehen, gehen Sie bitte auf creativecommons.org oder schicken Sie einen Brief an Creative Commons, 171 Second Street, Suite 300, San Francisco, California 94105, USA.

*********************************************************

Grafikquellen     :

Oben       —   Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

Abgelegt unter Arbeitspolitik, International, Kultur, Medien, Regierung, Umwelt | Keine Kommentare »

Reiche waschen in Unschuld

Erstellt von Redaktion am 23. Dezember 2022

Der Globale Süden soll’s ausbaden

Tiervielfalt Oktober 2007.jpg

Ein Debattenbeitrag von Simone Schlindwein

Die Beschlüsse des Artenschutzgipfels in Montreal bedeuten: Die armen Staaten sollen kürzertreten, damit der Globale Norden nicht verzichten muss.

So lautet also die Formel, mit der die Welt gerettet werden soll: 30 x 30. Das zum Abschluss des internationalen Artenschutzgipfels COP15 in Montreal vereinbarte Rahmenabkommen sieht vor, 30 Prozent der Land- und Meeresfläche der Erde bis zum Jahr 2030 unter Schutz zu stellen – ein überehrgeiziges Ziel. Es bedeutet, dass in den nächsten Jahren bestehende Naturschutzgebiete zügig ausgebaut und neue gegründet werden müssen. Doch die Folgen dieses Vorhabens bergen ein enormes Risiko.

Naturschutzgebiete im Kongo sollen erweitert werden. Doch wohin? Auch die Bevölkerung rundherum wächst rasant

Betroffen sind nämlich nicht die Nationalparks im Schwarzwald oder der Sächsischen Schweiz, sondern vor allem diejenigen in den tropischen Regenwäldern: im Amazonasgebiet in Südamerika, im Kongobecken in Afrika, in den Wäldern Indonesiens – also im Globalen Süden. Dort soll nun gerettet werden, was der Norden durch seinen Überkonsum zerstört hat.

Die Demokratische Republik Kongo, die sonst bei internationalen Verhandlungen aufgrund ihrer grausamen Menschenrechtssituation gemieden wird, avanciert dabei zum Schwergewicht. Sie verwaltet zwei Drittel des Regenwaldes im Kongobecken und hat weitreichende Zugeständnisse gemacht: Sie will die Quadratmeterzahl der Schutzgebiete bis 2030 verdoppeln.

Dies entspräche der Fläche der Bundesrepublik, die dann im Kongo unter Schutz stünde – ein entscheidender Schritt, das 30 x 30-Ziel zu erreichen, und ein gewaltiges Verhandlungspotenzial für Kongos Regierung.

Artenschutz scheitert am Geld

Das nutzt sie nun lautstark aus und fordert mehr Geld. Zu Recht, denn der Unterhalt dieser Schutzgebiete ist extrem teuer. Die meisten Staaten des Globalen Südens können sich das gar nicht leisten – vor allem nicht der bettelarme Kongo mit seinen vom Aussterben bedrohten Berggorillas.

Jüngst kalkulierten die Artenschutz-Forscher, dass ein Großteil des Artensterbens auf fehlende Finanzen zurückzuführen sei. Damit präsentierten sie der Welt ein scheinbar ganz einfaches Rezept für ein komplexes Problem: Mit mehr Geld lässt sich der Planet schon retten.

Für Industrieländer ist das ein dankbares Lösungsmodell: Sie haben in der Coronapandemie gesehen, dass sich mit hunderten Milliarden Euro Probleme aus der Welt schaffen lassen, ohne an den Ursachen etwas zu ändern. Diesem Beispiel folgend haben westliche Länder also Finanzspritzen im großen Stil zugesagt.

Der Westen bezahlt, verzichtet aber nicht

Zugeständnisse, den Konsum in den eigenen Gesellschaften zu reduzieren und damit auf einen gewissen Luxus, der das Artensterben mit befeuert, zu verzichten, wurden nur am Rande gemacht. Sprich: Der Westen bezahlt, verzichtet aber nicht – und die praktische Umsetzung des Artenschutzes liegt in der Verantwortung des Südens. Und genau hier liegt der Hund begraben.

Dass man mit Naturschutz nichts falsch machen kann, ist im Westen eine weit verbreitete Ansicht, die den Blick auf einen großen Problemkomplex vermeidet: Den ärmsten Gemeinden der Welt einen Großteil ihres fruchtbaren Ackerlandes wegzunehmen und es unter Naturschutzrichtlinien zu stellen, führt automatisch zu Konflikten.

Im Kongobecken gibt es ohnehin enormes Konfliktpotenzial. Die beiden Nationalparks im Ostkongo, in denen die vom Aussterben bedrohten Gorillas leben und die bereits seit Jahrzehnten von Deutschland und der EU bezuschusst werden, liegen mitten im Kriegsgebiet. In ihnen hausen dutzende Rebellengruppen. Sie nutzen diese, durch das Naturschutzgesetz als menschenleere Zonen definierte Parks als Rückzugsräume.

Nationalparks sind hochgerüstet

Diese Parks sollen nun erweitert werden. Doch wohin? Denn gleichzeitig wächst die Bevölkerung rundherum rasant. Die von Jahrzehnten des Krieges gebeutelten Kongolesen haben immer weniger Ackerland für immer mehr Bewohner. Dadurch gelten die Menschen in den Augen westlicher Naturschutzorganisationen als Bedrohung, denn es gibt Probleme mit Wilderei. Tierschützer hatten vor zehn Jahren schon Alarm geschlagen, dass bald kein Elefant übrig sei, wenn nicht eine radikale Trendwende passiert.

Die logische Konsequenz war, die Nationalparks hochzurüsten. Kongo ging da mit bestem Beispiel voran: Die Wildhüter wurden von westlichen Militärs im Kampf gegen Terroristen und Wilderer fit gemacht. Im Juli hat Kongos Tourismusminister angekündigt, die Parks unter die Hoheit des für Kriegsverbrechen berüchtigten Verteidigungsministeriums zu stellen, um die Gorillas zu verteidigen. Landesweit wurden Parkwächter rekrutiert und trainiert. Sie ziehen mittlerweile mit Panzerfäusten und Nachtsichtgeräten durch den Dschungel.

Quelle         :        TAZ-online        >>>>>         weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben       —     Eine Collage, die die Tiervielfalt anhand eines vorgestellten Bildes darstellt.

*************************

Unten       —

Abgelegt unter International, Kultur, Positionen, Umwelt, Wirtschaftpolitik | 1 Kommentar »

Die „Letzte Generation“

Erstellt von Redaktion am 23. Dezember 2022

Die Frauen der „Letzten Generation“

Datei:Merkel Kohle fertig - Satire.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Ein Interview mit Carla Hinrichs, Carla Rochel und Aimée van Baalen

„Unignorierbar“, auch dank BILD, deren Redakteur*innen kohlenschaufelnd stets für ausreichend medialen Druck im Kessel sorgen und beharrlich, stellvertretend für jeden „Klima-Kleber“ oder „Klima-Chaoten“ einen Ehrenplatz in den Gaststuben und virtuellen Stammtischen der Republik freihalten.

Dort sind sie nicht nur unbequem, sie stören regelrecht. Allein schon deshalb, weil sie uns tagtäglich den Spiegel der Untätigkeit vorhalten, einen Spiegel, in dem wir unser unreflektiertes Ebenbild viel lieber schulterklopfend oder am Lenkrad unseres wohlig beheizten Zweit-SUVs thronend betrachten. Auf die Spitze treibend, bekommen wir diesen Spiegel coram publico von Frauen, schlimmer noch, von jungen Frauen, vorgehalten. Das kratzt – insbesondere am zeitlich gereiften männlichen Ego.Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter des Friedens, sprach mit drei dieser jungen Frauen aus der ersten Reihe der „Letzten Generation“. Ausführlich und unvoreingenommen – über Hass, Hetze bis hin zu Morddrohungen. Und eines vorweg: Protest darf den Boden des Grundgesetzes nicht verlassen. Auch die Aktivist*innen der „Letzten Generation“ müssen sich an Recht und Gesetz halten. Eigentlich klar! Klar ist aber auch: Am Ende bleibt, trotz aller Aufregung und der ablenkenden Diskussion über die Legitimität der Proteste, die ernüchternde Erkenntnis: „Wir tun zu wenig!“ Aber das wussten wir ja vorher schon – eigentlich.

Hallo Ihr drei, klasse, dass Ihr Euch Zeit für ein Interview mit der Initiative „Gesichter des Friedens“ genommen habt. Apropos Frieden: Was hat Klimaschutz mit Frieden zu tun?

Carla Hinrichs: Viel! Die Wissenschaft sagt ganz klar: Wir rasen im Eiltempo auf eine Welt zu, in der wir uns um Ressourcen streiten und Milliarden von Menschen in lebensfeindlichen Regionen leben werden. Viele dieser Menschen werden zwangsläufig die Flucht ergreifen, ganz einfach, weil es in diesen Regionen nichts mehr zu essen für alle geben wird – weil dort nichts mehr angebaut werden kann. Ganz ehrlich: Ich habe Angst vor einer Welt, in der Kriege um immer knapper werdende Ressourcen zur Normalität werden. Vor einer Welt, in der für Frieden kein Platz mehr ist!

Carla Rochel: Die Prognose der Wissenschaft für die nächsten Jahre zeigt ein Szenario, welches wir alle nicht wollen. Weder hierzulande, noch die Menschen, die in den Regionen des globalen Südens leben und letztendlich zur Flucht gezwungen sein werden. Dort passieren schon jetzt Grausamkeiten, die wir uns kaum vorstellen können. Manche Menschen hier in Deutschland haben Angst vor zu viel Einwanderung. Diesen Menschen muss aber klar sein: Das ist nur ein Bruchteil der Fluchtbewegungen, mit denen wir uns dann tagtäglich auseinandersetzen werden müssen! Welche Parteien werden dann gewählt? Dann wird sich zeigen, wie wehrhaft unsere Demokratie wirklich ist!

Aimée van Baalen: Es sind ja auch nicht die Menschen, vor denen wir Angst haben müssen – es ist die Ressourcenknappheit. Schon jetzt werden zunehmend Kriege um immer knapper werdende Ressourcen – wie beispielsweise sauberes Trinkwasser – geführt. Eine solche Verknappung der Ressourcen kann im schlimmsten Fall auch den Frieden in Deutschland bedrohen und – nicht zuletzt – unsere Demokratie auf eine harte Probe stellen.

Ihr engagiert Euch alle drei für den Klimaschutz – drängt auf die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels. Wie seid Ihr zur Protestbewegung „Letzte Generation“ gekommen? Was treibt Euch an und wie reagiert Euer Umfeld darauf?

Carla Rochel: Zu Beginn meines Politikstudiums haben mir meine Cousins alle gesagt: „Carla, die Studentenzeit wird die beste deines Lebens!“ Doch noch während meines Studiums habe ich gemerkt, dass ich die Klimakatastrophe einfach nur verdränge. Ich habe mir das alles ausgemalt: Unsere Bundesregierung, die gerade jeden Tag das Grundrecht bricht und uns in eine Katastrophe stürzt. Die Zeit, die verstreicht, die wir nicht mehr zurückdrehen können. Und dann kam ein Punkt im letzten Herbst, wo ich gemerkt habe, dass ich das nicht mehr aushalte. Dass ich nicht studieren und so tun kann, als sei mein Abschluss noch irgendetwas wert – in der Welt, die in Flammen steht. Dann habe ich mir einen Vortrag angehört von den Menschen, die vor dem Bundestag im Hungerstreik waren. Ich habe mich entschlossen mitzumachen und einen Monat später mein Studium abgebrochen. Jetzt engagiere mich Vollzeit für die Letzte Generation.

Carla Hinrichs: Ich bin mit einem grossen Drang nach Gerechtigkeit aufgewachsen. Schon während meiner Schulzeit habe mich politisch engagiert – damals bei Amnesty International. Mir wurde dann vielfach gesagt, ich solle doch Jura studieren. Nach vier Jahren Jurastudium kamen mir jedoch Zweifel und ich habe mich gefragt: „Sorgt das jetzt dafür, dass die Welt gerechter wird?“ Eigentlich nicht. Ganz im Gegenteil: Es wird von Tag zu Tag schlimmer. Als mir dann kurz vor der Bundestagswahl 2021 klar wurde, dass es keine Partei gibt, die auch nur ansatzweise meine Interessen vertritt, wusste ich: Okay, jetzt alles oder nichts. Jetzt studiere ich nicht mehr Recht, jetzt wende ich Recht an!

Aimée van Baalen: Als ich das allererste Mal von der Klimakrise gehört habe, war ich in der sechsten Klasse. Wir haben einen Film mit unserer Geographie-Lehrerin geschaut. Ich sah, wie dieses schwarze Öl aus dem Boden gesprudelt ist und sich dann wie ein Tuch über das Meer gelegt hat. Ich weiss noch, dass ich dasass und mir dachte: „Wie krass, das sind viel grössere Probleme, als diejenigen, die ich bis dahin in meiner kleinen Welt wahrgenommen habe.“ Zehn Jahre später habe ich festgestellt, dass sich kaum etwas verändert hat. Wir machen das noch immer so. Niemand hat die Verantwortung übernommen. Niemand hat sich darum gekümmert, dass diese grossen Probleme aus der Welt geschafft werden. Das Traurige daran ist: Es mangelt nicht an Erkenntnissen, sondern am politischen Willen. An diesem Punkt wusste ich, dass ich nicht noch zehn Jahre warten kann. Ich habe dann meinen Job in einem Tattoo-Studio gekündigt. Es ist besser keinen Job mehr zu haben als keine Zukunft!

Zwischenfrage: Aber Ihr müsst ja von irgendwas leben, die Miete muss bezahlt werden. Wie funktioniert das? Über Spenden?

Carla Hinrichs: Ich habe das grosse Glück, dass meine Eltern mich unterstützen. Sie verstehen, dass ich gerade nicht am Schreibtisch sitzen kann. Ausserdem bekomme ich Unterstützung durch Spendengelder, um meine Miete zu bezahlen und ein Mindestmass an Lebensstandard zu haben. Dennoch machen sich meine Eltern natürlich auch grosse Sorgen. Wir begeben uns in Situationen, die nicht ungefährlich sind. Meine Mutter checkt, wenn ich auf der Strasse bin, im Minutentakt unseren Instagram-Account und schaut, ob sie irgendetwas von mir findet. Möglich, dass wir dafür auch länger ins Gefängnis müssen – das wird sich zeigen.

Carla Rochel: Meine Eltern waren am Anfang ziemlich schockiert darüber, dass ich da mitmachen möchte. Inzwischen unterstützen sie das aber auch. Sie verstehen, warum wir das machen. Das Schlimmste für mich war aber zu sehen, wie die Träume meiner Eltern zerplatzen. Die Träume, die sie für mich und meine Zukunft hatten. Auf der anderen Seite sind sie aber auch verzweifelt, weil sie Angst um mich und meinen Bruder haben, wenn wir – was die Erderwärmung angeht – so weitermachen. Und auch um ihr eigenes Leben!

Aimée van Baalen: Ich kann da voll mitgehen. Meine Eltern machen sich auch viele Sorgen. Ich glaube, am meisten verletzt sie aber, dass ihre Tochter gerade all ihre Zukunftspläne, all ihre Träume aufgeben muss. Dass das Leben ihrer Tochter jetzt zum Teil fremdbestimmt wird, weil die Politik nicht macht, was sie eigentlich machen sollte. Und all das für ein Problem, welches nicht massgeblich durch ihre – also meine – Generation verursacht wurde. Das tragen sie ganz schön mit sich rum.

In vielen Ländern stehen Frauen an der Spitze der Klimabewegung – auch bei Euch. Warum ist das so? Wie divers sollte eine politische Bewegung Eurer Meinung nach sein? Sind Frauen gar die besseren Klimaschützer?

Aimée van Baalen: Wenn wir uns die gesamthistorische Bedeutung des Widerstands anschauen, haben Frauen auch in der Vergangenheit eine essentielle Rolle gespielt – auch in den Führungsriegen der Widerstandsbewegungen. Sie wurden jedoch häufig nicht so wahrgenommen, wie ihre männlichen Mitstreiter. Hinzukommt, dass Frauen am stärksten von der Klimakrise betroffen sein werden. Daher ist es sehr wichtig, dass – gerade auch bei zivilem Widerstand – die Frauen gesehen werden. Aber natürlich haben auch Männer dieselbe Bedeutung im Widerstand. Wir stehen schließlich für Gleichberechtigung!

Carla Rochel: Natürlich ist uns bewusst, dass wir viel in der Öffentlichkeit stehen. Und, dass es noch immer keine wirkliche Gleichberechtigung gibt. Die Menschen, die gerade auf die Strasse gehen, kommen aus allen Altersgruppen und Gesellschaftsschichten: Schüler*innen, Rentner*innen oder Menschen, die mitten im Berufsleben stehen. Auf der Strasse sind wir verschieden in Alter oder Geschlecht, aber gleich in der Sache, für die wir eintreten.

Carla Hinrichs: Wir versuchen ein möglichst diverses Bild nach aussen zu vermitteln und Frauen aktiver in den Vordergrund zu stellen. Das gilt auch für Talkshows – wie beispielsweise „Markus Lanz“. In der Sendung sass ich – wohlgemerkt als junge Ex-Studentin – neben dem Justizminister und habe ihm erstmal die Rechtslage erklärt. Das ist natürlich eine Stärke in der Position dann!Laut den Vereinten Nationen sind Frauen und Mädchen von der Klimakrise besonders hart betroffen. Brauchen wir dann nicht auch eine geschlechtergerechte Klimapolitik – sprich, mehr Frauen auf Entscheider-Ebene?

Carla Rochel: Unbedingt! Nicht nur in Sachen Klimaschutz und Klimapolitik. In allen Bereichen ist es wichtig, dass Frauen mitbestimmen und dasselbe Gehör finden wie die Männer. Aber von der Klimakatastrophe sind Frauen – insbesondere im globalen Süden – eben stärker betroffen als Männer. Dennoch haben sie weniger mitzureden. Ganz offensichtlich ist das ungerecht!

Aimée van Baalen: Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass jetzt die nötigen Entscheidungen getroffen werden. Und wenn diese Entscheidungen von Männern getroffen werden, bin ich auch fein damit. Aber grundsätzlich müssen wir natürlich über Geschlechtergerechtigkeit sprechen und darüber, dass diese Gesellschaft eben noch nicht gleichermassen durch die Entscheidungsträger*innen repräsentiert wird. Das ist leider bislang ein grosses Defizit.

Carla Hinrichs: Fakt ist, dass das Problem des menschengemachten Klimawandels massgeblich von Männern verursacht ist. Schon allein deshalb, weil in den letzten Jahrzehnten seit der Industrialisierung deutlich mehr Männer Entscheidungspositionen innehatten. Grosse Konzerne wurden von Männern geführt – und werden es grösstenteils noch. Das bedeutet: Wir müssen massiv etwas ändern. Dazu kann sicherlich auch die Stärkung von Frauen beitragen. Frauen, die in den letzten Jahrzehnten zu wenig hör- und sichtbar waren!

Was nicht legal ist, kann legitim sein. Dennoch: Wie radikal darf – und vielleicht muss – Klimaaktivismus noch werden? Was, wenn trotz Protestaktionen für Euer Dafürhalten zu wenig passiert? Wo liegen Eure Grenzen?

Carla Hinrichs: Wir haben schon jetzt erreicht, dass über uns gesprochen wird. Ich bin davon überzeugt, dass es wenige festlich gedeckte Tische am Weihnachtsabend geben wird, an denen wir nicht thematisiert werden und an denen dadurch nicht auch über die Klimakrise gesprochen wird. Jeden Tag tragen wir die Dringlichkeit zu Handeln in der Öffentlichkeit. Wird gehandelt, sind wir nicht mehr auf den Strassen. Passiert nichts, werden wir auf den Strassen bleiben. Dabei werden wir friedlich bleiben und die Grenze der Gewaltfreiheit nicht verlassen. Das bedeutet aber nicht, dass wir keine Grenzen mehr überschreiten werden. Denn das werden wir, auch wenn wir dafür ins Gefängnis gehen!

Carla Rochel: Ich glaube, wir müssen als Gesellschaft einen Schlussstrich in der Debatte über die Art und Weise unseres Protests ziehen. Vielmehr müssen wir uns jetzt darauf konzentrieren, wie wir es schaffen, in der nächsten zwei bis drei Jahren einen wirklichen Wandel anzustossen. Natürlich können wir unsere Zeit auch damit vergeuden, über Protestformen zu reden und darüber, welchen Sekundenkleber wir benutzen. Aber die Zeit haben wir nicht, sie rennt uns davon!

Aimée van Baalen: Wir können uns doch überhaupt nur darüber unterhalten, was legitim ist und was nicht, denn dieses Land hat die Folgen des Klimawandels bislang nicht ansatzweise zu spüren bekommen. Abgesehen davon, ist die Anwendung von Gewalt vollkommen irrsinnig. Das wird definitiv nie passieren – zumindest nicht von uns ausgehend. Gewalt ist strategisch gesehen nicht zielführend. Sie hat keinen Platz in einer Welt, wie wir sie uns vorstellen. Eine Welt, die sozial gerecht und sicher ist. Dennoch: Solange nicht gehandelt wird, müssen wir kreativ bleiben und Grenzen überschreiten.

Einige Medien bezeichnen Euch als „Klima-Chaoten“ oder „Irre“. Empfindet Ihr es als respektlos, junge Frauen – aber auch Menschen generell – so zu titulieren? Wie reagiert Ihr auf Hasskommentare, Hater und Bedrohungen?

Carla Rochel: Die Nachrichten und Kommentare auf Twitter und Instagram sind schon ziemlich heftig. Da sind auch einige Morddrohungen dabei. Ich für meinen Teil schaffe es nicht mehr, mir das anzuschauen. Begrifflichkeiten wie Klima-Chaoten oder Klima-Kleber sollen davon ablenken, dass unser Protest legitim. Dass unser Anliegen überhaupt nicht diskutiert werden muss. Diese Ablenkdebatte zu führen kostet Zeit die wir nicht haben. Wer sitzt denn mit uns auf der Strasse: Alte Menschen, die eigentlich behütet zu Hause sein sollten und nicht bei Kälte und Regen auf einer Strasse sitzen. Oder junge Frauen, die gerade studieren, eine Ausbildung machen oder einfach Zeit mit Freunden verbringen sollten. Schon allein daher sind diese Titulierungen völlig daneben.

Carla Hinrichs: Es gehört dazu, auf dem Weg zum Ziel erst ignoriert und dann bekämpft zu werden. Wir sind mittlerweile „unignorierbar“ geworden. Könnte man uns ignorieren, würde man es auch tun. Aber man kann uns nicht mehr ignorieren, deswegen werden wir bekämpft. Wir stören jeden Tag genau da, wo wir eben nicht mehr ignoriert werden können. Dafür, dass diese Krise – die viele so gerne aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwinden lassen würden – jeden Tag auf den Tisch kommt. Mich bestätigt das. Wenn ich sehe, wie die Wut steigt, wie die Menschen teilweise so wütend auf mich sind. Ich bin eigentlich eine friedfertige Person. Aber ich habe noch mehr Angst davor, wie die Menschen sein werden, wenn sie sich um Ressourcen streiten werden. In einer Welt, in der schon wegen einem Stau so viel Hass und Wut freigesetzt wird, in dieser Welt will ich nicht leben, wenn es dann nicht genug Wasser für alle gibt!

Aimée van Baalen: Ich denke, die Medien machen es sich ziemlich leicht. Sie versuchen zu verallgemeinern, indem sie eine stark verkürzende und möglichst hippe Wortschöpfung für die vielen individuellen Schicksale verwenden. Schicksale, die sich ohnehin tagtäglich fragen: Was haben wir für eine Wahl? Abwarten, bis diese Krise schlimmer wird und weiter eskaliert? Bis alles über uns zusammenbricht? Die Antwort – ob es uns gefällt oder nicht – ist, wir haben keine Wahl. Daher sind wir bereit, die Last auf uns zu nehmen, die in Teilen mediale Kritik und Diffamierung zu schlucken und sogar mit Morddrohungen „klarzukommen“.

Nur noch wenige Tage, dann beginnt das neue Jahr. Welche Vorsätze habt Ihr Euch ganz persönlich für 2023 vorgenommen? Wie geht es im nächsten Jahr mit der „Letzten Generation“ weiter?

Aimée van Baalen: Ich habe mir für das Jahr 2023 gar nichts vorgenommen. Ohnehin ist mein Leben derzeit absolut nicht planbar. Wenn ich einen Wunsch formulieren müsste, würde ich mir wünschen, dass ich wieder Zeit habe, mich mit mir und meinen Bedürfnissen auseinanderzusetzen und nicht gezwungen bin, weiter zivilen Widerstand zu leisten. Aber solange ich im Widerstand bin, kann ich keine guten Vorsätze fassen – ausser natürlich, dass wir Erfolg haben werden!

Carla Hinrichs: Der Widerstand hört nicht auf, nur weil ein neues Jahr beginnt. Ich wünschte, wir könnten das neue Jahr mit ernsthaftem Klimaschutz starten und einer Regierung, die Verantwortung übernimmt. Aber solange das nicht passiert, werde ich auch im nächsten Jahr so viel Widerstand wie möglich leisten. Ich kann nur hoffen, dass ich Ende des Jahres 2023 nicht im Gefängnis sitze. Hoffen, dass mein Widerstand nicht mehr notwendig ist und ich wieder Träume und Ziele haben kann.

Carla Rochel: Als ich angefangen habe, mich bei der Letzten Generation zu engagieren, war ich voller Hoffnung und Zutrauen. Ich dachte, dass die Politiker*innen ihre Verantwortung kennen und wir nur einmal Klartext reden, nur einmal „auf den Tisch hauen“ müssen. Meine ganze Hoffnung setze ich im nächsten Jahr in all die Menschen, die nicht mehr tatenlos zuzusehen, sondern sich diesem mörderischen Kurs in den Weg stellen wollen. Das ist es, was mich ins nächste Jahr trägt. Das ist es, was mich auch im zivilen Widerstand immer weiterträgt. Erst heute hat mir ein Vater von einem Gespräch mit seinem ältesten Sohn erzählt. Sein Sohn meinte, es wäre wohl besser, wenn die Menschheit einfach aussterben würde. Der Vater hatte spontan den Reflex zu antworten: „Mach dir keine Sorgen. So schlimm wird es schon nicht werden.“ Doch es ist ihm nicht über die Lippen gekommen. Er konnte es nicht sagen und seinem Sohn dabei in die Augen schauen.

Vielen Dank für das Interview!

Initiative Gesichter des Friedens

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben        —              2013/14 setzt das „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ die Arbeit mit Realmontagen im öffentlichen Raum fort mit der Serie „Merkel goes to demo“ – hier mit den Chefs der 4 Energiemonopolisten bei einer Demonstration 2014 zur Energiewende

Urheber – Foto: Elke Hollmann

Diese Datei wird unter der Creative-Commons-Lizenz „CC0 1.0 Verzicht auf das Copyright“ zur Verfügung gestellt.

*****************************

2.) von Oben      —     Carla Hinrichs, Sprecherin der „Letzten Generation“

Abgelegt unter APO, Deutschland_DE, Kultur, Positionen, Umwelt | 1 Kommentar »

Debatte um Moor und Wolf

Erstellt von Redaktion am 22. Dezember 2022

Abkommen zum Schutz der Artenvielfalt

Tiervielfalt Oktober 2007.jpg

Argumente die Schützenbrüder nicht mehr zum Jagen von Wölfen tragen zu dürfen ?

Ein Debattenbeitrag von Heike Holdinghausen

Der Vertrag von Montreal löst nicht das Problem des Artensterbens. Aber er bildet einen wertvollen Leitfaden, um Biodiversität besser zu schützen.

Hat wirklich irgendwer geglaubt, die Weltgemeinschaft – und auf der Konferenz der Mitgliedsstaaten der Biodiversitätskonvention in Montreal war ja wirklich die ganze Welt, auch die USA, obwohl sie nicht Mitglied sind, und der Vatikan ist egal – würde so eine Art Umweltgesetzbuch verabschieden? Die Länder würden an einem Dezembertag des Jahres 2022 verkünden, sie würden künftig ihre Chemieindustrie gesundschrumpfen, Ackergifte verbieten, Düngemittel reduzieren, die Plastikproduktion einschränken; sie würden die Landrechte neu ordnen, den Straßenbau einstellen, den Papierverbrauch rationieren? Sie würden ihre Banken und Investmentsfonds an die Kette legen und ihnen Investitionen verbieten, die Böden versiegeln, die Klimakrise anheizen und Meere verdrecken? Und so weiter?

Das alles wäre nötig, um wirksam weltweit den Verlust der Biodiversität zu stoppen. Es wäre nötig, um Tieren und Pflanzen Lebensräume zu bieten und Ökosysteme zu erhalten.

Von denjenigen, die sich schon länger mit dem Schutz der Artenvielfalt befassen, hat das wohl niemand ernsthaft geglaubt. Obwohl jetzt einige so klingen: Der Vertrag sei nicht konkret genug. Er wiederhole die Fehler der Aichi-Ziele, die der Vertrag von Montreal ersetzen wird: Hehre Ansprüche, nix dahinter, keine Sanktionen für Frevler, keine Berichtspflichten für Staaten oder Unternehmen, keine Verbote. Das ist alles richtig, wenn man an den Vertrag von Montreal den Maßstab einer Richtlinie oder eines Gesetzes anlegt. Mit solch einem Maßstab aber lässt sich das „Rahmenabkommen“ der CBD, der Konvention über Biologische Vielfalt, nicht fassen. Das Abkommen mit seinen „Goals“, also langfristigen, und „Targets“, also kurzfristigen, konkreten Zielen, ist eine Diskurshilfe. Nicht mehr. Aber das ist nicht wenig.

Gewiss: Es ist weniger als das Klimaabkommen von Paris. Dieses hat zwar bislang nicht dazu geführt, dass die Treibhausgasemissionen – neben der Landwirtschaft übrigens der zweite große Treiber der Biodiversitätsverluste – sinken. Aber „Paris“ ist rechtlich verbindlich und ermöglicht somit Klagen – etwa vor dem Bundesverfassungsgericht. Seine Kraft entfaltet der Vertrag aber vor allem mit seinem „1,5-Grad-Ziel“. Das halten die meisten Wissenschaftler zwar für nicht mehr erreichbar, doch im politischen Diskurs ist es unschätzbar. Das Ziel wird inzwischen auch von jenen als Argument akzeptiert, die den Klimawandel vor 10 Jahren noch für so drängend hielten wie die Reform der Buchpreisbindung.

Wer die Politiker-innen nicht erkennt hat sein Leben verpennt.

Biodiversität ist ein harter Kampf um Interessen: Wer verdient an einem Stück Land? Wer will die Natur erhalten?

Inzwischen ist das Ziel aller ernstzunehmenden Politikangebote in Deutschland die Klimaneutralität innerhalb der nächsten 30 Jahre, auch wenn sich über die jeweiligen Lösungsvorschläge natürlich trefflich streiten lässt. In den meisten Demokratien ist es ähnlich, in Diktaturen, die auf Stabilität bedacht sind – wie China – ebenso. Seine Wucht hat der „Paris-Moment“ nicht durch den Wortlaut der Verträge entfaltet, sondern durch das Bekenntnis, Klimaschutz jetzt ernst zu nehmen.

Solch ein Bekenntnis hat beim Verlust der biologischen Vielfalt bislang gefehlt. Nun ist es da. Wucht und Durchsetzungskraft wird das Abkommen von Montreal künftig nicht dadurch entfalten, dass das interessierte Publikum es zerredet und sich in Textexegese verzettelt. Sondern dadurch, dass Umweltverbände, Bürgerinitativen und Parteien das Bekenntnis nutzen, um lokale, politische Entscheidungen zugunsten der Biodiversität durchzusetzen.

Wenn der Deutsche Bauernverband künftig gegen die Wiedervernässung von Moorgebieten wettert, stellt er sich offen gegen einen Vertrag der Länder der Welt. Denn auch Deutschland muss wertvolle, zerstörte Naturflächen renaturieren, und Moore fallen Natur- und Klimaschützern da als erstes ein. Wenn das EU-Parlament beschließt, den Abschuss von Wölfen in Europa zu erleichtern, handelt es gegen den Geist von Montreal. Denn der sieht vor, dass die Populationen von Wildtierarten groß genug sein müssen, um die genetische Vielfalt innerhalb der Arten und somit ihre Widerstandskraft gegen Umweltveränderungen zu erhalten. Und der Verband der Ölsaaten verarbeitenden Industrie muss bessere Antworten als bisher finden, wenn er gefragt wird, von welchen brasilianischen Äckern die Soja-Importe seiner Mitgliedsunternehmen stammen, und ob dort die Rechte der lokalen Bevölkerung geachtet wurden oder nicht.

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben       —     Eine Collage, die die Tiervielfalt anhand eines vorgestellten Bildes darstellt.

*************************

Unten       —         Fischsterben in der Oder

Abgelegt unter International, Opposition, Regierung, Umwelt | 1 Kommentar »

Von Entdecker und Viren

Erstellt von Redaktion am 22. Dezember 2022

Warum sind die „Entdecker“ neuer Kontinente nicht an einem für sie neuen, einheimischen Virus gestorben?

Erste Reise, Abfahrt in die Neue Welt, 3. August 1492.jpg

Vielleicht gab es zu Zeiten der großen Entdecker weniger Viren, da die Welt noch intakt war?

Von Johannes Kreis

Wir möchten die Frage stellen, wenn man Viren einschleppen können soll, warum kann man Viren nicht auch abholen?

Oder anders gefragt, warum sollen Ureinwohner an den neuen Viren der Kolonisatoren gestorben sein, die Kolonisatoren aber nicht an den für sie neuen Viren der Ureinwohner? In Bezug auf Virusvarianten von den Ureinwohnern waren die Populationen der ankommenden Kolonisatoren naiv. Hier geht es um Prozesse auf der molekularen Ebene und da gibt es keine ausgezeichnete Richtung, vom Kolonisator zum Ureinwohner.

Charles Darwin umsegelte auf der HMS Beagle 5 Jahre lang, von 1831 bis 1836, die ganze Welt und verstarb 1882 im Alter von 73 Jahren in England. Es wird auch nichts von Pandemien berichtet, die Charles Darwin und der HMS Beagle gefolgt wären.

Deshalb hier einige Anmerkungen.

Es geht wieder um die Zoonose-Hypothese, die den diversen Fakedemien der letzten 40 Jahre zugrunde liegt. Ohne die Zoonose-Hypothese geht es nicht.

Es gibt keinen Beweis, dass in den letzten 40 Jahren alle 3-8 Jahre ein Virus von einem Tier auf den Menschen als neuen Wirt übergesprungen ist und zu einer Pandemie geführt hat, angefangen mit HIV, über BSE, MERS, SARS(1), diverse Schweine- und Vogelgrippen, SARS-CoV2 bis zu den Affenpocken.

Man kann eine Zoonose nicht aus dem genetischen Abstand zwischen einer Virussequenz beim Tier und einer Virussequenz beim Menschen herauslesen. Dieser Abstand ist beliebig, denn er wird auf Basis von ausgesuchten Referenzsequenzen, einmal beim Tier und einmal beim Menschen bestimmt. Aufgrund der extrem hohen genetischen Variabilität von Viren („quasi-species“) gibt es in der Natur keine definierten Referenz-Sequenzen. Die gibt es nur in den Gen-Datenbanken, die zu stark von den Referenz-Sequenzen abweichende Virensequenzen nicht aufnehmen. Damit werden die Referenz-Sequenzen stabilisiert und man versucht, künstlich einen Abstand aufrecht zu erhalten, über den eine Virus springen könnte. Findet man dann irgendwann eine Gensequenz beim Menschen, die einer viralen Sequenz bei einem Tier ähnlich ist, so erklärte man eine Zoonose. Das geht nur deshalb, weil man alle Zwischenschritte, die im Rahmen der natürlichen Evolution zu der neuen Sequenz beim Menschen geführt haben, nicht erfasst. Man könnte sie auch gar nicht erfassen, weil es viel mehr Virusvarianten in  der Natur gibt, als der winzige Bruchteil suggeriert, der selektiv in den Gen-Datenbanken erfasst wurde. Der neue, mutmaßlich zoonotische Erreger wird dann pauschal als kausal für eine Vielzahl von diffusen Symptomen erklärt.

Ohne das singuläre Ereignis der Zoonose funktioniert der ganze Pandemie-Hokuspokus nicht. Weil der Erreger (hier ein Virus) für den Menschen neu sein soll, soll er besonders gefährlich sein. Dafür gibt es ebenfalls keinen Beweis. Das ist unabhängig von der Frage, ob es überhaupt eine Zoonose gab.

Man greift deshalb zu Plausibilisierungen und nimmt historische Ereignisse, bei denen Erreger neu in eine Population eingebracht worden sind, oder dies zumindest plausibel ist, und behauptet, dass es daraufhin ein Massensterben in dieser Population gegeben hätte. So wäre zwar die Zoonose weiterhin nicht bewiesen, aber dennoch die Gefährlichkeit neuer Erreger, die in eine naive Population gelangen.

So wird häufig behauptet, dass indigene Menschen (Ureinwohner) von neuen Krankheitserregern getötet worden wären, die von den Kolonisatoren eingeführt wurden, z.B. während der Kolonialisierung Amerikas (Christoph Columbus im Jahr 1492) oder Chinas (Marco Polo im 13. Jahrhundert) oder Japans (portugiesische Seeleute aus Macau, 1542, und katholische Missionare ab 1549) oder Indiens (unter anderem Vasco da Gama, 1498).  Ein jüngeres Beispiel sollen die Eskimos (Inuit) sein.

Dieses Argument basiert nur auf kolonialer Arroganz, da umgekehrt die Kolonisatoren (die „Eroberer“)  auch mit einer neuen Bevölkerung von Menschen und damit für sie neuen menschlichen Viren (und anderen Erregern) konfrontiert waren. Denn auch in den Ureinwohnern haben sich beständig neue Virusvarianten entwickelt. Und die indigene Bevölkerung war viel größer und lebte in einer Umgebung, die für die Kolonisten völlig neu war, aber nicht neu für die Ureinwohner.

Warum sollten Krankheitserreger der Ureinwohner die Kolonisten nicht durch den gleichen Effekt getötet haben? Das Argument sollte in beide Richtungen funktionieren. Und irgendwann sind die Kolonisatoren auch wieder zurückgesegelt. Aber abgeholte und zurückgeschleppte Pandemien werden nicht berichtet.

Es gibt keine Erwähnung einer Pandemie in Troja, als die Griechen Troja belagerten, weder auf der griechischen noch auf der trojanischen Seite, weder vor noch nach der Eroberung Trojas. Die Sklavenschiffe, die vom 17. bis 19. Jahrhundert von Afrika nach Amerika (und zurück) segelten, importierten keine Pandemie nach Amerika (und auch nicht zurück nach Zentralafrika).

China, Indien und Japan haben sich auch nach der Ankunft westlicher Seefahrer weiterentwickelt und sind nicht von eingeschleppten Viren vernichtet worden. Auch sind die westlichen Seefahrer nicht an für sie neuen chinesischen, indischen oder japanischen Viren gestorben.

Die Wahrheit ist viel einfacher, aber auch deutlich brutaler. Die Indianer in Nord- und Südamerika wurden schlicht versklavt und umgebracht. In China, Indien und Japan ist das nicht gelungen.

Das gleich gilt für die Eskimos, deren Lebensraum immer weiter eingeschränkt wurde. Umgekehrt hätten die Eindringlinge in diesen Lebensraum an neuen Virenvarianten, die sich unabhängig in der Eskimo-Population entwickelt haben, erkranken müssen.

In Bezug auf die Eskimos (Inuit) ist vielmehr zu fragen, von welchen suppressiven Maßnahmen der kanadischen Regierung, z.B. Zwangssterilisation von Frauen, die Viren-Diskussion ablenken soll.

“At least 60 Indigenous women are pursuing a class-action lawsuit against the Saskatoon Health Region, the province of Saskatchewan, the Canadian government and medical professionals for their experiences with coerced, forced or pressured sterilization in Saskatchewan over the course of 20 to 25 years. The procedures, which occurred from about the 1930s to as recently as 2017, targeted Indigenous women specifically.

Die aktuelle Diskussion zu RSV Viren bei Eskimos, die vor allem von Veterinärmedizinern aus dem RKI Umfeld getrieben wird, zeigt nur eins, PCR ist zur Diagnose einer Erkrankung vollkommen ungeeignet. Hier sitzt die Virologie erneut ihren eigenen, falschen Hypothesen auf. Sobald der PCR Test anschlägt, wird das Testresultat als kausal ursächlich für eine Erkrankung unterstellt. Dass das falsch ist, sieht man schon daran, dass es zur Aufrechterhaltung dieses Unsinns notwendig ist, positiv Getestete ohne Symptome als „symptomlos erkrankt“ zu definieren

Baculoviridae virion.jpg

Der PCR Humbug der „symptomlos Erkrankten“ geht auf HIV und die Hypothese des „slow virus“ zurück. Ein „langsamer Virus“ soll 15 – 20 Jahre nach einer Infektion zu Symptomen führen. D.h. 15 – 20 Jahre lang soll man symptomlos an HIV (nicht AIDS!) erkrankt sein, bevor man danach symptomatisch am AID Syndrom, d.h. an opportunistischen Infektionen durch eine Immunschwäche erkranken soll. Es gibt das AID Syndrom, das in den 1980er und 1990er Jahren bei schwer drogenabhängigen und mangelernährten Homosexuellen in den USA auftrat, nach Jahren des Antibiotikamißbrauchs und multiplen Infektionen mit Geschlechtskrankheiten durch ungeschützten Analverkehr. Aber das AID Syndrome hatte nie etwas mit HIV zu tun. Es gibt keinerlei Beweise für die Existenz von „langsamen Viren“. Nur, nach 15 -20 Jahren der antiretroviralen Therapie ist jeder Mensch krank, von den schweren Zellgiften der mutmaßlichen HIV Therapie (nicht AIDS Therapie!).

Bei diesem Pseudo-Argument des „Einschleppens von neuen Viren“ geht es darum, einerseits die grundsätzliche Gefährlichkeit von Viren zu belegen und gleichzeitig die besondere Gefährlichkeit von mutmaßlich neuen Erregern in einer naiven Population zu beweisen. Mit genau denselben Pseudo-Argumenten hat man in den 1990er Jahre zu HIV argumentiert. Tatsächlich wurden die Ureinwohner Amerikas einfach umgebracht (im Gegensatz zu den Chinesen, Indern und Japanern) und HIV+ gemessene Menschen starben an hohen Dosen des hochgiftigen AZT.

Die weit überwiegend milden bis unbemerkten Verläufe bei einer SARS-CoV2 Infektion zeigen, dass die überwiegende Mehrzahl der Menschen rasch eine Immunität aufbauen konnte.

Zum einen kann die zelluläre Immunantwort spezifisch auf Viren reagieren. Das ist für SARS-CoV2 seit April 2020 bekannt. Christian Drosten und Leif Erik Sander sind Co-Autoren dieser Arbeit, die eine vorangegangene Exposition mit endemischen humanen Cornaviren (HCoV) annimmt. Dieser Mechanismus wirkt unabhängig von Antikörpern („seronegative“).

“We demonstrate the presence of S-reactive CD4+T cells in 83% of COVID-19 patients, as  well  as  in  34%  of SARS-CoV-2  seronegative  healthy  donors (HD),  albeit  at  lower frequencies.”

“In light of the very recent emergence of SARS-CoV-2, our data raise the intriguing possibility that pre-existing S-reactive T cells in a subset of SARS-CoV-2 seronegative HD represent cross-reactive clones raised against S-proteinsprobably acquired as a result of previous exposure to HCoV. Endemic HCoV account for about 20% of “common cold” upper respiratory tract infections in humans.”

Zum anderen, viel wichtiger, auch gegen einen unterstellten, neuartigen Erreger wie SARS-CoV2 kann das Immunsystem wirksame Antikörper bilden (humorale Immunantwort). Das ist das „Ischgl-Phänomen“ aus Mitte 2020, das durch Daten aus England, ebenfalls aus Mitte 2020, bestätigt wurde. Das RKI hat dies vollständig ignoriert.

„Auffällig sei, dass von den positiv auf Antikörper getesteten Personen zuvor nur 15 Prozent die Diagnose erhalten hatten, infiziert zu sein, sagt von Laer. „85 Prozent derjenigen, die die Infektion durchgemacht haben, haben das unbemerkt durchgemacht.“

“However, additional analysis shows that, of those who tested positive, only 33% (95% confidence interval: 25% to 43%) reported any evidence of symptoms at the time of their swab test or at either the preceding or subsequent swab test. The share fell to 22% of those testing positive when accounting for those who reported evidence of symptoms only at the time of their swab test.”

Ohne wirksame Antikörper sind diese “symptomlosen Erkrankungen” nicht zu erklären. Aufgrund einer natürlichen Infektion gebildete Antikörper wirken zudem viel breitbandiger, als aufgrund einer Impfung produzierte Antikörper, da bei der natürlichen Infektion der Körper dem ganzen Virus ausgesetzt ist und nicht nur einem kleinen Bruchstück. Es nicht erforderlich, dass der Mensch permanent Antikörper produziert. Der Körper stellt nach einigen Wochen die Produktion dieser Antikörper ein und bildet Gedächtniszellen, die bei Bedarf sofort spezifische Antikörper bereitstellen können, falls der Körper erneut mit dem Erreger infiziert wird. Der Mensch ist dann immun.

Es hat massive Versuche gegeben, aufgrund einer natürlichen Infektion gebildete Antikörper gegen SARS-CoV2 als wirkungslos zu erklären, so wie man das bei HIV gemacht hatte. Nur durch eine Impfung erzeugte Antikörper oder industriell produzierte monoklonale Antikörper sollten wirksam sein. Bei einem Atemwegsvirus mit einer Inkubationszeit von einigen Tagen, war dieser Unsinn schnell wiederlegt.

Die hohen Antikörper-Level Mitte 2020 durch natürliche Infektion sind plausibel, denn sie wurden auch bei anderen Coronaviren beobachtet, vgl.

  • Severance et al., “Development of a Nucleocapsid-Based Human Coronavirus Immunoassay and Estimates of Individuals Exposed to Coronavirus in a U.S. Metropolitan Population”, Clin Vaccine Immunol. 2008 Dec; 15(12): 1805–1810, published online 2008 Oct 22, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2593164/

“We screened sera from 10 children and 196 adults and established primary cutoff points based on immunoglobulin G (IgG) antibody levels of the predominantly seronegative children. The proportion of seropositive adults for each coronavirus was as follows: 229E, 91.3%; HKU1, 59.2%; NL63, 91.8%; and OC43, 90.8%.

Damit hat sich SARS-CoV2 wie ein endemischer Virus verhalten. Das ist auch konsistent mit dem niedrigen Krankenstand in 2020 , wie ihn übereinstimmend alle Krankenkassen berichtet haben, vgl. stellvertretend,

Krankenstand insgesamt gesunken – Insgesamt betrachtet, liefert der Gesundheitsreport jedoch keine Hinweise auf eine grundsätzliche Verschlechterung der Gesundheit von Erwerbspersonen durch die Coronapandemie. Mit einem Krankenstand von 4,14 Prozent lag das Jahr 2020 sogar unter den Werten der Vorjahre (2019 4,22 Prozent; 2018 4,25 Prozent).“

Antikörperstudien in England ab Mitte 2021 haben die hohen Antikörper-Level bestätigt. Allerdings gab es zu diesem Zeitpunkt auch Antikörper, die auf die Impfungen zurückgingen. Vgl. die Ergebnisse aus August 2021,

“In England, it is estimated that over 9 in 10 adults, or 93.6% of the adult population (95% credible interval: 92.5% to 94.5%) would have tested positive for antibodies against SARS-CoV-2, the specific virus that causes coronavirus (COVID-19), on a blood test in the week beginning 12 July 2021, suggesting they had the infection in the past or have been vaccinated.”

Vergleichbare Antikörper-Level berichtete die ONS von Irland, Schottland und Wales. Die Antikörper-Level werden von der ONS in repräsentativen Stichproben regelmäßig überwacht. Z.B. März 2022,

“In England, 98.4% of the adult population (95% credible interval: 98.1% to 98.6%) are estimated to have antibodies against SARS-CoV-2 at the 179 ng/ml threshold, in the week beginning 14 February 2022.”

Es hat in Deutschland bis Oktober 2022 gedauert, bis eine eigene, deutsche Antikörperstudie vorlag, die die Ergebnisse aus UK erwartungsgemäß bestätigt hat.

Dank des späten Zeitpunkts der deutschen Studie und unter Ignorieren der Ergebnisse aus Ischgl oder England, kann man jetzt behaupten, es hätte allein an den Impfungen gelegen. Die vielen „symptomlos Erkrankten“ in 2020 zeigen, dass es nicht an den Impfungen gelegen haben kann. Die gab es in 2020 noch nicht.

Das Ausbleiben der von der Theorie der „Pandemien durch neue, zoonotische Erreger“ vorhergesagten Katastrophe zeigt, dass  diese Theorie falsch ist. Und damit ist diese Theorie auch für HIV falsch. HIV hat nichts mit dem AID Syndrom zu tun. HIV ist ein harmloser, Millionen von Jahren alter Passenger-Virus, den einige Menschen tragen und andere nicht.

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —   Christoph Kolumbus erste Reise, Abfahrt in die Neue Welt, 3. August 1492

Abgelegt unter Gesundheitspolitik, International, Medien, Umwelt, Wirtschaftpolitik | 1 Kommentar »

Natur oder Kapitalismus ?

Erstellt von Redaktion am 21. Dezember 2022

Nichtig oder wichtig, das ist jetzt die Frage

Tiervielfalt Oktober 2007.jpg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Derzeit läuft ein heftiger Streit zwischen Klimasorge und Kapitalismus. „Spätestens seit dem Club of Rome Bericht „Limits to Growth“ gibt es eine Diskussion in Umweltbewegungen, ob eine wachsende Ökonomie überhaupt vereinbar ist mit den natürlichen Grenzen der Erde.“

Diese Diskussionen sind berechtigt und notwendig, um uns aus unserer behaglichen Gedankenlosigkeit aufzuwecken. Zu gedankenlos sind wir in der Nachkriegszeit von einem Konsumrausch in den nächsten getaumelt, ohne uns zu fragen, woher das alles kommt und wohin das führt. Die CO2-Emissionen und andere Vergiftungen von Mensch und Natur sind ohne Zweifel durch ungezügelte Produktion und ungezügelten Konsum entstanden und von einem ebenso ungezügelten Kapitalismus angetrieben worden. Dieser Ritt in den Tod der Menschheit muss unbedingt und ohne wenn und aber beendet werden. Fragt sich nur wie?

Wir ahnen es und schieben es so weit wie möglich von uns weg: Ohne Besinnung und Verzicht wird das sicher nicht gehen. Wir müssen unsere Grundeinstellung überdenken und uns wieder ehrlich fragen, ob etwas wichtig oder nichtig ist. Was brauchen wir wirklich für ein erfülltes Leben und was dient nur der Befriedigung flüchtiger Begierden. Bei der Flut der Ereignisse weltweit müssen wir schnell feststellen, dass wir alle Probleme nicht lösen können, und schon gar nicht gleichzeitig. Also müssen wir bei uns selbst anfangen.

Wir müssen lernen, autonom d.h. Selbst bestimmt zu leben, in eigener Verantwortung und in Harmonie mit der Welt. Mit diesen drei Maximen schaffen wir Ordnung in unserem Leben. Wir werden zwar nicht frei von äußeren Zwängen, aber wir werden frei von solchen, die uns in unserer Persönlichkeit keinen Schritt weiterbringen, wie z.B. vom Konsum unnützer Dinge. Schnell lernen wir, dass man nicht alles haben muss, was man sieht, nicht alles glauben darf, was man hört, nicht alles sagen soll, was man weiß und nicht alles tun soll, was man kann. Das schafft persönliche Reserven, auf Unvorhergesehenes oder Versuchungen richtig zu reagieren.

Eine weitere Waffe gegen unbedachtsames Leben ist Bildung. Das beginnt in der frühesten Kindheit mit dem, was wir von unseren Eltern lernen, geht über die Schule, die Berufsausbildung und hört mit der höchsten akademischen Graduierung nicht auf. Hat man eine solche Form oder Ausstattung erreicht, kann und soll man sich mit Gleichgesinnten zusammentun, um Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen. Denn auch hier muss die Frage immer weider gestellt werden, was wichtig ist und was nicht.

Ohne jeden Zweifel befindet sich unsere Welt wieder einmal in einer starken Veränderung. Da helfen pathetische Schlagwörter wie Zeitenwende nicht, wenn nicht gesagt wird, wohin die Reise gehen soll. Ohne eigene feste Meinung taumeln wir da nur in der Herde weiter, ziellos und immer wieder enttäuscht. Ein Hindernis auf dem Weg zu einer menschen- und naturfreundlicheren Welt ist der allesbeherrschende Kapitalismus, bei dem alles nur auf den materiellen Wert und die Gewinnmaximierung abgestellt ist. Die wenigen, die schon viel haben, haben nie genug und bereichern sich immer weiter schamlos an denen, die zu wenig haben. Das kann und darf nicht richtig sein! Da stellt sich heute mehr denn je die Frage, ob etwas wichtig ist oder eben nichtig.

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-cc

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben       —     Eine Collage, die die Tiervielfalt anhand eines vorgestellten Bildes darstellt.

*************************

Unten          —     Alleestraße 144 in Bochum

Abgelegt unter International, Kultur, Regierung, Umwelt | 1 Kommentar »

2022 war ein Scheißjahr

Erstellt von Redaktion am 21. Dezember 2022

Umweltpolitischer Jahresrückblick 2022 

Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein

Von      :      Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein

Vorwort: Die Umweltbewegung hat sich geirrt.

Wir dachten, wenn die angekündigten Krisen kommen, Wälder brennen, Atomkraftwerke im Krieg beschossen werden, Flüsse austrocknen, Menschen verdursten, Extremwetterereignisse sich häufen und immer mehr Arten ausgerottet werden, würden die Menschen den Zusammenhang von Umweltzerstörung, Gier und unbegrenztem Wachstum verstehen und die tatsächlichen Täter, Täterinnen und Klimakatastrophenverantwortlichen benennen. Wir haben die Macht der Mächtigen unterschätzt.

2022 war ein Scheiß-Jahr!

Der mörderische und völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine war das bestimmende Thema des Jahres 2022. Kriegszeiten sind Zeiten größtmöglicher Dummheit, Irrationalität und selektiver Wahrnehmung, in denen menschliches Denken und Handeln von stammesgeschichtlich erklärbaren, steinzeitlichen Reflexen geprägt ist. Der Krieg stärkte weltweit den organisierten Hass, die Kriegsgewinnler, Populisten und Vereinfacher, die das Rad des ökologischen und sozialen Fortschritts immer schon zurückdrehen wollten.

    • 2022 war weltweit und regional ein Jahr der klimatischen Extreme mit sommerlichen Dürreperioden und Waldbränden. Nach den Aufzeichnungen des Deutschen Wetterdienstes war der Sommer 2022 in Deutschland einer der wärmsten und trockensten – und vor allem der sonnigste – seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881. Die Klimakatastrophe liegt schon lange nicht mehr „in der Zukunft“, sondern sie ist real. Und doch schafften es die alten, atomar-fossilen Seilschaften, die Klimakatastrophenverantwortlichen in enger Zusammenarbeit mit Klimawandelleugnern und der Springer-Presse perfekt, den Zorn auf die jungen Umwelt-Aktiven der „Letzten Generation“ zu lenken. Klimaterrorismus wäre ein gutes Unwort des Jahres 2022. Der gut organisierte Hass schwoll an, denn die Aktionen der jungen Aktiven störten Verdrängung, Apokalypseblindheit und Gewinnerwartungen.

    • Der Krieg, die von Konzernlobbyisten verhinderte Energiewende, die maroden französischen AKW und die von Putin und den Kriegsgewinnlern ausgelöste Energiekrise führte zur Gefahrzeitverlängerung von Kohle- und Atomkraftwerken. Die undemokratische Macht der Konzerne, der Umweltzerstörer und der Umweltzerstörungsparteien wurde sichtbar, als in Deutschland die menschengefährdende Kohle- und AKW-Gefahrzeitverlängerung beschlossen wurde, nicht aber ein menschen- und klimaschützendes Tempolimit. Klima- & Atomkatastrophen fallen nicht vom Himmel. Sie werden gemacht.

    • Die Krisenbewältigung durch die rot-grün-gelbe Bundesregierung war aus ökologischer Sicht bisher blamabel. Laufzeitverlängerung für Kohle und Atom, eine beschleunigte „Energiewende“ insbesondere bei LNG-Terminals, kein Tempolimit und ein peinliches JA zum CETA -Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada … Von einer grünen Handschrift war wenig zu bemerken.

    • Leider hat sich auch die EU wieder einmal blamiert. Investitionen in Gas und Atom sollen ab 2023 als nachhaltig gelten. Mehr umweltzerstörender Greenwash war selten.

    • Ausgerechnet in der „befreundeten Diktatur Katar“ fand die Fußball-Weltmeisterschaft statt. Viele Menschen schauten „bewundernd“ auf die glänzenden Fassaden von Katar & auf die anderen Protzstädte am Golf, in denen eine kleine, superreiche & extrem umweltzerstörende Elite lebt. Die Städte wurden von Menschen im Schweiße ihres Angesichts erbaut, die häufig nicht einmal einen Euro Stundenlohn erhalten haben.

      • Ebenfalls in einer „guten, nützlichen“ Diktatur, in Ägypten, fand die Weltklimakonferenz statt. Auch hier zeigte sich die undemokratische Macht der alten fossilen Seilschaften. Sie verhinderten wieder einmal erfolgreich-verbrecherisch den Fortschritt beim Klimaschutz.

    Die UN-Artenschutzkonferenz in Montreal brachte zumindest Teilerfolge.


  • 2022 war das Jahr, in dem das Geld „verschwand“. Es war plötzlich weg, weniger, aufgelöst, verdunstet & verschwunden. Wohin unser Geld ging, wurde selten berichtet. Es ging von unten nach oben. Es bereicherten sich Kriegsgewinnler, Milliardäre, Gas-Konzerne in befreundeten Staaten & Öl-Konzerne in „befreundeten“ Diktaturen. Gerade die Konzerne, die jahrzehntelang die Klimakatastrophe aktiv gefördert haben, haben sich schamlos bereichert.

Oberrhein und Südbaden: Regionaler umweltpolitischer Jahresrückblick 2022:

    • Mit der Verschiebung der Brennelemente aus dem abgestellten AKW Fessenheim nach La Hague wurde regional die größte Unfallgefahr gebannt. Die riskante Stromerzeugung für eine Generation hat in Fessenheim Atommüll produziert, der noch eine Million Jahre strahlt und 22.000 Generationen gefährdet.

    • Für den Betrieb (nicht nur) der Schweizer Atomkraftwerke werden selbstverständlich immer noch Brennstäbe aus Russland importiert. Macht zeigt sich auch bei der Frage, welche russischen Exportenergien vom Westen boykottiert werden. Atomare Brennstäbe gehören nicht dazu.

    • Die Schweiz will das Endlager für Atommüll im Gebiet Nördlich Lägern wenige Kilometer südlich der deutschen Gemeinde Hohentengen bauen. Die häufig einseitige Berichterstattung zu den atomaren Endlagerplänen der Schweiz war erschütternd unkritisch. Kein Wort zum Permokarbontrog unter dem geplanten Endlager und zur erkennbaren Käuflichkeit der Regionalpolitik. Der Schweizer Franken scheint die optimale „Endlagerformation“ zu sein. Atomare Käuflichkeit schützt zwar nicht die nächsten 30.000 Generationen, passt aber gut in unsere Zeit der Umweltzerstörung und der Gier.


    • Auch in diesem Jahr haben 945 Tonnen Chlorid das Grundwasser bei Buggingen versalzen. Seit dem Jahr 2008 gibt es ein „sanierungserzwingendes“ Gerichtsurteil. Ist dem Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald & dem Kreistag das Grundwasser und Trinkwasser eigentlich scheißegal?

    • Nicht nur in Endingen waren mit zunehmender Beschleunigung

immer mehr Hohlwege illegal befestigt und gepflastert

    •  worden. Das Landratsamt Emmendingen und das Regierungspräsidium Freiburg haben jetzt endlich für Rechtssicherheit gesorgt. Alle Eingriffe in Hohlwege sind genehmigungspflichtig. Nach der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung sind sie vorrangig zu vermeiden.

  • Der Europa-Park will über dem extrem flächenfressenden PKW-Auslieferungszentrum der Firma Mosolf bei Lahr eine große Solaranlage bauen. Die beiden Firmen greifen damit eine alte BUND-Forderung aus dem Jahr 2014 endlich auf.

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben      —    2023-un-klimakonferenz-dubai-cop-28-co2-kritik_source.jpeg (879×587) (mitwelt.org)

Urheberrechtshinweise
Kopien, Texte und Textfragmente dieser Internetseiten dürfen nicht sinnentstellend verwendet werden. Ansonsten dürfen alle Texte, Grafiken und und Bilder an den ich die Rechte habe, bei Angabe der Quelle und Information an mich, natürlich verwendet werden.
Kopiert was das Zeug hält und legt viele viele Links zu dieser Seite

*******************************

Unten     —          Kontakt/Impressum | Mitwelt 

Abgelegt unter Baden-Württemberg, Medien, Positionen, Umwelt | 3 Kommentare »

Festentkräftete Mythen

Erstellt von Redaktion am 20. Dezember 2022

Weihnachtlicher Handapparat für Klimadebatten

Eine Kolumne von Christian Stöcker

An Weihnachten wird viel gestritten, und dieses Jahr wird es dabei oft ums Klima gehen. Viele Fehlinformationen sind zu diesem Thema im Umlauf – hier sind kompakte Antworten auf die gängigsten Mythen.

Ach ja, Weihnachten. Man begegnet Bekannten oder Verwandten, die man sonst selten trifft, Alkohol erhitzt Herzen und Gemüter, dann all die Krisen und der vorweihnachtliche Stress…

Ich habe den Verdacht, dass eines der beliebtesten Diskussionsthemen in diesem Jahr die Klimakrise sein wird, und sei es, weil sich der verbitterte Kollege oder grantige Onkel über Sekundenkleber-Staus und Dosensuppe aufregt. Es lohnt, in diesem Fall schnell auf das eigentliche Thema umzuschwenken: die größte Krise, die die Menschheit je erlebt hat. Mit erleichternden Fakten.

In Gesprächen darüber hört man immer wieder dieselben fünf Pseudoargumente. Alle sind leicht zu widerlegen.

Eins vorab: Sollten Sie an Weihnachten (oder sonst) auf jemanden treffen, der den menschengemachten Klimawandel weiterhin leugnen möchte, weisen sie knapp darauf hin, dass er offenbar an eine globale Verschwörung glaubt, der 196 Staaten, der Papst, die Chefs vieler Autokonzerne, die kommunistische Partei Chinas und sogar das saudische Königshaus angehören. Mit Verschwörungsverrückten zu diskutieren, ist in der Regel sinnlos.

1. »Deutschland trägt doch nur zwei Prozent aller Emissionen bei, wir können ja sowieso nichts ändern.«

Das ist gleich doppelt falsch. Zum einen ignoriert die Zahl zwei Prozent die Emissionen, die wir durch unseren Konsum von anderswo hergestellten Waren verursachen. Der Pro-Kopf-Ausstoß an konsumbasierten Emissionen in Deutschland liegt bei 8,8 Tonnen CO2 pro Jahr . Dazu kommt: Bei den historisch kumulierten Emissionen durch fossile Brennstoffe liegt Deutschland weltweit auf dem vierten Platz . Wir verdanken unserem Wohlstand dem vielen CO2, das hier in den vergangenen Jahrzehnten emittiert wurde. Wir gehören also zu den Hauptschuldigen, wir emittieren pro Kopf viel mehr, als weltweit pro Kopf emittiert werden darf.

Zum anderen ist es erwiesenermaßen falsch, dass Deutschland nichts ändern kann. Wir haben schon einmal bewiesen, dass das geht, und zwar dramatisch: Die Tatsache, dass Solarstrom seit etwa 20 Jahren exponentiell billiger wird und vielerorts (auch bei uns, siehe 5.) mittlerweile die günstigste Form der Energieversorgung überhaupt ist, ist deutscher Regulierung zu verdanken.

Ja, richtig gelesen: Die Solarsubventionen zu Beginn der sogenannten, bis heute so oft gescholtenen Energiewende waren global ausschlaggebend. Um den britischen »Economist« zu zitieren, »Die Lunte war angezündet. Die Rakete hob ab. Bis 2012 hatte Deutschland mehr als 200 Milliarden an Subventionen ausgezahlt. Aber es hatte auch die Welt verändert. «

2. »Das wahre Problem sind die Überbevölkerung und das Bevölkerungswachstum in Afrika und Asien.«

81 Prozent allen Kohlendioxids, das derzeit in die Atmosphäre emittiert wird, stammt aus den G20-Staaten, also den reichsten Ländern der Erde . In diesen G20-Staaten leben derzeit etwa 4,9 Milliarden Menschen . Das sind etwa 62 Prozent der Weltbevölkerung. Das heißt: Die restlichen 38 Prozent der Weltbevölkerung emittieren zusammen nur 19 Prozent allen Kohlendioxids. Viele G20-Staaten wachsen gar nicht mehr – ihre Bevölkerungen überaltern und schrumpfen. Subsahara-Afrika, dessen Bevölkerungswachstum bei Fans der Überbevölkerungsthese ein besonders beliebtes Thema ist, trägt insgesamt weniger als ein Prozent aller Kohlendioxid-Emissionen bei.

In Zukunft weniger Menschen

Dabei leben dort schon jetzt 15 Prozent der Weltbevölkerung. Die reichsten Länder der Welt würden es, wenn sie nicht endlich und drastisch die Richtung ändern, ganz allein schaffen, den Planeten so lange zu erhitzen, bis die menschliche Zivilisation zusammenbricht. Bevölkerungswachstum und CO2-Emissionen sind entkoppelt. Und: Es gibt keine »Bevölkerungsexplosion«. Das Wachstum nimmt seit Jahrzehnten ab.

Das – falsche! – Überbevölkerungsargument ist aus gutem Grund besonders bei der radikalen und extremen Rechten sehr beliebt: Es enthebt einen selbst scheinbar der Verantwortung, etwas zu tun – und es schiebt die Schuld auf Leute ab, auf die man in diesen Kreisen aus rassistischen Motiven heraus sowieso herabblickt. Außerdem bedient es sich der rechts außen so beliebten Täter-Opfer-Umkehr: Die Menschen im globalen Süden, wo es tatsächlich noch Bevölkerungswachstum gibt, haben am wenigsten zur Klimakrise beigetragen – sie tragen aber jetzt schon die Hauptlast der katastrophalen Folgen. Richtig ist: Wir müssen unbedingt alles dafür tun, dass all diese Staaten und Menschen unsere eigenen Fehler vermeiden.

3. »Es ist zu spät, den Klimawandel zu stoppen, wir können uns nur noch anpassen.«

Die These, dass man sich an eine ungebremste Erderhitzung »anpassen« könnte, ist absurd. So absurd wie die Behauptung, es mache nichts, wenn das Fieber weiter steige, der Patient müsse sich nur an die höhere Körpertemperatur anpassen. Würde es zu heiß, käme es zu so vielen Katastrophen auf einmal, dass die Zivilisation das nicht überleben würde. Das ist derzeit durchaus weiterhin im Bereich des Möglichen.

Dann könnten zum Beispiel einfach nicht mehr genügend Lebensmittel produziert werden, gigantische Flüchtlingsbewegungen und Kriege aufgrund von Dürren, Monsterstürmen, Hitzewellen, Überschwemmungen und anderen klimabedingte Katastrophen würden auch vermeintlich reiche Nationen an ihre Grenzen bringen. Weil Lieferketten zusammenbrechen, weil neue Krankheiten entstehen und Ökosysteme, auf die wir absolut angewiesen sind, kollabieren.

Richtig ist: Wir werden nicht darum herumkommen, uns auf die Schäden, die schon jetzt sichtbar und auch auf die, die schon jetzt unausweichlich sind, einzustellen, etwa mit Stadtplanung, anderer Land-, Forst- und Moorwirtschaft, Architektur, Gesundheitsvorsorge, Arbeitsorganisation. Es ist aber nicht möglich, von der Bekämpfung der Klimakrise auf reine »Anpassung« umzuschwenken. Dann wird es einfach immer heißer, der Meeresspiegel steigt immer schneller  – und wenn es ganz schlimm kommt, gibt es irgendwann keine Wolken mehr . Daran kann sich die Menschheit nicht anpassen. Wir müssen diese Erhitzung unbedingt stoppen. So schnell wie möglich.

4. »Irgendwann holen wir das CO2 dann einfach wieder aus der Atmosphäre heraus.«

Tatsächlich werden wir, nach aktueller Lage der Dinge, gar nicht darum herumkommen, irgendwann in möglichst großem Stil CO2 wieder herauszuholen aus der Atmosphäre. Die bislang überwiegend theoretische Möglichkeit, dass das eines Tages in wirtschaftlich tragbarer Weise möglich sein könnte, ist nämlich in den aktuellen Szenarien des Weltklimarates IPCC  schon eingepreist. Bislang aber ist das reines Wunschdenken: CO2-Entnahme aus der Luft ist mit den aktuell verfügbaren Technologien so energieintensiv, aufwendig und teuer, dass die bislang existierenden Pilotanlagen nur homöopathische Dosen Treibhausgase einfangen.

Schon die in derzeitigen Klimaszenarien enthaltenen Annahmen über künftige Verbesserungen in diesem Bereich sind aus heutiger Sicht sehr optimistisch. Optimismus ist nötig, aber sicher nicht hinreichend zur Lösung unserer Probleme. Und wir haben keine Zeit mehr.

Die einfachste und billigste Methode, CO2 aus der Atmosphäre herauszuhalten, ist, keines zu emittieren. Jede vermiedene Tonne spart beträchtliche Summen. »Nicht ausgegeben ist auch verdient«, sagt ein schwäbisches Sprichwort.

5. »Klimaschutz ist zu teuer.«

Quelle        :        Spiegel-online     >>>>>         weiterlesen

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben     —     Festlich verpackte Weihnachtsgeschenke

Abgelegt unter International, Kultur, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

EU – Fallobst – England ?

Erstellt von Redaktion am 18. Dezember 2022

Großbritannien: The first to fall?

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Das Vereinigte Königreich scheint das schwächste Glied der Kette der westlichen Industrieländer zu bilden. (Zweiter Teil einer Serie zum derzeitigen Krisenschub)

Ohne Brexit wäre das nicht passiert. Die Häme, mit der Deutschlands Presse den wirtschaftlichen Niedergang Großbritanniens begleitet, wird kaum noch übertüncht. Kaum ein Bericht über die zunehmenden finanziellen und konjunkturellen Turbulenzen auf den Britischen Inseln, der nicht Ökonomen1 oder Zentralbanker2 zitieren würde, die dies auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU zurückführten. Nördlich des Ärmelkanals drohe eine lang anhaltende Rezession,3 in deren Folge die britische Wirtschaft von ihren europäischen Konkurrenten abgehängt werde,4 während Großbritannien zunehmend ins Abseits gerate,5 so der pessimistische Tenor der deutschsprachigen Wirtschaftspresse.

Und da ist vieles schlicht wahr dran. Vielen Lohnabhängigen auf den Britischen Inseln droht tatsächlich der soziale Absturz. Mitte November veröffentlichte das Office of Budget Responsibility (OBR – Büro für Haushaltsverantwortung beim britischen Finanzministerium) eine langfristige Wirtschaftsprognose für die kommenden Jahre,6 die es in sich hatte: Demnach stehe der Bevölkerung Großbritanniens bis Ende 2024 ein Rückgang des Lebensstandards um sieben Prozent bevor, was den größten Einbruch seit dem Beginn der Erfassung des entsprechenden statistischen Materials in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts bilden würde.7 Die frei verfügbaren Haushaltseinkommen sollen schon im Fiskaljahr 2022/23 laut dem OBR um 4,3 Prozent zurückgehen – dies ist ebenfalls ein historischer Negativrekord.8 Die Wohlstandsgewinne der letzten acht Jahre sollen hierbei revidiert werden.

Mehrere Faktoren tragen zu dieser sich anbahnenden sozialen Krisis bei: Die von steigenden Energie- und Nahrungspreisen angetriebene Inflation im Vereinigten Königreich ist mit 11,4 Prozent (Oktober 2022) besonders hoch,9 während das Land sich auf eine besonders lange Rezession einstellen muss, in deren Verlauf laut Prognosen des OBR rund 500 000 Lohnabhängige arbeitslos werden dürften und die Arbeitslosenquote von 3,5 auf 4,9 Prozent ansteigen soll. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Großbritanniens soll bis 2024 um zwei Prozent schrumpfen, wobei das Vorkrisenniveau des BIP, das am Vorabend der Pandemie Anfang 2020 erfasst wurde, selbst Ende 2024 nicht erreicht werden soll.

Die Bank of England spricht inzwischen von der „längsten Rezession seit den 30er“ Jahren des 20. Jahrhunderts.10 Die konjunkturelle Vollbremsung setzte auf den Britischen Inseln eigentlich schon im vergangenen August ein, als das BIP leicht um 0,3 Prozent zurückging.11 Im gesamten dritten Quartal 2022 erfuhr Großbritannien eine Kontraktion der Wirtschaftsleistung um 0,2 Prozent.12 Zudem soll die Inflation trotz der Zinswende der Notenbank mittelfristig hoch bleiben: auf 7,4 Prozent wird die Teuerungsrate für das kommende Jahr geschätzt.

Zu dem inflations- und rezessionsbedingten Rückgang der realen Einkommen kommen die Folgen der Krise im Finanzsektor und auf dem Immobilienmarkt, sowie der Fallout der geldpolitischen Wende der Notenbank. Viele Hauskäufer und Hypothekennehmer sehen sich mit zusätzlichen finanziellen Belastungen aufgrund der rasch steigenden Zinsen konfrontiert, während der reale Wert ihrer Häuser aufgrund fallender Preise und hoher Inflation rasch zurückgeht. Der prognostizierte durchschnittliche Preisverfall von zehn Prozent bei Immobilien dürfte aufgrund der Inflationsdynamik von mehr als elf Prozent zu einem reellen Wertverlust von rund 25 Prozent binnen der kommenden zwei Krisenjahre führen.13

Als zusätzlicher Inflationstreiber fungiert die schwache britische Währung, die in den vergangenen Monaten gegenüber dem US-Dollar als der Weltleitwährung, in der ein Großteil des Rohstoff- und Energiehandels abgewickelt wird, abwertete, da die US-Notenbank ihre Zinswende rasch vorantreibt.14 Anfang 2022 stand das Pfund noch bei 1,36 Dollar, während es Ende September nur noch 1,08 Dollar waren. Erst nach der Verkündung eines haushaltspolitischen Sparkurses durch London im Oktober stabilisierte sich die britische Währung bei derzeit 1,22 Dollar. Der aufwertende US-Dollar führt somit zum Inflationsimport in Großbritannien, das kaum über eine nennenswerte Exportindustrie verfügt, die von einer schwachen Währung profitieren könnte, was Londons Währungshüter ebenfalls zur „Straffung“ der Geldpolitik nötigt.

Die Erhöhung des Leitzinses auf drei Prozent durch die Bank of England Anfang November,15 der noch weitere restriktive Zinsschritte zur Eindämmung der zweistelligen Inflation folgen sollen,16 lässt wiederum die Zinsen für Kredite und Hypotheken in die Höhe schießen, während viele Kredit- und Hypothekennehmer mit schwindenden Einnahmen konfrontiert sind. Rund zwei Millionen Hauskäufer werden in den kommenden zwei Krisenjahren sich mit höheren Hypothekenkosten konfrontiert sehen, was zu Notverkäufen von Eigentumshäusern und weiterem Preisdruck auf dem Immobilienmarkt führen wird. Zudem laufen viele kreditfinanzierte Unterstützungsmaßnahmen und Konjunkturprogramme der Regierung aus, während die neue Administration von Premier Rishi Sunak Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen implementiert, um das britische Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen.

Auf 55 Milliarden Pfund summieren sich die Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen der britischen Regierung, die sogar eine Ausweitung des Spitzensteuersatzes durch die konservative Administration vorsehen: Die Schwelle des Spitzensteuersatzes wird von 150.000 auf 125.140 Pfund Jahreseinkommen sinken.17 Die Summe des Sparpakets entspricht übrigens dem bisherigen jährlichen Haushaltsdefizit Londons, wobei 30 Milliarden Pfund durch Ausgabenkürzungen eingespart und 25 Milliarden durch höhere Steuern eingenommen werden sollen.18 Mit dem Austeritätskurs soll überdies eine Haushaltskrise verhindert werden, die laut Prognosen des OBR in den kommenden Jahren drohen würde, sollte der bisherige Kurs der schuldenfinanzierten, aktiven Konjunkturpolitik fortgesetzt werden. Ab 2026 wäre demnach das britische Haushaltsdefizit auf mehr als 100 Milliarden Pfund angeschwollen.

Die meisten Austeritätsmaßnahmen sollen ohnehin erst nach den „allgemeinen Wahlen 2024“ wirksam werden, was von Politikern der oppositionellen Sozialdemokraten (Labour) als eine „Falle“ interpretiert worden sei, bemerkte die Financial Times (FT).19 Zudem gibt es eine Ausnahme vom Austeritätskurs: die Subventionierung der Energiepreise, die Verbrauchern einen Preisdeckel garantieren soll, wurde beibehalten, was die öffentliche Verschuldung im November auf 13,5 Milliarden Pfund, 4,4 Milliarden Pfund mehr als Vorjahresmonat, erhöhte.20

Dennoch stellt dieses Sparpaket mitsamt seinen Steuererhöhungen einen fundamentalen Politikwechsel dar, da die vorherige, kurzlebige Regierung unter der glücklosen Premierministerin Liz Truss noch ein umfassendes Steuersenkungsprogramm umsetzen wollte.21 Die Steuersenkungen, insbesondere für Reiche und Konzerne, sollten zu Mindereinnahmen von 45 Milliarden Pfund führen. Truss wollte noch im vergangenen September gar den Spitzensteuersatz gänzlich abschaffen. Nun, rund drei Monate später, werden Steuererhöhungen von 55 Milliarden Pfund von London beschlossen. Der größte Steuersenkungsplan sei 50 Jahren, so die FT über die haushaltspolitischen Pläne von Liz Tuss, werde nun abgelöst von der „größten Steuererhöhung seit 30 Jahren“ unter Premier Sunak.

Das Heimatland des Neoliberalismus verabschiedet sich somit von der Politik der Steuersenkungen und der berüchtigten Doktrin der Trickle-Down-Economics, wonach Mehreinnahmen für Konzerne und Reiche letztendlich auch zur Mittel- und Unterschicht „durchsickern“ würden. Stattdessen steigt die Steuerrate laut OBR auf 37,1 Prozent des britischen BIP, was einen Nachkriegsrekord darstellen werde. Und es waren eben auch letztendlich die „Märkte“, die das Ende dieser in den Zentren des Weltsystems üblichen Krisenpolitik signalisierten, bei der bislang Regierungen einen jeden Krisenschub mit schuldenfinanzierten Krisenmaßnahmen und expansiver Geldpolitik abfangen konnten.

Innerhalb von „sieben Tagen, die Großbritannien erschütterten“, wie es die FT formulierte,22 ist London Ende September zu der drastischen haushaltspolitischen Kehrtwende förmlich genötigt worden. Der britische Markt für Staatsanleihen geriet in Reaktion auf die Steuersenkungen der Regierung Truss in schwere Turbulenzen, die erste Anzeichen einer „finanziellen Kernschmelze“ (FT), also eines Zusammenbruchs des Finanzsystems, aufwiesen. Die Zinsen für britische Staatsanleihen explodierten förmlich binnen weniger Tage, von 3,5 auf fünf Prozent bei 30-jährigen Bonds, was Ausdruck der fallenden Anleihekurse ist. Und die Kurse brachen nur deswegen ein, weil kaum noch Nachfrage nach britischen Bonds bestand, da es vielen Marktteilnehmern nicht klar war, wie London die Steuersenkungen angesichts der rasch anschwellenden öffentlichen Schuldenlast finanzieren könnte.

In seiner 21-jährigen Karriere habe er keine solch dramatische Situation erlebt, klagte ein Fondsmanager gegenüber der FT, da es zeitweise schlicht unmöglich gewesen sei, Käufer für britische Staatsanleihen, für die sogenannten Gilts, zu finden. Selbst während der Finanzkrise von 2008 habe es „immer einen Markt für Gilts“ gegeben. Um die aufkommende „Marktpanik“ (FT) zu ersticken, musste die Bank of England einschreiten und – mitten in einer Phase zweistelliger Inflation – für 65 Milliarden Pfund britische Staatsanleihen aufkaufen, also letztendlich Geld drucken. Dieses „Liquiditätsprogramm“ der britischen Notenbank wurde erst Mitte Oktober, nach der haushaltspolitischen Wende Londons, beendet.23 Der neue Sparhaushalt dient somit auch dem Zweck, den Markt für Gilts zu stabilisieren, da hier eine „G7-Ökonomie“ von einer Marktpanik erfasst worden sei, so die FT. So etwas war bisher eher aus dem globalen Süden oder aus der südlichen Peripherie der EU bekannt, etwa aus Hellas, Spanien oder Portugal am Beginn der Eurokrise. Nun kriecht die Krise in die Zentren des Weltsystems.

Die Märkte für Staatsanleihen sind für gewöhnlich sterbenslangweilig,24 da sie als „sichere Bank“ angesehen werden, wo institutionelle Anleger wie Versicherungen oder Pensionsfonds langfristig Geld sicher anlegen wollen. Und es waren gerade viele britische Pensionsfonds, die aufgrund des Finanzbebens auf dem Anleihemarkt zunehmend unter Druck gerieten.25 Bei einem Crash des Anleihemarktes sind es nicht einfach ein paar Spekulanten, die ihr Geld verlieren – es stehen dann Millionen von Altersbezügen einer ganzen Generation Lohnabhängiger im Feuer. Die Schockwellen einer ausgewachsenen Krise auf dem Anleihemarkt würden somit nicht nur die Finanzsphäre, sondern – vermittels Nachfrageeinbruch und Kreditklemme – die gesamte Ökonomie erschüttern.

Und deswegen ist die abrupte haushaltspolitische Kehrtwende Londons, bei der Mitte Oktober fast alle Steuersenkungen revidiert worden sind, wohl tatsächlich als ein Versuch zu interpretieren, die aufgewühlten „Märkte zu beruhigen“, die kaum noch britische Schuldtitel erwerben wollten, wie es US-Medien in aller Offenheit formulierten.26 Dabei scheinen diese „Beruhigungspillen“ auch bitter nötig zu sein, angesichts des rasant wachsenden britischen Schuldenbergs.27 Die Schuldenlast des britischen Staates entspricht derzeit knapp 101,9 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung Großbritanniens, während es vor Ausbruch der Pandemie nur 84,4 Prozent waren. Das Vereinigte Königreich weist eine höhere Staatsschuldenlast auf als der EU-Durchschnitt, der bei 86 Prozent des BIP liegt. Selbst Frankreich und Spanien haben mit 113 und 116 Prozent nur eine geringfügig höhere Schuldenlast zu schultern.

Die kostspieligen Krisenmaßnahmen Londons nach Ausbruch der Pandemie und des Kriegs in der Ukraine gehen nun mit einer Rezession einher, die den Schuldenberg in Relation zur schrumpfenden Wirtschaftskraft anwachsen lässt. Deswegen ist es fraglich, ob die „Sparpakete“ Londons tatsächlich dazu beitragen können, die öffentliche Verschuldung abzubauen. Volkswirtschaften sind nämlich keine „schwäbischen Hausfrauen“. Sparprogramme führen zu Nachfrageeinbrüchen, die in Rezessionen münden können, was die Schuldenlast gegenüber dem sinkenden BIP schwerer wiegen lässt. Zudem führt Austerität zu sinkenden Steuereinnahmen und steigenden Sozialausgaben – etwa Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld. Aus der Eurokrise ist das Phänomen des regelrechten „in den Bankrott Sparens“ hinlänglich bekannt, das der damalige deutsche Finanzminister Schäuble in seinem Sparsadismus an Griechenland vorexerzierte.

Was sich nun im Vereinigten Königreich voll manifestiert, ist schlicht die grundlegende Krisenfalle28 bürgerlicher Politik, der kein systemimmanenter Ausweg der Krisenverzögerung mehr offen zu stehen scheint. Großbritannien kann zwischen zwei Wegen in die weitere Krisenentfaltung lavieren: London kann Schäuble nacheifern und den deflationären Weg von Sparprogrammen beschreiben, die letztendlich mit zum skizzierten „in die Pleite Sparen“ führen können, oder die britische Regierung nötigt die Notenbank, weiter frisches Geld zu drucken durch den Aufkauf britische Staatsanleihen, was die derzeitige Inflation in eine Hyperinflation umschlagen ließe.

Die neoliberale Ära des schuldenfinanzierten Zombie-Kapitalismus29 geht nun auch an der Themse zu Ende. Der große Unterschied zu der Tragödie in Südeuropa – das während der Eurokrise von Berlin nahezu in den sozialen Kollaps getrieben30 wurde – besteht darin, dass mit Großbritannien nun ein Zentrumsland, ein G7-Staat, sich mit dem vollen Durchbruch der Krisendynamik konfrontiert sieht. Die Weltkrise des Kapitals,31 die in den vergangenen Dekaden schon weite Teile der Peripherie des Weltsystems verwüstete,32 scheint somit endgültig in den Zentren angekommen zu sein. Und sie wird sich zuvorderst ganz konkret in dem eingangs erwähnten „Sinken des Lebensstandards“ der Lohnabhängigen manifestieren, dem gegenüber auch die aktuelle Streikbewegung auf den Britischen Inseln33 machtlos sein wird, solange sie keine antikapitalistische, transformatorische Perspektive34 entwickelt.

Großbritannien ist tatsächlich durch den Brexit zum gewissermaßen schwächsten Glied der Zentrumsstaaten im erodierenden spätkapitalistischen Weltsystem geworden. Italien, das für gewöhnlich als der große Krisenkandidat Europas gehandelt wird, weist zwar einen größeren Schuldenberg in Höhe von 150 Prozent des BIP als das Vereinigte Königreich auf. Doch kann Rom bei seinen Stabilisierungsbemühungen auf die Ressourcen der EZB und der Eurozone bauen, solange Berlin ein fundamentales Interesse an der Beibehaltung der europäischen Gemeinschaftswährung hat. Allein die Größe des europäischen Währungsraums sorgt dafür, dass dieser längere Zeit stabil bleiben und Krisenerschütterungen eher absorbieren kann als isolierte Volkswirtschaften.

London hat nach dem Brexit nur noch die Bank of England und ein BIP, das nur rund 19 Prozent desjenigen der EU umfasst – und das reicht nicht, um mittelfristig nicht zu einer zweiten Türkei zu verkommen, wo die Inflation schon bald dreistellig werden könnte.35 Und dennoch dürfte auch die eingangs erwähnte, deutsche Schadenfreude bald verhallen. Großbritannien geht nur voran, es mag als erstes westliches Zentrumsland fallen, doch die Krise wird sich unweigerlich auch in den restlichen Zentren voll manifestieren.

https://www.patreon.com/user?u=57464083

1 https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/britischer-ex-zentralbanker-ohne-brexit-muessten-wir-keinen-sparhaushalt-diskutieren-a-7794b387-306e-4da9-8fde-96847cc63deb

2 https://www.welt.de/wirtschaft/article242184557/Grossbritannien-Zentralbank-macht-Brexit-fuer-schlechte-Wirtschaftslage-verantwortlich.html

3 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/grossbritannien-industrieverband-rezession-101.html

4 https://www.spiegel.de/wirtschaft/sehr-reale-sorge-dass-grossbritannien-von-wettbewerbern-abgehaengt-wird-a-32d38199-a9c0-44db-81e7-cdff11e3d67a

5 https://www.derstandard.de/story/2000141668233/brexit-rezession-streiks-britische-wirtschaft-geraet-ins-abseits

6 https://obr.uk/overview-of-the-november-2022-economic-and-fiscal-outlook/

7 https://www.theguardian.com/business/2022/nov/17/obr-confirms-uk-enters-year-long-recession-with-half-a-million-job-losses-likely

8 https://www.ft.com/content/5f081f77-ed30-4a06-864e-7e4cc3204017

9 https://www.ft.com/content/1fcc250c-c1c5-4820-a5f4-4e48662a73aa

10 https://www.theguardian.com/business/2022/nov/03/bank-of-england-raises-interest-rates-to-3-percent

11 https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/grossbritannien-rezession-bip-bank-of-england-101.html

12 https://edition.cnn.com/2022/11/11/economy/uk-economy-recession-europe/index.html

13 https://www.ft.com/content/528500c8-7cfa-4aaf-9fca-7692aafeb9ce

14 https://www.konicz.info/2022/12/09/geldpolitik-vor-dem-bankrott/

15 https://www.theguardian.com/business/2022/nov/03/bank-of-england-raises-interest-rates-to-3-percent

16 https://www.theguardian.com/business/2022/dec/11/bank-of-england-set-to-spoil-the-festive-mood-with-another-interest-rate-rise

17 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wie-rishi-sunak-den-britischen-schuldenberg-abbauen-will-18467860.html

18 https://www.ft.com/content/df59e66a-1659-428e-b96a-b0419ed584b1

19 https://www.ft.com/content/5daeca83-dc55-4371-bfe3-b20140cf1fe1

20 https://www.ft.com/content/da60d21b-7fe0-4b1f-85c7-bbf3f4a0b2f6

21 https://www.nytimes.com/2022/09/23/world/europe/uk-tax-cuts-economy.html

22 https://www.ft.com/content/1ace8d42-f3ee-4fdd-a103-5cd4234e8c42

23 https://www.nytimes.com/2022/10/12/business/dealbook/britain-markets-turmoil-gilts-pound-andrew-bailey.html

24 https://www.konicz.info/2022/07/22/schuldenberge-in-bewegung/

25 https://edition.cnn.com/2022/10/08/investing/uk-pension-funds-market-chaos/index.html

26 https://www.cnbc.com/2022/10/17/uks-new-finance-minister-sets-out-.html

27 https://www.ons.gov.uk/economy/governmentpublicsectorandtaxes/publicspending/bulletins/ukgovernmentdebtanddeficitforeurostatmaast/june2022

28 https://www.konicz.info/2022/12/09/geldpolitik-vor-dem-bankrott/

29 https://www.streifzuege.org/2017/wir-sind-zombie/

30 https://www.konicz.info/2015/07/27/willkommen-in-der-postdemokratie/

31 https://www.konicz.info/2011/11/29/kurze-geschichte-der-weltwirtschaftskrise/

32 https://www.konicz.info/2013/05/27/mad-max-im-zweistromland/

33 https://www.nytimes.com/2022/12/14/world/europe/uk-strikes-winter-discontent.html

34 https://www.konicz.info/2022/10/12/emanzipation-in-der-krise/

35 https://www.statista.com/statistics/895080/turkey-inflation-rate/

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben      —       Graffiti, New Oxford Street

Abgelegt unter Europa, Finanzpolitik, Schicksale, Wirtschaftpolitik | 1 Kommentar »

Politik ganz ohne Limit ?

Erstellt von Redaktion am 17. Dezember 2022

Ukrainekrieg und Klimakrise: Die geschürte Polarisierung

Von Albrecht von Lucke

Gestern standen wir am Abgrund, heute sind wir schon einen Schritt weiter.“ Dieser Sponti-Spruch der 1980er Jahre könnte der passende Kommentar zum Jahreswechsel 2022 auf 2023 sein, wenn uns nicht die Ironie vor zehn Monaten ausgetrieben worden wäre. Allzu oft war in den letzten Jahren von einem annus horribilis die Rede, doch das Horror-Jahr 2022 stellte – jedenfalls aus europäischer Sicht – das Vorangegangene klar in den Schatten.

Als vor drei Jahren die Coronakrise begann, wurde diese umgehend als die größte Herausforderung des Kontinents nach 1945 begriffen. Heute sehnen sich viele fast schon in diese Zeit zurück. Deutlicher könnte nicht zum Ausdruck kommen, wie radikal der 24. Februar, der Beginn von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Zeit in ein davor und danach teilt. Russland zerstört mit seinem Bombenterror nicht nur ganz systematisch die Existenzgrundlage der Ukraine, sondern versucht damit auch den Zusammenhalt des Westens und speziell der EU zu untergraben, durch die dadurch ausgelöste Migration und Energiekrise.

Faktisch hat das Jahr 2022 unsere gleich vierfache Abhängigkeit schlagend deutlich gemacht: erstens energiepolitisch von Russland, zweitens militärpolitisch von den Vereinigten Staaten, drittens industriepolitisch von China und viertens ökologisch von globalen Natur- und Klimabedingungen, die von einer expansiven Wirtschaftsweise zunehmend zerstört werden. All das führt – außen- wie innenpolitisch – zu einer zunehmenden Radikalisierung und Polarisierung.

Wenigstens einen kleinen Lichtblick zum Ende des Jahres beschert uns das kontrafaktische Denken, zeigt es doch, dass alles noch weitaus schlimmer hätte kommen können. Wäre die Ukraine nicht – aufgrund der US-amerikanischen Ausbildung und Aufrüstung seit 2014 – zu ihrer Verteidigung in der Lage gewesen, stünde Russland heute an der polnischen Grenze und die am 4. Februar zwischen Xi Jinping und Putin verkündete grenzenlose Freundschaft der Autokraten hätte weltweite Ausstrahlung. Keine Rede wäre dann von einer Isolation Russlands dank der Distanzierung wichtiger Staaten, wie auf dem jüngsten G20-Gipfel in Bali geschehen. Stattdessen würden sich die entscheidenden Mächte in der zweiten Reihe – Indien, Indonesien, Brasilien und Südafrika –, klar gen China und Russland orientieren. Denn noch immer sind es die Sieger, die die Geschichte schreiben.

Und wenn nicht Donald Trump bei den jüngsten Zwischenwahlen in den Vereinigten Staaten massiv an Zustimmung verloren und den Republikanern eine gewaltige Führungsdebatte beschert hätte, stünde mit Sicherheit Joe Biden, der mittlerweile 80 Jahre alte US-Präsident, voll in der Kritik und damit die Frage im Raum, ob bei der Präsidentschaftswahl 2024 das autoritäre Comeback überhaupt noch zu verhindern sei. Und schließlich drittens: Hätte nicht Lula da Silva mit hauchdünnem Vorsprung die Wahl in Brasilien gegen Jair Bolsonaro gewonnen, wäre dies ein Verhängnis für die Zukunft des Regenwalds und damit auch für die ökologische Zukunft des Planeten.

Das aber verweist auf die zweite dramatische Entwicklung des Jahres 2022: die Radikalisierung der ökologischen Krise, die immer mehr Richtung Katastrophe tendiert. „Wir sind auf dem Highway zur Klimahölle – mit dem Fuß auf dem Gaspedal“, sagte UN-Generalsekretär António Guterres in seiner Eröffnungsrede auf der Weltklimakonferenz COP27. „Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens – und sind dabei zu verlieren“, so seine ultimative Warnung. Und dennoch konnte von überzeugenden Ergebnissen keine Rede sein, weil nationalstaatlicher Egoismus zum wiederholten Male eine überzeugende globale Lösung verhindert hat. Obwohl rhetorisch unvermindert am Pariser 1,5-Grad-Ziel festgehalten wird, rückt dieses doch immer mehr in weite Ferne.[1]

Die dramatische klimapolitische Lage spiegelt sich in einer zunehmenden Polarisierung auch in den westlichen Gesellschaften – und in einer immer verzweifelteren Klimabewegung, die in den letzten Monaten vor allem durch die Aktionen der „Letzten Generation“ in Erscheinung getreten ist. Doch so berechtigt das grundsätzliche Anliegen, so fatal in ihrer Wirkung sind die durchgeführten Blockaden von Straßen und Flughäfen. Eine Bewegung, die für sich in Anspruch nimmt, Mensch und Natur retten und bewahren zu wollen, konterkariert ihr eigenes Anliegen, wenn sie die Gefährdung von Menschenleben in Kauf nimmt. Selbst wenn der Tod einer Radfahrerin in Berlin im Ergebnis nicht durch die Straßenblockade der Letzten Generation herbeigeführt wurde, wird durch derartige Aktionen die vorhandene Zustimmung in der Bevölkerung zu intensiverer Klimapolitik nicht vergrößert, sondern verringert.

Ja, mehr noch: Die Gegenseite nimmt diese Steilvorlage dankbar auf, wenn etwa CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt eine „Klima-RAF“ an die Wand malt. „Hallo Justizminister! Hallo Innenministerin! Sperrt diese Klima-Kriminellen einfach weg! […] Täter müssen Konsequenzen spüren“, twitterte ausgerechnet Ex-Verkehrsminister Andreas Scheuer. So unverfroren eine derartige Forderung aus dem Munde eines Mannes ist, der den Staat – und damit die deutsche Bevölkerung – mit seiner verfehlten Mautpolitik Milliarden gekostet und dafür nie Konsequenzen gespürt hat, artikuliert sich hier doch auch ein forcierter Volkszorn, der regelrecht zur Selbstjustiz auffordert.

Rhetorische Aufrüstung

„Opfer fragen sich: Bin ich eigentlich machtlos? Oder kann ich denen eine kleben?“, lautete denn auch die Frage der „Bild“-Zeitung, die massiv an der Empörungswelle gegen die „Klimakleber“ dreht. Der Jurist und „Bild“-Kolumnist Joachim Steinhöfel musste zwar mit Bedauern feststellen, „Ohrfeigen als erste Maßnahme wären wohl unverhältnismäßig“, aber, so sein triumphierendes Resümee, „Notwehr ist ein scharfes Schwert. Sie gestattet alles, was erforderlich ist, um eine Straftat ,sicher und endgültig‘ zu beenden.“ Wie das aussehen könnte, teilt der einschlägig bekannte Medienanwalt Ralf Höcker mit: „Autofahrer dürfen #Klimakleber selbst von der Straße zerren. Sie müssen nicht auf die Polizei warten. Verletzungen, z.B. an den Handflächen der #Klimaaktivisten, sind hinzunehmen und ändern nichts am Notwehrrecht des Autofahrers.“[2] Hier zeigt sich: Weil sich der radikale Teil der Klimabewegung durch seine nicht vermittelbaren Aktionen selbst delegitimiert, können seine Gegner eine rhetorische Aufrüstung betreiben, die zunehmend selbst zur Tat drängt.

Weniger brachial, aber dafür nicht weniger ambitioniert agiert die soeben im CDU-Umfeld gegründete „Denkfabrik für neue bürgerliche Politik“, R21.[3] Deren Initiator und Vordenker, der CDU-Historiker Andreas Rödder, bringt die Strategie in einem „Spiegel“-Artikel auf den Punkt.[4] Rödder sieht den gesamten Westen in einer historischen Auseinandersetzung mit neuen totalitären Kräften, weshalb er eine neue Eindämmungspolitik nach dem Vorbild des Kalten Krieges fordert: „Die moderne westliche Lebensform […] sieht sich von innen und von außen herausgefordert. Und so wie es George F. Kennan 1946 postulierte, so muss sich der Westen auch in der neuen Systemauseinandersetzung sowohl auf militärisch-politischer als auch auf gesellschaftlich-kultureller Ebene behaupten.“ Die Ironie der Argumentation besteht darin, dass es Rödder neben der erfolgreichen Außenpolitik des Westens vor allem um dessen Verteidigung nach innen, gegen die neuen Systemgegner von links, geht. Denn, so Rödder: „Das historisch einmalige und zugleich so tief internalisierte Wohlstands- und Freiheitsversprechen des westlichen Gesellschaftsmodells steht unter dem Verdacht [!], die Lebensgrundlagen der Menschheit zu zerstören. Weite Teile der Klimabewegung sehen im Kapitalismus den Verantwortlichen für das drohende Ende der Welt, das an die Stelle des hoffnungsfrohen Narrativs vom ‚Ende der Geschichte‘ nach 1989 getreten ist.“

Quelle          :             Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben     —       Blockade der A100 durch den Aufstand der Letzten Generation, Berlin, 29.06.2022

Abgelegt unter International, Medien, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Radikaler Klimaprotest

Erstellt von Redaktion am 16. Dezember 2022

Warum die »Letzte Generation« toxisch ist – und deshalb gebraucht wird

Die politischen Trolle sollten sich endlich eine Arbeit suchen welche sie beherrschen, aber die finden sie wohl nie!

Eine Kolumne von Sascha Lobo

Die »Letzte Generation« hat Greta als Feindbild der Dieselfraktion abgelöst. Darin liegt eine Chance für mehr Klimaschutz.

Die »Letzte Generation« hat ein wichtiges und Überlebens-relevantes Anliegen – und trotzdem ist sie gesellschaftlich und politisch sehr problematisch. Die wichtigsten Gründe dafür sind die paniktreibende Weltuntergangskommunikation einerseits und ihre toxische Selbstüberhöhung bis hin zum Erlöserkomplex – wer, wenn nicht wir! – andererseits. Und doch wird die »Letzte Generation« dringend gebraucht. Das hört sich mindestens paradox, eventuell sogar spektakulär unsinnig an. Aber es ist in der gegenwärtigen Eskalation der Klimakatastrophe doch folgerichtig.

Schädliche Weltuntergangskommunikation

Abgelegt unter APO, Energiepolitik, Kultur, Positionen, Regierung, Umwelt | Keine Kommentare »

Umgang mit Klimaprotesten

Erstellt von Redaktion am 15. Dezember 2022

Politik der Doppelmoral

Ein Debattenbeitrag von Stefan Kühl

Lkw-Blockaden? Kein Problem! Klimablockierer? Härte des Rechtsstaats! Warum manche Formen zivilen Ungehorsams Politiker besonders provozieren.

Anfang 1984 kam es in Deutschland zu Straßenblockaden, die alle Aktionen der heutigen Klimaaktivisten in den Schatten stellen. Lkw-Fahrer blockierten über Tage die Inntal-Autobahn, um gegen die langsame Abfertigung am Zoll zu protestieren.

Angesichts der heftigen Reaktionen auf die Straßenblockaden der Klimaaktivisten der Letzten Generation könnte man vermuten, dass besonders die als Garanten des Rechtsstaats auftretenden Politiker von CDU und CSU seinerzeit die protestierenden Kraftfahrer als „kriminelle Straftäter“ beschimpft und Forderungen an die Justizminister aufgestellt hätten, die Verbrecher auf acht Rädern „einfach wegzusperren“. Man könnte auch annehmen, dass Blockierer in konsequenter Anwendung des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes in Präventivhaft genommen wurden.

Das Gegenteil war der Fall. Die Polizei ließ die Lkw-Blockaden auf den Straßen stehen und notierte nicht einmal die Autokennzeichen der Fahrzeuge. Bayrische Politiker setzten keine Hundertschaften der Polizei in Marsch, um die Straßen zu räumen, im Gegenteil: Minister, Staatssekretäre und Abgeordnete der CSU pilgerten zu den Blockierern, um ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen. Der damalige bayrische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß warf sich sogar in Trucker-Kluft, um seine „volle Unterstützung“ mit den Protestierenden zu zeigen.

Aus juristischer Perspektive müsste man davon ausgehen, dass Politiker auf Straßenblockaden stets gleich reagieren, unabhängig vom Inhalt der Proteste. Denn anders als bei angemeldeten Kundgebungen, bei denen die kurzzeitige Behinderung des Verkehrsflusses durch das Demonstrationsrecht gedeckt ist, handelt es sich bei Straßenblockaden eindeutig um eine illegale Protestform.

Es gelten unterschiedliche Standards

Man müsste deswegen erwarten, dass die sich zu den Prinzipien des Rechtsstaat bekennenden Politiker zwar ein mehr oder minder ausgeprägtes Verständnis für die Anliegen der Protestierenden äußern, aber die Proteste doch aufgrund ihrer Illegalität konsequent verurteilen. Aber scheinbar existieren für Lkw-Fahrer, die über Tage Autobahnen versperren, und Klimaaktivisten, die für einige Stunden eine Straße blockieren, unterschiedliche Standards. Wie ist das zu erklären?

Die einfachste Antwort ist, dass das Bekenntnis zu rechtsstaatlichen Prinzipien stark von den politischen Positionen der jeweiligen Parteien abhängt. Parteien mit Nähe zur Autolobby zeigen größere Toleranz für Gesetzesverstöße, wenn durch Blockaden das Prinzip der freien Fahrt für freie Bürger durchgesetzt werden soll, reagieren aber allergisch, wenn sich die Proteste gegen ihre autofreundliche Verkehrspolitik richten.

Parteien, die zum Schutz des Klimas den Autoverkehr in den Städten einschränken wollen, sympathisieren mit Aktionen der blockierenden Klimaaktivisten, würden aber auf konsequenter Durchsetzung des Rechts bestehen, wenn Autofahrer als Protest gegen ein Tempolimit kollektiv mit 100 km/h durch die Stadt heizen würden. Diese Erklärung mit unterschiedlichen Parteipräferenzen ist sicher nicht falsch, kann die Heftigkeit der Reaktionen auf die Proteste der Klimaaktivisten aber nicht erklären.

Der inszenierte Kontrast provoziert

Unabhängig von den konkreten politischen Forderungen scheinen sich Politiker durch den Anspruch einer moralischen Überlegenheit der Klimaaktivisten provoziert zu fühlen. Bewegungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie für allgemein akzeptierte Werte wie Menschenrechte, Weltfrieden oder Klimaschutz einstehen, aber dabei suggerieren, dass diese nur mit den von ihnen geforderten einschneidenden Maßnahmen erreicht werden können. Die Moralisierung der Werte führt dazu, dass diejenigen, die den weitgehenden Maßnahmen nicht zustimmen wollen, die geballte Missachtung der Bewegung gezeigt bekommen.

Deswegen provoziert gerade der inszenierte Kontrast zwischen dem hehren Wert der Menschheitsrettung der Protestierenden und den an unbeschränkter individueller Mobilität orientierten Bedürfnissen der blockierten Autofahrer und der visuell eindrucksvolle Gegensatz zwischen den bewusst friedlichen Blockierern und aufgebrachten Autofahrern.

Wir wissen von den Protesten gegen die britische Kolonialpolitik oder gegen die Apartheidpolitik in Südafrika, dass nicht der Einsatz von Gewaltmitteln durch Protestierende, sondern gerade der Gegensatz zwischen gewaltfreien Protesten und einer zum Einsatz staatlicher Gewalt bereiten Politik die heftigsten Reaktionen bei Politikern hervorrufen. Schlimmer als der Einsatz von Gewalt bei Protestaktionen scheint für Politiker die Symbolisierung einer moralischen Überlegenheit der Protestierenden durch illegale, aber inszeniert friedliche Proteste.

Aufmerksamkeit ist für erfolgreichen Protest notwendig

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben     —     Blick von der Tiroler Bundesstraße 171 auf die Inntalautobahn A 12 bei Mils/Imst;

Aufgenommen von Pflatsch am 26. Aug. 2005, um 16:13 Uhr

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported Lizenz.

****************************

Unten         —     Blockade der A100 durch den Aufstand der Letzten Generation, Berlin, 29.06.2022

Abgelegt unter Deutschland_DE, Positionen, Regierung, Umwelt | Keine Kommentare »

Das Klima-Endspiel

Erstellt von Redaktion am 15. Dezember 2022

Kipppunkte, Klimagerechtigkeit und die Letzte Generation

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Jürgen Tallig

Der Widerspruch zwischen Geist und Macht ist nicht auflösbar, das könnte die bittere Bilanz sein nach der Klimakonferenz, angesichts einer Menschheit die sehenden Auges, in wilder Konkurrenz weiter in Richtung einer lebensfeindlichen Erde unterwegs ist und sich selbst angesichts der Klimakatastrophe unfähig zeigt, einer kollektiven Vernunft der Überlebenssicherung zum Durchbruch zu verhelfen.

Wir befinden uns auf dem Highway in die Klimahölle,- mit dem Fuß auf dem Gaspedal.“

So hat UN- Generalsekretär Gutteres bekanntlich den Stand der Dinge vor und auch nach der nun schon 27. UN-Klimakonferenz (COP) im ägyptischen Scharm-el-Scheich zusammengefasst, die kurz gesagt ein Desaster für das Klima war.

Die Akteure einer entfesselten, weltweiten Konkurrenz wollen auf der vermeintlichen Erfolgsspur bleiben und sind unfähig und unwillig zu erkennen, dass ihr fossil- mobiler „Way of Life“ in den entropischen Abgrund führt. Dabei stehen alle Warnsignale längst auf Rot.

Durch die Coronapandemie, den schrecklichen Bruderkrieg in der Ukraine und die folgenden globalen Veränderungen auf den Energie- und Rohstoffmärkten, wurden die Klimaproblematik und ihre existentielle Dringlichkeit noch weiter in den Hintergrund gedrängt.

Der aufrüttelnde Sechste Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC) wurde kaum wahrgenommen und auch weitere alarmierende Klimastudien haben die Öffentlichkeit und auch die Politik offenbar nicht wirklich erreicht. Die Ampel schaltete nicht auf Grün für das Klima, sondern auf Grün für die Sicherstellung weiterer fossiler Energieversorgung und für die Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums, auch wenn dies inzwischen unübersehbar in die Klimakatastrophe führt.

Auf diese lebensbedrohliche Fehlorientierung der Politik hinzuweisen, ist ein unbestreitbares demokratisches Verdienst der Aktivisten der „Letzten Generation“, die den „Burgfrieden“ eines korporativen fossil-mobilen Kapitalismus zu Recht stören und einen sofortigen Kurswechsel fordern.

Fossile Konterrevolution

Zumal die Anzeichen für einen Rollback in der Klimapolitik immer unübersehbarer werden.

Die Klimakonferenz in der ägyptischen Wüste war das jüngste Beispiel für den Willen von Kapital und Wirtschaft möglichst jede klimapolitische Limitierung zu verhindern und führte zum wohl größten und folgenreichsten Politikversagen der Weltgeschichte beim finalen Klima- Poker. Vielleicht wollte man aber auch gar keine Ergebnisse, sondern diese gerade verhindern. Es scheint fast so.

Welch verbrecherischer Coup.

Die Konferenz brachte außer einer unverbindlichen Bekräftigung des 1,5 Grad-Ziels und einigen unverbindlich zugesagten Almosen für die Opfer der Klimakatastrophe, kein Umsteuern zuwege.

Das gastgebende Militärregime, das vom Westen unterstützt wird, tat alles, um substantielle Ergebnisse zu verhindern,- so wurde ein Vorschlag Indiens und 80 weiterer Länder zum Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen regelrecht sabotiert. Alleine 636 Lobbyisten für Öl und Gas waren anwesend,- offenbar erfolgreich. Es gab deutsche Geschäftsanbahnungen für Erdgas aus Afrika. Und auch in Katar war Deutschland erfolgreich, wenn schon nicht im Fußball, dann wenigstens bei einem großen Deal mit fossilem Erdgas. ,- die Entwicklungen gehen also weiter in die völlig falsche Richtung.

Es zeigt sich eine neue Allianz von reichen ÖL- und Gasstaaten und westlichen Industrieländern.

Es ist sicher nicht übertrieben, von einer fossilen Konterrevolution und einem weitgehenden Scheitern der internationalen Klimapolitik zu sprechen, -trotz erschreckender Klima-Berichte und der unübersehbaren Zuspitzung der Klimakrise.

Die Welt erlebt derzeit eine Art Klima- Amoklauf, mit ungebremsten Investitionen in fossile Brennstoffe und Strukturen, erpresserischem Preissenkungsdruck des Westens (nicht nur gegen Russland) sowie ungebremster Naturzerstörung. Die G7 versuchen ein neues „Preiskartell“ zu installieren, um fossile Energie noch billiger zu machen, anstatt eine globale CO2- Steuer und eine Verteuerung der fossilen Energie, als Königsweg des Klimaschutzes zu betreiben.

Klimapolitik scheint nur noch eine Art Alibi- und Feigenblattfunktion zu haben, beim Great Game um den globalen Kuchen.

Wir sind weiter völlig ungebremst in Richtung Klimakatastrophe unterwegs. Laut einer aktuellen Studie der Weltmeteorologieorganisation WMO, https://library.wmo.int/index.php?lvl=notice_display&id=22083#.Y5HsjMuZMY0

könnte eine Erderwärmung von 1,5 Grad jedoch bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre erreicht sein und damit eine eskalierende Klimakettenreaktion drohen.

Die Letzte Generation erinnert uns daran.

Die Mächtigen der Welt verschleiern, unterdrücken und bekämpfen die „unbequeme Wahrheit“ (siehe mein Kommentar/Artikel „Die Wahrheit stirbt zuerst“ auf dem Blog Postwachstum).

https://www.postwachstum.de/prioritaet-fuer-wachstum-oder-klimaschutz-20190215

Gefährdung unseres Lebens und unserer Zukunft

Unsere imperiale Wirtschafts-und Lebensweise hat einen zerstörerischen, parasitären Charakter und verheerende planetare Auswirkungen,- sie überlastet und schädigt weltweit die Biosphäre und destabilisiert das Klima- und Erdsystem, gefährdet also das Leben und das Überleben der Menschheit und ist nicht länger möglich.

BRIEF AN DIE BUNDESREGIERUNG von Letzte Generation Herbst 2022 (Auszüge):

https://letztegeneration.de/brief-an-die-bundesregierung/

„…Die Erderhitzung schreitet ungebremst voran. Diesen Sommer war es in Europa so heiß wie noch nie. Urlaubsregionen haben gebrannt, das Grundwasser sinkt teils auf dramatische Pegel und tausende sind an der Hitze gestorben. In Pakistan sind 33 Millionen Menschen von einer Flutkatastrophe betroffen. Über 1500 Menschen starben, darunter 528 Kinder. Den Bereich sicherer klimatischer Bedingungen haben wir längst verlassen.

Sie versprachen uns …, Anstrengungen zu unternehmen, die globale Erderhitzung auf +1,5°C zu begrenzen. Doch das haben Sie nicht getan. Die 1,5°C werden in den kommenden Jahren überschritten werden – voraussichtlich bis 2030 (spätestens J.T.). Wenn wir 1,5° Erderhitzung aber bereits 2030 erreichen (und damit eine eskalierende Klimakettenreaktion auslösen J.T.), was ist “Klimaneutralität 2045” dann anderes als die Gefährdung unseres Lebens und unserer Zukunft? „.

So ist es, wir können das Klimasystem ganz gewiss nicht noch weitere 23 Jahre überlasten.

Immer weiteres Wachstum gibt es nur noch auf Kosten anderer, des Südens, der Natur und der kommenden Generationen.

Das Klima-Endspiel

“Code Red” – „Alarmstufe Rot“, so beschreibt der Weltklimarat IPCC in seinem jüngsten, nunmehr schon sechsten Sachstandsbericht die Situation. https://de.wikipedia.org/wiki/Sechster_Sachstandsbericht_des_IPCC

Hier eine Passage aus der Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger:

„Falls die globale Erwärmung über 1,5 °C hinausgeht, auch vorübergehend in Form eines Overshoots, dann werden eine Vielzahl menschlicher wie auch natürlicher Systeme zusätzlichen schwerwiegenden Risiken ausgesetzt sein. Abhängig davon, wie groß die Temperaturüberschreitung ausfällt oder wie lange sie andauert, werden manche Klimawandelfolgen eine zusätzliche Freisetzung von Treibhausgasen bewirken. Wieder andere Folgen werden unumkehrbar sein, selbst gesetzt den Fall, dass die Erwärmung später wieder verringert wird.“

Ein „weiter so“ ist also unverantwortlich und führt in die permanente ökologische Katastrophe und zerstört die Reproduktionsfähigkeit der Lebensgrundlagen,- auch bei uns.

UN-Chef Guterres schlussfolgerte aus dem Bericht:

„Klimaaktivisten werden manchmal als gefährliche Radikale dargestellt. Aber die wirklich gefährlichen Radikalen sind diejenigen, die die Produktion von fossiler Energie weiter erhöhen.“

Und nicht drastisch reduzieren, ist hinzuzufügen.

Noch nie sei die Konzentration an Treibhausgasen in der Erdatmosphäre so schnell gestiegen wie in den vergangenen Jahren. Die Weltklimaorganisation WMO warnte bereits 2017: Wenn der CO2-Gehalt weiter rapide steigt, könnten beispiellose Klimaveränderungen “mit schweren ökologischen und wirtschaftlichen Störungen” ausgelöst werden. Eine derart hohe Treibhausgaskonzentration wie heute gab es zum letzten Mal vor etwa drei bis fünf Millionen Jahren (Klimaerwärmung, Wir vererben einen unwirtlichen Planeten ZEIT ONLINE, 30.10.2017).“

https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-10/klimaerwaermung-treibhausgas-konzentration-atmosphaere-weltwetterorganisation?page=2&utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

Eine brandaktuelle Studie namhafter Klimawissenschaftler mit dem Titel „Klima-Endspiel“ (2022)

verweist auf die bisherige Vernachlässigung und Unterschätzung von Kipppunkten im Klima- und Erdsystem und auf eine bisher viel zu optimistische Einschätzung von Risiken. Eine schnelle Erderwärmung von 3 Grad gefährdet möglicherweise bereits das Überleben der Menschheit

(siehe: Klimakrise: Was passiert bei drei Grad Erderwärmung, Spektrum der Wissenschaften)

https://www.spektrum.de/news/klimakrise-was-passiert-bei-drei-grad-erderwaermung/2044870

Eine weitere neue Klimastudie hat mehr als 200 Forschungsberichte

einbezogen, um abzuschätzen, wann sogenannte Klima-Kipppunkte (CTP) erreicht werden. In der Zeitschrift Science warnen die Autoren, u.a. Johan Rockström, Timothy M. Lenton, David Armstrong McKay, von denen einige 2008 die erste große Arbeit über Kipppunkte veröffentlicht hatten, dass die sich selbst verstärkenden Rückkopplungen schon beginnen und bei über 1,5 Grad Erhitzung irreversibel werden. (Siehe: Neue Klimastudie: Warum wir jetzt handeln müssen, t3n, 09.09.2022)

https://t3n.de/consent?redirecturl=%2Fnews%2Fklimastudie-warnt-5-kippunkte-15-grad-erreicht-klimawandel-1497539%2F

Wir befinden uns längst auch hierzulande in einer chronischen Klima- und Wasserkrise und haben offensichtlich die atmosphärische Zirkulation grundlegend verändert, wie das absonderliche Jo-Jo-Wetter zeigt, das uns regelmäßig arktische Polarluft beschert und die Niederschläge verschoben hat.

Die Klimakatastrophe verhindern- nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht

Die Letzte Generation verteidigt die Rechte und Ansprüche der Jungen und all der kommenden Generationen, die gerade auf dem Altar der Gegenwartsinteressen und des Profits geopfert werden. Sie schreiben weiter in ihrem Brief an die Bundesregierung:

„Wir sind erschüttert, dass Sie als Verantwortliche nicht alles tun, was möglich ist, um uns vor dem Klimakollaps zu schützen. Die Landwirtschaft ist weiterhin nicht nachhaltig, der Verkehrssektor wird nicht umgebaut, gutes Essen wird weiterhin weggeworfen, es wird neue fossile Infrastruktur gebaut…

Wir sind erschüttert, dass Sie als Verantwortliche in diesem Land nicht einmal anstreben, das Notwendige zu tun, um diesen Kollaps des Klimas zu verhindern. Dass die Ziele, die Sie sich setzen, nicht mit der Realität vereinbar sind. Handeln wir jetzt nicht entschlossen und tun nicht alles, was in unserer Macht steht, werden wir unsere Lebensgrundlagen unwiederbringlich vernichten.“

Völlig berechtigte Vorwürfe angesichts der Warnungen der Wissenschaft (siehe: World Scientists’ Warning of a Climate Emergency, 2022).

https://academic.oup.com/bioscience/article/72/12/1149/6764747?login=false

Zudem hatte ja auch das höchste deutsche Gericht in seinem Beschluss zum Klimagesetz von 2021 die Politik zum Handeln aufgefordert, siehe der folgende Auszug aus der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgericht:
„III. Grundrechte sind aber dadurch verletzt, dass die nach § 3 Abs. 1 Satz 2 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 bis zum Jahr 2030 zugelassenen Emissionsmengen die nach 2030 noch verbleibenden Emissionsmöglichkeiten erheblich reduzieren und dadurch praktisch jegliche grundrechtlich geschützte Freiheit gefährdet ist. Als intertemporale Freiheitssicherung schützen die Grundrechte die Beschwerdeführenden hier vor einer umfassenden Freiheitsgefährdung durch einseitige Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft. Der Gesetzgeber – (also die sich jetzt äußernden Politiker, inkl. Bundespräsident) hätte Vorkehrungen zur Gewährleistung eines freiheitsschonenden Übergangs in die Klimaneutralität treffen müssen, an denen es bislang fehlt.“

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-031.html
Die EU und Deutschland haben sich bekanntlich zu Emissionsreduzierungen um 50 bzw. 65 % bis 2030 verpflichtet und zu Null Emissionen bis 2050 bzw. bis 2045, was zwar völlig unzureichend ist, wozu aber natürlich schnellstmöglich emissionsarme Verkehrssysteme notwendig sind. Es gilt, die Subventionen für fossile Energie und fossilen Verkehr sofort umzulenken für erneuerbare Energien und klimafreundlichen Verkehr,- dann wäre sogar ein kostenloser ÖPNV möglich.

Auch eine wirksame, steigende CO2-Steuer könnte direkt zur Finanzierung des ÖPNV beitragen.

Fragt sich nur, welches Gericht real die regierenden Rechtsverletzer auf ihre Verpflichtungen hinweisen und sie zur Verantwortung ziehen wird, für die andauernde Verletzung internationalen und nationalen Rechts. Derzeit werden die Klimaschützer, die auf diese Rechtsverletzungen aufmerksam machen, bestraft und sogar in Vorsorgehaft genommen (bei den Nazis hieß das Schutzhaft),- ja wo leben wir denn?

Der Kampf um Klimaschutz, ist auch ein Kampf um die Demokratie

Was gerade passiert ist Hetze und üble populistische Meinungs- und Stimmungsmache

und kein demokratischer Aushandlungsprozess,- darüber sollten wir uns keine Illusionen machen.

Gegen die Macht der Politik und der Medien anzukommen ist natürlich schwierig,- fossil-mobile Großkonzerne und großes Geld haben einen übermäßigen, undemokratischen Einfluss auf die öffentliche Meinung und politische Entscheidungsprozesse (Lobbyismus).

Klimaschutz zu realisieren bedeutet demnach zuallererst auch, den Schutz und den Ausbau der Demokratie gegen den demokratisch nicht legitimierten, allein auf Macht und Geld beruhenden Zugriff kleiner, aber sehr mächtiger Minderheiten.

Noch einmal aus dem BRIEF AN DIE BUNDESREGIERUNG von Letzte Generation vom Herbst 2022:

„…Es wird ohne unser Zutun immer heißer werden, Milliarden Menschen werden leiden und sterben. Unsere freiheitlich demokratische Grundordnung wird ins Wanken geraten. …

Welches Recht haben wir, ein solches Unheil über zahllose Menschen zu bringen? …Wir alle sind die letzte Generation, die das Schicksal der Menschheit noch anders entscheiden kann.

Wir als Bürgerinnen und Bürger dieser Demokratie tragen Verantwortung. Wir erachten es als unsere Pflicht, alles Gewaltfreie zu tun, was in unserer Macht steht, um dieses Unrecht zu beseitigen.

Die Vernichtung unserer Lebensgrundlagen einfach hinzunehmen, können wir nicht mit unserem Gewissen vereinbaren.

Wir erwarten…, dass Sie die Demokratie stärken, den Menschen Vertrauen schenken, über ihre Lebensbedingungen in Bürger-innenräten zu entscheiden, dass Sie die Gesellschaft gerechter machen, statt Wenige von der Ausbeutung und dem Leid Vieler profitieren zu lassen…“.

Es ist aller höchste Zeit, zu erkennen, dass es unendliches Wachstum in einer endlichen Welt nicht geben kann, aus politischen, ökonomischen und ökologischen Gründen. Es bedeutet früher oder später Krieg und es bedeutet vor allem eine irreversible Zerstörung der Lebensgrundlagen.

Früher oder später prallen die Interessen auch militärisch aufeinander, wenn man sich nicht beschränken und verständigen will. Es gilt einen Weltenbrand gleich in mehrfacher Hinsicht zu verhindern. Wir entscheiden jetzt über Leben und Tod, über die Zukunft all der vielen Milliarden Menschen, die noch nach uns auf der Erde leben wollen.

Die letzte Generation die die Klimakatastrophe noch verhindern kann

Zum Glück sind wir Menschen und zu Mitgefühl, Solidarität und Liebe fähig; wir sind mehr oder weniger mit Gerechtigkeitssinn und einem Empfinden für Wahrheit und Lüge begabt, nicht wenige auch mit Mut und Uneigennützigkeit,- wir sind nicht nur eine manipulierbare Manövriermasse.

Nein, es gibt einen menschlichen Faktor, mit dem man rechnen sollte…

Mich erinnert die gegenwärtige Situation sehr an die Endzeit der DDR, wo eine nicht lernfähige Machtelite die Zeichen der Zeit nicht erkannte und sich festklammerte an nicht zukunftsfähigen Strukturen und diese mit allen Mitteln verteidigte. Das scheint mir heute ganz ähnlich zu sein.
Auch damals waren es vor allem unangepasste junge Menschen, die für eine Demokratisierung und Reform des Landes aktiv wurden und Ihre Angst überwindend, Freiräume und Veränderungen erkämpft haben und sich die Freiheit nahmen, über ihre Angelegenheiten mit zu entscheiden.
Sie legten den Finger in die Wunden und zwangen das verkrustete System und jeden Einzelnen, sich zu bewegen. Später nannte man sie „Helden der friedlichen Revolution“.
Auch heute befinden wir uns in einer Entscheidungssituation, bei der es aber um sehr viel mehr geht.
Der jüngst verstorbene Michael Gorbatschow sagte seinerzeit sinngemäß: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Ein Satz, der auch heute noch gültig ist und der angesichts von Umwelt- und Klimakrise und Krieg noch eine ganz andere, neue und bedrohliche Dimension bekommen hat.
Wieder sind es vor allem junge Menschen, wie die von „Ende Gelände“ und „Letzte Generation“, die mit hohem Einsatz notwendige Veränderungen und die Einhaltung gesetzlicher Verpflichtungen einfordern. Sie haben das Recht auf ihrer Seite, wenn sie mit friedlichen Mitteln auf die Rechtsverletzungen der Mächtigen aufmerksam machen und gegen die Fortsetzung des

Klimaverbrechens und die Zerstörung ihrer Zukunft protestieren (bloß lasst die Kunst aus dem Spiel!).

Respekt und Bewunderung haben sie ganz gewiss verdient,- doch das alleine reicht nicht.

So gibt es einen Aufruf „Klimaschutz ist kein Verbrechen – Solidarität mit der „Letzten Generation“ von Kulturschaffenden und Künstlern, den bereits 1300 mehr oder weniger Prominente unterschrieben haben: https://klimaschutzistkeinverbrechen.com/
Jeder sollte jetzt entscheiden, was er tun kann für die Bewahrung des Lebens und die Verhinderung der Klimakatastrophe. Es gilt einen Weg des Friedens zwischen den Menschen und mit der Natur zu finden.Der erste Schritt ist vielleicht, sich darüber klar zu werden, dass unsere vermeintliche Normalität keineswegs normal ist, sondern Alarmstufe Rot für das Leben, den Planeten und die Menschheit bedeutet. Wir sind die letzte Generation die die Klimakatastrophe noch verhindern kann, sagte einst Barack Obama.

Entscheidung für das Leben

Die Letzte Generation soll auch das letzte Wort haben, mit Worten die mich sehr berührt haben.

(Es folgen Auszüge aus einem Brief vom 19.11.2022 von Judith Beadle, Charlotte Schwarzer, Miriam Meyer und Elena Thor, vier Aktivistinnen von Letzte Generation, die zu der Zeit in Vorsorgehaft in der Justizvollzuganstalt (JVA) Stadelheim einsaßen, inzwischen aber nach starkem gesellschaftlichem Druck freigelassen wurden):

„ … wenn wir die Chance zum Handeln jetzt verstreichen lassen und in 2-3 Jahren klar ist, dass wir die kritische Grenze überschreiten werden und die Erderwärmung nicht mehr auf ein für uns lebensfreundliches Maß begrenzen können, dann werden wir nicht nur unsere Lebensgrundlage verlieren, sondern auch unsere Hoffnung und Menschlichkeit.

Wir sind eingesperrt, aber auch die Freiheit geben wir nicht auf. Denn was ist das für eine Freiheit, in der wir ungehindert einem zerstörerischen Alltag nachgehen können, in einem System, das mit „Freiheit“ Privilegien meint und uns rücksichtslosen Egoismus als Selbstverwirklichung verkauft? Wenn „Freiheit“ Zerstörung bedeutet und Leid und Tod unzähliger Menschen voraussetzt, dann verabschieden wir uns ohne Bedauern von ihr.

Wir geben nichts auf und wir geben nicht auf. Wir kämpfen für Vernunft und Liebe, angetrieben von der Zuversicht, dass sich die Menschheit noch in diesem letzten Moment für das Leben entscheidet. Wir sind friedlich und entschlossen und wir stellen uns gegen eine Normalität, die nicht länger sein darf. Wir haben uns entschieden: Lieber sind wir Straftäter vor dem Gesetz als mitschuldig am größten Verbrechen der Menschheit. Und wir bitten euch: Schaut hin und entscheidet auch ihr euch für das Leben.“

Jürgen Tallig der Autor war Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig

Weitere Informationen: www.earthattack-talligsklimablog.jimdofree.comDa

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-cc

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben      —     Christian Bläul, Physiker und Mitglied beim Aufstand der Letzten Generation, spielt Olaf Scholz bei Ölaktion vor dem Bundeskanzleramt, Berlin, 09.07.22 Aktivisten der letzten Generation in Kanzler-Olaf-Scholz-Kostümen verschütten Öl vor dem Bundeskanzleramt

Abgelegt unter APO, Deutschland_DE, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Zur Klimakonferenz COP27

Erstellt von Redaktion am 14. Dezember 2022

Wir können uns retten, indem wir Bußgeld zahlen

Eine Kolumne von Christian Stöcker

Das 1,5-Grad-Ziel wird verfehlt, aber das ist kein Grund, den Kampf gegen die Klimakrise aufzugeben. Mit drei einfachen Schritten könnten die reichsten Länder viel erreichen – zwei davon sind leicht umsetzbar.

Die Schuld an der Klimakrise ist sehr ungleich verteilt. Lebte die ganze Welt so wie die Staaten Subsahara-Afrikas es heute tun (Südafrika ausgenommen) gäbe es gar keine Klimakrise. Insgesamt ist ganz Afrika, Heimat von 15 Prozent der Weltbevölkerung, nur für vier Prozent aller CO₂-Emissionen verantwortlich . Denken Sie daran, wenn jemand wieder einmal mit »Bevölkerungswachstum« als Argument für das Nichtstun der reichen Länder kommt.

Richtig ist: Das Leid, dass die Erhitzung schon jetzt erzeugt und das noch viel größere Leid, das sie in Zukunft erzeugen wird, ist ebenfalls sehr ungleich verteilt. Am meisten leiden diejenigen, die und deren Vorfahren am wenigsten oder gar nichts zur Situation beigetragen haben.

Bei der Klimakonferenz COP 27, die am heutigen Sonntag in Ägypten beginnt, müssen sich die reichen Länder endlich ihrer Verantwortung stellen.

Länder werden verschwinden

Es gibt Länder auf dem Planeten, deren Schicksal bereits besiegelt ist: Die CO₂-Produktion der Industrienationen wird die Malediven, Kiribati, möglicherweise auch die Bahamas und diverse andere Inselstaaten zum Verschwinden bringen, früher oder später. Und Küstenregionen mit Hunderten Millionen Einwohnern zu ständigen Katastrophengebieten machen. Nie vergessen: Deutschland allein liegt bei den summierten Verbrennungsemissionen auf Platz vier , weltweit.

Inseln sind noch weit schwieriger mit Dämmen vor dem steigenden Meeresspiegel zu schützen als Länder, die an auf einer größeren Landmasse liegen. Das niedrigste Festland-Land der Welt sind die Niederlande. Sie geben pro Jahr etwa eine Milliarde Euro für den Küstenschutz aus. Schon jetzt.

Die 2015 in Paris von den reichen Ländern versprochenen 100 Milliarden pro Jahr  für Klimaanpassung in ärmeren Ländern dagegen fließen bis heute nicht. Das ist nicht nur geizig und rücksichtslos, sondern auch extrem kurzsichtig und selbstschädigend. Aber dazu gleich.

Die Industrienationen sind schuldig, niemand sonst

Noch schneller als der nicht mehr aufzuhaltende Meeresspiegelanstieg wird die Zunahme extremer Wetterlagen für gigantisches, immer weiter zunehmendes Leid sorgen – und tut es auch schon längst. Wesentliche Teile der derzeit besiedelten Erdoberfläche werden über kurz oder lang unbewohnbar werden. Das wiederum wird Verteilungskämpfe auslösen, vermutlich auch Kriege, in jedem Fall nie dagewesene Wanderungsbewegungen.

All das ist schon jetzt unausweichlich, und die Industrienationen tragen und verdrängen die Schuld. Niemand sonst. Wir schulden den gewaltigen Reichtum, den wir im globalen Vergleich genießen, unseren unfassbar hohen Lebensstandard, dem Umstand, dass wir in den vergangenen 200 Jahren so viel CO₂ erzeugt haben. Unsere Kleider, Autos, Waschmaschinen, Häuser, Straßen, Flugreisen, Schulen, Krankenhäuser, Kinos, Supermärkte und Hallenbäder haben wir mit dem Leid gegenwärtiger und künftiger Generationen vor allem im Globalen Süden bezahlt. Wir sind alle Klimakolonialisten, ohne Ausnahme, wenn auch in der Regel ohne Wahlmöglichkeit. Wir machen mit, einfach, indem wir hier leben.

Drei einfache klare Forderungen

Wenn sich in den kommenden Wochen die Klimaunterhändler der Welt im ägyptischen Scharm al-Scheich treffen, wird es Zeit, sich diesen Fakten endlich zu stellen. Noch immer Lügen sich die Verantwortlichen für die katastrophale Situation der Welt, also wir Bewohnerinnen und Bewohner der Industrienationen, nämlich in die eigene Tasche.

Drei zentrale Forderungen für die Klimakonferenz, zwei davon definitiv umsetzbar, eine in Wahrheit nahezu utopisch aber eigentlich bitter nötig, wären diese:

1. Die Wiederaufforstung des Regenwalds finanzieren

Die beste Nachricht für das Weltklima war der Wahlsieg von Lula da Silva (der Nachname bedeutet buchstäblich »vom Wald«) in Brasilien. Der sogenannte Amazonasfonds, der das Ziel hat, den brasilianischen Regenwald vor weiterer Vernichtung zu schützen und wieder aufzuforsten, ist bereits von den Toten auferstanden. Die 1,3 Milliarden Euro, die er derzeit umfasst, werden aber bei Weitem nicht reichen. Deutschland hat zu dem Fonds bislang lächerliche 35 Millionen Euro beigetragen  (Norwegen allein dagegen 1,2 Milliarden). In einer gerade veröffentlichten Studie  werden die jährlichen Kosten für das Ziel, 80 Prozent des Amazonas-Regenwalds auf 1,7 bis 2,8 Milliarden Dollar oder Euro pro Jahr geschätzt.

Zum Vergleich: Das deutsche Dienstwagenprivileg kostet  Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ohne Dienstwagen hierzulande über drei Milliarden Euro im Jahr. Ein globaler, von den G20-Staaten finanzierter Regenwaldfonds wäre also mit Leichtigkeit zu finanzieren, der Ertrag wäre aber gewaltig: Der Amazonasregenwald war einmal eine der größten CO₂-Senken der Welt. Ihn zu retten heißt, zu verhindern, dass die Katastrophe noch schneller noch schlimmer wird. Der Südosten des Regenwalds gibt bereits jetzt mehr CO₂ ab, als er aufnimmt . Es wäre möglich, mit der künftigen brasilianischen Regierung, und im Vergleich zum Ertrag lächerlichen Summen, diesen katastrophalen Prozess aufzuhalten und umzukehren.

Mindestens das muss COP27 erreichen, es ist einfach, machbar und extrem sinnvoll.

Noch besser wäre, einen entsprechenden Fonds auch noch für alle anderen Regenwälder des Planeten aufzusetzen, allen voran den in der Demokratischen Republik Kongo. Dort werden derzeit Bohrrechte für Öl- und Gasvorkommen unter dem Regenwald verkauft , der »Kohlenwasserstoffminister« des Landes hat versprochen: »Wir werden es ausbeuten, wir werden es fördern, wir werden es verkaufen, wir werden es zu Geld machen.« Das muss verhindert (siehe Punkt 3.), der afrikanische Regenwald muss gerettet werden. Bezahlen müssen dafür wir, die Industrienationen, die mit CO₂ reich gewordenen Schuldigen.

2. Dafür sorgen, dass weite Teile der Welt das fossile Zeitalter überspringen.

In vielen Ländern, in weiten Teilen Afrikas gibt es kein einziges Kohlekraftwerk . Das muss unbedingt so bleiben. Bislang haben dort auch 600 Millionen Menschen keine angemessene Energieversorgung . Es wäre aber durchaus möglich, dass die Länder, die bislang eine völlig unterdimensionierte Energieinfrastruktur haben, das Zeitalter der fossilen Energiequellen weitgehend überspringen.

Die große Ausnahme auf dem Kontinent ist Südafrika: Dort werden derzeit 85 Prozent des Stroms aus Kohle erzeugt , 90.000 Menschen arbeiten in der Kohleindustrie. Die EU, Frankreich, Deutschland, Großbritannien und die USA haben sich deshalb in der sogenannten Just Energy Transition Partnership  verpflichtet, den Umbau der südafrikanischen Energiewirtschaft hin zu erneuerbaren Energiequellen mitzufinanzieren. 8,5 Milliarden Euro hat die Staatengruppe dafür versprochen, Deutschland trägt 800 Millionen bei.

Quelle         :         Spiegel-online          >>>>>         weiterlesen

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben     —     Kahuzi-Biega-Nationalpark, Demokratische Republik Kongo. (Forest Service Foto von Roni Ziade)

Abgelegt unter International, Kultur, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Sicherheit geht vor Freiheit

Erstellt von Redaktion am 14. Dezember 2022

Ukraine-Krieg spaltet Ostdeutschland

Solange die Deutschen Bürger-innen mit Stolz auf ehemalige Raubritter blicken müssen, wird  kein Deutsches Wesen genesen!

Von Michael Bartsch

Der Ukrainekrieg spaltet die ostdeutsche Gesellschaft. Warum so viele „Ossis“ am Bild von der Sowjetunion als Friedensgarant festhalten.

Es sind nicht nur die Bundesbürger westlich von Harz und Thüringer Wald, die mal wieder irritiert auf den unberechenbaren Osten schauen. Auch die „Ossis“ selbst kennen einander nicht mehr. Grund sind die Einstellungen zum russischen Krieg gegen die Ukraine.

Es geht ein Riss durch Freundes- und Kollegenkreise, durch Familien und Institutionen. Es ist die dritte Spaltungswelle in den vergangenen zehn Jahren. Erst war da das Einsickern neurechter Ideologien in die Mitte der Gesellschaft, dann kam der Corona- und Impfkrieg. Und nun ist es der richtige Krieg.

Meine Friseurin, die seinerzeit im Salon der SED-Bezirksleitung führenden Genossen den Kopf wusch, beruft sich auf Kunden als Quellen, wenn sie über angebliche ukrainische Luxusflüchtlinge auf vierteljährlichem Heimaturlaub herzieht. Der Friseurin gilt der ukrainische Präsident Selenski als „der größte Verbrecher – ein Schauspieler“.

Ein Dresdner Theaterkritiker bezeichnet Putin als „sich einst durch Dresden saufenden KGB-Tölpel und heutigen Möchtegern-Zar“. In seiner Münchhausen-Adaption am Dresdner Staatsschauspiel lässt Rainald Grebe eine Schauspielerin von einer seit zehn Jahren getroffenen Familienvereinbarung berichten: „Über das und das wird nicht gesprochen – sonst kracht’s!“ „Unser Freundeskreis ist an der Russlandfrage völlig zerbrochen“, bedauern Günter Kern und Frau Eva in Kamenz, Bruder des weltbekannten Malers Georg Baselitz und durch Lukas Rietzschels „Raumfahrer“ zu einer Romanfigur geworden.

Man braucht sich nicht vorzumachen, da stünde eine rebellische kleine Minderheit gegen eine vermeintlich tragende große Mehrheit. In ganz Deutschland und Europa stehen sich Kräfte gegenüber, die entweder die Ukraine massiv unterstützen – oder aber einen Diktatfrieden um jeden Preis wünschen, wenn dadurch nur wieder Gas in die Kammer käme und die Brötchen billiger würden.

Der Hälfte gehen Sanktionen gegen das Kremlregime zu weit

Und doch bestehen nach wie vor signifikante Unterschiede im Verhalten des ost- und westdeutschen Bevölkerungsdurchschnitts. Ein Drittel der Ostdeutschen sieht in Putin bis heute keine Gefahr, im Westen empfindet nur ein Fünftel so.

Aufschluss bringt die Rubrik „MDR fragt“ des Mitteldeutschen Rundfunks mit jeweils um die 30.000 Teilnehmern. Der Hälfte von ihnen gehen Sanktionen und Maßnahmen gegen das Kremlregime zu weit. Sieben von zehn Ostdeutschen fühlen sich in der Einschätzung russischer Politik kompetenter als die „Wessis“. Folglich konstatieren fast zwei Drittel aktuell eine Vertiefung der Ost-West-Spaltung.

Aber warum – 32 Jahre nach der formalen Vereinigung? Verlässliche Ursachenforschung zu diesem anhaltenden Teilungsphänomen gibt es nach wie vor nicht. Es lässt sich nur mit der fortwirkenden Prägung durch die Jahre bis 1989 erklären, einer Prägung, die das wiedervereinigte Deutschland auch in drei Jahrzehnten nicht aufzuheben vermocht hat.

Für diese Annahme spricht die Generationenspaltung der Ostdeutschen selbst. Hartnäckige Putin-Versteher, die trotz eines offenkundigen Eroberungs- und Vernichtungskriegs immer noch russische Sicherheitsinteressen „ins Feld führen“, haben in aller Regel mindestens die 40, meist die 50 überschritten. Das DDR-Fähnchen eines Demonstranten auf dem Dresdner Theaterplatz liefert den Schlüssel für Erklärungen.

Solche Demos richten sich nur vordergründig gegen die Preisexplosion. Wer hier steht, sucht in manischem Eifer nach allem, was das Moskauer Verbrecherregime irgendwie entlasten könnte. Und grundsätzlich sind immer die zweifellos auch nicht gerade harmlosen US-Amerikaner an jeder Eskalation der Gewalt in der Welt schuld.

Man darf es sich aber nicht zu einfach machen: Hier stehen nicht unbedingt dieselben, die seit Jahren gegen alles, was irgendwie von oben kommt, auf die Straße gehen. Es gibt sehr wohl militante Impfgegner aus dem Vorjahr, die gar keine Lust haben, gemeinsam mit Schwenkern von Russlandflaggen gesehen zu werden.

Kalter Krieg als Zeichen der Stabilität

Und doch: Wer Ost zulande nicht gegen alles ist, wird verdächtigt, für etwas zu sein, mithin mit „denen da oben“ zu kollaborieren – eine subtile Kontinuität aus Zeiten des SED-Regimes.

Im Rückblick erscheint vielen sogar der Kalte Krieg, das Gleichgewicht des Schreckens, als Zeit der Stabilität. Als der eine Pol dieser Abschreckung garantierte die Sowjetunion den Frieden und damit den bescheidenen Fortschritt in der DDR.

Posthum erst wird klar, dass es nicht nur Propaganda war, wenn der FDJ-Chef Egon Krenz 1974 rief: „Alles, was wir sind, sind wir durch sie (die Sowjetunion)!“ Die heute noch lebende DDR-Generation hat die Rote Armee nicht mehr als brutale Besatzungsmacht wie bei dem Aufstand von 1953 kennengelernt. Ausgewählte, wie die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, studierten in der Sowjetunion, Kinder- und Jugendorganisationen veranstalteten Freundschaftstreffen.

Halb ironisch, halb schulterklopfend sprach man vom „Großen Bruder“. In der ARD-Filmproduktion über Russland und die Ostdeutschen bestätigt ein damaliger hoher NVA-Offizier die anerzogene Liebe zur Sowjetunion. „Amerika ist mein Feindbild“, sagt er. Auf Demoplakaten 2022 steht: „Besatzungsmacht USA“.

Quelle       :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben      —       25.06.2006 01067 Dresden-Altstadt, Theaterplatz (GMP: 51.053852,13.735897): Sempergalerie (1847-54) des Zwingers und davor auf dem Platz das Reiterstandbild von König Johann von Sachsen (1889 von J. Schilling). [DSCN10473. TIF]20060625090DR.JPG(c)Blobelt

Abgelegt unter Mensch, Positionen, Sachsen, Überregional | Keine Kommentare »

Der Bugginger Salzberg

Erstellt von Redaktion am 13. Dezember 2022

Wann kommt endlich die Sanierung des Bugginger Salzberges?

Quelle     :       Mitwelt Stiftung Oberrhein

Von         :      Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein

An die südbadischen Medien

Trocken gefallene Quellen, Probleme bei der Wasserversorgungen und ausgetrocknete Bäche. Der Sommer 2022 zeigte auch in Südbaden alle Gefahren der beginnenden Klimaveränderungen. Die aktuellen und die kommenden Probleme mit langen Trockenphasen und einzelnen Starkregenereignissen waren in aller Munde. Erstaunlich und erschreckend wenig wurde über die massiven Gefährdungen des Trink- und Grundwassers durch Nitrat, Altlasten und Versalzung gesprochen.

Weltweit, aber auch in der selbsternannten „Ökoregion“ Südbaden herrscht das „Prinzip Breisach“. Die massiven Nitrat- und Versalzungsprobleme der Stadt am Rhein wurden nicht etwa durch eine Bekämpfung der Ursachen angegangen, sondern durch das teure Ausweichen auf weit entfernte Quellen. Was interessiert die Menschen in Breisach jetzt der unsanierte Salz-Abraumberg in Buggingen, wenn das Wasser aus Hausen kommt?

  • Von der Kali-Abraumhalde in Buggingen werden pro Tag bis zu 2,58 Tonnen Salz ins Grundwasser gespült, auf das Jahr gerechnet sind das bis zu 945 Tonnen Chlorid. Jahrzehntelang hatte die K+S AG, früher Kali und Salz AG, versucht, die Sanierungskosten auf die Allgemeinheit abzuwälzen und erfolgreich auf Verzögerungen bei der Sanierung gesetzt.
  • Seit einem Urteil aus dem Jahr 2008 (!) ist Firma letztinstanzlich in der Pflicht, die Sanierung auf Konzernkosten durchzuführen.
  • „K+S geht derzeit davon aus, dass im nächsten Jahr mit der Sanierung begonnen werden kann.“ stand am 9.12.2020 in einem Bericht der Badischen Zeitung Im „nächsten Jahr“ wäre 2021 gewesen und nichts geschah. Jetzt sind wir kurz vor dem Jahreswechsel 2022/2023 und noch immer läuft die Salzbrühe ins Grundwasser.
  • Später hieß es dann, die Sanierung würde erst 2023 begonnen und könnte 8 Jahre dauern.

Ein Blick auf die viel schneller sanierten Abraumhügel im elsässischen Kalibecken zeigt, dass es auch besser und effizienter geht, als in der „Ökoregion“ Oberrhein.

Der mangelnde Druck auf die K+S AG und das erkennbare, jahrzehntelange Desinteresse der Kreisverwaltung Breisgau-Hochschwarzwald am schnellen Schutz unseres Grund- und Trinkwasser sind ein umweltpolitischer Skandal. Warum lässt sich der Kreistag dies seit so vielen Jahren gefallen?

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben      —      Abraumhalde des ehemaligen Kalibergwerkes in Buggingen

Abgelegt unter Baden-Württemberg, Kultur, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

785 Tage Krisenmodus

Erstellt von Redaktion am 12. Dezember 2022

Inhaftierte Frauenrechtlerin in Iran

Von      :     Mariam Claren

Wie ich für meine inhaftierte Mutter zur politischen Aktivistin wurde – und warum das jede-R kann.

Ein ruhiges und normales Leben vermisst man erst, wenn es einem genommen wird. Es ist ein Freitagabend im Oktober 2020, als meine Mutter aufhört, auf meine Nachrichten zu antworten. „Du bist online, warum antwortest du nicht?“, lautet meine letzte Nachricht an sie. Meine Familie im Iran macht sich auf die Suche nach ihr. Zwei Tage später erhalte ich einen Anruf: „Deine Mutter ist in Isolationshaft im Evin-Gefängnis, man sagte uns, es handele sich um einen nationalen Sicherheitsfall. Weder wir noch ein Rechtsanwalt dürfen sie sehen.“ Das Blut in meinen Adern gefriert – Krisenmodus an.

Wenn man wie ich in einer politischen Familie aufwächst, sind das Evin-Gefängnis in Teheran und politische Gefangenschaften vertraute Begriffe, hat man sie doch seine gesamte Kindheit immer mal wieder aufgeschnappt. Ich wusste immer, dass in dem Land, in dem ich geboren bin, in dem Land, in dem meine Wurzeln liegen, schlimme Dinge passieren – Menschen aufgrund ihrer politischen Einstellung und ihrer Aktivitäten festgenommen und sogar hingerichtet werden können. Aber für mich – 5.000 Kilometer entfernt in meiner Heimat Köln – war das eine andere Welt.

Bis zum Oktober 2020, als meine Seifenblase platzt und die Last der Menschenrechtsverletzungen der Islamischen Republik Iran sich auf meine Schultern legt: Meine Mutter, die Frauenrechtlerin Nahid Taghavi, ist seit dem 16. Oktober 2020 eine politische Gefangene der Islamischen Republik Iran. Da sie deutsche Staatsbürgerin ist, setze ich mich als Erstes mit dem Auswärtigen Amt in Verbindung. Man verspricht mir, sich einzusetzen und empfiehlt mir, den Fall nicht öffentlich zu machen und auf stille Diplomatie zu vertrauen. Ich widersetze mich dieser Empfehlung – bis heute.

Als hätte alles, was ich von meiner Mutter gelernt habe, jahrzehntelang in mir geschlummert und auf den Moment gewartet, entfaltet zu werden. Aktivistinnen-Modus an. Ich recherchiere, ich lege Social Media Accounts an und informiere unter dem Hashtag #FreeNahid die Öffentlichkeit über die neuesten Entwicklungen. Die ersten Medien werden aufmerksam, ich gebe Interviews. Auf einmal ist der Name meiner Mutter in den Überschriften großer Zeitungen zu lesen. NGOs wie die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte und Amnesty International nehmen sich ihres Falls an.

Die Gefängnisse sind gefüllt mit Andersdenkenden

Es fühlt sich gut an: Die Islamische Republik Iran hat vielleicht meine Mutter in ihrer Gewalt, aber zumindest sorge ich dafür, dass sie nicht vergessen wird. Meine Recherchen ergeben, dass es tausende Fälle politischer Gefangenschaften gibt. Ich beschäftige mich mit den Personen dahinter. So lerne ich zum Beispiel den Umweltschützer*innen-Fall kennen. Eine Gruppe von 7 Naturschützer*innen, die nach Folter und unfairen Verfahren zu bis zu 10 Jahren verurteilt worden waren. Ich lerne, dass die Gefängnisse der Islamischen Republik Iran gefüllt sind mit Menschenrechtsaktivist*innen, Frauenrechtler*innen, Anwält*innen, Jour­na­lis­t*in­nen und jeglichen Andersdenkenden. Menschen, die in einem freien Land Auszeichnungen bekommen würden, verbringen im Iran die besten Jahre ihres Lebens hinter Gittern. Ab dem Zeitpunkt ist für mich klar: Ich kann nicht nur die Freiheit meiner Mutter fordern, ich muss allen politischen Gefangenen eine Stimme geben.

Währenddessen verbrachte meine damals 66-jährige Mutter Nahid m Taghavi sieben Monate in Isolationshaft im Evin-Gefängnis. Sie wurde vom Geheimdienst der Revolutionsgarde über 1.000 Stunden ohne Rechtsbeistand verhört. Sie entwickelte in der Zeit Diabetes und mehrere Bandscheibenvorfälle. Die Konditionen in der Isolationshaft sind darauf konzipiert, Gefangene zu brechen. 194 Tage hat meine Mutter in einer kleinen Zelle, allein, ohne Bett, Matratze oder Kissen auf dem Steinboden geschlafen. Sie hat monatelang eine Augenbinde getragen, wurde von Kameras überwacht und hatte kaum Zugang zu frischer Luft. Die Essenrationen wurden absichtlich klein gehalten, sie verlor 14 kg während dieser Zeit. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide, aber sie schafften es nicht, ihren Geist zu brechen.

Die Gerichtsprozesse meiner Mutter sind eine Farce. Die Islamische Republik Iran klagt sie wegen „Beteiligung an der Führung einer illegalen Gruppe“ und „Propagandaaktivitäten gegen den Staat“ an. Meine Mutter erwidert vor Gericht: „Wenn Propaganda bedeutet, über die desaströse Frauenrechtslage, die Misswirtschaft, die Armut, die Korruption und die Zerstörung der Umwelt zu sprechen, dann bin ich schuldig.“ Im August 2021 wird sie zu 10 Jahren und 8 Monaten Haft verurteilt. Die Islamische Republik Iran hat ihre Meinung, ihre Worte und ihr Denken kriminalisiert.

Dennoch war meine Kampagne erfolgreich. Durch den öffentlichen Druck durfte meine Mutter mit ihrem unabhängigen Anwalt vor Gericht treten, sie wurde aus der Isolationshaft in den normalen Gefängnisvollzug verlegt und von Juli bis November 2022 in einen medizinischen Hafturlaub entlassen. Im November diesen Jahres musste sie zurück ins Evin-Gefängnis. Wir sind also noch lange nicht am Ende.

In der gesamten Zeit meines Aktivismus gibt es aber eine Sache, die mich anstrengt. Ich muss immer wieder aufs Neue erklären, warum es politische Gefangenschaften im Iran gibt. Dass es sich bei der Islamischen Republik Iran um ein theokratisches faschistisches Regime handelt, in dem Scharia-Gesetze herrschen, Frauen per se Menschen zweiter Klasse sind und ethnische Minderheiten sowie jegliche Andersdenkende systematisch verfolgt und unterdrückt werden. Ich fühle mich oft allein.

Doch all dies ändert sich schlagartig am 17. September 2022. Der Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam – die nach Auffassung der Sittenwächter ihre Kopfbedeckung nicht ordnungsgemäß trug – löst eine Welle der Proteste aus, sowohl im Iran als auch im Ausland. Revolutionsmodus an.

Kurdistan, Balutschestan, Frauenrechte, Moralpolizei, Revolutionsgarde, politische Gefangene, Evin-Gefängnis – auf einmal sind alle Augen auf den Iran gerichtet. Endlich.

Frau. Leben. Freiheit. Diesen Ruf hören wir nun seit fast 3 Monaten aus dem Iran. Der Mord an Jina Mahsa Amini war wie ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Und dabei geht es nicht um „das bisschen Wind im Haar“ von vom Kopftuch befreiten Frauen, sondern um den Willen einer ganzen Nation, die nach 43 Jahren Diktatur nichts weniger als Gerechtigkeit, Gleichheit, Selbstbestimmung und Freiheit fordert. Der Sicherheitsapparat des Regimes reagiert, wie er es seit über 40 Jahren tut: Mit Mord, mit Verhaftungen, mit Vergewaltigungen, mit Scheinprozessen und Hinrichtungen.

Handschellen made in UK

Quelle      :          TAT-online           >>>>>         weiterlesen

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben      —       Students of Amir Kabir university protest against Hijab and the Islamic Republic

Abgelegt unter Asien, Mensch, Positionen, Religionen | Keine Kommentare »

Wachstum – Schwindsucht

Erstellt von Redaktion am 12. Dezember 2022

Die Augenwischerei mit den Wachstumszahlen

Quelle      :        INFO Sperber CH.

Von      :    Urs P. Gasche /   Regierungen und Wirtschaftsvertreter gaukeln ihren Bevölkerungen vor, dass es wirtschaftlich viel besser geht, als es der Fall ist.

Wachstumskritiker und Konsumentenorganisationen beanstanden schon seit Jahrzehnten, dass das Wachstum des Bruttoinlandprodukts BIP das oberste Ziel des Wirtschaftens sein soll, dem alles andere untergeordnet wird: Lebensqualität, Schutz der Natur, eine möglichst gerechte Sozial- und Steuerpolitik, das Verursacherprinzip oder ausgeglichene Staatsfinanzen.

Alle diese Nachteile müssen sich aus Sicht von Wachstumspredigern lohnen: Die Wirtschaft soll wenigstens tatsächlich stark wachsen. Dann schlucken es vielleicht die Bevölkerungen ohne Aufmucken, wenn die Natur weiter ausgebeutet und verschandelt wird, Steuern die Reichen und Konzerne begünstigen («sie sorgen für Wachstum») oder die Defizite von Staaten immer grösser werden – all dies zu Lasten künftiger Generationen.

Um ihren Erfolg schönzureden greifen Wachstumsprediger – dazu zählen auch internationale Organisationen wie die OECD oder nationale Behörden – zu zwei einfachen Schlaumeiereien. Das Wachstum des BIP erscheint damit in einem viel positiveren Licht, als es in Wirklichkeit ist. Bei dieser Augenwischerei machen die meisten Medien – vierte Gewalt hin oder her – mit:

  1. Häufig wird das erfolgte Wachstum des BIP nominal und nicht real (nach Abzug der Inflation) angegeben. Was soll eine Bevölkerung davon haben, wenn das BIP um drei Prozent gewachsen ist, wenn sich gleichzeitig auch die Preise um drei Prozent erhöhten? Besonders elektronische Medien unterlassen es meistens, bei ihren Wachstumsmeldungen anzugeben, ob von einem nominellen oder von einem realen Wachstum die Rede ist.
  2. Fast immer wird das Wachstum des BIP pro Land angegeben und nicht pro Kopf der im Land lebenden Bevölkerung. Was soll eine Bevölkerung davon haben, wenn das BIP um fünf Prozent gewachsen ist, wenn gleichzeitig auch fünf Prozent mehr Menschen im Land leben? Pro Kopf ist das Geldeinkommen um keinen Cent gestiegen. Die Bevölkerung leidet lediglich an einem etwas grösseren Dichtestress, an gestiegenen Mieten, Land- und Bodenpreisen.

Am 10. Dezember 2022 tat die NZZ so, wie wenn sie überrascht wäre, und titelte als Neuigkeit: «Betrachtet man die Zunahme der Wirtschaftskraft pro Kopf, vermag die heimische Leistung nicht zu überzeugen». Es war Chefökonom David Marmet der Zürcher Kantonalbank, der die Wachstumszahlen unter Berücksichtigung der Inflation und der Bevölkerungszunahme in der Schweiz ausgerechnet hat.

Sein Fazit: Das reale BIP der Schweiz stieg in den letzten dreissig Jahren über 60 Prozent – pro Kopf allerdings nur um 29 Prozent. Das waren deutlich weniger als das reale Pro-Kopf-Wachstum etwa in Deutschland mit 39 Prozent.

Keine neue Erkenntnis

Besonders in der Schweiz mit ihrer überdurchschnittlichen Netto-Zuwanderung zeigten die nationalen BIP-Zahlen schon immer ein stark verzerrtes Bild. Das Buch «Schluss mit dem Wachstumswahn – Plädoyer für eine Umkehr»* führte im Jahr 2010 folgende Zahlen an:

Von 1990 bis 2009 wuchs die Schweizer Wirtschaft, gemessen am teuerungsbereinigten Bruttoinlandprodukt, total um 26 Prozent. Dieses Wachstum kam zustande, weil die Einwohnerzahl seit 1990 um 15 Prozent zunahm, während das BIP pro Kopf im gleichen Zeitraum um weniger als zehn Prozent anstieg.

Ende 2009 zum Beispiel gab das Staatsekretariat für Wirtschaft (Seco) bekannt, das reale BIP in der Schweiz sei im vorangehenden Quartal um 0,3 Prozent gewachsen. Einige Wirtschaftsjournalisten jubelten: «Die Schweiz sagt der Rezession ade», lautete eine Schlagzeile. Eine andere: «Rezession in der Schweiz beendet». Das stand ähnlich auch in der Pressemitteilung des Seco. Die Behörde wollte gute Stimmung verbreiten. Doch dieses Wachstum um 0,3 Prozent entsprach ziemlich genau der Zunahme der Bevölkerung im gleichen Quartal. Pro Kopf der Bevölkerung hatte sich also am BIP nichts geändert. Die Zunahme an Produkten und Dienstleistungen, gemessen in Geldwert, musste einfach auf mehr Köpfe verteilt werden.

Auf die Frage, warum eine Behörde wie das Seco die Wachstumszahlen nicht pro Kopf publiziere, hatte ein Sprecher eingeräumt: «Das ist eine sehr gute Frage, aber es wird international nicht so gemacht.»

Dass die Schweiz ihre Wirtschaft primär mit Bevölkerungszuwachs ankurbelt, scheint die Wachstumsfreunde nicht zu grämen. «Volkswirtschaften mit Zugriff auf eine wachsende Bevölkerung erhalten die Chance auf zusätzliche Nachfrage», formulierte ein Leitartikler der NZZ und freute sich: «Die Schweiz ist das beste Beispiel.»

Die Zürcher SP-Politikerin Jacqueline Badran stimmte zu: «Solange wir eine auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftsordnung haben, brauchen wir die Zuwanderung.» Das ist neu. Denn bisher setzten wachstumsorientierte Ökonominnen in der dicht besiedelten Schweiz mehr auf Produktivitätssteigerung als auf Bevölkerungswachstum.

Unterstützung erhielt Jacqueline Badran von Serge Gaillard, dem früheren Gewerkschafter und Arbeitsmarkt-Experten im Seco und von 2012 bis 2021 Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung: «Ohne Einwanderung wäre das starke Wachstum nicht möglich gewesen», konstatierte Gaillard in einem Interview. Die Einwanderung habe namentlich die Bautätigkeit unterstützt. Wie lange noch mehr Überbauungen für noch mehr Zuwanderer wünschenswert sind, um ein starkes Wachstum zu ermöglichen, sagte Gaillard nicht.

Die Autoren des Buches «Schluss mit dem Wachstumswahn» meinten damals:

«Ein Wirtschaftswachstum oder ein ‹Konjunkturaufschwung›, der auf dem Bevölkerungswachstum beruht, bringt dem einzelnen Bürger keine materiellen Vorteile. Der Kuchen wird einfach auf mehr Köpfe verteilt. Wir bekommen nur die Nachteile zu spüren, vor allem in dicht besiedelten Ländern wie der Schweiz: Man tritt sich überall noch mehr auf die Füsse. Die Landschaft wird stärker verschandelt, auf Strassen und Schienen stockt der Verkehr. Vor sechzig Jahren teilten sich noch 4,7 Millionen Menschen das begrenzte Land. Heute leben 7,8 Millionen Menschen in der Schweiz. Wenn wir den Trend nicht wenden, so prognostiziert das Bundesamt für Statistik, werden im Jahr 2050 neun Millionen Menschen in der Schweiz leben.»

Das war eine Fehlprognose des BFS: Die Zahl der Einwohner ist bereits heute auf 8,7 Millionen gestiegen. Entsprechend mehr wird in der ganzen Schweiz konsumiert und investiert, so dass stets mit Freude verkündet werden kann, wie stark die Wirtschaft wieder gewachsen sei.

Behörden und Medien werden höchstwahrscheinlich versuchen, auch in Zukunft mit schweizweiten Wachstumszahlen für gute Stimmung zu sorgen – wenn möglich mit nominalen Zahlen (ohne Berücksichtigung der Inflation) und unter Verschweigen des realen Pro-Kopf-Wachstums.

Den Wachstumspredigern ist es egal, was denn überhaupt wächst

Wenn Wachstumszahlen vergangener Jahre veröffentlicht werden, wird geflissentlich verschwiegen, was zum so ersehnten Wachstum beigetragen hat. Nur zwei Beispiele:

  • Haben etwa noch kurzlebigere oder doch langlebige Produkte zum Wachstum beigetragen? Kleider, Möbel, elektronische Geräte? Haben die Kosten der Müll-Entfernung zugenommen? Je grösser die unerwünschte Wegwerfwirtschaft, desto stärker wächst die Wirtschaft.
  • Wurden mehr tonnenschwere Autos gekauft oder viel mehr von den kleinen? Je schwerere und teurere Autos, desto stärker wächst die Wirtschaft.

Wenn Wachstumszahlen vergangener Jahre veröffentlicht werden, wird ebenso verschwiegen, wer vom Wachstum am meisten profitiert hat:

  • Waren es die sozial und wirtschaftlich Schwächsten? Oder vor allem Reiche und Superreiche?

Wachstumsprediger reden sich heraus: Jedes beliebige, möglichst hohe Wirtschaftswachstum sei auch in reichen Ländern weiter nötig, um Armut und Hunger zu beseitigen, Renten zu sichern, genügend Erwerbsarbeit zu schaffen sowie die nötigen Mittel für den Umweltschutz und die Gesundheitsversorgung bereitzustellen.

Wäre dies wirklich der Fall, würden wir längst im Paradies leben. Dies gilt ganz besonders für die USA mit dem fünfthöchsten Pro-Kopf-BIP. Der dortigen Bevölkerung müsste es ausgezeichnet gehen. Doch die Realität zeigt, dass in den entwickelten Industriestaaten das weitere Wachstum des Bruttoinlandprodukts BIP untauglich ist, um den allgemeinen Wohlstand zu messen, geschweige denn Glück und Lebensqualität.

© Das Weiterverbreiten sämtlicher auf dem gemeinnützigen Portal www.infosperber.ch enthaltenen Texte ist ohne Kostenfolge erlaubt, sofern die Texte integral ohne Kürzung und mit Quellenangaben (Autor und «Infosperber») verbreitet werden. Die SSUI kann das Abgelten eines Nutzungsrechts verlangen.

Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —     Scientist Rebellion klebt Aufsätze ans Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Hannoversche Straße, Berlin, 07.04.2022

Abgelegt unter Finanzpolitik, International, Umwelt, Wirtschaftpolitik | Keine Kommentare »

Wider die föderale Bildung

Erstellt von Redaktion am 10. Dezember 2022

Von der Chancengleichheit in der Bildung

Ein Debattenbeitrag von Ralf Pauli

Von Chancengleichheit im Bildungssystem ist Deutschland weit entfernt. Höchste Zeit, dass die Ampel den Ländern stärkere Vorgaben macht.

Einmal im Jahr, zum heutigen Tag der Bildung, veröffentlicht die gleichnamige Stiftung eine interessante repräsentative Umfrage. Interessant deshalb, weil dort ausnahmsweise mal nicht Eltern oder Lehrkräfte zum deutschen Bildungssystem befragt werden – sondern junge Leute zwischen 14 und 21. Die Peergroup sozusagen. Und was die zum Zustand unseres Schulsystems denkt, sollte ernsthaft nachdenklich stimmen.

Nicht einmal je­de:r Dritte ist der Ansicht, dass alle Kinder in Deutschland die gleichen Chancen auf eine gute Bildung haben. So skeptisch wie in diesem Jahr ist die Umfrage noch nie ausgefallen. Auffällig dabei ist: Je älter die Befragten sind, desto weniger glauben sie an die Bildungsgerechtigkeit. Vermutlich, weil sie selbst miterleben, wie sehr sie in den weiterführenden Schulen unter ihresgleichen bleiben. Die Privilegierten im Gymnasium, der Rest in den Resteschulen.

Das Aufstiegsversprechen passt nicht zur Lebenserfahrung junger Menschen. Ganz neu ist die Erkenntnis natürlich nicht. Man­che:r Po­li­ti­ke­r:in aber hielt die Chancenungleichheit, die die erste Pisa-Studie vor gut 20 Jahren offenlegte, schon für überwunden. Oder so gut wie. Anzeichen dafür gab es durchaus: Mehr und mehr Kinder aus Arbeiter- und Zuwandererfamilien schafften es bis an die Uni. Die Schranken für den zweiten Bildungsweg wurden immer weiter abgebaut.

Und auch Eltern aus bildungsbenachteiligten Schichten gaben ihre Kinder zunehmend in Kita- und Ganztagsbetreuung. Von gleichen Chancen konnte und kann trotzdem noch lange keine Rede sein. Im Gegenteil. Wie die jüngste IQB-Studie zeigt, nimmt der Einfluss des Elternhauses auf den Bildungserfolg sogar zu. Spätestens jetzt müsste den Schön­fär­be­r-in­nen klar geworden sein, dass Deutschland hier auf der Stelle tritt. Oder anders formuliert: Alle Versuche der zuständigen Länder, gleiche Bildungschancen herzustellen, sind mehr oder weniger gescheitert.

Günstige Zeit für Reformen

Keine Frage, die Bil­dungs­mi­nis­te­r-in­nen sind ordentlich unter Zugzwang. An diesem Freitag wollen sie ein wissenschaftliches Gutachten vorstellen, wie die Bildungschancen der weniger privilegierten Kinder nicht schon in der Grundschule flöten gehen. Nach dem Pisa-Schock 2.0 zeigen sich die Länder entschlossen, das Pro­blem endlich anzugehen.

Die Frage ist nur: Reicht der gute Wille, oder muss der Bund dem föderalen, sechzehnfachen Vor-sich-hin-Gemurkse nicht langsam ein Ende machen und stärker in der Bildungspolitik mitmischen? Etwa in der Definition von bundesweiten Standards – von verpflichtenden Sprachtests im Vorschulalter bis hin zu den Kriterien, nach denen bedürftige Schulen zusätzliches Personal erhalten.

Schaden würde es bestimmt nicht. Vielmehr machte es die Bildungs­bemühungen der Länder vergleichbarer und damit das System gerechter. Der Zeitpunkt für eine neuerliche Föderalismusreform scheint jedenfalls günstig zu sein. Zum einen lässt die Kritik von Bil­dungs­for­scher-in­nen an bisherigen Bund-Länder-Programmen keinen Spielraum für Interpretationen.

Wer vermeiden möchte, dass die nächsten Bundesmilliarden wieder genauso ziellos und unwirksam ausgegeben werden wie letzthin für die Bekämpfung pandemiebedingter Lernlücken, kommt um einheitliche Standards und klare Zielvorgaben nicht herum. Die Länder müssen sich bewegen, wenn sie wie im Sommer lautstark eine Verlängerung des Corona-Aufholprogramms und weitere 500 Millionen Euro vom Bund verlangen.

Hohe Summen für die Chancengleichheit

Völlig zu Recht fordern Bil­dungs­po­li­ti­ker-innen der Ampelparteien, dass mit dem Prinzip Gießkanne – das den Ländern so gut in den Kram passt, weil es sie zu nichts verpflichtet – nun bald Schluss ist. Und dass die Bundesregierung den Ländern künftig im Gegenzug zur locker sitzenden Brieftasche mehr Zugeständnisse abverlangt. Immerhin ist die Ampel mit dem Ziel angetreten, die Rolle des Bundes in der Bildung zu stärken. Seit 2006 darf der Bund laut Grundgesetz nicht mehr in Bildung investieren.

Später haben Bundestag und Bundesrat das „Kooperationsverbot“ auf Drängen der SPD gelockert. Die Ampel will nun auch inhaltlich ein Wörtchen mitreden dürfen. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) träumt von einer „neuen Kooperation zwischen Bund und Ländern“.

Quelle       :         TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

*********************************************************

Grafikquelle :

Oben      —      Festakt 60 Jahre Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit am 10. Mai 2018 in der STATION BerlinBettina Stark-Watzinger

Abgelegt unter Bildung, Deutschland_DE, Kultur, Mensch, Sozialpolitik | Keine Kommentare »

Der Schlüssel liegt im Süden

Erstellt von Redaktion am 9. Dezember 2022

Den Kapitalismus abschaffen oder grünes Wachstum fördern?

Ein Debattenbeitrag von Bernward Gesang

Was wir Deutschen gegen die Klimakrise tun können. Können wir im „Norden“ das nachholende Wachstum des „Südens“ ausgleichen? Und wie viel müssten wir schrumpfen?

Das perfide Zusammenwirken von Ökologie und Ökonomie treibt uns in eine beispiellose Krise, auf die es zwei Antworten gibt, die beide völlig unbefriedigend sind: Postwachstumsökonomie (PWÖ) und Green New Deal. Zwei Auswege für eine im Grunde ausweglose Situation, die sich durch unkontrolliertes Wachstum und globalen Kapitalismus ergeben hat: Die Menschheit verbraucht viel mehr, als unsere Erde auf Dauer zu bieten hat. Die Vertreter der PWÖ entgegnen darauf: Schluss mit dem Wachstum, das uns die Krise eingebrockt hat! Nur verändertes Konsumverhalten senkt die Wachstumskurven wirklich. Wir dürfen den Bock des Wachstums nicht zum Gärtner machen und meinen, noch mehr „ergrüntes“ Wachstum würde uns retten.

Genau das meinen Vertreter des Green New Deals. Sie setzen auf nachhaltiges Wachstum: technologische Innovationen und Marktwirtschaft, eventuell gepaart mit gezielten Verboten schädlichen Konsums. Man muss für dieses Modell nicht den Menschen und die Wirtschaft neu erfinden, es nutzt altbekannte Pfade, zum Beispiel den Egoismus des Homo oeconomicus, wenngleich auf lange Sicht.

Dagegen protestieren die Postwachstumsökonomen, nachhaltiges Wachstum sei unmöglich, besonders wegen der bekannten Bumerangeffekte. Diese treten auf, wenn wir beispielsweise ein einzelnes Auto effizienter als zuvor produzieren. Wenn so weniger Sprit pro Fahrt verbraucht wird, wird Auto fahren billiger, weshalb sich der Spritverbrauch der gesamten Flotte trotz sparsamerer einzelner Autos erhöht. Nur wegen dieses Schemas erkläre sich, weshalb unsere Klimagasemissionen auch dann steigen, wenn ein Produkt ökologisch effizienter als sein Vorläufer ist. Vertreter des Green New Deal kontern, dass man solche Entwicklungen durch globale Steuern vermeiden kann. Aber jeder weiß, wie schwer globale Steuern zu erheben sind.

Ulrike Herrmann von der taz hat jüngst den Wachstumsoptimisten die Leviten gelesen. Es werde auch in Zukunft insbesondere in der Technologie zur Speicherung erneuerbarer Energien einen Engpass geben. Es sei ausgeschlossen, jemals genug Ökostrom zu erzeugen, um die Emis­sio­nen auf null zu senken und gleichzeitig die Wirtschaftsleistung weiterhin zu steigern. Weil der Kapitalismus ohne Wachstum nicht funktioniere, lasse sich die Klimakrise nicht lösen, ohne ihn abzuschaffen. Allerdings ist es nicht nötig anzunehmen, dass eine technische Unmöglichkeit an einem bestimmten Punkt das ganze grüne Wachstum dauerhaft aushebelt. Dazu sind unsere Ingenieure doch zu dynamisch. Zudem widerspricht Herrmann überzeugend Studien (etwa von Agora Energiewende), wonach grünes Wachstum billig und sogar ein Geschäft wäre, wenn es erst einmal damit losginge. In der Tat, der Green New Deal scheint größenwahnsinnig, wenn er davon ausgeht, nur fünf- oder zehnfaches Wachstum bringe uns aus der Krise, die wir dem Wachstum verdanken.

Allerdings scheint mir die Alternative, die PWÖ, nicht gleichermaßen kritisch analysiert zu werden. Es gibt ein Recht auf ein würdevolles Leben und eine Wirtschaft ohne Armut. Die Frage ist: Wenn wir global nachholendes Wachstum brauchen, können wir im „Norden“ das nachholende Wachstum des „Südens“ ausgleichen? Wie viel müssten wir schrumpfen? Ich behaupte mal so viel, dass dies keine Akzeptanz bei uns finden würde, selbst wenn man ein Ende von Konsum und Erwerbsarbeit als Befreiung kommunizierte. Das zeigt die manische Diskussion der Energiekrise in diesem Winter, die schlimmstenfalls nur einen Bruchteil der Schrumpfung bedeuten würde, die uns eine PWÖ zumutete.

Zudem braucht der Globale Süden hoch entwickelte Technik, damit er sauberer wachsen kann, als wir es getan haben. Dazu müssen wir innovativ wachsen. Zudem werden manche Länder im Globalen Norden (etwa die USA) genug grüne Energie für sich selbst produzieren können, anders als das energiearme Deutschland. Diese Länder werden niemals auf eine PWÖ umschwenken. Würden wir in Deutschland alleine den Konkurrenznachteil eines Wachstumsstopps in Kauf nehmen? Rea­li­sier­ba­rer als eine völlig neue Wirtschaftsweise scheint es zu sein, die Prioritäten des Klimaschutzes in Deutschland neu zu ordnen.

Quelle         :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen     :

Oben       —       Autowrack („VW Käfer“) am Grund des Walchensees

Abgelegt unter Bildung, Energiepolitik, International, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Die Wildnis als Störfall?

Erstellt von Redaktion am 7. Dezember 2022

Der Kampf um den Artenschutz

Tiervielfalt Oktober 2007.jpg

Von Heike Holdinghausen

Im Winter, wenn das Gras wieder knapp wird, werden die Wisente im Wittgensteiner Rothaargebirge Rinde fressen – und damit den Zorn der Waldbesitzer auf sich ziehen. Einst bewohnten die riesigen zottigen Wildrinder Europas Wälder, doch das ist lange her. In Westeuropa ist das mächtige Rind seit 1000 Jahren ausgestorben, in Mitteleuropa seit etwa 500 Jahren. Im Osten – in Polen, Rumänien, dem Kaukasus – konnte es sich länger halten, bis es auch dort verschwand. Heute lebt es in Osteuropa wieder, als Rückzüchtung aus nur zwölf Exemplaren.

Die genetische Basis ist eng, der Erhalt der Art deshalb ungewiss. Ein europäisches Netzwerk engagierter Enthusiasten – Mitarbeiter von Zoos, Nationalparks, Naturschutzverbänden und Freiwillige – setzt sich für sie ein. Es organisiert den kostspieligen Transport von Bullen quer durch Europa in neue Herden, um weitere Inzucht zu vermeiden. Es versucht, die Bevölkerung über Wisente aufzuklären, Begeisterung für sie zu wecken und neue Lebensräume für sie zu finden. Doch das ist schwer. Wisente sind zwar nicht aggressiv, aber stark und wehrhaft. Und, was vor allem Widerstand auslöst: Im Winter schälen sie auf der Suche nach Nahrung die Rinde von Buchen oder Eichen. Die Bäume verkrüppeln, zeigen Narben, wachsen schief. Das stört zwar die Bäume nicht, aber Waldbesitzerinnen und Försterinnen, auch wenn sie sich der nachhaltigen Forstwirtschaft verschrieben haben. Denn: Schiefe, vernarbte Bäume sind weniger wert.

Nachhaltigkeit im Forst bedeutet heute: Es werden immer so viele wertvolle Bäume geerntet wie nachwachsen können. Durch kluge Wirtschaft sorgen Försterinnen dafür, dass die Bäume hoch, gesund und gerade zu Bau- oder Möbelholz heranwachsen. Dann ist der Forst für die Besitzerinnen – seien das Kommunen, der Bund, Bauern oder adelige Familien – eine grüne Sparkasse. In dieser gut gepflegten Geldanlage haben Wisente keinen Platz. Gerade erst ist hierzulande ein Projekt gescheitert, in dem sich die Rinder Lebensraum zurückerobern sollten, mitten in einer industriellen Kernregion Europas, in Nordrhein-Westfalen: Nach zehn Jahren Widerstand und Gerichtsprozessen von Waldbauern hat sich der Trägerverein der Wisente aus dem Projekt zurückgezogen.

Natur- und Artenschutz: Alles andere als konfliktfrei

Das gescheiterte Wisent-Projekt ist wie ein Kaleidoskop, in dem sich Möglichkeiten, Wunschträume und Probleme von Natur- und Artenschutz in Deutschland schütteln und in immer neuer Zusammensetzung betrachten lassen. Naturschützer nennen die Rinder eine charismatische Art, wie Tiger in Indien oder Elefanten in Afrika, urwüchsig und wild. Sie werben mit dem Schutz solcher Arten, weil sie Emotionen bei den Menschen wecken. Sie sollen die Rolle der Zugpferde übernehmen, die den Karren des Biotopschutzes ziehen. Wer Elefanten schützt, schützt die Savanne, wer Tiger rettet, erhält den Regenwald – und damit Lebensräume für eine Unzahl anderer, unscheinbarerer Pflanzen und Tiere.

Wisente könnten diese Aufgabe in den Forsten des Rothaargebirges übernehmen und etwas Wildnis zurückbringen in die Fichten- und Buchenplantagen, die den mit dem Klimawandel einhergehenden Stürmen, der Hitze und den Borkenkäfern zunehmend nicht mehr gewachsen sind. Wenn sich die Wisente etablieren, wird der Forst wieder mehr zum Wald. Das ist der Wunschtraum. Doch für die Waldbauern ergibt sich ein anderes Bild: Die Rinder gefährden die Finanzplanung ihrer Betriebe, die Tiere drohen sie vom rentablen Forstbetrieb zum Empfänger von Entschädigungsgeld zu verwandeln. Für die Waldbauern sind Wisentherden daher kein Gewinn, sondern eine Bedrohung.

Von Wittgenstein nach Montreal

Und die Bevölkerung? Sie brachte den Tieren Unterstützung und Wohlwollen entgegen, begegnete ihnen aber auch mit Furcht und Ablehnung. Es lässt sich, wo Wisentkälber leben, nicht mehr so unbedarft mit dem Hund durch den Wald streifen, wie wir es mittlerweile gewohnt sind. Der Wald ist heute kein Ort mehr, an dem wir Gefahren erwarten, sondern allein Entspannung – anders als im Straßenverkehr der Städte. Und so schob sich das Wisent-Kaleidoskop am Ende zu der einen Frage zusammen: Warum sollen wir diese großen, starken Tiere in unserer Kulturlandschaft ertragen? Die Frage war größer als die Antwort, und so sieht es derzeit nicht danach aus, als ob die streng geschützten Tiere im Rothaargebirge eine Zukunft hätten. Niemand weiß, was mit den rund 20 Tieren geschehen wird.

Montreal Montage 2020.jpg

Das Wisent-Projekt in Wittgenstein ist nicht typisch für den Artenschutz, wie er heute in Deutschland praktiziert wird. Selbst Umweltverbände kritisieren hinter vorgehaltener Hand ein schlechtes Management, die unzureichende Kommunikation mit der Bevölkerung und zweifeln seine Sinnhaftigkeit in der dicht besiedelten Region an. Übrig bleibt die Erkenntnis, wie unglaublich schwierig der Interessenausgleich zwischen Mensch und Natur ist.

Diese Erkenntnis führt uns direkt von Wittgenstein nach Montreal, wo Mitte Dezember die wichtigste UN-Konferenz des Jahres stattfindet, wichtiger als die Klimakonferenz in Ägypten: Die 196 Vertragsstaaten des „Übereinkommens über die biologische Vielfalt“ (Convention on Biological Diversity, CBD) verhandeln einen neuen Rahmenvertrag, um die belebte Natur zu schützen, ihre nachhaltige Nutzung zu definieren und zu regeln, wer an ihrem Reichtum verdienen darf. (Die USA sind übrigens nicht dabei, Russland und China schon). Während in Scharm el-Scheich gerungen wurde, wie der Klima-Rahmenvertrag umgesetzt wird, wird er in Montreal neu geschrieben

Der alte Vertrag war vor zwei Jahren ausgelaufen und sollte eigentlich 2020 im südchinesischen Kunming neu verhandelt werden, doch wegen der Coronapandemie wurden alle Konferenzen immer wieder verschoben oder, zur Frustration der Beteiligten, ins Digitale verlegt. Die Präsidentschaft Chinas ist geblieben, als neuer Verhandlungsort aber ist Montreal bestimmt, der Sitz der CBD. Montreal, so die Hoffnung, solle das Momentum für den Schutz der Biodiversität schaffen, das Paris für den Klimaschutz bedeutet hat – der Durchbruch für ernsthafte globale Anstrengungen, zumindest auf Ebene der Verträge.

Denn die für uns alle so wichtige Biodiversität – Vielfalt der Arten, Vielfalt der genetischen Ausstattung innerhalb der Arten und Vielfalt der Ökosysteme – ist massiv bedroht. Mit dem Wegfall dieser Vielfalt drohen unfruchtbare Böden, dreckiges Wasser und eine sinkende Resilienz der Natur (deren Teil der Mensch ist!) gegenüber Krankheiten und Klimaveränderungen. Mehr noch als der Klimawandel ist der Verlust der biologischen Vielfalt Ergebnis und Symbol eines Wirtschaftens, das die Ressourcen des Planeten übernutzt.

Quelle       :         Blätter-online           >>>>>         weiterlesen

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben       —     Eine Collage, die die Tiervielfalt anhand eines vorgestellten Bildes darstellt.

*************************

Unten          —        Dies ist eine Montage von Montreal für 2020

Abgelegt unter APO, International, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Blast from the Past

Erstellt von Redaktion am 7. Dezember 2022

Woher kommen Sie? Gesprächspartner klein machen

Die königliche Familie Juni 2013.JPG

Kolumne von Karina Urbach

Nationale und kulturelle Überlegenheit zu demonstrieren sollte auch im britischen Adel Vergangenheit sein. Die britische Gesellschaft ist verändert.

Als Kanzler der Universität Cambridge unterhielt sich Prinz Philip immer gerne mit den Leuten vor Ort. Dabei musste man auf alles gefasst sein:

Prinz Philip: „Woher kommen Sie?“

„Ich bin Polin.“

„Sind sie zum Erdbeerenpflücken hier?“

„Nein, ich bin Professorin für Biologie.“

„Nicht ihr Ernst!“

Royale Konversation Nr. 2:

Prinz Philip: „Sie sind keine Engländerin, stimmt’s?“

„Nein, ich komme aus Irland.“

„Das dachte ich mir. Sie haben was Wildes.“

Prinz Philip, der Vater des jetzigen Königs Charles III., war 35 Jahre lang Kanzler der Universität Cambridge. Er war kein dummer Mann. Er leistete viel für die royale Firma und interessierte sich für Naturwissenschaften und neue Technologien.

Aber er hatte eine Eigenschaft, die in seinem Stand weit verbreitet ist: einen festen Glauben an seine absolute gesellschaftliche Überlegenheit. Mit wenigen herablassenden Worten konnte er dafür sorgen, dass sich seine Gesprächspartner klein fühlten.

Keine Gruppe wurde davon verschont: Frauen, Arbeiter, Mittelschichtler und natürlich auch People of Colour. Jeder kam mal dran. Es war typisch für seine Generation von Aristokraten. Entscheidend war nicht unbedingt die Hautfarbe, sondern das Klassendenken. Ein indischer Prinz wurde als ebenbürtig behandelt, ein indischer Gemüseverkäufer musste damit rechnen, etwas abzubekommen.

Philips Generation ist so gut wie ausgestorben, aber die Äußerungen der 83-jährigen Lady Hussey erinnerten noch einmal daran. Hussey ist Patentante von Prinz William und gehört seit 60 Jahren zum royalen Haushalt.

Als Hussey bei der Veranstaltung in Buckingham-Palast letzten Dienstag (29. November) die Schwarze Britin Ngozi Fulani fragte „Wo kommen sie wirklich her?“, wollte sie ihre gesellschaftliche und ihre nationale Überlegenheit gegenüber Fulani demonstrieren. Vielleicht hatte Hussey einfach nicht das hausinterne Memo gelesen.

Die Idee der Veranstaltung war es, Frauensolidarität zu zeigen – nicht andere Frauen herabzusetzen. Man wollte auf die internationale UN-Kampagne gegen Gewalt an Frauen aufmerksam machen. Olena Selenska eröffnete deswegen in London eine Ausstellung über die Vergewaltigungen von ukrainischen Frauen durch russische Soldaten.

Die Krönung kann ihr auf die Sprünge helfen

Vielleicht sind ukrainische Frauen für Hussey geografisch zu weit entfernt. Aber Gewalt an Frauen ist ein Thema, das auch ihre eigene Standesgenossin, die 90-jährige Lady Glenconner, gerade thematisiert hat. Anne Glenconner beschreibt in ihren Memoiren „What­ever next?“, wie ihr Mann sie über Jahrzehnte hinweg verbal und physisch schwer misshandelte (unter anderem wurde sie durch seine Schläge auf einem Ohr taub). Es ging also bei der Veranstaltung im Buckingham-Palast um ein Thema, das Frauen aller Länder und sozialer Schichten betrifft. Einen Tag nach dem Vorfall mit Ngozi Fulani trat Susan Hussey zurück.

Quelle        :       TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —    Die königliche Familie beobachtet das Vorbeifliegen, Trooping the Colour Juni 2013

Abgelegt unter Europa, Feuilleton, Kultur, Mensch, Positionen | Keine Kommentare »

Eine Welt ohne Lösungen

Erstellt von Redaktion am 6. Dezember 2022

Große Tech-Konzerne ähneln Ozeandampfern: stark und mächtig, doch wenig manövrierfähig.

Ein Debattenbeitrag von Svenja Bergt

Big Tech ist in der Krise, weil ihnen nichts Disruptives mehr einfällt. Zur Abwechslung sollten sie mal Probleme lösen, statt immer neue zu schaffen.

Der Eintritt ins Metaverse ist gerade noch einmal teurer geworden. 1.500 US-Dollar kostet das neueste Modell der Virtual-Reality-Brille, die der Meta-Konzern im Oktober vorgestellt hat. Und eine Virtual-Reality-Brille ist nötig, will man sich im Metaverse bewegen, kommunizieren, spielen, teilhaben. Es geht natürlich auch billiger, ältere Brillenmodelle sind schon ab etwa 400 US-Dollar zu haben. Doch die Illusion, sich in einer realen digitalen Welt zu bewegen, die das Metaverse schaffen soll, ist eben umso erreichbarer, je leichter, bequemer und leistungsfähiger die Brille ist.

Etwa ein Jahr her ist es, dass Facebook-Gründer Mark Zuckerberg das Metaverse als nächstes großes Ding vorgestellt hat. Konsequenterweise ließ er die Ankündigung damals als Avatar performen. Doch weil das gesamte Setting eher wie Second Life anmutete, was so etwas wie der gescheiterte Vorgänger der Metaverse-Idee war, hagelte es damals eher Spott als anerkennendes Kopfnicken. Was seitdem passiert ist (nicht chronologisch): Der Facebook-Konzern hat sich in Meta umbenannt, Elon Musk hat Twitter gekauft und ins Chaos gestürzt, die US-Notenbank hat massiv den Leitzins erhöht, Putin ließ die russische Armee in die Ukraine einmarschieren, in den USA schmieren die Börsenkurse der Tech-Konzerne ab. Die Unternehmen, von Meta bis Amazon, entlassen spontan und reihenweise Mitarbeitende.

Zwischen einigen dieser Ereignisse lassen sich Verbindungslinien ziehen. Etwa zwischen dem steigenden Leitzins und den fallenden Kursen: Werden konventionelle Geldanlagen durch steigende Zinsen wieder interessanter, sind Aktien mit all ihren Risiken eben weniger attraktiv. Die Krise der Tech-Branche ist also nicht nur hausgemacht. Dennoch stellt sich die Frage: Platzt hier gerade eine Blase? Für eine Antwort ist es naturgemäß noch zu früh – aber ist es dennoch Zeit, um eine erste Bilanz des Big-Tech-Business zu ziehen und zu fragen: Wie könnte es nach dieser Krise weitergehen?

Bleiben wir kurz bei Meta. Der neue Name sollte auch ein Signal der Neuerfindung sein: Seht her, wir lassen die Krisen der vergangenen Jahre – unter anderem Probleme mit dem Datenschutz, manipulative Wahlwerbung und Hassreden – hinter uns und stellen uns auf für die Zukunft. Das Signal sollte einerseits an die Ak­tio­nä­r-in­nen gehen, andererseits aber auch an die Öffentlichkeit. Denn zwar hat der Konzern nicht nur das alternde Face­book, sondern auch jüngere Dienste wie Insta­gram und Whatsapp im Portfolio. Doch die weltweit am meisten heruntergeladene App ist mittlerweile Tiktok. In Deutschland nutzen in der Altersgruppe der 16- bis 19-Jährigen knapp drei Viertel die Plattform. Meta hat also ein Nachwuchs­problem. Und es sieht gerade nicht danach aus, als wäre das Metaverse, das Meta zudem nicht exklusiv hat, die Lösung. Das Wall Street Journal berichtete jüngst über interne Dokumente, wonach sich in den virtuellen Meta-Welten gerade einmal 200.000 regelmäßige Be­su­che­r-in­nen aufhalten.

Es ist kein Geheimnis, dass große, etablierte Konzerne eher Ozeandampfern ähneln: stark und mächtig, doch wenig manövrierfähig. In der Wirtschaft geht diese Manövrierfähigkeit aber Hand in Hand mit Innovationskraft. Zumindest wenn man Innovation im Sinne von Disruption versteht, also Erfindungen oder Entwicklungen, die eine Branche oder eine Gesellschaft entscheidend verändern. Die Erfindung des Smartphones war in jüngerer Zeit eine solche Disruption, die Entwicklung von Streamingdiensten oder die Digitalfotografie. Um die mangelnde Disruptionsfähigkeit auszugleichen, greifen die Großen auf bewährt Handlungsmöglichkeiten zurück: Sie kaufen kleine, innovative Unternehmen auf, um deren Wissen und Erfindungen ins eigene Haus zu holen. Als praktischer Nebeneffekt ist damit noch ein potenzieller Konkurrent ausgeschaltet. Meta, damals noch Facebook, hat so in der Vergangenheit Instagram und Whatsapp gekauft.

Doch die Disruptionen der Vergangenheit müssen nicht die der Zukunft sein. Womöglich ist die Krise zum Teil auch auf eine Erkenntnis zurückzuführen, die nach und nach ins Bewusstsein gerät: Die Welt braucht nicht noch eine weitere technische Disruption, die neue Bedürfnisse kreiert und gleichzeitig neue Probleme schafft. Sie braucht Lösungen für echte, aktuelle Probleme.

Denn bislang ist es doch so: Big Tech hat durchaus für Fortschritte gesorgt. Aber mit diesen Fortschritten auch leider immer mehrere neue Probleme geschaffen, die dann ungelöst blieben. Amazon zum Beispiel hat viel für den Verbraucherschutz beim Online-Einkauf getan. Leider auf Kosten von Logistik-Mitarbeiter-innen, kleinen Händlern und der Privatsphäre der Kund-innen. Google hat mit seiner Suchmaschine den Zugang zu Informationen im Netz auf eine neue Stufe gehoben. Und nun ein derart weit verzweigtes Unternehmenskonglomerat, dass digitales Leben, von dem keine Daten an den Konzern fließen, nahezu unmöglich ist. Facebook mit seiner weltweiten Vernetzung von Menschen und dem Potenzial, das sich für Bewegungen ergibt – großartig. Aber die Persönlichkeitsprofile, die massiven Probleme durch algorithmische Entscheidungen, durch Hass und Hetze – ungelöst.

Quelle          :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —     Karikatur von Gerhard Mester zum Klimawandel: „Weiter so“

Abgelegt unter Debatte, Energiepolitik, International, Regierung, Umwelt | Keine Kommentare »

Erfolge fallen nicht von Oben

Erstellt von Redaktion am 3. Dezember 2022

Vor 50 Jahren an der Wutach
– Der Kampf um sauberes Wasser beginnt!

Die Wutach bei Tiengen zwischen Steina- und Schlüchtmündung

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Axel Mayer – Mitwelt Stiftung Oberrhein

Die Wutach, der kleine, schöne Fluss im Schwarzwald war einmal eines der besten Forellengewässer Europas und berühmt für seine Wasserqualität. Der exklusive Londoner „Bad Boll Fishing Club“ hatte auf einer Länge von 80 Kilometern die Angelrechte an der Wutach gepachtet und Bad Boll war damals ein kleines Schwarzwald-Bad am Rande der Wutach-Schlucht. Doch die ungeklärten Abwässer der Papierfabrik in Neustadt führten ab 1905 zu einem raschen Rückgang des Fischbestandes.

Vor 50 Jahren, im Jahr 1972 geschah in der kleinen, konservativen Schwarzwaldstadt Donaueschingen „Ungeheuerliches“. Die Umweltschützer und Paddler Roland Görger und Konrad Jäger, beide aktiv in der Freiburger Aktion Umweltschutz, dem späteren BUND, demonstrierten bei den Donaueschinger Musiktagen. Sie verteilten 1000 Infoblätter und verlangten die Abwasserklärung der fürstlichen Papierfabrik in Neustadt und die Beendigung der massiven Wasserverschmutzung der Wutach. Nach dem Krieg mussten die beiden Kajak-Fahrer die Plastifizierung der Ufer, die hemmungslose Gewässerverschmutzung und die immer schnellere Zerstörung der Bäche und Flüsse erleben und erleiden. Beide standen für eine neue, politischere Generation im Natur- und Umweltschutz, die sich auch mit Autoritäten anlegte. Der Zustand der Umwelt in Deutschland war 1972 teilweise entsetzlich und viele Bäche und Flüsse stinkende Kloaken. Es war eine Zeit, in der in Deutschland Kinder durch Luftverschmutzung krank wurden, Asbest-Gefahren wurden verharmlost und der Schweizer Atommüll noch im Meer versenkt. Es war die Zeit einer erwachenden Umweltbewegung, in der aus „Nur-Naturschutzverbänden“ politisch engagierte „Umwelt- und Naturschutzorganisationen wurden. Ein »Fenster der Möglichkeiten« öffnete sich am Oberrhein und wenige Jahre später kam es zu den großen, spektakulären Protestaktionen und Bauplatzbesetzungen gegen ein Bleiwerk in Marckolsheim (F) und gegen die AKW Wyhl, Kaiseraugst (CH) und Gerstheim (F).

Heute wäre so eine Aktion keine besondere Nachricht, damals war sie sehr ungewöhnlich. Sponsor der Donaueschinger Musiktage war der Fürst zu Fürstenberg, der auch Besitzer der Papierfabrik Neustadt war. Protest gegen „den Fürst“ war damals in Donaueschingen noch ein Sakrileg. Nach langem Streit und wirtschaftlichen Verwerfungen wurde endlich eine Kläranlage eingebaut. Ein erster Erfolg für den Wasserschutz und den Schutz unserer Bäche und Flüsse, an dem eine damals noch junge Umweltbewegung ihren Anteil hat. Wenn heute in Bächen und Flüssen wieder gebadet werden kann, wenn die Lachse langsam zurückkehren, dann sollten wir daran erinnern, dass diese Erfolge nicht vom Himmel gefallen sind, sondern teilweise hart erkämpft werden mussten.

Die frühen Kämpfe waren schwierig und mühsam und dennoch einfach, denn die Vergiftungen und Belastungen waren zumeist sichtbar, messbar und erkennbar. Die erfreulichen heutigen Kämpfe gegen Klimawandel, Artenausrottung, Atommüllproduktion und die Folgen unbegrenzten Wachstums sind schwieriger. Dennoch können wir aus den frühen Erfolgen Hoffnung und Kraft schöpfen. Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein, (Alt-)BUND-Geschäftsführer (Auf Wunsch sende ich Ihnen auch gerne einen umfangreichen Lang-Text zu diesem Thema zu.) Nachtrag:

„Die Umweltbewegung wird für das gelobt, was sie in der Vergangenheit getan und erreicht hat und sie wird heftig dafür kritisiert, was sie aktuell fordert und durchsetzen will“

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben      —   Die Wutach bei Tiengen zwischen Steina- und Schlüchtmündung

Abgelegt unter Baden-Württemberg, Positionen, Überregional, Umwelt | Keine Kommentare »

Schocktherapie for future

Erstellt von Redaktion am 30. November 2022

Was kann ein Klimt-Bild für den Klima-Kollaps?

Ein Schlagloch von Robert Misik

Nur mit gemäßigten Aktionen könne man Mehrheiten gewinnen, wird den Klimaschützern gern vorgehalten. Aber so einfach ist das nicht. Was kann ein Klimt-Bild für den Klima-Kollaps? Diese Kausalfrage drängt sich nicht nur Spießern auf!

Wann die „Gegenwartskunst“ begann, ist umstritten. Gerne wird der abstrakte Expressionismus als Endpunkt der klassischen Moderne markiert und der Beginn der „Gegenwartskunst“ mit dem Jahr 1954, als Jasper Johns mit „Flag“ einen Alltagsgegenstand umformte – die US-Flagge eben. Es war ein erstes Wetterleuchten dessen, was später „Pop Art“ genannt wurde. Manche würden wiederum als erste Ikonen der „Gegenwartskunst“ die Suppendosen-Bilder von Andy Warhol nennen, die einen Konsumgegenstand reproduzierten, den jeder kannte. Jüngst haben Klimaschützer ein Van-Gogh-Bild mit Suppe überschüttet, und der Liebhaber subversiver Selbstreferenzialität in mir hätte natürlich ersehnt, dass Campbell-Suppe über Warhols Campbell-Siebdrucke geschüttet worden wäre. Nun, man kann nicht alles haben.

Dass die radikalen Protestaktionen der Klimaaktivisten nicht nur auf Kunst abzielen, sondern auch Stilmittel avantgardistischer Provokation zitieren (vielleicht nicht mal bewusst), ist ja vielfach bemerkt worden, von der Anti-Kunst des Dadaismus bis über die Schüttbilder von Nitsch, die Übermalungen von Arnulf Rainer oder die Schockstrategien der Aktionskunst. „All art is propaganda“, bemerkte schon George Orwell, und so ist auch jede Zerstörung von Kunst zugleich Kunst und Propaganda. Oder so.

Natürlich kann man gegen die Attacken auf Kunstwerke einiges einwenden, obwohl bisher keine Kunstwerke zerstört werden, sondern vor allem Glasscheiben beschmutzt oder beschädigt wurden, hinter denen sich die Kunstwerke befanden. Ein Einwand wäre: Die Aktionen zwingen Museen, ihre Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen, was nicht nur Geld kostet, sondern Museen zu Hochsicherheitsinstitutionen machen kann, und das macht die Welt bestimmt nicht besser. Auch ist bei Protestaktionen zweifellos empfehlenswert, dass die konkrete Aktion des zivilen Ungehorsams in einem nachvollziehbaren Verhältnis zur Botschaft steht. Man besetzt, wenn man gegen Panzerlieferungen protestiert, ja auch eher Panzerfabriken und nicht die Wohnung von Herrn und Frau Maier. „Was kann ein Klimt-Bild für den Klimakollaps?“, die Frage drängt sich nicht nur Spießern auf, die sowieso keine Protestaktio­nen gut finden würden, also auch nicht, wenn man sich im Morgenverkehr an seinen SUV anklebt. Wenigstens die Spur einer kausalen Assoziationskette kann aber sicher nicht schaden.

Revolution ja, aber schmutzig soll nichts werden. „Extremisten“ und gar „Klimaterroristen“, werden die Aktivisten gescholten, was natürlich Unfug ist. Die Aktionen sind nicht extremistisch, aber sie sind, wie das ein Aktivist nannte, „drastisch“. Das Problem an drastischen Aktionen dieser Art ist, dass sie Mehrheiten abschrecken und womöglich sogar jene gegen die Anliegen der Engagierten aufbringen, die diesen eigentlich mit Sympathie gegenüberstehen.

Aber die eigentlich interessante Streitfrage ist: Sollen Bewegungen, die eine Gesellschaft radikal verändern wollen, eher Aktionen setzen, die von Mehrheiten sofort unterstützt werden können? Oder ist es erfolgversprechender, auf drastische Weise vorzugehen, um einerseits Mehrheiten zu schockieren und andererseits entschlossene Minderheiten zu aktivieren? Auf diese Schlüsselfrage gibt es keine ganz leichte Antwort, gerade wenn man die Lehren der Geschichte berücksichtigt. Engagierte Minderheiten können Gesellschaften oft besser verändern als Warmduscher, die immer die Zustimmung von allen Seiten ersehnen.

Bringen wir etwas Systematik rein: Zunächst einmal kann man natürlich zu bedenken geben, dass die freundliche Art des Aktivismus, wie sie bisher „Fridays for Future“ setzte und etwa Greta Thunberg zu einer globalen Celebrity machte, viel freundlichen Zuspruch und Solidarität erntete, aber nicht die erwünschten Erfolge hatte, nämlich die entschlossene Öko-Wende. Nur ist mit dem Einwand noch nicht gesagt, dass ein radikaleres Vorgehen erfolgreicher gewesen wäre. Höchstwahrscheinlich wäre es noch „erfolgloser“ gewesen, wenn man unter „Erfolg“ klare, messbare Konsequenzen versteht.

Die Gefahr bei radikalen Aktionen ist nicht nur die der „Kriminalisierung“ des Protestes, sondern vor allem die gesellschaftliche Isolation der Engagierten. Die Gefahr beim moderaten Engagement ist allerdings, dass man wegen des Wunsches, anschlussfähig an Mehrheiten zu bleiben, die gesellschaftsverändernden Forderungen und Programmatiken so weich spült, dass am Ende kaum etwas davon übrig bleibt. Oder im schlimmsten Falle, dass man sich an eine imaginierte Mehrheit so anschmiegt, dass man unfähig wird, diese Mehrheit in die eigene Richtung zu verschieben.

Das ist nicht trivial, wie man andauernd vorgeführt bekommt. Quer über den Globus hat in den vergangenen Jahren eine harte Rechte Politik und Diskurse massiv verändert, und zwar nicht, indem sie „gemäßigt“ oder „vernünftig“ vorging, sondern durch den Extremismus und das tägliche Gift der Verrohung, mit dem sie ganze Gesellschaften kontaminiert hat. Trump, Meloni & Co haben ja nicht Erfolg, weil sie sich sanft und schmeichelweich geben, sondern indem sie rabiat und aggressiv agieren, während die Gegenseite eher defensiv und „vernünftig“ ist.

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben       —          Die Illustration zeigt zwei Bildrahmen: 1) Einen übergewichtigen Mann, der allein unter der ihn verbrennenden Sonne in einer wüsten Landschaft zwischen Tierknochen und ohne lebende Tiere oder Pflanzen sitzt 2) Ein Paradies mit vielen verschiedenen Tieren und Pflanzen, die in Harmonie mit Menschen leben Die Illustration wurde für eine Ausgabe eines Vegan-Magazins in Österreich gemacht, aber nicht verwendet. Sie zeigt die Probleme, die durch Tierausbeutung verursacht werden. Ergänzend steht am Bild: „Sie habend die Wahl … noch.“

*****************************

Unten          —         Fotoaktion des Aufstands der Letzten Generation vor dem Reichstag, Berlin, 02.07.2022

Abgelegt unter APO, Energiepolitik, Europa, Umwelt | Keine Kommentare »

Verkauf von Transnet BW

Erstellt von Redaktion am 30. November 2022

Blackrock ist interessiert

Hier kann Kretsche unter den Spaziergängern noch eine Grüne Zukunft erkennen !

Von Johanna Henkel-Waidhofer

Zum 40. Geburtstag der Grünen wusste Winfried Kretschmann noch, dass die unsichtbare Hand des Marktes das Klima nicht rettet. Den Konsequenzen aus dieser Erkenntnis verweigern sich viele Grüne, nicht zuletzt der Ministerpräsident. Deshalb soll jetzt sogar kritische Infrastruktur verscherbelt werden.

Die gute Nachricht zuerst: „Sie können mal sicher sein: Die Chinesen kriegen es nicht.“ Was Regierungschef Kretschmann sonst noch sagte zu dem Plan des landeseigenen Stromanbieters EnBW, 49,9 Prozent des Transportnetzbetreibers TransnetBW zu verkaufen, zeigt nur, in welche Sackgasse er sich beim Ausbau der erneuerbaren Energien manövriert hat. Eigentlich, so Kretschmann, müssten Milliarden rasch in den Ausbau investiert und sehr zügig neue Infrastruktur geschaffen werden. Aber: „Die Alternative zum Verkauf wäre eine Kapitalspritze durch das Land, ich sehe aber nicht, dass diese Alternative haushaltspolitisch möglich wäre.“

Also dürfen – neben der Idee, einen Teil der TransnetBW an die KfW abzutreten, wenn der Preis stimmt – Private ran. Einer der Interessenten für die TransnetBW-Anteile heißt Blackrock. Dabei hat die Hoffnung, Investoren würden die Energiewende wuppen, den Praxistest noch nie bestanden. Nicht im Zeitalter neoliberaler Blütenträume, als gewachsene Strukturen in der Erwartung zerschlagen wurden, dass fragmentierte Geschäftsmodelle und mehr Wettbewerb eine sichere und noch dazu kostengünstige Versorgung bieten können. Schließlich ist das allererste und wichtigste Interesse privater Geldgeber, dass die Rendite stimmt. Zur Zeit zeigt sich auf dem Atlantik, wohin das führt: Dutzende LNG-Tanker dümpeln wie auf Befehl vor sich hin und steuern keinen europäischen Hafen an – in der Hoffnung kapitalistischer Steuermänner auf einen kalten Winter und weiter steigende Preise. Im Netz ist tagesscharf nachzuverfolgen, dass die europäischen Länder keineswegs schon alle über volle Gasspeicher verfügen. Von der fehlenden Solidarität mit anderen Weltgegenden mal ganz abgesehen, die das Flüssiggas sehr gut gebrauchen, aber nicht ausreichend zahlen können.

Für Baden-Württembergs fehlgeleitete Klimapolitik stehen die Kurven, die Kretschmann neuerdings so gerne in die Kameras hält und die zeigen, wie wenig der Ausbau von Windkraft in der Vergangenheit vorangekommen ist. Sie sollen auch illustrieren, wie wenig Schuld seine Landesregierungen seit 2011 daran trage und wie viel der Bund mit seinen Ausschreibungsbedingungen. Der vom Grünen als hauptverantwortlich ins Visier genommene frühere Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) will die Kritik allerdings nicht auf sich sitzen lassen, er sieht vielmehr das Land ob der Zuständigkeit für die Genehmigungsverfahren in Mithaftung. So oder so ist es kurzsichtig, vor allem oder sogar allein auf Investoren zu setzen. Die wollen/müssen Geld verdienen.

1.000 Windräder bis 2026: völlig illusionär

Die EnBW, zu mehr als 99 Prozent in der Hand des Landes, des Zweckverbands Oberschwäbische Elektrizitätswerke und mehrerer kommunaler Kleinaktionäre, baut Windkraftanlagen auf der ganzen Welt, die größten offshore gerade in Großbritannien, onshore in der Türkei oder Schweden. Erhebliche Erwartungen werden mit den Ankündigungen einer Wind-Offensive durch die französische Regierung verbunden. Und fünf Räder sind in Weingarten nordöstlich von Karlsruhe geplant, ab 2024 könnten sie etwa 3.400 Haushalte versorgen. Sie wären dann wenigstens ein Teil jener hundert Anlagen jährlich, auf die sich Kretschmann neuerdings sogar im TV-Talk festlegen lässt. Der Koalitionsvertrag von 2021 hatte noch „bis zu tausend“ bis 2026 versprochen – eine inzwischen völlig illusionäre Zielmarke.

Windpark Stötten

Wenn Erneuerbare aber vor allem anderswo ausgebaut werden als zwischen Main und Bodensee, kommt den Netzen erst recht eine besondere Bedeutung zu. TransnetBW, die frühere EnBW Transportnetz AG, betreibt als eines der vier großen Unternehmen der Republik mit rund 1.200 Mitarbeiter:innen mehr als 3.000 Kilometern Hochspannungsleitungen in Baden-Württemberg. „Wir schaffen Verbindungen“, heißt es in einer der vielen Selbstbeschreibungen, „verstehen uns als Teil der Lösung für das Gelingen der Energiewende und bringen Energie von Nord nach Süd.“ Allein bis 2025 sollen zwölf Milliarden Euro investiert werden, darunter sechs Milliarden Euro in den Netzausbau.

Ein bundesweites Vorzeigeprojekt mit Schlüsselfunktion für die Energiewende sind die 700 Kilometer Erdkabel mit dem klingenden Namen „SuedLink“, deren Umsetzung TransnetBW mitverantwortet. Wenn Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) über die angeblich so ähnlichen Probleme der Südschiene bramarbasiert, lässt er wissentlich unter den Tisch fallen, wie weit die Planungsfortschritte dank der Strategie der EnBW und TransnetBW in Baden-Württemberg gediehen sind im Vergleich zu Bayern. „Seit 2014 wurden die Leitungen massiv bekämpft“, weiß Ludwig Hartmann, der Grünen-Fraktionschef im Maximilianeum. Söders Vorgänger Horst Seehofer bestritt vor Jahr und Tag sogar ganz schlicht deren Notwendigkeit.

Der Ausbau des Netzes ist den Grünen zu teuer

Über die Bedeutung des heimischen Netzbetreibers ist sich Baden-Württembergs Landesregierung jedenfalls im Klaren. Das Unternehmen trage wesentlich zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit, dem Voranbringen der Energiewende und der Bezahlbarkeit von Strom bei, antwortet Gisela Splett, grüne Staatssekretärin im Finanzministerium, dieser Tage auf eine parlamentarische Anfrage der SPD-Landtagsfraktion. Zum Ausbau des Übertragungsnetzes seien „voraussichtlich sehr signifikante Investitionen zu leisten“, und vor diesem Hintergrund könne „eine potenzielle Transaktion dazu beitragen, die Finanzierung zu gewährleisten“.

Quelle       :        KONTEXT-Wochenzeitung         >>>>>        weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —   Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

Abgelegt unter Baden-Württemberg, Deutschland_DE, Energiepolitik, P.Die Grünen, Umwelt | Keine Kommentare »

Forschung bei Gebeinen

Erstellt von Redaktion am 27. November 2022

Knochen aus deutscher Geschichte

Von   :   Mirjana Jandik

McMichael Mutok stammt aus der früheren deutschen Kolonie Palau. Nun ist er in Göttingen, um Knochen zu studieren. Es geht um deren Rückgabe.

Es ist ein Herbsttag in Göttingen, der Nebel hängt auch nachmittags noch über der Stadt, und Alma Simba ist dick eingepackt in eine schwarze Jacke. Nur noch wenige Tage bleiben der jungen Historikerin aus Tansania in Göttingen, um letzte Aufnahmen für ihre Toninstallation zu machen. Mit ihrem Handy nimmt Alma Simba das Rascheln des Herbstlaubs unter ihren Füßen auf, während sie auf den Botanischen Garten zusteuert. Beim Eingang bleibt sie stehen, um das sanfte Plätschern eines kleinen Bachs einzufangen. Im Hintergrund sind Krähen und Enten zu hören, Jugendliche zeigen sich ein Handyvideo und lachen, hinter den Mauern rauschen Autos vorbei, eine Krankenwagensirene heult. Was nicht auf den ersten Blick offensichtlich ist: Alma Simba geht es hier nicht um ein Soundporträt Göttingens, sondern um die deutsch-tansanischen Kolonialbeziehungen.

Drei Monate lang war sie zusammen mit vier weiteren Gast­wis­sen­schaft­le­r*in­nen aus Tansania, Kamerun, Neuseeland und Palau zu Gast an der Universität Göttingen. Ihr Interesse gilt den Schädeln, Knochen und Skeletten, die sich dort in vielen Regalmetern stapeln.

Im Zuge von Forschungsreisen und Kolonialexpeditionen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert fanden nicht nur Kunst- und Alltagsgegenstände, sondern auch Tausende menschliche Überreste aus aller Welt ihren Weg in europäische Privatsammlungen, Museen und Universitäten – so auch nach Göttingen. Zusammen mit Projektangestellten von der Universität Göttingen und einer Mitarbeiterin aus Fidschi wollen die Gast­wis­sen­schaft­le­r*in­nen im Projekt „Sensible Provenienzen“ die menschlichen Überreste unter die Lupe nehmen: Wo kommen sie her? Wer hat sie wie und wann nach Göttingen gebracht? Und vor allem: Was soll jetzt damit passieren?

Erklärtes Ziel ist es, die menschlichen Gebeine ihren Herkunftsgesellschaften zurückzugeben. Das ist keine leichte Aufgabe. Und die Gast­wis­sen­schaft­le­r*in­nen haben durchaus unterschiedliche Prioritäten.

Der Irrglaube der Phrenologie

Im Botanischen Garten will Alma Simba eine besondere Tonaufnahme machen. Hier, an diesem Ort, der schon immer der kolonialen Bewunderung und Erforschung „exotischer“ Pflanzen gedient hat, zückt sie ihr iPhone und fragt: „Hey, Siri! Was ist Phrenologie?“ Nach kurzer Pause antwortet die Handystimme: „Phrenologie ist eine Pseudowissenschaft, die davon ausgeht, man könne anhand der Schädelform eines Menschen Aussagen über dessen Charakter und Intellekt treffen. Soll ich weiterlesen?“ – „Nein, danke!“

Im frühen 19. Jahrhundert entwickelt, war die phrenologische Pseudowissenschaft jahrzehntelang populär in Europa und den USA. Schädelvermessungen zählten zum Instrumentarium der im 18. Jahrhundert entstehenden Anthropologie.

Eng verknüpft ist das mit dem Namen Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840). Noch vor der Blütezeit des deutschen Kolonialismus legte er in Göttingen eine breite Sammlung menschlicher Schädel verschiedener Herkunft an, die er vergleichend untersuchte. Auf ihn geht die Lehre zurück, dass es fünf verschiedene „menschliche Varietäten“ gebe. Wenn auch Blumenbach ein Verfechter der grundlegenden Gleichheit der Menschen war, wurden doch seine Studien später zur Begründung von Rassenkunde und rassistischer Hetze instrumentalisiert.

Die Blumenbach’sche Schädelsammlung existiert noch heute. Sie gehört zum Zentrum für Anatomie der medizinischen Fakultät – und steht jetzt im Fokus des Forschungsteams. Außerdem untersucht wird die anthropologische Sammlung, in der Schädel, Knochen und Skelette aus der ganzen Welt lagern. Viele wurden im frühen 20. Jahrhundert aus von Deutschland kolonisierten Gebieten nach Göttingen gebracht. Einen Teil der Sammlung übernahm Göttingen in den 1950er Jahren vom Hamburger Völkerkundemuseum.

Insgesamt gäbe es etwa 1.800 menschliche Überreste zu untersuchen. Die For­sche­r*in­nen konzentrieren sich erst einmal auf rund hundert.

Ein Palauer Wissenschaftler in Göttingen

Einer der Gast­wis­sen­schaft­le­r*in­nen ist ­McMichael Mutok, der im Amt für Denkmalpflege von Palau arbeitet. Der Inselstaat im Pazifik hat gerade einmal 20.000 Einwohner*innen, und obwohl Palau von 1899 bis 1914 eine deutsche Kolonie war, kennen viele Menschen hierzulande den Staat noch nicht einmal vom Hörensagen. Der junge Forscher trifft sich mit der wissenschaftlichen Hilfskraft Sofia Leikam in der anthropologischen Sammlung. Hier steht man zunächst vor einer Reihe von Primatenskeletten, und an der Wand hängt ein großer Spiegel, „homo ­sapiens sapiens“ steht darüber.

McMichael Mutok und Sofia Leikam kennen sich hier inzwischen aus, die Arbeit mit den Karteikarten, Listen und Archiveinträgen gehört ebenso zu ihrem Alltag im Projekt wie das Suchen und Durcharbeiten von alten Kaufbelegen und Reisedokumentationen.

Manchmal gleicht die Forschung der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. In etlichen Regalmetern stapeln sich Boxen aus festem braunem Karton, darin Schädel, Knochen und Knochenfragmente. Die Überreste aus Ozeanien sind in einer mehrseitigen Liste notiert. Während Sofia Leikam sie durchblättert, kommentiert sie: „Herkunft: unbekannt. Sammler: unbekannt. Datum: unbekannt. Manchmal gibt es kaum Angaben zu den Überresten.“ Um heute zu rekonstruieren, wo die Gebeine herkamen und wer sie wann und wie nach Deutschland brachte, stehen die Wis­sen­schaft­le­r*in­nen vor großen Herausforderungen. Viele Aufzeichnungen sind in den Bränden des Zweiten Weltkriegs und den Wirren des Transfers von Hamburg nach Göttingen verloren gegangen.

Die menschlichen Überreste aus Palau kann McMichael Mutok heute nicht in den Regalen finden, denn sie sind gerade in der sogenannten morphologischen Analyse. Spezialisierte An­thro­po­lo­g*in­nen können durch Betrachten und Ertasten Rückschlüsse über Herkunft, Alter, Geschlecht oder Krankheiten ziehen. Nicht alle befürworten diese Analysen, aber für McMichael Mutok sind sie sehr hilfreich. Aufgrund der lückenhaften Dokumentationslage kann jedes Detail ein wichtiger Baustein zur Rekonstruktion sein, und der kleine Inselstaat Palau steht in der Auseinandersetzung mit den ins Ausland gebrachten menschlichen Überresten erst ganz am Anfang. Bevor der Wissenschaftler nach Göttingen kam, hatte er keine Ahnung, dass nicht nur hier, sondern an vielen weiteren Orten in Deutschland menschliche Gebeine und kulturelle Objekte aus Palau eingelagert sind.

Die Zusammenarbeit mit den anderen Gast­wis­sen­schaft­le­r*in­nen hat seinen Blick auf die deutsche Kolonialzeit verändert: „Ich hatte früher immer gedacht, die Deutschen seien die Guten gewesen.“ In Palau gebe es viel mündlich überliefertes Wissen über die Gräuel der japanischen (1914–1947) und US-amerikanischen (1947–1994) Kolonialzeit, über die deutsche aber wisse man wenig: „Über die Deutschen heißt es nur, sie hätten Modernisierung gebracht und interne palauische Konflikte befriedet.“

Wenn ihm nun die Kol­le­g*in­nen aus Kamerun und Tansania – ebenfalls ehemals von Deutschland kolonisierten Gebieten – erzählten, dass dort sterbliche Überreste ungefragt entwendet und geraubt wurden, so bringe ihn das dazu, auch das Handeln der Kolonialherren in Palau zu hinterfragen: Ob ihre Vorfahren wirklich damit einverstanden waren, dass Reisende Überreste Verstorbener mitnahmen? In Aufzeichnungen stellten Reisende den Erwerb häufig unproblematisch dar, aber inwiefern das Schönfärberei war, lässt sich heute nur schwer beurteilen.

Entdeckungen in Deutschland

Jetzt, da sich McMichael Mutok ein Bild über das Ausmaß an Überresten und Objekten in deutschen Museen und Sammlungen machen kann, kommen ihm die drei Monate Forschungszeit in Deutschland viel zu kurz vor. Er wollte neben Göttingen noch weitere Museen und Sammlungen besuchen, doch die Ku­ra­to­r*in­nen brauchten oft mehrere Wochen, um auf E-Mails zu antworten, und Corona-Erkrankungen verzögerten die Terminabsprachen. Mehr Forschung benötigt mehr Gelder, und die sind eine knappe Ressource im Antragsgewerbe.

Regina Bendix, eine der Projektleiter*innen, gibt zu bedenken, dass der Wettbewerb um Forschungsmittel von Qualitätsmaßstäben bestimmt werde, die europäischen Kriterien entsprächen: „Man will ja exzellent sein, um es mit der Initiative zu sagen. Also will man Erfolg versprechende Projektvorschläge einreichen und unterläuft damit immer wieder die Möglichkeit, wirklich alternative Modelle zuzulassen.“ So ein „wirklich alternatives Modell“ könnte laut der Kulturanthropologin sein, die Vorschläge von kleinen Staaten mit wenig Erfahrung in der Provenienzforschung umzusetzen, selbst wenn diese nicht den erhofften, eurozentrisch gelagerten wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn brächten. Immer wieder wird in der Debatte über Provenienzforschung und Restitution kritisiert, es handele sich am Ende eben doch nur um Prestigeprojekte europäischer In­sti­tu­tio­nen, die eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe unmöglich machten.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —   Blick in die Abgusssammlung des Archäologischen Instituts der Georg-August-Universität Göttingen, Saal der Hellenistischen Skulpturen.

Abgelegt unter International, Kultur, Mensch, Niedersachsen | Keine Kommentare »

Radikale Klimaproteste

Erstellt von Redaktion am 26. November 2022

Dringend benötigte Störenfriede

Wo Politik Hass sät – kann sie keine Liebe ernten ! Erst wenn sich die Demonstrant-innen den Politiker-innen und derer Zuhälter-innen an die Backen kleben erfolgt das Erwachen – ob vorne oder hinten ist egal – wenn der Kleber auch eine schwammige Masse hält !

Ein Essay von Bernhard Pötter

Die Aktionen der Letzten Generation polarisieren: Sie zwingen uns, die Komfortzone zu verlassen. Das tut weh, aber nur so hat Klimaschutz eine Chance. Die unbändige Wut auf die letzte Generation liegt in unserem schlechten Gewissen begründet.

Kaum saß ich im Auto und war losgefahren, wusste ich: Das war ein Fehler. Ich wollte quer durch die Stadt, kam aber kaum voran. Baustellen, Sperrungen, neue Fahrradstraßen bremsten mich. Je länger die Fahrt dauerte, desto gereizter wurde ich. Das Schlimmste: Normalerweise lege ich die Strecke mit Fahrrad und S-Bahn doppelt so schnell und doppelt so bequem zurück. Ich wusste also: Ich war selbst schuld an meinem Problem. Und ich kannte auch die Lösung.

Ähnliches gilt für die Reaktion der deutschen Politik und Gesellschaft auf die Blockaden der Letzten Generation. Da wird inzwischen ganz großes Geschütz aufgefahren gegen Menschen, die kurzzeitig den Verkehr stören, sich widerstandslos abführen lassen und friedlich vor den zuständigen Gerichten erscheinen. Als am Donnerstag AktivistInnen auf die Startbahn des Berliner Flughafens vordrangen und den Betrieb für 90 Minuten lahmlegten, sprach Innenministerin Nancy Faser davon, diese „neue Eskalationsstufe“ sei „absolut inakzeptabel“ und „zerstöre wichtige gesellschaftliche Akzeptanz“ für den Klimaschutz. Andere warnten, die „Kriminellen“ würden „immer skrupelloser“.

Woher stammt diese Wut aus weiten Teilen der Politik, Medien und Gesellschaft gegen Menschen, die sich für ein allgemein akzeptiertes Ziel einsetzen? Sie kommt aus unserem schlechten Gewissen: Die AktivistInnen führen uns vor Augen, dass der liebgewordene Alltag und unsere eingespielten Routinen uns immer tiefer in der Klimakrise treiben. Sie machen uns deutlich, dass unser beruhigendes „Business as usual“ im langsamen demokratischen Prozess potenziell katastrophal ist. Sie kleben uns eine in unserem Denken und Fühlen, dass zukünftige Sicherheit darin liegt, im Hier und Jetzt alles beim Alten zu belassen.

Diese Erkenntnis ist ja wirklich beunruhigend. Gerade in Krisensituationen wie Corona oder Krieg ziehen wir uns gern aufs Altbewährte zurück. „Keine Experimente“ gilt als Versicherung gegen die Verunsicherung einer sich rasant verändernden Welt. Ruhe galt hierzulande schon immer als erste Bürgerpflicht. Deutschland ist damit lange gut gefahren. Allerdings hat der westdeutsche Konsens von „Maß und Mitte“ eine notwendige radikale Wende in der Umwelt- und Klimapolitik verhindert, wie Bernd Ulrich in seinem Buch „Alles wird anders“ beschrieben hat.

Allianz zwischen Liberalen und Konservativen

Stabilität war und ist für Deutschland zentral: Mit der Absage an Experimente wurde schon Konrad Adenauer zum Kanzler. Angela Merkel beruhigte 16 Jahre lang das Land. Und auch Krisenkanzler Olaf Scholz tut alles, um die Menschen nicht noch mehr aus der Ruhe zu bringen.

Die Sitzenden kleben noch während es die schwarzen Helfer schon auf die grüne Weide zog.

Die Zeiten sind aufregend genug. Und dann kommt auch noch die Letzte Generation, schneidet mit einer Drahtschere ein Loch in den Flughafenzaun und fordert eine radikalere Klimapolitik. Damit zeigen die AktivistInnen nebenbei auch, wie gefährdet und leicht angreifbar die Infrastruktur in Deutschland ist. Vor allem aber streuen sie Sand ins Getriebe einer mobilen Gesellschaft oder bekleckern mit Kartoffelbrei Gemälde im Museum – also da, wo auch die aufgeklärteste Bürgerin nun wirklich mal am Sonntagnachmittag ihre Ruhe haben will. Da geht es dann schnell, dass eine Allianz aus konservativem „Ich will nicht gestört werden“ und populistischem „Was maßen die sich an?“ bildet, die von „Terrorismus“ und einer „grünen RAF“ schwadroniert, über verschärfte Strafen und vorbeugenden Gewahrsam wie in Bayern, wo AktivistInnen gleich mal für 30 Tage in Haft genommen werden.

Entzündet haben sich die großen Debatten am Tod einer Radfahrerin in Berlin. Durch eine Blockade der Letzten Generation kam ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr verspätet zum Unfallort. Ob der Tod der Frau dadurch mitverursacht wurde, wird juristisch geklärt. Derzeit sprechen die Indizien dagegen. Aber es geht nicht um eine sachliche Debatte über die Risiken dieser Aktionen. Sonst würde debattiert, wie häufig Einsätze von Polizei oder Feuerwehr durch Falschparker oder Staus ohne Rettungsgasse behindert werden. Aber daran haben wir uns gewöhnt. Business as usual eben.

Der größte Feind: Business as usual

Die Gewöhnung ist das Problem. Denn die großen Feinde von Klimaschutz überall auf der Welt sind nicht so sehr böser Wille, Lobbyismus, Verschwörung, Dummheit oder „der Kapitalismus“. Das wirkliche Problem heißt BAU – Business as usual. Wir haben uns daran gewöhnt, unseren Wohlstand auf die Verbrennung von fossilen Rohstoffen zu stützten. Das hat die Klimakonferenz in Ägypten wieder gezeigt: Bei allen Lippenbekenntnissen zum „Change“ folgt doch die Blockade, wenn es um den schnellen Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas geht.

Dagegen sind die Fakten eindeutig: Weitermachen wie bisher, global und national/europäisch, bedeutet den größten anzunehmenden Unfall: BAU heißt GAU. Dagegen steht aber bisher nur eine minimalinvasive Umwelt- und Klimapolitik: ein bisschen Effizienz hier, ein bisschen Ökostrom da, und ein Förderprogramm für Wärmepumpen und Dachsanierungen. Es ist letztlich das Gleiche in Grün. Eine Politik der kleinen Schritte, wie sie in einer parlamentarischen Demokratie nun mal im Normalfall angesagt ist.

München bei Nacht – da haben die braunen Republikaner nicht mehr gelacht.

Kleine Schritte aber führen in den Abgrund. Noch bei der COP1, 1995, hätte die Klimakrise verhindert werden können, wenn ab damals die globalen Emissionen jährlich um 1 Prozent gesunken wären. Heute sind dafür schier unmögliche jährliche 7 Prozent Reduktion nötig. Das haben wir bisher nur annähernd beim Zusammenbruch der Weltwirtschaft in der Coronapandemie gesehen. Indirekt eine kleine Hoffnung: „Wir haben es bei der Reaktion auf Covid und auf den Krieg geschafft, in den Krisenmodus zu kommen“, sagte Niklas Höhne vom NewClimate Institut, als er auf der COP27 neue erschreckende Emissionstrends vorstellte. „Aber wir müssen auch beim Klimaschutz in diesen Krisenmodus kommen. Das schaffen wir noch nicht.“

Radikal wird der Klimawandel

Das ist der wunde Punkt, an dem sich die Letzte Generation in der Debatte festklebt. Sie symbolisiert den Krisenmodus, der dringend nötig wäre, damit die dringend nötigen Veränderungen mit der dringend nötigen Geschwindigkeit umgesetzt werden. Nötig ist die „Disruption“ der alten Energiesysteme, eine schöpferische Zerstörung, die das dreckige Alte beseitigt und dafür das nachhaltige Neue aufbaut. Aber dafür braucht es Unruhe, Unzufriedenheit, Streit, Experimente, die Lust am Ausprobieren und Scheitern. Und nicht die scheinbare Sicherheit des Gewohnten.

Man kann streiten, wie sinnvoll und zielführend die Aktionen der Letzten Generation sind. Blockaden bringen viel Ärger und Risiko. Das Anliegen kann hinter der Aktion verschwinden. Seit Wochen wird nicht mehr über die Ziele der Letzten Generation debattiert, sondern nur noch über ihre Mittel. Auch blockieren sie nicht die großen Klimakiller wie Kohlekraftwerke oder Gaspipelines, sondern den privaten Verkehr.

Quelle       :        TAZ-online         >>>>>       weiterlesen 

*********************************************************

Grafikquellen     :

Oben       —   Angeklebte Blockiererinnen vom Aufstand der letzten Generation bei der Blockade des Flughafens BER kurz vor der Lösung des Sekundenklebers, vlnr: Christian Bläul, Kai Witza, Kristoffer Krogh, Lina Eichler, Berlin-Schönefled, 23.02.22

Unten        —         Letzte Generation Blockadeaktion Klimademo Karlsplatz Stachus München 2022-11-07 20-34-35

Abgelegt unter APO, Deutschland_DE, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Kolumne-Fernsicht-Ostafrika

Erstellt von Redaktion am 26. November 2022

Kongos Rebellen haben Ostafrikas Zukunft in der Hand

Vogelbeobachtung (8618362879).jpg

Von Joachim Buwembo

Die diesjährige Aufnahme der Demokratischen Republik Kongo in die Ostafrikanische Gemeinschaft (EAC) als ihr siebtes Mitglied ist eine große Bewährungsprobe für diese wichtige Regionalorganisation. Entweder sie wird dadurch ein großer, wohlhabender Wirtschaftsblock – oder sie fällt auseinander.

Mit ihren 2,345 Millionen Quadratkilometern macht die DR Kongo die Hälfte der Fläche der EAC aus, die ansonsten aus den drei Gründungsmitgliedern Kenia, Tansania und Uganda sowie den Beitrittsländern Ruanda, Burundi und Südsudan besteht. Mit der DR Kongo reicht die EAC vom Indischen bis zum Atlantischen Ozean.

Aber die Integration Kongos in die EAC erfordert auch militärische Mittel – die Erzwingung von Sicherheit in dem instabilen Staat, deren Ostregion Kivu über 100 aktive Rebellengruppen zählt. Die wichtigste ist die M23 (Bewegung des 23. März), und die kongolesische Regierung wirft Ruanda vor, diese zu unterstützen. Sie hat den ruandischen Botschafter aus Kinshasa hinausgeworfen, ihren eigenen Botschafter aus Kigali zurückgerufen und Ruandas Fluglinie RwandAir von Kongos Luftraum ausgesperrt.

Die EAC hat nun begonnen, eine regionale Eingreiftruppe im Ostkongo zu stationieren. Bataillone aus Kenia und Burundi sind bereits vor Ort, das Hauptquartier liegt in der Provinzhauptstadt Goma an der ruandischen Grenze. Die M23-Rebellen rücken derweil auf Goma vor.

Diese Lage soll nun der Kongo-Vermittler der EAC entschärfen, Kenias Expräsident Uhuru Kenyatta. Der ruandische Präsident Paul Kagame hat diese Woche zugestimmt, Kenyatta zu „helfen“, die M23 zu einem Waffenstillstand und zum Rückzug aus den von ihr eroberten Gebieten zu überreden.

2006-12-09 Chipanzees D Bruyere.JPG

Aber wird die Ostafrikanische Gemeinschaft etwas erreichen, was den Vereinten Nationen nicht gelungen ist? Die UN-Kongo-Mission Monusco ist die teuerste Friedensmission der UN-Geschichte, mit einem Budget von über 1 Milliarde US-Dollar im Jahr. Das Jahresbudget der EAC als Organisation beträgt 91 Millionen US-Dollar und ist nie gedeckt, weil Burundi und Südsudan meistens ihre Beiträge nicht zahlen. Ruanda ist der pünktlichste Zahler, gefolgt von Uganda. Kenia und Tansania, die zwei reichsten Mitglieder, sind meistens im Verzug, zahlen am Ende aber doch. Die EAC ist von Gebergeldern aus Europa und Japan abhängig.

Nun hofft die EAC, mit ihrer Regionaltruppe die UN-Mission zu ersetzen, deren 14.000 Soldaten die DR Kongo bis 2024 verlassen sollen. Ostafrika verfügt nicht über die finanziellen Mittel, die DR Kongo zu befrieden. Aber es hat gute Gründe, es zu wollen.

Quelle      :          TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

Abgelegt unter Afrika, Mensch, Positionen, Regierung | Keine Kommentare »

COP 27 / eine UN Farce

Erstellt von Redaktion am 25. November 2022

Die 636 Lobbyisten der Fossilindustrie wurden unterschätzt

Quelle      :        INFO Sperber CH.

Von      : Peter Gerber /   

An der Klimakonferenz COP27 bremsten neben China jene, die mit fossilen Energieträgern viel Geld verdienen.

Die neueste Klimakonferenz in Ägypten ging ohne Fortschritte für den Klimaschutz zu Ende. In seiner Spiegel-Kolumne «Im Hintergrund agieren die Saboteure» spürt Kolumnist Christian Stöcker die Verantwortlichen auf. Neben China, das pro Einwohner nach Australien, Kasachstan, Südafrika, Russland und Polen am meisten Kohle fördert, richtet Stöcker den Blick auf folgende Zahl: In Sharm el-Sheikh nahmen 636 Lobbyisten von Öl-, Gas- und Kohlekonzernen teil. Das waren 25 Prozent mehr als im Vorjahr, wie die Umweltorganisation Global Witness errechnete. Sie kritisierte, dass COP27 in diesem Jahr zu einer Lobbying-Veranstaltung wurde. Damit war die fossile Lobby mit mehr Leuten an der Klimakonferenz vertreten als die zehn am meisten vom Klimawandel betroffenen Staaten zusammen.

Einige von ihnen seien sogar Teil der offiziellen Delegationen der Staaten gewesen, hatten also Zutrittsrechte zu Räumlichkeiten, die Medien oder NGOs versperrt blieben. So war etwa der CEO des Ölkonzerns BP, Bernard Looney, als Teil der mauretanischen Delegation nach Sharm el-Sheikh gereist. Insgesamt nahmen rund 4500 Personen an der Konferenz teil.

Der Spiegel-Kolumnist zeigt auf, welche Rolle der Lobbyapparat der Fossilindustrie generell spielt:

  • Einfluss auf Wissenschaft und Forschung: Durch die Fossilbranche finanzierte Forschungsinstitutionen erstellen bezahlte Auftragsstudien. Diese «widerlegen» in schöner Regelmässigkeit die Ergebnisse unabhängiger Institute.
  • Einfluss auf die Justiz: Als «Bürgerklagen» getarnte juristische Einsprachen gegen Grossprojekte zur Erzeugung erneuerbarer Energie. Solche Verhinderungstaktiken werden oft massgeblich durch Öl- und Gaskonzerne und deren Lobbys (mit-)finanziert und organisiert.
  • Einfluss auf die Medien: Die Fossilindustrie bestimmt beispielsweise mittels teurer Inseratekampagnen Medieninhalte mit und manipuliert dadurch die öffentliche Meinungsbildung.
  • Drehtürphänomene: Es bestehen enge personelle Netzwerke zwischen Industrie, Behörden, Politik und Forschung.

*****

KOMMENTAR

Ohne dieser Auflistung von Lobbying-Strategien ihre Relevanz abzusprechen sei die Bemerkung erlaubt: All dies ist bereits seit langem bekannt und hat wenig mit dem konkreten Anlass des Klimagipfels zu tun. Wirklich interessant wäre es gewesen zu erfahren, wie die Lobbyarbeit an solchen Konferenzen im Detail abläuft. Wer spricht mit wem und welche Vereinbarungen und Partnerschaften werden geschlossen? Welche Gelder fliessen woher und wohin? Klar: Die entscheidenden Gespräche in der Politik finden mehrheitlich hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Journalist/-innen statt und selbstverständlich hat eine Kolumne keinen investigativ-journalistischen Anspruch.

Auch verwendet der Autor den Begriff «Roh-CO2» anstatt von Rohöl und Rohkohle zu reden. Mit der Förderung und dem Verkauf von «Roh-CO2» würden die erwähnten Interessensgruppen der Fossilindustrie viel Geld verdienen. Mit Verlaub: So etwas wie «Roh-CO2» gibt es nicht und kann folglich auch nicht verkauft werden. CO2 entsteht (unter anderem) bei der Verbrennung von kohlenstoffhaltigen Brennstoffen. Dies gilt z.B. auch für Holz (das als nachwachsender Rohstoff als CO2-neutral gilt) und Plastik. Die Umweltschäden unterscheiden sich je nach Energieträger sehr stark. Die Fossilindustrie verdient ihr Geld mit der Förderung und dem Verkauf von fossilen Brennstoffen. CO2 hingegen wird – wenn man so will – im CO2-Zertfikathandel verkauft. Dieses Marktinstrument gilt gemeinhin als Teil der Lösung des Klimaproblems.

Sprachliche Polemik mittels Begriffsneuschöpfungen, die an Fakenews grenzen, ist im Zusammenhang mit der Zerstörung unserer Lebensgrundlage nicht hilfreich. Erst recht nicht, um eine Diskussion zu führen, die auf Lösungsfindung – und nicht auf Spaltung – ausgerichtet ist.

Dabei geht der eigentliche Skandal fast ein wenig unter: Lobbyismus wird immer noch toleriert, ja, er ist legal, obwohl er dem Gemeinwohl zutiefst schadet.

*****

image
Förderung von Kohle pro Einwohner © Kohleförderung: energiestatistik.enerdata.net/iea.org. Grafik: GusmoFREIE NUTZUNGSRECHTE

© Das Weiterverbreiten sämtlicher auf dem gemeinnützigen Portal www.infosperber.ch enthaltenen Texte ist ohne Kostenfolge erlaubt, sofern die Texte integral ohne Kürzung und mit Quellenangaben (Autor und «Infosperber») verbreitet werden. Die SSUI kann das Abgelten eines Nutzungsrechts verlangen.

Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —   נשיא המדינה יצחק הרצוג, נואם במליאה המרכזית בכנס COP27 במצרים. יום שני, י“ג בחשוון תשפ“ב, 7 בנובמבר 2022. קרדיט צילום: חיים צח/לע“מ.

Abgelegt unter Afrika, Energiepolitik, International, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Erdogan ganz ohne Scham?

Erstellt von Redaktion am 25. November 2022

Erdogans imperialistische Eskalation

2009 G-20 Pittsburgh

Die immer grinsenden Dumpfbacken der Politik machen aus Trottel erst große Stars.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Ein Hintergrund zu den jüngsten Angriffen des türkischen Staates gegen die kurdische Selbstverwaltungsregion Rojava.

Die Zeit scheint günstig für einen neuen Angriffskrieg des Nato-Partners Türkei. Den ungeklärten Bombenanschlag von Istanbul ausnutzend,1 greift die türkische Luftwaffe seit Tagen die Rojava genannten kurdischen Selbstverwaltungsgebiete in Nordsyrien an. Duzende von Menschen sind den Luftschlägen zum Opfer gefallen.2 Inzwischen drohen türkische Stellen offen damit, eine neue Offensive gegen Rojava zu starken – es wäre, nach der Invasion Afrins 2018 und dem Landraub im Oktober 2019, der dritte Angriffskrieg des türkischen Staates gegen die selbstverwaltete Region.

Die Türkei beitreibt dabei – unter Tolerierung oder gar mit Unterstützung des Westens und Berlins3 – eine Politik der ethnischen Säuberungen,4 bei der Hunderttausende von Kurden vertrieben werden, um diese Pufferregion mit islamistischen, syrischen Milizen zu besiedeln. Zudem hat Ankara immer wider betont, dass die syrischen Flüchtlinge, die derzeit in der Türkei leben, in diese eroberten und von Islamisten kontrollierten Gebiete abgeschoben werden sollen. Die Türkei will somit Rojava gänzlich zerschlagen, Nordsyrien erobern und ethnisch säubern, um diese Region als eine „Abschiebezone“ für Flüchtlinge zu betreiben.

Die jüngsten Angriffe gegen Rojava bilden dabei nur die aktuelle Eskalationsphase des ohnehin andauernden, türkischen Krieges gegen die kurdische Freiheitsbewegung, der in der westlichen Öffentlichkeit – insbesondere beim engen türkischen Partner Deutschland – verbissen ignoriert wird. Die Streitkräfte der Türkei sind tief in den Nordirak vorgestoßen, wo sie gegen die Rückzugsgebiete der kurdischen Guerilla PKK vorgehen. Hierbei soll die türkische Armee Massenvernichtungswaffen, vor allem Giftgas einsetzen, während sie die Überlebenden des Genozids des „Islamischen Staates“ an den Jesiden in ihren Flüchtlingslagern und Dörfern angreift (Näheres hierzu in der kommenden Konkret, 12/2022).

Bombenanschlag in Istanbul – viele Frage offen.

Schon der Bombenanschlag von Istanbul, bei dem Mitte November sechs Menschen ums Leben kamen, wirft erhebliche Fragen auf. Die PKK und die syrischen Kurden haben sich von diesem Terroranschlag klar distanziert. Laut jüngsten Berichten soll es sich bei der mutmaßlichen Attentäterin, die der Öffentlichkeit präsentiert wurde, um die Schwester eines hochrangigen Kommandanten der syrischen Miliz SNA handeln, die maßgeblich von der Türkei unterstützt wird.5 Diese Milizen üben faktisch die Kontrolle vor Ort in den türkisch besetzten Regionen Nordsyriens aus.

Die türkische Oppositionspartei HDP sprach von dem Hintergrund dieser evidenten Ungereimtheiten von „Duzenden von unbeantworteten Fragen und Inkonsistenzen“.6 Hierdurch entstehe der Eindruck, dass der Terroranschlag dazu diene, die türkischen „Attacken und die Kriegspolitik“ gegen Rojava zu legitimieren, so HDP Sprecherinnen.

Geopolitische Schaukelpolitik Erdogans

Die geopolitische Konstellation ist derzeit günstig für Erdogan, um eine neue Runde ethnischer Säuberungen zu entfachen. Die Türkei ist ein wichtiger Faktor beim Krieg um die Ukraine, wo Erdogan bei seinem geopolitischen Balanceakt mit Moskau und dem Westen kooperiert und auf beiden Seiten der Front zu profitieren versucht.7 Die Türkei, die Drohnen an Kiew liefert, will mit Russland energiepolitisch Zusammenarbeiten, um zu einer regionalen Energiedrehscheibe aufzusteigen. Ankara ist auch Garantiegeber des Getreideabkommens in der Ukraine. Kurz vor der aktuellen Eskalation hat die Türkei sogar die Beziehungen zu Israel normalisiert.

Erdogan, Putin und Berlusconi in der Türkei

Drei Hände voll Öl für ein Halleluja

Der Westen und Moskau „brauchen“ Erdogan schlicht angesichts des Krieges im Osten, während Berlin als traditioneller Verbündeter des türkischen Regimes ohnehin kaum Druck auf Erdogan ausüben wird. Erdogan nutzt somit die ihm gegebenen geopolitischen Machthebel, um seine imperialistische Politik vorantreiben zu können. Die Luftangriffe der Türkei gegen Rojava wären ohne die Zustimmung sowohl Russlands wie der Nato und der USA schlich nicht möglich.

Antikurdische Kooperation zwischen Teheran und Ankara?

Faktisch findet derzeit eine mörderische – inoffizielle? – Kooperation zwischen den Regimes in Ankara und Teheran statt, die sich gegen die kurdischen Minderheiten in der Region richtet.8 Während die türkische Luftwaffe Rojava bombardiert und die Armee Erdogans im Nordirak ihren schmutzigen Krieg führt, greifen die Truppen des Iran ziele in der kurdischen Region des Nordostirak an,9 um die kurdische Bewegung im Iran zu schwächen. Die Kurden Irans bilden das Rückgrat der Massenproteste, die eine revolutionäre Stimmung in der „Islamischen Republik“ aufkommen ließen. Zudem häufen sich in den sozialen Medien Berichte,10 wonach die iranischen Revolutionsgarden in den kurdischen Gebieten des Iran regelrechte Massaker verüben würden,11 um der Aufstandsbewegung im Mullah-Staat das Genick zu brechen. Auch aus dem Iran sickern Berichte über Gaseinsätze gegen Demonstranten durch.12

Beide autoritären Regime sind derzeit aufgrund zunehmender innenpolitischer Instabilität in ihrem Bemühen vereint, die kurdische Befreiungsbewegung zu vernichten, da deren poststaatliche, auf Emanzipation und Frauenbefreiung abzielende Perspektive auch auf die Bevölkerung dieser Staaten ausstrahlt. Die Parole „Frau, Leben, Freiheit“, unter der die Aufstandsbewegung des Iran kämpft, ist gerade von kurdischen Feministinnen geprägt worden. Und auch die Herrschaft Erdogans und seiner islamischen AKP in der Türkei ist angesichts einer schweren Wirtschaftskrise und einer Inflation von mehr als 80 Prozent13 alles andere als stabil. Die äußere Expansion dient somit Ankara als Ventil, um innere Spannungen zu überbrücken.

USA in Syrien

Eine neue Runde ethnischer Säuberungen, bei denen die westlichen Partner wie gewohnt wegsehen würden, ist genau das, was Erdogan innenpolitisch braucht. Wie prekär die Lage der syrischen Kurden ist, macht allein der Umstand deutlich, dass es faktisch die USA sind, die einem erneuten Angriffskrieg Erdogans im Weg stehen. Immer noch hat Washington Truppen in Nordostsyrien stationiert, die gemeinsam mit den kurdischen Kräften den, von der Türkei mitunter offen unterstützten „Islamischen Staat“ besiegten.

Nordsyriensyrien ist faktisch aufgeteilt in eine türkische Besatzungszone in Idlib und Afrin, in eine russische Einflusssphäre im Westen und um Aleppo, sowie die restlichen Selbstverwaltungsgebiete der Kurden im Osten, wo US-Truppen präsent sind. Ohne Tolerierung durch Washingtons kann aber Erdogan nicht darauf hoffen, einen neuen Eroberungszug in Rojava zu führen. Zugleich sind Ankara und Teheran auch in dem geopolitischen Ziel vereint, die im Anstieg begriffene, abgetakelte Hegemonialmacht USA aus der Region zu verdrängen, um den eigenen imperialen Ambitionen freien Lauf lassen zu können.

Der dritte Verrat?

Hierzu etwas Hintergrund: Diese Aufteilung Nordsyriens in Einflusssphären etablierte sich im Gefolge des syrischen Bürgerkrieges, als das Assad-Regime sich nur mittels der militärischen Intervention Russlands an der Macht halten konnte. Die Reste der Aufstandsbewegung gegen Assad, die im Verlauf des Bürgerkrieges zunehmend von islamistischen Kräften dominiert wurde, finden sich in den türkischen Besatzungsgebieten. Der erste syrische Eroberungszug der Soldateska Erdogans gegen das Kanton Afrin erfolgte 2018 mit der Zustimmung Putins, da diese nordsyrische Selbstverwaltungsregion sich in der russischen Einflusssphäre Syriens befand.14 Im Gegenzug dafür Erhielt Moskau zusagen über Pipelinedeals, den Bau von russischen Atomreaktoren und Waffenkäufe. Den Preis für diesen dreckigen imperialistischen Deal mussten somit die Kurden zahlen, die aus Afrin, übrigens unter Zustimmung Merkels,15 vertrieben wurden.

Schland brauch kein Öl – wir ziehen andere Waffen

Den zweiten Verrat an den Kurden Syriens beging der rechtspopulistische US-Präsident Donald Trump, der im Oktober 2019 ebenfalls Erdogan grünes Licht für einen weiteren Einmarsch in Rojava gab.16 Die Preisgabe der Kurden Syriens durch Washingtons erfolgte übrigens nur wenige Wochen, nachdem diese unter hohen Verlusten die syrische Stadt Rakka eingenommen haben, die als letzte Bastion und Hauptstadt des „Kalifats“ des „Islamischen Staates“ in Syrien firmierte.

Es stellt sich somit aktuell die Frage, ob der Selbstverwaltung in Rojava nun ein dritter Verrat bevorsteht – diesmal durch die Biden-Administration, die sich vor allem auf den Krieg in der Ukraine konzentriert und dort einen Großteil ihrer Ressourcen fließen lässt. Ehemalige US-Generäle beklagen inzwischen offen zunehmende Engpässe bei der Versorgung mit Waffensystemen und vor allem Munition.17 Erdogan hat somit auch in dieser Hinsicht einen idealen Zeitpunkt für seine imperialistische Aggression gewählt.

Annalena? Abgetaucht!

Übrigens: Auf Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock, die eigentlich eine „feministische Außenpolitik“ führen wollte, sollten kurdische Feministinnen ohnehin nicht zählen.18 Deutschland hat – schon seit dem türkischen Genozid an des Armeniern im Ersten Weltkrieg19 – eine lange, blutige Tradition der Kooperation mit dem türkischen Staat. Seit dem Ausbruch der aktuellen türkischen Terrorkampagne gegen Rovaja ist die Außenministerin, die sich gerne mit den Parolen der kurdischen Freiheitsbewegung schmückt,20 bei diesem Konflikt schlicht abgetaucht.

Ich finanziere meine journalistische Tätigkeit größtenteils durch Spenden. Falls Ihnen meine Texte zusagen, dann können Sie sich gerne daran beteiligen – entweder über Patreon, über Substack, oder durch direkte Banküberweisung nach Absprache per Mail:

https://www.patreon.com/user?u=57464083

1 https://www.bbc.com/news/world-europe-63615076

2 https://twitter.com/YPJ_Info/status/1594707983870660609

3 https://www.thetimes.co.uk/article/syria-un-refuses-to-investigate-claims-of-white-phosphorus-use-in-turkish-offensive-3bv7qdmxz

4 https://www.konicz.info/2022/06/30/toter-winkel/

5 https://www.gerceknews.com/turkey/suspected-bomber-of-istanbul-attack-says-she-is-the-sister-of-a-sna-commander-217624h

6 https://www.gerceknews.com/turkey/hdp-taksim-bombing-a-scheme-for-endorsing-governments-new-offensive-concept-217630h

7 https://www.jpost.com/middle-east/article-722988

8 https://www.jpost.com/middle-east/article-722970

9 https://twitter.com/sotiridi/status/1594461604246355969

10 https://twitter.com/ArioMirzaie/status/1594664787593543682

11 https://twitter.com/FazelHawramy/status/1594695514725154817

12 https://twitter.com/factnameh/status/1594720071523278848

13 https://www.reuters.com/markets/asia/turkeys-inflation-hits-24-year-high-855-after-rate-cuts-2022-11-03/

14 https://www.konicz.info/2018/01/21/afrin-erdogans-werk-und-putins-beitrag/

15 https://www.konicz.info/2020/01/25/tuerkei-merkels-zivilisatorischer-tabubruch/

16 https://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%BCrkische_Milit%C3%A4roffensive_in_Nordsyrien_2019

17 https://www.youtube.com/watch?v=0nvyZ88d_V0

18 https://twitter.com/Ezgi_Guyildar/status/1594313715704291331

19 https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/genozid-an-den-armeniern/218106/die-deutschen-und-der-voelkermord/

20 https://de.wikipedia.org/wiki/Frau,_Leben,_Freiheit#Deutschland

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-cc

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben      —   2009 G-20 Pittsburgh

Abgelegt unter Asien, International, Positionen, Schicksale | Keine Kommentare »

Chinas Aufstieg-Westens Fall

Erstellt von Redaktion am 24. November 2022

China-Bashing ist der direkte Weg in die Volkverdummung

Blick vom Jin Mao Tower

Shanghai, view from Jin Mao Tower

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Das neudeutsche Substantiv Bashing bezeichnet eine herabsetzende Behandlung einer Person oder Sache. Bashing klingt aber eher wie ein Kosewort und scheint eine bevorzugte Art der Medien geworden zu sein, oberflächlich und emotional, eine Person oder ein Land herabzusetzen bzw. darauf einzuprügeln.

Das ist aber die Bedeutung von Bashing im englischen Sprachgebrauch. Eine sachliche, objektive Information ist mit Bashing i.a.R. nicht verbunden. Ein markantes Beispiel für China-Bashing ist ein Artikel in der NZZ (Neue Züricher Zeitung) vom 22.1.2022 mit dem Titel „Warnung vor dem nächsten Krieg im Pazifik: wie China daran arbeitet, die bedeutendste Macht der Welt zu werden“. Nun sollte man meinen, dass eine so renommierte Zeitung ihre Leser sachlich informiert und versteht, worüber sie schreibt und was sie veröffentlicht. Erstaunlicherweise bezieht sich die NZZ ausschließlich auf die Meinung des ZDF-Korrespondenten in den USA und auf einen US-Admiral, ohne deren Aussagen auch nur ansatzweise ernsthaft zu hinterfragen.

So z.B. die steile These, dass die asiatischen Kriegsschauplätze im 20. Jahrhundert Washington am stärkste forderten, bis hin zur Demütigung von Vietnam. Man darf und muss unterstellen, dass die NZZ hier besseren Wissens verschweigt oder unverzeihlich übergeht, dass all diese Kriege von den USA angezettelt wurden. Vietnam ist keine Demütigung der USA, sondern des vietnamesischen Volkes und der ganzen Welt durch Bombenteppiche und Agent Orange. Nach der Truman-Doktrin sollte Vietnam brutal, radikal ausgelöscht werden. Glücklicherweise mussten sich die USA wie ein feiger Köter mit eingezogenem Schwanz als Verlierer vom Acker machen.

Und damit begann schleichend der Niedergang der US-Hegemonie trotz über 800 Militärstützpunkten rund um die Welt. Und dieser Niedergang treibt nun die US-Presse und deren hörige Nachplapperer dazu, auf anderen Personen und Länder herum zu prügeln und sie schlecht zu machen. China ist wegen seiner rasanten und in vielen Gebieten beispielhaften Entwicklung in nur 40 Jahren der Prügelknabe schlechthin geworden, obwohl wir alle seit Dekaden von China nur profitieren. Erst Corona hat uns die Schwächen unseres Handelns vor Augen geführt. Anstatt nun aber die Fehler und Ursachen zunächst bei uns selbst zu suchen, schieben wir jetzt alles auf China ab.

北京王府井 Wangfujing, Peking

Bashing oder Herumprügeln auf China führt aber direkt in die Volksverdummung. Dabei sollten wir Deutsche mit unserer Hitler-Erfahrung besonders zurückhalten sein und uns nicht durch falsche Indoktrination, heute locker fake News genannt, in den von den USA beschworenen „großen Krieg“ mit China hineinziehen lassen. Um zu entscheiden, was ich tue oder lasse, muss ich erst einmal verstehen worum es geht. Und dafür brauche ich objektive Informationen, um meine Meinung zu bilden und möglichst sicher zu handeln. Die Spielereien eines Informatikers mi Kriegsszenarien im Indopazifik helfen da wenig, und noch viel weniger die vertrackte Meinung eines US-Admirals und ehemaligen Oberbefehlshaber der NATO, der die Simulationen für «absolut möglich» hält. Tatsache aber ist, dass China in seiner tausendjährigen Geschichte noch nie einen Krieg außerhalb seines Territorium geführt hat. So etwas zu wissen, ist wichtiger als die US-getriebene Volksverdummung.

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-cc

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben      —    Blick vom Jin Mao Tower

****************************

Unten     —       北京王府井 Wangfujing, Peking

Abgelegt unter Asien, Kultur, Mensch, Positionen | Keine Kommentare »

Ernüchterndes bei COP27

Erstellt von Redaktion am 22. November 2022

Im Hintergrund agieren die Saboteure

Ein geistiger Rein – ganz ohne Durch – fall

Eine Kolumne von Christian Stöcker

Die Klimakonferenz von Scharm al-Scheich endet mit einer Enttäuschung – und das hat seine Gründe. Es wird Zeit, die Saboteure klar zu benennen. Zumal nachweisbar ist, wie sie agieren.

Die Klimakonferenz in Ägypten ist zu Ende, und das Ergebnis ist durchwachsen. Nach rund zwei Wochen harter Verhandlungen einigten sich die Delegierten auf einen eigenen Finanztopf, aus dem arme Länder einen Ausgleich erhalten sollen für Verluste und Schäden, die durch den Klimawandel entstehen. Doch der Erfolg hat einen hohen Preis: Beim Klimaschutz, also dem Ausstieg aus fossilen Energien und dem Runterfahren von Emissionen, gab es kaum Fortschritte.

Eine entscheidende Rolle bei dieser Konferenz spielte einmal mehr China , dem mittlerweile größten CO₂-Emittenten des Planeten. Doch das Land allein verantwortlich zu machen, das wäre ein weiterer Erfolg für die, die in Wahrheit die größte Schuld tragen.

Ein Hinweis auf die tatsächliche Lage: In Scharm al-Scheich waren 636 Lobbyisten von Öl-, Gas- und Kohlekonzernen  akkreditiert.

Legitime Ziele für die Klimawut

Die anscheinend so komplexe Landschaft der Klimapolitik teilt sich, wenn man von China einmal absieht, in zwei sehr übersichtliche Lager: All diejenigen, die tatsächlich aus fossilen Brennstoffen aussteigen wollen, so schnell wie möglich. Und all diejenigen, die mit der Förderung und dem Verkauf von Roh-CO₂ Geld verdienen, und deren Handlanger in Medien, Politik und Randgebieten der Wissenschaft.

Die letztere Gruppe ist dafür verantwortlich, dass viele Menschen auf diesem Planeten immer noch nicht begriffen haben, wie gefährlich unsere Lage ist.

Wer zahlt, schafft an

Ein paar aktuelle Beispiele: In »Nature Climate Change« erschien kürzlich eine Studie , die nachweist, was passiert, wenn Unternehmen aus der Fossilbranche Energieforschung finanzieren. Forschungszentren, die von der Gasbranche gefördert werden, »bevorzugen in ihren Berichten Erdgas gegenüber erneuerbaren Energien«. Bei tatsächlich unabhängigen, nicht von fossilen Interessensgruppen finanzierten Forschungseinrichtungen, »zeigt sich das gegenteilige Muster, mit einer neutraleren Einstellung zu Erdgas und einer Bevorzugung von Solarenergie und Wasserkraft.«

Mit anderen Worten: Die Fossilbranche kauft sich Ergebnisse, die ihren Interessen dienen sollen. Immer noch.

Sabotage mit allen erdenklichen Mitteln

Waren diese Saboteure auch alle dort – obwohl bei denen alles schon in Trockenen liegt ?

Gleichzeitig sabotieren Vertreter fossiler Interessen weiterhin den Ausbau der erneuerbaren Energien. Das hat seinen Grund: Erneuerbare Energien sind mittlerweile konkurrenzlos billig. Es ist also im Interesse derer, die weiterhin CO₂ verkaufen wollen, diesen Umstand zu verschleiern oder zumindest seine Umsetzung in politisches und wirtschaftliches Handeln zu verhindern.

Aktuelles Beispiel: In den USA gibt es derzeit diverse Klagen von »Anwohnern« gegen Offshore-Windkraftanlagen. Der Ausbau erneuerbarer Energien soll also mit dem Rechtssystem als Bremsklotz behindert werden. Dieses Vorgehen kennen wir auch aus Deutschland.

In den USA zeigt sich bei genauem Blick ein Muster: Hinter vielen Klagen stecken in Wahrheit Interessenvertreter der Fossilbranchen. Dort klagen »Anwohnergruppen« derzeit aus vielfältigen Gründen gegen Windkraftanlagen auf hoher See: Zum »Schutz der Wale«, weil ein Offshore Windpark angeblich den Immobilienpreisen schade (in Wahrheit tut das die Klimakrise ) oder zugunsten der lokalen Fischereibranche.

Mitfinanziert werden solche Klagen  immer aus der gleichen Richtung: aus der US-Öl- und Gasbranche, beziehungsweise von deren absichtlich undurchsichtigem Geflecht aus »Think Tanks«, »Stiftungen«, »Instituten« und »Fonds«. Oft haben sich die gleichen Gruppen nur wenige Jahre zuvor noch für großzügige Regelungen für Ölforderung  vor der Küste eingesetzt – an den gleichen Stellen, an denen sie Windparks nun angeblich für gefährliche Umweltsünden halten.

Netz aus Tarnorganisationen

Die Szene ist auch international hochgradig vernetzt. Der US-Amerikaner John Droz , der seit mehr als zehn Jahren gegen Solar- und Windenergie agitiert, Zweifel am menschengemachten Klimawandel sät und auch andere in der Kunst der Agitation ausbildet , tritt auch beim Deutschen »EIKE«-Institut auf. Einer Organisation von Klimawandelleugnern- und Abwieglern, der heute zum Glück nur noch die AfD zuhört. Droz ist eine Art Coach für Klimawandelleugner und (dem Anschein nach) Ein-Mann-Lobbyist in einem.

Er behauptet weiterhin, dass Wind- und Sonnenenergie in Wahrheit gar nichts bringen – eine groteske Position angesichts der Tatsache, dass etwa Deutschland mittlerweile fast die Hälfte seiner Stromerzeugung mit erneuerbaren Energien bestreitet . Ansonsten behauptet er in seinem Newsletter, dass die USA gerade vom Kommunismus überrannt werden, weil die Republikaner bei den Kongresswahlen so schlecht abgeschnitten haben.

Quelle       :          Spiegel-online         >>>>>        weiterlesen

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben     —   IAEA at the United Nations Climate Change Conference 2022 in Sharm El-Sheikh, Egypt. 9 November 2022 Photo Credit: David Nieto / IAEA

****************************

2.) von Oben       —         Церемония открытия газопровода «Северный поток».

Abgelegt unter Energiepolitik, International, Medien, Umwelt | Keine Kommentare »

DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 22. November 2022

Der Sorgenpool ist voll!

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Nina Apin

Raketen, Handy-Blackout, Zugausfall, Klimakatastrophe und dann auch noch eine gruselige Nachricht auf dem AB. Es reicht jetzt mal mit den Krisen.

Etwas belächelt habe ich sie, muss ich zugeben. Die junge Frau, die im Zug neben mir mit schreckgeweiteten Augen den Thriller „Black Out“ las. Jedes Mal, wenn irgendwo ein Handy bimmelte, schreckte sie hoch wie vom, nun ja, Russen gehackt. In dem Bestseller geht es darum, dass Hacker die Stromversorgung lahmlegen. Während Chaos und Panik um sich greifen, führen Spuren nach Russland und China. Laut Internet hat das Buch in Deutschland besonders viele Le­se­r:in­nen­.

Kein Wunder, hatte ich noch am Vorabend auf einer Party gewitzelt: Wir Deutschen sind so gern Weltmeister, nicht nur im Rechthaben, sondern neuerdings auch im Angsthaben und Sorgenmachen. Besonders die Älteren, die sich Vorräte im Keller anlegen – oder die Jüngeren, die sich überall in die Landschaft kleben, um ihre Mitmenschen vom Planetenzerstören abzuhalten.

Aber wir, die Jahrgänge, die wir gut Ü 35 und noch weit U 60 sind? Wir hüpften angestaute Sorgen auf der Tanzfläche eines angemieteten Freizeitheims weg (es war ein fünfzigster Geburtstag), schrien uns über die Musik hinweg ins Ohr, wie wohltuend für den Seelenhaushalt es sei, alle sozialen Netzwerke zu verlassen, und grölten mit Bad Religion: „Sanity is a full time job / in a world that’s always changing.“

Fulltime-Job – allerdings. Es war diese Woche wirklich nicht leicht, den Kopf beieinander zu halten: Erst waren da die widersprüchlichen Signale vom G20-Gipfel auf Bali: Während es als toller Erfolg gewertet wurde, dass „die meisten Staaten“ sich dazu durchringen konnten, Russlands Angriff auf die Ukraine zu verurteilen, ließ sich Putins Gesandter Lawrow in kurzen Hosen und einem lavendelfarbenen Basquiat-Shirt filmen, die Apple Watch lässig am Handgelenk.

Es macht „knack“ in der Festnetzleitung

Was soll man davon halten, dass der russische Außenminister einem Schwarzen heroinsüchtigen US-Künstler huldigt? Steht Lawrow schon auf der Abschussliste des Regimes – oder bereitete er quasi optisch einen Brückenschlag zum Westen …? In diese müßigen popkulturellen Überlegungen schlugen zwei Raketen „russischer Bauart“ auf polnischem Gebiet ein und töteten zwei Menschen.

Der Deutschlandfunk schaltete morgens eine Psychologin zu, die erklärte, dass jeder Mensch nur über einen begrenzten „Sorgenpool“ verfüge – man solle sich bitte nicht überlasten. Toll, soll ich jetzt eine Auswahl treffen, worüber ich mich sorge? Um einen möglichen Nato-Bündnisfall nach Artikel fünf? Um die Menschen, die in Kiew oder Charkiw im Dunkeln sitzen und frieren, wenn sie nicht gerade von Raketen beschossen werden?

Wo für Bürger-innen  Steuern zahlen !  Blick auf das Rote Meer von einem Balkon im Sheraton Sharm. Politische Dummheit treibt immer neue Blüten! 

Um unsere polnischen Nachbarn, die jetzt wahrscheinlich durchdrehen vor Angst – laut einem Bericht boomt das Geschäft mit privaten Bunkern besonders in Polen. Oder soll ich mir eher Sorgen darum machen, dass wir auf eine 2,5-Grad-Erderwärmung zusteuern, die Teile der Welt noch zu meinen Lebzeiten unbewohnbar machen werden – schöne Willkommensgrüße an den achtmilliardsten Menschen, der diese Woche geboren wurde. Was tun, wenn der Sorgenpool überzulaufen droht? Tief durchatmen und eine Freundin anrufen. Funktioniert kurz, dann macht es „knack“. Leitung tot.

Quelle      :       TAZ -online        >>>>>        weiterlesen

*************************************************

Grafikquellen       :

Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

Abgelegt unter Feuilleton, International, Kultur, Regierung, Umwelt | Keine Kommentare »

Prima Klima und die Politik?

Erstellt von Redaktion am 20. November 2022

Kein Wetter für Klimaproteste ?

Könnten  diese Sätze von Lindner oder Scholz gesprochen werden?

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Wie die herbstliche Witterung mit der aktuellen Repression gegen die Klimabewegung zusammenhängt. Ein paar Gedanken zur Transformation des Wetters zum politischen Faktor.

Vorbeugende Aufstandsbekämpfung – auf diesen etwas in Vergessenheit geratenen Begriff brachten linke Zusammenhänge in den vergangenen Jahren all die Polizeigesetze, die derzeit gegen Klimaschützer Anwendung finden. 30 Tage Knast müssen 13 Aktivisten der „Letzten Generation“ im sogenannten Präventivgewahrsam erdulden,1 da laut richterlichem Beschluss Gefahr bestehe, dass sie sich erneut an Blockadeaktionen in München beteiligen könnten.

Dass Menschen im Gefängnis „vorbeugend“ landen können, ist eine relativ neue Strafrechtsverschärfung, die erst 2018 im Rahmen des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes im Eilverfahren von der CSU durchgepeitscht worden ist.2 Damals regte sich noch Protest gegen diese polizeistaatlichen Gesetzesverschärfungen, die den bürgerlich-rechtsstaatlichen Grundsatz aushöhlen, wonach Bürger nur für wirklich begangene Straftaten mit Gefängnisstrafen belegt werden können. Etliche zivilgesellschaftliche Organisationen haben damals Verfassungsbeschwerde eingereicht – vergebens.3 Diese Regelung zum Präventivgewahrsam, die ursprünglich aus gutem Grund in dem Strafrecht der BRD nicht vorkam, weckt nämlich schlicht Erinnerungen an die Schutzhaft der Nazis.

In den vergangenen Jahren haben die meisten Bundesländer ähnliche Regelungen eingeführt, die in der geschichtsvergessenen öffentlichen Debatte längst zur „Normalität“ geronnen sind.4 An der aktuellen Repression und Medienkampagne gegen die Blockierer der „Letzten Generation“ kann somit das Ineinandergreifen von Strafrechtsverschärfungen, polizeistaatlichen Tendenzen, schleichendem Demokratieabbau und der Krisenhaftigkeit des Spätkapitalismus studiert werden. Deswegen ist der Begriff der „vorbeugenden Aufstandsbekämpfung“ so passend. Die kapitalistischen Funktionseliten trauten schon vor einer halben Dekade ihrem eigenen System nicht, sie hatten ein schärferes Krisenbewusstsein als weite Teile der krisenblinden deutschen Linken (Der Staatsapparat bildet dabei ein autoritäres und repressives „Krisenbewusstsein“ aus, das ganz auf die Aufrechterhaltung der „öffentlichen Ordnung“ in der Dauerkrise ausgerichtet ist).5

Längst werden weitere Strafrechtsverschärfungen diskutiert. Der Extremismus der Mitte schlägt dabei hohe Wellen.6 Wirtschaftslobbyisten und Politiker der CDU und FDP fordern eine Verallgemeinerung des Vorgehens der bayrischen Justiz, um künftig Klima-Aktivisten generell für 30 Tage im Gewahrsam festhalten zu können.7 Die CSU fabuliert inzwischen von einer „Klima-RAF“,8 während der „freiheitliche“ Justizminister Marco Buschmann (FDP) laut über Gefängnisstrafen für Klimademonstranten nachdenkt.9 Eingebettet sind diese repressiven Vorstöße in eine rechte Medienkampagne, bei der Klimaaktivisten für Verkehrsunfälle in den Staus verantwortlich gemacht werden, bei den Blockadeaktionen entstehenden.10 Hinzu kommen offensiv in den Medien verbreitete Umfragen, laut denen ein Großteil der Bevölkerung die Protestformen der „Letzte Generation“ ablehnt.11

Es handelt sich offensichtlich um eine Kampagne der üblichen rechten Verdächtigen von Springer („Klima-Chaoten!“),12 über CDU/CSU („Fünf Jahre Haft!“) bis zur AfD („Alles verbieten!“) gegen die Klimaschützer,13 die auch schlicht die Gunst der Stunde nutzen, um die Klimabewegung dauerhaft zu schwächen und möglichst rasch dauerhafte Repressionsinstrumente zu etablieren. Die Zeit dafür ist nämlich gerade günstig – denn es ist kalt. Mit der herbstlichen Witterung und dem Krieg in der Ukraine verdrängen die Sorgen um die Heizkosten, um die strauchelnde Wirtschaft die Angst vor der Klimakatastrophe. Der diesjährige Horrorsommer gerät in der Bevölkerung, die dank kulturindustriellen Dauerbombardements ein öffentliches Erinnerungsvermögen von wenigen Wochen hat, schlicht in Vergessenheit. Die Vielfalt der ökologischen, sozialen und politischen Verwerfungen, in denen sich die kapitalistische Systemkrise14 manifestiert, führt schnell zu Orientierungslosigkeit und einem regelrechten „crisis-hopping“, sofern die systemischen Krisenursachen15 ausgeblendet bleiben.

Im letzten Sommer auf der Nordhalbkugel, als die Flüsse Europas trocken lagen, als die Feuer wüteten und als die Hitze immer mehr Todesopfer forderte,16 wäre ein solches Vorgehen gegen die Klimabewegung unmöglich gewesen. Die durch Hetzkampagnen generierten Mehrheiten, die sich nun hinter den Rufen nach härterem Strafen manifestieren, wären schlich nicht zustande gekommen, als die Bundesrepublik unter der inzwischen üblichen sommerlichen Hitzewelle und Feuersaison litt (Der einstmalige „Sommer“). Mit einer Repressionskampagne im November, also in der dunklen Jahreszeit, die früher „Herbst“ hieß, nachdem im Oktober angenehme, weit über den historischen Durchschnittswerten liegende Temperaturen herrschten17, nutzt die Rechte schlicht ein Zeitfenster zur Schaffung neuer, autoritärer Fakten. Die Entdemokratisierung und das Einüben neuer Repressionsmethoden müssen etabliert werden, bevor das nächste Extremwetterereignis, die nächste Hitzewelle und Dürre die Menschen mit aller Macht daran erinnern, dass die Klimakatastrophe weiter munter voranschreitet.

Das Wetter ist somit zu einem politischen Faktor geworden – es bringt schlicht Vorteile, die Witterung bei relevanten Themen zu berücksichtigen. Das liegt vor allem daran, dass die jahrzehntelange Argumentationskette, wonach Klima und Wetter zwei verschiedene Dinge seien, nicht mehr greifen kann. Zu deutlich manifestiert sich die Klimakrise in den konkreten Wetterphänomenen, als dass diese Halbwahrheit, die von Klimaleugnern gerne instrumentalisiert wurde, noch greifen könnte (Kein einziges extremes Wetterereignis weist sich ja selbst als Folge der Klimakrise aus). Die Repression der Klimabewegung muss zu einer Jahreszeit erfolgen, wenn die Bevölkerung sich Sorgen darum macht, wie die Wohnung zu heizen ist, ohne in Privatinsolvenz zu geraten.

Bei diesem politischen Wetter-Kalkül handelt es sich aber um einen objektiv gegebenen Faktor, um einen sich in der voranschreitenden Klimakrise ausformenden politischen Hebel, der auch von progressiven Kräften betätigt werden kann. Die nächste Feuer-, Hitze-, und Dürresaison kommt bestimmt, was auch die inzwischen katastrophale Züge annehmende Klimakrise zwangsläufig ins Zentrum der öffentlichen Debatte rücken wird. Und das werden die Witterungsverhältnisse sein, unter denen die Klimabewegung in die Offensive treten kann, in denen die meisten Menschen, die über keine Klimaanlage verfügen, ganz selbstverständlich viel Verständnis für radikale Protestformen aufbringen werden. Das Wetter ist somit hochpolitisch geworden. Alle werden hiervon reden,18 es in ihr politisches Kalkül und ihre aktivistischen Planungen als wichtigen Faktor aufnehmen. And the joke is on you, liebe 68er samt der anachronistischen, sozialdemokratischen Umverteilungs-Linken.19

Deswegen verfehlen die Verweise auf derzeit schlechte Umfragewerte der Klimabewegung, mit denen linksliberale Medien oder die „Bewegungsmanager“ der Linkspartei20 die Klimablockierer von ihren den alltäglichen kapitalistischen Betriebsablauf störenden Protestformen abbringen wollen, den Kern dieser politischen Wetterdynamik. Das Gerede von dem „Bärendienst“, den die „Letzte Generation“ der Klimapolitik erweisen solle, ist hohl. Die Klimakrise wird gänzlich unbeeindruckt von der Meinung des deutschen Bürgers über das Klima weiter voranschreiten, was auch die Stimmung in der Bevölkerung buchstäblich kippen lassen wird – ähnlich den klimatischen Kipppunkten des globalen Klimasystems. Schon die verheerende Flutkatastrophe in Westdeutschland und Bayern, die die Bundesrepublik 2021 mitten im Wahlkampf traf, kann durchaus als ein politischer Faktor, der den „Grünen“ Auftrieb verschaffte, begriffen werden.21

Die Klimakrise wird bei ihrem Voranschreiten der Klimabewegung weiterhin Zulauf bescheren – und das hat seine simple Ursache vor allem darin, dass der Kapitalismus aufgrund seines Wachstums- und Verwertungszwangs22 schlicht nicht in der Lage ist, die Klimakrise irgendwie zu bewältigen.23 Kapital ist der sich selbst verwertende Wert. Es ist das Geld, das durch Verfeuerung von Energie und Rohstoffen in der Warenproduktion zu mehr Geld werden muss. Es kann sich an nahezu alles anpassen, nur nicht an sich selbst. Deswegen steigen global die CO2-Emissionen weiter an, wobei dieser Emissionsanstieg nur durch Weltwirtschaftskrisen kurzfristig unterbrochen wurde.

Niemand hat doch gesagt, das in den Kinderwagen ein Politiker hätte sitzen können.
Wenn er es denn hätte wollen. Weiter Sooo.

Das Festkleben auf den Straßen, das die „Letzte Generation“ praktiziert, ist eine aus dem Mut der Verzweiflung geborene Protestform, und sie kontrastiert mit der geradezu entwaffnenden politischen Naivität der Gruppe, die schlichte Appelle an die politischen Funktionsträger richtet, die Klimakrise doch zu lösen. Selbst der Verfassungsschutz musste trotz der aktuellen rechten Kampagne schlicht feststellen, dass diese Gruppe nicht „extremistisch“ ist, da sie schlicht „Funktionsträger zum Handeln auffordert“.24 Das Problem bei dieser Herangehensweise besteht aber darin, dass die politischen Funktionsträger aufgrund der obig genannten kapitalistischen Systemwidersprüche nicht in der Lage sind, der Klimakrise sinnvoll zu begegnen.

Ohne Systemtransformation, ohne Überwindung des kapitalistischen Wachstumszwangs ist eine Bekämpfung der Klimakrise unmöglich. Der Kapitalismus ist außerstande, effektive Klimapolitik zu betreiben. Dieser simple, von der Wertkritik seit Jahren thematisierte Zusammenhang hat sich inzwischen bis zur Taz,25 herumgesprochen. Anstatt der Spaltung der Klimabewegung durch Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Protestformen Vorschub zu leisten, käme es somit einerseits darauf an, dieses radikale Krisenbewusstsein in der Klimabewegung zu verallgemeinern, um die Diskrepanz zwischen den radikalen Protestformen mit den naiven Forderungen zu überwinden.

Und andererseits müsste der Fokus progressiver und emanzipatorischer Kräfte auf dem Kampf gegen repressive, postdemokratische Tendenzen in Staat und Politik liegen. Der Kampf um die Aufrechterhaltung der krisenbedingt schrumpfenden demokratischen Manövrierräume ist allein schon deswegen notwendig, damit nicht irgendwann die Suche nach Systemalternativen zur kapitalistischen Dauerkrise als „extremistisch“ eingestuft und mit „Präventivhaft“ bedacht wird. zumindest das Wetter dürfte bei diesem Unterfangen auch künftig leider mitspielen.

<figure style=“box-sizing: inherit; margin: 0px 0px 1em; display: block; overflow-wrap: break-word;“ class=“wp-block-embed“>

https://www.patreon.com/user?u=57464083

</figure>

1 https://www.tag24.de/thema/klimaaktivisten-letzte-generation/letzte-generation-aktivist-im-hungerstreik-er-sitzt-in-praeventivhaft-in-der-jva-muenchen-2665880

2 https://netzpolitik.org/2019/bayerisches-polizeigesetz-19-personen-wochenlang-in-praeventivgewahrsam/

3 https://freiheitsrechte.org/themen/freiheit-im-digitalen/baypag

4 https://de.wikipedia.org/wiki/Unterbindungsgewahrsam

5 https://www.konicz.info/2020/12/09/der-linke-bloedheitskoeffizient/

6 https://www.konicz.info/2022/10/27/radikalitaet-vs-extremismus/

7 https://rp-online.de/politik/deutschland/letzte-generation-cdu-wirtschaftsrat-will-30-tage-gewahrsam_aid-79611979

8 https://www.stern.de/politik/heutewichtig/letzte-generation–terroristen-oder-klimaschuetzer—-podcast–heute-wichtig–32900218.html

9 https://www.fr.de/politik/letzte-generation-justizminister-buschmann-denkt-ueber-gefaengnisstrafen-fuer-klimaaktivistinnen-nach-91889060.html

10 https://www.focus.de/politik/deutschland/kommentar-von-hugo-mueller-vogg-die-letzte-generation-hat-eine-grenze-ueberschritten-keine-gnade-mehr_id_174163868.html

11 https://www.rtl.de/cms/letzte-generation-umfrage-zu-klimaprotesten-das-denken-die-deutschen-ueber-den-aktivismus-5015178.html

12 https://www.bild.de/politik/kolumnen/kolumne/abrechnung-mit-letzte-generation-klima-kleber-verachten-die-demokratie-81864598.bild.html

13 https://www.sueddeutsche.de/politik/klimaaktivisten-strafen-bundestag-1.5693799

14 https://konkret-magazin.shop/texte/konkret-texte-shop/66/tomasz-konicz-kapitalkollaps

15 https://www.konicz.info/2022/06/25/schuldenberge-im-klimawandel/

16 https://www.konicz.info/2022/06/21/hitzetod-in-der-klimakrise/

17 https://www.wetter.de/cms/wetter-in-deutschland-oktober-2022-saharaluft-und-spaetsommer-besiegeln-rekord-herbst-5014077.html

18https://de.wikipedia.org/wiki/Alle_reden_vom_Wetter._Wir_nicht.#Sozialistischer_Deutscher_Studentenbund

19 https://www.pinterest.com/pin/670121619528150440/

20 https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/klaus-lederer-kunst-zu-gefaehrden-ist-verantwortungslos-li.282317

21 https://www.kreiszeitung.de/politik/beeinflusst-die-flutkatastrophe-die-bundestagswahl-2021-90885052.html

22 https://www.konicz.info/2018/06/06/kapital-als-klimakiller/

23 https://www.mandelbaum.at/buch.php?id=962

24 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/letzte-generation-verfassungsschutzpraesident-stuft-klimaaktivisten-nicht-als-extremistisch-ein-a-39e52dc0-ef10-4ebd-83f1-9545b669d553

25 https://www.deutschlandfunk.de/ulrike-herrmann-sieht-kapitalismus-am-ende-100.html

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-cc

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben      —    Karikatur von Gerhard Mester zum Klimawandel

Abgelegt unter Berlin, Energiepolitik, Feuilleton, Umwelt | Keine Kommentare »

Das Finale der Politik ?

Erstellt von Redaktion am 19. November 2022

Endspiel: „…auf dem Weg in die Klimahölle…“

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Jürgen Tallig

Die aktuelle Klima- und Verkehrspolitik ist rechtswidrig und lebensbedrohlich.

UN- Generalsekretär Guterres hat den Stand der Dinge anlässlich der nun schon 27. UN-Klimakonferenz (COP) im ägyptischen Scharm-el-Scheich, treffend zusammengefasst:

Wir sind unverändert auf dem Weg in die Klimahölle,- mit dem Fuß auf dem Gaspedal.“

Ja, wie sollte es auch anders sein, befindet wir uns doch in einem globalen Wettrennen um Marktanteile, Energie und Rohstoffe, um Wachstums- und Reichtums Vermehrung,- es geht um den Sieg,- zumindest darum vorne dabei zu sein und sei es letztlich auch in der Klimahölle.

Die Krebszelle hat auch kein Bewusstsein davon, dass ihre ungehemmte Vermehrung, auch ihren eigenen Untergang bedeutet. Der Kapitalismus wähnt sich immer noch in der Erfolgsspur, produziert

aber vor allem weltweite Zerstörung. Der „Maulwurf der Geschichte“ erweist sich als unersättliches Monster, das die Lebensgrundlagen untergräbt und Wüsten hinter sich zurück lässt.

Die klimaschädlichen Emissionen der EU sind z.B. etwa 10-mal so hoch, wie die CO2-Aufnahmefähigkeit ihrer Wälder, die durch Waldschäden und Waldbrände zudem immer mehr geschädigt werden. Unser ökologischer Imperialismus überschreitet längst wesentliche planetare Grenzen und gefährdet das Leben und das Überleben der Menschheit.

Klimaamok und tödlicher Autowahn

Die gegenwärtige Situation eines faktisch neuerlichen Ausnahmezustands oder verdeckten Kriegszustandes wird benutzt, Energie billig zu halten und den Autoverkehr weiter zu fördern, obwohl das Klimarahmenabkommen, der Pariser Klimavertrag und hierzulande zusätzlich das Grundgesetz und der Beschluss des Bundesgerichtshofes zum Klimagesetz rechtsverbindlich das genaue Gegenteil erfordern. Nämlich die Emissionen so schnell, verbindlich und konkret zu senken, dass den kommenden Generationen hinreichende Handlungsmöglichkeiten bleiben und Ihre Freiheitsrechte nicht extrem beschnitten werden (siehe Beschluss des BGH).

Die aktuelle Klima- und Verkehrspolitik in Deutschland ist insofern eindeutig rechtswidrig und verfehlt gerade im Verkehrssektor nun schon seit Jahren die Klimaziele, doch auch die Gesamtemissionen sind seit Corona so stark gestiegen wie seit 1990 nicht mehr. Eine unveränderte Verkehrspolitik pro Auto,- ein 49 Euro-Ticket ist ja kein klares Signal pro ÖPNV-, kann man inzwischen nur als kriminell bezeichnen, denn sie ist in mehrfacher Hinsicht lebensbedrohlich.

Einmal natürlich wegen der vielen tragischen Unfälle, die oft die Schwächsten, wie die Radfahrer, am Schwersten treffen, dann aber natürlich auch wegen der verheerenden Gesundheitsfolgeschäden durch Lärm und Feinstaub,- so sterben in Europa jährlich etwa 400000 Menschen an den Folgen des Autoverkehrs und dann natürlich wegen der verheerenden globalen Klimafolgen.

Wenn die EU und Deutschland die Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens ernst genommen hätten, dann hätten sie längst eine wirklich radikale Verkehrs- und Energiewende einleiten müssen, die vor allem bedeutet hätte, massiv Energie einzusparen und sich vom motorisierten Individualverkehr zu verabschieden.

Es ist schon perfide, wenn Medien und einige Politiker denjenigen, die diesen alltäglichen Klima-und Verkehrswahnsinn beenden wollen, die Schuld am tragischen Tod einer Radfahrerin zuschieben

und Klimaaktivisten, die für unser aller Zukunft kämpfen, kriminalisieren. Das ist eine regelrechte Diffamierungs- und Hetzkampagne, die zeigt, dass unsere Demokratie gefährdet ist.

Es braucht Solidarität mit den mutigen Klimaschützern und eine nationale und globale Offensive der Klimabewegung! Aber, nicht nur das Klima ist in Gefahr!

Klima-Ausnahmezustand

Wenn hier schon von Klima-RAF getönt wird, dann zeigt ein fossil-technofaschistischer Staatskapitalismus hier schon einmal seine Fratze und bis zum Klima-Ausnahmezustand ist es dann nicht mehr weit; der aber kein Klimanotstand zur Bekämpfung der Klimakatastrophe, sondern ein permanenter Ausnahmezustand zur Aufrechterhaltung der Macht- und Besitzverhältnisse und einer ungestörten Kapitalakkumulation sein dürfte, was ja auch die eigentliche Aufgabe des kapitalistischen Staates ist.

Seit der Rede eines VW-Chefs auf einem GRÜNEN-Parteitag, gibt es eine neue Art von historischem Kompromiss, der Wachstum und Klima versöhnen soll, was natürlich unmöglich ist und mit einem Green Deal vor allem den Kapitalismus und auch das Klima retten sollte. Allerdings scheint sich mittlerweile doch eher ein fossil-digitaler, zunehmend militarisierter Kapitalismus, der neben der bisherigen Globalisierung expansiv geostrategische Interessen verfolgt, durchzusetzen (siehe Birgit Mahnkopf, Der Kampf um Eurasien, Blätter für deutsche und internationale Politik 10`22).

Die Welt erlebt derzeit eine Art Klima- Amoklauf, mit ungebremsten Investitionen in fossile Brennstoffe und ungebremster Naturzerstörung und Klimapolitik scheint nur noch eine Art Alibi- und Feigenblattfunktion zu haben, beim Great Game um den globalen Kuchen.

Klimaschutz und Demokratie werden zusehends als Wachstumshemmnisse betrachtet, die in der allgemeinen Mobilmachung für den globalen Konkurrenzkampf nicht länger stören sollen.

Reise nach Ägypten

Die derzeitige Situation wurde und wird denn auch international zum Anlass genommen, alle bisherigen Versuche eines global koordinierten Klimaschutzes nun vollends zu entsorgen und allenfalls über Anpassung und Entschädigungen zu reden. Klimaschützer wie Greta Thunberg reisten erst gar nicht nach Ägypten, das ja auch noch von einem undemokratischen Militärregime beherrscht wird. Der Süden und wichtige Schwellenländer wie China, Indien und natürlich Russland signalisieren inzwischen deutliche Skepsis gegen die vom Westen betriebene Klimapolitik, die nur dem eigenen Vorteil zu dienen scheint und den eigenen technologischen Vorsprung zu Ungunsten der Anderen ausnutzen will. Wie ernst ist es denn mit dem Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen, wenn er vor allem die Kohle meint und was ist von einem westlichen Klimaklub zu halten, wenn er seine Mitglieder durch ein CO2- Grenzausgleichssystem schützt, nachdem man in den letzten Jahren „schmutzige“, emissionsintensive Produktion aus den „Metropolen“ ausgelagert hat und das vor allem, „schmutzige“ kohleabhängige Länder benachteiligt. Dieser Egoismus wird natürlich weltweit höchst kritisch gesehen und auch, dass die Verpflichtungen des Westens die Kosten des Klimawandels wegen der historischen Klimaschuld auszugleichen, nicht eingehalten werden.

Wie gehabt ! Mit ihren Fahnen stehen die Bananen.

Auch Deutschland macht sich inzwischen klimapolitisch immer mehr unglaubwürdig.

Mit seiner Verkehrspolitik, die unverändert motorisierten Individualverkehr fördert und nicht den ÖPNV und die Bahn, der noch ausgeweiteten Subventionspolitik für fossile Brennstoffe, der Laufzeitverlängerung für Kohle- und Atomkraftwerke und der Bremse für die eh viel zu geringe CO2-Steuer. Daran können auch die salbungsvollen Worte eines Herrn Habeck, von einer deutschen Führungsrolle beim Klimaschutz nichts ändern. Man wird an seinen Taten gemessen und nicht an seinen Versprechen und schönen Worten.

Es wird weltweit, auch in der EU klar gesehen und auch laut kritisiert, dass es bei dem 200 Mrd. € – Subventionspaket keineswegs um eine energetische Notlage geht, sondern um Kostensenkungen für die deutsche Wirtschaft, um ihre internationalen Konkurrenzfähigkeit zu bewahren und noch zu verbessern. Und das geplante CO2- Grenzausgleichssystem dient weniger dem Klimaschutz, sondern ist vielmehr klassischer Protektionismus, der den eigenen technologischen Vorsprung nutzt, um die Konkurrenten zu benachteiligen. Siehe auch der Handelskrieg USA- China.

Endspiel- das finale Great Game

Es ist eine Rückkehr zu politischen, ökonomischen und finanziellen Methoden der End- 20er und Anfangs- 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Wohin diese geführt haben, müsste eigentlich noch in schrecklicher Erinnerung sein,- doch Aufrüstung und direkte und indirekte Kriegsführung und Expansion sind schon wieder als Auswege aus der „Krise“ salonfähig.

Es ist allerhöchste Zeit, zu erkennen, dass es unendliches Wachstum nicht geben kann, aus ökonomischen und ökologischen Gründen. Es bedeutet früher oder später Krieg und es bedeutet vor allem eine irreversible Zerstörung der Lebensgrundlagen.

Eine wirksame, globale Klimapolitik ist nicht möglich, wenn jeder nur den eigenen Vorteil sucht und der reiche Westen vor allem seine Besitzstände und seine Gewinner-Position bewahren will.

Egal, wer letztlich dieses globale Great Game um Macht, Märkte, Rohstoffe und Energie gewinnen wird, am Ende werden wir alle Verlierer sein, weil wir das eigentlich relevante Great Game, das mit dem System Erde und dem Klima krachend verlieren werden,- ohne Chance auf einen Neustart.

Die Klimakatastrophe ist irreversibel und geht nicht einfach irgendwann wieder vorbei. Sie ist wahrscheinlich jetzt schon ein sich selbst verstärkender und aufschaukelnder Prozess,- wir befinden uns längst auf dem immer steiler werdenden, abschüssigen Weg in eine lebensfeindliche Klimahölle, auf dem es schon längst nicht mehr vorwärts, sondern nur noch abwärts geht und auf dem bald keine Umkehr mehr möglich sein wird.

Immer weiteres Wachstum gibt es nur auf Kosten anderer, vermeintlich Schwächerer und es gefährdet die Weiterexistenz der Menschheit. Das sollten die Mächtigen der Welt endlich realisieren, bei Ihrem Gipfel in Bali, ehe sie über weiteres Wirtschaftswachstum palavern. Der Klimagipfel in Ägypten war für sie nur ein Zwischenstopp, wo mal wieder „Reise nach Jerusalem“ gespielt wurde, -bloß dass eben die besten Plätze schon vorher vergeben waren,- welch unerträgliches Aussitzen.

Wenn die Reichen, wie festgeklebt, auf ihren exklusiven Stühlen sitzen bleiben und nicht einmal aufstehen, um wirklich mitzuspielen beim Kampf ums globale Überleben und um einen wirklichen Kurswechsel, dann zeigt sich erneut die Verblendung der Macht, die selbst angesichts des Abgrunds nur voran kommen will. Man sollte sich die Emissionen für die Reise nach Ägypten sparen und lieber zu Hause Straßen blockieren, wo immer möglich auf die Bremse treten und Sand im Getriebe sein.

Eine Politik zur Verhinderung der Klimakatastrophe braucht Glaubwürdigkeit, Gerechtigkeit, eine starke vernunftgeleitete Führung, neue Institutionen und Bündnisse.

Eine Politik zur Verhinderung der Klimakatastrophe kann keine Lobbypolitik für Wirtschafts- und Finanzinteressen sein; sie muss unendliches Wachstum als Krankheit erkennen und benennen; sie braucht den Mut zur unbequemen Wahrheit, die Weitsicht, jetzt für Morgen zu handeln; sie muss Gerechtigkeit als Voraussetzung jeder Lösung begreifen und weniger als mehr; sie muss den Glauben an höhere Ziele als Geldvermehrung und Konsum erneuern und die Menschen begeistern und aktivieren für das höchste Ziel: den Kampf für den Fortbestand des Lebens und für die Verhinderung der Klimakatastrophe. „Der Sinn des Lebens ist, dass Leben weitergeht.“, – wenn wir das vergessen, werden wir zu Dienern des Todes und sind nicht mehr, als Teil eines Krebsgeschwürs, das nicht einmal weiß, dass das Ende seines Wirtskörpers auch sein eigenes Ende bedeutet.

Jürgen Tallig der Autor war Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig

Weitere Informationen: www.earthattack-talligsklimablog.jimdofree.comDaaa

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-cc

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben      —     Karikatur von Gerhard Mester zum Thema Klimawandel und Kohleverbrennung: – Totschlagargument Arbeitsplätze (Stichworte: Globus, Erde, Klima, Kohle, Energie, Umwelt)

Abgelegt unter International, Positionen, Regierung, Umwelt | Keine Kommentare »

Verkehrswende im Stau

Erstellt von Redaktion am 18. November 2022

Die Ampel zementiert den Status quo.

A7

Ein Debattenbeitrag von Kerstin Haarmann

Bundeshaushalt 2023: Die Klimaziele beim Verkehr werden verfehlt und dennoch gibt auch die Ampel die kostspieligen Autoprivilegien nicht auf. Die Ampel zementiert den Status quo. Sie klammert sich an den Verkehr der Gegenwart auf Kosten der Zukunft.

Das Deutschlandticket kommt – ein Durchbruch, mit dem vor einem Jahr niemand gerechnet hatte. Die Kleinstaaterei der Tarifzonen wird bald Vergangenheit sein, Bus und Bahn werden günstiger. Und dennoch: Der Verkehr bleibt das Schlusslicht beim Klimaschutz. Die Regierung verweigert die Wende in Richtung klimafreundliche Mobilität. Letztes Jahr hat sie erneut die Vorgaben des Klimaschutzgesetzes gerissen. Macht sie so weiter, dürfte sie auch das Verkehrsklimaziel für 2030 krachend verfehlen: Bis dahin sollen die Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um die Hälfte sinken – mit den bisherigen Maßnahmen wird das nicht gelingen.

Eigentlich hat sich die Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag zu einer nachhaltigen und für alle bezahlbaren Mobilität bekannt. Der sogenannte Umweltverbund – also Bus-, Bahn-, Rad- und Fußverkehr – soll als Alternative zum Auto ausgebaut werden, in die Schiene künftig mehr Geld fließen als in die Straße. Doch Papier ist geduldig; in der Praxis ist davon kaum etwas zu erkennen. Im Entwurf für den Haushalt 2023 fehlen:

1. Ausreichende Investitionen, abgesichert durch einen langfristigen Umwelt- und Klimafonds.

2. Die Besteuerung der Verkehrsarten nach Umwelteffekten („tax bads not goods“).

3. Neue Steuerungsinstrumente wie ein Bonus-Malus-System bei der Kfz-Steuer oder eine Pkw-Maut.

4. Eine am Klima ausgerichtete Subventionspolitik.

5. Der Ausbau von Planungs- und Personalkapazitäten für die Verkehrswende.

Dabei müsste der Verkehrshaushalt 2023 endlich erste Schritte gehen, damit wir bis 2030 einen Verkehr erreichen können, wie wir ihn haben wollen: resilient, ökologisch und sozial. Stattdessen wird der Bundestag kommende Woche abermals mehr Mittel für das Auto freigeben als für den Umweltverbund. Die Investitionen in die Straße werden auf 11,5 Milliarden Euro erhöht, während sie für die Schiene bei rund 9,5 Milliarden verharren. ­Der Staat fördert also weiter die Strukturen, die für den größten Teil der Verkehrsemissionen verantwortlich sind, und verhindert damit den Übergang in eine klimafreundliche Mobilität.

Auch beim Radverkehr wird gekürzt. Hier stehen lediglich 561 Millionen Euro zur Verfügung. Dabei hatte die Verkehrsministerkonferenz im Mai 2022 einstimmig beschlossen, die Investitionen fürs Rad auf 1 Milliarden Euro pro Jahr zu erhöhen – für jedes Jahr bis 2030. Zwar wird allen Verkehrsarten für die Folgejahre Geld zugesichert; an der Priorität für die Straße ändert das aber nichts. Beim ÖPNV klafft ebenfalls eine Lücke: Das Geld reicht vorne und hinten nicht, um das Bus- und Bahnangebot zu verbessern. Zusätzliche Verbindungen und neue, umweltfreundlichere Fahrzeuge werden dringend benötigt, doch dafür sieht der Bundeshaushalt kaum etwas vor. Es drohen sogar Kürzungen beim Angebot, weil Personal- und Energiekosten stark gestiegen sind. Allein diese Preissteigerungen auszugleichen, würde für 2023 drei Milliarden Euro zusätzlich erfordern.

Dumm – Dümmer  – Politiker-innen der Regierungen. Alle Politiker-innen müssen für gemachte Schäden haftbar gemacht werden können. Die heutige Narrenfreiheit muss ein Ende haben !

Und damit wäre noch keine einzige zusätzliche Verbindung geschaffen. Um das Ziel zu erreichen, die Fahrgastzahlen zu verdoppeln, sind weitere 12 Milliarden Euro für Busse und Bahnen nötig. Zusammen also 15 Milliarden Euro jedes Jahr, die Bund und Länder nicht stemmen wollen. Wer meint, das sei viel Geld, soll sich anschauen, wie stark der Autoverkehr jährlich gefördert wird. Man nehme etwa die Steuerprivilegien wie die niedrigere Energiesteuer auf Diesel (8,2 Milliar­den Euro), das Dienstwagenprivileg (4,4 Mil­liar­den) oder eine Pendlerpauschale (6 Mil­liar­den), die vor allem das Autofahren günstiger machen. Hinzu kommen Steuerbefreiungen fürs Fliegen: Der Staat erhebt weder eine Energiesteuer auf Kerosin (8,4 Milliarden) noch eine Mehrwertsteuer auf Auslandsflüge (4 Milliarden).

Diese Privilegien führen zu immensen Steuerausfällen und stellen de facto Subventionen dar. Meist sind sie ungerecht, da vor allem Besserverdienende profitieren. Klimapolitisch sind sie fatal, denn sie konterkarieren alles, was den Verkehr klimaschonender macht. Mit den zusätzlichen Einnahmen ließen sich Bus-, Bahn-, Rad- und Fußverkehr locker ausbauen. Doch die Devise „viel Geld hilft viel“ trifft nicht immer zu. Oft werden Fördertöpfe nicht ausgeschöpft, weil in der Verwaltung das Personal für die Planung fehlt oder Baufirmen keine freien Kapazitäten haben. Hinzu kommen bürokratische Hürden und hohe Eigenanteile, die Kommunen und Unternehmen abschrecken.

Quelle        :         TAZ-online        >>>>>        weiterlesen

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben     —    Stau auf der Autobahn A7 bei Echte im Landkreis Northeim.

******************************

Unten       —       Karikatur von Gerhard Mester zum Klimawandel: „Weiter so“

Abgelegt unter Deutschland_DE, Medien, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Gegensätze zum Impfen

Erstellt von Redaktion am 17. November 2022

Darf das Thema Schutzimpfungen nicht kritisch hinterfragt werden?

Quelle      :        INFO Sperber CH.

Von       :    Christian Bernhart /   

In einer großen Dokumentation von Arte versuchen Wissenschaftler und Ärzte das Wissen über Impfungen zusammenzufassen.

Vorbehalte gegen gewisse Impfstoffe äußern nicht nur Impfskeptiker. Vielmehr kommen in der rund eineinhalbstündigen Arte-Doku-Sendung* Wissenschaftler und Ärztinnen zu Wort. Die französische Dokumentarfilmerin Anne Georget räumt ihnen genügend Zeit ein, damit sie ihre Befunde und Bedenken für Laien verständlich machen können. Auslöser für den Film war die Covid-Pandemie, welche die Menschen noch mehr als vorher in Impfgegner und in Befürworter aller empfohlenen Impfungen aufspaltete. Ziel der Doku war es, den Meinungsgraben mit Argumenten zu Nutzen und Risiken der Impfungen zu überbrücken. Doch in Frankreich und in der Romandie kritisierten Impfforscher, dass die Sendung tendenziös und einseitig gewesen sei und wichtige Informationen gefehlt hätten.

In der Arte-Doku äußert sich zum Beispiel Gregory Poland, der Impfstoffe gegen Pocken, Masern und das Zika-Virus mitentwickelt hat und zurzeit an einem Covid-Impfstoff forscht. Oder der Epidemiologe William Foege, der in Afrika und Indien erfolgreiche Impfkampagnen gegen Pocken und Masern führte, oder der Schwede Peter Aaby, der die Impfkampagnen in Guinea-Bissau untersuchte und die unspezifischen Wirkungen von Impfungen erforschte (Infosperber berichtete).

Im Folgenden sind ihre Argumente anhand der wichtigsten Themen zusammengefasst. Zwei weitere Wissenschaftler, der Virologe Didier Trono und der Immunologe Alain Fischer beurteilen Aussagen der Sendung kontrovers.

Massenimpfungen

In diesem Abschnitt argumentiert die Doku, dass Pandemien wie etwa Pocken durch Massenimpfungen nicht auszurotten seien. Besser wäre es, gezielt nur Menschen in Gegenden mit infizierten Personen zu impfen. William Foege untermauert die These anhand von Impfkampagnen gegen Pocken in Nigeria 1967, wo es gelang, mit sieben Prozent Geimpften die Pocken zu stoppen. Dieselbe Methode wurde in den Jahren 1973/74 angewandt in Indien, das innert einem Jahr von Pocken befreit wurde (Bei Minute 11:38 im Film)

Auf RTS 1 stufte Didier Trono, Leiter des Virologie-Labors der ETH-Lausanne, die Pockenimpfung als gutes Beispiel für solche gezielten Impfungen ein, da Pockensymptome sehr gut erkennbar seien. Doch bei Krankheiten mit erst spät sichtbaren Symptomen komme die gezielte Impfung zu spät. Auch Massenimpfungen hätten anderenorts zur Ausrottung der Pocken beigetragen.

In der Zeitung Express erklärt der Pariser Immunologe Alain Fischer, dass Pandemien wie beispielsweise Kinderlähmung nur dank der Massenimpfung bei uns verschwunden seien.

Kinderkrankheiten 

Die Arte-Doku geht auf die Frage ein, ob die heute hohe Impfrate bei Kleinkindern dazu führe, dass sich Kinderkrankheiten hin zu den Jugendlichen und Erwachsenen verschieben und deshalb weitaus schlimmere Folgen nach sich ziehen würden. Es sind Beobachtungen, die beispielsweise die Allgemeinpraktikerin Geneviève Farrachi in ihre Praxis in der Nähe von Dijon feststellt und die diese mit Aussagen des Virologen Raymond Bastin untermauert. Dieser erklärte 1977, dass eine flächendeckende Masernimpfung ein erhöhtes Risiko schwerer Fälle bei Erwachsenen und Neugeborenen zur Folge habe (25:18). Der Infektiologe Guillaume Béraud von der Uniklinik Poitiers erklärt dazu, dass Kinder vor Einführung der Impfung die Masern mit fünf oder sechs Jahren durchmachten (26:49). Die hohe Masern-Impfrate während der Epidemie 2010/11 hätte bewirkt, dass sich die 16-Jährigen am häufigsten ansteckten, was in diesem Alter mehr Risiken bedeute.

Alain Fischer sagte im «Express»: Masern seien eine Krankheit mit schwerwiegenderen Folgen. Obschon sie in der Regel harmlos verlaufe, gebe es heute weltweit jährlich 135’000 nicht geimpfte Kinder, die an Masern sterben. Zudem schütze die Rötelnimpfung Schwangere vor der Geburt eines behinderten Kindes.

Masern-Ausschlag bei einem nigerianischen Mädchen. Der Großteil der weltweit auftretenden Krankheitsfälle betrifft den afrikanischen Kontinent.

Fischers Statistik ist approximativ, denn nach Angaben der WHO von 2018 gibt es weltweit jährlich 140’000 Maserntote, darin befinden sich alle Altersgruppen, geimpft oder ungeimpft. Didier Trono erklärt, die Ungeimpften und nicht die Geimpften würden riskieren, später an Masern zu erkranken (weil sie sich wegen der hohen Impfraten als Kinder selten anstecken), und postuliert, dass die generelle Impfung gegen Kinderkrankheiten helfe, besonders Vulnerable zu schützen, die sich wegen eines eingeschränkten Immunsystems nicht impfen lassen dürfen.

Impfungen gegen Atemwegserkrankungen

Die eingeschränkte Wirkung dieser Impfungen gegen Viren in den Atemwegen charakterisiert Michel de Lorgeril, Experte für Auswirkungen von Medikamenten und Impfungen, dahingehend (28:58), dass es bei Geimpften zwar zu weniger Erkrankungen komme, dass sie jedoch nach wie vor Viren über die Atemwegsorgane ausscheiden und deshalb ansteckend sein können. Menschen jedoch, die sich auf natürlich Weise über die Atemwege infizierten, würden einen besseren Schutz ihrer Atemwege aufweisen, sodass bei ihnen eine Übertragung der Krankheit sehr unwahrscheinlich wird. Für de Lorgeril bestätigen die Covid-Impfungen erneut diese eingeschränkte Wirkung der Impfung auf Atemwegserkrankungen.

Laut Fischer hätte man darauf hinweisen müssen, dass die Covid-Impfung das Risiko einer Ansteckung reduziere, auch wenn sie diese nicht ausschliesse.

Fehlende Doppelblind- und Langzeitstudien 

An Behörden und Impfstoffproduzenten richtet die Arte-Doku gravierende Vorwürfe. Sie würden die Impfstoffe ohne die eingehenden, für Medikamente üblichen Prüfungen auf den Markt bringen. Der Franzose und bekennende Impfbefürworter Romain Gherardi, der während 30 Jahren die Auswirkungen von Impfstoffen auf Risikogruppen untersuchte, spricht von fehlenden präklinischen Studien zur Untersuchung von Auswirkungen auf die Erbsubstanz oder Fruchtbarkeit. Er wirft den Impfherstellern vor, Kosten sparen zu wollen.

Gezeigt wird, wie Ronald Reagan 1986 den «National childhood vaccine injury act» unterzeichnete, der Hersteller von der Haftung für schwere Nebenwirkungen entbindet.

Die Schlussfolgerung der Doku lautet: «Impfstoffe sind die einzigen Medizinprodukte, die eine gesetzliche Immunität geniessen.» Peter Gøtzsche, Begründer der Cochrane-Gruppe, einer internationalen Vereinigung von Ärzten, die klinische Studien von Medikamenten und Impfungen systematisch auswerten, fordert, dass Impfstoffe höhere Standards als andere Medikamente erfüllen sollten, da Impfstoffe Gesunden verabreicht werden und länger im Körper bleiben, Medikamente dagegen im Notfall abgesetzt werden können (39:90).

Trono erklärt, dass man diese Aussage nicht verallgemeinern dürfe, es gäbe präklinische Tests, infolge von Dringlichkeit jedoch nicht in dem Ausmass, wie es zu wünschen wäre.

Peter Doshi, Herausgeber des «British Medical Journal», warf den Herstellern der Corona-Impfstoffe vor, die eingeleiteten Doppelblindstudien willkürlich abgebrochen und nicht zu Ende geführt zu haben.

Wechsel- und Nebenwirkungen 

Unerwünschten Wirkungen, wie sie bei Medikamenten vorkommen, zeigt der dänische Anthropologe Peter Aaby (32:40) anhand von Studien zur Kindersterblichkeit bei 200’000 Menschen in Guinea-Bissau. So sank hier – wie später in Senegal, im Kongo und in Indien ebenfalls – die Kindersterblichkeit nach Masern-Impfungen um mindestens 50 Prozent. Masern allein waren aber für eine solch hohe Sterblichkeit nicht ausschlaggebend, also muss die Impfung die Gesundheit umfassender beeinflusst haben. Aaby stellte fest, dass die Sterblichkeit der Mädchen sank wenn man die kombinierte Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten vor derjenigen gegen Masern verabreicht. [Infosperber hat ausführlich darüber berichtet: hier und hier]. Aaby folgert, dass bestimmte Impfstoffe nicht nur gegen eine Krankheit wirken, sondern insgesamt das Immunsystem beeinflussen.

HPV-Impfungen

Weil Langzeitwirkungen der Impfung gegen das Humane Papillomavirus (HPV), welches Gebärmutterhalskrebs auslösen kann,  bis heute zu wenig abgeklärt seien, rät Frauenärztin Diane Harper von dieser Impfung jetzt ab (47:30). Zuvor war sie als Prüfärztin für klinische Versuche für die Pharmakonzerne Merck und GSK tätig. Anstelle der Impfung empfiehlt sie regelmässige Vorsorgeuntersuchungen, weil in 90 Prozent der Fälle das langsam wachsende Virus verschwindet. Von den restlichen 10 Prozent würden 5 Prozent Beschwerden verursachen, die anderen 5 Prozent  entwickeln eine Krebsvorstufe, woraus sich ohne Behandlung nach 30 Jahren bei 40 Prozent ein Krebs entwickeln kann. De Lorgeril (49:52) demonstriert, wie es sogar zu einem Anstieg der Krankheit in jenen Ländern kam, in denen gegen HVP viel geimpft wurde, so in Norwegen, Australien und Schweden, während in Dänemark oder Frankreich, wo wenig geimpft wurde, die Häufigkeit von Gebärmutterhalskrebs zurückging. Dafür gebe es zurzeit erst Vermutungen: Junge Frauen könnten vor der Impfung bereits infiziert gewesen sein, oder sie verzichten als Geimpfte auf die Früherkennung, oder aber der Impfstoff, so de Lorgeril, rotte nur einige Virenstämme aus, sodass sich andere HPV-Viren umso stärker ausbreiten können.

Gesundheitsmarketing 

Anhand von Filmsequenzen wird gezeigt, wie vornehmlich in den USA die Impfhersteller mit raffinierten Angstmethoden ihre Impfungen als Garantie für Gesundheit anpreisen. Diane Harper nennt als Beispiel die Werbung für den HPV-Impfstoff «Gardasil» von Merck. Die Kampagne habe darauf beruht: «Willst Du Deine Kleine nicht impfen, so stirbt sie an Gebärmutterkrebs.» (54:05) Wie in der Doku zu sehen ist, sind es die Bilder von jungen besorgten Mädchen, welche diese Aussage suggerieren. Harper intervenierte bei Merck, deren Antwort lautete: «Angst verkauft sich.»

Peter Doshi prangert insbesondere die auf die Tränendrüse drückende Werbung der Grippeimpfung für Kleinkinder ab sechs Monaten an, wie sie die CDC, die USA-Gesundheitsbehörde, aufschaltete (43.18). Epidemiologe Tom Jefferson, Mitglied des Nordic Cochrane Center, bietet hier Aufklärung (45:37). Von allen klinischen Studien zu Grippeimpfstoffen habe nicht eine einzige einen Rückgang der Sterblichkeitsrate aufzeigen können. Es müssen, so Jefferson, zwischen 33 und 99 Erwachsene geimpft werden, um einen einzigen Grippefall verhindern zu können.

Die USA würden die Grippeimpfung ab sechs Monaten empfehlen, um dadurch die Grosseltern schützen zu können, quasi aus Solidarität, verteidigt Fischer das Vorgehen. Auf den Grund dieser für ihn zwar diskutablen Strategie hätte man hinweisen müssen.

Wirkverstärker 

Um die Wirkung zu verstärken werden Impfstoffen Substanzen wie Aluminium und früher sogar Quecksilber in geringen Mengen beigefügt. Unmittelbare Folgen entdeckten Romain Gherardi und andere Kollegen in Bordeaux in den 1990er-Jahren bei einer Muskelentnahme im Schulterbereich. Entzündliche Stellen enthielten bestimmte Immunzellen (Makrophagen) mit Aluminiumhydroxidkristallen (55:47). Der Nachweis ergab, dass sie von Impfungen stammten, welche die Patienten viele Jahre zuvor erhielten. Damals galt es als sicher, dass sich diese Aluminiumkristalle auflösen würden. Die Annahme beruhte auf einer Studie von 1967 an zwei Kaninchen, die ergab, dass die Kaninchen innert 28 Tagen 5 Prozent des Aluminiums ausscheiden. Es wurde einfach gefolgert, dass es mit der Zeit ganz ausgeschieden wird. Alle weiteren Untersuchungen zum Verhalten dieses Wirkverstärkers waren mathematische Modelle, die auf der Studie der beiden Kaninchen beruhten.

Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die eingeblendete Szene eines Impfausschusses von 2018, in der die USA-Gesundheitsbehörde CDC den neuen Impfstoff Hepslisav-B präsentierte (1:00:35). Gefragt, ob es angesichts der Anzahl neuer Wirkverstärker Bedenken wegen Wechselwirkungen mit den Zusatzstoffen anderer Impfungen gäbe, lautet die offizielle Antwort von Dr. Shelly: «Wir verfügen über keine Daten, um eine Empfehlung in irgendeiner Weise auszusprechen.» Deshalb werde angeraten, dass Impfungen die gleichzeitig gespritzt werden, auf verschiede Gliedmassen verteilt werden (1:01:19). Die grosse Frage, so Gherardi, die nie gestellt werde, sei jene, wie sich die Mehrfachimpfung auswirke.

Die von Gherardi festgestellten eingelagerten Aluminiumkristalle im Muskelgewebe seien noch nie in Kindern, den Hauptempfängern der damit verstärkten Impfstoffen, festgestellt worden, hält Fischer dagegen. Milliarden Menschen seien so geimpft worden ohne Schäden davon zu tragen. Der möglicherweise unvorteilhafte Einfluss unterschiedlicher Wirkverstärker, sogenannter Adjuvantien, bei Mehrfachimpfungen war weder Trono noch Fischer eine Bemerkung wert. Das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt für Kleinkinder ab dem 2. Monat die Impfung mit dem Kombinationsimpfstoff gegen Diphtherie, Starrkrampf, Keuchhusten, ferner die Impfstoffe gegen Kinderlähmung, gegen bakterielle Hirnhaut- und Kehlkopfentzündung, gegen Hepatitis B und gegen Pneumokokken. Weitere Dosen werden Kindern im Alter von 4 und 12 Monaten empfohlen. Dazu kommt der Kombinationsimpfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln in zwei Dosen im Alter von 9 und 12 Monaten, also Impfungen gegen insgesamt zehn Krankheiten.

Einfluss auf das Immunsystem 

Zum Abschluss stellt die Arte-Doku die Frage, inwieweit die Impfung Einfluss auf das Immunsystem nimmt und inwiefern sich dadurch auch das Mikrobiom im Darm verändert, das im Ileum – einem Teil des Dünndarms – mittels Bakterien und Viren über 90 Prozent der Antikörper für die Immunabwehr produziert. So stellt Poland in diesem Zusammenhang die Frage, wie viele Impfstoffe der Mensch in seinem Leben überhaupt verkraften kann (1:04:20). Der Immunologe Mark Davis erklärt anhand des Cytomegalovirus, dass Bakterien und Viren sogar sehr nützliche Mikroorganismen seien (1:06:00). Dieses Herpes-Virus, das bei immungeschwächten Personen schlimmstenfalls Hirnhautentzündung hervorrufen kann, wurde bei 16 Zwillingspaaren auf seine Wirkung hin untersucht. Dabei war der eine Zwilling infiziert, der andere nicht. Die Infizierten bildeten viel mehr Antikörper gegen Grippe als die Nicht-Infizierten.

Die Erkenntnis, dass Milliarden von Mikroorganismen in und auf unserem Körper leben und in Wechselwirkung mit ihm stehen, mache ein Umdenken nötig bei der rigorosen Bekämpfung von Viren und Bakterien. In diesem Zusammenhang weist Immunologe Gérard Eberl vom Institut Pasteur auf die Korrelation hin, dass ansteckende Krankheiten wie Masern inzwischen unter Kontrolle gebracht worden seien. Allerdings sei es parallel zum enormen Rückgang dieser Infektionskrankheiten zu einem Anstieg von entzündlichen Erkrankungen wie Autoimmunerkrankungen oder Diabetes gekommen (1:10:40). Das führte zur Theorie, dass entzündliche Krankheiten in dem Masse zunehmen, als der Infektionsdruck durch Krankheitserreger nachlässt. Poland postuliert, dass Infektionskrankheiten deshalb eine entscheidende Rolle für unser Immunsystem spielen (1:12:30). Welche Faktoren die Zunahme von Autoimmunkrankheiten und Allergien auslösen, ob es die Ernährung ist, die Impfstoffe, die Kombination bestimmter Medikamente oder alle Faktoren zusammen, müsse noch erforscht werden.

Personalisierter Impfstoff: 

Ein personalisierter Impfstoff könnte anhand eines individuellen Immunprofils entwickelt werden. Dieses Profil, das sich in den Human Leukozyt Antigenen (HLA) wiederspiegelt  – für deren Entdeckung Jean Dausset 1980 den Nobelpreis erhielt – könnte den Hinweis geben. Unter dem Begriff «Vaccinomics» hat Poland 2011 ein solches Vorgehen zur Diskussion gestellt. Demzufolge sollte man zunächst feststellen, wie eine Person auf einen Impfstoff reagiert (1:17:46). Ob sie überhaupt anfällig für eine Krankheit sei, oder nur einen milden Verlauf durchmachen würde. In seiner Überlegung erhält Poland Unterstützung von Ursula Wiedermann, die sich für einen Paradigmenwechsel ausspricht (1:18:33). Parallel zu Impfprogrammen mit der Zielsetzung einer Herdenimmunität sollten Impfungen nicht mit dem Giesskannensystem eingesetzt werden. Denn es gebe Bevölkerungsgruppen wie die Senioren, die adipösen Kinder oder chronisch Kranke, die anders geimpft werden müssten. Das Dogma «one shot fits all» stimme nicht mehr.

In Bezug auf diesen Vorschlag, basierend auf dem HLA-System entgegnet Fischer, dass es wohl individuelle Reaktionen gegen Impfungen gebe, doch diese Faktoren seien sehr komplex und mit dem heutigen Wissen nicht messbar. Personalisierte Empfehlungen gebe es schon heute. Etwa dass Impfungen gegen die Grippe oder gegen Gürtelrose nur für ältere Personen empfohlen werden, oder jene gegen Keuchhusten nur für Eltern mit Neugeborenen, damit diese geschützt sind.

___________________

Die ARTE-Sendung im Original auf Französisch hier.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

© Das Weiterverbreiten sämtlicher auf dem gemeinnützigen Portal www.infosperber.ch enthaltenen Texte ist ohne Kostenfolge erlaubt, sofern die Texte integral ohne Kürzung und mit Quellenangaben (Autor und «Infosperber») verbreitet werden. Die SSUI kann das Abgelten eines Nutzungsrechts verlangen.

Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —   Impfung gegen COVID-19 in einem Impfzentrum

Abgelegt unter Gesundheitspolitik, International, Kultur, Mensch, Umwelt | Keine Kommentare »

Das Elend unserer Flüsse

Erstellt von Redaktion am 16. November 2022

Vertieft, vertrocknet, vergiftet

Von Nick Reimer

Wer derzeit in Frankfurt an der Oder über die Promenade schlendert, sieht Bagger auf der polnischen Seite arbeiten. Sie bauen Steinwälle, sogenannte Buhnen, die in den Fluss ragen. Mit den Bauwerken sollen die Wassermassen in die Flussmitte umgeleitet werden, damit sich dort die Fließgeschwindigkeit erhöht und sich die Oder tiefer in ihr Bett eingräbt. Ziel ist eine Wassertiefe von 1,80 Meter, die die Flussschifffahrt praktisch im ganzen Jahr ermöglichen soll. Denn Polen hat Großes vor mit dem Grenzfluss, und dafür muss die Fahrrinne der Oder für Binnenschiffe vertieft werden.

Das Nachbarland plant in Świnoujście (Swinemünde) an der Ostsee einen riesigen neuen Containerhafen, der wenige Kilometer hinter der deutsch-polnischen Grenze jährlich zwei Mio. Standardcontainer umschlagen soll. Die Stadt Świnoujście liegt auf der Insel Usedom, das Container-Terminal soll auf der gegenüberliegenden Swina-Seite gebaut werden, dort, wo es bereits eine Hafenanlage für Flüssigerdgas gibt, ein sogenanntes LNG-Terminal. Und weil die zwei Mio. Container irgendwie ins Landesinnere geschafft werden müssen, funktioniert der Plan nur, wenn die Ware auch über die Oder verschifft werden kann.

Aber das ist nur der kleine Teil des Plans für die Oder. Der größere ist die „Oder-Elbe-Donau-Wasserstraße“, die einen Weg von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer eröffnen soll. Grundlage ist ein Staatsvertrag zwischen Tschechien und Polen, auch Ungarn ist mit an Bord. Das tschechische Verkehrsministerium legte Ende 2018 eine Machbarkeitsstudie vor, nach der das Gesamtprojekt fast 600 Mrd. Kronen (22 Mrd. Euro) kostet. Ende 2020 stellte die Regierung des damaligen Premierministers Andrej Babiš die ersten 15 Mrd. Kronen (550 Mio. Euro) zur Verfügung, mit denen der tschechische Teil der Oder von Ostrava bis zur polnischen Grenze hin schiffbar gemacht werden soll.

Die Elbe ist in Tschechien bereits bis Ústí nad Labem mit Staustufen kanalisiert, riesige Doppelschleusen garantieren, dass vier Schubverbände gleichzeitig angehoben oder abgesenkt werden können. Bei Děčín soll nun eine neue Schleuse gebaut werden, die Umweltverträglichkeitsprüfung ist bereits abgeschlossen. Aber dahinter ist Schluss, auf deutscher Seite ist die Elbe noch nicht so stark zum Kanal reguliert. Im Gegenteil: In Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern sind die Elbauen ein solch einzigartiges Landschaftsbiotop, dass sie als Biosphärenreservat unter Schutz gestellt wurden. Die tschechische Flussschifffahrt kommt allerdings immer häufiger zum Erliegen, denn die Elbe hatte auch in diesem Sommer wieder so wenig Wasser, dass im Unterlauf sogar die Autofähren eingestellt werden mussten.

In ihrem aktuellen Zustand ist auf der Elbe Schifffahrt selten länger als sechs Monate möglich. Deshalb verhandelt Tschechien mit Deutschland über ein neues Abkommen, um die Schiffbarkeit der Elbe zu verbessern. Zwar stimmt es, dass eine auf dem Fluss transportierte Tonne Fracht weniger Kohlendioxid verursacht, als wenn diese auf der Straße transportiert würde. „In der Gesamtbetrachtung schneidet die Wasserstraße aber schlechter ab, wenn sie dafür ausgebaut werden muss“, sagte Steffi Lemke, als sie noch nicht Bundesumweltministerin war, sondern grüne Bundestagsabgeordnete aus Sachsen-Anhalt und Mitglied der Parlamentariergruppe „frei fließende Flüsse“. In dieser haben sich Abgeordnete von Union, SPD, Linkspartei, FDP und Grünen zusammengeschlossen, um parteiübergreifend gegen den Flussausbau zu agieren. Denn auch Deutschland investiert etwa in den Donau-Ausbau, insgesamt mehr als eine Mrd. Euro. Noch ist die Donau hinter Straubing auf etwa 70 Kilometern nicht in ein genormtes Korsett gezwängt, es gibt Überschwemmungsflächen, Altarme und fast natürliche Ufer. Doch um die Schifffahrtsverhältnisse zu verbessern, werden seit 2020 zwischen Straubing und Vilshofen Buhnen in den Fluss gebaut, Ufer befestigt, die Sohle ausgebaggert.

Auch die Elbe darf nicht bleiben, wie sie ist, zumindest nicht dort, wo die Deutschen einen ökonomischen Nutzen aus ihr ziehen. Rund um Hamburg wird die Elbe regelmäßig ausgebaggert. Damit die immer größeren Containerschiffe den Hamburger Hafen erreichen können, wird der Fluss eben angepasst. Die jüngste – mittlerweile neunte – Vertiefung wurde Anfang 2022 beendet, Kostenpunkt: rund 800 Mio. Euro. Seit Januar sollen nun Schiffe mit 13,50 Meter Tiefgang auf dem 130 Kilometer langen Elbabschnitt fahren können.

Umweltpolitiker wie der niedersächsische Grüne Stefan Wenzel hatten vor der letzten Elbvertiefung gewarnt, der Mündungstrichter werde verschlicken. Viele Elbfischer hätten wichtige Fanggründe verloren, der Stint, einst wichtigster Fisch, sei im Naturschutzgebiet Elbe und den Inseln nahezu verschwunden. „Die gesamte Be- und Entwässerung des Marschlandes, insbesondere des Obstanbaugebietes ‚Altes Land‘ ist in Gefahr“, so Wenzel. Tatsächlich verschlickt jetzt sogar die Fahrrinne, Baggerschiffe, die dafür sorgen sollen, dass sie mindestens 13,50 Meter tief ist, kommen kaum noch hinterher.

Die Grenze des Machbaren ist überschritten

Baggern, Normen, Stauen – seit jeher hat sich der Mensch die Flüsse zunutze gemacht. Doch jetzt müssen wir erkennen: Die Grenze des Machbaren ist überschritten. Biotope versagen ihren Dienst als Wasserspeicher, Grundwasserleiter trocknen aus, Trinkwasser wird knapp, Lieferketten unterbrechen, weil die Flüsse nicht mehr schiffbar sind. Im Juli 2019 betrug der Elbpegel in Magdeburg nur noch 45 Zentimeter. Am 18. August dieses Jahres fiel der Pegel des Rheins in Emmerich gar auf minus drei Zentimeter, ein neuer Negativrekord. Dass hier auf dem Niederrhein überhaupt noch Schiffe fahren konnten, lag lediglich daran, dass die Fahrrinne immer weiter ausgebaggert worden war.

Die Erderhitzung hat unser gemäßigtes Klima bereits so stark verändert, dass Extremwetter immer häufiger werden und ganze Täler unbewohnbar machen: Simbach am Inn in Niederbayern wurde im Sommer 2016 von einem sogenannten tausendjährigen Hochwasser plattgewalzt, 2017 traf es Goslar im Harz, 2018 erwischte es zuerst das Vogtland, dann Orte in der Eifel. 2019 waren Kaufungen nahe Kassel an der Reihe oder Leißling nördlich von Naumburg an der Saale, 2020 dann das fränkische Herzogenaurach oder Mühlhausen in Thüringen. 2021 folgte das Ahrtal, die Orte an der Erft, an Rur und Ruhr.

Auf der anderen Seite führt zu wenig Wasser zu existenziellen Problemen: Zwei Drittel des Berliner Trinkwassers werden aus Uferfiltrat der Spree gewonnen. Deshalb – so ein Vertrag zwischen Berlin und Brandenburg – sollen mindestens acht Kubikmeter Wasser je Sekunde über die Landesgrenze fließen. Wie aber kann das gelingen, wenn am Pegel Leibsch im Unterspreewald nicht einmal mehr ein halber Kubikmeter Wasser fließt – wie in den Trockenjahren 2018, 2019 oder 2022? Mittlerweile gibt es Pläne, eine Rohrleitung an die Ostsee zu verlegen und das schnell wachsende Berlin mit einer Meerwasser-Entsalzungsanlage zu versorgen.

Gold Alge, Quecksilber, Chemikalien: Das Fischsterben in der Oder

Quelle         ;       Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben      —     Sandstrand am Rheinufer in Köln während der Trockenheit im August 2018

Abgelegt unter Europa, Kriminelles, Medien, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Träume und Schäume

Erstellt von Redaktion am 15. November 2022

Illusion grünes Wachstum

Ein Debattenbeitrag von Ulrike Herrmann

Ökoenergie wird nicht reichen, um unser Wirtschaftsmodell zu erhalten – Verschwendung ist keine Option mehr. Auch E-Autos wiegen ein bis zwei Tonnen und befördern im Durchschnitt nur 1,3 Insassen – das ist ineffizient. Eine Entgegnung auf Malte Kreutzfeldt. 

Die Energiewende ist angeblich ganz einfach. Man muss nur E-Autos bestellen, die Häuser dämmen und Wärmepumpen einbauen – und schon ist das Klima gerettet. So sieht es jedenfalls sinngemäß unser ehemaliger taz-Kollege Malte Kreutzfeldt, der daher glaubt, dass das „grüne Wachstum“ eine reale Option sei (taz vom 11. 11. 22).

Natürlich wäre es schön, wenn wir unser Leben nicht ändern müssten, sofern wir nur genug Windräder und Solarpaneele installieren. Doch leider ist es eine Illusion, dass der Ökostrom reichen könnte, um ewiges Wachstum zu befeuern.

Indirekt gibt Malte sogar selbst zu, dass er einem Traum anhängt. Denn es fällt auf, dass große Teile der Wirtschaft bei ihm fehlen. Er schreibt über E-Autos, aber nicht über Lkws, Schiffe oder Flugzeuge, die mit Batterien nicht zu betreiben sind. Sie würden synthetische Kraftstoffe benötigen, die nur mit enormen Mengen an Ökostrom herzustellen sind. Malte freut sich über Wärmepumpen, verschweigt aber, dass Neubauten künftig unterbleiben müssen, weil sie Flächen versiegeln und Zement große Mengen an Treibhausgasen erzeugt. Auch zur Industrie sagt Malte nichts, als würden Waren ohne Energie entstehen. Nur die Stahl- und Chemiebranchen streift er kurz, ohne jedoch näher auszuführen, wie immens der Bedarf an Öko-Energie wäre: Allein die Chemieindustrie würde 685 Terawattstunden Strom im Jahr benötigen, wenn sie klimaneutral produzieren soll. Das ist weit mehr, als heute ganz Deutschland an Strom verbraucht.

Malte tut so, als würde die Wirtschaft nur aus Konsumenten bestehen, die sich Wärmepumpen und E-Autos anschaffen. Aber selbst dabei vereinfacht er. E-Autos tanken ja nicht einfach Strom, sondern benötigen große Batterien, die wiederum Energie und Rohstoffe fressen. E-Autos sind zwar klimaneutraler als Diesel- oder Benzinmotoren – aber nicht klimaneutral.

Beim Tunnelblick auf die Antriebsarten wird übersehen, wie ineffizient Autos grundsätzlich sind. Auch E-Autos wiegen ein bis zwei Tonnen und befördern im Durchschnitt nur 1,3 Insassen. Diese Verschwendung wird nicht möglich sein, wenn nur noch Öko-Energie zur Verfügung steht. Alle Klimastudien sind sich daher einig, dass die Zahl der Autos sinken muss. Während heute fast 50 Millionen Pkws durch die Bundesrepublik kurven, sollen es künftig maximal 30 Millionen sein. Dies wäre nicht das Ende der Mobilität. Man kann ja auch Bus fahren – oder sich ein Auto teilen.

Aber es wäre nicht mehr „grünes Wachstum“, sondern „grünes Schrumpfen“, wenn die Pkw-Flotte um 40 Prozent abnehmen soll. Viele Beschäftigte würden ihren Arbeitsplatz verlieren, denn derzeit sind hierzulande etwa 1,75 Millionen direkt oder indirekt für die Automobilindustrie tätig. Man kann die Frage auch anders stellen: Was soll aus Baden-Württemberg werden?

Natürlich entstehen neue Arbeitsplätze, wenn die Wirtschaft klimaneutral werden soll. Windräder installieren sich nicht von selbst, und auch die ökologische Landwirtschaft benötigt mehr Menschen als der heutige industrielle Anbau, der mit seinen Riesenmaschinen den Boden zerstört. Aber diesen Gesamtumbau der Wirtschaft darf man nicht trivialisieren, indem man sich nur auf E-Autos und Wärmepumpen konzentriert.

Es sind die Bürger welche für die Unfähigkeiten der Politiker-innen die Preise zahlen !

Die Energiewende wird zudem erschwert, weil der Solarstrom im Winter weitgehend ausfällt. Auch beim Wind kann es zu Flauten kommen. Ein Blackout muss jedoch unbedingt vermieden werden: Eine Stunde Stromausfall kostet die deutsche Wirtschaft derzeit eine Milliarde Euro.

Die Energiewende kann daher nur funktionieren, wenn gigantische Mengen an Strom gespeichert werden, um im Winter und bei Flauten zur Verfügung zu stehen. Auch dieses Thema kommt bei Malte nur am Rande vor. Lapidar stellt er fest, dass Batterien billiger werden. Aber das macht sie noch nicht billig. IT-Milliardär Bill Gates hat kürzlich vorgerechnet, wie viele Speicher nötig wären, um Tokio auch nur drei Tage lang mit Energie zu versorgen: „Es wären über 14 Millionen Batterien. Das ist mehr Speicherkapazität, als die ganze Welt in einem Jahrzehnt herstellt. Kaufpreis: 400 Milliarden Dollar … Und das wären nur die Anschaffungskosten. Andere Ausgaben wie Installierung und Wartung wären noch gar nicht eingerechnet.“

Zudem eignen sich Batterien nur, um kurzfristige Engpässe zu überbrücken. Die saisonalen Unterschiede zwischen Sommer und Winter lassen sich damit nicht ausgleichen. Daher wird an „grünem Wasserstoff“ geforscht, der im Sommer aus überschüssigem Solarstrom entstehen soll. Technisch ist Elektrolyse möglich, aber noch sehr teuer. Zudem geht unterwegs sehr viel Energie verloren, weil die Wirkungsgrade beim Wasserstoff so niedrig sind.

Quelle       :           TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben      —     Karikatur von Gerhard Mester zum Thema Energiespeicherung und erneuerbare Energien – Text:Mehr Solarenergie!! /Mehr Windenergie! / („dark flauts“) /Mehr Energiespeicher! –„Dunkelflaute“: „Dunkelflaute“ sind Zeiten, in denen Solar- und Windstrom nicht verfügbar ist.

Abgelegt unter Debatte, Energiepolitik, International, Regierung, Umwelt | Keine Kommentare »

Die Long Covid Folgen

Erstellt von Redaktion am 13. November 2022

Das Kind muss an die frische Luft

Covid-19 SP - UTI V. Nova Cachoeirinha.jpg

Von Birte Müller

Als die Tochter unserer Autorin an Long Covid erkrankt, beginnt für die Familie eine Zeit voller Schmerz und Verzweiflung, Liebe und Hilfsbereitschaft. Wie aus dem „Wurm“ wieder Olivia wurde.

Die Sonne scheint. Die Frösche quaken am Teich. Es ist ein wunderschöner Tag im Mai. Einer, an dem man einfach nur draußen sein möchte. Doch wir sind drinnen, die Vorhänge und Fenster geschlossen. Meine Tochter Olivia liegt im Bett. Seit Monaten. Sie kann nicht aufstehen, nicht mal sitzen oder den Kopf heben. Es ist, als würde eine unsichtbare, tonnenschwere Last sie erdrücken. „Ich bin kein richtiger Mensch mehr“, sagt sie. „Ich bin nur noch ein Wurm.“ Sie ist 13 Jahre alt und an Long Covid erkrankt.

Ich habe keine Worte für den Schmerz, meine Tochter so leiden zu sehen, und noch weniger für meine Fassungslosigkeit darüber, dass sich in unserem Gesundheitssystem niemand verantwortlich fühlt, niemand bereit ist, ihr zu helfen. Das Kind soll einfach daliegen, tatsächlich wie ein Wurm. Und ich als Mutter soll keinen Stress machen, denn Stress schadet ihr.

Die Pandemiezeit war eine Herausforderung für mich und meine Familie. Olivias 15-jähriger Bruder Willi ist schwer geistig behindert, und als im Lockdown alle Hilfen wegfielen, wurde unser Alltag zur Zerreißprobe. Aber Anfang des Jahres waren wir sicher, das Schlimmste sei überstanden, obwohl wir uns mit Corona ansteckten: Wir kannten niemanden, der einen schweren Verlauf hatte, wir waren alle geimpft und die Kinder gingen zu dem Zeitpunkt seit einem halben Jahr wieder ziemlich normal zur Schule.

Nie hätte ich gedacht, dass unser persönlicher Corona-Albtraum da erst anfängt. Ein halbes Jahr erleben wir eine unfassbare Zeit, voller Schmerz und Verzweiflung, aber auch voller Liebe und Hilfsbereitschaft. Und am Ende, wie ein Wunder, findet unsere Tochter zurück ins Leben.

Alles beginnt in der ersten Januarwoche, als meine Familie sich mit dem Coronavirus ansteckt. Um Olivia mache ich mir am wenigsten Sorgen. Ich bin vielmehr beunruhigt, wie wohl ihr Bruder und unsere Eltern durch die Infektion kommen: Sie kommen gut durch.

Zwei Wochen nachdem Willi das Virus aus seiner Förderschule mitgebracht hat, kann er auch schon wieder hingehen. Olivia ist nach mehreren Tagen mit hohem Fieber noch zu groggy. Sie übt lustlos mit mir ein paar Englischvokabeln, chillt im Bett und schaut Youtube. Ich rechne fest damit, dass es ihr bald besser geht.

Aber es geht nicht besser, im Gegenteil. Die Party zum 13. Geburtstag fällt aus. Die geschenkten Lammfellstiefel bleiben unbenutzt auf dem Flur, und das neue 1.500er-„Harry Potter“-Puzzle müssen wir auf dem Boden machen. Auf einem Stuhl sitzen ist für Olivia zu anstrengend.

Der Kinderarzt beruhigt uns: „Das ist normal, Jugendliche benötigten oft viele Wochen, um sich von der Infektion zu erholen.“ Genervt denke ich an meine aufgeschobene Arbeit.

Ich besorge Vitamin D, eine Freundin bringt Proteinpulver, mein Mann Matthias presst frische Säfte. Draußen regnet es. Olivia verbringt viel Zeit auf dem Boden neben meinem Computer, während ich versuche zu arbeiten. Sie bastelt und hört Hörbücher: „Robinson Crusoe“, „Moby Dick“, je länger, desto besser. Zwischendurch spielen wir. Doch die Kalahasteinchen erscheinen Olivia plötzlich schwer, das Backgammonbrett riesig. Immer öfter krabbelt sie zurück in ihren Deckenhaufen, um sich auszuruhen.

Auch die zwei Treppen bis in mein Arbeitszimmer kann sie bald nur noch auf allen vieren bewältigen. „Ich bin so fertig!“, sind ihre häufigsten Worte. Nachmittags kümmere ich mich um Willi. Er findet es super, dass seine kleine Schwester jetzt so viel im Bett liegt, bereit zum Kuscheln. Nur, dass sie nicht mehr zu ihm ins Zimmer zum Murmeln kommen kann, findet er blöd.

Immer wieder spreche ich davon, dass wir an die frische Luft gehen sollten und dass Olivia nächste Woche hoffentlich ein paar Stunden zur Schule könne. Immer wieder antwortet sie, das sei alles viel zu anstrengend. Ich kann mir das nicht vorstellen. Ich bin ungeduldig.

Olivia erzählt von Albträumen, in denen ich sie zur Schule zwinge, wo sie sitzt und sich nicht bewegen kann. Der Kinderarzt nimmt Blut ab und sagt, ich müsse mir keine Sorgen machen, alles sei in Ordnung. Aber ich mache mir Sorgen, denn ganz offensichtlich ist nicht alles in Ordnung.

Es wäre mir lieber gewesen, man hätte etwas im Blut gefunden, das mir erklärte, warum mein Kind immer schwächer wird – so etwas wie Eisenmangel, wo es nur ein paar Tabletten braucht.

„Ich funktioniere einfach nicht mehr“, weint mein Kind

Im ersten Jahr der Pandemie, als es das Wort Long Covid noch nicht gab, hörte ich im Radio, dass sich in Schweden einige Kinder ohne Vorerkrankungen selbst nach leichten Infektionen nicht erholten. Ich fragte mich damals, ob es wohl eine Nachricht wert gewesen wäre, wenn das Problem nur kranke und behinderte Kinder betroffen hätte.Auch ich stelle im Verlauf von Olivias Erkrankung fest, dass ihre gesundheitlichen Probleme deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommen, wenn ich berichte, dass wir sonst 70 Kilometer im Monat zusammen joggen, dass Olivia noch im Sommer mit ihren Pfadfinderinnen drei Wochen durch den Wald gewandert ist.

„Ich funktioniere einfach nicht mehr“, weint mein Kind nun häufig. Sie ist ratlos über das, was mit ihrem Körper passiert.

Meine Befürchtung, Olivia könne Long Covid haben, wächst täglich. Aber ich spreche das Wort nicht aus. Als wäre es ein schlechtes Omen. Nur mit dem Kinderarzt würde ich gerne darüber reden, doch er wimmelt uns ab. Nach zwei Monaten höre ich auf zu arbeiten und beginne stattdessen zu googeln. Ich finde Artikel, in denen Ärzte Long Covid bei Kindern entweder als überschätztes Problem bezeichnen oder mutmaßen, dass es das gar nicht gibt.

Eltern, die sich in Facebook-Gruppen über Long Covid austauschen, erzählen etwas ganz anderes. Viele der dort beschriebenen Kinder gingen seit über einem Jahr nicht zur Schule, würden im Rollstuhl geschoben und verbrächten die Tage allein im Bett. Ich lese von schweren Konzentrations- und Schlafstörungen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit, Muskelschwäche und -zuckungen, Lähmungen, Schwindel und immer wieder von starken Schmerzen und extremer Erschöpfung. Die meisten sind nach der Infektion, einige nach der Impfung erkrankt. Selbst die leicht Betroffenen sind weit entfernt von einer normalen Kindheit. Über Rehas oder Aufenthalte in psychosomatischen Kliniken erfahre ich, dass die Kinder kränker nach Hause kommen, als sie hingefahren sind.

„Pacing“ ist das Gegenteil von Kindsein

Über die Selbsthilfegruppen erhalte ich so viele, oft widersprüchliche, Informationen, dass ich überhaupt nicht mehr weiterweiß. Doch in einem Punkt sind sich alle einig: Das Wichtigste für die Erkrankten ist „Pacing“. Als ich das Wort google, habe ich die Hoffnung, es sei eine handfeste, medizinische Therapie. Aber es bedeutet nur, niemals mit den Kräften an die Grenze der eigenen Belastbarkeit zu gehen, sondern immer darunter zu bleiben. Das Gegenteil vom Kindsein.

Aber mir leuchtet ein, warum Pacing sein muss. Wann immer Olivia sich nur etwas zu sehr anstrengt, verschlechtert sich ihr Zustand. Ein sogenannter Crash.

Wir wechseln zu Willis Kinderärztin. Auch wenn sie, außer Globuli in Betracht zu ziehen, nichts tun kann, nimmt sie die Sache ernst, rät ebenfalls zur Schonung und überweist uns zu einem Herzecho, um eine Herzmuskelentzündung auszuschließen.

Ich höre auf, Olivia spanische Personalpronomen abzufragen oder zu versuchen, sie an die frische Luft zu zerren. Viele Stunden Häkeln, Puzzeln, SkipBo und zwei Staffeln argentinische Teenie-Telenovela später – für die Olivia im Leben vorher nie Zeit gehabt hätte – haben wir endlich das Gefühl, dass es langsam bergauf geht.

Doch nur ein einziger sonniger Nachmittag, an dem zum ersten Mal Schulfreundinnen kommen und Olivia im Bollerwagen durch die Siedlung ziehen, macht alles kaputt. Am Abend sagt Olivia, es sei der schönste Tag ihres Lebens gewesen. Am nächsten Morgen kann sie keinen einzigen Schritt mehr ohne Hilfe gehen, geschweige denn stehen.

Olivias Kopfschmerzen werden immer schlimmer. Ihr Herz rast selbst dann, wenn sie liegt, und gerät ständig aus dem Takt. Das macht ihr Angst – doch bis zu dem mühsam ergatterten Termin bei der Kardiologin sind es noch Wochen.

Ich fühle mich oft traurig, bin ungeduldig mit Matthias, und es fällt mir immer schwerer zu essen. Nicht mal der Kaffee schmeckt mehr.

Die Internetrecherche macht mir Angst. Ich lese, dass viele Eltern stark betroffener Kinder nicht von Post Covid oder Post Vac – also Long-Covid-Symptomen nach Impfung –, sondern von ME/CFS sprechen, dem Chronischen Fatigue-Syndrom, einer Erkrankung, die schon lange bekannt, aber weitestgehend unerforscht ist. Viele Erkrankte verbringen ihr Leben im Bett in abgedunkelten Zimmern. Nach jeglicher Aktivität verschlechtert sich der Zustand. ME/CFS tritt meist nach Virusinfektionen auf. Es gilt als nicht heilbar. Schon vor Corona litten daran über 250.000 Menschen in Deutschland – unterversorgt, psychologisiert, ignoriert. Sie nennen sich „lebende Tote“. Ich muss das verdrängen.

Als Olivia Fieber bekommt, verbringe ich die Nacht bei ihr im Bett, ich mag sie nicht mehr alleine lassen. Es ist Mitte März, nach 8.000 gepuzzelten Teilen und über zehn Meter Stricklieselband gehen wir das erste Mal ins Krankenhaus. Keiner von uns kann sich zu dem Zeitpunkt vorstellen, wie viele Krankenhausaufenthalte folgen werden und wie viele Monate es dauern wird, bis Olivia wieder in ihr Kinderzimmer und ich in unser Ehebett zurückkehre.

Ich gehe davon aus, dass mein Kind Long Covid hat und man ihm im Krankenhaus helfen wird. Aber es geht nie um Therapie, sondern nur um Ausschlussdiagnostik. Untersucht wird alles Erdenkliche, und wird nichts gefunden, ist die Diagnose entweder eine psychische Erkrankung oder Long Covid. Dauern die Symptome mehr als drei Monate an, spricht man von Post Covid, bei weiter anhaltenden schwerwiegenden Symptomen vom Chronischen Fatigue-Syndrom.

Viele Mechanismen dieser Erkrankungen sind bis jetzt unerforscht. Doch in mehreren medizinischen Pub­li­ka­tio­nen lese ich, dass es sich bei Post Covid um eine Autoimmunerkrankung handeln könnte. Im Blut der meisten Patienten finden sich bestimmte Autoantikörper, die körpereigene Strukturen angreifen. Aber im Krankenhaus scheint sich damit niemand auszukennen. Kann es sein, dass ich mehr weiß als die Ärzt:innen?

Bei einer der vielen Blutabnahmen traue ich mich, vorsichtig um die Bestimmung dieser Autoantikörper zu bitten. Die Ärztin lacht verächtlich. Mit den Worten: „Brauchen Sie Hilfe von uns oder wir von Ihnen?“, werde ich auf meinen Platz verwiesen.

Das Schlimmste im Krankenhaus ist die Belastung für Olivia. Sie baut weiter ab. Neben den anstrengenden Untersuchungen, den weiten Wegen und Wartezeiten herrscht eine ständige Unruhe. Weinende Kinder, telefonierende Eltern, piepsende Geräte, selbst nachts ein ewiges Rein und Raus, Wecken um 7 Uhr – Pacing unmöglich.

Weil auf Olivia nicht gehört wird, muss ich mein Kind vor unnötigem Stress schützen. Man sagt ihr: „Du musst keine Angst haben. Es ist nicht schlimm.“ Doch wer kann beurteilen, was für einen anderen schlimm ist? Wir erleben, dass körperliche Re­ak­tio­nen wie Herzrasen oder Schwindel, die sich mit den durchgeführten Untersuchungen nicht erklären lassen, als Angst­störung abgetan werden. Oft verzweifelt Olivia, weil man ihr nicht glaubt. Mich hält man für eine He­li­kop­ter­mut­ter.

Vor Olivias Erkrankung hatte ich mal gelesen, es sei schwierig, bei Kindern „Long Lockdown“ von Long ­Covid zu differenzieren, denn Symptome wie Kopfschmerzen oder Erschöpfung träfen auf beide Gruppen zu. Das leuchtete mir damals ein. Aber dass mein völlig gesundes und munteres Kind so viele Monate nach dem Lockdown jetzt zufällig ab dem Tag der Infektion psychisch krank geworden sein soll, ergibt keinen Sinn.

Als eine Krankenhauspsychologin kommt, denke ich, sie will uns helfen. So hatte ich es erlebt, als unser Sohn Willi nach seiner Geburt lange sehr krank gewesen war. Die Psychologin fragt mich, wie es mir geht. Es tut mir gut, endlich mit jemandem über meine Angst und Erschöpfung sprechen zu können. Doch als ihre Mimik am Ende des Gesprächs von verständnis- zu vorwurfsvoll wechselt, ist es wie ein Schlag in mein Gesicht: „Als Mutter müssen Sie das schützende Dach der Familie sein“, sagt sie, als wisse sie plötzlich, wer „schuld“ an der Erkrankung meiner Tochter ist. Eine einfache Rechnung: behinderter Bruder + heulende Mutter = psychosomatisch krankes Kind.

Dabei sind mein Mann und ich sehr wohl ein gutes Dach für unsere Familie – auch wenn es mit Willi oft sehr anstrengend ist. Mein jetziger Zustand ist nicht Auslöser von Olivias ­Erkrankung, er ist die Folge. Mir wird klar, dass ich hier gegen viel mehr als nur dieses scheiß Long Covid zu kämpfen habe. Ich nehme mir vor, nie wieder vor einer Krankenhauspsychologin zu weinen.

Bis heute frage ich mich, was gewesen wäre, wenn Olivia wirklich keine körperliche, sondern eine psychische Erkrankung gehabt hätte. Denn auch bis wir einen Psychotherapeuten finden würden, sollte mehr als ein halbes Jahr vergehen. Er arbeitet mit Olivia heute an den traumatischen Erfahrungen ihrer Erkrankung.

Wir hatten Olivia im Rollstuhl ins Krankenhaus gebracht und schieben sie eine Woche später liegend wieder nach Hause, ohne jegliches Behandlungskonzept. Ich kann das nicht glauben. Vielleicht sind die Ärztinnen genauso ratlos wie wir. Ich weiß es nicht, denn niemand spricht mit uns.

Aber wozu musste Olivia durch diese unvorstellbar belastende Diagnostik gehen – sogar Nervenwasser aus der Wirbelsäule wurde entnommen –, wenn die Diagnose Post Covid schlussendlich überhaupt keine therapeutische Konsequenz hat?

15 Jahre nach der Geburt meines ersten Kindes ist nun auch mein zweites ein Pflegefall. Der Toilettenstuhl, das Pflegebett und eine Matratze für mich kommen ins Wohnzimmer. Den Rollstuhl stellen wir nach oben in Olivias Zimmer, sie kann nicht mehr sitzen, nicht mal mehr den Kopf heben. Ihr verlassenes Zimmer gleicht bald einer Abstellkammer. Ich vermeide es, die Tür zu öffnen. Es schmerzt zu sehr.

Quelle        :           TAZ-online             >>>>>             weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben     —      Ein Team von Ärzten, Krankenschwestern und Physiotherapeuten kümmert sich um kritische Patienten mit COVID-19 auf der Intensivstation des Vila Nova Cachoeirinha Krankenhauses nördlich von São Paulo

****************************

Unten      —        Início da vacinação infantil com a Coronavac

Abgelegt unter Gesundheitspolitik, International, Sozialpolitik, Umwelt | Keine Kommentare »

Ein Lob für Unfähigkeit

Erstellt von Redaktion am 11. November 2022

Scheitern? Muss nicht sein

Hat nicht eine jede Person das Recht ein 50 jähriges Versagen der Politiker-innen schön zu schreiben ?

Ein Debattenbeitrag von Malte Kreutzfeldt

Die derzeitige Stimmung: Die Energiewende ist zu langsam, um die Klimakatastrophe noch aufzuhalten. Dabei gibt es Anlass für Optimismus.

Dass Klima-Aktivist*innen eher pessimistisch sind, wenn es darum geht, ob die Klimakrise noch gestoppt werden kann, liegt auf der Hand. Ihre Rolle ist es, die Politik mit Kritik vor sich herzutreiben. Und so mehren sich rund um die Klimakonferenz, die derzeit im ägyptischen Scharm al-Scheich stattfindet, die düsteren Szenarien. Doch der Pessimismus ist nicht auf die Klima- und Umweltbewegung beschränkt. Auch aus der Wissenschaft kommen laute Warnungen. So erklärte der Expertenrat für Klimafragen letzte Woche in einem Gutachten für die Bundesregierung: „Die bisherigen Emissions-Reduktionsraten reichen bei weitem nicht aus, um die Klimaschutzziele für 2030 zu erreichen – weder in der Summe noch in den einzelnen Sektoren.“ Und taz-Kollegin Ulrike Herrmann vertritt – in ihrem neuen Buch „Das Ende des Kapitalismus“ – die These, dass es ausgeschlossen sei, jemals genug Ökostrom zu erzeugen, um die Treibhaus­gas­emissionen auf null zu senken und gleichzeitig die Wirtschaftsleistung weiter zu steigern. Weil der Kapitalismus ohne Wachstum nicht funktioniere, lasse sich die Klimakrise darum nicht lösen, ohne ihn abzuschaffen.

Eine zentrale Grundlage für diesen Pessimismus ist die Aussage, dass Wind und Sonne – jene erneuerbaren Energien, die im Gegensatz zu Biomasse oder Wasserkraft praktisch unbegrenzt ausgebaut werden können und die darum in Zukunft den Großteil des Ökostroms liefern müssen – im Jahr 2020 gerade mal 7,7 Prozent des deutschen Endenergieverbrauchs geliefert haben. Da scheint der Weg zu 100 Prozent Erneuerbaren bis zum Jahr 2045 tatsächlich kaum zu schaffen.

Doch diese Zahl führt in die Irre. Denn für den Fortschritt der Energiewende ist der Endenergieverbrauch der falsche Maßstab. Er lässt den Bedarf größer erscheinen, als er in der Zukunft tatsächlich sein wird. Denn durch den Umstieg von fossilen Kraftstoffen auf Ökostrom sinkt der Endenergiebedarf im Verkehr und beim Heizen: Ein Liter Diesel hat einen Energiegehalt von etwa 10 Kilowattstunden. Damit kommt ein Wagen der Golf-Klasse etwa 17 Kilometer weit. Ein vergleichbar großes E-Auto fährt mit 10 Kilowattstunden Strom über 50 Kilometer. Durch den Umstieg auf Elektroautos, die mit Ökostrom angetrieben werden, sinkt der Bedarf an Endenergie um 70 Prozent.

Ähnlich sieht es beim Heizen aus: Bei Gas- und Ölheizungen geht ein Teil der Energie verloren; aus einer Kilowattstunde Energie im Brennstoff entsteht also immer weniger als eine Kilowattstunde Wärme in der Wohnung. Bei einer Wärmepumpe ist es umgekehrt: Sie entzieht der Umgebung Wärme und erzeugt dadurch aus einer Kilowattstunde Strom 3 bis 5 Kilowattstunden Wärme. Beim Umstieg von einer fossilen Heizung auf eine Wärmpumpe, die mit Ökostrom angetrieben wird, sinkt der Endenergiebedarf also auf ein Drittel bis ein Fünftel – ohne dass es in den Wohnungen kälter wird. Dazu kommt noch, dass jedes Jahr weitere 2 Prozent der Häuser gedämmt werden sollen, wodurch der Heizenergiebedarf sich meist mindestens halbiert. Auch wenn gleichzeitig der Wohnraum pro Person weiter steigen sollte, wird der Energiebedarf zum Heizen also stark sinken und die Umstellung auf Ökostrom damit viel einfacher als viele Rechnungen von Energiewende-Skeptiker*innen nahelegen – auch wenn man den gewaltigen Bedarf berücksichtigt, der etwa mit der Umstellung der Stahl- oder Chemiebranche auf klimaneutrale Produktion einhergeht.

Trotzdem kann man aber natürlich zu Recht die Frage stellen, ob die Energiewende schnell genug gelingen kann. Schließlich haben ja viele Medien gerade berichtet, dass der Expertenrat warnt, Deutschland werde seine selbst gesteckten Klimaziele für 2030 verfehlen. Was in der Berichterstattung ein wenig unterging, war aber die Bedingung, an die diese Aussage geknüpft war: Wenn die Emissionen weiterhin im gleichen Tempo sinken wie in den Jahren 2000 bis 2021. Doch dass die frühere Klimapolitik nicht ausreichend war, um Deutschland zumindest auf den 2-Grad-Pfad zu bringen, ist lange bekannt. Und genau aus diesem Grund hat die Ampelregierung ja nun vor, in den nächsten Jahren das Ausbautempo bei den Erneuerbaren zu vervierfachen, die Sanierungsrate bei Wohnhäusern zu verdoppeln, den Kohleausstieg vorzuziehen und ein schnelleres Ende des Verbrennungsmotors zu ermöglichen.

Quelle          :       TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben      —     Berliner Promenade beim Saarhochwasser im Januar/Februar 2021 in Saarbrücken

Abgelegt unter Deutschland_DE, Medien, Positionen, Regierung, Umwelt | Keine Kommentare »

Cirital Mass ist ……

Erstellt von Redaktion am 10. November 2022

Eine Aktionsform für die soziale und ökologische Bewegungen

Von Jimmy Bulanik

Voor :

Maya Mock

Mijn gelukwensen voor je toekomst.
www.youtube.com/watch?v=E06toRYKX6M

Die Inhalte der Klimabewegung mit ihren unterschiedlichen Strömungen wie Fridays For Future, Ende Gelände, Extinction Rebellion, Letzte Generation sind richtig. Sie sollten mit anderen sozialen Organisationen, welche sich ebenfalls für die Anhebung der Lebensqualität der Zivilgesellschaft einsetzen, wie Pro Bahn, Allgemein Deutscher Fahrrad Club, DGB, Verdi, VdK, Pro Asyl, Black Lives Matter ein Kartell bilden, dies wird zwangsläufig wirkungsvoll werden. Das bedarf über den Zusammenhalt hinaus, die anhaltende Dauer dessen.

Die Niedrigschwelligkeit an der Teilnahme von Critical Mass macht den Erfolg aus. Es bedarf lediglich des persönlichen guten Willens dazu. Mit einem verkehrssicherem Fahrrad, Fahrradhelm, Reflektoren an der Bekleidung, sowie Weste, Handgelenke, Knöchel. Dabei ist es möglich als Critical Mass in einer Stadt teilzunehmen, oder vor Ort selber solch eine Aktion zu organisieren.

Eine Solidarisierung von den Themen der Klimabewegung mit denen der sozialen Bewegungen mit ihren berechtigten Inhalten sind für alle eine Verstärkung. Durch die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum wird dies interessierte Einzelpersonen motivieren sich zu beteiligen. Was das Potential in der Wirklichkeit hat, sich zu einem erfolgreichen Selbstläufer zu entwickeln.

Alle Menschen, welche zu diesen Inhalten ihren MdL, MdB schreiben, werden ihren Erfolg erleben

Das Nutzen des mobilen Internets auf Smartphones ist ein Vorteil. Der Messenger Signal signal.org/de ist dabei gänzlich zu empfehlen. Mit dem Dienst Mastodon mastodon.social/explore kann sich öffentlich organisiert werden.

Es gibt sehr viel dadurch zu erreichen, indem die Menschen die Initiative in die eigene Hände nehmen und behalten. Alle können diesbezüglich mit ihrer Kommunikation in ihren Zirkeln andere Menschen motivieren. Die Zukunft wird das werden, was die gesamte Gesellschaft eigenständig gestaltet.

Es ist ratsam auf das Versammlungsrecht zu achten. Diesen Text sollten alle verwenden. Entsprechend Paragraph 6, Abs 1 VersG ist Personen, welche der rechtsextremen Szene und Organisationen angehören, der Zutritt zu dieser Veranstaltung zu verwehren, sie sind somit ausgeschlossen.

Nützlicher Link im Internet:

Critical Mass

criticalmass.in/calendar

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben      —       Fotoaktion des Aufstands der Letzten Generation vor dem Reichstag, Berlin, 02.07.2022

Abgelegt unter APO, Kultur, Medien, Positionen, Umwelt | 1 Kommentar »

Splitter im Auge

Erstellt von Redaktion am 10. November 2022

Den Splitter im fremden Auge, aber nicht den Balken im eigenen sehen

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

In unserem christlich geprägten Abendland sollte diese Rüge aus der Bergpredigt (Mtth:7,3) wohlbekannt sein und entsprechend Zurückhaltung bzw. kritische Überprüfung eigener Ansichten und Aussagen anmahnen.

Ein Blick in die Presse lässt uns aber über das Gegenteil erstaunen. Da grassiert z.Zt. die durch Fakten nicht belegte Behauptung, dass China in Europa illegale Polizeistationen betreibe (Splitter), während man geflissentlich übersieht, dass die USA bei uns und weltweit auf fremden Territorien über 700 völlig autarke Stützpunkte mit Militär und Polizei und bei uns sogar mit Atombomben und Kommandozentrale für Kriege weltweit betreiben (Balken). Solange aber nichts nachgewiesen ist, ist es nicht einmal ein Splitter, sondern nur eine ebenso böswillige wie dumme Lüge. Kein Staat der Neuzeit, außer Hitlerdeutschland, die USA und das imperiale England, hat bisher Polizeistationen im Ausland errichtet, auch China nicht.

Gerade in der heutigen Zeit der großen Umbrüche weltweit müssen wir zwar kritisch aber vor allem objektiv sein. Fehleinschätzungen oder gar böswillige Unterstellungen führen unweigerlich zu Eigentoren. Zur realen Einschätzung gehört dabei unbedingt der Respekt vor anderen Kulturen und Meinungen, selbst wenn man sich ihnen nicht anschließen kann. Das hat schon Voltaire so gesehen: “Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen“.

Aus materieller und geistiger Bequemlichkeit wollen viele Menschen, dass nur alles so bleibt wie es ist. Gleichwohl sollten wir spätestens seit Heraklit wissen, dass alles immer in Bewegung ist, sich stetig ändert, panta rhei. Und in einer eben solchen Zeit der Veränderungen leben wir jetzt, angestoßen insbesondere durch China. Dieses Land hat sich von einem der ärmsten Länder der Welt in nur 40 Jahren zur mittlerweile zweiten Wirtschaftsmacht entwickelt und ist darauf stolz und selbstbewusst geworden. Und selbstverständlich will China an der Gestaltung der Beziehungen rund um die Welt mitwirken. Um das richtig zu verstehen, braucht es Bildung und nicht Vorurteile, die nach Voltaire die Vernunft der Narren ist. China kann stolz auf seine Geschichte und Kultur sein. Dabei hat es noch nie einen Krieg ausserhalb seines Territoriums geführt und auch keine Polizeistationen im Ausland betrieben oder gar Kolonien ausgeplündert.

Wozu westliche Meinungssteuerung führen kann, sieht man am Beispiel Vietnamkrieg. Dieser verheerende Krieg ist nur aufgrund einer von den USA verbreiteten Lüge losgetreten worden. Wenn diese Art von Meinungsbildung mit schlimmen Folgen für andere nicht aufhört, wird der Westen die immer wieder stattfindenden Veränderungen wegen des Balkens im eigenen Auge nie richtig einordnen oder gar nutzen können. Ganz anders China: „Wenn der Wind der Erneuerung weht, dann bauen die einen Menschen Mauern und die anderen Windmühlen“.(Konfuzius)

Urheberrecht
Die unter www.scharf-links.de angebotenen Inhalte und Informationen stehen unter einer deutschen Creative Commons Lizenz. Diese Lizenz gestattet es jedem, zu ausschließlich nicht-kommerziellen Zwecken die Inhalte und Informationen von www.scharf-links.de zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Hierbei müssen die Autoren und die Quelle genannt werden. Urhebervermerke dürfen nicht verändert werden.  Einzelheiten zur Lizenz in allgemeinverständlicher Form finden sich auf der Seite von Creative Commons http://de.creativecommons.org/was-ist-cc

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben      —    Domenico FettiVom Splitter und vom Balken (um 1619, Metropolitan Museum of Art)

Abgelegt unter International, Kultur, Mensch, Religionen | Keine Kommentare »

Kolumne – Ethikrat

Erstellt von Redaktion am 10. November 2022

Vom richtigen Umgang mit der Scham

Eine Kolumne von Friederike Gräff

Um mit der Jugend ins Gespräch zu kommen, mag man es mit weißen Turnschuhen versuchen. Für den Ethikrat ist das auch eine Frage der Ästhetik.

Kürzlich ging ich im Nieselregen durch die Fußgängerzone, als ich auf den Ethikrat traf. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben.  Der Ratsvorsitzende stand auf einer Leiter und versuchte, ein großes weißes Pappteil auf zwei Pappsäulen zu stecken, die ihm die beiden anderen Ratsmitglieder entgegenhielten. „Guten Tag“, sagte ich, „bauen Sie einen Stand auf?“ „Wir bemühen uns hier um eine Nachempfindung der Agora“, sagte der Ratsvorsitzende.

„Nun“, sagte ich und betrachte die schwankenden Pappsäulen, „wenn man es weiß, erkennt man es unbedingt. Und wozu sind die Turnschuhe gut?“ Ich deutete auf ein Bündel lehmverkrusteter Schuhe, die zu Füßen der Agora lagen. „Wir suchen den Kontakt zur Jugend“, sagte der Ratsvorsitzende heiter. „Da lag es nahe, über ästhetische Fragen ins Gespräch zu kommen.“ Er deutete auf ein Pappschild, auf dem in krakeliger Schrift stand: „5 Wege zum megaweißen Schuhwerk“, auf einem Tisch daneben standen Zahnpastatuben, Puderdosen und Bürsten.

„Ich habe mich schon immer gefragt, wie die Leute ihre Turnschuhe so weiß hinbekommen“, sagte ich und sah zu, wie die beiden anderen Ratsmitglieder versuchten, weitere Säulen aufzurichten. „Sie sind herzlich eingeladen, unsere Gespräche zu verfolgen“, sagte der Ratsvorsitzende und wies auf einen Klappstuhl neben sich.

Es dämmerte, die Passanten gingen achtlos an der Agora vorüber. Die Ratsmitglieder rückten die Tische mit dem Reinigungswerkzeug nach vorne, aber niemand blieb stehen. Schließlich sagte ich, um irgendwas zu sagen: „Ob ich Ihnen noch eine Frage vorlegen könnte?“, und fuhr fort: „Kürzlich las ich bei Epiktet“ – mir war es gelungen, fünf Seiten in der S-Bahn durchzulesen –, „dass man sich nur um das kümmern solle, was in der eigenen Gewalt liegt. Und das täte das äußere Ansehen und die gesellschaftliche Position nicht.

Die Agora fiel in sich zusammen

Aber ist es nicht das Credo heutzutage, dass man sich das alles erarbeiten kann? Dass aus mir eine Großjournalistin hätte werden können, wenn ich härter an mir gearbeitet hätte …“ „Megaweißes Schuhwerk“, unterbrach mich eine meckernde Teenagerstimme. „Die sind ja total lost!“ Andere Teenagerstimmen kicherten und ich sah, wie ein sehr weißer Turnschuh einer der Säulen einen Tritt gab. Die Agora fiel in sich zusammen.

Es war sonderbar, auch das stoische Selbstvertrauen des Ethikrats schien heute instabil. Der Vorsitzende kauerte sich auf seinem Klappstuhl zusammen, die beiden anderen Ratsmitglieder drängten sich neben ihn.

„Ich muss den Ethikrat fragen“, dachte ich damals, „warum Scham stechender als Traurigkeit sein kann“

Quelle        :          TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen       :

Oben       —          Die Illustration zeigt zwei Bildrahmen: 1) Einen übergewichtigen Mann, der allein unter der ihn verbrennenden Sonne in einer wüsten Landschaft zwischen Tierknochen und ohne lebende Tiere oder Pflanzen sitzt 2) Ein Paradies mit vielen verschiedenen Tieren und Pflanzen, die in Harmonie mit Menschen leben Die Illustration wurde für eine Ausgabe eines Vegan-Magazins in Österreich gemacht, aber nicht verwendet. Sie zeigt die Probleme, die durch Tierausbeutung verursacht werden. Ergänzend steht am Bild: „Sie habend die Wahl … noch.“

*****************************

Unten          —         Linguistic statistic about the German sentence „Auge um Auge“

Abgelegt unter International, Kultur, Mensch, Umwelt | Keine Kommentare »

Polizeilicher Gewahrsam:

Erstellt von Redaktion am 9. November 2022

Klimaaktivisten ohne Gerichtsverfahren in Haft

Ja – das alles läuft in diesem Land unter einer Ampel Demokratie im Jahr 2022!  Eine Steigerung zur G-20 in Hamburg 2017 !

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        :     

Klimaaktivisten sollen in Bayern durch Präventivgewahrsam an ihren Blockaden gehindert werden. Das Polizeiaufgabengesetz, das eine solche Präventivhaft erlaubt, gehört reformiert. Denn niemand sollte wochen- oder gar monatelang ohne ein Gerichtsverfahren in Haft verschwinden, egal wie störend politische Aktionen auch sein mögen. Ein Kommentar.

Mehrere Menschen sollen in Bayern ohne Prozess für dreißig Tage einsitzen. Das teilte die Münchner Polizei am vergangenen Freitag mit: Zwölf Klimaaktivisten würden nach zwei Festklebeaktionen „vorbeugend“ eingesperrt, mindestens drei bleiben bis zum 2. Dezember in Haft. Die bayerische Polizei darf, ohne dass ein konkreter Tatverdacht vorliegt, zur Gefahrenabwehr eine Anordnung zu einem solchen Präventivgewahrsam erteilen.

Gesetzesgrundlage dafür ist das bayerische Polizeiaufgabengesetz (PAG). Die Novelle des Gesetzes im Jahr 2018 war hoch umstritten und von großen Demonstrationen begleitet.

Das härteste Polizeigesetz seit 1945 wurde dennoch rasch und geräuschlos im Mai 2018 durch den CSU-dominierten Landtag geschleust – nur fünf Tage nach einer Großdemonstration in München mit mehreren zehntausend Menschen. Heribert Prantl nannte den Polizeigewahrsam in der Süddeutschen Zeitung eine „Unendlichkeitshaft“, da das Gesetz anfangs vorsah, den Gewahrsam auf unbefristete Zeit verlängern zu können. Im geltenden Gesetz ist die Dauer dieser Vorbeugehaft auf zwei Monate begrenzt.

Die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag fordert unterdessen schon härtere Sanktionen gegen die Aktivisten: Haft- statt Geldstrafe soll es hageln, schon „wenn es durch die Blockaden im Berufsverkehr zu langen Staus kommt“. Eine solche Haft wäre jedoch im Rahmen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens zu verhängen – und gerade nicht wie bei der bayerischen Präventivhaft auf Zuruf der Polizei.

Ohne einen Anwalt

Personen in Bayern können nach Paragraph 17 PAG sogar in Präventivgewahrsam genommen werden, ohne dass ein Anwalt beigestellt wird. Damit ist ein Betroffener schlechter gestellt als jeder Verdächtige einer Straftat, dem selbstverständlich ein Rechtsbeistand zusteht.

Der bayerische CSU-Innenminister Joachim Hermann hatte zwar angekündigt, man plane dazu eine Korrektur im Gesetz. Konkret sagt er im Interview mit dem Merkur im Jahr 2019: „Wo immer eine längerfristige Gewahrsamnahme erfolgt, muss unmissverständlich ein Rechtsanwalt eingeschaltet werden.“ Doch selbst mit dieser rechtlichen Verbesserung: Am möglichen mehrwöchigen Vorbeugegewahrsam an sich würde sich dadurch nichts ändern.

Update: Seit einer Änderung des Paragraphen 97 PAG aus dem Jahr 2021 muss Betroffenen dann ein Anwalt gestellt werden, wenn der Gewahrsam über Mitternacht des Folgetages hinaus andauert.

Das PAG erlaubte schon seit 2017, dass sogenannte „Gefährder“ mehr als zwei Wochen ohne Gerichtsverfahren eingesperrt werden dürfen. Diese Präventivhaft wurde im ersten Jahr nach Inkrafttreten in elf Fällen länger als zwei Wochen angewendet, wie eine Prüfkommission berichtete. Zwischen zwei Wochen und zwei Monaten habe die Zeit der Ingewahrsamnahme dabei betragen.

Als „Gefährder“ wurden zumeist Asylbewerber stigmatisiert und weggesperrt. Sie haben bekanntlich keine Lobby, wenn sie wochen- oder gar monatelang ohne ein Gerichtsverfahren in Haft verschwinden. Entsprechend gering fiel daher auch die mediale Aufregung aus.

Die Ohnmacht der bayerischen Polizei

Ganz anders ist dies nun in dem aktuellen Fall der inhaftierten Klimaaktivisten, der heiß diskutiert wird. Da die „Klimakleber“ wegen eines tödlichen Unfalls in Berlin gerade ohnehin die Gemüter bewegen, wird nun ausnahmsweise bundesweit über die fragwürdige polizeiliche Präventivhaft berichtet.

Wer will von Oben Trüffel teilen, der muss schon Grunzen – Heimlich – Leise.

Eigentlich zeigt sich durch den Präventivgewahrsam nur die Ohnmacht der Polizei, die in Bayern mit 40.000 Polizeibeschäftigten zwar einen riesigen Apparat hat, aber mit Klimaaktivisten und ihren Blockaden nicht umzugehen weiß. Die Regeln macht sich die Polizei aber nicht selbst. Die eklatante Ignoranz gegenüber rechtsstaatlichen Standards muss dem Gesetzgeber ins Stammbuch geschrieben werden. Denn diese Standards sollten eigentlich selbstverständlich sein.

Ein gefährliches politisches Klima

Ja, die „Klimakleber“ stören, viele Menschen sind verärgert, wenn sie in als sinnlos empfundenen Staus stehen müssen. Aber deswegen dürfen nicht Maßnahmen gutgeheißen werden, die wir in anderen Ländern zu Recht als willkürlich brandmarken würden.

Ohne Protest und Druck für politische Anliegen kann es keine Veränderung geben. Ob man dieses Anliegen teilt oder nicht: Wie Protestierende behandelt werden, daran muss sich ein Rechtsstaat messen lassen. Vielleicht ist dieses politische Klima, das sich derzeit ausbreitet, mindestens ebenso gefährlich wie die Klimakatastrophe, vor der die Aktivisten warnen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

********************************************************

Grafikquellen      :

Oben     —   Letzte Generation Blockadeaktion Klimademo Karlsplatz Stachus München 2022-11-03

Abgelegt unter APO, Bayern, Deutschland_DE, Umwelt | Keine Kommentare »

Poetical – Correctness

Erstellt von Redaktion am 9. November 2022

Wie man in einem zivilisierten Land zu protestieren hat

Kolumne von Lin Hierse

Wir sind ein zivilisiertes Land, drum wird zivilisiert demonstriert! Bitte dankbar bleiben, gemäßigt – und niemanden während der Arbeitszeit stören!

Es gibt Regeln, und das geht jetzt wirklich zu weit. Protestieren, okay, Kritik äußern, ja, aber bitte höflich und respektvoll. Nicht zu laut werden hier, und was soll denn das mit dem Sekundenkleber? Und die Tomatensuppe! Der Kartoffelbrei! Die Erbsen! Das ist Lebensmittelverschwendung. Das ist Terror. Das trifft die Falschen. Das gehört sich einfach nicht. Und vor allem, und das ist das Allerschlimmste: Überzeugen wirst du damit niemanden.

Selbst Schuld also. Wenn die Polkappen schmelzen und der Meeresspiegel steigt, Städte überflutet werden und Wälder abbrennen, Bienen sterben und Vögel tot vom heißen Himmel fallen, Menschen verhungern und das Trinkwasser versiegt, wenn Politiker und Journalisten dich für den Tod einer Radfahrerin verantwortlich machen, noch bevor der Fall untersucht wurde, und wenn du sicherheitshalber als verdächtige Chaosaggroaktivistin 30 Tage ohne Prozess im Gefängnis landen kannst – selbst schuld, dass da niemand was tun will!

Der Ton macht nämlich die Musik. Lächel doch mal, zeig ein Mindestmaß an Respekt. Gegenüber dem Staat und seinen Regeln, auch wenn der Staat nicht immer respektvoll ist und die Regeln nicht immer sinnvoll. Gegenüber dem toten Maler, dessen Werk ich ehrlich gesagt kaum kenne, aber der zweifellos etwas geschaffen hat, das ich stärker beschützen will als unseren Lebensraum.

Zu Kaisers- oder Königs- Zeiten wurden Söldner der Staaten auch als Raubritter bekannt. Was die Demokratie so alles übernommen hat?

Gegenüber den einfachen Leuten, die zur Arbeit müssen oder in den Flieger. Und vor allem gegenüber der Art und Weise, wie wir die Dinge eben zu tun pflegen in diesem zivilisierten Land. Wir sind schließlich keine Tiere. Meistens. Wären wir Tiere, dann fräßen wir uns gegenseitig auf. Dann spürten wir das Ende längst kommen. Aber wir spüren zum Glück nichts mehr. Das macht uns menschlich.

Wir bleiben unantastbar

Wir können doch über alles reden. Du sollst dich doch engagieren für diese Gesellschaft, wir müssen ja der Spaltung entgegenwirken, einander die Hände reichen, damit eine die andere waschen kann. Du kannst etwas beitragen, aber lass die alten Meister da raus. Bitte, bitte nicht berühren. Weder van Gogh noch mich. Mein Leben und ich, wir bleiben unantastbar. Du sollst nicht an dieser Welt rütteln oder dich an ihr festkleben, stör mich nicht, jedenfalls nicht während meiner Arbeits- oder Freizeit oder zu anderen ungünstigen Momenten.

Quelle       :      TAZ-online        >>>>>          weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben       —         Binnen-i-radfahrerinnen   Straßenschild „Ende der Bus- und Fahrradstrecke“ Schlagworte: Politische Korrektheit, Binnen-I Ort: Linz, Österreich Datum: 2005-01-15

Unten       —    Polizistin räumt nach Aktion der Letzten Generation vor dem Verkehrsministerium Tempo-100-Schilder auf. Invalidenstraße, Berlin, 22.10.22

Abgelegt unter APO, Medien, Opposition, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Jenseits des Preisdeckels

Erstellt von Redaktion am 8. November 2022

Kampf gegen hohe Energiekosten

Wirtschaftlich Denken suchten nicht die politische Bühne – dafür sind sie nicht geschaffen.

Ein Debattenbeitrag von Gerhard Hübener

Was tun gegen die hohen Strom- und Gaspreise? Ein Energiegeld pro Kopf wäre eine Möglichkeit – eine mit mehreren Vorteilen.

Die zwischen Bund und Ländern erzielte Einigung zur Gas- und Strompreisbremse geht in die falsche Richtung. Die Mehrkosten treffen Geringverdiener weitaus stärker als Besserverdienende, die Lenkungswirkung hoher Energiepreise wird deutlich geschwächt. Das makroökonomische Institut IMK der Böckler-Stiftung hatte für den Gaspreis ein Alternativmodell durchgerechnet, bei dem das Kontingent in Abhängigkeit von der Anzahl der Personen pro Haushalt festgelegt werden sollte. Die Kosten dafür wären nur halb so hoch wie bei dem von der Gaspreiskommission empfohlenen Modell, dem sich nun Bund und Länder angeschlossen haben.

Allerdings fehlten für das Modell des IMK die Daten darüber, wie viele Personen in einem Haushalt mit Gasversorgung leben. Und natürlich gibt es auch Geringverdiener mit wenig Personen je Haushalt in schlecht gedämmten Wohnungen, die beim Pro-Kopf-Kontingent schlechter abschneiden könnten.

Nur bei den reichsten 10 Prozent schießt die Kurve für den Energieverbrauch steil nach oben

Was für den Gaspreis allein schwierig erscheint, wird einfacher, wenn alle Energiearten betroffen sind. Die Bund-Länder-Einigung geht ja auch weit über den Gaspreis hinaus. Preise für Fernwärme sollen ebenso gedeckelt werden wie die Strompreise, Finanzhilfen für Öl und Holzpellets wurden zumindest angedeutet.

Anstelle eines Preisdeckels wäre eine Reduzierung der durchschnittlichen Nettokosten weitaus zielführender. In der Schweiz wird seit 2008 eine CO2-Abgabe auf alle fossilen Brennstoffe erhoben. Zwei Drittel der Einnahmen werden je Kopf der Bevölkerung zurückgezahlt, pro Monat über die gesetzliche Krankenkasse. Das Modell hat es ermöglicht, dass die Schweizer inzwischen bei einer Abgabenhöhe von 120 Euro je Tonne CO2 angekommen sind.

In Abwandlung des Schweizer Modells könnten die für Haushalte geplanten Subventionen zu 100 Prozent als Energiegeld je Kopf der Bevölkerung gezahlt werden. Anders als beim Pro-Kopf-Kontingent des IMK müssten keine zusätzlichen Daten erfasst werden. Der jeweilige Preis würde bestehen bleiben und damit die volle Lenkungswirkung.

Energieverbrauch korreliert mit steigendem Wohlstand

Die Vorteile wären ähnlich wie beim Alternativmodell des IMK: sozial gerechter, stärkere Lenkungswirkung, kostengünstiger. Das Energiegeld, als Ausgleich zu den gestiegenen Heizungskosten würde als monatlicher Betrag gezahlt werden – vom Finanzamt, von der Arbeitsagentur, von wem auch immer.

Der hohe Gaspreis im kommenden Winter (geschätzt doppelt so hoch wie der auf 12 Cent pro kWh subventionierte Preis) würde dagegen seine volle Lenkungswirkung beibehalten. Wer im letzten Jahr deutlich mehr als der Durchschnitt verbraucht hat, bekäme auch nur das durchschnittliche Energiegeld.

Gegen eine solche Regelung kommt vermutlich sofort das Beispiel vom armen Rentner in der schlecht gedämmten Altbauwohnung. Der Einwand ist prinzipiell berechtigt. Nur sollte man nicht immer den sogenannten kleinen Mann vorschieben, wenn vor allem Gut- und Besserverdienende Nutznießer der angeblich „bewährten Gießkannen-Subventionierungen sind.

Die Süddeutsche Zeitung hat gerade über eine Studie zum Verhältnis von Einkommen und Energieverbrauch berichtet. Der Energieverbrauch steigt proportional mit wachsendem Einkommen. 60 Prozent der Haushalte liegen unter dem Durchschnittsverbrauch. Nur bei den reichsten 10 Prozent schießt die Kurve für den Energieverbrauch steil nach oben. Diese 10 Prozent verbrauchen genauso viel wie die ärmsten 40 Prozent der deutschen Haushalte zusammen.

Damit sollte klar sein, wo das größte Einsparpotenzial liegt und wem eine Abschwächung des Preishebels vor allem zugutekommen würde. Geringverdiener in schlecht gedämmten Wohnungen könnten zielgerichtet und kostengünstiger über Instrumente wie Wohngeld oder Heizkostenzuschüsse unterstützt werden.

Fehlanreize bei Strom und Wirtschaft

Dass die Preisbremse nun auch auf den Strompreis erweitert werden soll, treibt die Fehlanreize auf die Spitze. Viele Haushalte, vermutlich nicht die ärmsten, haben sich für diesen Winter mit Elektroheizkörpern eingedeckt. Die Stadtwerke warnen schon vor möglichen Stromausfällen. Statt eines Strompreisdeckels sollten eher Maßnahmen gegen das Ausweichen auf Stromheizungen vorbereitet werden. Am einfachsten über die Erhöhung der Stromsteuer. Die Mehreinnahmen könnten einfach über das Energiegeld zurückgezahlt werden.

Auch für Industrie und Dienstleistungsbranchen wäre es wichtig, von der Gießkanne wegzukommen. Die Subventionen sollten auch hier nicht beim Gas- oder Strompreis ansetzen, sondern als Direktzahlungen an die Unternehmen fließen, um die Lenkungswirkung der Preise voll wirksam werden zu lassen.

Quelle        :         TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

*********************************************************

Grafikquellen          :

Oben      —     Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

Abgelegt unter Kriminelles, Kultur, Positionen, Umwelt | Keine Kommentare »

Bad Banks+Bad Pharma

Erstellt von Redaktion am 8. November 2022

Nach den «Bad-Banks» schaffen Pharmakonzerne «Bad-Pharma»

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von Bernd Hontschik / Red. Der Autor dieses Gastbeitrags ist Chirurg und Publizist in Frankfurt.

Medikamente und Impfstoffe sollen möglichst rasch auf den Markt. Wenn es schief geht, drücken sich die Konzerne um die Haftung.

US-Unternehmen, denen wegen Asbest und anderen Produkthaftungen das Zahlen von Schadenersatz droht, griffen in den letzten Jahren vermehrt zur sogenannten „Texas Two-Step“-Strategie: Sie trennen solch bedrohliche Verbindlichkeiten vom Konzernvermögen und lagern sie in eine getrennte Firma („Bad Pharma“) aus, um einen Schaden für die Muttergesellschaft abzuwenden.

Der „Texas Two-Step und die Produkthaftung“ war denn auch das diesjährige Hauptthema der Frühjahrstagung des American Bankruptcy Institute, in dem über 12’000 Konkursfachleute der USA organisiert sind, darunter Anwält-innen, Buchhalter:innen, Kreditgeber:innen, Richter:innen und Fachleute von Banken. Der Texas Two-Step wurde auf dieser Tagung an einem besonders gelungenen Beispiel diskutiert, nämlich anhand des Prozesses um ein Babypuder des Pharmariesen Johnson & Johnson, das durch Talk mit Asbest belastet war.

Vor einem Gericht in St. Louis konnten Betroffene schon 2015 nachweisen, dass der Pharmakonzern Johnson & Johnson einen preiswerten, aber asbestbelasteten Babypuder mit gezielter Werbung skrupellos auch für die Mütter der Babys angepriesen hatte. Viele Frauen erkrankten, besonders an Eierstockkrebs. Johnson & Johnson musste laut einem Gerichtsurteil zunächst vier Milliarden Dollar Entschädigungen zahlen. Weitere Milliardenverluste könnten folgen, denn mehr als 30’000 solcher Klagen rollen derzeit auf den Konzern zu.

Da griff der Konzern zur „Texas Two-Step“-Methode: Man zerlegte den riesigen Konzern zunächst in mehr als hundert Einzelgesellschaften (first step), die dann wieder vereinigt wurden, allerdings mit Ausnahme einer einzigen winzigen Neugründung namens LTL Management, die mit einem Startkapital von zwei Milliarden Dollar ausgestattet wurde (second step). Das Geschäftsfeld von LTL Management war ab sofort allein und nur der besagte Babypuder, mit dem der restliche Johnson & Johnson-Konzern nun nichts mehr zu tun hatte.

Wenn man weiss, dass der Börsenwert von Johnson & Johnson Ende 2021 mehr als 430 Milliarden Dollar betrug, fast hundert Milliarden Dollar mehr als ein Jahr zuvor, und wenn man bedenkt, dass der Konzern in den ersten drei Quartalen 2021 durch das gigantische Geschäft mit den Corona-Impfungen seinen Gewinn auf sechzehn Milliarden Dollar und seine Cash-Reserven auf 25 Milliarden Dollar erhöhen konnte, dann sind diese zwei Milliarden Dollar geradezu lächerlich. Und sie waren natürlich rasch aufgebraucht, denn LTL machte keine Umsätze, also auch keinen Gewinn. Mit dieser perfiden Art von Insolvenz ist Johnson & Johnson allen weiteren Entschädigungsforderungen entgangen. Das Ganze kommt einem Schuldeingeständnis gleich, auch wenn der Pharmakonzern dies abstreitet.

Die Opfer haben das Nachsehen.

Stellungnahme von Johnson & Johnson

Red. Die Schadensabwicklung durch die getrennte Firma sei «im besten Interesse der Kläger und aller Beteiligten [Red. Namentlich auch der Aktionäre von Johnson & Johnson], um einen Weg zu finden, den Talk-Prozess so schnell und effizient wie möglich zu beenden». Das schreibt die abgetrennte Firma LTL Management.

Bei den gewinnträchtigen Corona-Impfstoffen werden Johnson & Johnson und die anderen Impfhersteller wahrscheinlich nicht so kompliziert vorgehen müssen, um ihr finanzielles Risiko zu minimieren. Denn soweit Details aus den geheimen (!) Impfstoff-Kaufverträgen der EU und einzelner Staaten bekannt wurden, sind in diesen Verträgen die Hersteller von jeglicher Produkthaftung befreit.

Sollten also – wann auch immer – bislang unbekannte unerwünschte Wirkungen nach Corona-Impfungen auftreten, so tragen allein die Steuerzahler-innen sämtliche Kosten. Bis dahin haben sich die Pharmakonzerne längst vom Acker gemacht. Es läuft wie meistens: Gewinne werden privatisiert, noch dazu haftungsbefreit, Verluste werden sozialisiert und müssen von der Allgemeinheit getragen werden.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

© Das Weiterverbreiten sämtlicher auf dem gemeinnützigen Portal www.infosperber.ch enthaltenen Texte ist ohne Kostenfolge erlaubt, sofern die Texte integral ohne Kürzung und mit Quellenangaben (Autor und «Infosperber») verbreitet werden. Die SSUI kann das Abgelten eines Nutzungsrechts verlangen.

Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.

*********************************************************

Grafikquellen        :

Oben      —        Bernd Hontschik fotografiert von Barbara Klemm (2009)

Abgelegt unter Deutschland_DE, Gesundheitspolitik, International, Mensch | Keine Kommentare »