Das 1,5-Grad-Ziel wird verfehlt, aber das ist kein Grund, den Kampf gegen die Klimakrise aufzugeben. Mit drei einfachen Schritten könnten die reichsten Länder viel erreichen – zwei davon sind leicht umsetzbar.
Die Schuld an der Klimakrise ist sehr ungleich verteilt. Lebte die ganze Welt so wie die Staaten Subsahara-Afrikas es heute tun (Südafrika ausgenommen) gäbe es gar keine Klimakrise. Insgesamt ist ganz Afrika, Heimat von 15 Prozent der Weltbevölkerung, nur für vier Prozent aller CO₂-Emissionen verantwortlich . Denken Sie daran, wenn jemand wieder einmal mit »Bevölkerungswachstum« als Argument für das Nichtstun der reichen Länder kommt.
Richtig ist: Das Leid, dass die Erhitzung schon jetzt erzeugt und das noch viel größere Leid, das sie in Zukunft erzeugen wird, ist ebenfalls sehr ungleich verteilt. Am meisten leiden diejenigen, die und deren Vorfahren am wenigsten oder gar nichts zur Situation beigetragen haben.
Bei der Klimakonferenz COP 27, die am heutigen Sonntag in Ägypten beginnt, müssen sich die reichen Länder endlich ihrer Verantwortung stellen.
Länder werden verschwinden
Es gibt Länder auf dem Planeten, deren Schicksal bereits besiegelt ist: Die CO₂-Produktion der Industrienationen wird die Malediven, Kiribati, möglicherweise auch die Bahamas und diverse andere Inselstaaten zum Verschwinden bringen, früher oder später. Und Küstenregionen mit Hunderten Millionen Einwohnern zu ständigen Katastrophengebieten machen. Nie vergessen: Deutschland allein liegt bei den summierten Verbrennungsemissionen auf Platz vier , weltweit.
Inseln sind noch weit schwieriger mit Dämmen vor dem steigenden Meeresspiegel zu schützen als Länder, die an auf einer größeren Landmasse liegen. Das niedrigste Festland-Land der Welt sind die Niederlande. Sie geben pro Jahr etwa eine Milliarde Euro für den Küstenschutz aus. Schon jetzt.
Die Industrienationen sind schuldig, niemand sonst
Noch schneller als der nicht mehr aufzuhaltende Meeresspiegelanstieg wird die Zunahme extremer Wetterlagen für gigantisches, immer weiter zunehmendes Leid sorgen – und tut es auch schon längst. Wesentliche Teile der derzeit besiedelten Erdoberfläche werden über kurz oder lang unbewohnbar werden. Das wiederum wird Verteilungskämpfe auslösen, vermutlich auch Kriege, in jedem Fall nie dagewesene Wanderungsbewegungen.
All das ist schon jetzt unausweichlich, und die Industrienationen tragen und verdrängen die Schuld. Niemand sonst. Wir schulden den gewaltigen Reichtum, den wir im globalen Vergleich genießen, unseren unfassbar hohen Lebensstandard, dem Umstand, dass wir in den vergangenen 200 Jahren so viel CO₂ erzeugt haben. Unsere Kleider, Autos, Waschmaschinen, Häuser, Straßen, Flugreisen, Schulen, Krankenhäuser, Kinos, Supermärkte und Hallenbäder haben wir mit dem Leid gegenwärtiger und künftiger Generationen vor allem im Globalen Süden bezahlt. Wir sind alle Klimakolonialisten, ohne Ausnahme, wenn auch in der Regel ohne Wahlmöglichkeit. Wir machen mit, einfach, indem wir hier leben.
Drei einfache klare Forderungen
Wenn sich in den kommenden Wochen die Klimaunterhändler der Welt im ägyptischen Scharm al-Scheich treffen, wird es Zeit, sich diesen Fakten endlich zu stellen. Noch immer Lügen sich die Verantwortlichen für die katastrophale Situation der Welt, also wir Bewohnerinnen und Bewohner der Industrienationen, nämlich in die eigene Tasche.
Drei zentrale Forderungen für die Klimakonferenz, zwei davon definitiv umsetzbar, eine in Wahrheit nahezu utopisch aber eigentlich bitter nötig, wären diese:
1. Die Wiederaufforstung des Regenwalds finanzieren
Die beste Nachricht für das Weltklima war der Wahlsieg von Lula da Silva (der Nachname bedeutet buchstäblich »vom Wald«) in Brasilien. Der sogenannte Amazonasfonds, der das Ziel hat, den brasilianischen Regenwald vor weiterer Vernichtung zu schützen und wieder aufzuforsten, ist bereits von den Toten auferstanden. Die 1,3 Milliarden Euro, die er derzeit umfasst, werden aber bei Weitem nicht reichen. Deutschland hat zu dem Fonds bislang lächerliche 35 Millionen Euro beigetragen (Norwegen allein dagegen 1,2 Milliarden). In einer gerade veröffentlichten Studie werden die jährlichen Kosten für das Ziel, 80 Prozent des Amazonas-Regenwalds auf 1,7 bis 2,8 Milliarden Dollar oder Euro pro Jahr geschätzt.
Zum Vergleich: Das deutsche Dienstwagenprivileg kostet Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ohne Dienstwagen hierzulande über drei Milliarden Euro im Jahr. Ein globaler, von den G20-Staaten finanzierter Regenwaldfonds wäre also mit Leichtigkeit zu finanzieren, der Ertrag wäre aber gewaltig: Der Amazonasregenwald war einmal eine der größten CO₂-Senken der Welt. Ihn zu retten heißt, zu verhindern, dass die Katastrophe noch schneller noch schlimmer wird. Der Südosten des Regenwalds gibt bereits jetzt mehr CO₂ ab, als er aufnimmt . Es wäre möglich, mit der künftigen brasilianischen Regierung, und im Vergleich zum Ertrag lächerlichen Summen, diesen katastrophalen Prozess aufzuhalten und umzukehren.
Mindestens das muss COP27 erreichen, es ist einfach, machbar und extrem sinnvoll.
Noch besser wäre, einen entsprechenden Fonds auch noch für alle anderen Regenwälder des Planeten aufzusetzen, allen voran den in der Demokratischen Republik Kongo. Dort werden derzeit Bohrrechte für Öl- und Gasvorkommen unter dem Regenwald verkauft , der »Kohlenwasserstoffminister« des Landes hat versprochen: »Wir werden es ausbeuten, wir werden es fördern, wir werden es verkaufen, wir werden es zu Geld machen.« Das muss verhindert (siehe Punkt 3.), der afrikanische Regenwald muss gerettet werden. Bezahlen müssen dafür wir, die Industrienationen, die mit CO₂ reich gewordenen Schuldigen.
2. Dafür sorgen, dass weite Teile der Welt das fossile Zeitalter überspringen.
In vielen Ländern, in weiten Teilen Afrikas gibt es kein einziges Kohlekraftwerk . Das muss unbedingt so bleiben. Bislang haben dort auch 600 Millionen Menschen keine angemessene Energieversorgung . Es wäre aber durchaus möglich, dass die Länder, die bislang eine völlig unterdimensionierte Energieinfrastruktur haben, das Zeitalter der fossilen Energiequellen weitgehend überspringen.
Die große Ausnahme auf dem Kontinent ist Südafrika: Dort werden derzeit 85 Prozent des Stroms aus Kohle erzeugt , 90.000 Menschen arbeiten in der Kohleindustrie. Die EU, Frankreich, Deutschland, Großbritannien und die USA haben sich deshalb in der sogenannten Just Energy Transition Partnership verpflichtet, den Umbau der südafrikanischen Energiewirtschaft hin zu erneuerbaren Energiequellen mitzufinanzieren. 8,5 Milliarden Euro hat die Staatengruppe dafür versprochen, Deutschland trägt 800 Millionen bei.
Trocken gefallene Quellen, Probleme bei der Wasserversorgungen und ausgetrocknete Bäche. Der Sommer 2022 zeigte auch in Südbaden alle Gefahren der beginnenden Klimaveränderungen. Die aktuellen und die kommenden Probleme mit langen Trockenphasen und einzelnen Starkregenereignissen waren in aller Munde. Erstaunlich und erschreckend wenig wurde über die massiven Gefährdungen des Trink- und Grundwassers durch Nitrat, Altlasten und Versalzung gesprochen.
Weltweit, aber auch in der selbsternannten „Ökoregion“ Südbaden herrscht das „Prinzip Breisach“. Die massiven Nitrat- und Versalzungsprobleme der Stadt am Rhein wurden nicht etwa durch eine Bekämpfung der Ursachen angegangen, sondern durch das teure Ausweichen auf weit entfernte Quellen. Was interessiert die Menschen in Breisach jetzt der unsanierte Salz-Abraumberg in Buggingen, wenn das Wasser aus Hausen kommt?
Von der Kali-Abraumhalde in Buggingen werden pro Tag bis zu 2,58 Tonnen Salz ins Grundwasser gespült, auf das Jahr gerechnet sind das bis zu 945 Tonnen Chlorid. Jahrzehntelang hatte die K+S AG, früher Kali und Salz AG, versucht, die Sanierungskosten auf die Allgemeinheit abzuwälzen und erfolgreich auf Verzögerungen bei der Sanierung gesetzt.
Seit einem Urteil aus dem Jahr 2008 (!) ist Firma letztinstanzlich in der Pflicht, die Sanierung auf Konzernkosten durchzuführen.
„K+S geht derzeit davon aus, dass im nächsten Jahr mit der Sanierung begonnen werden kann.“ stand am 9.12.2020 in einem Bericht der Badischen Zeitung Im „nächsten Jahr“ wäre 2021 gewesen und nichts geschah. Jetzt sind wir kurz vor dem Jahreswechsel 2022/2023 und noch immer läuft die Salzbrühe ins Grundwasser.
Später hieß es dann, die Sanierung würde erst 2023 begonnen und könnte 8 Jahre dauern.
Ein Blick auf die viel schneller sanierten Abraumhügel im elsässischen Kalibecken zeigt, dass es auch besser und effizienter geht, als in der „Ökoregion“ Oberrhein.
Der mangelnde Druck auf die K+S AG und das erkennbare, jahrzehntelange Desinteresse der Kreisverwaltung Breisgau-Hochschwarzwald am schnellen Schutz unseres Grund- und Trinkwasser sind ein umweltpolitischer Skandal. Warum lässt sich der Kreistag dies seit so vielen Jahren gefallen?
Von : Urs P. Gasche / Regierungen und Wirtschaftsvertreter gaukeln ihren Bevölkerungen vor, dass es wirtschaftlich viel besser geht, als es der Fall ist.
Wachstumskritiker und Konsumentenorganisationen beanstanden schon seit Jahrzehnten, dass das Wachstum des Bruttoinlandprodukts BIP das oberste Ziel des Wirtschaftens sein soll, dem alles andere untergeordnet wird: Lebensqualität, Schutz der Natur, eine möglichst gerechte Sozial- und Steuerpolitik, das Verursacherprinzip oder ausgeglichene Staatsfinanzen.
Alle diese Nachteile müssen sich aus Sicht von Wachstumspredigern lohnen: Die Wirtschaft soll wenigstens tatsächlich stark wachsen. Dann schlucken es vielleicht die Bevölkerungen ohne Aufmucken, wenn die Natur weiter ausgebeutet und verschandelt wird, Steuern die Reichen und Konzerne begünstigen («sie sorgen für Wachstum») oder die Defizite von Staaten immer grösser werden – all dies zu Lasten künftiger Generationen.
Um ihren Erfolg schönzureden greifen Wachstumsprediger – dazu zählen auch internationale Organisationen wie die OECD oder nationale Behörden – zu zwei einfachen Schlaumeiereien. Das Wachstum des BIP erscheint damit in einem viel positiveren Licht, als es in Wirklichkeit ist. Bei dieser Augenwischerei machen die meisten Medien – vierte Gewalt hin oder her – mit:
Häufig wird das erfolgte Wachstum des BIP nominal und nicht real (nach Abzug der Inflation) angegeben. Was soll eine Bevölkerung davon haben, wenn das BIP um drei Prozent gewachsen ist, wenn sich gleichzeitig auch die Preise um drei Prozent erhöhten? Besonders elektronische Medien unterlassen es meistens, bei ihren Wachstumsmeldungen anzugeben, ob von einem nominellen oder von einem realen Wachstum die Rede ist.
Fast immer wird das Wachstum des BIP pro Land angegeben und nicht pro Kopf der im Land lebenden Bevölkerung. Was soll eine Bevölkerung davon haben, wenn das BIP um fünf Prozent gewachsen ist, wenn gleichzeitig auch fünf Prozent mehr Menschen im Land leben? Pro Kopf ist das Geldeinkommen um keinen Cent gestiegen. Die Bevölkerung leidet lediglich an einem etwas grösseren Dichtestress, an gestiegenen Mieten, Land- und Bodenpreisen.
Am 10. Dezember 2022 tat die NZZ so, wie wenn sie überrascht wäre, und titelte als Neuigkeit: «Betrachtet man die Zunahme der Wirtschaftskraft pro Kopf, vermag die heimische Leistung nicht zu überzeugen». Es war Chefökonom David Marmet der Zürcher Kantonalbank, der die Wachstumszahlen unter Berücksichtigung der Inflation und der Bevölkerungszunahme in der Schweiz ausgerechnet hat.
Sein Fazit: Das reale BIP der Schweiz stieg in den letzten dreissig Jahren über 60 Prozent – pro Kopf allerdings nur um 29 Prozent. Das waren deutlich weniger als das reale Pro-Kopf-Wachstum etwa in Deutschland mit 39 Prozent.
Keine neue Erkenntnis
Besonders in der Schweiz mit ihrer überdurchschnittlichen Netto-Zuwanderung zeigten die nationalen BIP-Zahlen schon immer ein stark verzerrtes Bild. Das Buch «Schluss mit dem Wachstumswahn – Plädoyer für eine Umkehr»* führte im Jahr 2010 folgende Zahlen an:
Von 1990 bis 2009 wuchs die Schweizer Wirtschaft, gemessen am teuerungsbereinigten Bruttoinlandprodukt, total um 26 Prozent. Dieses Wachstum kam zustande, weil die Einwohnerzahl seit 1990 um 15 Prozent zunahm, während das BIP pro Kopf im gleichen Zeitraum um weniger als zehn Prozent anstieg.
Ende 2009 zum Beispiel gab das Staatsekretariat für Wirtschaft (Seco) bekannt, das reale BIP in der Schweiz sei im vorangehenden Quartal um 0,3 Prozent gewachsen. Einige Wirtschaftsjournalisten jubelten: «Die Schweiz sagt der Rezession ade», lautete eine Schlagzeile. Eine andere: «Rezession in der Schweiz beendet». Das stand ähnlich auch in der Pressemitteilung des Seco. Die Behörde wollte gute Stimmung verbreiten. Doch dieses Wachstum um 0,3 Prozent entsprach ziemlich genau der Zunahme der Bevölkerung im gleichen Quartal. Pro Kopf der Bevölkerung hatte sich also am BIP nichts geändert. Die Zunahme an Produkten und Dienstleistungen, gemessen in Geldwert, musste einfach auf mehr Köpfe verteilt werden.
Auf die Frage, warum eine Behörde wie das Seco die Wachstumszahlen nicht pro Kopf publiziere, hatte ein Sprecher eingeräumt: «Das ist eine sehr gute Frage, aber es wird international nicht so gemacht.»
Dass die Schweiz ihre Wirtschaft primär mit Bevölkerungszuwachs ankurbelt, scheint die Wachstumsfreunde nicht zu grämen. «Volkswirtschaften mit Zugriff auf eine wachsende Bevölkerung erhalten die Chance auf zusätzliche Nachfrage», formulierte ein Leitartikler der NZZ und freute sich: «Die Schweiz ist das beste Beispiel.»
Die Zürcher SP-Politikerin Jacqueline Badran stimmte zu: «Solange wir eine auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftsordnung haben, brauchen wir die Zuwanderung.» Das ist neu. Denn bisher setzten wachstumsorientierte Ökonominnen in der dicht besiedelten Schweiz mehr auf Produktivitätssteigerung als auf Bevölkerungswachstum.
Unterstützung erhielt Jacqueline Badran von Serge Gaillard, dem früheren Gewerkschafter und Arbeitsmarkt-Experten im Seco und von 2012 bis 2021 Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung: «Ohne Einwanderung wäre das starke Wachstum nicht möglich gewesen», konstatierte Gaillard in einem Interview. Die Einwanderung habe namentlich die Bautätigkeit unterstützt. Wie lange noch mehr Überbauungen für noch mehr Zuwanderer wünschenswert sind, um ein starkes Wachstum zu ermöglichen, sagte Gaillard nicht.
Die Autoren des Buches «Schluss mit dem Wachstumswahn» meinten damals:
«Ein Wirtschaftswachstum oder ein ‹Konjunkturaufschwung›, der auf dem Bevölkerungswachstum beruht, bringt dem einzelnen Bürger keine materiellen Vorteile. Der Kuchen wird einfach auf mehr Köpfe verteilt. Wir bekommen nur die Nachteile zu spüren, vor allem in dicht besiedelten Ländern wie der Schweiz: Man tritt sich überall noch mehr auf die Füsse. Die Landschaft wird stärker verschandelt, auf Strassen und Schienen stockt der Verkehr. Vor sechzig Jahren teilten sich noch 4,7 Millionen Menschen das begrenzte Land. Heute leben 7,8 Millionen Menschen in der Schweiz. Wenn wir den Trend nicht wenden, so prognostiziert das Bundesamt für Statistik, werden im Jahr 2050 neun Millionen Menschen in der Schweiz leben.»
Das war eine Fehlprognose des BFS: Die Zahl der Einwohner ist bereits heute auf 8,7 Millionen gestiegen. Entsprechend mehr wird in der ganzen Schweiz konsumiert und investiert, so dass stets mit Freude verkündet werden kann, wie stark die Wirtschaft wieder gewachsen sei.
Behörden und Medien werden höchstwahrscheinlich versuchen, auch in Zukunft mit schweizweiten Wachstumszahlen für gute Stimmung zu sorgen – wenn möglich mit nominalen Zahlen (ohne Berücksichtigung der Inflation) und unter Verschweigen des realen Pro-Kopf-Wachstums.
Den Wachstumspredigern ist es egal, was denn überhaupt wächst
Wenn Wachstumszahlen vergangener Jahre veröffentlicht werden, wird geflissentlich verschwiegen, was zum so ersehnten Wachstum beigetragen hat. Nur zwei Beispiele:
Haben etwa noch kurzlebigere oder doch langlebige Produkte zum Wachstum beigetragen? Kleider, Möbel, elektronische Geräte? Haben die Kosten der Müll-Entfernung zugenommen? Je grösser die unerwünschte Wegwerfwirtschaft, desto stärker wächst die Wirtschaft.
Wurden mehr tonnenschwere Autos gekauft oder viel mehr von den kleinen? Je schwerere und teurere Autos, desto stärker wächst die Wirtschaft.
Wenn Wachstumszahlen vergangener Jahre veröffentlicht werden, wird ebenso verschwiegen, wer vom Wachstum am meisten profitiert hat:
Waren es die sozial und wirtschaftlich Schwächsten? Oder vor allem Reiche und Superreiche?
Wachstumsprediger reden sich heraus: Jedes beliebige, möglichst hohe Wirtschaftswachstum sei auch in reichen Ländern weiter nötig, um Armut und Hunger zu beseitigen, Renten zu sichern, genügend Erwerbsarbeit zu schaffen sowie die nötigen Mittel für den Umweltschutz und die Gesundheitsversorgung bereitzustellen.
Wäre dies wirklich der Fall, würden wir längst im Paradies leben. Dies gilt ganz besonders für die USA mit dem fünfthöchsten Pro-Kopf-BIP. Der dortigen Bevölkerung müsste es ausgezeichnet gehen. Doch die Realität zeigt, dass in den entwickelten Industriestaaten das weitere Wachstum des Bruttoinlandprodukts BIP untauglich ist, um den allgemeinen Wohlstand zu messen, geschweige denn Glück und Lebensqualität.
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File:Scientist Rebellion klebt Aufsätze ans Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Hannoversche Straße, Berlin, 07.04.2022 (51988911634).jpg
Planetary boundaries according to Rockströmet al. 2009 (doi:10.1038/461472a) and Steffenet al. 2015 (doi:10.1126/science.1259855). The green areas represent human activities that are within safe margins, the yellow areas represent human activities that may or may not have exceeded safe margins, the red areas represent human activities that have exceeded safe margins, and the gray areas with red question marks represent human activities for which safe margins have not yet been determined.
Den Kapitalismus abschaffen oder grünes Wachstum fördern?
Ein Debattenbeitrag von Bernward Gesang
Was wir Deutschen gegen die Klimakrise tun können. Können wir im „Norden“ das nachholende Wachstum des „Südens“ ausgleichen? Und wie viel müssten wir schrumpfen?
Das perfide Zusammenwirken von Ökologie und Ökonomie treibt uns in eine beispiellose Krise, auf die es zwei Antworten gibt, die beide völlig unbefriedigend sind: Postwachstumsökonomie (PWÖ) und Green New Deal. Zwei Auswege für eine im Grunde ausweglose Situation, die sich durch unkontrolliertes Wachstum und globalen Kapitalismus ergeben hat: Die Menschheit verbraucht viel mehr, als unsere Erde auf Dauer zu bieten hat. Die Vertreter der PWÖ entgegnen darauf: Schluss mit dem Wachstum, das uns die Krise eingebrockt hat! Nur verändertes Konsumverhalten senkt die Wachstumskurven wirklich. Wir dürfen den Bock des Wachstums nicht zum Gärtner machen und meinen, noch mehr „ergrüntes“ Wachstum würde uns retten.
Genau das meinen Vertreter des Green New Deals. Sie setzen auf nachhaltiges Wachstum: technologische Innovationen und Marktwirtschaft, eventuell gepaart mit gezielten Verboten schädlichen Konsums. Man muss für dieses Modell nicht den Menschen und die Wirtschaft neu erfinden, es nutzt altbekannte Pfade, zum Beispiel den Egoismus des Homo oeconomicus, wenngleich auf lange Sicht.
Dagegen protestieren die Postwachstumsökonomen, nachhaltiges Wachstum sei unmöglich, besonders wegen der bekannten Bumerangeffekte. Diese treten auf, wenn wir beispielsweise ein einzelnes Auto effizienter als zuvor produzieren. Wenn so weniger Sprit pro Fahrt verbraucht wird, wird Auto fahren billiger, weshalb sich der Spritverbrauch der gesamten Flotte trotz sparsamerer einzelner Autos erhöht. Nur wegen dieses Schemas erkläre sich, weshalb unsere Klimagasemissionen auch dann steigen, wenn ein Produkt ökologisch effizienter als sein Vorläufer ist. Vertreter des Green New Deal kontern, dass man solche Entwicklungen durch globale Steuern vermeiden kann. Aber jeder weiß, wie schwer globale Steuern zu erheben sind.
Ulrike Herrmann von der taz hat jüngst den Wachstumsoptimisten die Leviten gelesen. Es werde auch in Zukunft insbesondere in der Technologie zur Speicherung erneuerbarer Energien einen Engpass geben. Es sei ausgeschlossen, jemals genug Ökostrom zu erzeugen, um die Emissionen auf null zu senken und gleichzeitig die Wirtschaftsleistung weiterhin zu steigern. Weil der Kapitalismus ohne Wachstum nicht funktioniere, lasse sich die Klimakrise nicht lösen, ohne ihn abzuschaffen. Allerdings ist es nicht nötig anzunehmen, dass eine technische Unmöglichkeit an einem bestimmten Punkt das ganze grüne Wachstum dauerhaft aushebelt. Dazu sind unsere Ingenieure doch zu dynamisch. Zudem widerspricht Herrmann überzeugend Studien (etwa von Agora Energiewende), wonach grünes Wachstum billig und sogar ein Geschäft wäre, wenn es erst einmal damit losginge. In der Tat, der Green New Deal scheint größenwahnsinnig, wenn er davon ausgeht, nur fünf- oder zehnfaches Wachstum bringe uns aus der Krise, die wir dem Wachstum verdanken.
Allerdings scheint mir die Alternative, die PWÖ, nicht gleichermaßen kritisch analysiert zu werden. Es gibt ein Recht auf ein würdevolles Leben und eine Wirtschaft ohne Armut. Die Frage ist: Wenn wir global nachholendes Wachstum brauchen, können wir im „Norden“ das nachholende Wachstum des „Südens“ ausgleichen? Wie viel müssten wir schrumpfen? Ich behaupte mal so viel, dass dies keine Akzeptanz bei uns finden würde, selbst wenn man ein Ende von Konsum und Erwerbsarbeit als Befreiung kommunizierte. Das zeigt die manische Diskussion der Energiekrise in diesem Winter, die schlimmstenfalls nur einen Bruchteil der Schrumpfung bedeuten würde, die uns eine PWÖ zumutete.
Zudem braucht der Globale Süden hoch entwickelte Technik, damit er sauberer wachsen kann, als wir es getan haben. Dazu müssen wir innovativ wachsen. Zudem werden manche Länder im Globalen Norden (etwa die USA) genug grüne Energie für sich selbst produzieren können, anders als das energiearme Deutschland. Diese Länder werden niemals auf eine PWÖ umschwenken. Würden wir in Deutschland alleine den Konkurrenznachteil eines Wachstumsstopps in Kauf nehmen? Realisierbarer als eine völlig neue Wirtschaftsweise scheint es zu sein, die Prioritäten des Klimaschutzes in Deutschland neu zu ordnen.
Im Winter, wenn das Gras wieder knapp wird, werden die Wisente im Wittgensteiner Rothaargebirge Rinde fressen – und damit den Zorn der Waldbesitzer auf sich ziehen. Einst bewohnten die riesigen zottigen Wildrinder Europas Wälder, doch das ist lange her. In Westeuropa ist das mächtige Rind seit 1000 Jahren ausgestorben, in Mitteleuropa seit etwa 500 Jahren. Im Osten – in Polen, Rumänien, dem Kaukasus – konnte es sich länger halten, bis es auch dort verschwand. Heute lebt es in Osteuropa wieder, als Rückzüchtung aus nur zwölf Exemplaren.
Die genetische Basis ist eng, der Erhalt der Art deshalb ungewiss. Ein europäisches Netzwerk engagierter Enthusiasten – Mitarbeiter von Zoos, Nationalparks, Naturschutzverbänden und Freiwillige – setzt sich für sie ein. Es organisiert den kostspieligen Transport von Bullen quer durch Europa in neue Herden, um weitere Inzucht zu vermeiden. Es versucht, die Bevölkerung über Wisente aufzuklären, Begeisterung für sie zu wecken und neue Lebensräume für sie zu finden. Doch das ist schwer. Wisente sind zwar nicht aggressiv, aber stark und wehrhaft. Und, was vor allem Widerstand auslöst: Im Winter schälen sie auf der Suche nach Nahrung die Rinde von Buchen oder Eichen. Die Bäume verkrüppeln, zeigen Narben, wachsen schief. Das stört zwar die Bäume nicht, aber Waldbesitzerinnen und Försterinnen, auch wenn sie sich der nachhaltigen Forstwirtschaft verschrieben haben. Denn: Schiefe, vernarbte Bäume sind weniger wert.
Nachhaltigkeit im Forst bedeutet heute: Es werden immer so viele wertvolle Bäume geerntet wie nachwachsen können. Durch kluge Wirtschaft sorgen Försterinnen dafür, dass die Bäume hoch, gesund und gerade zu Bau- oder Möbelholz heranwachsen. Dann ist der Forst für die Besitzerinnen – seien das Kommunen, der Bund, Bauern oder adelige Familien – eine grüne Sparkasse. In dieser gut gepflegten Geldanlage haben Wisente keinen Platz. Gerade erst ist hierzulande ein Projekt gescheitert, in dem sich die Rinder Lebensraum zurückerobern sollten, mitten in einer industriellen Kernregion Europas, in Nordrhein-Westfalen: Nach zehn Jahren Widerstand und Gerichtsprozessen von Waldbauern hat sich der Trägerverein der Wisente aus dem Projekt zurückgezogen.
Natur- und Artenschutz: Alles andere als konfliktfrei
Das gescheiterte Wisent-Projekt ist wie ein Kaleidoskop, in dem sich Möglichkeiten, Wunschträume und Probleme von Natur- und Artenschutz in Deutschland schütteln und in immer neuer Zusammensetzung betrachten lassen. Naturschützer nennen die Rinder eine charismatische Art, wie Tiger in Indien oder Elefanten in Afrika, urwüchsig und wild. Sie werben mit dem Schutz solcher Arten, weil sie Emotionen bei den Menschen wecken. Sie sollen die Rolle der Zugpferde übernehmen, die den Karren des Biotopschutzes ziehen. Wer Elefanten schützt, schützt die Savanne, wer Tiger rettet, erhält den Regenwald – und damit Lebensräume für eine Unzahl anderer, unscheinbarerer Pflanzen und Tiere.
Wisente könnten diese Aufgabe in den Forsten des Rothaargebirges übernehmen und etwas Wildnis zurückbringen in die Fichten- und Buchenplantagen, die den mit dem Klimawandel einhergehenden Stürmen, der Hitze und den Borkenkäfern zunehmend nicht mehr gewachsen sind. Wenn sich die Wisente etablieren, wird der Forst wieder mehr zum Wald. Das ist der Wunschtraum. Doch für die Waldbauern ergibt sich ein anderes Bild: Die Rinder gefährden die Finanzplanung ihrer Betriebe, die Tiere drohen sie vom rentablen Forstbetrieb zum Empfänger von Entschädigungsgeld zu verwandeln. Für die Waldbauern sind Wisentherden daher kein Gewinn, sondern eine Bedrohung.
Von Wittgenstein nach Montreal
Und die Bevölkerung? Sie brachte den Tieren Unterstützung und Wohlwollen entgegen, begegnete ihnen aber auch mit Furcht und Ablehnung. Es lässt sich, wo Wisentkälber leben, nicht mehr so unbedarft mit dem Hund durch den Wald streifen, wie wir es mittlerweile gewohnt sind. Der Wald ist heute kein Ort mehr, an dem wir Gefahren erwarten, sondern allein Entspannung – anders als im Straßenverkehr der Städte. Und so schob sich das Wisent-Kaleidoskop am Ende zu der einen Frage zusammen: Warum sollen wir diese großen, starken Tiere in unserer Kulturlandschaft ertragen? Die Frage war größer als die Antwort, und so sieht es derzeit nicht danach aus, als ob die streng geschützten Tiere im Rothaargebirge eine Zukunft hätten. Niemand weiß, was mit den rund 20 Tieren geschehen wird.
Das Wisent-Projekt in Wittgenstein ist nicht typisch für den Artenschutz, wie er heute in Deutschland praktiziert wird. Selbst Umweltverbände kritisieren hinter vorgehaltener Hand ein schlechtes Management, die unzureichende Kommunikation mit der Bevölkerung und zweifeln seine Sinnhaftigkeit in der dicht besiedelten Region an. Übrig bleibt die Erkenntnis, wie unglaublich schwierig der Interessenausgleich zwischen Mensch und Natur ist.
Diese Erkenntnis führt uns direkt von Wittgenstein nach Montreal, wo Mitte Dezember die wichtigste UN-Konferenz des Jahres stattfindet, wichtiger als die Klimakonferenz in Ägypten: Die 196 Vertragsstaaten des „Übereinkommens über die biologische Vielfalt“ (Convention on Biological Diversity, CBD) verhandeln einen neuen Rahmenvertrag, um die belebte Natur zu schützen, ihre nachhaltige Nutzung zu definieren und zu regeln, wer an ihrem Reichtum verdienen darf. (Die USA sind übrigens nicht dabei, Russland und China schon). Während in Scharm el-Scheich gerungen wurde, wie der Klima-Rahmenvertrag umgesetzt wird, wird er in Montreal neu geschrieben
Der alte Vertrag war vor zwei Jahren ausgelaufen und sollte eigentlich 2020 im südchinesischen Kunming neu verhandelt werden, doch wegen der Coronapandemie wurden alle Konferenzen immer wieder verschoben oder, zur Frustration der Beteiligten, ins Digitale verlegt. Die Präsidentschaft Chinas ist geblieben, als neuer Verhandlungsort aber ist Montreal bestimmt, der Sitz der CBD. Montreal, so die Hoffnung, solle das Momentum für den Schutz der Biodiversität schaffen, das Paris für den Klimaschutz bedeutet hat – der Durchbruch für ernsthafte globale Anstrengungen, zumindest auf Ebene der Verträge.
Denn die für uns alle so wichtige Biodiversität – Vielfalt der Arten, Vielfalt der genetischen Ausstattung innerhalb der Arten und Vielfalt der Ökosysteme – ist massiv bedroht. Mit dem Wegfall dieser Vielfalt drohen unfruchtbare Böden, dreckiges Wasser und eine sinkende Resilienz der Natur (deren Teil der Mensch ist!) gegenüber Krankheiten und Klimaveränderungen. Mehr noch als der Klimawandel ist der Verlust der biologischen Vielfalt Ergebnis und Symbol eines Wirtschaftens, das die Ressourcen des Planeten übernutzt.
Große Tech-Konzerne ähneln Ozeandampfern: stark und mächtig, doch wenig manövrierfähig.
Ein Debattenbeitrag von Svenja Bergt
Big Tech ist in der Krise, weil ihnen nichts Disruptives mehr einfällt. Zur Abwechslung sollten sie mal Probleme lösen, statt immer neue zu schaffen.
Der Eintritt ins Metaverse ist gerade noch einmal teurer geworden. 1.500 US-Dollar kostet das neueste Modell der Virtual-Reality-Brille, die der Meta-Konzern im Oktober vorgestellt hat. Und eine Virtual-Reality-Brille ist nötig, will man sich im Metaverse bewegen, kommunizieren, spielen, teilhaben. Es geht natürlich auch billiger, ältere Brillenmodelle sind schon ab etwa 400 US-Dollar zu haben. Doch die Illusion, sich in einer realen digitalen Welt zu bewegen, die das Metaverse schaffen soll, ist eben umso erreichbarer, je leichter, bequemer und leistungsfähiger die Brille ist.
Etwa ein Jahr her ist es, dass Facebook-Gründer Mark Zuckerberg das Metaverse als nächstes großes Ding vorgestellt hat. Konsequenterweise ließ er die Ankündigung damals als Avatar performen. Doch weil das gesamte Setting eher wie Second Life anmutete, was so etwas wie der gescheiterte Vorgänger der Metaverse-Idee war, hagelte es damals eher Spott als anerkennendes Kopfnicken. Was seitdem passiert ist (nicht chronologisch): Der Facebook-Konzern hat sich in Meta umbenannt, Elon Musk hat Twitter gekauft und ins Chaos gestürzt, die US-Notenbank hat massiv den Leitzins erhöht, Putin ließ die russische Armee in die Ukraine einmarschieren, in den USA schmieren die Börsenkurse der Tech-Konzerne ab. Die Unternehmen, von Meta bis Amazon, entlassen spontan und reihenweise Mitarbeitende.
Zwischen einigen dieser Ereignisse lassen sich Verbindungslinien ziehen. Etwa zwischen dem steigenden Leitzins und den fallenden Kursen: Werden konventionelle Geldanlagen durch steigende Zinsen wieder interessanter, sind Aktien mit all ihren Risiken eben weniger attraktiv. Die Krise der Tech-Branche ist also nicht nur hausgemacht. Dennoch stellt sich die Frage: Platzt hier gerade eine Blase? Für eine Antwort ist es naturgemäß noch zu früh – aber ist es dennoch Zeit, um eine erste Bilanz des Big-Tech-Business zu ziehen und zu fragen: Wie könnte es nach dieser Krise weitergehen?
Bleiben wir kurz bei Meta. Der neue Name sollte auch ein Signal der Neuerfindung sein: Seht her, wir lassen die Krisen der vergangenen Jahre – unter anderem Probleme mit dem Datenschutz, manipulative Wahlwerbung und Hassreden – hinter uns und stellen uns auf für die Zukunft. Das Signal sollte einerseits an die Aktionär-innen gehen, andererseits aber auch an die Öffentlichkeit. Denn zwar hat der Konzern nicht nur das alternde Facebook, sondern auch jüngere Dienste wie Instagram und Whatsapp im Portfolio. Doch die weltweit am meisten heruntergeladene App ist mittlerweile Tiktok. In Deutschland nutzen in der Altersgruppe der 16- bis 19-Jährigen knapp drei Viertel die Plattform. Meta hat also ein Nachwuchsproblem. Und es sieht gerade nicht danach aus, als wäre das Metaverse, das Meta zudem nicht exklusiv hat, die Lösung. Das Wall Street Journal berichtete jüngst über interne Dokumente, wonach sich in den virtuellen Meta-Welten gerade einmal 200.000 regelmäßige Besucher-innen aufhalten.
Es ist kein Geheimnis, dass große, etablierte Konzerne eher Ozeandampfern ähneln: stark und mächtig, doch wenig manövrierfähig. In der Wirtschaft geht diese Manövrierfähigkeit aber Hand in Hand mit Innovationskraft. Zumindest wenn man Innovation im Sinne von Disruption versteht, also Erfindungen oder Entwicklungen, die eine Branche oder eine Gesellschaft entscheidend verändern. Die Erfindung des Smartphones war in jüngerer Zeit eine solche Disruption, die Entwicklung von Streamingdiensten oder die Digitalfotografie. Um die mangelnde Disruptionsfähigkeit auszugleichen, greifen die Großen auf bewährt Handlungsmöglichkeiten zurück: Sie kaufen kleine, innovative Unternehmen auf, um deren Wissen und Erfindungen ins eigene Haus zu holen. Als praktischer Nebeneffekt ist damit noch ein potenzieller Konkurrent ausgeschaltet. Meta, damals noch Facebook, hat so in der Vergangenheit Instagram und Whatsapp gekauft.
Doch die Disruptionen der Vergangenheit müssen nicht die der Zukunft sein. Womöglich ist die Krise zum Teil auch auf eine Erkenntnis zurückzuführen, die nach und nach ins Bewusstsein gerät: Die Welt braucht nicht noch eine weitere technische Disruption, die neue Bedürfnisse kreiert und gleichzeitig neue Probleme schafft. Sie braucht Lösungen für echte, aktuelle Probleme.
Denn bislang ist es doch so: Big Tech hat durchaus für Fortschritte gesorgt. Aber mit diesen Fortschritten auch leider immer mehrere neue Probleme geschaffen, die dann ungelöst blieben. Amazon zum Beispiel hat viel für den Verbraucherschutz beim Online-Einkauf getan. Leider auf Kosten von Logistik-Mitarbeiter-innen, kleinen Händlern und der Privatsphäre der Kund-innen. Google hat mit seiner Suchmaschine den Zugang zu Informationen im Netz auf eine neue Stufe gehoben. Und nun ein derart weit verzweigtes Unternehmenskonglomerat, dass digitales Leben, von dem keine Daten an den Konzern fließen, nahezu unmöglich ist. Facebook mit seiner weltweiten Vernetzung von Menschen und dem Potenzial, das sich für Bewegungen ergibt – großartig. Aber die Persönlichkeitsprofile, die massiven Probleme durch algorithmische Entscheidungen, durch Hass und Hetze – ungelöst.
Die Wutach, der kleine, schöne Fluss im Schwarzwald war einmal eines der besten Forellengewässer Europas und berühmt für seine Wasserqualität. Der exklusive Londoner „Bad Boll Fishing Club“ hatte auf einer Länge von 80 Kilometern die Angelrechte an der Wutach gepachtet und Bad Boll war damals ein kleines Schwarzwald-Bad am Rande der Wutach-Schlucht. Doch die ungeklärten Abwässer der Papierfabrik in Neustadt führten ab 1905 zu einem raschen Rückgang des Fischbestandes.
Vor 50 Jahren, im Jahr 1972 geschah in der kleinen, konservativen Schwarzwaldstadt Donaueschingen „Ungeheuerliches“. Die Umweltschützer und Paddler Roland Görger und Konrad Jäger, beide aktiv in der Freiburger Aktion Umweltschutz, dem späteren BUND, demonstrierten bei den Donaueschinger Musiktagen. Sie verteilten 1000 Infoblätter und verlangten die Abwasserklärung der fürstlichen Papierfabrik in Neustadt und die Beendigung der massiven Wasserverschmutzung der Wutach. Nach dem Krieg mussten die beiden Kajak-Fahrer die Plastifizierung der Ufer, die hemmungslose Gewässerverschmutzung und die immer schnellere Zerstörung der Bäche und Flüsse erleben und erleiden. Beide standen für eine neue, politischere Generation im Natur- und Umweltschutz, die sich auch mit Autoritäten anlegte. Der Zustand der Umwelt in Deutschland war 1972 teilweise entsetzlich und viele Bäche und Flüsse stinkende Kloaken. Es war eine Zeit, in der in Deutschland Kinder durch Luftverschmutzung krank wurden, Asbest-Gefahren wurden verharmlost und der Schweizer Atommüll noch im Meer versenkt. Es war die Zeit einer erwachenden Umweltbewegung, in der aus „Nur-Naturschutzverbänden“ politisch engagierte „Umwelt- und Naturschutzorganisationen wurden. Ein »Fenster der Möglichkeiten« öffnete sich am Oberrhein und wenige Jahre später kam es zu den großen, spektakulären Protestaktionen und Bauplatzbesetzungen gegen ein Bleiwerk in Marckolsheim (F) und gegen die AKW Wyhl, Kaiseraugst (CH) und Gerstheim (F).
Heute wäre so eine Aktion keine besondere Nachricht, damals war sie sehr ungewöhnlich. Sponsor der Donaueschinger Musiktage war der Fürst zu Fürstenberg, der auch Besitzer der Papierfabrik Neustadt war. Protest gegen „den Fürst“ war damals in Donaueschingen noch ein Sakrileg. Nach langem Streit und wirtschaftlichen Verwerfungen wurde endlich eine Kläranlage eingebaut. Ein erster Erfolg für den Wasserschutz und den Schutz unserer Bäche und Flüsse, an dem eine damals noch junge Umweltbewegung ihren Anteil hat. Wenn heute in Bächen und Flüssen wieder gebadet werden kann, wenn die Lachse langsam zurückkehren, dann sollten wir daran erinnern, dass diese Erfolge nicht vom Himmel gefallen sind, sondern teilweise hart erkämpft werden mussten.
Die frühen Kämpfe waren schwierig und mühsam und dennoch einfach, denn die Vergiftungen und Belastungen waren zumeist sichtbar, messbar und erkennbar. Die erfreulichen heutigen Kämpfe gegen Klimawandel, Artenausrottung, Atommüllproduktion und die Folgen unbegrenzten Wachstums sind schwieriger. Dennoch können wir aus den frühen Erfolgen Hoffnung und Kraft schöpfen. Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein, (Alt-)BUND-Geschäftsführer (Auf Wunsch sende ich Ihnen auch gerne einen umfangreichen Lang-Text zu diesem Thema zu.) Nachtrag:
„Die Umweltbewegung wird für das gelobt, was sie in der Vergangenheit getan und erreicht hat und sie wird heftig dafür kritisiert, was sie aktuell fordert und durchsetzen will“
Urheberrecht
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Die Wutach bei Tiengen zwischen Steina- und Schlüchtmündung. Blick flussaufwärts etwa bei Fluss-Kilometer 2,7. Die gedeckte Holzbrücke verbindet den Stadtteil Tiengen der Stadt Waldshut-Tiengen (links) mit dem Naherholungsgebiet Bürgerwald. Aufnahme vom 04. Mai 2006. Foto: G. Boll, Waldshut.
Nur mit gemäßigten Aktionen könne man Mehrheiten gewinnen, wird den Klimaschützern gern vorgehalten. Aber so einfach ist das nicht. Was kann ein Klimt-Bild für den Klima-Kollaps? Diese Kausalfrage drängt sich nicht nur Spießern auf!
Wann die „Gegenwartskunst“ begann, ist umstritten. Gerne wird der abstrakte Expressionismus als Endpunkt der klassischen Moderne markiert und der Beginn der „Gegenwartskunst“ mit dem Jahr 1954, als Jasper Johns mit „Flag“ einen Alltagsgegenstand umformte – die US-Flagge eben. Es war ein erstes Wetterleuchten dessen, was später „Pop Art“ genannt wurde. Manche würden wiederum als erste Ikonen der „Gegenwartskunst“ die Suppendosen-Bilder von Andy Warhol nennen, die einen Konsumgegenstand reproduzierten, den jeder kannte. Jüngst haben Klimaschützer ein Van-Gogh-Bild mit Suppe überschüttet, und der Liebhaber subversiver Selbstreferenzialität in mir hätte natürlich ersehnt, dass Campbell-Suppe über Warhols Campbell-Siebdrucke geschüttet worden wäre. Nun, man kann nicht alles haben.
Dass die radikalen Protestaktionen der Klimaaktivisten nicht nur auf Kunst abzielen, sondern auch Stilmittel avantgardistischer Provokation zitieren (vielleicht nicht mal bewusst), ist ja vielfach bemerkt worden, von der Anti-Kunst des Dadaismus bis über die Schüttbilder von Nitsch, die Übermalungen von Arnulf Rainer oder die Schockstrategien der Aktionskunst. „All art is propaganda“, bemerkte schon George Orwell, und so ist auch jede Zerstörung von Kunst zugleich Kunst und Propaganda. Oder so.
Natürlich kann man gegen die Attacken auf Kunstwerke einiges einwenden, obwohl bisher keine Kunstwerke zerstört werden, sondern vor allem Glasscheiben beschmutzt oder beschädigt wurden, hinter denen sich die Kunstwerke befanden. Ein Einwand wäre: Die Aktionen zwingen Museen, ihre Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen, was nicht nur Geld kostet, sondern Museen zu Hochsicherheitsinstitutionen machen kann, und das macht die Welt bestimmt nicht besser. Auch ist bei Protestaktionen zweifellos empfehlenswert, dass die konkrete Aktion des zivilen Ungehorsams in einem nachvollziehbaren Verhältnis zur Botschaft steht. Man besetzt, wenn man gegen Panzerlieferungen protestiert, ja auch eher Panzerfabriken und nicht die Wohnung von Herrn und Frau Maier. „Was kann ein Klimt-Bild für den Klimakollaps?“, die Frage drängt sich nicht nur Spießern auf, die sowieso keine Protestaktionen gut finden würden, also auch nicht, wenn man sich im Morgenverkehr an seinen SUV anklebt. Wenigstens die Spur einer kausalen Assoziationskette kann aber sicher nicht schaden.
Revolution ja, aber schmutzig soll nichts werden. „Extremisten“ und gar „Klimaterroristen“, werden die Aktivisten gescholten, was natürlich Unfug ist. Die Aktionen sind nicht extremistisch, aber sie sind, wie das ein Aktivist nannte, „drastisch“. Das Problem an drastischen Aktionen dieser Art ist, dass sie Mehrheiten abschrecken und womöglich sogar jene gegen die Anliegen der Engagierten aufbringen, die diesen eigentlich mit Sympathie gegenüberstehen.
Aber die eigentlich interessante Streitfrage ist: Sollen Bewegungen, die eine Gesellschaft radikal verändern wollen, eher Aktionen setzen, die von Mehrheiten sofort unterstützt werden können? Oder ist es erfolgversprechender, auf drastische Weise vorzugehen, um einerseits Mehrheiten zu schockieren und andererseits entschlossene Minderheiten zu aktivieren? Auf diese Schlüsselfrage gibt es keine ganz leichte Antwort, gerade wenn man die Lehren der Geschichte berücksichtigt. Engagierte Minderheiten können Gesellschaften oft besser verändern als Warmduscher, die immer die Zustimmung von allen Seiten ersehnen.
Bringen wir etwas Systematik rein: Zunächst einmal kann man natürlich zu bedenken geben, dass die freundliche Art des Aktivismus, wie sie bisher „Fridays for Future“ setzte und etwa Greta Thunberg zu einer globalen Celebrity machte, viel freundlichen Zuspruch und Solidarität erntete, aber nicht die erwünschten Erfolge hatte, nämlich die entschlossene Öko-Wende. Nur ist mit dem Einwand noch nicht gesagt, dass ein radikaleres Vorgehen erfolgreicher gewesen wäre. Höchstwahrscheinlich wäre es noch „erfolgloser“ gewesen, wenn man unter „Erfolg“ klare, messbare Konsequenzen versteht.
Die Gefahr bei radikalen Aktionen ist nicht nur die der „Kriminalisierung“ des Protestes, sondern vor allem die gesellschaftliche Isolation der Engagierten. Die Gefahr beim moderaten Engagement ist allerdings, dass man wegen des Wunsches, anschlussfähig an Mehrheiten zu bleiben, die gesellschaftsverändernden Forderungen und Programmatiken so weich spült, dass am Ende kaum etwas davon übrig bleibt. Oder im schlimmsten Falle, dass man sich an eine imaginierte Mehrheit so anschmiegt, dass man unfähig wird, diese Mehrheit in die eigene Richtung zu verschieben.
Das ist nicht trivial, wie man andauernd vorgeführt bekommt. Quer über den Globus hat in den vergangenen Jahren eine harte Rechte Politik und Diskurse massiv verändert, und zwar nicht, indem sie „gemäßigt“ oder „vernünftig“ vorging, sondern durch den Extremismus und das tägliche Gift der Verrohung, mit dem sie ganze Gesellschaften kontaminiert hat. Trump, Meloni & Co haben ja nicht Erfolg, weil sie sich sanft und schmeichelweich geben, sondern indem sie rabiat und aggressiv agieren, während die Gegenseite eher defensiv und „vernünftig“ ist.
Oben — Die Illustration zeigt zwei Bildrahmen: 1) Einen übergewichtigen Mann, der allein unter der ihn verbrennenden Sonne in einer wüsten Landschaft zwischen Tierknochen und ohne lebende Tiere oder Pflanzen sitzt 2) Ein Paradies mit vielen verschiedenen Tieren und Pflanzen, die in Harmonie mit Menschen leben Die Illustration wurde für eine Ausgabe eines Vegan-Magazins in Österreich gemacht, aber nicht verwendet. Sie zeigt die Probleme, die durch Tierausbeutung verursacht werden. Ergänzend steht am Bild: „Sie habend die Wahl … noch.“
Hier kann Kretsche unter den Spaziergängern noch eine Grüne Zukunft erkennen !
Von Johanna Henkel-Waidhofer
Zum 40. Geburtstag der Grünen wusste Winfried Kretschmann noch, dass die unsichtbare Hand des Marktes das Klima nicht rettet. Den Konsequenzen aus dieser Erkenntnis verweigern sich viele Grüne, nicht zuletzt der Ministerpräsident. Deshalb soll jetzt sogar kritische Infrastruktur verscherbelt werden.
Die gute Nachricht zuerst: „Sie können mal sicher sein: Die Chinesen kriegen es nicht.“ Was Regierungschef Kretschmann sonst noch sagte zu dem Plan des landeseigenen Stromanbieters EnBW, 49,9 Prozent des Transportnetzbetreibers TransnetBW zu verkaufen, zeigt nur, in welche Sackgasse er sich beim Ausbau der erneuerbaren Energien manövriert hat. Eigentlich, so Kretschmann, müssten Milliarden rasch in den Ausbau investiert und sehr zügig neue Infrastruktur geschaffen werden. Aber: „Die Alternative zum Verkauf wäre eine Kapitalspritze durch das Land, ich sehe aber nicht, dass diese Alternative haushaltspolitisch möglich wäre.“
Also dürfen – neben der Idee, einen Teil der TransnetBW an die KfW abzutreten, wenn der Preis stimmt – Private ran. Einer der Interessenten für die TransnetBW-Anteile heißt Blackrock. Dabei hat die Hoffnung, Investoren würden die Energiewende wuppen, den Praxistest noch nie bestanden. Nicht im Zeitalter neoliberaler Blütenträume, als gewachsene Strukturen in der Erwartung zerschlagen wurden, dass fragmentierte Geschäftsmodelle und mehr Wettbewerb eine sichere und noch dazu kostengünstige Versorgung bieten können. Schließlich ist das allererste und wichtigste Interesse privater Geldgeber, dass die Rendite stimmt. Zur Zeit zeigt sich auf dem Atlantik, wohin das führt: Dutzende LNG-Tanker dümpeln wie auf Befehl vor sich hin und steuern keinen europäischen Hafen an – in der Hoffnung kapitalistischer Steuermänner auf einen kalten Winter und weiter steigende Preise. Im Netz ist tagesscharf nachzuverfolgen, dass die europäischen Länder keineswegs schon alle über volle Gasspeicher verfügen. Von der fehlenden Solidarität mit anderen Weltgegenden mal ganz abgesehen, die das Flüssiggas sehr gut gebrauchen, aber nicht ausreichend zahlen können.
Für Baden-Württembergs fehlgeleitete Klimapolitik stehen die Kurven, die Kretschmann neuerdings so gerne in die Kameras hält und die zeigen, wie wenig der Ausbau von Windkraft in der Vergangenheit vorangekommen ist. Sie sollen auch illustrieren, wie wenig Schuld seine Landesregierungen seit 2011 daran trage und wie viel der Bund mit seinen Ausschreibungsbedingungen. Der vom Grünen als hauptverantwortlich ins Visier genommene frühere Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) will die Kritik allerdings nicht auf sich sitzen lassen, er sieht vielmehr das Land ob der Zuständigkeit für die Genehmigungsverfahren in Mithaftung. So oder so ist es kurzsichtig, vor allem oder sogar allein auf Investoren zu setzen. Die wollen/müssen Geld verdienen.
1.000 Windräder bis 2026: völlig illusionär
Die EnBW, zu mehr als 99 Prozent in der Hand des Landes, des Zweckverbands Oberschwäbische Elektrizitätswerke und mehrerer kommunaler Kleinaktionäre, baut Windkraftanlagen auf der ganzen Welt, die größten offshore gerade in Großbritannien, onshore in der Türkei oder Schweden. Erhebliche Erwartungen werden mit den Ankündigungen einer Wind-Offensive durch die französische Regierung verbunden. Und fünf Räder sind in Weingarten nordöstlich von Karlsruhe geplant, ab 2024 könnten sie etwa 3.400 Haushalte versorgen. Sie wären dann wenigstens ein Teil jener hundert Anlagen jährlich, auf die sich Kretschmann neuerdings sogar im TV-Talk festlegen lässt. Der Koalitionsvertrag von 2021 hatte noch „bis zu tausend“ bis 2026 versprochen – eine inzwischen völlig illusionäre Zielmarke.
Windpark Stötten
Wenn Erneuerbare aber vor allem anderswo ausgebaut werden als zwischen Main und Bodensee, kommt den Netzen erst recht eine besondere Bedeutung zu. TransnetBW, die frühere EnBW Transportnetz AG, betreibt als eines der vier großen Unternehmen der Republik mit rund 1.200 Mitarbeiter:innen mehr als 3.000 Kilometern Hochspannungsleitungen in Baden-Württemberg. „Wir schaffen Verbindungen“, heißt es in einer der vielen Selbstbeschreibungen, „verstehen uns als Teil der Lösung für das Gelingen der Energiewende und bringen Energie von Nord nach Süd.“ Allein bis 2025 sollen zwölf Milliarden Euro investiert werden, darunter sechs Milliarden Euro in den Netzausbau.
Ein bundesweites Vorzeigeprojekt mit Schlüsselfunktion für die Energiewende sind die 700 Kilometer Erdkabel mit dem klingenden Namen „SuedLink“, deren Umsetzung TransnetBW mitverantwortet. Wenn Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) über die angeblich so ähnlichen Probleme der Südschiene bramarbasiert, lässt er wissentlich unter den Tisch fallen, wie weit die Planungsfortschritte dank der Strategie der EnBW und TransnetBW in Baden-Württemberg gediehen sind im Vergleich zu Bayern. „Seit 2014 wurden die Leitungen massiv bekämpft“, weiß Ludwig Hartmann, der Grünen-Fraktionschef im Maximilianeum. Söders Vorgänger Horst Seehofer bestritt vor Jahr und Tag sogar ganz schlicht deren Notwendigkeit.
Der Ausbau des Netzes ist den Grünen zu teuer
Über die Bedeutung des heimischen Netzbetreibers ist sich Baden-Württembergs Landesregierung jedenfalls im Klaren. Das Unternehmen trage wesentlich zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit, dem Voranbringen der Energiewende und der Bezahlbarkeit von Strom bei, antwortet Gisela Splett, grüne Staatssekretärin im Finanzministerium, dieser Tage auf eine parlamentarische Anfrage der SPD-Landtagsfraktion. Zum Ausbau des Übertragungsnetzes seien „voraussichtlich sehr signifikante Investitionen zu leisten“, und vor diesem Hintergrund könne „eine potenzielle Transaktion dazu beitragen, die Finanzierung zu gewährleisten“.
Oben — Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.
Wo Politik Hass sät – kann sie keine Liebe ernten ! Erst wenn sich die Demonstrant-innen den Politiker-innen und derer Zuhälter-innen an die Backen kleben erfolgt das Erwachen – ob vorne oder hinten ist egal – wenn der Kleber auch eine schwammige Masse hält !
Ein Essay von Bernhard Pötter
Die Aktionen der Letzten Generation polarisieren: Sie zwingen uns, die Komfortzone zu verlassen. Das tut weh, aber nur so hat Klimaschutz eine Chance. Die unbändige Wut auf die letzte Generation liegt in unserem schlechten Gewissen begründet.
Kaum saß ich im Auto und war losgefahren, wusste ich: Das war ein Fehler. Ich wollte quer durch die Stadt, kam aber kaum voran. Baustellen, Sperrungen, neue Fahrradstraßen bremsten mich. Je länger die Fahrt dauerte, desto gereizter wurde ich. Das Schlimmste: Normalerweise lege ich die Strecke mit Fahrrad und S-Bahn doppelt so schnell und doppelt so bequem zurück. Ich wusste also: Ich war selbst schuld an meinem Problem. Und ich kannte auch die Lösung.
Ähnliches gilt für die Reaktion der deutschen Politik und Gesellschaft auf die Blockaden der Letzten Generation. Da wird inzwischen ganz großes Geschütz aufgefahren gegen Menschen, die kurzzeitig den Verkehr stören, sich widerstandslos abführen lassen und friedlich vor den zuständigen Gerichten erscheinen. Als am Donnerstag AktivistInnen auf die Startbahn des Berliner Flughafens vordrangen und den Betrieb für 90 Minuten lahmlegten, sprach Innenministerin Nancy Faser davon, diese „neue Eskalationsstufe“ sei „absolut inakzeptabel“ und „zerstöre wichtige gesellschaftliche Akzeptanz“ für den Klimaschutz. Andere warnten, die „Kriminellen“ würden „immer skrupelloser“.
Woher stammt diese Wut aus weiten Teilen der Politik, Medien und Gesellschaft gegen Menschen, die sich für ein allgemein akzeptiertes Ziel einsetzen? Sie kommt aus unserem schlechten Gewissen: Die AktivistInnen führen uns vor Augen, dass der liebgewordene Alltag und unsere eingespielten Routinen uns immer tiefer in der Klimakrise treiben. Sie machen uns deutlich, dass unser beruhigendes „Business as usual“ im langsamen demokratischen Prozess potenziell katastrophal ist. Sie kleben uns eine in unserem Denken und Fühlen, dass zukünftige Sicherheit darin liegt, im Hier und Jetzt alles beim Alten zu belassen.
Diese Erkenntnis ist ja wirklich beunruhigend. Gerade in Krisensituationen wie Corona oder Krieg ziehen wir uns gern aufs Altbewährte zurück. „Keine Experimente“ gilt als Versicherung gegen die Verunsicherung einer sich rasant verändernden Welt. Ruhe galt hierzulande schon immer als erste Bürgerpflicht. Deutschland ist damit lange gut gefahren. Allerdings hat der westdeutsche Konsens von „Maß und Mitte“ eine notwendige radikale Wende in der Umwelt- und Klimapolitik verhindert, wie Bernd Ulrich in seinem Buch „Alles wird anders“ beschrieben hat.
Allianz zwischen Liberalen und Konservativen
Stabilität war und ist für Deutschland zentral: Mit der Absage an Experimente wurde schon Konrad Adenauer zum Kanzler. Angela Merkel beruhigte 16 Jahre lang das Land. Und auch Krisenkanzler Olaf Scholz tut alles, um die Menschen nicht noch mehr aus der Ruhe zu bringen.
Die Sitzenden kleben noch während es die schwarzen Helfer schon auf die grüne Weide zog.
Die Zeiten sind aufregend genug. Und dann kommt auch noch die Letzte Generation, schneidet mit einer Drahtschere ein Loch in den Flughafenzaun und fordert eine radikalere Klimapolitik. Damit zeigen die AktivistInnen nebenbei auch, wie gefährdet und leicht angreifbar die Infrastruktur in Deutschland ist. Vor allem aber streuen sie Sand ins Getriebe einer mobilen Gesellschaft oder bekleckern mit Kartoffelbrei Gemälde im Museum – also da, wo auch die aufgeklärteste Bürgerin nun wirklich mal am Sonntagnachmittag ihre Ruhe haben will. Da geht es dann schnell, dass eine Allianz aus konservativem „Ich will nicht gestört werden“ und populistischem „Was maßen die sich an?“ bildet, die von „Terrorismus“ und einer „grünen RAF“ schwadroniert, über verschärfte Strafen und vorbeugenden Gewahrsam wie in Bayern, wo AktivistInnen gleich mal für 30 Tage in Haft genommen werden.
Entzündet haben sich die großen Debatten am Tod einer Radfahrerin in Berlin. Durch eine Blockade der Letzten Generation kam ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr verspätet zum Unfallort. Ob der Tod der Frau dadurch mitverursacht wurde, wird juristisch geklärt. Derzeit sprechen die Indizien dagegen. Aber es geht nicht um eine sachliche Debatte über die Risiken dieser Aktionen. Sonst würde debattiert, wie häufig Einsätze von Polizei oder Feuerwehr durch Falschparker oder Staus ohne Rettungsgasse behindert werden. Aber daran haben wir uns gewöhnt. Business as usual eben.
Der größte Feind: Business as usual
Die Gewöhnung ist das Problem. Denn die großen Feinde von Klimaschutz überall auf der Welt sind nicht so sehr böser Wille, Lobbyismus, Verschwörung, Dummheit oder „der Kapitalismus“. Das wirkliche Problem heißt BAU – Business as usual. Wir haben uns daran gewöhnt, unseren Wohlstand auf die Verbrennung von fossilen Rohstoffen zu stützten. Das hat die Klimakonferenz in Ägypten wieder gezeigt: Bei allen Lippenbekenntnissen zum „Change“ folgt doch die Blockade, wenn es um den schnellen Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas geht.
Dagegen sind die Fakten eindeutig: Weitermachen wie bisher, global und national/europäisch, bedeutet den größten anzunehmenden Unfall: BAU heißt GAU. Dagegen steht aber bisher nur eine minimalinvasive Umwelt- und Klimapolitik: ein bisschen Effizienz hier, ein bisschen Ökostrom da, und ein Förderprogramm für Wärmepumpen und Dachsanierungen. Es ist letztlich das Gleiche in Grün. Eine Politik der kleinen Schritte, wie sie in einer parlamentarischen Demokratie nun mal im Normalfall angesagt ist.
München bei Nacht – da haben die braunen Republikaner nicht mehr gelacht.
Kleine Schritte aber führen in den Abgrund. Noch bei der COP1, 1995, hätte die Klimakrise verhindert werden können, wenn ab damals die globalen Emissionen jährlich um 1 Prozent gesunken wären. Heute sind dafür schier unmögliche jährliche 7 Prozent Reduktion nötig. Das haben wir bisher nur annähernd beim Zusammenbruch der Weltwirtschaft in der Coronapandemie gesehen. Indirekt eine kleine Hoffnung: „Wir haben es bei der Reaktion auf Covid und auf den Krieg geschafft, in den Krisenmodus zu kommen“, sagte Niklas Höhne vom NewClimate Institut, als er auf der COP27 neue erschreckende Emissionstrends vorstellte. „Aber wir müssen auch beim Klimaschutz in diesen Krisenmodus kommen. Das schaffen wir noch nicht.“
Radikal wird der Klimawandel
Das ist der wunde Punkt, an dem sich die Letzte Generation in der Debatte festklebt. Sie symbolisiert den Krisenmodus, der dringend nötig wäre, damit die dringend nötigen Veränderungen mit der dringend nötigen Geschwindigkeit umgesetzt werden. Nötig ist die „Disruption“ der alten Energiesysteme, eine schöpferische Zerstörung, die das dreckige Alte beseitigt und dafür das nachhaltige Neue aufbaut. Aber dafür braucht es Unruhe, Unzufriedenheit, Streit, Experimente, die Lust am Ausprobieren und Scheitern. Und nicht die scheinbare Sicherheit des Gewohnten.
Man kann streiten, wie sinnvoll und zielführend die Aktionen der Letzten Generation sind. Blockaden bringen viel Ärger und Risiko. Das Anliegen kann hinter der Aktion verschwinden. Seit Wochen wird nicht mehr über die Ziele der Letzten Generation debattiert, sondern nur noch über ihre Mittel. Auch blockieren sie nicht die großen Klimakiller wie Kohlekraftwerke oder Gaspipelines, sondern den privaten Verkehr.
Oben — Angeklebte Blockiererinnen vom Aufstand der letzten Generation bei der Blockade des Flughafens BER kurz vor der Lösung des Sekundenklebers, vlnr: Christian Bläul, Kai Witza, Kristoffer Krogh, Lina Eichler, Berlin-Schönefled, 23.02.22
Datei:Angeklebte Blockiererinnen vom Aufstand der letzten Generation bei der Blockade des Flughafens BER kurz vor der Lösung des Sekundenklebers (51899203113).jpg
Erstellt: 23. Februar 2022
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2.) von Oben –– Christian Bläul, Kristoffer Krogh und Kai Witza vom Aufstand der Letzten Generation blockieren den BER. Sie haben sich an der Straße festgeklebt. Berlin, Schönefeld, 23.02.22
An der Klimakonferenz COP27 bremsten neben China jene, die mit fossilen Energieträgern viel Geld verdienen.
Die neueste Klimakonferenz in Ägypten ging ohne Fortschritte für den Klimaschutz zu Ende. In seiner Spiegel-Kolumne «Im Hintergrund agieren die Saboteure» spürt Kolumnist Christian Stöcker die Verantwortlichen auf. Neben China, das pro Einwohner nach Australien, Kasachstan, Südafrika, Russland und Polen am meisten Kohle fördert, richtet Stöcker den Blick auf folgende Zahl: In Sharm el-Sheikh nahmen 636 Lobbyisten von Öl-, Gas- und Kohlekonzernen teil. Das waren 25 Prozent mehr als im Vorjahr, wie die Umweltorganisation Global Witness errechnete. Sie kritisierte, dass COP27 in diesem Jahr zu einer Lobbying-Veranstaltung wurde. Damit war die fossile Lobby mit mehr Leuten an der Klimakonferenz vertreten als die zehn am meisten vom Klimawandel betroffenen Staaten zusammen.
Einige von ihnen seien sogar Teil der offiziellen Delegationen der Staaten gewesen, hatten also Zutrittsrechte zu Räumlichkeiten, die Medien oder NGOs versperrt blieben. So war etwa der CEO des Ölkonzerns BP, Bernard Looney, als Teil der mauretanischen Delegation nach Sharm el-Sheikh gereist. Insgesamt nahmen rund 4500 Personen an der Konferenz teil.
Der Spiegel-Kolumnist zeigt auf, welche Rolle der Lobbyapparat der Fossilindustrie generell spielt:
Einfluss auf Wissenschaft und Forschung: Durch die Fossilbranche finanzierte Forschungsinstitutionen erstellen bezahlte Auftragsstudien. Diese «widerlegen» in schöner Regelmässigkeit die Ergebnisse unabhängiger Institute.
Einfluss auf die Justiz: Als «Bürgerklagen» getarnte juristische Einsprachen gegen Grossprojekte zur Erzeugung erneuerbarer Energie. Solche Verhinderungstaktiken werden oft massgeblich durch Öl- und Gaskonzerne und deren Lobbys (mit-)finanziert und organisiert.
Einfluss auf die Medien: Die Fossilindustrie bestimmt beispielsweise mittels teurer Inseratekampagnen Medieninhalte mit und manipuliert dadurch die öffentliche Meinungsbildung.
Drehtürphänomene: Es bestehen enge personelle Netzwerke zwischen Industrie, Behörden, Politik und Forschung.
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KOMMENTAR
Ohne dieser Auflistung von Lobbying-Strategien ihre Relevanz abzusprechen sei die Bemerkung erlaubt: All dies ist bereits seit langem bekannt und hat wenig mit dem konkreten Anlass des Klimagipfels zu tun. Wirklich interessant wäre es gewesen zu erfahren, wie die Lobbyarbeit an solchen Konferenzen im Detail abläuft. Wer spricht mit wem und welche Vereinbarungen und Partnerschaften werden geschlossen? Welche Gelder fliessen woher und wohin? Klar: Die entscheidenden Gespräche in der Politik finden mehrheitlich hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Journalist/-innen statt und selbstverständlich hat eine Kolumne keinen investigativ-journalistischen Anspruch.
Auch verwendet der Autor den Begriff «Roh-CO2»anstatt von Rohöl und Rohkohle zu reden. Mit der Förderung und dem Verkauf von «Roh-CO2» würden die erwähnten Interessensgruppen der Fossilindustrie viel Geld verdienen. Mit Verlaub: So etwas wie «Roh-CO2» gibt es nicht und kann folglich auch nicht verkauft werden. CO2 entsteht (unter anderem) bei der Verbrennung von kohlenstoffhaltigen Brennstoffen. Dies gilt z.B. auch für Holz (das als nachwachsender Rohstoff als CO2-neutral gilt) und Plastik. Die Umweltschäden unterscheiden sich je nach Energieträger sehr stark. Die Fossilindustrie verdient ihr Geld mit der Förderung und dem Verkauf von fossilen Brennstoffen. CO2 hingegen wird – wenn man so will – im CO2-Zertfikathandel verkauft. Dieses Marktinstrument gilt gemeinhin als Teil der Lösung des Klimaproblems.
Sprachliche Polemik mittels Begriffsneuschöpfungen, die an Fakenews grenzen, ist im Zusammenhang mit der Zerstörung unserer Lebensgrundlage nicht hilfreich. Erst recht nicht, um eine Diskussion zu führen, die auf Lösungsfindung – und nicht auf Spaltung – ausgerichtet ist.
Dabei geht der eigentliche Skandal fast ein wenig unter: Lobbyismus wird immer noch toleriert, ja, er ist legal, obwohl er dem Gemeinwohl zutiefst schadet.
Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.
Die Klimakonferenz von Scharm al-Scheich endet mit einer Enttäuschung – und das hat seine Gründe. Es wird Zeit, die Saboteure klar zu benennen. Zumal nachweisbar ist, wie sie agieren.
Die Klimakonferenz in Ägypten ist zu Ende, und das Ergebnis ist durchwachsen. Nach rund zwei Wochen harter Verhandlungen einigten sich die Delegierten auf einen eigenen Finanztopf, aus dem arme Länder einen Ausgleich erhalten sollen für Verluste und Schäden, die durch den Klimawandel entstehen. Doch der Erfolg hat einen hohen Preis: Beim Klimaschutz, also dem Ausstieg aus fossilen Energien und dem Runterfahren von Emissionen, gab es kaum Fortschritte.
Eine entscheidende Rolle bei dieser Konferenz spielte einmal mehr China , dem mittlerweile größten CO₂-Emittenten des Planeten. Doch das Land allein verantwortlich zu machen, das wäre ein weiterer Erfolg für die, die in Wahrheit die größte Schuld tragen.
Die anscheinend so komplexe Landschaft der Klimapolitik teilt sich, wenn man von China einmal absieht, in zwei sehr übersichtliche Lager: All diejenigen, die tatsächlich aus fossilen Brennstoffen aussteigen wollen, so schnell wie möglich. Und all diejenigen, die mit der Förderung und dem Verkauf von Roh-CO₂ Geld verdienen, und deren Handlanger in Medien, Politik und Randgebieten der Wissenschaft.
Die letztere Gruppe ist dafür verantwortlich, dass viele Menschen auf diesem Planeten immer noch nicht begriffen haben, wie gefährlich unsere Lage ist.
Wer zahlt, schafft an
Ein paar aktuelle Beispiele: In »Nature Climate Change« erschien kürzlich eine Studie , die nachweist, was passiert, wenn Unternehmen aus der Fossilbranche Energieforschung finanzieren. Forschungszentren, die von der Gasbranche gefördert werden, »bevorzugen in ihren Berichten Erdgas gegenüber erneuerbaren Energien«. Bei tatsächlich unabhängigen, nicht von fossilen Interessensgruppen finanzierten Forschungseinrichtungen, »zeigt sich das gegenteilige Muster, mit einer neutraleren Einstellung zu Erdgas und einer Bevorzugung von Solarenergie und Wasserkraft.«
Mit anderen Worten: Die Fossilbranche kauft sich Ergebnisse, die ihren Interessen dienen sollen. Immer noch.
Sabotage mit allen erdenklichen Mitteln
Waren diese Saboteure auch alle dort – obwohl bei denen alles schon in Trockenen liegt ?
Gleichzeitig sabotieren Vertreter fossiler Interessen weiterhin den Ausbau der erneuerbaren Energien. Das hat seinen Grund: Erneuerbare Energien sind mittlerweile konkurrenzlos billig. Es ist also im Interesse derer, die weiterhin CO₂ verkaufen wollen, diesen Umstand zu verschleiern oder zumindest seine Umsetzung in politisches und wirtschaftliches Handeln zu verhindern.
Aktuelles Beispiel: In den USA gibt es derzeit diverse Klagen von »Anwohnern« gegen Offshore-Windkraftanlagen. Der Ausbau erneuerbarer Energien soll also mit dem Rechtssystem als Bremsklotz behindert werden. Dieses Vorgehen kennen wir auch aus Deutschland.
In den USA zeigt sich bei genauem Blick ein Muster: Hinter vielen Klagen stecken in Wahrheit Interessenvertreter der Fossilbranchen. Dort klagen »Anwohnergruppen« derzeit aus vielfältigen Gründen gegen Windkraftanlagen auf hoher See: Zum »Schutz der Wale«, weil ein Offshore Windpark angeblich den Immobilienpreisen schade (in Wahrheit tut das die Klimakrise ) oder zugunsten der lokalen Fischereibranche.
Mitfinanziert werden solche Klagen immer aus der gleichen Richtung: aus der US-Öl- und Gasbranche, beziehungsweise von deren absichtlich undurchsichtigem Geflecht aus »Think Tanks«, »Stiftungen«, »Instituten« und »Fonds«. Oft haben sich die gleichen Gruppen nur wenige Jahre zuvor noch für großzügige Regelungen für Ölforderung vor der Küste eingesetzt – an den gleichen Stellen, an denen sie Windparks nun angeblich für gefährliche Umweltsünden halten.
Netz aus Tarnorganisationen
Die Szene ist auch international hochgradig vernetzt. Der US-Amerikaner John Droz , der seit mehr als zehn Jahren gegen Solar- und Windenergie agitiert, Zweifel am menschengemachten Klimawandel sät und auch andere in der Kunst der Agitation ausbildet , tritt auch beim Deutschen »EIKE«-Institut auf. Einer Organisation von Klimawandelleugnern- und Abwieglern, der heute zum Glück nur noch die AfD zuhört. Droz ist eine Art Coach für Klimawandelleugner und (dem Anschein nach) Ein-Mann-Lobbyist in einem.
Er behauptet weiterhin, dass Wind- und Sonnenenergie in Wahrheit gar nichts bringen – eine groteske Position angesichts der Tatsache, dass etwa Deutschland mittlerweile fast die Hälfte seiner Stromerzeugung mit erneuerbaren Energien bestreitet . Ansonsten behauptet er in seinem Newsletter, dass die USA gerade vom Kommunismus überrannt werden, weil die Republikaner bei den Kongresswahlen so schlecht abgeschnitten haben.
Raketen, Handy-Blackout, Zugausfall, Klimakatastrophe und dann auch noch eine gruselige Nachricht auf dem AB. Es reicht jetzt mal mit den Krisen.
Etwas belächelt habe ich sie, muss ich zugeben. Die junge Frau, die im Zug neben mir mit schreckgeweiteten Augen den Thriller „Black Out“ las. Jedes Mal, wenn irgendwo ein Handy bimmelte, schreckte sie hoch wie vom, nun ja, Russen gehackt. In dem Bestseller geht es darum, dass Hacker die Stromversorgung lahmlegen. Während Chaos und Panik um sich greifen, führen Spuren nach Russland und China. Laut Internet hat das Buch in Deutschland besonders viele Leser:innen.
Kein Wunder, hatte ich noch am Vorabend auf einer Party gewitzelt: Wir Deutschen sind so gern Weltmeister, nicht nur im Rechthaben, sondern neuerdings auch im Angsthaben und Sorgenmachen. Besonders die Älteren, die sich Vorräte im Keller anlegen – oder die Jüngeren, die sich überall in die Landschaft kleben, um ihre Mitmenschen vom Planetenzerstören abzuhalten.
Aber wir, die Jahrgänge, die wir gut Ü 35 und noch weit U 60 sind? Wir hüpften angestaute Sorgen auf der Tanzfläche eines angemieteten Freizeitheims weg (es war ein fünfzigster Geburtstag), schrien uns über die Musik hinweg ins Ohr, wie wohltuend für den Seelenhaushalt es sei, alle sozialen Netzwerke zu verlassen, und grölten mit Bad Religion: „Sanity is a full time job / in a world that’s always changing.“
Fulltime-Job – allerdings. Es war diese Woche wirklich nicht leicht, den Kopf beieinander zu halten: Erst waren da die widersprüchlichen Signale vom G20-Gipfel auf Bali: Während es als toller Erfolg gewertet wurde, dass „die meisten Staaten“ sich dazu durchringen konnten, Russlands Angriff auf die Ukraine zu verurteilen, ließ sich Putins Gesandter Lawrow in kurzen Hosen und einem lavendelfarbenen Basquiat-Shirt filmen, die Apple Watch lässig am Handgelenk.
Es macht „knack“ in der Festnetzleitung
Was soll man davon halten, dass der russische Außenminister einem Schwarzen heroinsüchtigen US-Künstler huldigt? Steht Lawrow schon auf der Abschussliste des Regimes – oder bereitete er quasi optisch einen Brückenschlag zum Westen …? In diese müßigen popkulturellen Überlegungen schlugen zwei Raketen „russischer Bauart“ auf polnischem Gebiet ein und töteten zwei Menschen.
Der Deutschlandfunk schaltete morgens eine Psychologin zu, die erklärte, dass jeder Mensch nur über einen begrenzten „Sorgenpool“ verfüge – man solle sich bitte nicht überlasten. Toll, soll ich jetzt eine Auswahl treffen, worüber ich mich sorge? Um einen möglichen Nato-Bündnisfall nach Artikel fünf? Um die Menschen, die in Kiew oder Charkiw im Dunkeln sitzen und frieren, wenn sie nicht gerade von Raketen beschossen werden?
Wo für Bürger-innen Steuern zahlen ! Blick auf das Rote Meer von einem Balkon im Sheraton Sharm. Politische Dummheit treibt immer neue Blüten!
Um unsere polnischen Nachbarn, die jetzt wahrscheinlich durchdrehen vor Angst – laut einem Bericht boomt das Geschäft mit privaten Bunkern besonders in Polen. Oder soll ich mir eher Sorgen darum machen, dass wir auf eine 2,5-Grad-Erderwärmung zusteuern, die Teile der Welt noch zu meinen Lebzeiten unbewohnbar machen werden – schöne Willkommensgrüße an den achtmilliardsten Menschen, der diese Woche geboren wurde. Was tun, wenn der Sorgenpool überzulaufen droht? Tief durchatmen und eine Freundin anrufen. Funktioniert kurz, dann macht es „knack“. Leitung tot.
Wie die herbstliche Witterung mit der aktuellen Repression gegen die Klimabewegung zusammenhängt. Ein paar Gedanken zur Transformation des Wetters zum politischen Faktor.
Vorbeugende Aufstandsbekämpfung – auf diesen etwas in Vergessenheit geratenen Begriff brachten linke Zusammenhänge in den vergangenen Jahren all die Polizeigesetze, die derzeit gegen Klimaschützer Anwendung finden. 30 Tage Knast müssen 13 Aktivisten der „Letzten Generation“ im sogenannten Präventivgewahrsam erdulden,1 da laut richterlichem Beschluss Gefahr bestehe, dass sie sich erneut an Blockadeaktionen in München beteiligen könnten.
Dass Menschen im Gefängnis „vorbeugend“ landen können, ist eine relativ neue Strafrechtsverschärfung, die erst 2018 im Rahmen des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes im Eilverfahren von der CSU durchgepeitscht worden ist.2 Damals regte sich noch Protest gegen diese polizeistaatlichen Gesetzesverschärfungen, die den bürgerlich-rechtsstaatlichen Grundsatz aushöhlen, wonach Bürger nur für wirklich begangene Straftaten mit Gefängnisstrafen belegt werden können. Etliche zivilgesellschaftliche Organisationen haben damals Verfassungsbeschwerde eingereicht – vergebens.3 Diese Regelung zum Präventivgewahrsam, die ursprünglich aus gutem Grund in dem Strafrecht der BRD nicht vorkam, weckt nämlich schlicht Erinnerungen an die Schutzhaft der Nazis.
In den vergangenen Jahren haben die meisten Bundesländer ähnliche Regelungen eingeführt, die in der geschichtsvergessenen öffentlichen Debatte längst zur „Normalität“ geronnen sind.4 An der aktuellen Repression und Medienkampagne gegen die Blockierer der „Letzten Generation“ kann somit das Ineinandergreifen von Strafrechtsverschärfungen, polizeistaatlichen Tendenzen, schleichendem Demokratieabbau und der Krisenhaftigkeit des Spätkapitalismus studiert werden. Deswegen ist der Begriff der „vorbeugenden Aufstandsbekämpfung“ so passend. Die kapitalistischen Funktionseliten trauten schon vor einer halben Dekade ihrem eigenen System nicht, sie hatten ein schärferes Krisenbewusstsein als weite Teile der krisenblinden deutschen Linken (Der Staatsapparat bildet dabei ein autoritäres und repressives „Krisenbewusstsein“ aus, das ganz auf die Aufrechterhaltung der „öffentlichen Ordnung“ in der Dauerkrise ausgerichtet ist).5
Längst werden weitere Strafrechtsverschärfungen diskutiert. Der Extremismus der Mitte schlägt dabei hohe Wellen.6 Wirtschaftslobbyisten und Politiker der CDU und FDP fordern eine Verallgemeinerung des Vorgehens der bayrischen Justiz, um künftig Klima-Aktivisten generell für 30 Tage im Gewahrsam festhalten zu können.7 Die CSU fabuliert inzwischen von einer „Klima-RAF“,8 während der „freiheitliche“ Justizminister Marco Buschmann (FDP) laut über Gefängnisstrafen für Klimademonstranten nachdenkt.9 Eingebettet sind diese repressiven Vorstöße in eine rechte Medienkampagne, bei der Klimaaktivisten für Verkehrsunfälle in den Staus verantwortlich gemacht werden, bei den Blockadeaktionen entstehenden.10 Hinzu kommen offensiv in den Medien verbreitete Umfragen, laut denen ein Großteil der Bevölkerung die Protestformen der „Letzte Generation“ ablehnt.11
Es handelt sich offensichtlich um eine Kampagne der üblichen rechten Verdächtigen von Springer („Klima-Chaoten!“),12 über CDU/CSU („Fünf Jahre Haft!“) bis zur AfD („Alles verbieten!“) gegen die Klimaschützer,13 die auch schlicht die Gunst der Stunde nutzen, um die Klimabewegung dauerhaft zu schwächen und möglichst rasch dauerhafte Repressionsinstrumente zu etablieren. Die Zeit dafür ist nämlich gerade günstig – denn es ist kalt. Mit der herbstlichen Witterung und dem Krieg in der Ukraine verdrängen die Sorgen um die Heizkosten, um die strauchelnde Wirtschaft die Angst vor der Klimakatastrophe. Der diesjährige Horrorsommer gerät in der Bevölkerung, die dank kulturindustriellen Dauerbombardements ein öffentliches Erinnerungsvermögen von wenigen Wochen hat, schlicht in Vergessenheit. Die Vielfalt der ökologischen, sozialen und politischen Verwerfungen, in denen sich die kapitalistische Systemkrise14 manifestiert, führt schnell zu Orientierungslosigkeit und einem regelrechten „crisis-hopping“, sofern die systemischen Krisenursachen15 ausgeblendet bleiben.
Im letzten Sommer auf der Nordhalbkugel, als die Flüsse Europas trocken lagen, als die Feuer wüteten und als die Hitze immer mehr Todesopfer forderte,16 wäre ein solches Vorgehen gegen die Klimabewegung unmöglich gewesen. Die durch Hetzkampagnen generierten Mehrheiten, die sich nun hinter den Rufen nach härterem Strafen manifestieren, wären schlich nicht zustande gekommen, als die Bundesrepublik unter der inzwischen üblichen sommerlichen Hitzewelle und Feuersaison litt (Der einstmalige „Sommer“). Mit einer Repressionskampagne im November, also in der dunklen Jahreszeit, die früher „Herbst“ hieß, nachdem im Oktober angenehme, weit über den historischen Durchschnittswerten liegende Temperaturen herrschten17, nutzt die Rechte schlicht ein Zeitfenster zur Schaffung neuer, autoritärer Fakten. Die Entdemokratisierung und das Einüben neuer Repressionsmethoden müssen etabliert werden, bevor das nächste Extremwetterereignis, die nächste Hitzewelle und Dürre die Menschen mit aller Macht daran erinnern, dass die Klimakatastrophe weiter munter voranschreitet.
Das Wetter ist somit zu einem politischen Faktor geworden – es bringt schlicht Vorteile, die Witterung bei relevanten Themen zu berücksichtigen. Das liegt vor allem daran, dass die jahrzehntelange Argumentationskette, wonach Klima und Wetter zwei verschiedene Dinge seien, nicht mehr greifen kann. Zu deutlich manifestiert sich die Klimakrise in den konkreten Wetterphänomenen, als dass diese Halbwahrheit, die von Klimaleugnern gerne instrumentalisiert wurde, noch greifen könnte (Kein einziges extremes Wetterereignis weist sich ja selbst als Folge der Klimakrise aus). Die Repression der Klimabewegung muss zu einer Jahreszeit erfolgen, wenn die Bevölkerung sich Sorgen darum macht, wie die Wohnung zu heizen ist, ohne in Privatinsolvenz zu geraten.
Bei diesem politischen Wetter-Kalkül handelt es sich aber um einen objektiv gegebenen Faktor, um einen sich in der voranschreitenden Klimakrise ausformenden politischen Hebel, der auch von progressiven Kräften betätigt werden kann. Die nächste Feuer-, Hitze-, und Dürresaison kommt bestimmt, was auch die inzwischen katastrophale Züge annehmende Klimakrise zwangsläufig ins Zentrum der öffentlichen Debatte rücken wird. Und das werden die Witterungsverhältnisse sein, unter denen die Klimabewegung in die Offensive treten kann, in denen die meisten Menschen, die über keine Klimaanlage verfügen, ganz selbstverständlich viel Verständnis für radikale Protestformen aufbringen werden. Das Wetter ist somit hochpolitisch geworden. Alle werden hiervon reden,18 es in ihr politisches Kalkül und ihre aktivistischen Planungen als wichtigen Faktor aufnehmen. And the joke is on you, liebe 68er samt der anachronistischen, sozialdemokratischen Umverteilungs-Linken.19
Deswegen verfehlen die Verweise auf derzeit schlechte Umfragewerte der Klimabewegung, mit denen linksliberale Medien oder die „Bewegungsmanager“ der Linkspartei20 die Klimablockierer von ihren den alltäglichen kapitalistischen Betriebsablauf störenden Protestformen abbringen wollen, den Kern dieser politischen Wetterdynamik. Das Gerede von dem „Bärendienst“, den die „Letzte Generation“ der Klimapolitik erweisen solle, ist hohl. Die Klimakrise wird gänzlich unbeeindruckt von der Meinung des deutschen Bürgers über das Klima weiter voranschreiten, was auch die Stimmung in der Bevölkerung buchstäblich kippen lassen wird – ähnlich den klimatischen Kipppunkten des globalen Klimasystems. Schon die verheerende Flutkatastrophe in Westdeutschland und Bayern, die die Bundesrepublik 2021 mitten im Wahlkampf traf, kann durchaus als ein politischer Faktor, der den „Grünen“ Auftrieb verschaffte, begriffen werden.21
Die Klimakrise wird bei ihrem Voranschreiten der Klimabewegung weiterhin Zulauf bescheren – und das hat seine simple Ursache vor allem darin, dass der Kapitalismus aufgrund seines Wachstums- und Verwertungszwangs22 schlicht nicht in der Lage ist, die Klimakrise irgendwie zu bewältigen.23 Kapital ist der sich selbst verwertende Wert. Es ist das Geld, das durch Verfeuerung von Energie und Rohstoffen in der Warenproduktion zu mehr Geld werden muss. Es kann sich an nahezu alles anpassen, nur nicht an sich selbst. Deswegen steigen global die CO2-Emissionen weiter an, wobei dieser Emissionsanstieg nur durch Weltwirtschaftskrisen kurzfristig unterbrochen wurde.
Niemand hat doch gesagt, das in den Kinderwagen ein Politiker hätte sitzen können. Wenn er es denn hätte wollen. Weiter Sooo.
Das Festkleben auf den Straßen, das die „Letzte Generation“ praktiziert, ist eine aus dem Mut der Verzweiflung geborene Protestform, und sie kontrastiert mit der geradezu entwaffnenden politischen Naivität der Gruppe, die schlichte Appelle an die politischen Funktionsträger richtet, die Klimakrise doch zu lösen. Selbst der Verfassungsschutz musste trotz der aktuellen rechten Kampagne schlicht feststellen, dass diese Gruppe nicht „extremistisch“ ist, da sie schlicht „Funktionsträger zum Handeln auffordert“.24 Das Problem bei dieser Herangehensweise besteht aber darin, dass die politischen Funktionsträger aufgrund der obig genannten kapitalistischen Systemwidersprüche nicht in der Lage sind, der Klimakrise sinnvoll zu begegnen.
Ohne Systemtransformation, ohne Überwindung des kapitalistischen Wachstumszwangs ist eine Bekämpfung der Klimakrise unmöglich. Der Kapitalismus ist außerstande, effektive Klimapolitik zu betreiben. Dieser simple, von der Wertkritik seit Jahren thematisierte Zusammenhang hat sich inzwischen bis zur Taz,25 herumgesprochen. Anstatt der Spaltung der Klimabewegung durch Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Protestformen Vorschub zu leisten, käme es somit einerseits darauf an, dieses radikale Krisenbewusstsein in der Klimabewegung zu verallgemeinern, um die Diskrepanz zwischen den radikalen Protestformen mit den naiven Forderungen zu überwinden.
Und andererseits müsste der Fokus progressiver und emanzipatorischer Kräfte auf dem Kampf gegen repressive, postdemokratische Tendenzen in Staat und Politik liegen. Der Kampf um die Aufrechterhaltung der krisenbedingt schrumpfenden demokratischen Manövrierräume ist allein schon deswegen notwendig, damit nicht irgendwann die Suche nach Systemalternativen zur kapitalistischen Dauerkrise als „extremistisch“ eingestuft und mit „Präventivhaft“ bedacht wird. zumindest das Wetter dürfte bei diesem Unterfangen auch künftig leider mitspielen.
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Die aktuelle Klima- und Verkehrspolitik ist rechtswidrig und lebensbedrohlich.
UN- Generalsekretär Guterres hat den Stand der Dinge anlässlich der nun schon 27. UN-Klimakonferenz (COP) im ägyptischen Scharm-el-Scheich, treffend zusammengefasst:
„Wir sind unverändert auf dem Weg in die Klimahölle,- mit dem Fuß auf dem Gaspedal.“
Ja, wie sollte es auch anders sein, befindet wir uns doch in einem globalen Wettrennen um Marktanteile, Energie und Rohstoffe, um Wachstums- und Reichtums Vermehrung,- es geht um den Sieg,- zumindest darum vorne dabei zu sein und sei es letztlich auch in der Klimahölle.
Die Krebszelle hat auch kein Bewusstsein davon, dass ihre ungehemmte Vermehrung, auch ihren eigenen Untergang bedeutet. Der Kapitalismus wähnt sich immer noch in der Erfolgsspur, produziert
aber vor allem weltweite Zerstörung. Der „Maulwurf der Geschichte“ erweist sich als unersättliches Monster, das die Lebensgrundlagen untergräbt und Wüsten hinter sich zurück lässt.
Die klimaschädlichen Emissionen der EU sind z.B. etwa 10-mal so hoch, wie die CO2-Aufnahmefähigkeit ihrer Wälder, die durch Waldschäden und Waldbrände zudem immer mehr geschädigt werden. Unser ökologischer Imperialismus überschreitet längst wesentliche planetare Grenzen und gefährdet das Leben und das Überleben der Menschheit.
Klimaamok und tödlicher Autowahn
Die gegenwärtige Situation eines faktisch neuerlichen Ausnahmezustands oder verdeckten Kriegszustandes wird benutzt, Energie billig zu halten und den Autoverkehr weiter zu fördern, obwohl das Klimarahmenabkommen, der Pariser Klimavertrag und hierzulande zusätzlich das Grundgesetz und der Beschluss des Bundesgerichtshofes zum Klimagesetz rechtsverbindlich das genaue Gegenteil erfordern. Nämlich die Emissionen so schnell, verbindlich und konkret zu senken, dass den kommenden Generationen hinreichende Handlungsmöglichkeiten bleiben und Ihre Freiheitsrechte nicht extrem beschnitten werden (siehe Beschluss des BGH).
Die aktuelle Klima- und Verkehrspolitik in Deutschland ist insofern eindeutig rechtswidrig und verfehlt gerade im Verkehrssektor nun schon seit Jahren die Klimaziele, doch auch die Gesamtemissionen sind seit Corona so stark gestiegen wie seit 1990 nicht mehr. Eine unveränderte Verkehrspolitik pro Auto,- ein 49 Euro-Ticket ist ja kein klares Signal pro ÖPNV-, kann man inzwischen nur als kriminell bezeichnen, denn sie ist in mehrfacher Hinsicht lebensbedrohlich.
Einmal natürlich wegen der vielen tragischen Unfälle, die oft die Schwächsten, wie die Radfahrer, am Schwersten treffen, dann aber natürlich auch wegen der verheerenden Gesundheitsfolgeschäden durch Lärm und Feinstaub,- so sterben in Europa jährlich etwa 400000 Menschen an den Folgen des Autoverkehrs und dann natürlich wegen der verheerenden globalen Klimafolgen.
Wenn die EU und Deutschland die Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens ernst genommen hätten, dann hätten sie längst eine wirklich radikale Verkehrs- und Energiewende einleiten müssen, die vor allem bedeutet hätte, massiv Energie einzusparen und sich vom motorisierten Individualverkehr zu verabschieden.
Es ist schon perfide, wenn Medien und einige Politiker denjenigen, die diesen alltäglichen Klima-und Verkehrswahnsinn beenden wollen, die Schuld am tragischen Tod einer Radfahrerin zuschieben
und Klimaaktivisten, die für unser aller Zukunft kämpfen, kriminalisieren. Das ist eine regelrechte Diffamierungs- und Hetzkampagne, die zeigt, dass unsere Demokratie gefährdet ist.
Es braucht Solidarität mit den mutigen Klimaschützern und eine nationale und globale Offensive der Klimabewegung! Aber, nicht nur das Klima ist in Gefahr!
Klima-Ausnahmezustand
Wenn hier schon von Klima-RAF getönt wird, dann zeigt ein fossil-technofaschistischer Staatskapitalismus hier schon einmal seine Fratze und bis zum Klima-Ausnahmezustand ist es dann nicht mehr weit; der aber kein Klimanotstand zur Bekämpfung der Klimakatastrophe, sondern ein permanenter Ausnahmezustand zur Aufrechterhaltung der Macht- und Besitzverhältnisse und einer ungestörten Kapitalakkumulation sein dürfte, was ja auch die eigentliche Aufgabe des kapitalistischen Staates ist.
Seit der Rede eines VW-Chefs auf einem GRÜNEN-Parteitag, gibt es eine neue Art von historischem Kompromiss, der Wachstum und Klima versöhnen soll, was natürlich unmöglich ist und mit einem Green Deal vor allem den Kapitalismus und auch das Klima retten sollte. Allerdings scheint sich mittlerweile doch eher ein fossil-digitaler, zunehmend militarisierter Kapitalismus, der neben der bisherigen Globalisierung expansiv geostrategische Interessen verfolgt, durchzusetzen (siehe Birgit Mahnkopf, Der Kampf um Eurasien, Blätter für deutsche und internationale Politik 10`22).
Die Welt erlebt derzeit eine Art Klima- Amoklauf, mit ungebremsten Investitionen in fossile Brennstoffe und ungebremster Naturzerstörung und Klimapolitik scheint nur noch eine Art Alibi- und Feigenblattfunktion zu haben, beim Great Game um den globalen Kuchen.
Klimaschutz und Demokratie werden zusehends als Wachstumshemmnisse betrachtet, die in der allgemeinen Mobilmachung für den globalen Konkurrenzkampf nicht länger stören sollen.
Reise nach Ägypten
Die derzeitige Situation wurde und wird denn auch international zum Anlass genommen, alle bisherigen Versuche eines global koordinierten Klimaschutzes nun vollends zu entsorgen und allenfalls über Anpassung und Entschädigungen zu reden. Klimaschützer wie Greta Thunberg reisten erst gar nicht nach Ägypten, das ja auch noch von einem undemokratischen Militärregime beherrscht wird. Der Süden und wichtige Schwellenländer wie China, Indien und natürlich Russland signalisieren inzwischen deutliche Skepsis gegen die vom Westen betriebene Klimapolitik, die nur dem eigenen Vorteil zu dienen scheint und den eigenen technologischen Vorsprung zu Ungunsten der Anderen ausnutzen will. Wie ernst ist es denn mit dem Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen, wenn er vor allem die Kohle meint und was ist von einem westlichen Klimaklub zu halten, wenn er seine Mitglieder durch ein CO2- Grenzausgleichssystem schützt, nachdem man in den letzten Jahren „schmutzige“, emissionsintensive Produktion aus den „Metropolen“ ausgelagert hat und das vor allem, „schmutzige“ kohleabhängige Länder benachteiligt. Dieser Egoismus wird natürlich weltweit höchst kritisch gesehen und auch, dass die Verpflichtungen des Westens die Kosten des Klimawandels wegen der historischen Klimaschuld auszugleichen, nicht eingehalten werden.
Wie gehabt ! Mit ihren Fahnen stehen die Bananen.
Auch Deutschland macht sich inzwischen klimapolitisch immer mehr unglaubwürdig.
Mit seiner Verkehrspolitik, die unverändert motorisierten Individualverkehr fördert und nicht den ÖPNV und die Bahn, der noch ausgeweiteten Subventionspolitik für fossile Brennstoffe, der Laufzeitverlängerung für Kohle- und Atomkraftwerke und der Bremse für die eh viel zu geringe CO2-Steuer. Daran können auch die salbungsvollen Worte eines Herrn Habeck, von einer deutschen Führungsrolle beim Klimaschutz nichts ändern. Man wird an seinen Taten gemessen und nicht an seinen Versprechen und schönen Worten.
Es wird weltweit, auch in der EU klar gesehen und auch laut kritisiert, dass es bei dem 200 Mrd. € – Subventionspaket keineswegs um eine energetische Notlage geht, sondern um Kostensenkungen für die deutsche Wirtschaft, um ihre internationalen Konkurrenzfähigkeit zu bewahren und noch zu verbessern. Und das geplante CO2- Grenzausgleichssystem dient weniger dem Klimaschutz, sondern ist vielmehr klassischer Protektionismus, der den eigenen technologischen Vorsprung nutzt, um die Konkurrenten zu benachteiligen. Siehe auch der Handelskrieg USA- China.
Endspiel- das finale Great Game
Es ist eine Rückkehr zu politischen, ökonomischen und finanziellen Methoden der End- 20er und Anfangs- 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Wohin diese geführt haben, müsste eigentlich noch in schrecklicher Erinnerung sein,- doch Aufrüstung und direkte und indirekte Kriegsführung und Expansion sind schon wieder als Auswege aus der „Krise“ salonfähig.
Es ist allerhöchste Zeit, zu erkennen, dass es unendliches Wachstum nicht geben kann, aus ökonomischen und ökologischen Gründen. Es bedeutet früher oder später Krieg und es bedeutet vor allem eine irreversible Zerstörung der Lebensgrundlagen.
Eine wirksame, globale Klimapolitik ist nicht möglich, wenn jeder nur den eigenen Vorteil sucht und der reiche Westen vor allem seine Besitzstände und seine Gewinner-Position bewahren will.
Egal, wer letztlich dieses globale Great Game um Macht, Märkte, Rohstoffe und Energie gewinnen wird, am Ende werden wir alle Verlierer sein, weil wir das eigentlich relevante Great Game, das mit dem System Erde und dem Klima krachend verlieren werden,- ohne Chance auf einen Neustart.
Die Klimakatastrophe ist irreversibel und geht nicht einfach irgendwann wieder vorbei. Sie ist wahrscheinlich jetzt schon ein sich selbst verstärkender und aufschaukelnder Prozess,- wir befinden uns längst auf dem immer steiler werdenden, abschüssigen Weg in eine lebensfeindliche Klimahölle, auf dem es schon längst nicht mehr vorwärts, sondern nur noch abwärts geht und auf dem bald keine Umkehr mehr möglich sein wird.
Immer weiteres Wachstum gibt es nur auf Kosten anderer, vermeintlich Schwächerer und es gefährdet die Weiterexistenz der Menschheit. Das sollten die Mächtigen der Welt endlich realisieren, bei Ihrem Gipfel in Bali, ehe sie über weiteres Wirtschaftswachstum palavern. Der Klimagipfel in Ägypten war für sie nur ein Zwischenstopp, wo mal wieder „Reise nach Jerusalem“ gespielt wurde, -bloß dass eben die besten Plätze schon vorher vergeben waren,- welch unerträgliches Aussitzen.
Wenn die Reichen, wie festgeklebt, auf ihren exklusiven Stühlen sitzen bleiben und nicht einmal aufstehen, um wirklich mitzuspielen beim Kampf ums globale Überleben und um einen wirklichen Kurswechsel, dann zeigt sich erneut die Verblendung der Macht, die selbst angesichts des Abgrunds nur voran kommen will. Man sollte sich die Emissionen für die Reise nach Ägypten sparen und lieber zu Hause Straßen blockieren, wo immer möglich auf die Bremse treten und Sand im Getriebe sein.
Eine Politik zur Verhinderung der Klimakatastrophe braucht Glaubwürdigkeit, Gerechtigkeit, eine starke vernunftgeleitete Führung, neue Institutionen und Bündnisse.
Eine Politik zur Verhinderung der Klimakatastrophe kann keine Lobbypolitik für Wirtschafts- und Finanzinteressen sein; sie muss unendliches Wachstum als Krankheit erkennen und benennen; sie braucht den Mut zur unbequemen Wahrheit, die Weitsicht, jetzt für Morgen zu handeln; sie muss Gerechtigkeit als Voraussetzung jeder Lösung begreifen und weniger als mehr; sie muss den Glauben an höhere Ziele als Geldvermehrung und Konsum erneuern und die Menschen begeistern und aktivieren für das höchste Ziel: den Kampf für den Fortbestand des Lebens und für die Verhinderung der Klimakatastrophe. „Der Sinn des Lebens ist, dass Leben weitergeht.“, – wenn wir das vergessen, werden wir zu Dienern des Todes und sind nicht mehr, als Teil eines Krebsgeschwürs, das nicht einmal weiß, dass das Ende seines Wirtskörpers auch sein eigenes Ende bedeutet.
Jürgen Tallig der Autor war Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig
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Bundeshaushalt 2023: Die Klimaziele beim Verkehr werden verfehlt und dennoch gibt auch die Ampel die kostspieligen Autoprivilegien nicht auf. Die Ampel zementiert den Status quo. Sie klammert sich an den Verkehr der Gegenwart auf Kosten der Zukunft.
Das Deutschlandticket kommt – ein Durchbruch, mit dem vor einem Jahr niemand gerechnet hatte. Die Kleinstaaterei der Tarifzonen wird bald Vergangenheit sein, Bus und Bahn werden günstiger. Und dennoch: Der Verkehr bleibt das Schlusslicht beim Klimaschutz. Die Regierung verweigert die Wende in Richtung klimafreundliche Mobilität. Letztes Jahr hat sie erneut die Vorgaben des Klimaschutzgesetzes gerissen. Macht sie so weiter, dürfte sie auch das Verkehrsklimaziel für 2030 krachend verfehlen: Bis dahin sollen die Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um die Hälfte sinken – mit den bisherigen Maßnahmen wird das nicht gelingen.
Eigentlich hat sich die Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag zu einer nachhaltigen und für alle bezahlbaren Mobilität bekannt. Der sogenannte Umweltverbund – also Bus-, Bahn-, Rad- und Fußverkehr – soll als Alternative zum Auto ausgebaut werden, in die Schiene künftig mehr Geld fließen als in die Straße. Doch Papier ist geduldig; in der Praxis ist davon kaum etwas zu erkennen. Im Entwurf für den Haushalt 2023 fehlen:
1. Ausreichende Investitionen, abgesichert durch einen langfristigen Umwelt- und Klimafonds.
2. Die Besteuerung der Verkehrsarten nach Umwelteffekten („tax bads not goods“).
3. Neue Steuerungsinstrumente wie ein Bonus-Malus-System bei der Kfz-Steuer oder eine Pkw-Maut.
4. Eine am Klima ausgerichtete Subventionspolitik.
5. Der Ausbau von Planungs- und Personalkapazitäten für die Verkehrswende.
Dabei müsste der Verkehrshaushalt 2023 endlich erste Schritte gehen, damit wir bis 2030 einen Verkehr erreichen können, wie wir ihn haben wollen: resilient, ökologisch und sozial. Stattdessen wird der Bundestag kommende Woche abermals mehr Mittel für das Auto freigeben als für den Umweltverbund. Die Investitionen in die Straße werden auf 11,5 Milliarden Euro erhöht, während sie für die Schiene bei rund 9,5 Milliarden verharren. Der Staat fördert also weiter die Strukturen, die für den größten Teil der Verkehrsemissionen verantwortlich sind, und verhindert damit den Übergang in eine klimafreundliche Mobilität.
Auch beim Radverkehr wird gekürzt. Hier stehen lediglich 561 Millionen Euro zur Verfügung. Dabei hatte die Verkehrsministerkonferenz im Mai 2022 einstimmig beschlossen, die Investitionen fürs Rad auf 1 Milliarden Euro pro Jahr zu erhöhen – für jedes Jahr bis 2030. Zwar wird allen Verkehrsarten für die Folgejahre Geld zugesichert; an der Priorität für die Straße ändert das aber nichts. Beim ÖPNV klafft ebenfalls eine Lücke: Das Geld reicht vorne und hinten nicht, um das Bus- und Bahnangebot zu verbessern. Zusätzliche Verbindungen und neue, umweltfreundlichere Fahrzeuge werden dringend benötigt, doch dafür sieht der Bundeshaushalt kaum etwas vor. Es drohen sogar Kürzungen beim Angebot, weil Personal- und Energiekosten stark gestiegen sind. Allein diese Preissteigerungen auszugleichen, würde für 2023 drei Milliarden Euro zusätzlich erfordern.
Dumm – Dümmer – Politiker-innen der Regierungen. Alle Politiker-innen müssen für gemachte Schäden haftbar gemacht werden können. Die heutige Narrenfreiheit muss ein Ende haben !
Diese Privilegien führen zu immensen Steuerausfällen und stellen de facto Subventionen dar. Meist sind sie ungerecht, da vor allem Besserverdienende profitieren. Klimapolitisch sind sie fatal, denn sie konterkarieren alles, was den Verkehr klimaschonender macht. Mit den zusätzlichen Einnahmen ließen sich Bus-, Bahn-, Rad- und Fußverkehr locker ausbauen. Doch die Devise „viel Geld hilft viel“ trifft nicht immer zu. Oft werden Fördertöpfe nicht ausgeschöpft, weil in der Verwaltung das Personal für die Planung fehlt oder Baufirmen keine freien Kapazitäten haben. Hinzu kommen bürokratische Hürden und hohe Eigenanteile, die Kommunen und Unternehmen abschrecken.
In einer großen Dokumentation von Arte versuchen Wissenschaftler und Ärzte das Wissen über Impfungen zusammenzufassen.
Vorbehalte gegen gewisse Impfstoffe äußern nicht nur Impfskeptiker. Vielmehr kommen in der rund eineinhalbstündigen Arte-Doku-Sendung* Wissenschaftler und Ärztinnen zu Wort. Die französische Dokumentarfilmerin Anne Georget räumt ihnen genügend Zeit ein, damit sie ihre Befunde und Bedenken für Laien verständlich machen können. Auslöser für den Film war die Covid-Pandemie, welche die Menschen noch mehr als vorher in Impfgegner und in Befürworter aller empfohlenen Impfungen aufspaltete. Ziel der Doku war es, den Meinungsgraben mit Argumenten zu Nutzen und Risiken der Impfungen zu überbrücken. Doch in Frankreich und in der Romandie kritisierten Impfforscher, dass die Sendung tendenziös und einseitig gewesen sei und wichtige Informationen gefehlt hätten.
In der Arte-Doku äußert sich zum Beispiel Gregory Poland, der Impfstoffe gegen Pocken, Masern und das Zika-Virus mitentwickelt hat und zurzeit an einem Covid-Impfstoff forscht. Oder der Epidemiologe William Foege, der in Afrika und Indien erfolgreiche Impfkampagnen gegen Pocken und Masern führte, oder der Schwede Peter Aaby, der die Impfkampagnen in Guinea-Bissau untersuchte und die unspezifischen Wirkungen von Impfungen erforschte (Infosperber berichtete).
Im Folgenden sind ihre Argumente anhand der wichtigsten Themen zusammengefasst. Zwei weitere Wissenschaftler, der Virologe Didier Trono und der Immunologe Alain Fischer beurteilen Aussagen der Sendung kontrovers.
Massenimpfungen
In diesem Abschnitt argumentiert die Doku, dass Pandemien wie etwa Pocken durch Massenimpfungen nicht auszurotten seien. Besser wäre es, gezielt nur Menschen in Gegenden mit infizierten Personen zu impfen. William Foege untermauert die These anhand von Impfkampagnen gegen Pocken in Nigeria 1967, wo es gelang, mit sieben Prozent Geimpften die Pocken zu stoppen. Dieselbe Methode wurde in den Jahren 1973/74 angewandt in Indien, das innert einem Jahr von Pocken befreit wurde (Bei Minute 11:38 im Film)
Auf RTS 1 stufte Didier Trono, Leiter des Virologie-Labors der ETH-Lausanne, die Pockenimpfung als gutes Beispiel für solche gezielten Impfungen ein, da Pockensymptome sehr gut erkennbar seien. Doch bei Krankheiten mit erst spät sichtbaren Symptomen komme die gezielte Impfung zu spät. Auch Massenimpfungen hätten anderenorts zur Ausrottung der Pocken beigetragen.
In der Zeitung Express erklärt der Pariser Immunologe Alain Fischer, dass Pandemien wie beispielsweise Kinderlähmung nur dank der Massenimpfung bei uns verschwunden seien.
Kinderkrankheiten
Die Arte-Doku geht auf die Frage ein, ob die heute hohe Impfrate bei Kleinkindern dazu führe, dass sich Kinderkrankheiten hin zu den Jugendlichen und Erwachsenen verschieben und deshalb weitaus schlimmere Folgen nach sich ziehen würden. Es sind Beobachtungen, die beispielsweise die Allgemeinpraktikerin Geneviève Farrachi in ihre Praxis in der Nähe von Dijon feststellt und die diese mit Aussagen des Virologen Raymond Bastin untermauert. Dieser erklärte 1977, dass eine flächendeckende Masernimpfung ein erhöhtes Risiko schwerer Fälle bei Erwachsenen und Neugeborenen zur Folge habe (25:18). Der Infektiologe Guillaume Béraud von der Uniklinik Poitiers erklärt dazu, dass Kinder vor Einführung der Impfung die Masern mit fünf oder sechs Jahren durchmachten (26:49). Die hohe Masern-Impfrate während der Epidemie 2010/11 hätte bewirkt, dass sich die 16-Jährigen am häufigsten ansteckten, was in diesem Alter mehr Risiken bedeute.
Alain Fischer sagte im «Express»: Masern seien eine Krankheit mit schwerwiegenderen Folgen. Obschon sie in der Regel harmlos verlaufe, gebe es heute weltweit jährlich 135’000 nicht geimpfte Kinder, die an Masern sterben. Zudem schütze die Rötelnimpfung Schwangere vor der Geburt eines behinderten Kindes.
Masern-Ausschlag bei einem nigerianischen Mädchen. Der Großteil der weltweit auftretenden Krankheitsfälle betrifft den afrikanischen Kontinent.
Fischers Statistik ist approximativ, denn nach Angaben der WHO von 2018 gibt es weltweit jährlich 140’000 Maserntote, darin befinden sich alle Altersgruppen, geimpft oder ungeimpft. Didier Trono erklärt, die Ungeimpften und nicht die Geimpften würden riskieren, später an Masern zu erkranken (weil sie sich wegen der hohen Impfraten als Kinder selten anstecken), und postuliert, dass die generelle Impfung gegen Kinderkrankheiten helfe, besonders Vulnerable zu schützen, die sich wegen eines eingeschränkten Immunsystems nicht impfen lassen dürfen.
Impfungen gegen Atemwegserkrankungen
Die eingeschränkte Wirkung dieser Impfungen gegen Viren in den Atemwegen charakterisiert Michel de Lorgeril, Experte für Auswirkungen von Medikamenten und Impfungen, dahingehend (28:58), dass es bei Geimpften zwar zu weniger Erkrankungen komme, dass sie jedoch nach wie vor Viren über die Atemwegsorgane ausscheiden und deshalb ansteckend sein können. Menschen jedoch, die sich auf natürlich Weise über die Atemwege infizierten, würden einen besseren Schutz ihrer Atemwege aufweisen, sodass bei ihnen eine Übertragung der Krankheit sehr unwahrscheinlich wird. Für de Lorgeril bestätigen die Covid-Impfungen erneut diese eingeschränkte Wirkung der Impfung auf Atemwegserkrankungen.
Laut Fischer hätte man darauf hinweisen müssen, dass die Covid-Impfung das Risiko einer Ansteckung reduziere, auch wenn sie diese nicht ausschliesse.
Fehlende Doppelblind- und Langzeitstudien
An Behörden und Impfstoffproduzenten richtet die Arte-Doku gravierende Vorwürfe. Sie würden die Impfstoffe ohne die eingehenden, für Medikamente üblichen Prüfungen auf den Markt bringen. Der Franzose und bekennende Impfbefürworter Romain Gherardi, der während 30 Jahren die Auswirkungen von Impfstoffen auf Risikogruppen untersuchte, spricht von fehlenden präklinischen Studien zur Untersuchung von Auswirkungen auf die Erbsubstanz oder Fruchtbarkeit. Er wirft den Impfherstellern vor, Kosten sparen zu wollen.
Gezeigt wird, wie Ronald Reagan 1986 den «National childhood vaccine injury act» unterzeichnete, der Hersteller von der Haftung für schwere Nebenwirkungen entbindet.
Die Schlussfolgerung der Doku lautet: «Impfstoffe sind die einzigen Medizinprodukte, die eine gesetzliche Immunität geniessen.» Peter Gøtzsche, Begründer der Cochrane-Gruppe, einer internationalen Vereinigung von Ärzten, die klinische Studien von Medikamenten und Impfungen systematisch auswerten, fordert, dass Impfstoffe höhere Standards als andere Medikamente erfüllen sollten, da Impfstoffe Gesunden verabreicht werden und länger im Körper bleiben, Medikamente dagegen im Notfall abgesetzt werden können (39:90).
Trono erklärt, dass man diese Aussage nicht verallgemeinern dürfe, es gäbe präklinische Tests, infolge von Dringlichkeit jedoch nicht in dem Ausmass, wie es zu wünschen wäre.
Peter Doshi, Herausgeber des «British Medical Journal», warf den Herstellern der Corona-Impfstoffe vor, die eingeleiteten Doppelblindstudien willkürlich abgebrochen und nicht zu Ende geführt zu haben.
Wechsel- und Nebenwirkungen
Unerwünschten Wirkungen, wie sie bei Medikamenten vorkommen, zeigt der dänische Anthropologe Peter Aaby (32:40) anhand von Studien zur Kindersterblichkeit bei 200’000 Menschen in Guinea-Bissau. So sank hier – wie später in Senegal, im Kongo und in Indien ebenfalls – die Kindersterblichkeit nach Masern-Impfungen um mindestens 50 Prozent. Masern allein waren aber für eine solch hohe Sterblichkeit nicht ausschlaggebend, also muss die Impfung die Gesundheit umfassender beeinflusst haben. Aaby stellte fest, dass die Sterblichkeit der Mädchen sank wenn man die kombinierte Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten vor derjenigen gegen Masern verabreicht. [Infosperber hat ausführlich darüber berichtet: hier und hier]. Aaby folgert, dass bestimmte Impfstoffe nicht nur gegen eine Krankheit wirken, sondern insgesamt das Immunsystem beeinflussen.
HPV-Impfungen
Weil Langzeitwirkungen der Impfung gegen das Humane Papillomavirus (HPV), welches Gebärmutterhalskrebs auslösen kann, bis heute zu wenig abgeklärt seien, rät Frauenärztin Diane Harper von dieser Impfung jetzt ab (47:30). Zuvor war sie als Prüfärztin für klinische Versuche für die Pharmakonzerne Merck und GSK tätig. Anstelle der Impfung empfiehlt sie regelmässige Vorsorgeuntersuchungen, weil in 90 Prozent der Fälle das langsam wachsende Virus verschwindet. Von den restlichen 10 Prozent würden 5 Prozent Beschwerden verursachen, die anderen 5 Prozent entwickeln eine Krebsvorstufe, woraus sich ohne Behandlung nach 30 Jahren bei 40 Prozent ein Krebs entwickeln kann. De Lorgeril (49:52) demonstriert, wie es sogar zu einem Anstieg der Krankheit in jenen Ländern kam, in denen gegen HVP viel geimpft wurde, so in Norwegen, Australien und Schweden, während in Dänemark oder Frankreich, wo wenig geimpft wurde, die Häufigkeit von Gebärmutterhalskrebs zurückging. Dafür gebe es zurzeit erst Vermutungen: Junge Frauen könnten vor der Impfung bereits infiziert gewesen sein, oder sie verzichten als Geimpfte auf die Früherkennung, oder aber der Impfstoff, so de Lorgeril, rotte nur einige Virenstämme aus, sodass sich andere HPV-Viren umso stärker ausbreiten können.
Gesundheitsmarketing
Anhand von Filmsequenzen wird gezeigt, wie vornehmlich in den USA die Impfhersteller mit raffinierten Angstmethoden ihre Impfungen als Garantie für Gesundheit anpreisen. Diane Harper nennt als Beispiel die Werbung für den HPV-Impfstoff «Gardasil» von Merck. Die Kampagne habe darauf beruht: «Willst Du Deine Kleine nicht impfen, so stirbt sie an Gebärmutterkrebs.» (54:05) Wie in der Doku zu sehen ist, sind es die Bilder von jungen besorgten Mädchen, welche diese Aussage suggerieren. Harper intervenierte bei Merck, deren Antwort lautete: «Angst verkauft sich.»
Peter Doshi prangert insbesondere die auf die Tränendrüse drückende Werbung der Grippeimpfung für Kleinkinder ab sechs Monaten an, wie sie die CDC, die USA-Gesundheitsbehörde, aufschaltete (43.18). Epidemiologe Tom Jefferson, Mitglied des Nordic Cochrane Center, bietet hier Aufklärung (45:37). Von allen klinischen Studien zu Grippeimpfstoffen habe nicht eine einzige einen Rückgang der Sterblichkeitsrate aufzeigen können. Es müssen, so Jefferson, zwischen 33 und 99 Erwachsene geimpft werden, um einen einzigen Grippefall verhindern zu können.
Die USA würden die Grippeimpfung ab sechs Monaten empfehlen, um dadurch die Grosseltern schützen zu können, quasi aus Solidarität, verteidigt Fischer das Vorgehen. Auf den Grund dieser für ihn zwar diskutablen Strategie hätte man hinweisen müssen.
Wirkverstärker
Um die Wirkung zu verstärken werden Impfstoffen Substanzen wie Aluminium und früher sogar Quecksilber in geringen Mengen beigefügt. Unmittelbare Folgen entdeckten Romain Gherardi und andere Kollegen in Bordeaux in den 1990er-Jahren bei einer Muskelentnahme im Schulterbereich. Entzündliche Stellen enthielten bestimmte Immunzellen (Makrophagen) mit Aluminiumhydroxidkristallen (55:47). Der Nachweis ergab, dass sie von Impfungen stammten, welche die Patienten viele Jahre zuvor erhielten. Damals galt es als sicher, dass sich diese Aluminiumkristalle auflösen würden. Die Annahme beruhte auf einer Studie von 1967 an zwei Kaninchen, die ergab, dass die Kaninchen innert 28 Tagen 5 Prozent des Aluminiums ausscheiden. Es wurde einfach gefolgert, dass es mit der Zeit ganz ausgeschieden wird. Alle weiteren Untersuchungen zum Verhalten dieses Wirkverstärkers waren mathematische Modelle, die auf der Studie der beiden Kaninchen beruhten.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die eingeblendete Szene eines Impfausschusses von 2018, in der die USA-Gesundheitsbehörde CDC den neuen Impfstoff Hepslisav-B präsentierte (1:00:35). Gefragt, ob es angesichts der Anzahl neuer Wirkverstärker Bedenken wegen Wechselwirkungen mit den Zusatzstoffen anderer Impfungen gäbe, lautet die offizielle Antwort von Dr. Shelly: «Wir verfügen über keine Daten, um eine Empfehlung in irgendeiner Weise auszusprechen.» Deshalb werde angeraten, dass Impfungen die gleichzeitig gespritzt werden, auf verschiede Gliedmassen verteilt werden (1:01:19). Die grosse Frage, so Gherardi, die nie gestellt werde, sei jene, wie sich die Mehrfachimpfung auswirke.
Die von Gherardi festgestellten eingelagerten Aluminiumkristalle im Muskelgewebe seien noch nie in Kindern, den Hauptempfängern der damit verstärkten Impfstoffen, festgestellt worden, hält Fischer dagegen. Milliarden Menschen seien so geimpft worden ohne Schäden davon zu tragen. Der möglicherweise unvorteilhafte Einfluss unterschiedlicher Wirkverstärker, sogenannter Adjuvantien, bei Mehrfachimpfungen war weder Trono noch Fischer eine Bemerkung wert. Das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt für Kleinkinder ab dem 2. Monat die Impfung mit dem Kombinationsimpfstoff gegen Diphtherie, Starrkrampf, Keuchhusten, ferner die Impfstoffe gegen Kinderlähmung, gegen bakterielle Hirnhaut- und Kehlkopfentzündung, gegen Hepatitis B und gegen Pneumokokken. Weitere Dosen werden Kindern im Alter von 4 und 12 Monaten empfohlen. Dazu kommt der Kombinationsimpfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln in zwei Dosen im Alter von 9 und 12 Monaten, also Impfungen gegen insgesamt zehn Krankheiten.
Einfluss auf das Immunsystem
Zum Abschluss stellt die Arte-Doku die Frage, inwieweit die Impfung Einfluss auf das Immunsystem nimmt und inwiefern sich dadurch auch das Mikrobiom im Darm verändert, das im Ileum – einem Teil des Dünndarms – mittels Bakterien und Viren über 90 Prozent der Antikörper für die Immunabwehr produziert. So stellt Poland in diesem Zusammenhang die Frage, wie viele Impfstoffe der Mensch in seinem Leben überhaupt verkraften kann (1:04:20). Der Immunologe Mark Davis erklärt anhand des Cytomegalovirus, dass Bakterien und Viren sogar sehr nützliche Mikroorganismen seien (1:06:00). Dieses Herpes-Virus, das bei immungeschwächten Personen schlimmstenfalls Hirnhautentzündung hervorrufen kann, wurde bei 16 Zwillingspaaren auf seine Wirkung hin untersucht. Dabei war der eine Zwilling infiziert, der andere nicht. Die Infizierten bildeten viel mehr Antikörper gegen Grippe als die Nicht-Infizierten.
Die Erkenntnis, dass Milliarden von Mikroorganismen in und auf unserem Körper leben und in Wechselwirkung mit ihm stehen, mache ein Umdenken nötig bei der rigorosen Bekämpfung von Viren und Bakterien. In diesem Zusammenhang weist Immunologe Gérard Eberl vom Institut Pasteur auf die Korrelation hin, dass ansteckende Krankheiten wie Masern inzwischen unter Kontrolle gebracht worden seien. Allerdings sei es parallel zum enormen Rückgang dieser Infektionskrankheiten zu einem Anstieg von entzündlichen Erkrankungen wie Autoimmunerkrankungen oder Diabetes gekommen (1:10:40). Das führte zur Theorie, dass entzündliche Krankheiten in dem Masse zunehmen, als der Infektionsdruck durch Krankheitserreger nachlässt. Poland postuliert, dass Infektionskrankheiten deshalb eine entscheidende Rolle für unser Immunsystem spielen (1:12:30). Welche Faktoren die Zunahme von Autoimmunkrankheiten und Allergien auslösen, ob es die Ernährung ist, die Impfstoffe, die Kombination bestimmter Medikamente oder alle Faktoren zusammen, müsse noch erforscht werden.
Personalisierter Impfstoff:
Ein personalisierter Impfstoff könnte anhand eines individuellen Immunprofils entwickelt werden. Dieses Profil, das sich in den Human Leukozyt Antigenen (HLA) wiederspiegelt – für deren Entdeckung Jean Dausset 1980 den Nobelpreis erhielt – könnte den Hinweis geben. Unter dem Begriff «Vaccinomics» hat Poland 2011 ein solches Vorgehen zur Diskussion gestellt. Demzufolge sollte man zunächst feststellen, wie eine Person auf einen Impfstoff reagiert (1:17:46). Ob sie überhaupt anfällig für eine Krankheit sei, oder nur einen milden Verlauf durchmachen würde. In seiner Überlegung erhält Poland Unterstützung von Ursula Wiedermann, die sich für einen Paradigmenwechsel ausspricht (1:18:33). Parallel zu Impfprogrammen mit der Zielsetzung einer Herdenimmunität sollten Impfungen nicht mit dem Giesskannensystem eingesetzt werden. Denn es gebe Bevölkerungsgruppen wie die Senioren, die adipösen Kinder oder chronisch Kranke, die anders geimpft werden müssten. Das Dogma «one shot fits all» stimme nicht mehr.
In Bezug auf diesen Vorschlag, basierend auf dem HLA-System entgegnet Fischer, dass es wohl individuelle Reaktionen gegen Impfungen gebe, doch diese Faktoren seien sehr komplex und mit dem heutigen Wissen nicht messbar. Personalisierte Empfehlungen gebe es schon heute. Etwa dass Impfungen gegen die Grippe oder gegen Gürtelrose nur für ältere Personen empfohlen werden, oder jene gegen Keuchhusten nur für Eltern mit Neugeborenen, damit diese geschützt sind.
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Die ARTE-Sendung im Original auf Französisch hier.
Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.
2.) von Oben —. Masern-Ausschlag bei einem nigerianischen Mädchen. Der Großteil der weltweit auftretenden Krankheitsfälle betrifft den afrikanischen Kontinent.
Mike Blyth – Eigenes Werk
Measles in a Nigerian child. This view shows the redness well.
Wer derzeit in Frankfurt an der Oder über die Promenade schlendert, sieht Bagger auf der polnischen Seite arbeiten. Sie bauen Steinwälle, sogenannte Buhnen, die in den Fluss ragen. Mit den Bauwerken sollen die Wassermassen in die Flussmitte umgeleitet werden, damit sich dort die Fließgeschwindigkeit erhöht und sich die Oder tiefer in ihr Bett eingräbt. Ziel ist eine Wassertiefe von 1,80 Meter, die die Flussschifffahrt praktisch im ganzen Jahr ermöglichen soll. Denn Polen hat Großes vor mit dem Grenzfluss, und dafür muss die Fahrrinne der Oder für Binnenschiffe vertieft werden.
Das Nachbarland plant in Świnoujście (Swinemünde) an der Ostsee einen riesigen neuen Containerhafen, der wenige Kilometer hinter der deutsch-polnischen Grenze jährlich zwei Mio. Standardcontainer umschlagen soll. Die Stadt Świnoujście liegt auf der Insel Usedom, das Container-Terminal soll auf der gegenüberliegenden Swina-Seite gebaut werden, dort, wo es bereits eine Hafenanlage für Flüssigerdgas gibt, ein sogenanntes LNG-Terminal. Und weil die zwei Mio. Container irgendwie ins Landesinnere geschafft werden müssen, funktioniert der Plan nur, wenn die Ware auch über die Oder verschifft werden kann.
Aber das ist nur der kleine Teil des Plans für die Oder. Der größere ist die „Oder-Elbe-Donau-Wasserstraße“, die einen Weg von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer eröffnen soll. Grundlage ist ein Staatsvertrag zwischen Tschechien und Polen, auch Ungarn ist mit an Bord. Das tschechische Verkehrsministerium legte Ende 2018 eine Machbarkeitsstudie vor, nach der das Gesamtprojekt fast 600 Mrd. Kronen (22 Mrd. Euro) kostet. Ende 2020 stellte die Regierung des damaligen Premierministers Andrej Babiš die ersten 15 Mrd. Kronen (550 Mio. Euro) zur Verfügung, mit denen der tschechische Teil der Oder von Ostrava bis zur polnischen Grenze hin schiffbar gemacht werden soll.
Die Elbe ist in Tschechien bereits bis Ústí nad Labem mit Staustufen kanalisiert, riesige Doppelschleusen garantieren, dass vier Schubverbände gleichzeitig angehoben oder abgesenkt werden können. Bei Děčín soll nun eine neue Schleuse gebaut werden, die Umweltverträglichkeitsprüfung ist bereits abgeschlossen. Aber dahinter ist Schluss, auf deutscher Seite ist die Elbe noch nicht so stark zum Kanal reguliert. Im Gegenteil: In Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern sind die Elbauen ein solch einzigartiges Landschaftsbiotop, dass sie als Biosphärenreservat unter Schutz gestellt wurden. Die tschechische Flussschifffahrt kommt allerdings immer häufiger zum Erliegen, denn die Elbe hatte auch in diesem Sommer wieder so wenig Wasser, dass im Unterlauf sogar die Autofähren eingestellt werden mussten.
In ihrem aktuellen Zustand ist auf der Elbe Schifffahrt selten länger als sechs Monate möglich. Deshalb verhandelt Tschechien mit Deutschland über ein neues Abkommen, um die Schiffbarkeit der Elbe zu verbessern. Zwar stimmt es, dass eine auf dem Fluss transportierte Tonne Fracht weniger Kohlendioxid verursacht, als wenn diese auf der Straße transportiert würde. „In der Gesamtbetrachtung schneidet die Wasserstraße aber schlechter ab, wenn sie dafür ausgebaut werden muss“, sagte Steffi Lemke, als sie noch nicht Bundesumweltministerin war, sondern grüne Bundestagsabgeordnete aus Sachsen-Anhalt und Mitglied der Parlamentariergruppe „frei fließende Flüsse“. In dieser haben sich Abgeordnete von Union, SPD, Linkspartei, FDP und Grünen zusammengeschlossen, um parteiübergreifend gegen den Flussausbau zu agieren. Denn auch Deutschland investiert etwa in den Donau-Ausbau, insgesamt mehr als eine Mrd. Euro. Noch ist die Donau hinter Straubing auf etwa 70 Kilometern nicht in ein genormtes Korsett gezwängt, es gibt Überschwemmungsflächen, Altarme und fast natürliche Ufer. Doch um die Schifffahrtsverhältnisse zu verbessern, werden seit 2020 zwischen Straubing und Vilshofen Buhnen in den Fluss gebaut, Ufer befestigt, die Sohle ausgebaggert.
Auch die Elbe darf nicht bleiben, wie sie ist, zumindest nicht dort, wo die Deutschen einen ökonomischen Nutzen aus ihr ziehen. Rund um Hamburg wird die Elbe regelmäßig ausgebaggert. Damit die immer größeren Containerschiffe den Hamburger Hafen erreichen können, wird der Fluss eben angepasst. Die jüngste – mittlerweile neunte – Vertiefung wurde Anfang 2022 beendet, Kostenpunkt: rund 800 Mio. Euro. Seit Januar sollen nun Schiffe mit 13,50 Meter Tiefgang auf dem 130 Kilometer langen Elbabschnitt fahren können.
Umweltpolitiker wie der niedersächsische Grüne Stefan Wenzel hatten vor der letzten Elbvertiefung gewarnt, der Mündungstrichter werde verschlicken. Viele Elbfischer hätten wichtige Fanggründe verloren, der Stint, einst wichtigster Fisch, sei im Naturschutzgebiet Elbe und den Inseln nahezu verschwunden. „Die gesamte Be- und Entwässerung des Marschlandes, insbesondere des Obstanbaugebietes ‚Altes Land‘ ist in Gefahr“, so Wenzel. Tatsächlich verschlickt jetzt sogar die Fahrrinne, Baggerschiffe, die dafür sorgen sollen, dass sie mindestens 13,50 Meter tief ist, kommen kaum noch hinterher.
Die Grenze des Machbaren ist überschritten
Baggern, Normen, Stauen – seit jeher hat sich der Mensch die Flüsse zunutze gemacht. Doch jetzt müssen wir erkennen: Die Grenze des Machbaren ist überschritten. Biotope versagen ihren Dienst als Wasserspeicher, Grundwasserleiter trocknen aus, Trinkwasser wird knapp, Lieferketten unterbrechen, weil die Flüsse nicht mehr schiffbar sind. Im Juli 2019 betrug der Elbpegel in Magdeburg nur noch 45 Zentimeter. Am 18. August dieses Jahres fiel der Pegel des Rheins in Emmerich gar auf minus drei Zentimeter, ein neuer Negativrekord. Dass hier auf dem Niederrhein überhaupt noch Schiffe fahren konnten, lag lediglich daran, dass die Fahrrinne immer weiter ausgebaggert worden war.
Die Erderhitzung hat unser gemäßigtes Klima bereits so stark verändert, dass Extremwetter immer häufiger werden und ganze Täler unbewohnbar machen: Simbach am Inn in Niederbayern wurde im Sommer 2016 von einem sogenannten tausendjährigen Hochwasser plattgewalzt, 2017 traf es Goslar im Harz, 2018 erwischte es zuerst das Vogtland, dann Orte in der Eifel. 2019 waren Kaufungen nahe Kassel an der Reihe oder Leißling nördlich von Naumburg an der Saale, 2020 dann das fränkische Herzogenaurach oder Mühlhausen in Thüringen. 2021 folgte das Ahrtal, die Orte an der Erft, an Rur und Ruhr.
Auf der anderen Seite führt zu wenig Wasser zu existenziellen Problemen: Zwei Drittel des Berliner Trinkwassers werden aus Uferfiltrat der Spree gewonnen. Deshalb – so ein Vertrag zwischen Berlin und Brandenburg – sollen mindestens acht Kubikmeter Wasser je Sekunde über die Landesgrenze fließen. Wie aber kann das gelingen, wenn am Pegel Leibsch im Unterspreewald nicht einmal mehr ein halber Kubikmeter Wasser fließt – wie in den Trockenjahren 2018, 2019 oder 2022? Mittlerweile gibt es Pläne, eine Rohrleitung an die Ostsee zu verlegen und das schnell wachsende Berlin mit einer Meerwasser-Entsalzungsanlage zu versorgen.
Gold Alge, Quecksilber, Chemikalien: Das Fischsterben in der Oder
Ökoenergie wird nicht reichen, um unser Wirtschaftsmodell zu erhalten – Verschwendung ist keine Option mehr. Auch E-Autos wiegen ein bis zwei Tonnen und befördern im Durchschnitt nur 1,3 Insassen – das ist ineffizient. Eine Entgegnung auf Malte Kreutzfeldt.
Die Energiewende ist angeblich ganz einfach. Man muss nur E-Autos bestellen, die Häuser dämmen und Wärmepumpen einbauen – und schon ist das Klima gerettet. So sieht es jedenfalls sinngemäß unser ehemaliger taz-Kollege Malte Kreutzfeldt, der daher glaubt, dass das „grüne Wachstum“ eine reale Option sei (taz vom 11. 11. 22).
Natürlich wäre es schön, wenn wir unser Leben nicht ändern müssten, sofern wir nur genug Windräder und Solarpaneele installieren. Doch leider ist es eine Illusion, dass der Ökostrom reichen könnte, um ewiges Wachstum zu befeuern.
Indirekt gibt Malte sogar selbst zu, dass er einem Traum anhängt. Denn es fällt auf, dass große Teile der Wirtschaft bei ihm fehlen. Er schreibt über E-Autos, aber nicht über Lkws, Schiffe oder Flugzeuge, die mit Batterien nicht zu betreiben sind. Sie würden synthetische Kraftstoffe benötigen, die nur mit enormen Mengen an Ökostrom herzustellen sind. Malte freut sich über Wärmepumpen, verschweigt aber, dass Neubauten künftig unterbleiben müssen, weil sie Flächen versiegeln und Zement große Mengen an Treibhausgasen erzeugt. Auch zur Industrie sagt Malte nichts, als würden Waren ohne Energie entstehen. Nur die Stahl- und Chemiebranchen streift er kurz, ohne jedoch näher auszuführen, wie immens der Bedarf an Öko-Energie wäre: Allein die Chemieindustrie würde 685 Terawattstunden Strom im Jahr benötigen, wenn sie klimaneutral produzieren soll. Das ist weit mehr, als heute ganz Deutschland an Strom verbraucht.
Malte tut so, als würde die Wirtschaft nur aus Konsumenten bestehen, die sich Wärmepumpen und E-Autos anschaffen. Aber selbst dabei vereinfacht er. E-Autos tanken ja nicht einfach Strom, sondern benötigen große Batterien, die wiederum Energie und Rohstoffe fressen. E-Autos sind zwar klimaneutraler als Diesel- oder Benzinmotoren – aber nicht klimaneutral.
Beim Tunnelblick auf die Antriebsarten wird übersehen, wie ineffizient Autos grundsätzlich sind. Auch E-Autos wiegen ein bis zwei Tonnen und befördern im Durchschnitt nur 1,3 Insassen. Diese Verschwendung wird nicht möglich sein, wenn nur noch Öko-Energie zur Verfügung steht. Alle Klimastudien sind sich daher einig, dass die Zahl der Autos sinken muss. Während heute fast 50 Millionen Pkws durch die Bundesrepublik kurven, sollen es künftig maximal 30 Millionen sein. Dies wäre nicht das Ende der Mobilität. Man kann ja auch Bus fahren – oder sich ein Auto teilen.
Aber es wäre nicht mehr „grünes Wachstum“, sondern „grünes Schrumpfen“, wenn die Pkw-Flotte um 40 Prozent abnehmen soll. Viele Beschäftigte würden ihren Arbeitsplatz verlieren, denn derzeit sind hierzulande etwa 1,75 Millionen direkt oder indirekt für die Automobilindustrie tätig. Man kann die Frage auch anders stellen: Was soll aus Baden-Württemberg werden?
Natürlich entstehen neue Arbeitsplätze, wenn die Wirtschaft klimaneutral werden soll. Windräder installieren sich nicht von selbst, und auch die ökologische Landwirtschaft benötigt mehr Menschen als der heutige industrielle Anbau, der mit seinen Riesenmaschinen den Boden zerstört. Aber diesen Gesamtumbau der Wirtschaft darf man nicht trivialisieren, indem man sich nur auf E-Autos und Wärmepumpen konzentriert.
Es sind die Bürger welche für die Unfähigkeiten der Politiker-innen die Preise zahlen !
Die Energiewende wird zudem erschwert, weil der Solarstrom im Winter weitgehend ausfällt. Auch beim Wind kann es zu Flauten kommen. Ein Blackout muss jedoch unbedingt vermieden werden: Eine Stunde Stromausfall kostet die deutsche Wirtschaft derzeit eine Milliarde Euro.
Die Energiewende kann daher nur funktionieren, wenn gigantische Mengen an Strom gespeichert werden, um im Winter und bei Flauten zur Verfügung zu stehen. Auch dieses Thema kommt bei Malte nur am Rande vor. Lapidar stellt er fest, dass Batterien billiger werden. Aber das macht sie noch nicht billig. IT-Milliardär Bill Gates hat kürzlich vorgerechnet, wie viele Speicher nötig wären, um Tokio auch nur drei Tage lang mit Energie zu versorgen: „Es wären über 14 Millionen Batterien. Das ist mehr Speicherkapazität, als die ganze Welt in einem Jahrzehnt herstellt. Kaufpreis: 400 Milliarden Dollar … Und das wären nur die Anschaffungskosten. Andere Ausgaben wie Installierung und Wartung wären noch gar nicht eingerechnet.“
Zudem eignen sich Batterien nur, um kurzfristige Engpässe zu überbrücken. Die saisonalen Unterschiede zwischen Sommer und Winter lassen sich damit nicht ausgleichen. Daher wird an „grünem Wasserstoff“ geforscht, der im Sommer aus überschüssigem Solarstrom entstehen soll. Technisch ist Elektrolyse möglich, aber noch sehr teuer. Zudem geht unterwegs sehr viel Energie verloren, weil die Wirkungsgrade beim Wasserstoff so niedrig sind.
Oben — Karikatur von Gerhard Mester zum Thema Energiespeicherung und erneuerbare Energien – Text:Mehr Solarenergie!! /Mehr Windenergie! / („dark flauts“) /Mehr Energiespeicher! –„Dunkelflaute“: „Dunkelflaute“ sind Zeiten, in denen Solar- und Windstrom nicht verfügbar ist.
Als die Tochter unserer Autorin an Long Covid erkrankt, beginnt für die Familie eine Zeit voller Schmerz und Verzweiflung, Liebe und Hilfsbereitschaft. Wie aus dem „Wurm“ wieder Olivia wurde.
Die Sonne scheint. Die Frösche quaken am Teich. Es ist ein wunderschöner Tag im Mai. Einer, an dem man einfach nur draußen sein möchte. Doch wir sind drinnen, die Vorhänge und Fenster geschlossen. Meine Tochter Olivia liegt im Bett. Seit Monaten. Sie kann nicht aufstehen, nicht mal sitzen oder den Kopf heben. Es ist, als würde eine unsichtbare, tonnenschwere Last sie erdrücken. „Ich bin kein richtiger Mensch mehr“, sagt sie. „Ich bin nur noch ein Wurm.“ Sie ist 13 Jahre alt und an Long Covid erkrankt.
Ich habe keine Worte für den Schmerz, meine Tochter so leiden zu sehen, und noch weniger für meine Fassungslosigkeit darüber, dass sich in unserem Gesundheitssystem niemand verantwortlich fühlt, niemand bereit ist, ihr zu helfen. Das Kind soll einfach daliegen, tatsächlich wie ein Wurm. Und ich als Mutter soll keinen Stress machen, denn Stress schadet ihr.
Die Pandemiezeit war eine Herausforderung für mich und meine Familie. Olivias 15-jähriger Bruder Willi ist schwer geistig behindert, und als im Lockdown alle Hilfen wegfielen, wurde unser Alltag zur Zerreißprobe. Aber Anfang des Jahres waren wir sicher, das Schlimmste sei überstanden, obwohl wir uns mit Corona ansteckten: Wir kannten niemanden, der einen schweren Verlauf hatte, wir waren alle geimpft und die Kinder gingen zu dem Zeitpunkt seit einem halben Jahr wieder ziemlich normal zur Schule.
Nie hätte ich gedacht, dass unser persönlicher Corona-Albtraum da erst anfängt. Ein halbes Jahr erleben wir eine unfassbare Zeit, voller Schmerz und Verzweiflung, aber auch voller Liebe und Hilfsbereitschaft. Und am Ende, wie ein Wunder, findet unsere Tochter zurück ins Leben.
Alles beginnt in der ersten Januarwoche, als meine Familie sich mit dem Coronavirus ansteckt. Um Olivia mache ich mir am wenigsten Sorgen. Ich bin vielmehr beunruhigt, wie wohl ihr Bruder und unsere Eltern durch die Infektion kommen: Sie kommen gut durch.
Zwei Wochen nachdem Willi das Virus aus seiner Förderschule mitgebracht hat, kann er auch schon wieder hingehen. Olivia ist nach mehreren Tagen mit hohem Fieber noch zu groggy. Sie übt lustlos mit mir ein paar Englischvokabeln, chillt im Bett und schaut Youtube. Ich rechne fest damit, dass es ihr bald besser geht.
Aber es geht nicht besser, im Gegenteil. Die Party zum 13. Geburtstag fällt aus. Die geschenkten Lammfellstiefel bleiben unbenutzt auf dem Flur, und das neue 1.500er-„Harry Potter“-Puzzle müssen wir auf dem Boden machen. Auf einem Stuhl sitzen ist für Olivia zu anstrengend.
Der Kinderarzt beruhigt uns: „Das ist normal, Jugendliche benötigten oft viele Wochen, um sich von der Infektion zu erholen.“ Genervt denke ich an meine aufgeschobene Arbeit.
Ich besorge Vitamin D, eine Freundin bringt Proteinpulver, mein Mann Matthias presst frische Säfte. Draußen regnet es. Olivia verbringt viel Zeit auf dem Boden neben meinem Computer, während ich versuche zu arbeiten. Sie bastelt und hört Hörbücher: „Robinson Crusoe“, „Moby Dick“, je länger, desto besser. Zwischendurch spielen wir. Doch die Kalahasteinchen erscheinen Olivia plötzlich schwer, das Backgammonbrett riesig. Immer öfter krabbelt sie zurück in ihren Deckenhaufen, um sich auszuruhen.
Auch die zwei Treppen bis in mein Arbeitszimmer kann sie bald nur noch auf allen vieren bewältigen. „Ich bin so fertig!“, sind ihre häufigsten Worte. Nachmittags kümmere ich mich um Willi. Er findet es super, dass seine kleine Schwester jetzt so viel im Bett liegt, bereit zum Kuscheln. Nur, dass sie nicht mehr zu ihm ins Zimmer zum Murmeln kommen kann, findet er blöd.
Immer wieder spreche ich davon, dass wir an die frische Luft gehen sollten und dass Olivia nächste Woche hoffentlich ein paar Stunden zur Schule könne. Immer wieder antwortet sie, das sei alles viel zu anstrengend. Ich kann mir das nicht vorstellen. Ich bin ungeduldig.
Olivia erzählt von Albträumen, in denen ich sie zur Schule zwinge, wo sie sitzt und sich nicht bewegen kann. Der Kinderarzt nimmt Blut ab und sagt, ich müsse mir keine Sorgen machen, alles sei in Ordnung. Aber ich mache mir Sorgen, denn ganz offensichtlich ist nicht alles in Ordnung.
Es wäre mir lieber gewesen, man hätte etwas im Blut gefunden, das mir erklärte, warum mein Kind immer schwächer wird – so etwas wie Eisenmangel, wo es nur ein paar Tabletten braucht.
„Ich funktioniere einfach nicht mehr“, weint mein Kind
Im ersten Jahr der Pandemie, als es das Wort Long Covid noch nicht gab, hörte ich im Radio, dass sich in Schweden einige Kinder ohne Vorerkrankungen selbst nach leichten Infektionen nicht erholten. Ich fragte mich damals, ob es wohl eine Nachricht wert gewesen wäre, wenn das Problem nur kranke und behinderte Kinder betroffen hätte.Auch ich stelle im Verlauf von Olivias Erkrankung fest, dass ihre gesundheitlichen Probleme deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommen, wenn ich berichte, dass wir sonst 70 Kilometer im Monat zusammen joggen, dass Olivia noch im Sommer mit ihren Pfadfinderinnen drei Wochen durch den Wald gewandert ist.
„Ich funktioniere einfach nicht mehr“, weint mein Kind nun häufig. Sie ist ratlos über das, was mit ihrem Körper passiert.
Meine Befürchtung, Olivia könne Long Covid haben, wächst täglich. Aber ich spreche das Wort nicht aus. Als wäre es ein schlechtes Omen. Nur mit dem Kinderarzt würde ich gerne darüber reden, doch er wimmelt uns ab. Nach zwei Monaten höre ich auf zu arbeiten und beginne stattdessen zu googeln. Ich finde Artikel, in denen Ärzte Long Covid bei Kindern entweder als überschätztes Problem bezeichnen oder mutmaßen, dass es das gar nicht gibt.
Eltern, die sich in Facebook-Gruppen über Long Covid austauschen, erzählen etwas ganz anderes. Viele der dort beschriebenen Kinder gingen seit über einem Jahr nicht zur Schule, würden im Rollstuhl geschoben und verbrächten die Tage allein im Bett. Ich lese von schweren Konzentrations- und Schlafstörungen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit, Muskelschwäche und -zuckungen, Lähmungen, Schwindel und immer wieder von starken Schmerzen und extremer Erschöpfung. Die meisten sind nach der Infektion, einige nach der Impfung erkrankt. Selbst die leicht Betroffenen sind weit entfernt von einer normalen Kindheit. Über Rehas oder Aufenthalte in psychosomatischen Kliniken erfahre ich, dass die Kinder kränker nach Hause kommen, als sie hingefahren sind.
„Pacing“ ist das Gegenteil von Kindsein
Über die Selbsthilfegruppen erhalte ich so viele, oft widersprüchliche, Informationen, dass ich überhaupt nicht mehr weiterweiß. Doch in einem Punkt sind sich alle einig: Das Wichtigste für die Erkrankten ist „Pacing“. Als ich das Wort google, habe ich die Hoffnung, es sei eine handfeste, medizinische Therapie. Aber es bedeutet nur, niemals mit den Kräften an die Grenze der eigenen Belastbarkeit zu gehen, sondern immer darunter zu bleiben. Das Gegenteil vom Kindsein.
Aber mir leuchtet ein, warum Pacing sein muss. Wann immer Olivia sich nur etwas zu sehr anstrengt, verschlechtert sich ihr Zustand. Ein sogenannter Crash.
Wir wechseln zu Willis Kinderärztin. Auch wenn sie, außer Globuli in Betracht zu ziehen, nichts tun kann, nimmt sie die Sache ernst, rät ebenfalls zur Schonung und überweist uns zu einem Herzecho, um eine Herzmuskelentzündung auszuschließen.
Ich höre auf, Olivia spanische Personalpronomen abzufragen oder zu versuchen, sie an die frische Luft zu zerren. Viele Stunden Häkeln, Puzzeln, SkipBo und zwei Staffeln argentinische Teenie-Telenovela später – für die Olivia im Leben vorher nie Zeit gehabt hätte – haben wir endlich das Gefühl, dass es langsam bergauf geht.
Doch nur ein einziger sonniger Nachmittag, an dem zum ersten Mal Schulfreundinnen kommen und Olivia im Bollerwagen durch die Siedlung ziehen, macht alles kaputt. Am Abend sagt Olivia, es sei der schönste Tag ihres Lebens gewesen. Am nächsten Morgen kann sie keinen einzigen Schritt mehr ohne Hilfe gehen, geschweige denn stehen.
Olivias Kopfschmerzen werden immer schlimmer. Ihr Herz rast selbst dann, wenn sie liegt, und gerät ständig aus dem Takt. Das macht ihr Angst – doch bis zu dem mühsam ergatterten Termin bei der Kardiologin sind es noch Wochen.
Ich fühle mich oft traurig, bin ungeduldig mit Matthias, und es fällt mir immer schwerer zu essen. Nicht mal der Kaffee schmeckt mehr.
Die Internetrecherche macht mir Angst. Ich lese, dass viele Eltern stark betroffener Kinder nicht von Post Covid oder Post Vac – also Long-Covid-Symptomen nach Impfung –, sondern von ME/CFS sprechen, dem Chronischen Fatigue-Syndrom, einer Erkrankung, die schon lange bekannt, aber weitestgehend unerforscht ist. Viele Erkrankte verbringen ihr Leben im Bett in abgedunkelten Zimmern. Nach jeglicher Aktivität verschlechtert sich der Zustand. ME/CFS tritt meist nach Virusinfektionen auf. Es gilt als nicht heilbar. Schon vor Corona litten daran über 250.000 Menschen in Deutschland – unterversorgt, psychologisiert, ignoriert. Sie nennen sich „lebende Tote“. Ich muss das verdrängen.
Als Olivia Fieber bekommt, verbringe ich die Nacht bei ihr im Bett, ich mag sie nicht mehr alleine lassen. Es ist Mitte März, nach 8.000 gepuzzelten Teilen und über zehn Meter Stricklieselband gehen wir das erste Mal ins Krankenhaus. Keiner von uns kann sich zu dem Zeitpunkt vorstellen, wie viele Krankenhausaufenthalte folgen werden und wie viele Monate es dauern wird, bis Olivia wieder in ihr Kinderzimmer und ich in unser Ehebett zurückkehre.
Ich gehe davon aus, dass mein Kind Long Covid hat und man ihm im Krankenhaus helfen wird. Aber es geht nie um Therapie, sondern nur um Ausschlussdiagnostik. Untersucht wird alles Erdenkliche, und wird nichts gefunden, ist die Diagnose entweder eine psychische Erkrankung oder Long Covid. Dauern die Symptome mehr als drei Monate an, spricht man von Post Covid, bei weiter anhaltenden schwerwiegenden Symptomen vom Chronischen Fatigue-Syndrom.
Viele Mechanismen dieser Erkrankungen sind bis jetzt unerforscht. Doch in mehreren medizinischen Publikationen lese ich, dass es sich bei Post Covid um eine Autoimmunerkrankung handeln könnte. Im Blut der meisten Patienten finden sich bestimmte Autoantikörper, die körpereigene Strukturen angreifen. Aber im Krankenhaus scheint sich damit niemand auszukennen. Kann es sein, dass ich mehr weiß als die Ärzt:innen?
Bei einer der vielen Blutabnahmen traue ich mich, vorsichtig um die Bestimmung dieser Autoantikörper zu bitten. Die Ärztin lacht verächtlich. Mit den Worten: „Brauchen Sie Hilfe von uns oder wir von Ihnen?“, werde ich auf meinen Platz verwiesen.
Das Schlimmste im Krankenhaus ist die Belastung für Olivia. Sie baut weiter ab. Neben den anstrengenden Untersuchungen, den weiten Wegen und Wartezeiten herrscht eine ständige Unruhe. Weinende Kinder, telefonierende Eltern, piepsende Geräte, selbst nachts ein ewiges Rein und Raus, Wecken um 7 Uhr – Pacing unmöglich.
Weil auf Olivia nicht gehört wird, muss ich mein Kind vor unnötigem Stress schützen. Man sagt ihr: „Du musst keine Angst haben. Es ist nicht schlimm.“ Doch wer kann beurteilen, was für einen anderen schlimm ist? Wir erleben, dass körperliche Reaktionen wie Herzrasen oder Schwindel, die sich mit den durchgeführten Untersuchungen nicht erklären lassen, als Angststörung abgetan werden. Oft verzweifelt Olivia, weil man ihr nicht glaubt. Mich hält man für eine Helikoptermutter.
Vor Olivias Erkrankung hatte ich mal gelesen, es sei schwierig, bei Kindern „Long Lockdown“ von Long Covid zu differenzieren, denn Symptome wie Kopfschmerzen oder Erschöpfung träfen auf beide Gruppen zu. Das leuchtete mir damals ein. Aber dass mein völlig gesundes und munteres Kind so viele Monate nach dem Lockdown jetzt zufällig ab dem Tag der Infektion psychisch krank geworden sein soll, ergibt keinen Sinn.
Als eine Krankenhauspsychologin kommt, denke ich, sie will uns helfen. So hatte ich es erlebt, als unser Sohn Willi nach seiner Geburt lange sehr krank gewesen war. Die Psychologin fragt mich, wie es mir geht. Es tut mir gut, endlich mit jemandem über meine Angst und Erschöpfung sprechen zu können. Doch als ihre Mimik am Ende des Gesprächs von verständnis- zu vorwurfsvoll wechselt, ist es wie ein Schlag in mein Gesicht: „Als Mutter müssen Sie das schützende Dach der Familie sein“, sagt sie, als wisse sie plötzlich, wer „schuld“ an der Erkrankung meiner Tochter ist. Eine einfache Rechnung: behinderter Bruder + heulende Mutter = psychosomatisch krankes Kind.
Dabei sind mein Mann und ich sehr wohl ein gutes Dach für unsere Familie – auch wenn es mit Willi oft sehr anstrengend ist. Mein jetziger Zustand ist nicht Auslöser von Olivias Erkrankung, er ist die Folge. Mir wird klar, dass ich hier gegen viel mehr als nur dieses scheiß Long Covid zu kämpfen habe. Ich nehme mir vor, nie wieder vor einer Krankenhauspsychologin zu weinen.
Bis heute frage ich mich, was gewesen wäre, wenn Olivia wirklich keine körperliche, sondern eine psychische Erkrankung gehabt hätte. Denn auch bis wir einen Psychotherapeuten finden würden, sollte mehr als ein halbes Jahr vergehen. Er arbeitet mit Olivia heute an den traumatischen Erfahrungen ihrer Erkrankung.
Wir hatten Olivia im Rollstuhl ins Krankenhaus gebracht und schieben sie eine Woche später liegend wieder nach Hause, ohne jegliches Behandlungskonzept. Ich kann das nicht glauben. Vielleicht sind die Ärztinnen genauso ratlos wie wir. Ich weiß es nicht, denn niemand spricht mit uns.
Aber wozu musste Olivia durch diese unvorstellbar belastende Diagnostik gehen – sogar Nervenwasser aus der Wirbelsäule wurde entnommen –, wenn die Diagnose Post Covid schlussendlich überhaupt keine therapeutische Konsequenz hat?
15 Jahre nach der Geburt meines ersten Kindes ist nun auch mein zweites ein Pflegefall. Der Toilettenstuhl, das Pflegebett und eine Matratze für mich kommen ins Wohnzimmer. Den Rollstuhl stellen wir nach oben in Olivias Zimmer, sie kann nicht mehr sitzen, nicht mal mehr den Kopf heben. Ihr verlassenes Zimmer gleicht bald einer Abstellkammer. Ich vermeide es, die Tür zu öffnen. Es schmerzt zu sehr.
Oben — Ein Team von Ärzten, Krankenschwestern und Physiotherapeuten kümmert sich um kritische Patienten mit COVID-19 auf der Intensivstation des Vila Nova Cachoeirinha Krankenhauses nördlich von São Paulo
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Erstellt: 12. Mai 2020
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2.) von Oben — Informationen anmeldenCoesfelderStraße mit Bezug auf die COVID-19-Regulierung auf dem Wochenmarkt inDülmen, Nordrhein-WestfalenDeutschland
Hat nicht eine jede Person das Recht ein 50 jähriges Versagen der Politiker-innen schön zu schreiben ?
Ein Debattenbeitrag von Malte Kreutzfeldt
Die derzeitige Stimmung: Die Energiewende ist zu langsam, um die Klimakatastrophe noch aufzuhalten. Dabei gibt es Anlass für Optimismus.
Dass Klima-Aktivist*innen eher pessimistisch sind, wenn es darum geht, ob die Klimakrise noch gestoppt werden kann, liegt auf der Hand. Ihre Rolle ist es, die Politik mit Kritik vor sich herzutreiben. Und so mehren sich rund um die Klimakonferenz, die derzeit im ägyptischen Scharm al-Scheich stattfindet, die düsteren Szenarien. Doch der Pessimismus ist nicht auf die Klima- und Umweltbewegung beschränkt. Auch aus der Wissenschaft kommen laute Warnungen. So erklärte der Expertenrat für Klimafragen letzte Woche in einem Gutachten für die Bundesregierung: „Die bisherigen Emissions-Reduktionsraten reichen bei weitem nicht aus, um die Klimaschutzziele für 2030 zu erreichen – weder in der Summe noch in den einzelnen Sektoren.“ Und taz-Kollegin Ulrike Herrmann vertritt – in ihrem neuen Buch „Das Ende des Kapitalismus“ – die These, dass es ausgeschlossen sei, jemals genug Ökostrom zu erzeugen, um die Treibhausgasemissionen auf null zu senken und gleichzeitig die Wirtschaftsleistung weiter zu steigern. Weil der Kapitalismus ohne Wachstum nicht funktioniere, lasse sich die Klimakrise darum nicht lösen, ohne ihn abzuschaffen.
Eine zentrale Grundlage für diesen Pessimismus ist die Aussage, dass Wind und Sonne – jene erneuerbaren Energien, die im Gegensatz zu Biomasse oder Wasserkraft praktisch unbegrenzt ausgebaut werden können und die darum in Zukunft den Großteil des Ökostroms liefern müssen – im Jahr 2020 gerade mal 7,7 Prozent des deutschen Endenergieverbrauchs geliefert haben. Da scheint der Weg zu 100 Prozent Erneuerbaren bis zum Jahr 2045 tatsächlich kaum zu schaffen.
Doch diese Zahl führt in die Irre. Denn für den Fortschritt der Energiewende ist der Endenergieverbrauch der falsche Maßstab. Er lässt den Bedarf größer erscheinen, als er in der Zukunft tatsächlich sein wird. Denn durch den Umstieg von fossilen Kraftstoffen auf Ökostrom sinkt der Endenergiebedarf im Verkehr und beim Heizen: Ein Liter Diesel hat einen Energiegehalt von etwa 10 Kilowattstunden. Damit kommt ein Wagen der Golf-Klasse etwa 17 Kilometer weit. Ein vergleichbar großes E-Auto fährt mit 10 Kilowattstunden Strom über 50 Kilometer. Durch den Umstieg auf Elektroautos, die mit Ökostrom angetrieben werden, sinkt der Bedarf an Endenergie um 70 Prozent.
Ähnlich sieht es beim Heizen aus: Bei Gas- und Ölheizungen geht ein Teil der Energie verloren; aus einer Kilowattstunde Energie im Brennstoff entsteht also immer weniger als eine Kilowattstunde Wärme in der Wohnung. Bei einer Wärmepumpe ist es umgekehrt: Sie entzieht der Umgebung Wärme und erzeugt dadurch aus einer Kilowattstunde Strom 3 bis 5 Kilowattstunden Wärme. Beim Umstieg von einer fossilen Heizung auf eine Wärmpumpe, die mit Ökostrom angetrieben wird, sinkt der Endenergiebedarf also auf ein Drittel bis ein Fünftel – ohne dass es in den Wohnungen kälter wird. Dazu kommt noch, dass jedes Jahr weitere 2 Prozent der Häuser gedämmt werden sollen, wodurch der Heizenergiebedarf sich meist mindestens halbiert. Auch wenn gleichzeitig der Wohnraum pro Person weiter steigen sollte, wird der Energiebedarf zum Heizen also stark sinken und die Umstellung auf Ökostrom damit viel einfacher als viele Rechnungen von Energiewende-Skeptiker*innen nahelegen – auch wenn man den gewaltigen Bedarf berücksichtigt, der etwa mit der Umstellung der Stahl- oder Chemiebranche auf klimaneutrale Produktion einhergeht.
Trotzdem kann man aber natürlich zu Recht die Frage stellen, ob die Energiewende schnell genug gelingen kann. Schließlich haben ja viele Medien gerade berichtet, dass der Expertenrat warnt, Deutschland werde seine selbst gesteckten Klimaziele für 2030 verfehlen. Was in der Berichterstattung ein wenig unterging, war aber die Bedingung, an die diese Aussage geknüpft war: Wenn die Emissionen weiterhin im gleichen Tempo sinken wie in den Jahren 2000 bis 2021. Doch dass die frühere Klimapolitik nicht ausreichend war, um Deutschland zumindest auf den 2-Grad-Pfad zu bringen, ist lange bekannt. Und genau aus diesem Grund hat die Ampelregierung ja nun vor, in den nächsten Jahren das Ausbautempo bei den Erneuerbaren zu vervierfachen, die Sanierungsrate bei Wohnhäusern zu verdoppeln, den Kohleausstieg vorzuziehen und ein schnelleres Ende des Verbrennungsmotors zu ermöglichen.
Die Inhalte der Klimabewegung mit ihren unterschiedlichen Strömungen wie Fridays For Future, Ende Gelände, Extinction Rebellion, Letzte Generation sind richtig. Sie sollten mit anderen sozialen Organisationen, welche sich ebenfalls für die Anhebung der Lebensqualität der Zivilgesellschaft einsetzen, wie Pro Bahn, Allgemein Deutscher Fahrrad Club, DGB, Verdi, VdK, Pro Asyl, Black Lives Matter ein Kartell bilden, dies wird zwangsläufig wirkungsvoll werden. Das bedarf über den Zusammenhalt hinaus, die anhaltende Dauer dessen.
Die Niedrigschwelligkeit an der Teilnahme von Critical Mass macht den Erfolg aus. Es bedarf lediglich des persönlichen guten Willens dazu. Mit einem verkehrssicherem Fahrrad, Fahrradhelm, Reflektoren an der Bekleidung, sowie Weste, Handgelenke, Knöchel. Dabei ist es möglich als Critical Mass in einer Stadt teilzunehmen, oder vor Ort selber solch eine Aktion zu organisieren.
Eine Solidarisierung von den Themen der Klimabewegung mit denen der sozialen Bewegungen mit ihren berechtigten Inhalten sind für alle eine Verstärkung. Durch die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum wird dies interessierte Einzelpersonen motivieren sich zu beteiligen. Was das Potential in der Wirklichkeit hat, sich zu einem erfolgreichen Selbstläufer zu entwickeln.
Alle Menschen, welche zu diesen Inhalten ihren MdL, MdB schreiben, werden ihren Erfolg erleben
Das Nutzen des mobilen Internets auf Smartphones ist ein Vorteil. Der Messenger Signal signal.org/de ist dabei gänzlich zu empfehlen. Mit dem Dienst Mastodon mastodon.social/explore kann sich öffentlich organisiert werden.
Es gibt sehr viel dadurch zu erreichen, indem die Menschen die Initiative in die eigene Hände nehmen und behalten. Alle können diesbezüglich mit ihrer Kommunikation in ihren Zirkeln andere Menschen motivieren. Die Zukunft wird das werden, was die gesamte Gesellschaft eigenständig gestaltet.
Es ist ratsam auf das Versammlungsrecht zu achten. Diesen Text sollten alle verwenden. Entsprechend Paragraph 6, Abs 1 VersG ist Personen, welche der rechtsextremen Szene und Organisationen angehören, der Zutritt zu dieser Veranstaltung zu verwehren, sie sind somit ausgeschlossen.
Um mit der Jugend ins Gespräch zu kommen, mag man es mit weißen Turnschuhen versuchen. Für den Ethikrat ist das auch eine Frage der Ästhetik.
Kürzlich ging ich im Nieselregen durch die Fußgängerzone, als ich auf den Ethikrat traf. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Der Ratsvorsitzende stand auf einer Leiter und versuchte, ein großes weißes Pappteil auf zwei Pappsäulen zu stecken, die ihm die beiden anderen Ratsmitglieder entgegenhielten. „Guten Tag“, sagte ich, „bauen Sie einen Stand auf?“ „Wir bemühen uns hier um eine Nachempfindung der Agora“, sagte der Ratsvorsitzende.
„Nun“, sagte ich und betrachte die schwankenden Pappsäulen, „wenn man es weiß, erkennt man es unbedingt. Und wozu sind die Turnschuhe gut?“ Ich deutete auf ein Bündel lehmverkrusteter Schuhe, die zu Füßen der Agora lagen. „Wir suchen den Kontakt zur Jugend“, sagte der Ratsvorsitzende heiter. „Da lag es nahe, über ästhetische Fragen ins Gespräch zu kommen.“ Er deutete auf ein Pappschild, auf dem in krakeliger Schrift stand: „5 Wege zum megaweißen Schuhwerk“, auf einem Tisch daneben standen Zahnpastatuben, Puderdosen und Bürsten.
„Ich habe mich schon immer gefragt, wie die Leute ihre Turnschuhe so weiß hinbekommen“, sagte ich und sah zu, wie die beiden anderen Ratsmitglieder versuchten, weitere Säulen aufzurichten. „Sie sind herzlich eingeladen, unsere Gespräche zu verfolgen“, sagte der Ratsvorsitzende und wies auf einen Klappstuhl neben sich.
Es dämmerte, die Passanten gingen achtlos an der Agora vorüber. Die Ratsmitglieder rückten die Tische mit dem Reinigungswerkzeug nach vorne, aber niemand blieb stehen. Schließlich sagte ich, um irgendwas zu sagen: „Ob ich Ihnen noch eine Frage vorlegen könnte?“, und fuhr fort: „Kürzlich las ich bei Epiktet“ – mir war es gelungen, fünf Seiten in der S-Bahn durchzulesen –, „dass man sich nur um das kümmern solle, was in der eigenen Gewalt liegt. Und das täte das äußere Ansehen und die gesellschaftliche Position nicht.
Die Agora fiel in sich zusammen
Aber ist es nicht das Credo heutzutage, dass man sich das alles erarbeiten kann? Dass aus mir eine Großjournalistin hätte werden können, wenn ich härter an mir gearbeitet hätte …“ „Megaweißes Schuhwerk“, unterbrach mich eine meckernde Teenagerstimme. „Die sind ja total lost!“ Andere Teenagerstimmen kicherten und ich sah, wie ein sehr weißer Turnschuh einer der Säulen einen Tritt gab. Die Agora fiel in sich zusammen.
Es war sonderbar, auch das stoische Selbstvertrauen des Ethikrats schien heute instabil. Der Vorsitzende kauerte sich auf seinem Klappstuhl zusammen, die beiden anderen Ratsmitglieder drängten sich neben ihn.
„Ich muss den Ethikrat fragen“, dachte ich damals, „warum Scham stechender als Traurigkeit sein kann“
Oben — Die Illustration zeigt zwei Bildrahmen: 1) Einen übergewichtigen Mann, der allein unter der ihn verbrennenden Sonne in einer wüsten Landschaft zwischen Tierknochen und ohne lebende Tiere oder Pflanzen sitzt 2) Ein Paradies mit vielen verschiedenen Tieren und Pflanzen, die in Harmonie mit Menschen leben Die Illustration wurde für eine Ausgabe eines Vegan-Magazins in Österreich gemacht, aber nicht verwendet. Sie zeigt die Probleme, die durch Tierausbeutung verursacht werden. Ergänzend steht am Bild: „Sie habend die Wahl … noch.“
Klimaaktivisten sollen in Bayern durch Präventivgewahrsam an ihren Blockaden gehindert werden. Das Polizeiaufgabengesetz, das eine solche Präventivhaft erlaubt, gehört reformiert. Denn niemand sollte wochen- oder gar monatelang ohne ein Gerichtsverfahren in Haft verschwinden, egal wie störend politische Aktionen auch sein mögen. Ein Kommentar.
Mehrere Menschen sollen in Bayern ohne Prozess für dreißig Tage einsitzen. Das teilte die Münchner Polizei am vergangenen Freitag mit: Zwölf Klimaaktivisten würden nach zwei Festklebeaktionen „vorbeugend“ eingesperrt, mindestens drei bleiben bis zum 2. Dezember in Haft. Die bayerische Polizei darf, ohne dass ein konkreter Tatverdacht vorliegt, zur Gefahrenabwehr eine Anordnung zu einem solchen Präventivgewahrsam erteilen.
Gesetzesgrundlage dafür ist das bayerische Polizeiaufgabengesetz (PAG). Die Novelle des Gesetzes im Jahr 2018 war hoch umstritten und von großen Demonstrationen begleitet.
Das härteste Polizeigesetz seit 1945 wurde dennoch rasch und geräuschlos im Mai 2018 durch den CSU-dominierten Landtag geschleust – nur fünf Tage nach einer Großdemonstration in München mit mehreren zehntausend Menschen. Heribert Prantl nannte den Polizeigewahrsam in der Süddeutschen Zeitung eine „Unendlichkeitshaft“, da das Gesetz anfangs vorsah, den Gewahrsam auf unbefristete Zeit verlängern zu können. Im geltenden Gesetz ist die Dauer dieser Vorbeugehaft auf zwei Monate begrenzt.
Die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag fordert unterdessen schon härtere Sanktionen gegen die Aktivisten: Haft- statt Geldstrafe soll es hageln, schon „wenn es durch die Blockaden im Berufsverkehr zu langen Staus kommt“. Eine solche Haft wäre jedoch im Rahmen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens zu verhängen – und gerade nicht wie bei der bayerischen Präventivhaft auf Zuruf der Polizei.
Ohne einen Anwalt
Personen in Bayern können nach Paragraph 17 PAG sogar in Präventivgewahrsam genommen werden, ohne dass ein Anwalt beigestellt wird. Damit ist ein Betroffener schlechter gestellt als jeder Verdächtige einer Straftat, dem selbstverständlich ein Rechtsbeistand zusteht.
Der bayerische CSU-Innenminister Joachim Hermann hatte zwar angekündigt, man plane dazu eine Korrektur im Gesetz. Konkret sagt er im Interview mit dem Merkur im Jahr 2019: „Wo immer eine längerfristige Gewahrsamnahme erfolgt, muss unmissverständlich ein Rechtsanwalt eingeschaltet werden.“ Doch selbst mit dieser rechtlichen Verbesserung: Am möglichen mehrwöchigen Vorbeugegewahrsam an sich würde sich dadurch nichts ändern.
Update: Seit einer Änderung des Paragraphen 97 PAG aus dem Jahr 2021 muss Betroffenen dann ein Anwalt gestellt werden, wenn der Gewahrsam über Mitternacht des Folgetages hinaus andauert.
Das PAG erlaubte schon seit 2017, dass sogenannte „Gefährder“ mehr als zwei Wochen ohne Gerichtsverfahren eingesperrt werden dürfen. Diese Präventivhaft wurde im ersten Jahr nach Inkrafttreten in elf Fällen länger als zwei Wochen angewendet, wie eine Prüfkommission berichtete. Zwischen zwei Wochen und zwei Monaten habe die Zeit der Ingewahrsamnahme dabei betragen.
Als „Gefährder“ wurden zumeist Asylbewerber stigmatisiert und weggesperrt. Sie haben bekanntlich keine Lobby, wenn sie wochen- oder gar monatelang ohne ein Gerichtsverfahren in Haft verschwinden. Entsprechend gering fiel daher auch die mediale Aufregung aus.
Die Ohnmacht der bayerischen Polizei
Ganz anders ist dies nun in dem aktuellen Fall der inhaftierten Klimaaktivisten, der heiß diskutiert wird. Da die „Klimakleber“ wegen eines tödlichen Unfalls in Berlin gerade ohnehin die Gemüter bewegen, wird nun ausnahmsweise bundesweit über die fragwürdige polizeiliche Präventivhaft berichtet.
Wer will von Oben Trüffel teilen, der muss schon Grunzen – Heimlich – Leise.
Eigentlich zeigt sich durch den Präventivgewahrsam nur die Ohnmacht der Polizei, die in Bayern mit 40.000 Polizeibeschäftigten zwar einen riesigen Apparat hat, aber mit Klimaaktivisten und ihren Blockaden nicht umzugehen weiß. Die Regeln macht sich die Polizei aber nicht selbst. Die eklatante Ignoranz gegenüber rechtsstaatlichen Standards muss dem Gesetzgeber ins Stammbuch geschrieben werden. Denn diese Standards sollten eigentlich selbstverständlich sein.
Ein gefährliches politisches Klima
Ja, die „Klimakleber“ stören, viele Menschen sind verärgert, wenn sie in als sinnlos empfundenen Staus stehen müssen. Aber deswegen dürfen nicht Maßnahmen gutgeheißen werden, die wir in anderen Ländern zu Recht als willkürlich brandmarken würden.
Ohne Protest und Druck für politische Anliegen kann es keine Veränderung geben. Ob man dieses Anliegen teilt oder nicht: Wie Protestierende behandelt werden, daran muss sich ein Rechtsstaat messen lassen. Vielleicht ist dieses politische Klima, das sich derzeit ausbreitet, mindestens ebenso gefährlich wie die Klimakatastrophe, vor der die Aktivisten warnen.
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Wie man in einem zivilisierten Land zu protestieren hat
Kolumne von Lin Hierse
Wir sind ein zivilisiertes Land, drum wird zivilisiert demonstriert! Bitte dankbar bleiben, gemäßigt – und niemanden während der Arbeitszeit stören!
Es gibt Regeln, und das geht jetzt wirklich zu weit. Protestieren, okay, Kritik äußern, ja, aber bitte höflich und respektvoll. Nicht zu laut werden hier, und was soll denn das mit dem Sekundenkleber? Und die Tomatensuppe! Der Kartoffelbrei! Die Erbsen! Das ist Lebensmittelverschwendung. Das ist Terror. Das trifft die Falschen. Das gehört sich einfach nicht. Und vor allem, und das ist das Allerschlimmste: Überzeugen wirst du damit niemanden.
Selbst Schuld also. Wenn die Polkappen schmelzen und der Meeresspiegel steigt, Städte überflutet werden und Wälder abbrennen, Bienen sterben und Vögel tot vom heißen Himmel fallen, Menschen verhungern und das Trinkwasser versiegt, wenn Politiker und Journalisten dich für den Tod einer Radfahrerin verantwortlich machen, noch bevor der Fall untersucht wurde, und wenn du sicherheitshalber als verdächtige Chaosaggroaktivistin 30 Tage ohne Prozess im Gefängnis landen kannst – selbst schuld, dass da niemand was tun will!
Der Ton macht nämlich die Musik. Lächel doch mal, zeig ein Mindestmaß an Respekt. Gegenüber dem Staat und seinen Regeln, auch wenn der Staat nicht immer respektvoll ist und die Regeln nicht immer sinnvoll. Gegenüber dem toten Maler, dessen Werk ich ehrlich gesagt kaum kenne, aber der zweifellos etwas geschaffen hat, das ich stärker beschützen will als unseren Lebensraum.
Zu Kaisers- oder Königs- Zeiten wurden Söldner der Staaten auch als Raubritter bekannt. Was die Demokratie so alles übernommen hat?
Gegenüber den einfachen Leuten, die zur Arbeit müssen oder in den Flieger. Und vor allem gegenüber der Art und Weise, wie wir die Dinge eben zu tun pflegen in diesem zivilisierten Land. Wir sind schließlich keine Tiere. Meistens. Wären wir Tiere, dann fräßen wir uns gegenseitig auf. Dann spürten wir das Ende längst kommen. Aber wir spüren zum Glück nichts mehr. Das macht uns menschlich.
Wir bleiben unantastbar
Wir können doch über alles reden. Du sollst dich doch engagieren für diese Gesellschaft, wir müssen ja der Spaltung entgegenwirken, einander die Hände reichen, damit eine die andere waschen kann. Du kannst etwas beitragen, aber lass die alten Meister da raus. Bitte, bitte nicht berühren. Weder van Gogh noch mich. Mein Leben und ich, wir bleiben unantastbar. Du sollst nicht an dieser Welt rütteln oder dich an ihr festkleben, stör mich nicht, jedenfalls nicht während meiner Arbeits- oder Freizeit oder zu anderen ungünstigen Momenten.
Oben — Binnen-i-radfahrerinnen Straßenschild „Ende der Bus- und Fahrradstrecke“ Schlagworte: Politische Korrektheit, Binnen-I Ort: Linz, Österreich Datum: 2005-01-15
Wirtschaftlich Denken suchten nicht die politische Bühne – dafür sind sie nicht geschaffen.
Ein Debattenbeitrag von Gerhard Hübener
Was tun gegen die hohen Strom- und Gaspreise? Ein Energiegeld pro Kopf wäre eine Möglichkeit – eine mit mehreren Vorteilen.
Die zwischen Bund und Ländern erzielte Einigung zur Gas- und Strompreisbremse geht in die falsche Richtung. Die Mehrkosten treffen Geringverdiener weitaus stärker als Besserverdienende, die Lenkungswirkung hoher Energiepreise wird deutlich geschwächt. Das makroökonomische Institut IMK der Böckler-Stiftung hatte für den Gaspreis ein Alternativmodell durchgerechnet, bei dem das Kontingent in Abhängigkeit von der Anzahl der Personen pro Haushalt festgelegt werden sollte. Die Kosten dafür wären nur halb so hoch wie bei dem von der Gaspreiskommission empfohlenen Modell, dem sich nun Bund und Länder angeschlossen haben.
Allerdings fehlten für das Modell des IMK die Daten darüber, wie viele Personen in einem Haushalt mit Gasversorgung leben. Und natürlich gibt es auch Geringverdiener mit wenig Personen je Haushalt in schlecht gedämmten Wohnungen, die beim Pro-Kopf-Kontingent schlechter abschneiden könnten.
Nur bei den reichsten 10 Prozent schießt die Kurve für den Energieverbrauch steil nach oben
Was für den Gaspreis allein schwierig erscheint, wird einfacher, wenn alle Energiearten betroffen sind. Die Bund-Länder-Einigung geht ja auch weit über den Gaspreis hinaus. Preise für Fernwärme sollen ebenso gedeckelt werden wie die Strompreise, Finanzhilfen für Öl und Holzpellets wurden zumindest angedeutet.
Anstelle eines Preisdeckels wäre eine Reduzierung der durchschnittlichen Nettokosten weitaus zielführender. In der Schweiz wird seit 2008 eine CO2-Abgabe auf alle fossilen Brennstoffe erhoben. Zwei Drittel der Einnahmen werden je Kopf der Bevölkerung zurückgezahlt, pro Monat über die gesetzliche Krankenkasse. Das Modell hat es ermöglicht, dass die Schweizer inzwischen bei einer Abgabenhöhe von 120 Euro je Tonne CO2 angekommen sind.
In Abwandlung des Schweizer Modells könnten die für Haushalte geplanten Subventionen zu 100 Prozent als Energiegeld je Kopf der Bevölkerung gezahlt werden. Anders als beim Pro-Kopf-Kontingent des IMK müssten keine zusätzlichen Daten erfasst werden. Der jeweilige Preis würde bestehen bleiben und damit die volle Lenkungswirkung.
Energieverbrauch korreliert mit steigendem Wohlstand
Die Vorteile wären ähnlich wie beim Alternativmodell des IMK: sozial gerechter, stärkere Lenkungswirkung, kostengünstiger. Das Energiegeld, als Ausgleich zu den gestiegenen Heizungskosten würde als monatlicher Betrag gezahlt werden – vom Finanzamt, von der Arbeitsagentur, von wem auch immer.
Der hohe Gaspreis im kommenden Winter (geschätzt doppelt so hoch wie der auf 12 Cent pro kWh subventionierte Preis) würde dagegen seine volle Lenkungswirkung beibehalten. Wer im letzten Jahr deutlich mehr als der Durchschnitt verbraucht hat, bekäme auch nur das durchschnittliche Energiegeld.
Gegen eine solche Regelung kommt vermutlich sofort das Beispiel vom armen Rentner in der schlecht gedämmten Altbauwohnung. Der Einwand ist prinzipiell berechtigt. Nur sollte man nicht immer den sogenannten kleinen Mann vorschieben, wenn vor allem Gut- und Besserverdienende Nutznießer der angeblich „bewährten Gießkannen-Subventionierungen sind.
Die Süddeutsche Zeitunghat gerade über eine Studie zum Verhältnis von Einkommen und Energieverbrauch berichtet. Der Energieverbrauch steigt proportional mit wachsendem Einkommen. 60 Prozent der Haushalte liegen unter dem Durchschnittsverbrauch. Nur bei den reichsten 10 Prozent schießt die Kurve für den Energieverbrauch steil nach oben. Diese 10 Prozent verbrauchen genauso viel wie die ärmsten 40 Prozent der deutschen Haushalte zusammen.
Damit sollte klar sein, wo das größte Einsparpotenzial liegt und wem eine Abschwächung des Preishebels vor allem zugutekommen würde. Geringverdiener in schlecht gedämmten Wohnungen könnten zielgerichtet und kostengünstiger über Instrumente wie Wohngeld oder Heizkostenzuschüsse unterstützt werden.
Fehlanreize bei Strom und Wirtschaft
Dass die Preisbremse nun auch auf den Strompreis erweitert werden soll, treibt die Fehlanreize auf die Spitze. Viele Haushalte, vermutlich nicht die ärmsten, haben sich für diesen Winter mit Elektroheizkörpern eingedeckt. Die Stadtwerke warnen schon vor möglichen Stromausfällen. Statt eines Strompreisdeckels sollten eher Maßnahmen gegen das Ausweichen auf Stromheizungen vorbereitet werden. Am einfachsten über die Erhöhung der Stromsteuer. Die Mehreinnahmen könnten einfach über das Energiegeld zurückgezahlt werden.
Auch für Industrie und Dienstleistungsbranchen wäre es wichtig, von der Gießkanne wegzukommen. Die Subventionen sollten auch hier nicht beim Gas- oder Strompreis ansetzen, sondern als Direktzahlungen an die Unternehmen fließen, um die Lenkungswirkung der Preise voll wirksam werden zu lassen.
Oben — Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.
Wann klebt sich einer an die ihre Aufgaben ignorierenden Politiker-innen fest ?
Von Naomi Klein
Niemand weiß, was aus dem „verloren gegangenen“ Klimabrief wurde. Bekannt ist nur dies: Alaa Abdel Fattah, wohl der prominenteste politische Gefangene Ägyptens, schrieb ihn im September in seiner Kairoer Gefängniszelle, während er sich im Hungerstreik befand. Der Brief handelte, wie er später erklärte, „von der Erderwärmung, und zwar aufgrund der Nachrichten aus Pakistan“.
Ihn beunruhigten die unvorstellbaren Flutmassen, die auf ihrem Höchststand dreiunddreißig Millionen Menschen obdachlos gemacht hatten. Und es ging ihm um die Klimanöte, deren Vorbote diese Katastrophe ist, und zugleich um die voraussehbar erbärmlichen Reaktionen staatlicherseits. Der Vorname Abdel Fattahs – eines IT-Visionärs und tiefschürfenden Intellektuellen – ist, wie mittlerweile auch der Hashtag #FreeAlaa, geradezu zu einem Synonym für die prodemokratische Revolution von 2011 geworden, die den Kairoer Tahrir-Platz in ein kochendes Meer junger Menschen verwandelte und der dreißigjährigen Herrschaft des ägyptischen Diktators Hosni Mubarak ein Ende setzte. Die vergangenen zehn Jahre verbrachte Alaa Abdel Fattah fast ununterbrochen hinter Gittern. Einmal wöchentlich kann er Briefe verschicken und empfangen. Anfang dieses Jahres erschien eine Auswahl seiner so poetischen wie hellsichtigen Gefängnisschriften unter dem Titel „You Have Not Yet Been Defeated“ als Buch und fand lebhafte Resonanz. (Eine deutsche Übersetzung erscheint in Kürze im Wagenbach-Verlag unter dem Titel „Ihr seid noch nicht besiegt“.)
Alaas Familie und seine Freunde leben Woche für Woche auf diese Briefe hin, erst recht seit er am 2. April in den Hungerstreik trat und anfangs nur Wasser und Salz zu sich nahm, später dann bloße 100 Kalorien täglich (während der Körper um die 2000 Kalorien braucht). Mit seinem Streik protestiert Alaa gegen den Skandal, dass man ihn wegen des Verbrechens, „Falschinformationen verbreitet“ zu haben, gefangen hält – vorgeblich deshalb, weil er einen Facebook-Post über die Folterung eines anderen Gefangenen geteilt hatte. Tatsächlich jedoch steht außer Zweifel, dass seine Inhaftierung potenzielle Revolutionäre dazu bringen soll, sich etwaige demokratische Träume gefälligst aus dem Kopf zu schlagen. Mit seinem Hungerstreik versucht Alaa, wichtige Zugeständnisse der Gefängnisverwaltung zu erzwingen, etwa Kontakt zum britischen Konsulat. Weil Alaas Mutter aus England stammt, konnte er Ende 2021 die britische Staatsbürgerschaft erlangen. Doch bislang verweigert man ihm die Kontaktaufnahme, sodass Alaa immer noch von Tag zu Tag körperlich dahinschwindet. „Er ist zu einem Gerippe mit klarem Kopf geworden“, sagte seine Schwester Mona Seif kürzlich.
Je länger der Hungerstreik sich hinzieht, desto kostbarer werden diese Briefe. Für seine Familie bedeuten sie nicht weniger als den Beweis, dass Alaa lebt. Aber der, in dem er über die Klimakatastrophe schrieb, kam nie bei seiner Mutter Laila Soueif an, die ihrerseits eine gestandene Menschenrechtsverfechterin und Intellektuelle ist. Vielleicht hatte sein Wärter, wie Alaa in einem Folgebrief spekulierte, „seinen Kaffee über dem Brief vergossen“. Wahrscheinlicher aber ist, man unterstellte ihm, dass er das verbotene Gebiet der „großen Politik“ gestreift habe – obwohl Alaa seinerseits sagt, er habe sich gehütet, die ägyptische Regierung auch nur zu erwähnen, und selbst über „die bevorstehende Konferenz“ kein Wort verloren.
Der letzte Punkt ist wichtig. Am 6. November wird der diesjährige Klimagipfel der Vereinten Nationen, kurz COP 27 genannt, beginnen und das ägyptische Scharm El-Scheich als Gastgeber fungieren, ganz wie es zuvor Städte wie Glasgow, Paris oder Durban taten. Zehntausende Delegierte aus aller Welt werden in dem Seebad absteigen – Staatschefs, Minister, Gesandte und Bürokraten ebenso wie Klimaaktivisten, NGO-Beobachter und Journalisten – alle mit farblich kodierten Akkreditierungsbändern und Plaketten auf der Brust. Und deshalb ist der verschwundene Brief so bedeutsam. Die Vorstellung, wie Alaa – trotz all der Kränkungen, die er und seine Familie in den letzten zehn Jahren erlitten haben –, in seiner Zelle sitzt und über unser aller Erde nachdenkt, hat etwas fast unerträglich Anrührendes: Da sitzt er, langsam verhungernd, und macht sich doch immer noch Sorgen über die Erderwärmung, über pakistanische Flutkatastrophen, aber auch über Extremismus in Indien und den Absturz der britischen Währung. Von alledem nämlich ist in seinen jüngsten Briefen, an denen seine Familie mich teilhaben ließ, die Rede.
Aber die Vorstellung hat auch etwas Beschämendes – etwas, das jedem, der nach Scharm El-Scheich unterwegs ist, zu denken geben sollte. Denn während Alaa über den Zustand unserer Welt grübelt, ist es alles andere als klar, dass diejenigen, die aus aller Welt demnächst in Ägypten zum Klimagipfel zusammenkommen, sich Gedanken über Alaa machen. Oder über die schätzungsweise 60 000 anderen politischen Gefangenen, die in Ägypten hinter Gittern sitzen, wo man Berichten zufolge barbarische Foltermethoden quasi am Fließband praktiziert. Oder über die ägyptischen Menschenrechts- und Klimaaktivisten, kritischen Journalisten und Wissenschaftler, die verfolgt, bespitzelt und mit Reiseverboten belegt werden – über das, was Human Rights Watch als Ägyptens „allgemeine Atmosphäre der Angst“ und als „gnadenlose Unterdrückung der Zivilgesellschaft“ bezeichnet.
Das ägyptische Regime gefällt sich darin, junge Menschen als offizielle Klimabotschafter – „youth leaders“ – vorzuführen, als Hoffnungsträger im Kampf gegen die Erderwärmung. (Viele Regierungen verfahren so schamlos doppelzüngig, um sich in Sachen Klima eine Art Feigenblatt zu verschaffen.) Es fällt allerdings schwer, dabei nicht an die mutigen „youth leaders“ des Arabischen Frühlings zu denken, von denen viele nach einem Jahrzehnt staatlicher Gewalt und Verfolgung vorzeitig gealtert sind; oder über das Ausmaß hinwegzusehen, in dem solche Systeme von der üppigen Militärhilfe westlicher Mächte, insbesondere der Vereinigten Staaten, profitieren. Es scheint fast, als wären jene Aktivisten einfach durch neuere, weniger lästige Modelle ersetzt worden. „Ich bin das Gespenst eines vergangenen Frühlings“, schrieb Alaa 2019 über sich selbst.
Dieses Gespenst wird den bevorstehenden Gipfel heimsuchen, als eisiger Schauer, der in jedem seiner hochtönenden Worte mitschwingt. Die unausgesprochene Frage dabei hat es in sich: Wenn die internationale Solidarität zu schwach ist, Alaa zu retten – die Ikone der Befreiungsträume einer ganzen Generation –, wie können wir da hoffen, die Erde bewohnbar zu halten?
Al-Sisis Ägypten: Eines der brutalsten und repressivsten Regime weltweit
Mohammed Rafi Arefin, der an der University of British Columbia Geografie lehrt und über urbane Umweltpolitik in Ägypten geforscht hat, sieht es so: „Jeder Klimagipfel der Vereinten Nationen beinhaltet ein komplexes Kosten-Nutzen-Kalkül.“ Zu den Schattenseiten gehören der Kohlendioxidausstoß in die Atmosphäre, den die Anreise der Delegierten verursacht; die für Graswurzel-Organisationen kaum erschwinglichen Kosten für zwei Wochen Hotelaufenthalt; aber auch die PR-Bonanza, derer sich der gastgebende Staat erfreuen kann, der sich jedes Mal als Öko-Champion präsentiert, egal wie stark die Gegenbeweise sind. Das zeigte sich, als das kohlesüchtige Polen 2018 die Gastgeberrolle spielte, und auch schon 2015, als Frankreich sich ähnlich umweltbewusst inszenierte, ungeachtet der rund um den Globus aktiven Ölbohrinseln des französischen Energiegiganten TotalEnergies.
Soweit die Schattenseiten der Tradition alljährlicher Klimagipfel. Positiv schlägt dagegen zu Buche, dass seither in jedem November die Klimakrise zwei Wochen lang weltweit für Schlagzeilen sorgt, wodurch Stimmen von den Frontlinien der Klimakatastrophe – vom brasilianischen Amazonas bis nach Tuvalu – medial nachdrücklich zu Wort kommen. Ein weiterer Pluspunkt ist die internationale Solidarität und Vernetzung, die entsteht, wenn örtliche Organizer im Gastgeberland Gegengipfel und „Toxic Tours“ veranstalten, um die Realität hinter der grünen Fassade ihrer Regierung zu enthüllen. Und natürlich gibt es die Deals, die da ausgehandelt werden, und die Finanzmittel, die man den Ärmsten und am schwersten Betroffenen verspricht. Aber diese Zusagen sind nicht bindend, und viel von dem, was da versprochen und angekündigt wird, lief und läuft – wie Greta Thunberg so treffend formulierte – auf kaum mehr hinaus als „Bla, bla, bla“.
Mit dem bevorstehenden Klimagipfel in Ägypten hat sich allerdings, wie Arefin schreibt, „das übliche Kalkül verändert. Es ist aus dem Gleichgewicht geraten.“ Es gibt die immergleichen Schattenseiten (den CO2-Ausstoß, die Kosten), doch diesmal kommt hinzu, dass der Gastgeberstaat – der die Chance erhält, sich vor aller Welt ganz in Grün zu präsentieren –, nicht die übliche, gewohnt doppelzüngige liberale Demokratie ist. Es ist vielmehr, so Arefin, „das repressivste Regime in der Geschichte des modernen ägyptischen Staates“. Unter der Führung von General Abdel Fattah al-Sisi, der 2013 durch einen Militärputsch an die Macht kam und sich seither mittels Scheinwahlen behauptet, erweist sich das Regime, Menschenrechtsorganisationen zufolge, als eines der weltweit brutalsten und repressivsten. Natürlich erfährt man nichts davon, wenn man sich an die Selbstvermarktung Ägyptens im Vorfeld des Gipfels hält. Ein Reklamevideo auf der offiziellen COP27-Website heißt die Delegierten in der „grünen Stadt“ Scharm el-Scheich willkommen und zeigt junge Schauspieler – darunter Männer mit struppigen Bärten und Halsschmuck, die offenkundig wie Umweltaktivisten aussehen sollen –, ausgerüstet mit „Nonplastic“-Strohhalmen und biologisch abbaubaren Einwegbehältern fürs Essen, wie sie am Strand unter der Dusche stehen, Selfies aufnehmen, Tauchkurse absolvieren und Scuba-Diving erlernen, oder sich mit einem Elektrogefährt in die Wüste aufmachen, um dort Kamele zu reiten.
Als ich dieses Video anschaute, ging mir schlagartig auf, dass Sisi bei diesem Gipfel eine neuartige Realityshow inszenieren will. In ihr mimen Schauspieler Aktivisten, die äußerlich den wirklichen Aktivisten bemerkenswert ähneln. Derweil sind Letztere den Torturen seines rapide anwachsenden Kerker-Archipels ausgesetzt. Auch das gehört also auf die Negativliste: Dieser Gipfel geht weit über das „Greenwashing“ eines umweltverschmutzenden Staates hinaus. Da wird ein Polizeistaat grün eingefärbt. In Zeiten, in denen von Italien bis Brasilien der Faschismus marschiert, ist das keine Petitesse. Und noch ein weiterer Faktor ist fester Bestandteil dieser schwarzen Bilanz: Anders als auf früheren Klimagipfeln – etwa in Südafrika oder Schottland, Dänemark oder Japan – werden die von Umweltverschmutzung und Temperaturanstieg am stärksten betroffenen ägyptischen Communities und Organisationen in Scharm el-Scheich nirgendwo auffindbar sein. „Toxic Tours“ wird es dort ebenso wenig geben wie stürmische Gegengipfel, auf denen Einheimische die Delegierten aus aller Welt über die Realität hinter der PR-Fassade ihrer Regierung aufklären. Ägypter, die dergleichen organisieren, würden nämlich wegen „Verbreitung von Falschinformationen“ oder Verstoßes gegen das Demonstrationsverbot alsbald im Gefängnis landen – sofern sie nicht schon darin sitzen.
Ausländische Delegierte können sich nicht einmal durch das Studium wissenschaftlicher Untersuchungen oder von NGO-Berichten einheimischer Autoren über den aktuellen Stand der Umweltverschmutzung und -ausplünderung in Ägypten gründlicher auf den Gipfel vorbereiten. Denn ein drakonisches Gesetz verpflichtet ägyptische Wissenschaftler seit 2016, die Erlaubnis der Obrigkeit einzuholen, bevor sie Informationen veröffentlichen, die als „politisch“ gelten. Es werden eben nicht „nur“ die Häftlinge mundtot gemacht: Das ganze Land ist geknebelt und hunderte Websites sind gesperrt, darunter die unentbehrliche, aber fortwährend schikanierte Online-Zeitung „Mada Masr“. Human Rights Watch berichtet, dass diese neuen Repressalien zivilgesellschaftliche Gruppen zwingen, ihre Recherchen einzuschränken, und dass „eine prominente ägyptische Umweltgruppe sogar ihre Rechercheabteilung aufgelöst hat, weil Forschungsarbeit vor Ort nicht mehr möglich war“. Es spricht für sich, dass keiner der Umweltschützer, die mit Human Rights Watch über Zensur und Repression sprachen, der drohenden Repressalien wegen bereit war, seinen wirklichen Namen zu nennen.
»Diejenigen, die sich wirklich ums Klima sorgen, schmachten im Gefängnis«
Der bereits erwähnte Arefin, der vor dieser letzten Zensurgesetzrunde ausgiebige Forschungen über Müll- und Überflutungsprobleme in ägyptischen Städten unternommen hatte, sagte mir, dass er wie andere kritische Wissenschaftler und Journalisten auch „diese Arbeit nicht länger leisten kann. Es gibt eine Blockade, die grundlegende kritische Wissensproduktion verhindert. Ägyptens Umweltsünden bleiben nun im Dunkeln.“ Und wer die Regeln bricht und versucht, das Licht einzuschalten, endet in finsteren Zellen – oder noch Schlimmerem. Alaas Schwester Mona, die seit Jahren um die Freilassung ihres Bruders und anderer politischer Gefangener kämpft, schrieb kürzlich auf Twitter: „Die Realität, die die meisten Teilnehmer des #Cop27 nicht sehen wollen, ist, [dass] in Ländern wie #Ägypten ihre echten Partner – diejenigen, die sich wirklich um die Zukunft des Planeten sorgen – im Gefängnis schmachten.“
Die letzten Helden-innen dieser Tage ?
Auch dies gehört also auf die Negativliste: Dieser Gipfel wird, anders als jeder vorangegangene, keine authentischen Partner vor Ort haben. Es wird in Scharm el-Scheich ein paar Ägypter geben, die sich als Vertreter der Zivilgesellschaft ausgeben, manche von ihnen sogar mit Recht. Das Problem ist nur, dass auch sie, so gut sie es meinen mögen, ein Stück weit zu den Darstellern in Sisis grüner Realityshow am Seebadstrand zählen. Abweichend von den üblichen UN-Verfahrensregeln wurden sie fast alle staatlicherseits durchleuchtet und als akzeptabel eingestuft. Der bereits erwähnte, im September veröffentlichte Report von Human Rights Watch weist darauf hin, dass den betreffenden Gruppen nahegelegt wurde, sich nur zu „erwünschten“ Themen zu äußern. Was aber hält das Regime für „erwünscht“? Nun, „Müllabfuhr, Recycling, erneuerbare Energien, Ernährungssicherung und Klimafinanzierung“ – besonders, wenn diese Finanzierung dem Sisi-Regime die Taschen füllt und vielleicht ermöglicht, ein paar Solarmodule auf die Dächer der 27 neuen Gefängnisse zu setzen, die seit Sisis Machtergreifung errichtet wurden.
Und welche Themen sind unerwünscht? Dem Bericht zufolge sind die „kritischsten Umweltfragen solche, die darauf hinweisen, dass die Regierung dabei versagt hat, die Menschen vor durch Unternehmensinteressen bewirkten Schäden zu schützen. Dazu zählen Probleme der Wasserversorgung, der industriellen Umweltverschmutzung und Umweltschäden, die mit Bodenspekulation, Tourismusförderung und Agrobusiness zusammenhängen.“ Ebenfalls unerwünscht sind Hinweise auf „die Umweltfolgen der ausgedehnten und undurchsichtigen Wirtschaftsaktivitäten des ägyptischen Militärs. So sind destruktive Praktiken beim Rohstoffabbau, in Wasserabfüllbetrieben und einigen Zementfabriken besonders kritische Themen, desgleichen ‚nationale‘ Infrastrukturprojekte wie die Errichtung einer neuen Verwaltungshauptstadt, von denen viele mit dem Amt des Präsidenten oder dem Militär verbunden sind.“ Und keinesfalls sollten Coca Colas Plastikmüll und der exzessive Wasserverbrauch dieser Firma thematisiert werden – Coke rühmt sich nämlich, einer der offiziellen Sponsoren des Gipfels zu sein.
Und das alles heißt? Wer Müll sammeln, alte Coke-Flaschen recyceln oder für „grünen Wasserstoff“ werben möchte, kann wahrscheinlich eine Teilnehmerplakette erlangen und nach Scharm el Scheich kommen, als ein Repräsentant der allerzivilsten Form von „Zivilgesellschaft“. Wer jedoch darüber sprechen möchte, wie sich Ägyptens kohlebetriebene Zementfabriken oder die Zupflasterung einiger der letzten Grünflächen in Kairo auf Gesundheit und Klima auswirken, hat wahrscheinlich eher mit einem Besuch der Geheimpolizei – oder aus dem dystopischen Ministerium für soziale Solidarität – zu rechnen. Sollten Sie allerdings Ägypter sein und sich abfällig über die COP27 als solche äußern oder Sisis Glaubwürdigkeit anzweifeln, wenn dieser sich als Sprecher der armen und klimavulnerablen Bevölkerungen Afrikas aufspielt – obwohl doch sein eigenes Volk trotz all der Hilfsgelder aus Nordamerika und Europa zunehmend unter Hunger und wachsender Verzweiflung leidet – oh je, dann befinden Sie sich hoffentlich schon außer Landes!
Datei:Fotoaktion des Aufstands der Letzten Generation vor dem Reichstag, Berlin, 02.07.2022 (52188388301).jpg
Erstellt: 2. Juli 2022
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Unten — Sonja Manderbach, Henning Jeschke und Carla Hinrichs (vlnr) vom Aufstand der Letzten Generation nach der Verurteilung von Henning Jeschke wegen versuchter Nötigung mittels Straßenblockade. Carla Hinrichs und Sonja Manderbach wurden als Verteidigerinnen nicht zugelassen. Im Hintergrund Unterstützer. Eine mit einem Beutel mit der Aufschrift „Froh, dabei zu sein“, Amtsgericht Tiergarten, Berlin, 28.09.22
File:Sonja Manderbach, Henning Jeschke und Carla Hinrichs vom Aufstand der Letzten Generation nach der Verurteilung von Henning Jeschke wegen versuchter Nötigung (52391038064).jpg
Es ist ein politisches Novum: Bürger-innen der Letzten Generation sitzen seit gestern Abend in der JVA Stadelheim und sollen ohne Hauptverhandlung grösstenteils 30 Tage in München in einem Gefängnis verbringen. [1]
Es ist kein Fall bekannt, in dem in der Geschichte der Bundesrepublik bereits so langer Polizeigewahrsam angeordnet wurde.Alle 13 Beteiligten hatten mit friedlichen Straßen Blockaden Widerstand gegen den zerstörerischen und todbringenden Kurs der Bundesregierung geleistet. Ebenfalls gestern waren die 13 Wissenschaftler-innen entlassen worden, die eine Woche ins gleiche Gefängnis gesperrt worden waren. Fakt ist: Die Regierung verfehlt ihre unzureichenden, selbstgesteckten Klimaziele [2] und die 1,5-Grad-Grenze ist bereits nicht mehr erreichbar [3].
Jakob Beyer, Sprecher der Gruppe und selbst nun für 30 Tage in Polizeigewahrsam [4], richtet sich vor der Fahrt in die JVA mit deutlichen Worten an die Öffentlichkeit: “Wir wollen nicht euer Mitleid. Wir wollen, dass ihr alle auf den Strassen Widerstand leistet. Es werden mehr Menschen kommen. Und sie werden wissen, dass sie inhaftiert werden könnten – so wie auch wir es wussten. Aber Recht und Unrecht sind hier klar verteilt. Es erfordert nun deinen Mut, dich jetzt auf die richtige Seite der Geschichte zu stellen.” Ob der Widerstand gegen diesen gefährlichen Kurs der Bundesregierung Erfolg hat, hängt jetzt von jeder und jedem Einzelnen ab.
Was zu den Zahlen bereits bekannt ist: 9 Bürger-innen der Letzten Generation sind sicher in Polizeigewahrsam in der JVA Stadelheim – 8 von ihnen sollen bis 2. Dezember bleiben. Bei 4 weiteren ist der Verbleib noch unklar – ein Beschluss ist aber auch hier bereits ergangen und eine Freilassung nicht erfolgt. 2 wurden entlassen. [1]
Bei den 30 Tagen handelt es sich um Sicherungshaft. Diese wurde von der Polizei beantragt, um zu verhindern, dass Menschen sich wiederholt auf den Münchner Straßen versammeln. Die Frage, ob es sich dabei um demokratisch legitimierten Protest handelt, muss dazu nicht beantwortet werden – das Gericht muss sich hier auf den Standpunkt der Polizei verlassen. Über alle Anklagepunkte, die die Staatsanwaltschaft gegebenenfalls erheben wird, wird ein Gericht erst in einigen Monaten entscheiden.
Dieses Vorgehen wird von vielen Seiten indes scharf kritisiert. Der Jesuitenpriester Jörg Alt auf Twitter: “So etwas kenne ich sonst nur aus afrikanischen Diktaturen.” [5]
Die Menschen, die nun in bayerischen Zellen sitzen, sind zwischen 23 und 79 Jahre alt. Normalerweise gehen sie zur Uni, arbeiten oder sind in Rente. Unter Ihnen ist ein 63-jähriger Druckereibesitzer, eine zweifache Mutter, ein Psychologe und ein 23-jähriger Student. Was alle diese Menschen miteinander verbindet, ist der Wille, nicht länger einfach zuzusehen, wie die Regierung eine rote Linie nach der anderen überschreitet. Sie bricht das Völkerrecht, indem sie das Pariser Abkommen missachtet. Ihr Klimaschutzgesetz würde von Karlsruhe für verfassungswidrig erklärt und dann kaum nachgebessert. Und selbst die Ziele im unzureichenden Klimaschutzgesetz verfehlt die Regierung noch.
Eigentlich sollten Verhandlungen über die Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen in der Klimakatastrophe wie 100km/h auf der Autobahn sowie ein 9€-Ticket im Nahverkehr geführt werden. Dann könnten die Proteste enden. Die Einladung zu einem entsprechenden Gespräch am Donnerstag, den 10. November 2022 in Berlin ist vonseiten der Letzten Generation bereits an die zuständigen Regierungsmitglieder ergangen. (6)
Fußnoten:
[1] 15 Bürger:innen waren in Polizeigewahrsam genommen worden, 2 wurden entlassen, 1 Person muss bis 9.11. im Gefängnis bleiben, 8-12 Personen bis zum 2.12. (bei 4 bereits entschieden, aber das Gericht hat noch keine Informationen herausgegeben, wie lange die Sicherungshaft angeordnet ist).
[5] Jörg Alt SJ auf Twitter: twitter.com/JoergAltSJ/status/1588535925969104897
[6] Siehe Presse-Versand von gestern Nachmittag.
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Das Geschäft mit Kupfer boomt. Es ist der Energiewende zu verdanken. Doch es ist ein schmutziges Milliardengeschäft.
Aurubis in Hamburg und Codelco im Norden Chiles sind die Hauptakteure im Dokumentarfilm «Schmutziges Kupfer: Die dunkle Seite der Energiewende», der vor wenigen Tagen auf ARD ausgestrahlt wurde. Aurubis ist der grösste Kupferproduzent Europas. Er bezieht Kupfer von der staatlich kontrollierten Codelco, das aus der weltweit grössten Abbaustätte des kostbaren Metalls im Norden Chiles stammt.
Der knapp dreiviertel Stunden lange Film deckt auf, wie schmutzig das Geschäft mit sauberer Energie sein kann. Kupfer ist sehr gefragt für die Schlüsseltechnologien der erneuerbaren Wind- und Solarenergie und für den Antrieb der Elektrofahrzeuge. Der Preis stieg auf seit Jahren nicht mehr erreichte Höhen. Minen und Produzenten machen Milliardengewinne. Doch die Umstände des Abbaus im Norden Chiles, in der Atacama-Wüste, einem der trockensten Orte der Erde, sind grauenhaft.
Obwohl es dort kaum regnet, verschlingt der Kupferabbau Unmengen an Wasser. Die Dörfer der Umgebung werden ausgetrocknet und der Rest des Wassers mit Schwermetallen kontaminiert. Das Ergebnis ist eine Krebsrate, die fünf bis sechsmal höher ist als sonst in Chile.
Und doch behaupten die Vertreter des Kupferproduzenten Aurubis in Hamburg, dass ihnen Nachhaltigkeit wichtig sei. Auf die vom Filmemacher mitgebrachte Wasseranalyse mit extrem hohen Arsenwerten und Bilder mit ausgetrockneten Böden geht der Nachhaltigkeitsveranwortliche des Unternehmens nicht ein (im Film ab Minute 27). Er könne sie nicht bewerten, kenne die Fakten nicht, weicht er aus, behauptet aber, dass die Menschenrechte für das Unternehmen eine «wesentliche Säule» seien. Die präsentierten Belege für die ökologisch katastrophalen Zustände im Norden Chiles nimmt der Nachhaltigkeitsverantwortliche nicht zum Anlass, die Geschäftsbeziehungen überprüfen zu wollen. Seine Reaktion eignet sich geradezu als kleine Fallstudie, wie ein Unternehmen nicht reagieren sollte, wenn es die Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel setzen will.
Der Film endet trotzdem positiv. Kupferabbau ist nicht mit Umweltzerstörung gleichzusetzen. In Kanada ist zu besichtigen, dass es auch anders geht. In Ontario, das vor 50 Jahren das am meisten vergiftete Gebiet in ganz Nordamerika war, die Flüsse und Seen praktisch tot waren und die einstigen Wälder einer Mondlandschaft glichen, sind die Wälder wieder gewachsen und die Gewässer von den Schwermetallen gesäubert.
Kupferabbau geht offensichtlich auch sauber, doch bedarf es dafür politischer Auflagen und mehr als wohlklingende Versprechen zu unternehmerischer Nachhaltigkeit.
Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.
Vista general del sector en que se encuentran sepultadas la mayoria de los fallecidos en la Tragedia de El Humo, ocurrida en la Mina El Teniente, el 19 de junio de 1945. Cementerio N° 2, Rancagua
Die COP27 steht unter einem denkbar schlechten Stern.
Dort wird mit Sicherheit niemand den politischen Verbrechern aus aller Welt den Marsch für ihre Arbeitsverweigerung blasen !
Ein Debattenbeitrag von Karim El-Gawhary
Bei der bevorstehenden COP27 in Ägypten geht es um Klimagerechtigkeit. Die größten Leidtragenden sind oft die kleinsten Verursacher der Erderwärmung. Die COP27 steht unter einem denkbar schlechten Stern. Die Aufgaben sind riesig, die Kassen sind leer.
Für eine Weltklimakonferenz ist Ägypten kein gewöhnlicher Austragungsort. Das musste auch der indische Klimaaktivist Ajit Rajagopal feststellen, der als Mitglied der KampagneMarch for our Planetdie verwegene Idee hatte, von Kairo nach Scharm al-Scheich zu marschieren, zu dem Ort, an dem die Klimakonferenz COP27 am nächsten Sonntag beginnen wird.„On the Move for Climate Justice“ stand auf seinem Plakat, mit dem er sich auf einer der Nilbrücken in Kairo noch ablichten ließ, bevor er sich diese Woche auf den Weg vom Nil ans Rote Meer machte. Weit kam er nicht.
Ein Ausländer mit Plakat zieht naturgemäß die Aufmerksamkeit der ägyptischen Sicherheitsbehörden auf sich. So endete sein Klimamarsch abrupt in einer Polizeistation, kaum dass er das Kairoer Zentrum verlassen hatte. Erst nach Stunden intensiver Befragung kam er wieder frei. Kein gutes Omen für eine Konferenz, an der nicht nur über 90 Staats- und Regierungschefs teilnehmen werden, sondern auch eine bunte Schar aus Klimaexperten und Klimaaktivisten.
Die wenigen in Ägypten verbliebenen politischen Aktivisten hoffen, die Gelegenheit nutzen zu können, um auf die Menschenrechtslage im Land aufmerksam zu machen. Der prominenteste unter ihnen ist wohl Alaa Abdel Fatah, der vor über 200 Tagen in einem ägyptischen Gefängnis einen Hungerstreik begann. Der Blogger und Demokratieaktivist verbrachte das letzte Jahrzehnt hinter Gittern – mit Ausnahme eines halben Jahres, als er 2019 freikam, um gleich wieder wegen Verbreitung angeblich falscher Nachrichten zu fünf Jahren Haft verurteilt zu werden. Am Montag hatte er angekündigt, überhaupt keine Kalorien mehr zu sich zu nehmen, mit Beginn der Konferenz am Sonntag will er auch nichts mehr trinken. Wenn er nicht freigelassen wird, wird er diese Weltklimakonferenz kaum überleben.
Aber nur über Menschenrechte und absurde Verhaftungen von Klimaaktivisten zu sprechen, würde der kommenden COP27 in Scharm al-Scheich nicht gerecht. Es ist auch die Geografie, die die diesjährige COP zu etwas Besonderem macht. Ägypten, gleichermaßen in Afrika als auch in der arabischen Welt gelegen, verleiht der Konferenz die Klimaperspektive der Länder des politischen Südens. Und die haben mit der bisherigen globalen Klimapolitik vor allem ein Problem: Sie haben den Schlamassel mit ihren im Weltmaßstab geringen CO2-Emissionen nicht verursacht, müssen aber zum großen Teil die Folgen ausbaden.
Wie blind können sich Politiker-innen denn noch stellen, um nicht als Hauptschuldige eines seit wenigstens 40 Jahre Weltweit sichtbaren Desaster, an den Pranger gestellt zu werden. Wären ihre Geldbörsen dem Wandel angepasst worden, schliefen sie keine Minute mehr. Wer um Ehre ansteht, sollte für die daraus entstandenen Folgen auch aufkommen !!
Auf den bisherigen COPs wurden die mit Abstand meisten finanziellen Mittel für die CO2-Reduktion vereinbart. Ein Ansatz, der den Ländern des Südens und dem ägyptischen Vorsitz von COP27 zu kurz greift. Sie möchten den Fokus auf zwei andere Bereiche lenken: zum einen auf einen Fonds für Anpassungsmaßnahmen, mit denen die schon jetzt spürbaren Folgen des Klimawandels eingedämmt werden sollen. Der Gastgeber Ägypten gibt beispielsweise viele Milliarden Dollar aus, um seine Küste am Nildelta mit Dämmen und Wellenbrechern vor den Fluten des steigenden Mittelmeers zu bewahren. Dazu muss eine Reform der Landwirtschaft finanziert werden, die dringend effektivere und moderne Bewässerungsmethoden braucht, um ihre Produktivität bei steigender Hitze und je nach Klimamodellen mit bis zu 25 Prozent weniger Nilwasser in Zukunft zu erhalten. Ägypten hat diesen Anpassungsmaßnahmen ein Preisschild in Höhe von 8,3 Milliarden Dollar verliehen. Und das sind nur die Kosten für ein einziges afrikanisches Land. Muhammad Nasr, der Verhandlungschef des ägyptischen COP27-Vorsitzes, spricht davon, dass afrikanische Länder inzwischen 5 Prozent ihres Bruttosozialproduktes für Klima-Anpassungsmaßnahmen ausgeben. Sie fühlen sich von den Hauptverursachern des Klimawandels, den Industriestaaten, vollkommen alleingelassen.
Auch bei einem zweiten Fonds, dem für „Verluste und Schäden“, die durch den Klimawandel verursacht werden, geht es den Ländern des politischen Südens darum, dass er von den Verursachern mit ausreichend Geld befüllt wird. Wer zahlt die Zeche für die klimabedingten Schäden, lautet die Frage, die in Scharm al-Scheich beantwortet werden sollte. Ginge es nach Ägypten und den Ländern des Südens, würde dafür ein globaler Fonds angelegt werden.
Das klingt alles nach dem „Verursacherprinzip“ eingängig und logisch. Aber die Industrieländer haben bisher kaum finanzielle Zusagen gemacht und versuchen, die Entwicklungsländer mit dem Versprechen abzuspeisen, nun einen Dialog zu beginnen. Mit dem folgenschweren Ukrainekrieg, mit Energie- und Nahrungsmittelkrise steht die COP27 unter einem denkbar schlechten finanziellen Stern. Die Aufgaben sind riesig, die Kassen sind leer. Das Problem ist, dass der Klimawandel und dessen Folgen nicht darauf warten, bis diese anderen Krisen überwunden sind. Es ist eine Frage der Prioritäten. In der Covidpandemie zögerten die reichen Länder nicht, innerhalb von Monaten Billionen Dollar zu mobilisieren. Der Klimawandel ist für die Menschheit nicht minder gefährlich.
Die Infrastruktur muss resilienter werden gegen Angriffe.
Ein Debattenbeitrag von Svenja Bergt
Durch die Digitalisierung sind die Gefahren und Schwachpunkte aber größer geworden. Politische und wirtschaftliche Interessen wirken häufig sehr erfolgreich auf mehr Zentralisierung hin.
Durch Deutschland führen über 33.000 Kilometer Schienen, und zwar in Betrieb befindliche. Zwischen Finnland und Deutschland verlaufen mehr als 1.000 Kilometer Starkstromkabel durch die Ostsee. Auf den Meeresböden dieser Welt liegen Seekabel mit einer Gesamtlänge von rund 1,3 Millionen Kilometern. Und selbst diese Schienen und Kabel sind nur ein Bruchteil dessen, was sich unter „Kritischer Infrastruktur“ zusammenfassen lässt. Es kommen Strom- und Gasleitungen dazu, Mobilfunkanlagen und Häfen, Krankenhäuser und Verwaltungen, Wasserrohre und Klärwerke. Was bei dieser notwendigerweise ebenfalls lückenhaften Aufzählung klar wird: Es ist unmöglich, jedes Stück wichtiger und angreifbarer Infrastruktur so zu schützen, dass ein Ausfall ausgeschlossen ist. Aber das ist auch nicht notwendig. Denn es gibt ein Konzept, dessen Name mit den Anschlägen auf die Gaspipeline in der Ostsee und auf neuralgische Punkte der Bahn-Infrastruktur in Deutschland die Runde gemacht hat: Resilienz.
Resilienz ist ein Begriff, den manche aus der Psychologie kennen. Ursprünglich stammt er aber aus der Materialkunde und ist damit viel näher am Thema Infrastruktur, als es zunächst aussieht. Resilienz bedeutet, dass ein Material, nachdem es unter extreme Spannung gesetzt wurde, wieder in seine Ausgangsform zurückfindet. Im Alltag kennt man das von Gummi – etwa als Türdichtung oder Reifen. Es geht also um die Fähigkeit, Extremzustände – Krisen, Umbrüche, äußere Stressfaktoren – zu überstehen, ohne zerstört zu werden. Und genau dieser Zustand ist es, in die Infrastruktur versetzt werden muss.
Es gibt strukturelle Faktoren, die Resilienz begünstigen. Was Infrastruktur angeht, ist vor allem ein Punkt hilfreich: Dezentralität. Ein gutes Beispiel ist die Stromversorgung: Würde ein Land wie Deutschland von einem einzigen Kraftwerk versorgt und würde dieses Kraftwerk ausfallen, sei es durch Defekt, Anschlag oder Unwetter – die Folgen wären gigantisch. Basiert die Stromversorgung aber auf dezentralen Komponenten, wäre so ein Ausfall zum einen lokal und zum anderen deutlich einfacher abzufedern durch andere Erzeuger. Die Versorgung ist resilienter. Spätestens in diesem Zusammenhang wird klar, welchen Strukturvorteil die erneuerbaren Energien mitbringen, bei denen Dezentralität quasi systemimmanent ist.
Nun gibt es eine Entwicklung, die den Dezentralitätsgedanken leider häufig konterkariert: die Digitalisierung. Der Befund ist erst einmal überraschend. Schließlich ist das Internet das Beispiel für Dezentralität. Nicht umsonst kommt das Wort Netz sowohl in „Internet“ als auch in „World Wide Web“ vor. Und ähnlich wie bei einem Spinnennetz, das noch funktionstüchtig ist, wenn ein Faden reißt, gilt auch beim Internet: Geht ein Kabel kaputt, ist eine Verbindung gestört, werden die Datenpakete eben über eine der unzähligen Alternativen geleitet. Im Grundgedanken des Internets ist also Dezentralität ähnlich systemimmanent wie bei erneuerbaren Energien.
In der Umsetzung sieht das leider völlig anders aus. Denn politische und wirtschaftliche Interessen wirken häufig sehr erfolgreich auf Zentralisierung hin – und in der Konsequenz auf eine Schwächung der Resilienz. Ein Beispiel: Vor etwa einem Jahr fielen in Schweden praktisch sämtliche Supermarktkassen der zweitgrößten Handelskette des Landes aus. Kund:innen konnten nicht mehr bezahlen, weder bar noch mit Karte. Die Läden mussten schließen. Laut auf Cybersicherheit spezialisierten Firmen wurden bei dem Angriff mit Ransomware – Erpressersoftware – weltweit um die 1.000 Unternehmen lahmgelegt. Das grundsätzliche Problem: Viele Unternehmen greifen auf den gleichen IT-Dienstleister, die gleiche Software oder andere Komponenten digitaler Infrastruktur zurück. Für die Unternehmen ist das meist billiger, als eigene Lösungen zu entwickeln – und bequemer. Doch billiger, bequemer und vor allem lohnender kann es damit auch für Angreifer:innen sein, gerade wenn sie Zugriff auf eine ungestopfte Sicherheitslücke haben. Einmal angegriffen, sind viele Ziele getroffen. Es ist eine Zentralisierung, die in der Regel unsichtbar ist. Die aber, wenn etwas schiefgeht, die Folgen gleich mitskaliert.
Oben — La creación de pistas ayuda mucho a la comunidad ya que cuando llueve las carreteras se vuelven inaccesibles para muchos vehículos y por ende dificultando a los pobladores a movilizarse con facilidad.
Der Schweizer Atommüll soll nahe der deutschen Grenze endgelagert werden. Dass der Standort Nördlich Lägern aus geologischen Gründen gewählt wurde, bezweifelt unser Autor.
Wenn der ägyptische Pharao Cheops vor 4.550 Jahren nicht die berühmte Pyramide gebaut, sondern vier Jahre lang ein AKW betrieben hätte, dann wären neben vielen anderen hochgefährlichen Abfällen auch circa 1.000 Kilogramm Plutonium zusammengekommen. Bei einer Halbwertszeit von 24.110 Jahren (Plutonium 239) wären heute noch circa 877 Kilo vorhanden. Nach zehn Halbwertszeiten, also nach 24.1100 Jahren, müssten immer noch ca. 0,1 Prozent der Ausgangsmenge, also 1 Kilo Plutonium dauerhaft sicher gelagert werden.
Im Gegensatz zur Zeit des ägyptischen Pharaos Cheops sind in den sechs schweizer Atomreaktoren in den letzten Jahrzehnten große Mengen Atommüll angefallen. Jetzt soll dieser, gemeinsam mit anderen Atomabfällen, am Hochrhein endgelagert werden.
In vielen Medien werden bei der Auflistung der Schweizer Reaktoren nur fünf AKW gezählt, streng genommen sind es sechs. Denn das kleine Atomkraftwerk in Lucens wird gerne vergessen, vielleicht weil es heute als Lager für diverse Museen dient. Der Grund: Der schwere Atomunfall in Lucens am 21. Januar 1969. Es gab eine Kernschmelze in dem kleinen Versuchsreaktor, der zum Glück in eine Kaverne eingebaut war. Dieser schwere Atomunfall ist nahezu erfolgreich aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht, im Gegensatz zu den Atomunfällen und Kernschmelzen in Fukushima, Tschernobyl und Harrisburg.
Außerdem gibt es das marode innerschweizer AKW Mühleberg, das im Dezember 2019 abgeschaltet wurde; an der Aare im Kanton Solothurn steht das AKW Gösgen; drei weitere arbeitende Reaktoren stehen in nächster Nähe zur deutschen Grenze am Hochrhein: ein veralteter Siedewasserreaktor (Reaktortyp Fukushima) im neuesten Atomkraftwerk der Schweiz in Leibstadt in der Nähe von Waldshut sowie zwei Reaktoren in Beznau, wovon Beznau 1 das älteste Atomkraftwerk der Welt ist – es ging 1969 in Betrieb.
In der reichen Schweiz steht also ein überalterter, gefährlicher Kraftwerkspark, und die einflussreiche Atomlobby würde die vier in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke gerne 60 Jahre im Betrieb lassen. Das wäre ein hochriskanter Atomversuch auf Kosten der Sicherheit der Menschen in der Schweiz und in Baden-Württemberg.
Die Schweizer Atomindustrie hat das globale Prinzip, nationale Vorteile zu genießen, Risiken aber international zu verteilen, perfektioniert. Ebenfalls an der Grenze befindet sich in Würenlingen das schlecht gesicherte, oberirdische Zwischenlager für den gesamten Atommüll der Schweiz und ein Plasmaofen, in dem verstrahlte Gegenstände verbrannt werden. Und wo soll jetzt der gesamte schweizer Atommüll endgelagert werden? Im Gebiet „Nördlich Lägern“, in nächster Nähe zur badischen Gemeinde Hohentengen.
Die perfekten Durchsetzungsstrategien
Es gibt viele wissenschaftlich begründete Zweifel an der geologischen Qualität des jetzt ausgewählten Endlagerstandorts. Die Akzeptanzbeschaffungs- und Durchsetzungsstrategien allerdings sind perfekt. Die direkte Demokratie der Schweiz bestimmt in vielen Bereichen den öffentlichen Diskurs. Und in den gerade auch in Deutschland so hochgelobten Volksabstimmungen sind „die Spieße häufig ungleich lang“, wie viele Aktive der schweizer Umweltbewegung sagen. Das heißt, dass beispielsweise bei Abstimmungen zum Thema Atomkraft die Befürworterseite mit unglaublich viel Geld in die Abstimmungskämpfe gehen kann.
Auch beim Thema Endlager zeigt sich: Je direkter die Demokratie, desto besser sind die Durchsetzungsstrategien. Die wichtigste Strategie ist die Perfektionierung der Salamitaktik. Die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) wurde 1972 gegründet. Damals begann die Debatte um den Atommüll und erst ab dem Jahr 2050 sollen die radioaktiven Abfälle eingelagert werden. Die „Durchsetzungs-Salami“ ist damit 78 Jahre „lang“. Und die Nagra war stets bemüht, viele, viele kleine Scheiben von der Salami abzuschneiden, das heißt unendlich viele kleine Einzelentscheidungen zu treffen, die für die Öffentlichkeit und die Medien nicht spannend und wichtig waren.
Möglichem Widerstand ausweichen, um das Lager durchzusetzen, ist besonders wichtig. In manchen Standortregionen wehrte sich die Bevölkerung. Die Boulevard-Zeitung „Blick“ meldete vor vielen Jahren Ungeheuerliches aus der braven Schweiz: „Da nützen auch 50 Polizisten nichts. Nagra-Mitarbeiter in die Flucht geschlagen“. Im kleinen Ort Ollon, im französischsprachigen Teil der Schweiz, gab es Gorlebener Verhältnisse. Heute sind Protestregionen außen vor und die Menschen werden geschickt grenzüberschreitend gegeneinander ausgespielt. Nicht nur die Geologie steht im Mittelpunkt, sondern auch die politische Durchsetzbarkeit des Lagers.
Die andere Strategie war die Erzeugung der Illusion von Beteiligung. Es gab und gibt eine unglaubliche Vielzahl von Partizipationsveranstaltungen, bei denen die Teilnehmenden regelrecht zerrieben wurden. Die an der Suche nach einem Endlager „beteiligten“ grenzüberschreitenden Bürgerinitiativen am Hochrhein und die Umwelt- und Naturschutzverbände müssen sich fragen lassen, ob sie wirklich nach jeder Wurst schnappen müssen, auf der Partizipation steht. Echte Beteiligung sieht anders aus. Sie muss aber auch eingefordert werden. Der ehrenamtliche Umweltschutz ist hier beim Konflikt mit den PR-Profis immer im Nachteil.
Plötzlich ist Opalinuston supersicher
Beim Gedanken an ein sicheres Endlager in der Schweiz denken die meisten Menschen zuerst an die Alpen, an dieses mächtige Gebirge im Herzen der Schweiz. Doch die Alpen sind geologisch sehr jung und sie heben sich im Schnitt um rund 1,8 Millimeter pro Jahr. Ein solch junges Gebirge hat Risse, Klüfte und Spalten und kommt als atomares Endlager für langlebige hochradioaktive Spaltprodukte nicht infrage. Darum war ein Endlager in tiefen Granitschichten, überdeckt von Sedimenten als zweite Sicherheitsbarriere, das ursprüngliche Konzept der Nagra. Massiver Granit, eingebettet in Opalinuston, wurde lange Jahre als ideale und beste aller Endlagerformationen angepriesen. Doch dann fand sich in der Schweiz, trotz intensiver, teurer Suche, keine geeignete Granitformation im Untergrund.
Nach dem Scheitern der Endlagerpläne im Granit wurden die alten Werbeprospekte eingestampft und ein neues Endlagermedium als wieder einmal ideale Endlagerstätte ins Gespräch gebracht. Aus dem ursprünglich geplanten Endlager im Granit wurde über Nacht die Endlagervariante Sediment. Ein Endlager für die gefährlichsten Gifte der Menschheit soll jetzt auch im Sedimentgestein, im Opalinuston möglich sein. In den alten Nagra-Broschüren war Opalinuston „nur“ als zweite Sicherheitsbarriere vorgesehen. Doch das Gestein bestimmt das Bewusstsein.
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Vor 60 Jahren, im Spätherbst 1962, wurde in den USA das Buch von Rachel Carson „The silent spring / Der stumme Frühling“ veröffentlicht. Obwohl es weltweit noch keine starke Umweltbewegung gab und die damalige Naturschutzbewegung eher defensiv und konservativ war, wurde es 1962 das meistgelesene Buch in den USA. Die Wissenschaftsjournalistin Rachel Carson zeigte, welche Folgen der Einsatz des Insektenvernichtungsmittels DDT auf die Umwelt hat. Es war ein Weckruf für eine global erwachende Bewegung.
Drastisch und berührend schrieb sie: „Es war einmal eine Stadt im Herzen Amerikas, in der alle Geschöpfe in Harmonie mit ihrer Umwelt zu leben schienen. (…) Die Gegend war berühmt wegen ihrer an Zahl und Arten so reichen Vogelwelt.“
„Dann tauchte überall in der Gegend eine seltsame schleierhafte Seuche auf, und unter ihrem Pesthauch begann sich alles zu verwandeln. (…) Rätselhafte Krankheiten rafften die Kükenscharen dahin, Rinder und Schafe wurden siech und verendeten. Es herrschte eine ungewöhnliche Stille.“
1962 war in den USA, aber auch in Deutschland noch die Zeit der „guten, alten, offenen“ und vor allem sichtbaren Umweltzerstörung und Umweltvergiftung. Flüsse waren stinkende Kloaken, Kinder in der Umgebung von Verbrennungsanlagen litten an Pseudokrupp, in der Umgebung deutscher Bleichemiewerke starben die Kühe an Bleivergiftung. 1957 kam Contergan auf den Markt und die ersten AKW wurden gebaut. Es war die unkritisch-technikbesoffene Nachkriegszeit, in der, trotz des Konzernwissens um die Gefahren, noch hemmungslos Asbest verbaut wurde. Nicht nur mit dem Werbespruch „DDT is good for me-e-e“ wurde für das Insektenvernichtungsmittel DDT geworben.
Doch langsam zeigten sich die negativen Folgen des DDT-Einsatzes, denn auch nützliche Insekten starben massenweise. Das langlebige Gift lagerte sich im Fettgewebe von Tieren ab. Auch ging die Zahl der Vögel zurück. Die Schalen der Vogeleier waren zu dünn und zerbrachen beim Brüten. In Deutschland war ein Aussterben der Wanderfalken zu befürchten. Beim Menschen, am Ende der Nahrungskette, reicherte sich das langlebige Gift in Leber, Nervensystem und Fettgewebe an.
Rachel Carson wurde von der Argrochemielobby massiv und aggressiv angegriffen. Ein Lobbyist der landwirtschaftlichen Chemieindustrie, Robert White-Stevens sagte damals Sätze, die heutigen Umweltaktiven seltsam vertraut vorkommen: „Wenn die Menschen den Lehren von Miss Carson treu folgten, würden wir ins finstere Mittelalter zurückkehren. Krankheiten und Ungeziefer würden die Erde wieder übernehmen.“
Die Zeit war reif für Carsons Buch und für das Wachsen der Umweltbewegung. DDT wurde nach langen Kämpfen verboten und 10 Jahre nach dem Erscheinungstermin entstanden auch in Deutschland, gerade auch am Oberrhein, immer mehr Bürgerinitiativen und aus der konservativen Nur-Naturschutzbewegung wurde eine politischere Umwelt- und Naturschutzbewegung.
Der stumme Frühling 2.0
Während weltweit Medien und die Umweltbewegung an das Erscheinen des wichtigen Buches vor 60 Jahren erinnern, geht eine erschreckende aktuelle Nachricht durch die Medien: „Der jüngste Bericht zur Lage der Weltvögel (State of the World’s Birds 2022) zeichnet das bisher besorgniserregendste Bild für die Zukunft unserer Vogelarten und damit des gesamten Lebens auf Erden. Fast die Hälfte aller Vogelarten ist rückläufig. Jede achte Vogelart ist derzeit vom Aussterben bedroht.„
Rachel Carsons Buch und die global wachsende Umweltbewegung waren und sind einerseits eine Erfolgsgeschichte. Luft- und Abwasserreinigungsanlagen wurden gebaut, Kraftwerke entschwefelt, Filter eingebaut, Autos bekamen Katalysatoren, DDT und Asbest wurden in den westlichen Staaten verboten und die kostengünstigen, zukunftsfähigen Energien begannen ihren langsamen Aufschwung. Die (Alb-)Träume der Atomlobbyisten sind nicht nur wegen Tschernobyl und Fukushima, sondern auch ökonomisch ausgeträumt, auch wenn manche PolitikerInnen das noch nicht begriffen haben. Die Produktionsprozesse wurden zumindest in vielen Ländern des Westens sauberer.
Das nur scheinbar unbegrenzte Wachstum brachte mehr Konsum, Handys, Plastik, Müll, Autos, PS, Straßen, SUVs, Rüstung, Flüge, Wohnraum, Agrargifte wie Neonicotinoide, Agrarfabriken, Urlaubsfabriken, Flächenverbrauch, Straßenbau, gigantische Bildschirme, Regenwaldvernichtung für Konsum, energiefressende Bitcoins und mehr soziale Ungleichheit … Die frühen Erfolge gegen die „gute, alte, offene“, sichtbare Umweltverschmutzung wurden und werden schlicht vom unbegrenzten exponentiellen Wuchern des Kleinen aufgefressen und dieses Wachstum bringt der Mehrzahl der Menschen nicht einmal mehr Glück und Zufriedenheit.
Und die alte Vision des stummen Frühlings wird erneut zur globalen Realität. Fünfmal gab es in den vergangenen 540 Millionen Jahren gewaltige Artensterben, zeigen Fossilienfunde. Forscher sehen eine aktuelle, menschengemachte sechste Welle in vollem Gange. Nach einem Bericht der Vereinten Nationen zur Artenvielfalt sterben bis zu 130 Tier- und Pflanzenarten täglich aus. Andere wissenschaftliche Quellen gehen von einem täglichen Aussterben von 150 Arten aus. Der Mensch im Anthropozän hat auf die Artenvielfalt eine ähnlich verheerende Wirkung wie der große Meteor-Einschlag vor 65 Millionen Jahren.
In kriegerischen Zeiten versuchen Konzerne, Lobbyisten und PolitikerInnen auch im Umwelt- und Naturschutzbereich das Rad der Geschichte zurückzudrehen und teilweise ist die unkritisch-zerstörerische Technikbesoffenheit der 60 Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Der gelenkte Hass, dem Rachel Carson ausgesetzt war, war nie verschwunden, wie (nicht nur) die perfiden Anzeigenkampagnen gegen Greta Thunberg zeigen. Durchsetzungsstrategien und Greenwash wurden optimiert. Aktuell wird das in der Fast-Nicht-Debatte um die Gefahren eines atomaren Endlagers in der Schweiz sehr deutlich.
Die Kämpfe gegen Klimakatastrophe, Artenausrottung, Atommüllproduktion, Überkonsum, Rohstoffverschwendung, gegen den verheerenden Traum vom unbegrenzten Wachstum und gegen den „stummen Frühling 2.0“ stehen trotz vieler Teilerfolge auch 60 Jahre nach Rachel Carsons wichtigem Buch erst am Anfang.
Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein (der Autor ist seit 50 Jahren in der Umweltbewegung aktiv und war 30 Jahre lang BUND-Geschäftsführer in Freiburg)
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Unten — Änderung der Meeresoberflächentemperatur 2070-2099 im Vergleich zu 1961-1990 nach dem Szenario RCP8.5 in °C
Lizenzhinweis
Visualisiert mit Panoply, Daten nach: CMIP5 simulations of the Max Planck Institute for Meteorology (MPI-M) based on the MPIESM-MR model: The rcp85 experiment, served by ESGF
Im Streit um schleppende Transformationen taugen Detailaufnahmen besser zum Verständnis als große Theorien. Einzelheiten sind zum Verständnis von Krisen eigentlich spannender als Leitartikel oder Großgedanken.
Soll man jubeln oder weinen? Fünfzig Jahre nachdem die „Grenzen des Wachstums“ erschienen und Robert Jungk im „Jahrtausendmenschen“ die Werkstätten der Zukunft besich-tigt hatte, erschien am vergangenen Freitag eine Sonderausgabe der FAZ. Groß die Ankündigung: „Wie wir in Zukunft leben wollen.“ Nicht mit Fragezeichen, mit Punkt.
Die Ausgabe ist durchsetzt mit Artikeln über vertikale Agrikultur, innovative Mobilität, Städtebau, Entmüllung des Konsums, Revolutionierung der Logistik, sogar über „Verzicht“. Im Feuilleton plädiert Dietmar Dath für „Hopepunk“ und „Anti-Dystopien. Die Interviewer von Herman Daly, dem Nestor der Steady-State-Economy, geben dem Argument, dass unendliches Wachstum in einer endlichen Welt nicht möglich ist, großen Raum, bedauern fast, dass es kein Gegenkonzept zum Kapitalismus gebe – und setzen dann auf die nicht ausgeschöpften Potenziale eines „Grünen Wachstums“.
Keine Totalwende, nein, aber eine kleine Akzentverschiebung. Strenge Theoretiker werden eh nicht einverstanden sein, etwa Ulrike Herrmann, die in den Blättern (10/22) anhand von Materialströmen vorrechnet, dass eine noch so grüne Technik sich nie weltweit durchsetzen kann. Ihr Vorschlag, wir sollten uns für ein geplantes Gesundschrumpfen an der britischen Kriegs-Planwirtschaft mit ihren Bezugsscheinen und minutiösen Vorgaben orientieren, greift aber zu kurz. Weniger Fleisch, Harz statt Mallorca, das klingt zwar gut, aber welcher parteienparlamentarische Staat könnte so etwas durchsetzen, und welche volkswirtschaftlich programmierten Computer hätten schon durchgerechnet, was die ökonomischen und sozialen Folgen wären.
Mich plagt seit einiger Zeit ein Unbehagen an Theorien mit hohem linken Zustimmungswert, aber zu großer Flughöhe, an deren Ende regelmäßig die Frage „Und wer soll das machen?“ steht, ebenso wie an analytisch noch so triftigen, aber emotional aufgeladenen Predigten, wir müssten nur „die Irrationalität des Ganzen“ und unseren Eigenanteil daran akzeptieren und dann „eine andere Politik etablieren“ (Stephan Lessenich, „Nicht mehr normal“). Das eine haben die meisten längst, für das andere fehlt die Gebrauchsanweisung. Andererseits sehnt man sich beim Lesen der Zukunfts-FAZ nach einer großen befeuernden Perspektive.
Einen belebenden Ausweg brachte mir die Lektüre von Bernd Ulrichs Porträt der Institution Wirtschaftsministerium in der Zeit (40/22). Der Gang durch die Entscheidungslabyrinthe endet beim Zuständigen für Wärmepumpen, die ja a tempo 12 Millionen Gasheizungen ersetzen sollen. Und es begab sich folgender schöne Dialog, den ich leicht gekürzt hier zitiere:– 2021 wurden nur 150.000 Wärmepumpen verbaut. Seit dem Gaskrieg mit Putin wollen fast alle eine. Das ist doch gut, oder?
– Fast. Die Installateure stellen sich um.
– Und?
– Es gibt zu wenige.
– Warum?
– Weil die Leute auch noch ihre Bäder sanieren wollen zum Beispiel.
– Aber wenn sie weniger sanieren und mehr Wärmepumpen einbauen, dann läuft’s?
– Nicht ganz, es gibt zu wenige.
– Installateure?
– Wärmepumpen.
– Warum?
– Jeder Hersteller hat ein anderes Modell, und die Geräte werden händisch zusammengebaut, da muss erst mal eine industrielle Fertigung her.
– Und dann kann genug produziert werden?
– Wenn es genug Halbleiter gibt.
– Die sind doch gerade knapp.
– Eben.
– Okay, also wenn es die Nachfrage gibt und die Installateure und die Halbleiter und die industrielle Fertigung, dann rollt die Sache?
– Nun, es gibt da noch das Problem mit den Kühlmitteln. Die sind bisher klimawirksam.
– Sie schützen das Klima?
– Sie gefährden es.
– Gibt’s denn da keine Ersatzstoffe?
– Schon.
– Aber?
– Die sind brennbar.
– Ah.
– Wir arbeiten dran.
– Also, wenn es nun die Nachfrage gibt und die Installateure und die industrielle Fertigung und die Halbleiter und die richtigen Kühlmittel, dann können Sie Ihr Ziel erreichen, 1 Million pro Jahr einzubauen?
– Wenn das mit dem Baufenster geklärt ist.
– Baufenster?
– Das ist der Teil eines Grundstücks, der bebaut sein darf.
Einzelheiten sind zum Verständnis von Krisen eigentlich spannender als Leitartikel oder Großgedanken
– Und?
– Ja, die Wärmepumpe muss zum Teil draußen sein. Dann ist sie außerhalb des Baufensters.
– Was macht man da?
– Man muss die Bauordnung ändern.
– Und das machen Sie?
– Nein, es sind Landesbauordnungen.
– Also 16 verschiedene!?
– Ja, 16. Wir sind in konstruktiven Diskussionen mit den Ländern.
DIE LINKE ist nicht gerade erfolgsverwöhnt. Und hinzu kommt, oft ist sie sich ihrer Erfolge nicht voll bewusst und kommuniziert sie unzureichend. Dies trifft zuletzt in besonderem Maße auf die Energiepolitik zu.
Ausgehend von den Anforderungen der Klimakrise hat DIE LINKE frühzeitig eine Energiepolitik entwickelt, die richtungweisend ist. Die linke Energiewende setzt auf einen raschen, unumkehrbaren Ausstieg aus fossilen Energieträgern und Atomkraft. An ihre Stelle sollen Erneuerbare Energien treten, dezentral erzeugt. Windkraft und Fotovoltaik sollen rasch ausgebaut werden; Erdgaskraftwerke zur Stromerzeugung sollen nur noch für eine Übergangszeit bei Flauten und Dunkelheit vorgehalten werden. Von Teilen der Industrie soll „grüner“ Wasserstoff eingesetzt werden. Energieverbrauch wird so klimaneutral und bezahlbar. Die linke Energiepolitik ist in ihrer Zielsetzung und mit ihren Schritten ausführlich, aber übersichtlich dargestellt in der Broschüre „Aktionsplan Klimagerechtigkeit“ der Bundestagsfraktion von 2020. Energiepolitischer Sprecher der Fraktion war seinerzeit Lorenz Gösta Beutin. Leider spielte die zukunftsweisende Klima- und Energiepolitik während des Bundestagswahlkampfs keine große Rolle.
Auch als im Verlauf des Ukraine-Kriegs durch den nach und nach erfolgten Ausfall russischer Gaslieferungen und die Spekulation an den Energiemärkten die Preise für Erdgas und Strom explodierten, machte DIE LINKE richtungweisende politische Vorschläge. Zu den Forderungen gehören nicht nur ein weiteres Entlastungspaket für von den Teuerungen betroffene Haushalte, sondern auch ein Gaspreisdeckel, die Zurücknahme der Gasumlage, ein Verbot von Strom- und Gassperren, die Unterstützung kommunaler Energieversorger (Stadtwerke), die Verstaatlichung von Energiehändlern und die Abschöpfung von Übergewinnen. Selbstverständlich fordert DIE LINKE nach wie vor den raschen Ausbau Erneuerbarer Energieträger.
Wie alternativlos die politischen Forderungen der LINKEN sind, wird durch den Schwenk der Ampel-Regierung bei der Krisenbewältigung, ausgelöst durch den Druck der Opposition und den Beginn von Protesten, deutlich. Das zusätzliche Entlastungspaket, der Gaspreisdeckel und die Zurücknahme der Gasumlage wurden – natürlich ohne Hinweis auf DIE LINKE – zwischenzeitlich von der Regierung zugestanden. Es gab selten einen schnelleren linken Erfolg. Nun kommt es darauf an, die restlichen Forderungen oder wenigstens Teile davon auch noch durchzusetzen. Nicht unerheblich wird dabei die Besetzung des Energiepolitischen Sprechers bzw. der Energiepolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion sein.
Für die Nachfolge von Ralph Lenkert, der auf der Grundlage des „Aktionsprogramms Klimagerechtigkeit“ im Ausschuss für Wirtschaft und Energie des Bundestags arbeitete, aber immer wieder Differenzen mit dem Ausschussvorsitzenden Klaus Ernst hatte, bewirbt sich Sahra Wagenknecht.
Wer setzt die politischen Meinungsverkäufer-innen auf ihren Platz ?
In der jetzigen Krisensituation legt sie in Reden, Video-Clips und Artikeln den Fokus nicht auf die bereits durchgesetzten Forderungen der Partei DIE LINKE und die noch zu erreichenden Forderungen. Wagenknecht ignoriert die politischen Erfolge der LINKEN und stellt per Video-Botschaft sogar in Frage, ob ein Gaspreisdeckel hilfreich ist oder ob er nicht etwa volkswirtschaftlich zu teuer ist (1). Sie sorgt sich mehr um den deutschen Mittelstand oder die deutsche Industrie als darum, wie nun eine Übergewinnsteuer zu Lasten der Konzerne und das Verbot von Strom- und Gassperren zugunsten ärmerer Haushalte durchgesetzt werden könnten. Sie pflegt, wie übrigens auch weitere ihr nahestehende Abgeordnete, zudem Illusionen, dass in Verhandlungen mit Russland bei Unterordnung unter die imperialen Interessen Russlands eine Wiederaufnahme der Gaslieferungen zu billigen Preisen erreichbar wäre. Sie zeigte zudem in den letzten Jahren eine deutliche Distanz zur Klimapolitik der LINKEN. Bei vielen Gelegenheiten spielte sie Armut gegen Klimapolitik aus und beförderte den Widerstand gegen den Ausbau der Windkraft.
Die Fraktion tut sich, der Partei und den WählerInnen der LINKEN keinen Gefallen, wenn sie den Energiepolitischen Sprecher oder die Energiepolitische Sprecherin mit einer Person besetzt, die der Klima- und Energiepolitik der Partei kritisch gegenüber steht und keinen Blick für die zuletzt erzielten nicht unbeträchtlichen Erfolge hat.
Die Energiepolitik der LINKEN war bisher erfolgreich. Diese Erfolge dürfen durch falsche Personalentscheidungen nicht gefährdet werden.
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Unten —Die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei Sahra Wagenknecht. Leipziger Parteitag der Linkspartei 2018. 1. Tagung des 6. Parteitages der Partei DIE LINKE. Vom 8. bis 10. Juni 2018. Tagungsort: Leipziger Messe, Congress Center Leipzig.
Wer Ökologie nicht versteht, kann auch keine Wirtschaft
Eine Argumentation von Ulrike Fokken
Eine Klimakrisen-Wirtschaft kann nur mit den Gesetzmäßigkeiten der Flüsse funktionieren. Die angebliche Versöhnung von Ökologie und Ökonomie ist keine Option.
Geradezu sinnlich haben wir in diesem Sommer den Klimawandel erlebt. Wir wissen jetzt, wie es sich anfühlt, wenn bei 37 Grad der Schweiß auf der Haut verdunstet und nicht mehr kühlt, wenn der Körper matt und der Kopf blöde in der Hitze hängen. In den Städten war es unerträglich, die Wälder standen brandgefährlich trocken. Seen und Flüsse kühlten kaum, als wir sie am dringendsten brauchten. Bis Juli hatte die Sonne die Seen und Flüsse auf 26, 28 Grad Celsius erhitzt. Auf den freiliegenden Ufersteinen moderten Wasserpflanzen. Algen dickten die Gewässer ein. Und an Rhein, Saale, Panke und unerwähnten anderen Flüssen haben wir erlebt, dass im Klimawandel auch der Flussbarsch und die Bachmuschel sterben.
Trockenheit bedeutet Tod im Fluss, der uns mehr angeht als ein ethisches Zucken. Erst einmal die gute Nachricht: Eines der vielen Wunder der Natur ist ihre Stärke, dem Leben das Leben zu ermöglichen. Strudelwürmer, winzige Krebse, Larven von allerhand Insekten und Fischen, Schnecken und Mikroben überleben in den feuchten Tiefen des Sediments und besiedeln den Bach und Fluss, sobald das Wasser wieder fließt. Wenn Tiere, Pflanzen und mikroskopische Kleinstlebewesen wieder ein Netz der Vielfalt knüpfen, belebt sich das ökologische System im Fluss und versorgt auch uns mit dem Element, das uns am Leben hält: Wasser.
Im Wasser der Oder keimt auch die Hoffnung, dass die Natur den ökologischen Kollaps im Fluss heilen kann. Die Bilder von Hunderttausenden toten Fischen in der Oder schmerzten. Barsche, Hechte, Neunaugen, Goldsteinbeißer, Döbel und auch 20.000 junge Störe aus den Bassins einer biologischen Nachzuchtstation erstickten. Verstörend ist vor allem, dass gleich eine ganze Reihe von menschlichen Ursachen den Ökozid in der Oder ausgelöst hatte: Die Salzeinleitungen in Polen lösten eine Kette von Reaktionen aus: Im gestauten Wasser an Buhnen und Wehren fanden die todbringenden Brackwasseralgen einen Lebensraum; zu viele Stickstoffverbindungen aus der Landwirtschaft nährten sie in dem vom Klimawandel erhitzten Fluss.
Diese Gründe und vermutlich noch ein paar mehr hängen multikausal mit der Lebens- und Wirtschaftsweise in den Industrieländern Deutschland und Polen zusammen. Und das ist eine der schwierigen Erkenntnisse: Wir alle sind für den Ökozid in der Oder verantwortlich. Das bedeutet: Wir müssen unsere Lebensweise ändern, die bislang vorherrschende Art zu Wirtschaften und das Land zu beackern, umstellen. Ohne saubere Flüsse gibt es kein Trinkwasser, ohne natürlichere Flüsse vertrocknet das Land.
Wenn es um Wald, Flüsse, Natur geht, entsteht in Deutschland schnell der Verdacht, man wolle zurück in eine Welt des 18. Jahrhunderts oder früher, jedenfalls in die Zeiten vor der Industrialisierung und der Einhegung des natürlichen Lebens. Das sind alte Reflexe der Abwehr, denn hierzulande überwiegen der feste Glaube an die Technik und menschliche Ratio. Naturnahe Wälder und natürlichere Flüsse entspringen jedoch nicht einer romantischen Verklärung der Natur, sondern der logischen Schlussfolgerung aus Trockenheit und einem Temperaturanstieg von 1,8 Grad in Deutschland in den vergangenen 50 Jahren.
Eine Klimakrisen-Wirtschaft an und auf Flüssen kann nur mit den Gesetzmäßigkeiten der Flüsse funktionieren. Denn ob die Wirtschaft nun wächst oder stagniert, ob der Kapitalismus noch ein paar Jahre weiter ballert oder zusammenbricht – in jeder Art zu wirtschaften und zu leben werden Flüsse eine entscheidende Rolle in Mitteleuropa spielen. Wie auch immer wir kollektiv zusammenleben, wird die Ökonomie nur mit Ökologie florieren. Um gleich ein Missverständnis auszuräumen: Es geht nicht darum, die Ökologie mit der Ökonomie zu versöhnen, die Wirtschaft also nachhaltiger, umweltfreundlicher und sogar klimaverträglicher zu gestalten. Es geht darum, die Gesetzmäßigkeiten von hochkomplexen Ökosystemen anzuerkennen und das bisschen, was Wissenschaftler-innen bislang entziffert und verstanden haben, in praktisches Handeln umzusetzen. Auch das ist keine Romantik, sondern Logik. Nur mit den physikalischen, chemischen und biologischen Gesetzmäßigkeiten in den Ökosystemen werden wir die Systeme menschlichen Zusammenlebens erneuern und erhalten können. Die Natur der Flüsse anzuerkennen, ist also kluge Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik – ebenso wie Treibhausgase einzusparen und die Erwärmung der Erde zu begrenzen.
Es werden immer mehr Idioten aus den politischen Clans mit den Aufgaben als Minister-innen beauftragt. Wer einen Fluss vertieft oder begradigt, sorgt für einen schnelleren Ablauf des Wassers. Über so viel an Grundschulwissen sollte ein Minister schon verfügen.
FDP, CDU und weite Teile der SPD drücken sich noch an den Spundwänden entlang, um in ausgetrockneten Flüssen so weiterzumachen wie bisher. FDP-Bundesverkehrsminister Volker Wissing holte aus dem trockenen Sediment seines Schreibtischs die Rheinvertiefung vor, die er schon als Minister in Rheinland-Pfalz machen wollte und auch ohne Dürre die Sache verschlimmert hätte. Den Rhein in diesen heißen Zeiten zu vertiefen, ist so, als ob man einen Sonnenbrand mit dem Abtragen der Haut behandelt. Je tiefer ein Fluss ausgebaggert wird, desto schneller fließt das Wasser aus der Landschaft und desto stärker trocknet das umliegende Land aus. Ein vertiefter Fluss verliert außerdem zu viel Sediment, in dem kleinste Lebewesen und Bakterien das Wasser reinigen, bevor es ins Grundwasser läuft. Sind zu wenige Steine und Sand am Flussgrund, bricht das Sediment, und das ungefilterte Flusswasser verschmutzt das Grundwasser. Schon jetzt kippen Laster täglich Steine und Sand in den Rhein und andere gestaute und ausgebaggerte Flüsse, um das Sediment in den Flüssen zu erhalten und den Trinkwasser-GAU zu verhindern.
Die Folgen von Hochwasser oder Gar-kein-Wasser werden nur dann gemildert, wenn die Ökosysteme in und an den Flüssen in das menschliche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in heißen Zeiten integriert werden. Das bedeutet nicht, dass fortan Rhein, Elbe, Donau wieder in den natürlichen Flussarmen strömen, Deiche verschwinden, alle Wehre und Staumauern und Wasserkraftwerke abgebaut werden. An sehr vielen Ufern brauchen wir den Schutz den Mauern, denn sie halten Industrieanlagen und Siedlungen trocken. Noch brauchen wir auch die megawattstarken Wasserkraftwerke in den Alpenflüssen, aber eines Tages werden Sonne und Wind die Energie naturverträglicher liefern als die gestauten Flüsse.
Wehre, Wasserkraftwerke und Ufermauern stammen aus früheren Jahrhunderten. Aber mit den Bauanleitungen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts können wir im 21. Jahrhundert nicht mehr hantieren. Damals haben Wasserbauer die Flüsse begradigt, gestaut, vertieft, umgeleitet, um Wasser aus der Landschaft zu holen, Land zu gewinnen und Transportwege zu bauen. In früheren Jahrhunderten hat es mehr geregnet, im 19. Jahrhundert sogar sehr viel mehr, und das Land war nass und die Moore ausgedehnt. Es gab zu wenig trockenes Land zum Ackern, Siedeln, Fabriken bauen. Ein Prozent der Flüsse und nicht einmal ein Prozent der Auwälder haben die große Trockenlegung in Deutschland überlebt.
Unten — Blick von der Weinlage Frankenthal über Assmannshausen auf den Rhein mit dem Felsenriff Großer und kleiner Leisten, den gerade ein Gütermotorschiff im Schubverband mit einer Ladung Schüttgut auf Bergfahrt passiert
Am Freitagabend, pünktlich zum Herbstanfang 2022, wurden die Protestaktionen der sogenannten ’Fridays For Future’-Jugend (FFF: Freitags für die Zukunft) wieder als innerdeutsche Nachricht bei allen Leitmedien in die Fernsehstuben der Bundesdeutschen zugelassen.
Ja, diese Hätschelkinder’ der Mainstream-Medien einer jugendlich-frischen Ökobewegung durften ihre ’Angstreden’ vor einer ihnen ungewissen klimatischen Zukunft als ’News’ (Nachricht) rausposaunen, wobei das unvergessliche Buch ’Global 2000’ vielleicht der Geburtshelfer und Taufpate dieser Bewegung war. Doch dieser ’Schinken’ ist viel zu dick, zu alt und viel zu schwer verdaulich, als dass Teenager sich an die Lektüre gewagt hätten. Es geht ja auch ohne, zumal bei dem miesen Klima dieser Septembertage jedermann/frau die angestrebte ’Klimawende’ einer Erderwärmung eher befürwortet.
Im tiefen Südwesten der Bundesdeutschen Republik, dem allseits geliebten, fast französischen Saarland nämlich, wollten die ökologischen Grünlinge auch wieder auf die Straße gehen (2). „Saarland for Future“ hatten die Organisatoren sich auf das teure Banner geschrieben, das an der professionell aufgebauten Rockbühne hing, die auf dem abgesteckten -natürlich- polizeilich überwachten Festgelände stand. Die sattgrünen Uferwiesen entlang der Saar am Saarbrücker Staatstheater wurden nach der Coronakrise endlich wieder genutzt. Etliche der bekannten alternativen Non Governmentel-Organisations (NGO; Nicht Regierungsorganisationen) kamen und wollten das Fest zur Eigenreklame verwenden: Greenpeace, BUND, VCD, der ’Dritte-Welt’-Laden (Losheim) eine bunte Fahrrad-Kinder-Initiative (oder so) und andere Vereine mehr hatten ihre Infohäuschen entlang des Festplatzes aufgebaut. Zudem hatte ein noch eher unbekannter Künstler zwei riesige durchsichtige ’Plastikluftkissen’ (plastique fantastique; Anmerkung: 3) aufgestellt, um mit seinem Kunstwerk den Besuchern die Öko-Krise von ’Mother Earth’ (Mutter Erde) zu verdeutlichen. Optimal angelegt war sie die Organisationsstruktur des Festes: Mein Respekt an das Organisationsteam!
Die aufgestellten Festivalboxen vibrierten im rockigen Sound einer Band, deren aggressiv gekonnte zwischen Metallica und Scorpions intonierte Breitbandmusik von Weitem schon die Menschen anlockte. Doch da war kaum jemand anwesend! Die Betreiber der Infostände diskutierten notgedrungen eher mit sich selbst und die angekündigte deutsche „Jungfrau aus Schweden“ Frau Luisa Neubauer -war die das?- redete vor kaum einem Dutzend Beifall klatschender Jugendlicher. Nur ein paar eher zufällige ’Jungkids’ hatten sich nämlich ’auf die Wiesn’ am Saarbrücker Theater verirrt, denn es war ja Samstag und der ist sowieso schulfrei! Essensstände fehlten auf dem Fest komplett und kein Schwenker animierte die übrigen eher zufälligen Festbesucher mit seinem verführerischen Duft einer Roten oder Weißen zum Verzehr der vielleicht veganen Ökobällchen. Dass das so geplante Klimafest (3) ein Flop war, lag eher wohl am saarländischen Wetter. Der regengraue Himmel meinte es nicht gut mit den Klimaengagierten. Doch der anwesende Vertreter des Saarländischen Rundfunks stelle auch die richtige Frage nach dem Timing, der Zeitplanung: Ist der Samstag im Saarland nun ein Freitag? Und der organisatorische Hauptverantwortliche für die in Saarbrücken inszenierten FFF-Demo beantwortete die vollzogene südwestdeutsche Wende in der Zeit des Öko-Festes von Freitag auf Samstag, nicht mit der klassischen Begründung: „Friday I’m in love (The Cure). Er postulierte einen Ausstieg der saarländischen FFF aus der „Komfortzone“ und der Gewinnung neuen Publikums (4). Diesen zeitlichen Tageswechsel jedoch hatte die Masse der saarländischen Schülerinnen und Schüler und damit die eigentlichen Ansprechpartner des Festes, wohl nicht mitbekommen, wobei die sonstig Interessierten leider auch nicht kamen.
Der bisher bestehende saarländische FFF-’Druck der Straße’ ist nun jedoch verpufft, die Luft ist raus und die saarländische Regierung unter Frau Anke Rehlinger (SPD) kann wie die Berliner Rot-Gelb-Grüne Bundesregierung ihre Corona-Todesfurcht-Atom-Kriegsbedrohungs-Energiemangel-Angstpolitik gegen das eigene Volk unbehindert fortsetzen. Jetzt verbleiben nur noch die bösen stigmatisierten ’rechten’ „Querdenker“ als ’linke’ Politikrebellen. Zur Garantie der deutschen Volkssicherheit aber wird nun neben der Polizei endlich auch die Bundeswehr wieder im Innern patrouillieren! Es fehlen der neuen Berliner Republik Deutschland (BRD) noch die früher üblichen Nachtwächter und der ’Deutsche Michel’ kann in seinem geliebten Vaterland (5) wieder ruhig schlafen gehen. Nur der Verfassungsschutz weist schon einmal präventiv auf mögliche „Volksunruhen“ für den angebrochenen Herbst hin (6). Ob für diese prognostizierten „Volksunruhen“ eignes die berühmten ’Gelbwesten’ (7) aus dem benachbarten französischen Lothringen ins Saarland anreisen, sollte diskret beim Verfassungsschutz angefragt werden.
Abschließend sei im Rückblick auf das saarländische FFF-Fest ausdrücklich gefragt: Wer bezahlt eigentlich dieses aufwendige saarländische ’Friday-pupils-event’ (freitags Schüler Fest)? Bestimmt werden dem Organisationsteam ausreichend Spendengelder von Klimagönnern zufließen, denn ein einfacher, gar noch minderjähriger Schüler kann das für ein solches Happening benötigte Geld wohl nicht aufbringen.
Anmerkungen:
1 Das Motto der jungen Ökobewegung wurde gewendet zu : No future for Fridays, was heißt: Keine Zukunft für die Freitags(demonstranten).
2 Hinweis von Campact: Sind auch Sie am Freitag bei der großen Klima-Demo in Saarbrücken dabei? Ort: Park am Theater (unterhalb Staatstheater), Saarbrücken Zeit: 14 Uhr. (Info vom 20. 9. 2022) Etliche am Thema Interessierte kamen denn am Freitag zum angegebenen Versammlungsort, doch da war nichts…
4 Vgl: Bericht des Saarländischen Rundfunks: www.sr.de/sr/mediathek/ Audio/SR2_ BE_ 798.html
5 Der bekannte Deutsche Schlagerstar Udo Jürgens sang 1971 das gesellschaftskritische Lied: ’Lieb Vaterland’. Besonders erwähnenswert wären die Zeilen: Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein, Die Großen zäunen ihren Wohlstand ein. Die Armen warten mit leerer Hand. Lieb’ Vaterland! Vgl.: www.google.com/search?q=Udo+Jürgens%3A+Lieb+Vaterland
6 Siehe auch: tagesspiegel.de/politik/bundeskriminalamt-warnt-energiekrise-bedroht-innere-sicherheit-8679658.html; das in der Verfassung garantierte Grundrecht der freien Meinungsäußerung wird vom deutschen Verfassungsschutz negativ bewertet und vorab als möglicher „Volksaufstand“ interpretiert. Diese deutsche Institution der BRD ist als historische Nachfolgorganisation von Gestabo (Drittes Reich) und der Stasi (DDR) selbst verfassungswidrig und einer richtigen Demokratie unwürdig! Der deutsche Verfassungsschutz mit all seinen Skandalen gehört deshalb abgeschafft!
7 Die ’Gelbwesten’ (frz.: Gilets jaunes) , eine engagiert renitente französische Gruppe, vornehmlich aus engagierten Rentnern bestehend, sorgten in Frankreich mit ihren nicht immer gewaltfreien Aktionen dafür, dass die französische Wirtschaft im Jahr 2018 zur Produktionslokomotive Europas wurde. Die so gestärkte französischen Binnenkonjunktur überholte dabei erstmals die Wirtschaftskapazität der BRD, wobei einzelne Gelbwesten bedauerlicher Weise herausgegriffen und durch die Justiz zur Verantwortung gezogen wurden. Das französische Wirtschaftssystem wurde so auf dem Rücken seiner sozial schwächeren Staatsmitglieder saniert. Siehe auch: Nikolaus Götz: Die französischen Gelbwesten. Eine Bürgerbewegung mit ihren politischen Forderungen, Saarbücken 2019.
Muss man sich als arthritischer Pensionär von Menschen belehren lassen, die noch nicht einmal ahnen, was Jesuslatschen und Batik-T-Shirts sind?
Caprihosen, Kapuzenpullis
Wie wir Älteren wissen, verehrte Leser, gewinnen gewisse Erkenntnisse, Begebenheiten und Emanationen im Lauf der Zeit zunächst Patina, dann Bedeutung, dann Unbestreitbarkeit. Wer also etwa heute als Student des Fachs »Kreatives Schreiben« verkündet, er wolle fürderhin auf dem Alexanderplatz in Berlin, Hauptstadt der Republik, in einem mehr oder weniger leeren Müllcontainer eines Lebensmittelmarktes wohnen und tags die Tauben, nachts die Ratten zählen, hat keine Gnade zu erwarten, weder vom Ordnungsamt noch von der Jahrestagung der deutschsprachigen Erkenntnisphilosophie. Die bittere Enttäuschung des jungen Menschen verhindert aber nicht die Möglichkeit, dass die Aktion in etwa 1000 Jahren als Durchbruch eines Zenmeisters oder Lebenswerk eines »Philosophen im Fass« angesehen wird.
Unsereins, Vor-Boomer aus einer Menschheitsepoche kurz nach dem, wie wir erfahren, von unseren eigenen Kindern gewonnenen Krieg gegen den Faschismus, muss vorsichtig sein. Wir selbst haben lange genug unsere Leben und sogar unsere Identität damit erklärt, wir hätten, falls wir denn gelebt und etwas zu sagen gehabt hätten, keinesfalls Völkermord begangen, gutgeheißen, toleriert oder Argumente dafür als »umstritten« angesehen hätten. Ich schwöre, dass ich schon damals dem Rittmeister von Trotha einen extrem empörten Tweet sowie einen Shitstorm-Hashtag gewidmet hätte, falls es hätte sein können.
Nun ja: Das klingt jetzt schon wieder irgendwie »beleidigt«. Obwohl ich doch gerade das unbedingt vermeiden will und – Indianer-Ehrenblutswort – es doch nur gut meine! Ich habe vor zwei oder drei Tagen hier einen Beitrag gelesen, in dem eine als Frau gelesene Frau (24) und als Schriftstellerin gelesene Studentin des Fachs »Kreatives Schreiben« sich zur historisch-materialistischen Lizenz zum Kapuzenpullitragen äußerte. Manchmal denkt man, nun sei der Boden erreicht. Muss man sich als arthritischer Pensionär von als Menschen gelesenen Personen belehren lassen, die noch nicht einmal ahnen, was Jesuslatschen und Batik-T-Shirts sind?
Aber dann entdeckt man in einer großen deutschen Wochenzeitung ein Interview mit der Generaldirektorin (57) der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und erfährt, dass man im Katalog der Galerien mittels Klick auswählen kann, ob man den Titel des etwas mediokren Kunstwerks »Mohr mit der Smaragdstufe« (B. Permoser, 1723, Birnenholz) »mit dem M-Wort« oder, falls man das nicht erträgt, auch mit einem richtigen Wort lesen kann.
Da weiß man: Es gibt jedenfalls keine Obergrenze der Heuchelei und Bigotterie. Wir warten also, vorerst, auf die wahlweise zu klickende Digitalversion von E.T.A. Hoffmanns »der Liebe und Freundschaft gewidmetem« Text von 1820, entweder als »Das Fräulein von Scuderi« oder ohne F-Wort »Die als Frau gelesene Scuderi«. Auch »Fräulein Smillas Gefühl für Schnee« sollte noch mal in die Freiwillige Selbstkontrolle. Schlimmer als der Dresdner Bildtitel »Hund, kleinwüchsiger Mann und Junge« statt »Großer Hund, Zwerg und Knabe« (Jan Fyt, 1652) kann es nicht werden.
Sünderlein
In derselben Ausgabe derselben Zeitung werden übrigens noch einmal die Massagesitze von Frau Intendantin a. D. Schlesinger extrem kritisch hinterfragt, ebenso das »italienische« (!) Parkett der Leitungsetage für 16.000 Euro, von dem wir, bevor vor Aufregung ein Magengeschwür entsteht, nun endlich wissen möchten, wie viele italienische Quadratmeter wir uns vorzustellen haben. Vielleicht könnte ein Investigativjournalist des RBB das ausmessen und möglichst auch Vergleichsangebote für schwedisches Linoleum und unbehandelte Brandenburger Kiefer beifügen.
Womit wir, Freunde der kolumnistischen Weltwissenschaft, natürlich wieder beim Thema »Du mich auch« gelandet sind und damit – altersangemessen! – bei frühen Stars wie Herrn Willy Reichert (1896 bis 1973) oder Willy Millowitsch (1909 bis 1999), populären Volksphilosophen des mittleren 20. Jahrhunderts, welche, liebe Jugend, Ihre oberpeinlichen Großeltern bei so manchem Gläslein Trollinger/Kölsch ebenso cool fanden wie die endpeinlichen 24-Jährigen heute Frau Nicki Minaj (39), die sich die nordfriesische Kultur mittels Strohperücken anzueignen pflegt.
ch weiß es ja, dass es auch schön ist, sich dafür zu schämen, dass andere so blöd, schlecht, verdorben oder unmoralisch sind. Ich selbst habe es vor 50 Jahren auch getan! Die oben erwähnte Autorin (24) hat versichert, dass sie, um ein geglücktes Leben zu verwirklichen, unbedingt unzufrieden bleiben möchte.
Das scheint nur auf den ersten Blick widersprüchlich zu sein. Denn gemeint ist ja: Sie strebt höchstmögliche Zufriedenheit mit sich selbst durch höchstmögliche Unzufriedenheit mit allen anderen an. Es gibt Menschen und Professionen, die so einen Lebensplan »narzisstische Störung« nennen. So weit muss man aber nicht gehen. Sagen wir: Diese »Akzentuierung« scheint mir im Kosmos des »Authentischen« bemerkenswert verbreitet.
Unten — Thomas Fischer auf der re:publica 2016
Ot – Eigenes Werk
Thomas Fischer (Jurist)
CC-BY-SA 4.0
File:Thomas Fischer-Jurist-rebuliva16.JPG
Erstellt: 4. Mai 2016
Nach der kolonial-industriellen Expansion Europas ist die Klimakatastrophe längst in Regionen angekommen, in denen die Emissionen, die zu dieser Katastrophe geführt haben, nicht produziert wurden. Wenn dies zu einer großflächigen Vertreibung von Millionen von Menschen führt, dann ist es höchste Zeit, Umwelt- und Migrationspolitik zu dekolonisieren, wie Nishat Awan in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” argumentiert.
Ein Drittel Pakistans steht unter Wasser, ertrunken in der Sintflut eines “Monsuns auf Steroiden“, wie der UN-Generalsekretär António Guterres es nannte. Zu den Monsunregenfällen kommen noch die Wassermassen hinzu, die durch das Abschmelzen der Gletscher infolge der globalen Erwärmung entstehen. Was kann man in einem solchen Kontext über die Klimakatastrophe – und Europa – sagen, ohne das Wort Wiedergutmachung zu benutzen?
Klima- und Kolonialreparationen
Doch dieses Wort will Europa nicht hören. Als sie die Verwüstung durch die Überschwemmungen sahen, reagierten viele Menschen in Pakistan in den sozialen Medien verzweifelt – mir ging es nicht anders – ich war aufgebracht, wütend und forderte Wiedergutmachung. Eine interessante Antwort auf meinen Tweet bestand darauf, dass ich mich auf die Reparationen beziehen sollte, die “wir schulden” und nicht “ihr schuldet”, was vermutlich auf die Tatsache anspielt, dass ich im Vereinigten Königreich lebe.
Dass das historische Gedächtnis bei manchen Dingen so kurz und bei anderen so lang ist, sollte nicht überraschen; das sehen wir an der parteiischen Geschichte, die derzeit in den britischen Medien nach dem Tod von Königin Elisabeth II. erzählt wird. Diejenigen von uns, die Reparationen fordern, meinten sowohl Klima- als auch koloniale Reparationen, weil beides untrennbar miteinander verbunden ist. Ich mag in London leben und mehr als meinen gerechten Anteil an den Ressourcen der Erde verbrauchen, wie wir alle, die wir im globalen Norden leben, es mehr oder weniger zwangsläufig tun. Aber meine Vorfahren (um genau zu sein: mein Großvater und mein Vater) wurden von ihrem Land vertrieben, um die größte Kaserne des britischen Empires zu bauen, und wurden dann erneut heimatlos, als die koloniale Politik des Teilens und Herrschens den Subkontinent aufteilte.
Nach Angaben des Wirtschaftswissenschaftlers Utsa Patnaik indischen Subkontinent Reichtümer im Wert von 45 Billionen Dollar gestohlen, und Pakistan ist derzeit mit fast 250 Milliarden Dollar verschuldet, deren Rückzahlung dem Land keinen Aufschwung ermöglicht hat. Natürlich haben auch unsere eigenen Regierungen und das gefräßige Militär nichts dazu beigetragen, aber wir waren schon zum Scheitern verurteilt, bevor wir überhaupt angefangen hatten.
Die koloniale Matrix der Migration
Vieles davon wird für viele Leser nichts Neues sein, und doch wird dieser Kontext in angrenzenden Debatten, z. B. im Zusammenhang mit Migration, oft vergessen. Ich untersuche die undokumentierte Migration aus Pakistan nach Europa und die Art und Weise, wie die Kolonialpolitik die große Mehrheit der Menschen in Pakistan als billige Arbeitskräfte geformt hat und weiterhin formt. Ein historischer Hintergrund, der oft vergessen wird. Pakistan ist eines der wenigen Länder, die die Auswanderung kriminalisiert haben, d. h. das Verlassen des Landes mit den “falschen” Absichten kann ein Verbrechen sein.
Die Gesetzgebung, die praktisch die rechtliche Behandlung von Bürgern bestimmt, die aus Pakistan auswandern, ist die Emigration Ordinance (1979), die sowohl Vermittler als auch undokumentierte Migranten kriminalisiert. Sie hat ihre Wurzeln in der kolonialen Gesetzgebung, die die Zuwanderung von Arbeitsverpflichteten aus Indien zur Arbeit auf den Plantagen des britischen Empires kontrollierte. Später wurde der Geltungsbereich des Gesetzes auf die Kontrolle von “ungelernten Migranten” ausgeweitet, da die Kolonialherren befürchteten, dass linke Bewegungen die Arbeiter in Übersee radikalisieren könnten.
Die letzte Fassung des Gesetzes wurde nach der Unabhängigkeit von der autoritären Regierung von General Zia ul-Haq verabschiedet, als die Arbeitsmigration in die Golfstaaten zunahm und die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes von Überweisungen wuchs.Andere Länder, die in den letzten zehn Jahren ähnliche Gesetze wie Pakistan eingeführt haben, sind Marokko, Algerien, Tunesien und der Senegal, die alle unter dem Druck der EU (und des Vereinigten Königreichs) stehen, um die Migration einzudämmen, und als Teil umfassenderer Bemühungen, die EU-Grenzen zu externalisieren.
Einschränkung der Freizügigkeit von Menschen
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der aktivistische Diskurs in Europa über Freizügigkeit und Grenzsicherung dazu tendiert, sich auf die Frage nach dem Recht zu konzentrieren, die befestigten Räume der nördlichen Privilegien zu betreten, und nicht auf die Kriminalisierung des Verlassens des eigenen Landes. Man könnte sich fragen, warum diese Nuancierung wichtig ist, da sie im weiteren Sinne auch die Freizügigkeit von Menschen einschränkt.
Am Beispiel Pakistans ) wird ein “biometrischer Personalausweis” verwendet, der von lokalen Behörden ausgestellt wird. Das bedeutet, dass jeder, der in einem Bus in der Nähe der pakistanisch-iranischen Grenze reist und beispielsweise einen Ausweis aus einem Dorf in der Provinz Punjab besitzt, von der Polizei oder der Federal Investigation Agency (FIA) angehalten werden kann.
Zwar gibt es keine rechtliche Handhabe, jemanden zu belangen, nur weil er sich in einem anderen Teil des Landes aufhält, doch werden häufig Personen festgenommen und dann ohne Anklage freigelassen, weil sie wahrscheinlich versuchen, das Land ohne die erforderlichen Genehmigungen zu verlassen. Ein örtlicher Grenzbeamter in der Provinz Belutschistan beklagte2019:
“Auf der 600 km langen Straße von Quetta nach Taftan gibt es keinen einzigen FIA-Kontrollposten. Wie können wir also Migranten ohne Papiere erkennen und festnehmen? Außerdem haben wir es mit Problemen der Rechtsprechung zu tun: Es gibt kein Gesetz, das mich daran hindern kann, zur Grenze zu fahren, und niemand kann wissen, wohin ich eigentlich fahren will.”
Dieses Zitat zeigt deutlich, dass eine präventive Verhaftung von Möchtegern-Migranten von den Behörden als unproblematisch angesehen wird, während die Tatsache, dass sie nicht in der Lage sind, sie erfolgreich zu verfolgen, als Problem angesehen wird. In der Tat wird auch die Bewegung bestimmter Menschen innerhalb ihres eigenen Landes kriminalisiert, und zweifellos bestimmen Fragen der Klasse und des Privilegs, wer wohin reisen darf.
Verflechtung von Umwelt- und Wirtschaftsfragen
Um zu verstehen, warum sich die Menschen gezwungen sehen, diese höchst gefährliche Reise anzutreten, ist es wichtig, die Verflechtung von Umwelt- und Wirtschaftsfragen zu beachten. In den letzten Jahren habe ich in den Dörfern des nördlichen Punjab im Bezirk Gujranwala recherchiert und Interviews geführt, woher viele der Menschen stammen, die versuchen, nach Europa zu gelangen. Das landwirtschaftlich geprägte Gebiet ist berühmt für seine Bewohner aus Übersee, aber auch für die Produktion von hochwertigem Basmati-Reis. Der Widerspruch zwischen diesen beiden Tatsachen erklärt sich ein wenig, wenn man von der Stadt Lahore aus in das Gebiet fährt. Es wird von der Urbanisierung verschlungen, die sich in den letzten zehn Jahren von der Stadt aus nach Norden ausgebreitet hat.
In dem Maße, wie Dörfer ihr Land an private Wohnsiedlungen, Industrieanlagen und kleine, stark umweltverschmutzende Fabriken verlieren und der Klimawandel die Ernteerträge unvorhersehbar macht, werden junge Männer dazu verleitet, sich auf eine beschwerliche Reise zu begeben, um bahir zu gehen, ein Wort, das “draußen” bedeutet und für sie normalerweise irgendwo im wohlhabenden Westen bedeutet. Die Dörfer liegen eingebettet zwischen Kleinstädten, halbfertigen Autobahnen und den Trümmern einer schnellen und unkontrollierten industriellen Expansion. Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit hoch, und die Arbeit, die es gibt, ist äußerst prekär.
Politik der Undurchsichtigkeit
In einigen Dörfern haben fast alle älteren Männer schon einmal versucht, nach Europa zu reisen – mit unterschiedlichem Erfolg. Viele dieser Männer sind als Agenten tätig – das heißt, sie sind Agenten, die anderen die Reise erleichtern. Ein Mann (unter den Personen, mit denen ich sprach), der vor kurzem aus Griechenland zurückgekehrt war, verfügte über ein enzyklopädisches Wissen über die verschiedenen bürokratischen, biometrischen und Datenerfassungsverfahren, die von der EU an ihren Außengrenzen eingeführt wurden. Er hatte viele Monate auf Lesbos und dann in Athen als Freiwilliger für eine NGO gearbeitet.
Auf diese Weise war es ihm auch gelungen, über das so genannte Programm der IOM zur freiwilligen Rückkehr zurückzukehren. Er war sich der Funktionsweise der verschiedenen Datenbanken und Kontrollsysteme, die er im Falle einer Rückkehr durchlaufen müsste, sehr bewusst. Denn die Frage der Rückkehr ist in seinem unsteten Leben, in dem der Ort, den er sein Zuhause nannte, aufgrund von Urbanisierung und Umweltzerstörung nicht mehr existiert, immer offen.
Da er weiß, wie die Kontrollsysteme funktionieren, war er auch zuversichtlich, dass er einen Weg hindurch finden würde, indem er die Undurchsichtigkeit mobilisierte, die das Geschenk einer rassifizierten Welt an diejenigen ist, die als undifferenzierte Masse angesehen werden. Wie mir bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt wurde, besteht der Trick darin, seine Finger- oder Augenabdrücke nicht in die biometrischen Kontrollapparate einzuspeisen, da sich die (menschlichen) Grenzbeamten ohne diese maschinelle Unterstützung wahrscheinlich nicht an Sie erinnern oder Ihr Gesicht erkennen werden. In Kombination mit verzweifelten Taktiken wie dem Verbrennen der eigenen Fingerabdrücke ist eine Rückkehr immer möglich, solange das Beziehungsnetz, das während dieser schwierigen Reisen aufgebaut wurde, aufrechterhalten wird.
Diejenigen, die sich für Agententätigkeit entschieden haben, tragen dazu bei, die Grenzen offen zu halten, auch wenn sie dies nur tun können, indem sie innerhalb der Gewalt der Grenzen bleiben und diese Gewalt oft fortsetzen; die Geschichten über die Rücksichtslosigkeit der Agenten des Punjab sind zahlreich und erschütternd.
Auf dem Weg zur Reparatur und Selbstreparatur
Wie diese kurze Darstellung der kolonialen Ökonomie, der legislativen Folgen imperialer Weltanschauungen und der Gewalt rassifizierter Grenzen zeigt, gibt es – zumindest bis jetzt – kein “Danach” des Extraktivismus. Es gibt nur das Nachspiel, das viele Menschen auf der ganzen Welt erleben, und das ist ein ganz anderer Ort. Die Klimakatastrophe ist dort, wo die Emissionen, die uns dahin geführt haben, wo wir heute sind, nicht entstanden sind, schon längst eingetroffen und führt zu einer großflächigen Vertreibung von Menschen.
Trotz der Hysterie der westlichen Massenmedien über einen “Kontrollverlust” sind die Grenzen Europas und anderer nördlicher Länder geschlossen. Die überwiegende Mehrheit der Vertriebenen bewegt sich innerhalb bestimmter Regionen. Und die Realität der Migration ist eine Intensivierung der regionalen Bewegungen und der internen Vertreibung von Menschen innerhalb der nationalen Grenzen. Dies führt zur Entstehung neuer Binnengrenzen, da Territorien und Ressourcen schrumpfen.
In Pakistan können wir bereits eine Kluft zwischen den Städten, die von den Verwüstungen durch die Flut weitgehend verschont geblieben sind, und den ländlichen Gemeinden, die alles verloren haben, beobachten. Ohne dass die nördlichen Staaten und ihre Bürger ihre Mitschuld an der Zerstörung von Welten und Leben anerkennen und ihre Schulden begleichen, gibt es für niemanden viel Hoffnung. Eine solche Anerkennung beginnt mit Reparationen, die zu Reparaturen führen können, zur Reparatur unseres zerstörten Planeten, zur Reparatur von Ökosystemen und Leben und zur Neugestaltung von Wirtschaftssystemennach gerechten Grundsätzen. Am dringendsten ist jedoch eine Selbstreparatur, die es uns ermöglicht, unsere eigene Mitschuld anzuerkennen, was auch immer sie sein mag.
Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur “After Extractivism”-Textreihe der Berliner Gazette; seine englische Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de
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Oben — Dieses Foto wurde am 5. April 2019 bei einer Versammlung von Demonstranten in der Lobby des Whitney Museum, New York, NY, aufgenommen. Diese Versammlung war die dritte in einer Reihe von Veranstaltungen, die zur Whitney Biennale 2019 führten, die organisiert wurde, um zu fordern, dass das Museum Warren Kanders wegen seiner Rolle als Eigentümer des Waffenherstellers Safariland aus dem Museumsvorstand entfernt.
Datei:Decolonize this place 040519 whitney museum full image.jpg
Erstellt: 5. April 2019
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Unten —Houseboat Row on South Roosevelt Boulevard after Hurricane Georges September 1998. From the Dale McDonald Collection. Hurricane Georges in Key West, Florida, September 1998.
Energiekrise und Klimakrise erfordern eine radikale sozial-ökologische Transformation.
Erst die Energiekrise hat den Herausforderungen der Klimakrise wirklichen Nachdruck verliehen und z.B. das Thema Energiesparen ernsthaft in den gesellschaftlichen Focus gerückt. Seit 30 Jahren wissen wir, dass wir uns in einer Klimakrise befinden, die außer Kontrolle zu geraten droht und dass wir weit über unsere natürlichen Verhältnisse leben. Das hinderte allerdings die westlichen Industrieländer nicht, ihre Klima- und naturzerstörende Wirtschafts- und Lebensweise weiter zu globalisieren. Seit 1990 haben sich der weltweite Energieverbrauch und das globale Bruttoinlandsprodukt mehr als verdreifacht und die Zahl der Autos hat sich auf etwa eine Milliarde verdoppelt. Es wurde und wird sehr viel Geld damit verdient, nicht zu sparen und weiter zu wachsen. Unsere imperiale Wirtschafts- und Lebensweise beruht auf billiger Energie, billigen Rohstoffen und billiger Mobilität,- also auf Natur- und klimazerstörender Verschwendung. Sie überschreitet längst wesentliche planetare Grenzen und gefährdet das Überleben der Menschheit. Und plötzlich herrscht nun allgemeine Weltuntergangsstimmung,- aber nicht wegen der drohenden Klimakatastrophe, sondern aus Sorge um die Konjunktur,- weil die Energieversorgung angeblich „in die Knie“ zu gehen droht, wo doch nur die Weltmarktpreise für Energie, wie vielfach prophezeit und gefordert, gestiegen sind. Nun sollen also 15 % beim Gasverbrauch, im Rahmen des EU-Energie- Notfallplans eingespart werden.
Hätten die EU und Deutschland die Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens ernst genommen, dann hätten sie längst weit mehr Energie einsparen können und müssen. Die EU hat bereits vor zwei Jahren den Klimanotstand ausgerufen, was allerdings keine Notfallmaßnahmen und Einsparungen zur Folge hatte. Dabei wären entschlossene Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe längst dringend notwendig gewesen, wie die diesjährige Hitze und Dürre, mit ihren verheerenden Rekordwaldbränden und die europaweite Wasserkrise erneut gezeigt haben. Wir sind mit unserem ökologischen Imperialismus die Mitverursacher weltweiter Verheerungen, wie z.B. der Jahrhundertflut in Pakistan, die 33 Millionen Menschen die Existenzgrundlagen raubte und sie Krankheit und Tod aussetzt, obwohl sie kaum Emissionen verursacht haben.
Alarmstufe Rot oder „The Final Countdown“
“Code Red” – „Alarmstufe Rot“, so beschreibt der Weltklimarat IPCC in seinem jüngsten, nunmehr schon sechsten Sachstandsbericht die Situation. Hier eine Passage aus der Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger:
„Etwa 3,3 bis 3,6 Milliarden Menschen leben unter besonders klimawandelanfälligen Bedingungen. Ein großer Teil aller Spezies ist anfällig für den Klimawandel und die Anfälligkeit des Menschen und von Ökosystemen sind wechselseitig verbunden. Die gegenwärtig vorangetriebenen nicht nachhaltigen Entwicklungsmuster setzen sowohl Ökosysteme als auch den Menschen zunehmend den Gefahren des Klimawandels aus.“
Der bekannte Klimawissenschaftler Mojib Latif hat in diesem Kontext 2022 ein neues Buch veröffentlicht: „COUNTDOWN. Unsere Zeit läuft ab- was wir der Klimakatastrophe noch entgegensetzen können“, das im Folgenden mit einigen markanten Aussagen zitiert werden soll.
Prof. Latif sieht die Menschheit am Abgrund und sich selbst zwischen Hoffnung und apokalyptischen Befürchtungen. „Wir scheinen die Dramatik des Klimawandels immer noch nicht zu erkennen.“
Die spekulativen Annahmen, auf denen die derzeitige hinhaltende „Klimapolitik“ beruht, werden durch zahlreiche Aussagen des Buches grundlegend in Frage gestellt. Die Abschnitte zu drohenden Kipppunkten, schwindenden CO?-Senken, zu den „schöngerechneten“ CO?-Budgets und zu den Spekulationen über „CO?-Rückholung“ im großen Stil verdeutlichen, wie willkürlich wissenschaftliche Tatsachen an wirtschaftliche Interessen angepasst werden. Es wird auch deutlich gesagt, dass Deutschland sein Restbudget an CO? bei gleichbleibenden Emissionen bereits in 10 Jahren ausgeschöpft haben wird. Eine Tatsache, die bislang bei allen klimapolitischen Debatten und Planungen einfach ignoriert wird.
Wachstumspolitik im Klimanotstand
Tatsache ist, wir befinden uns seit Jahren in einer Klima- und Wasserkrise und haben offensichtlich die atmosphärische Zirkulation grundlegend verändert, wie das absonderliche Jo-Jo-Wetter zeigt.
Wir sind ungebremst weiter in Richtung Klimakatastrophe unterwegs. Laut einer aktuellen Studie der Weltmeteorologieorganisation WMO, könnte eine Erderwärmung von 1,5 Grad bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre erreicht sein und damit eine eskalierende Klimakettenreaktion drohen.
Doch auch die neue Bundesregierung hielt es bisher, selbst angesichts austrocknender und kippender Flüsse und Seen, brennender und schwer geschädigter Wälder und massiver Ernteausfälle, nicht für notwendig den Klimanotstand auszurufen und entschlossen gegen die Klimakrise vorzugehen. Sie nahm die „Energiekrise“ sogar zum Anlass, bisherige Klimaschutzmaßnahmen zu verschieben oder gar rückgängig zu machen.
So wurde jetzt die gesetzlich vorgesehene Erhöhung des nationalen CO2-Preises von 30 auf 35 Euro je Tonne um ein Jahr auf 2024 verschoben. Eine genauso unsinnige Maßnahme, wie die Abschaffung der EEG-Umlage. Es mutet schon sehr sonderbar an, wenn eine Regierung mir grüner Beteiligung, sogar die zaghaften klimapolitischen Maßnahmen der früheren CDU-Regierung rückgängig macht und gleichzeitig den Energieverbrauch zusätzlich subventioniert (Tankrabatt), was nichts anderes als ein verdecktes Konjunkturprogramm ist und mit Klimaschutz natürlich gar nichts zu tun hat. Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck mutierte unversehens blitzschnell zum Wachstums -und Energieminister und die Grünen reihten sich ein in die Reihe der besorgten Krankenpfleger am „Siechenbett“ des Kapitalismus. Wenn dann auch noch „das Beste“, was die Koalition bisher zustande gebracht hat, wieder rückgängig gemacht wird und 49 oder gar 69 statt 9 Euro kosten soll, dann verliert diese Regierung zu Recht jede klimapolitische und soziale Glaubwürdigkeit. Ein guter Kompromiss wäre möglicherweise ein 6 Euro- Wochenticket und ein 30 Euro- Monatsticket.
Geld für einen günstigen oder gar kostenlosen ÖPNV wäre genug da, Herr Lindner, denn fossile Energie und klimazerstörender Verkehr werden nachwievor hoch subventioniert,- was nicht länger hinnehmbar ist. Jeden Tag tobt, angesichts der Klimakatastrophe der Verkehrswahnsinn auf den Straßen. Alleine die jährlichen Staus in Deutschland reichen 40 mal um den Erdball und die Emissionen und Schäden durch den Verkehrssektor sind gigantisch,- werden allerdings der Allgemeinheit und den kommenden Generationen aufgeladen. Wo bleiben die Fahr- und Flugverbote in der Energie- und Klimakrise?
Klimagerechtigkeit in der „Energiekrise“
Für die angeblich „systemrelevanten“ Strukturen war schon immer genug Geld da. Man erinnere sich nur an die Bankenrettung 2008/2009, an die Corona-„Wiederaufbau“-Pakete und an die jüngste Konjunkturspritze für die Rüstungsindustrie. In den letzten drei Jahren wurden mehr als 550 Mrd. Euro Schulden gemacht, zu großen Teilen zugunsten von Großkonzernen und von Schuldenbremse war da nicht die Rede.
Die reichsten 10 % der Haushalte in Deutschland verursachen übrigens 26 % der deutschen Treibhausgasemissionen, fast genauso viel, wie die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung. Während die Reichen unverändert eine unsittliche Energieverschwendung betreiben, SUV fahren, in 200 m²-Lofts und Villen wohnen, um die Welt jetten und die Gasumlage aus der Portokasse bezahlen, sollen also die Ärmeren den Gürtel enger schnallen und auch die Öffentlichen sollen teuer bleiben.
Es kann aber nicht sein, dass Energieverschwendung und Gewinne der Konzerne und der Reichen weiter subventioniert werden und die kleinen Leute und die kommenden Generationen die Zeche dafür zahlen sollen. Das ist nicht nur ungerecht, es ist auch rechtswidrig (siehe der Beschuss des BVG zum Klimagesetz) und zerstört die Zukunft von Milliarden Menschen. Widerstand tut not.
Es gibt ein völkerrechtlich verbrieftes Recht auf den Fortbestand des Lebens und auf ein lebenswertes Leben für Alle.
Die einzig hinreichend regulierungsfähige Macht, der Staat, befindet sich dummerweise in allen großen westlichen Ländern fest in der Hand kapitalhöriger Kräfte, die nicht die Interessen der Bürger und der Umwelt, sondern eben vor allem die Interessen des Großkapitals und der Monopole vertreten,- woran in Deutschland bisher auch die Regierungsbeteiligung der GRÜNEN nichts ändern konnte. Prof. Latif dazu:
„Die Gewinnmaximierung um jeden Preis, ob zu Lasten der Umwelt oder des Staates (also des Steuerzahlers) ist asozial. Die Übernahme von Verantwortung durch das gerechte Teilen von Vermögen und Gewinnen, gehört unbedingt zu der nötigen kulturellen Revolution…“.
Die EU und Deutschland haben sich bekanntlich zu Emissionsreduzierungen um 65 bzw. 50 % bis 2030 verpflichtet und zu Null Emissionen bis 2050 bzw. bis 2045. Selbst diese unzureichenden Ziele sind nicht allein durch Effizienzsteigerungen und den Ausbau erneuerbarer Energien zu erreichen, sondern erfordern eine sehr schnelle Verringerung des Energie- und Rohstoffverbrauchs der Ökonomien und Gesellschaften, also auch den Übergang zu einem emissionsarmen Verkehrssystem. „Energiesparen: Die neue Energiequelle“, das wusste man schon 1985. Das derzeitige symbolische Energiesparen, etwa niedrigere Raumtemperaturen und abgeschaltete Außenbeleuchtungen, ist natürlich völlig lächerlich und wird der Problemlage in keinster Weise gerecht. Die Haushalte verbrauchen nur 20 % der Energie und das auch noch sehr ungleich verteilt (siehe oben). Entscheidend sind die Wirtschaft, der Verkehr, die Globalisierung, die industrielle Landwirtschaft, die Verschwendung der Reichen, die gehypte energieverschwendende Digitalisierung, mit Streaming und Clouds,- die gesamten fehlentwickelten Strukturen.
Kohlendioxid und die Grenzen der Menschheit
Man kann nicht von einer „Energiekrise“ reden und dabei von der Klimakrise und vom Kapitalismus schweigen. Es geht nicht darum, fossile Energie anderweitig zu beschaffen und die alten Strukturen zu stabilisieren, damit es weitergehen kann mit dem Wachstum wie bisher. Es geht auch nicht darum die unrealistischen Verheißungen einer grünen Wasserstoffwirtschaft zu verkünden und Ungeduldige auf eine ungewisse Zukunft zu vertrösten, sondern es geht darum, jetzt die derzeitigen Klima- und umweltschädlichen Strukturen grundlegend umzubauen, den Irrweg einer entfesselten Globalisierung und einer energiefressenden Digitalisierung zu verlassen und die Emissionen und den Energieverbrauch sofort drastisch zu senken.
Was zurzeit an Energieeinsparungen beschlossen und vorgesehen ist, das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, der nicht weh tut und die alten Strukturen weitgehend unangetastet lässt.
Die Welt ist durch individuelles Wohlverhalten allein nicht zu retten,- es bedarf „systemischer“ Veränderungen, meint Latif. „Wir müssen die Welt komplett umbauen und das fossile Zeitalter schnellstens hinter uns lassen, wenn wir eine Überhitzung der Erde noch vermeiden wollen.“
Die sich aufschaukelnde Klimakatastrophe zeigt inzwischen überdeutlich, dass die bisherigen klimapolitischen Annahmen und Fristsetzungen wahrscheinlich sogar viel zu optimistisch sind.
Längst sind systemrelevante Strukturen der Natur gefährdet und der Mangel an Wasser erweist sich immer mehr als eigentliche Limitierung unseres Handelns, wovon auch bereits die konventionelle fossile und die atomare Energieerzeugung betroffen sind (Frankreich musste diesen Sommer die Hälfte seiner Atomreaktoren herunterfahren).
Prof. Latif verweist denn auch auf die Grenzen der Vorhersagbarkeit, der Anpassung und der Finanzierbarkeit angesichts der Klimakatastrophe und sieht unkalkulierbare Risiken. Er sieht seit Jahren keinerlei Fortschritte bei den Klimakonferenzen und fragt, was denn noch passieren muss, damit die Staatengemeinschaft endlich ernsthaft versucht, die Erderhitzung zu begrenzen? „Wir müssen in unserem Denken und Handeln viel radikaler werden….Sonst wird uns der Planet um die Ohren fliegen…“
Klimawende Jetzt-Klimagerechtigkeit Jetzt
Jetzt wäre die Gelegenheit für eine grundlegende soziale und demokratische Klimawende, die die Weichen neu stellt für viel weniger Energieverbrauch und die Kosten und Lasten gerecht verteilt.
Hierzu gehören eine energetische Grundsicherung und ein Klimabonus (der steuerliche Belastungen ausgleicht) für geringe Einkommen, Gewerbetreibende und kleine Unternehmen und eine progressiv steigende Gasumlage und Energiesteuer für Reiche und Großverbraucher und natürlich eine Übergewinnsteuer, sowie eine relevante, schnell steigende CO2- Steuer. Verschwendung und Klimazerstörung muss bestraft und Sparsamkeit belohnt werden.
Unsinnige Fehlsubventionen für fossile Strukturen müssen umgelenkt werden,- die Zukunft muss subventioniert werden, nicht die Vergangenheit.
Notwendig ist ein grundlegender struktureller Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, der mit dem weiteren Wachstum der bisherigen Strukturen nicht zu vereinbaren ist.
Viel weniger Energie- und Rohstoffverbrauch, viel weniger Verpackungen und Transporte, Abbau von Monopolstrukturen, Förderung kleinteiliger Strukturen, eine Regionalisierung der Wirtschaft, ein weitgehendes Ende des motorisierten Individualverkehrs, mehr lebensdienliche Arbeit, mehr Zeit und vor allem viel mehr Gerechtigkeit,- das ist notwendig,- also eine wirklich radikale sozial-ökologische Transformation.
Auch wenn die Wissenschaft inzwischen vom „Klima-Endspiel“ schreibt, betreibt die etablierte Politik aber unverändert eine völlig illusionäre Politik der unendlichen Akkumulation und des unendlichen (grünen) Wachstums und benutzt den Staat für ihre Zwecke.
GRÜNE, aber auch Die LINKE müssen den Vorrang der Erhaltung der Lebensgrundlagen als zentral behaupten und viel entschiedener geltend machen und dürfen die Sicherung der Zukunft nicht für die tagespolitische Machteilhabe und Klientelpolitik aufgegeben. Wer soll denn die Interessen der Armen, der kommenden Generationen, des globalen Südens und die Natur verteidigen? Es gilt ein strategisches Zukunftsbündnis zu schmieden, das eine wirkliche Klimawende im Interesse der Vielen, gegen die Macht- und Profitinteressen der bisherigen Eliten durchsetzen könnte. Die Frage der Gerechtigkeit ist natürlich auch eine Frage der Macht, denn die bisherigen Vorteilsnehmer werden ihre bisherigen großen Stücke vom Kuchen nicht freiwillig hergeben. Naives Appellieren hilft da nicht!
Die Klimabewegung muss viel stärker politisch werden und sich erheblich verbreitern, um möglichst die ganze Gesellschaft zu erreichen. Motto: Zukunft für Alle- Alle für die Zukunft! L
Apokalypseblindheit und Katastrophendemenz
Sachsens Ministerpräsident Kretschmer zeigte sich angesichts der brennenden Sächsischen Schweiz tief betroffen: „Man möchte die Augen verschließen vor diesem Anblick.“
Jedoch: die bisherige Apokalypseblindheit und Katastrophendemenz haben uns erst soweit gebracht. Kretschmer weiter: „… die Natur heilt alle Wunden!“,- was aber inzwischen längst ein frommer Wunsch sein dürfte. Es ist an uns, die Wunden der Natur zu heilen und ihr keine weiteren zufügen.
„Die Natur kann unsere Rettung sein, aber nur, wenn wir sie retten!“, sagte die Direktorin des UN-Umweltprogramms UNEP, Inger Andersen zum neuen Klimabericht des Weltklimarates IPCC.
UN-Generalsekretär António Guterres (72) erhob zur Vorstellung des 3.Teils des jüngsten Berichts des Weltklimarates IPCC schwere Vorwürfe gegen Wirtschaft und Politik. Der Bericht sei ein „Dokument der Schande, ein Katalog der leeren Versprechen, womit die Weichen klar in Richtung einer unbewohnbaren Erde gestellt werden.“, sagte der Portugiese in einer Videobotschaft (UN-Klimabericht Guterres spricht von „Dokument der Schande“ Express.de).
Guterres schlussfolgert aus dem Bericht: „Klimaaktivisten werden manchmal als gefährliche Radikale dargestellt. Aber die wirklich gefährlichen Radikalen sind diejenigen, die die Produktion von fossiler Energie weiter erhöhen.“ Und nicht drastisch reduzieren, ist hinzuzufügen.
Der IPCC warnt in seinem neuen Bericht: „Falls die globale Erwärmung über 1,5 °C hinausgeht, auch vorübergehend in Form eines Overshoots, dann werden eine Vielzahl menschlicher wie auch natürlicher Systeme zusätzlichen schwerwiegenden Risiken ausgesetzt sein. Abhängig davon, wie groß die Temperaturüberschreitung ausfällt oder wie lange sie andauert, werden manche Klimawandelfolgen eine zusätzliche Freisetzung von Treibhausgasen bewirken.
Wieder andere Folgen (für die Ökosysteme) werden unumkehrbar sein, selbst gesetzt den Fall, dass die Erwärmung später wieder verringert wird.“
Ein „weiter so“ ist also unverantwortlich und führt blindlinks in die permanente ökologische Katastrophe und zerstört die Reproduktionsfähigkeit der Lebensgrundlagen,- auch bei uns.
Wenn wir nicht endlich mit dem Schlimmsten rechnen, nämlich dem apokalyptischen Ernstfall,
– einer drohenden weitgehenden Vernichtung des Lebens auf der Erde und einer sich selbst verstärkenden Erderhitzung-, dann werden wir das Schlimmste auch nicht verhindern können.
Es gilt endlich aufzuwachen und die Augen weit zu öffnen und die weltweit dramatischen Entwicklungen ernst und wahr zu nehmen. Wir müssen JETZT den Übergang von unserer zerstörerischen fossil-mobilen Wirtschafts- und Lebensweise des „immer mehr“ zu einer Natur- und klimaverträglichen Reproduktionsweise schaffen, die die Erhaltung und den Fortbestand des Lebens in den Mittelpunkt stellt.
Urheberrecht
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File:Orroral Valley Fire viewed from Tuggeranong January 2020.jpg
Erstellt: 28. Januar 2020
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Unten — Houseboat Row on South Roosevelt Boulevard after Hurricane Georges September 1998. From the Dale McDonald Collection. Hurricane Georges in Key West, Florida, September 1998.
Klimaschutz ist nur möglich, wenn Kapitalismus und Wachstum enden. Millionen Menschen werden sich beruflich umorientieren müssen.
Der Nachwuchs verzweifelt an den älteren Generationen. Die Klimakrise gefährdet die Zukunft, doch unablässig entstehen neue Treibhausgase. „Was macht unsere Eltern nur so ratlos?“ fragt sich etwa Klimaaktivistin Luisa Neubauer. Genauso wenig kann sie begreifen, warum die langjährige deutsche Kanzlerin weitgehend untätig blieb. „Merkel ist Physikerin. Müsste sie da nicht verstehen, was es bedeutet, wenn Klimagraphen in die Höhe rasen?“
Die jungen Klimaschützer vermuten, dass allein das nötige Geld fehlt, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Populär ist der Spruch: „Wenn die Erde eine Bank wäre, hättet ihr sie längst gerettet.“ Die Klimakatastrophe wird also betrachtet, als wäre sie eine normale Krise wie etwa ein Finanzcrash. Sie ist zwar existenziell, aber angeblich schnell zu beheben – wenn nur die nötigen Milliarden fließen.
Leider ist es nicht so einfach. Der Klimaschutz scheitert nicht, weil die Politik korrupt wäre oder nicht genug Geld bewilligen möchte. Der Wille, den Planeten zu retten, ist vorhanden. So bilanziert Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erschüttert: „Niemand würde sein Eigenheim so sehr heizen, dass es mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent in dreißig Jahren abbrennen würde. Genau das tun wir derzeit aber mit dem Eigenheim Erde.“
Die Menschheit fackelt ihr Zuhause ab, weil Klimaschutz nur möglich ist, wenn wir den Kapitalismus abschaffen. Anders als Kapitalismuskritiker glauben, ist dies keine frohe Botschaft. Der Kapitalismus war außerordentlich segensreich. Mit ihm entstand das erste Sozialsystem in der Geschichte, das Wohlstand erzeugt hat. Vorher gab es kein nennenswertes Wachstum. Die Menschen betrieben eine eher kümmerliche Landwirtschaft, litten oft unter Hungerkatastrophen und starben im Durchschnitt mit 35 Jahren.
Der Kapitalismus war ein Fortschritt, hat aber leider eine fundamentale Schwäche: Er benötigt dieses Wachstum, um stabil zu sein. In einer endlichen Welt kann man aber nicht unendlich wachsen. Momentan tun die Westeuropäer so, als könnten sie drei Planeten verbrauchen. Bekanntlich gibt es aber nur die eine Erde.
Systemwandel statt Klimawandel
Bisher setzen die Regierungen darauf, dass sie Wirtschaft und Klimaschutz irgendwie versöhnen könnten. Die große Hoffnung ist, dass sich die gesamte Wirtschaft auf Ökostrom umstellen ließe – ob Verkehr, Industrie oder Heizung. „Grünes Wachstum“ ist jedoch eine Illusion, denn der Ökostrom wird nicht reichen. Diese Aussage mag zunächst überraschen, schließlich schickt die Sonne 5.000-mal mehr Energie zur Erde, als die acht Milliarden Menschen benötigen würden, wenn sie alle den Lebensstandard der Europäer genießen könnten.
An physikalischer Energie fehlt es also nicht, aber die Sonnenenergie muss erst einmal eingefangen werden. Solarpaneele und Windräder liefern jedoch nur Strom, wenn die Sonne scheint und der Wind weht. Um für Flauten und Dunkelheit vorzusorgen, muss Energie gespeichert werden – entweder in Batterien oder als grüner Wasserstoff. Dieser Zwischenschritt ist so aufwendig, dass Ökostrom knapp und teuer bleiben wird. Wenn die grüne Energie reichen soll, bleibt nur „Grünes Schrumpfen“.
Es ist kein neuer Gedanke, dass permanentes Wachstum keine Zukunft hat. Viele Klimaaktivisten sind längst überzeugt, dass die Natur nur überleben kann, wenn der Kapitalismus endet. Also haben sie den eingängigen Slogan geprägt: „system change, not climate change“. Auch an Visionen mangelt es nicht, wie eine ökologische Kreislaufwirtschaft aussehen könnte, in der nur noch so viel verbraucht wird, wie sich recyceln lässt. Stichworte sind unter anderem Tauschwirtschaft, Gemeinwohlökonomie, Konsumverzicht, Arbeitszeitverkürzung oder bedingungsloses Grundeinkommen.
Wie sich klimaneutral leben ließe, hat die wachstumskritische Degrowth-Bewegung liebevoll beschrieben: Man würde nur noch regionale und saisonale Produkte nutzen, könnte Freunde treffen, notwendige Reparaturen selbst vornehmen und Kleider nähen. Die meisten Gebrauchsgegenstände würde man mit den Nachbarn teilen, zum Beispiel Rasenmäher, Bohrmaschinen, Spielzeuge oder Bücher.
Kein Zurück in die Steinzeit
Diese klimaneutrale Konsumwelt klingt vielleicht romantisch und nach alten Zeiten, aber eine Rückkehr in die Vormoderne ist nicht gemeint. Auch die Degrowth-Bewegung schätzt die Maschinen, die der Kapitalismus entwickelt hat und die das Leben so bequem machen. Waschmaschinen, Computer und Internet sollen bleiben. Niemand muss fürchten, dass wir „wieder in der Steinzeit landen“ und „in Höhlen wohnen“, wenn der Kapitalismus endet.
Dies zeigt bereits eine kleine Rechnung: Würden wir auf die Hälfte unserer Wirtschaftsleistung verzichten, wären wir immer noch so reich wie 1978. Auch damals ließ es sich gut leben. Es war das Jahr, als Argentinien Fußballweltmeister wurde und der erste Teil von „Star Wars“ in den Kinos lief. Es gab zwar keine „Flugmangos“ aus Peru, aber wir waren so zufrieden wie heute.
Es fehlt die Brücke aus der dynamischen Gegenwart in eine statische Zukunft
Eine ökologische Kreislaufwirtschaft wäre also möglich. Doch wird diese Vision meist mit dem Weg verwechselt. Das Ziel soll zugleich der Übergang sein. Nur selten wird gefragt, wie man eigentlich aus einem wachsenden Kapitalismus aussteigen soll, ohne eine schwere Wirtschaftskrise zu erzeugen und Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Es fehlt die Brücke aus der dynamischen Gegenwart in eine statische Zukunft.
Viele Klimaaktivisten spüren, dass der Abschied vom Kapitalismus schwierig wird. Greta Thunberg wurde kürzlich von einem Anhänger gefragt, wie denn das künftige System aussehen soll. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie. „Es wurde bisher noch nicht erfunden.“ Um sich dieses „grüne Schrumpfen“ vorzustellen, hilft es, vom Ende her zu denken. Wenn Ökostrom knapp bleibt, sind Flugreisen und private Autos nicht mehr möglich, weil sie zu viel Energie verbrauchen.
Banken wären überflüssig
Banken werden ebenfalls weitgehend obsolet, denn Kredite lassen sich nur zurückzahlen, wenn die Wirtschaft wächst. In einer klimaneutralen Wirtschaft würde niemand hungern – aber Millionen von Arbeitnehmern müssten sich umorientieren. Investmentbanker oder Flugbegleiter wären überflüssig, dafür würden aber sehr viel mehr Arbeitskräfte in der ökologischen Landwirtschaft und auch in den Wäldern benötigt, um die Folgen der Klimakrise zu lindern.
Studien zeigen einen Verdacht – Experten bezweifeln ihn. Die WHO ist bei der Forschung zu radioaktiver Strahlung nicht frei.
Im Kernkraftwerk Leibstadt kam es im August 2010 zu einem Unfall. Bei der jährlichen Revision der Anlage arbeitete ein Taucher in den Wasserbecken des Kraftwerks. Am Boden des Beckens lag ein Metallrohr. Er hob es auf und legte es in einen Korb.
Als seine Kollegen den Korb hochzogen und dieser noch rund zwei Meter unter der Wasseroberfläche gewesen sei, ging der Strahlenalarm los. «Hätte man den Korb ganz aus dem Wasser gezogen, hätten alle im Raum eine tödliche Dosis erhalten», sagte der Taucher später gegenüber dem «Gesundheitstipp». Der Taucher wurde bei dem Unfall verstrahlt. Seine rechte Hand habe eine Strahlendosis erhalten, die ungefähr 150’000 Röntgenaufnahmen der Brust entsprochen habe, erklärte er.
Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) stufte das Vorkommnis als Störfall ein. In die Umgebung ist laut dem Leiter Information des Kernkraftwerks Leibstadt damals keine Radioaktivität gelangt: «Mit dem Ereignis von 2010 war keine zusätzliche Strahlenexposition der lokalen Bevölkerung verbunden. Die in der Umgebung gemessene Strahlung (zu über 99 Prozent natürliche Strahlung) blieb in der ganzen Zeitperiode unverändert und ist tiefer als an vielen anderen Orten der Schweiz.»
Umso mehr verwundert eine Studie des deutschen Mathematikers Hagen Scherb. Sie zeigt nach 2010 eine deutliche Veränderung des Geschlechterverhältnisses von Knaben- zu Mädchengeburten in der Gegend um das Atomkraftwerk Leibstadt. Als Grund vermutet Scherb ionisierende Strahlung.
Ab 2011 gab es mehr neugeborene Knaben
Im Allgemeinen werden 104 bis 106 Knaben pro 100 Mädchen geboren. Dieses Verhältnis ist weltweit recht stabil, und das war auch in der Umgebung von Leibstadt so. Von 2002 bis 2010 betrug das Geschlechterverhältnis von neugeborenen Knaben zu Mädchen in fünf Schweizer Gemeinden im Umkreis von fünf Kilometern um Leibstadt fast 1:1.
Doch das änderte sich nach 2010, wie Scherbs Studie zeigte. «Von 2011 bis 2019 stieg das Geschlechterverhältnis auf über 140 Knaben pro 100 Mädchen. Das ist eine sehr beunruhigende, biologische Veränderung, die genau untersucht werden muss», findet Claudio Knüsli. Knüsli ist Vorstandsmitglied der Schweizer «ÄrztInnen für soziale Verantwortung und zur Verhütung eines Atomkrieges» (PSR/IPPNW) und war bis zu seiner Rente als Internist und Krebsspezialist tätig.
Er hält die plötzliche Veränderung für «brisant». Vermutlich komme es bei weiblichen Föten infolge ionisierender Strahlung eher zu Frühaborten. Ähnliche, aber schwächere Veränderungen beim Verhältnis von neugeborenen Knaben und Mädchen seien beispielsweise nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki in Japan sowie nach dem Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl auch in Russland und Europa beobachtet worden, nicht aber in den USA. «Seit dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 ‹fehlen› der Schweiz etwa 3’200 neugeborene Mädchen», sagt Knüsli.
«Für den behaupteten Zusammenhang fehlt jegliche Grundlage»
Wie ein Zwischenfall mit einem Taucher mit dem Geschlechterverhältnis bei den Neugeborenen zusammenhängen soll, kann Knüsli nicht erklären. Man wisse nicht genau, was im Rahmen der monatelangen Revision im Sommer und Herbst 2010 in dem AKW Leibstadt passiert sei, sagt er. Es sei bekannt, dass im Rahmen von Revisionen häufig etwas mehr Radioaktivität freigesetzt würde als im durchschnittlichen Jahresverlauf. Offiziell wurde der Störfall als seltenes INES-2-Ereignis eingestuft.
Knüsli verweist auf ein Gutachten, in dem die Hypothese aufgestellt wird, dass sich durch Neutronenstrahlung kurzzeitig radioaktives Argon in der Luft bilden kann, das bei leichtem Wind etwa 40 Kilometer weit verbreitet werden kann. Einer der Autoren dieses Gutachtens ist wiederum Studienautor Hagen Scherb.
Das ENSI weist Vermutungen, dass 2010 mehr passiert sein könnte als «nur» ein Strahlenunfall mit einem Taucher, zurück. «Abgesehen von der Pflicht, so ein Vorkommnis ans ENSI zu melden, messen die Kernkraftwerkbetreiber die Fortluftemissionen kontinuierlich. Alle zehn Minuten werden die Abgaben radioaktiver Stoffe in der Fortluft zusammen mit anderen Anlageparametern auf einen Server des ENSI übermittelt. Dazu kommt, dass das ENSI das sogenannte MADUK-Netz zur Messung der Dosisleistungen um die schweizerischen Kernkraftwerke und das Paul-Scherrer-Institut betreibt. Die Möglichkeit, dass ein Kernkraftwerk eine Abgabe von Radioaktivität in die Umgebung nicht an das ENSI meldet, erachten wir also als ziemlich unwahrscheinlich», sagt der ENSI-Pressesprecher Thomas Thöni. Er hält diese Studie zum veränderten Geschlechterverhältnis in der Umgebung von Leibstadt deshalb für «irreführend».
Ähnlich antwortete der Leiter Information des AKW Leibstadt: Es fehle «jegliche Grundlage für den behaupteten Zusammenhang.» Der damals betroffene Arbeiter antwortet auf Anfrage nicht.
Natürliche Hintergrundstrahlung nicht berücksichtigt
Mehrere von Infosperber angefragte Fachleute (darunter auch solche, die der Atomkraft skeptisch gegenüberstehen) gehen ebenfalls davon aus, dass es heutzutage bemerkt würde, wenn bei einer Revision an einem Atomkraftwerk Radioaktivität austreten würde. Einer bezweifelt, dass es einen Zusammenhang zwischen schwacher radioaktiver Strahlung und dem Geschlechterverhältnis bei den Geburten gebe, möchte sich aber nicht namentlich äussern und verweist an die deutsche «Strahlenschutzkommission» – die jedoch gemäss ihrer Satzung nicht «auf Anfragen Dritter» eingehen kann, wie sie schreibt.
Martin Röösli, Professor für Umweltepidemiologie an der Universität Basel, kritisiert die Studie. Sie sei in einer fachfremden Zeitschrift veröffentlicht worden, damit sei fraglich, ob die Gutachter sie überhaupt fundiert beurteilen konnten. Ausserdem, wendet er ein, seien in der Studie nicht alle Gemeinden im Umkreis von fünf Kilometern ums AKW untersucht worden. Und die natürliche Hintergrundstrahlung, die deutlich mehr ausmache als die ionisierende Strahlung, die vom AKW Leibstadt ausgehe, sei ebenfalls nicht berücksichtigt worden. Das Resultat, so Röösli, sei vermutlich eher zufällig entstanden. Tatsächlich kommt es in Studien immer wieder vor, dass sich scheinbare Zusammenhänge zeigen, die allein dem Zufall geschuldet sind.
Als Nicht-Beamter die Resultate öffentlich gemacht
Studienautor Hagen Scherb sieht das anders. Er habe alle Schweizer Gemeinden berücksichtigt, da Ortsteile statistisch miterfasst wurden. Der Effekt sei auch auf der (in der Studie nicht berücksichtigten) deutschen Seite erkennbar, aber nicht so stark ausgeprägt wie in der Schweiz. Und für epidemiologische Fragen zu medizinischen Merkmalen sei das «Journal of Womens Health Care and Management» «durchaus einschlägig». Scherb arbeitete bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2018 am Helmholtz Zentrum in München. Jahrzehntelang war der promovierte Mathematiker dort für die statistische Beratung und Auswertung bei tierexperimentellen und umweltepidemiologischen Studien zuständig.
Zehn Jahre nach dem Unfall im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl musste sich Scherb berufsbedingt erstmals mit dem Thema Radioaktivität auseinandersetzen, als zwei andere Münchner Wissenschaftler von einer «signifikanten Zunahme» der Säuglingssterblichkeit in Deutschland nach dem Tschernobyl-Unglück berichteten. Diese Übersterblichkeit bei den Säuglingen veränderte sich parallel zur Konzentration an radioaktivem Cäsium in der Milch und lag in der Grössenordnung der natürlichen Hintergrundstrahlung. Seither beschäftigt sich Scherb mit den möglichen Folgen ionisierender Niedrigstrahlung. Da er – im Gegensatz zu vielen ehemaligen Kollegen – nicht verbeamtet gewesen sei, habe er seine Resultate veröffentlichen können, sagt Scherb.
Diverse Studien zum Geschlechterverhältnis
Etliche Studien hätten bereits Hinweise dafür geliefert, dass es einen Zusammenhang zwischen schwacher radioaktiver Strahlung und dem Geschlechterverhältnis bei Geburten gebe. Davon stammen mehrere von Scherb und seinen Kolleginnen und Kollegen.
Nach der Inbetriebnahme eines Forschungsreaktors im deutschen Mainz im Jahr 1992 sank im Jahr darauf im Umkreis von weniger als zehn Kilometern die Zahl der Knabengeburten um etwa vier Prozent, diejenige der Mädchengeburten um circa sechs Prozent. Der Rückgang bei den Mädchengeburten war mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht nur dem Zufall geschuldet, ergab die statistische Berechnung.
In Europa gab es nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl im Jahr 1986 eine Trendumkehr zugunsten von Knabengeburten: Aufs Mal stieg das Verhältnis von Knaben- zu Mädchengeburten in verschiedenen Ländern, darunter Deutschland, während es in den Jahren vorher gesunken war. Am stärksten war dieser sprunghafte Anstieg in der damaligen Sowjetunion. In den USA dagegen fand Scherb keine solche Veränderung nach 1986. Selbst die sehr kleine Dosis von 1,02 Millisievert pro Jahr könne das Geschlechterverhältnis beeinflussen, schätzten Scherb und seine Koautorin.
Im Umkreis von 35 Kilometern um französische Nuklearanlagen fand Scherbs Team, dass sich das Geschlechterverhältnis bei Neugeborenen ebenfalls zugunsten der Knaben verschob. Demnach «fehlten» in diesen Gegenden statistisch schätzungsweise zwischen 1’499 und 9’982 Mädchengeburten. Insgesamt sind laut Wikipedia in Frankreich seit 1956 mehr als 70 Nuklearanlagen in Betrieb gegangen, an 18 Standorten sind aktuell Reaktoren in Betrieb oder in Revision. Scherbs Team wertete die Bevölkerungsdaten in der Umgebung von 28 Standorten (darunter auch Forschungsreaktoren, Beschleuniger und militärische Anlagen) aus. An einem Standort war eine Atommülldeponie, in der ab Anfang 1992 radioaktive Abfälle gelagert wurden. Doch erst ab dem Jahr 2000 fand Scherbs Team dort eine Veränderung des Geschlechterverhältnisses. Die Wissenschaftler warfen die Frage auf, ob womöglich Ende der 1990er-Jahre dort neutronen-emittierende Stoffe gelagert wurden.
Männliche Angestellte der Nuklearanlage im englischen Sellafield hatten mehr männliche Nachkommen als Männer aus derselben Gegend, die nicht dort arbeiteten. Dies galt besonders, wenn die Väter in den 90 Tagen vor der Zeugung des Kindes über zehn Millisievert Strahlung abbekommen hatten. Dass die Sellafield-Arbeiter mehr Söhne bekamen, könnte zum Teil daran gelegen haben, dass sie im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung etwas jünger waren, heisst es in der Studie. Andere Studien, beispielsweise mit Ärzten, die bei der Arbeit Röntgenstrahlung ausgesetzt waren, zeigten teils keine Veränderungen im Geschlechterverhältnis der Nachkommen, teils fanden sie welche oder es gab sogar mehr Mädchen- als Knabengeburten.
In Italien kam es etwa um 1970 und 1987 zu mehr Knabengeburten. Hagen Scherb und ein Kollege vermuten als Grund dafür den radioaktiven Fallout nach Atombombenversuchen in den 1960er-Jahren und später den Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl im Jahr 1986.
In Dänemark «fehlten» laut Berechnungen Scherbs in den Jahren nach dem Unglück in Tschernobyl circa 500 Knaben- und 1’800 Mädchengeburten. Dies könnte allerdings auch mit anderen Faktoren zusammengehangen haben, beispielsweise mit der Furcht, in dieser Zeit ein Kind zu zeugen, schreibt Scherb selbstkritisch und rät, den Befund vorsichtig zu werten.
In Kuba kam es ab 1987 zu einem fast 15 Jahre dauernden Rückgang an Mädchengeburten. Scherb und seine Koautoren vermuten, dass dies mit radioaktiv belasteter Milch und anderen Lebensmitteln zusammenhing, die Kuba in grossen Mengen aus der früheren Sowjetunion importierte. Andere Vermutungen (Folgen der US-Sanktionen und wirtschaftlicher Niedergang oder geschlechtsspezifische Abtreibungen) halten sie für weniger wahrscheinlich.
Im japanischen Fukushima und angrenzenden, stärker verstrahlten Präfekturen, verzeichneten die Wissenschaftler1 nach dem Tsunami ab Januar 2012 eine Zunahme der Frühsterblichkeit von Kindern um relativ sieben Prozent, verglichen mit der Zeit davor (absolut gab es einen Anstieg auf circa 0,0141 Prozent). Andere Statistiker berichteten von einer fast elf Prozent höheren Sterblichkeit von Babys in den ersten Lebenswoche. Es kam dort aber bisher nicht zu einer erkennbaren Veränderung beim Geschlechterverhältnis bei den Geburten.
Für Scherb sind diese Indizien ein Zeichen, dass schwache ionisierende Strahlung gesundheitliche Folgen hat und oft die Geburtenrate von Mädchen- und Knaben zu ungunsten der Mädchen beeinflusse.
Schwerer Vorwurf: Zusammenhänge konstruiert
Andere Wissenschaftler dagegen halten einen «Effekt von ionisierender Strahlung auf der Geschlechterverhältnis für nicht hinreichend belegt». Sie verweisen darauf, dass die Effekte, die Scherb findet, mal näher und mal weiter von der Strahlenquelle am stärksten ausgeprägt sind. Oder dass nicht bekannt ist, wie gross die Strahlendosen überhaupt waren. Oder dass Scherb andere Faktoren, die das Geschlechterverhältnis bei den Babys beeinflussen könnten, unbeachtet liess. Dazu zählen unter anderem hormonelle Faktoren, Armut oder in manchen Ländern auch geschlechtsspezifische Abtreibungen.
Zu den bekanntesten Kritikern von Scherb gehört der deutsche Statistiker und Buchautor Walter Krämer. Er warf Scherb und seiner Mitautorin vor, wichtige Punkte, etwa den Einfluss von Röntgenuntersuchungen und medizinischen Bestrahlungen, ausser Acht gelassen zu haben. Der wohl schwerwiegendste Vorwurf: Scherb habe Zusammenhänge konstruiert.
Krämer erhob Scherbs Analyse zu den «verlorenen Mädchen von Gorleben», dem deutschen nuklearen Zwischenlager, im Juni 2012 gar zur unrühmlichen «Unstatistik des Monats».
«Insgesamt macht es für mich einfach keinen Sinn», sagt der Umweltepidemiologe Martin Röösli. «Falls ionisierende Strahlen wirklich das Geschlechterverhältnis bei Neugeborenen beeinflussen würden, dann müsste man zum Beispiel deutliche Variationen bei Geburten in Bergdörfern oder bei Flugbegleiterinnen sehen, weil Personen in der Höhe mehr ionisierenden Strahlen ausgesetzt sind.»
Die Untersuchung des Landesgesundheitsamts bestätigte den Befund
Scherb kontert, dass Geburten in Bergdörfern eben nie untersucht worden seien. Das Niedersächsische Landesgesundheitsamt habe aber die Befunde zum veränderten Geschlechterverhältnis in der Nähe des nuklearen Zwischenlagers im deutschen Gorleben bestätigt. Das legte er auch in einer Replik auf Krämers «Unstatistik» dar.
Tatsächlich heisst es im besagten Untersuchungsbericht des Niedersächsichen Landesgesundheitsamts: Seit 1996 – also dem Jahr nach der Inbetriebnahme des Atommülllagers – liege «mit hoher statistischer Sicherheit ein verändertes sekundäres Geschlechterverhältnis um das Transportbehälterlager Gorleben vor, jedoch ist eine Diskussion um mögliche Ursachen rein spekulativ.»
Zudem verweist Scherb darauf, dass nach dem Unfall in Tschernobyl mancherorts mehr Kinder mit Trisomie 21 geboren wurden. «Europaweit sind das schätzungsweise einige Zehntausend zusätzliche Menschen mit Trisomie 21», sagt er. In Berlin beispielsweise kam es neun Monate nach dem Unglück in der Ukraine damals zu zwölf anstelle der sonst durchschnittlichen zwei Geburten von Kindern mit Trisomie 21 – allerdings gibt es auch Studien aus anderen Gegenden, in denen es zu keiner Häufung von Trisomie kam. Auch hier muss der Einfluss verschiedener Faktoren berücksichtigt werden.
Säuglingssterblichkeit in der Schweiz stieg plötzlich an
Es sei unmöglich, solche Effekte im Einzelfall zweifelsfrei auf die ionisierende Strahlung oder den Fallout zurückzuführen, sagt Claudio Knüsli. «Aber es gibt inzwischen genügend Hinweise, dass auch eine ionisierende Niedrigstrahlung ein erhöhtes gesundheitliches Risiko darstellt.» Unerklärt geblieben sei zum Beispiel auch, weshalb die Säuglingssterblichkeit in der Schweiz nach 1986, also nach dem Unfall in Tschernobyl, sprunghaft um 16 Prozent angestiegen sei.
Knüsli hegt keinen Zweifel an Hagen Scherbs Befunden. Dennoch wünschte er sich, dass auch andere Forschende das Thema genauer untersuchen würden, «damit es nicht immer so aussieht, als ob nur ein einziges Forschungsteam etwas findet.»
Ab einer Strahlendosis von 100 Millisievert (mSV), bezogen auf das ganze Leben, wird allgemein von einer hohen Dosis ionisierender Strahlung gesprochen. «Die offizielle Version ist, dass unterhalb dieser Dosis keine Strahlenschäden nachgewiesen werden können. Doch diese Grenze ist willkürlich gewählt», sagt Claudio Knüsli.
Forschungsprojekte bei der WHO nur mit dem OK der Atomenergie Agentur
Die Vereinigung «ÄrztInnen für soziale Verantwortung und zur Verhütung eines Atomkrieges» (PSR/IPPNW) betont, dass es bei der ionisierenden Strahlung keine sichere Grenze gebe, unterhalb der keine Schäden zu befürchten seien. Zuletzt tat sie das vergangene Woche in einem Artikel in der «Schweizerischen Ärztezeitung», den der frühere Politiker und Arzt Franco Cavalli mitverfasst hat. «Wir setzen uns seit vier Jahren dafür ein, dass die willkürlich festgelegte Grenze von 100 mSv fallen gelassen wird. Aber es gibt offenbar eine grosse Lobby dagegen», sagt Knüsli.
Angesichts der widersprüchlichen Aussagen hätte mehr Forschung helfen können, um die offenen Fragen zu klären. Doch nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sei diese erst «unkoordiniert» und Jahre später «noch immer inadäquat» gewesen, beschrieb ein Editorialist die Forschung zu den gesundheitlichen Folgen des Reaktorunfalls später im «British Medical Journal». Im Jahr 1990 habe Japan der WHO 20 Millionen Dollar gegeben, damit diese die gesundheitlichen Folgen des Unfalls von Tschernobyl untersuche. «Aber die Ausgaben wurden von einem Beamten kontrolliert, ein grosser Teil der Gelder wurde unangemessen ausgegeben, und es entstand wenig Wertvolles.» Die offensichtliche Führungsrolle bei dieser Forschung käme der Weltgesundheitsorganisation WHO zu, hielt der Editorialist fest.
Doch der WHO seien die Hände gebunden, wenn es um die Erforschung von Strahlenschäden gehe, sagt Knüsli. «Durch einen Vertrag von 1959 ist die Forschung der WHO zu Strahlenkrankheiten massiv behindert, weil sie nur im Einverständnis und unter Kontrolle der Internationalen Atomenergie Agentur IAEA erfolgen darf.»
Kleine Strahlendosen und Krebs bei Kindern
Verschiedene Studien haben gezeigt, dass auch kleine Strahlendosen mit mehr Krankheitsfällen einhergehen können. Eine Schweizer Studie beispielsweise ergab, dass Kinder, die in einer Umgebung mit ionisierender Strahlung von mindestens 200 Nanosievert pro Stunde (= 0,0002 Millisievert/Stunde) leben, statistisch häufiger an Krebs erkranken, als Kinder, die an Orten mit einer Belastung von weniger als 100 Nanosievert pro Stunde leben.
In der Umgebung von Schweizer Atomkraftwerken fanden die Wissenschaftler jedoch kaum Hinweise, dass Kinder dort vermehrt an Krebs erkranken – sie konnten dies aber auch nicht sicher ausschliessen, da die Aussagekraft der Studie aufgrund geringer Fallzahlen begrenzt war. Knüsli und Scherb hatten im Vorfeld auf dieses, aus ihrer Sicht vorhersehbare Problem hingewiesen. In Deutschland kam eine Studie im Auftrag des deutschen Bundesamts für Strahlenschutz zum Schluss, dass das Risiko für 0- bis 4-jährige Kinder an Leukämie zu erkranken zunehme, je näher sie an einem Kernkraftwerkstandort wohnen.
«Es zeigte sich im Nahbereich um deutsche Kernkraftwerke bei Kindern unter 5 Jahren ein signifikant erhöhtes Risiko an Krebs zu erkranken. Dieser Befund beruhte im Wesentlichen auf dem Erkrankungsrisiko für Leukämien, wobei hier das Erkrankungsrisiko in etwa verdoppelt war. In Zahlen bedeutet dies, dass im 5-Kilometer-Umkreis um alle Standorte von Kernkraftwerken in Deutschland im Mittel nicht, wie zu erwarten wäre, etwa 1 Kind pro Jahr erkrankt, sondern dass die Krankheit jedes Jahr bei etwa 2 Kindern diagnostiziert wird», schreibt das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz auf seiner Website.
Aus den Ergebnissen liessen sich jedoch keine Rückschlüsse ziehen, ob die von den Kernkraftwerken ausgehende Radioaktivität der Grund dafür sei. «Nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand ist die resultierende Strahlenbelastung der Bevölkerung allein zu niedrig, um den beobachteten Anstieg des Krebsrisikos zu erklären. […] Es gibt somit derzeit keine plausible Erklärung für den festgestellten Effekt, der über die 24 Jahre Untersuchungszeitraum ein insgesamt konsistentes Bild mit kleinen Schwankungen zeigt», schreibt das Bundesamt für Strahlenschutz.
Auch die Schweizer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, welche die Studie zu Atomkraftwerken und Krebs bei Kindern durchführten, wiesen darauf hin, dass Kernkraftwerke im Durchschnitt sehr wenig zur jährlichen Strahlenbelastung der in der Nähe wohnenden Bevölkerung beitragen würden. Die Hauptquellen der ionisierenden Strahlung seien natürliche Strahlenquellen (beispielsweise radon-haltige Luft) und medizinische Untersuchungen.
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1 Einer von Scherbs Ko-Autoren bei dieser Studie war der japanische Kinderarzt Keiji Hayashi. Hayashi gab 2009 den Anstoss, dass unabhängige Wissenschaftler die Wirksamkeit des Grippemittels Tamiflu analysierten. Das Resultat: Die zuvor proklamierte Wirkung von Tamiflu hielt der Überprüfung nicht stand.
Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.
Oben — Luftaufnahme: Kühltürme des Kraftwerks Goldenberg, Hürth-Knapsack; links Betonkühlturm (in den 1980ern zum Parkhaus umfunktioniert), dahinter noch 4 (einer davon verdeckt) der alten Kühltürme I–VI, unten Zuckerhutbunker
Angesichts der menschengemachten Klimakatastrophe ist es höchste Zeit, die vor allem im Globalen Norden vorherrschende Subjektivität zu hinterfragen: das verbreitete, in der kolonialen Ära geprägte Ideal, unsere Freiheit und persönliche Erfüllung gerade in der Abkopplung von der Umwelt und der Verantwortung für das menschliche Miteinander zu suchen, wie Jaron Rowan in seinem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” argumentiert.
“We are partly constituted by a flow of activity with the world around us. We are partly constituted by the world around us. Which is just to say that, in an important sense, we are not separate from the world, we are of it, part of it.” (Alva Noë)
Im Jahr 1570 veröffentlichte der brabantische Kartograf, Geograf und Kosmograf Abraham Ortelius das “Theatrum Orbis Terrarum”, das als der “erste moderne Atlas” gilt. Dieses aus 53 Karten bestehende Werk enthielt viele der von europäischen Entdeckern “entdeckten” neuen Länder und begründete ein ganz bestimmtes Weltbild, das bis heute Bestand hat.
Der Name dieses epistemischen Artefakts ist nicht unschuldig: Theatrum Orbis Terrarum bedeutet “das Theater der Welt”. Die Welt wurde als Theater, als Bühne betrachtet, auf der der Mensch sich bewegen, die natürliche Umwelt erobern, gestalten und ausbeuten konnte. Dies war eine sehr klare Vorstellung, die sich durchsetzte. Die ganze Welt diente als offene Bühne für die Siege und Tragödien derer, die sich als “Menschheit” verstanden. Und wie Walter Mignolo in “The Darker Side of Western Modernity” (2011) dargelegt hat: “Theatrum ist die Übersetzung des griechischen Wortes theatron (Ort der Betrachtung), das zur selben Familie gehört wie theoria (Betrachtung, Spekulation, Anschauen)”.
Kurzum, dieser erste Weltatlas vermittelte eine privilegierte Sicht auf die Welt und verbreitete gleichzeitig die Vorstellung, dass die Erde einigen privilegierten Subjekten zu Füßen lag, um sie zu betreten, zu erforschen und auszubeuten.
Politik der Karten
Karten sind mehr als nur Repräsentationsmittel. Sie sind performative Objekte, die zur Produktion und Gestaltung des Gebiets, das sie abbilden, beitragen. Sie bilden die Welt nicht ab, sondern gründen sie mit, indem sie zeigen, welche Region zu wem gehört, welche Teile der Welt “bekannt” sind und welche Teile “entdeckt” werden müssen. Sie erzeugen Zentren und Peripherien. In diesem Sinne sind Karten eng mit imperialen und kolonialen Unternehmungen und Idealen verwoben. Sie materialisieren und realisieren Handelsrouten und Extraktionsprotokolle. Sie verwandeln Weltanschauungen in “neutrale” Instrumente. Karten tragen dazu bei, bestimmte Bilder von der Welt festzulegen, zu kodifizieren und zu materialisieren. Und letztlich verstärken sie die Vorstellung, dass diese Bühne, die Welt, besetzt, erobert und gezähmt werden sollte, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, oder genauer gesagt, die Bedürfnisse einer ganz bestimmten Gruppe von Menschen.
Die Entwicklung der Kartografie als Disziplin passte perfekt zu der neuen Sichtweise auf die Welt als unerschlossene Quelle des Reichtums. Ein Werkzeug, das zeigte, was denjenigen gehörte, die der Meinung waren, dass die Welt ihnen gehörte, und was es zu erobern gab, z. B. wie man neue Reserven an Waren, Arbeit und Gold erschließen konnte. In diesem Sinne trugen einige dieser Karten zur Etablierung eines extraktivistischen Weltbildes bei. Der Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta hat klargestellt, dass “der Extraktivismus ein Akkumulationsmodell ist, das vor etwa 500 Jahren seinen Anfang nahm. Mit der Eroberung und Kolonisierung Amerikas, Afrikas und Asiens wurde ein Weltwirtschaftssystem entwickelt: der Kapitalismus”.
In dieser neuen Produktionsweise “wurden bestimmte Regionen dem Abbau und der Produktion von Rohstoffen, also Primärgütern, unterworfen, während andere sich auf die Produktion spezialisierten” (Ramón Grosfoguel). Bestimmte Regionen der Erde wurden geplündert und ausgebeutet im Namen des wirtschaftlichen Fortschritts und Wohlstands anderer. Einige Gebiete der Erde wurden als “rohe Natur” betrachtet, die man sich aneignen und in Reichtum verwandeln konnte. Andere, weit entfernte Gebiete, profitierten von diesen brandneuen Wohlstandsquellen. In einem undefinierten Spiel wurde die Natur, d. h. die Ressourcen, gegen Kultur eingetauscht, was auch immer das heißen mag.
Plötzlich war die ganze Welt da und wartete darauf, “entdeckt” und genutzt zu werden. Diese Vorstellung von der Realität ergänzte und passte zu dem, was die Archäologin Almudena Hernando als “Fantasie der Individualität” bezeichnete, d. h. zu der Vorstellung, dass die Menschen unabhängig voneinander sind und sich ihr Recht auf Individualität erkämpfen müssen, anstatt Mitglieder komplexer Ökosysteme, Clans und Gemeinschaften zu sein. Diese Vorstellung entkoppelt den Menschen von dem Kontext, in dem er lebt, um den Eindruck zu erwecken, dass die Welt ein glatter Raum ist, der immer zur Verfügung steht, um seine Bedürfnisse zu decken. Die Welt ist die Kulisse, in der sich der Mensch individuell und unabhängig von anderen entfalten kann. Ein Theater, in dem einige wenige darauf abzielen, die Hauptbühne zu besetzen, während andere Wesen sich in den Hintergrund zurückziehen müssen.
Koloniale Perspektive auf die Welt
Diese Verflechtung von Weltanschauungen, epistemischen Artefakten, Diskursen und Praktiken trug dazu bei, eine koloniale Perspektive auf die Welt zu formen, die nach Arturo Escobar durch das “Primat des Menschen über den Nicht-Menschen (Trennung von Natur und Kultur); das Primat einiger Wesen über andere (die koloniale Kluft zwischen ihnen und uns)” definiert ist; die Idee des autonomen Individuums, das von seiner Gemeinschaft getrennt ist; der Glaube an objektives Wissen, Vernunft und Wissenschaft als einzige Möglichkeiten, die Realität zu verstehen, und die soziale Konstruktion der “Wirtschaft” als unabhängige soziale Praxis und des Marktes als selbstregulierende, von den sozialen Beziehungen losgelöste Einheit” (Arturo Escobar). Eine Sichtweise, die von vielen angefochten wurde, aber bis heute anhält und nur schwer zu ändern ist.
Diese Idee des unabhängigen Subjekts, das sich in einer freien Welt bewegt, die immer für seine Bedürfnisse da ist, ist, wie die feministische Ökonomin Amaia Pérez Orozco dargelegt hat, eindeutig geschlechtsspezifisch. Wie Orozco in “Subversión feminista de la economía” erklärt, kann das nur funktionieren, “wenn man seine verschiedenen Abhängigkeiten und die Subjekte, die sie gelöst haben, versteckt”. Das kosmopolitische unabhängige und freie menschliche Subjekt hält diese Fiktion der Autonomie aufrecht, indem es vermeidet, die Schulden, die Ressourcen und die Menschen, mit denen es verstrickt ist, anzuerkennen: Die unsichtbar gemachte Care-Arbeit und die natürlichen Ressourcen, die geplündert werden, um die Fiktion der Individualität aufrechtzuerhalten. Das autonome und selbstverantwortliche Subjekt ist ein Trittbrettfahrer, der gerne über die Landkarte navigiert, als ob das Land immer da wäre, um seine Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen.
Dies hat zur Herausbildung einer sehr spezifischen Subjektivität geführt, die in unserem Alltag präsent zu sein scheint. Wir können sie als extraktivistische Subjektivität bezeichnen, d. h. als ein Subjekt, das sich für selbständig hält und soziale Kontexte und natürliche Umgebungen zu seinem eigenen Vorteil ausbeutet, wobei es die dichten Netze der gegenseitigen Abhängigkeit und Fürsorge ausblendet.
Doch beim Theater geht es um mehr als nur das Rampenlicht. So wie es hinter den Kulissen eines Theaters Infrastrukturen und Beziehungen gibt, die unsichtbar zu dem Spektakel beitragen, das sich auf der Bühne abspielt, so liegen auch hinter den Subjekten, die ihr individuelles und wahres Selbst darstellen, die meist unerkannten komplexen Ökosysteme, auf die sie angewiesen sind: Netze der Fürsorge, die darauf abzielen, zerbrechliches und verletzliches Leben aufrechtzuerhalten; Tiere, Pflanzen, Gas, Öl und Wasser, deren Stimmen zum Schweigen gebracht wurden; ein kompliziertes Muster von voneinander abhängigen Einheiten, die vom autonomen, unabhängigen und auf sich selbst angewiesenen Subjekt überschattet werden. In diesem Sinne verbirgt die Karte das Territorium und die spezifischen Formen der Gewinnung, die komplexe Ökologien und voneinander abhängige Formen des Seins überschatten und zerstören.
Muster der Verflechtung
Im Jahr 1979 schlug Gregory Bateson vor, das “Muster, das verbindet” zu finden, um das seiner Ansicht nach bestehende epistemische Problem zu lösen: die epistemologische Verbindung zwischen dem natürlichen und dem kulturellen Bereich, die dabei hilft zu erkennen, wie ein System in einem anderen System lebt und Teil eines anderen Systems ist. Bateson, der dafür bekannt ist, in Begriffen wie Beziehungen, Verbindungen, Mustern und Kontext zu denken, hielt es für einen erkenntnistheoretischen Fehler zu glauben, dass biologische Wesen außerhalb ihrer Umwelt verstanden werden können. Stattdessen helfen ökologische Nischen bei der Erklärung biologischer Merkmale: Es gibt ein Muster, das das biologische Subjekt mit der Umwelt verbindet, in der es lebt. Es verbindet auch das Individuum mit der sozialen Gruppe, der es angehört. Und es verbindet Gesellschaften mit den Regeln, Vorschriften, Codes und Infrastrukturen, die sie aufbauen, um ihr Leben zu erhalten. Und darüber hinaus das Leben der Subjekte mit den Territorien, die sie produzieren.
Die Vorstellung, dass ein Subjekt jenseits oder frei von dem Kontext ist, in dem es lebt, ist einfach ein epistemischer Fehler. Es gibt immer ein Muster, das hilft zu zeigen, wie Systeme eingebettet sind und andere Systeme formen. Es gibt Regeln der Bestimmung und Verursachung, die sich über alle Ebenen des Seins erstrecken. Dass kein Subjekt außerhalb eines Systems von Systemen verstanden werden oder existieren kann. Diese können biologisch, sozial, technisch oder politisch sein. In diesem Sinne ermutigt uns Bateson, nach dem “Muster zu suchen, das die Orchidee mit der Primel und den Delphin mit dem Wal und alle vier mit mir verbindet.” Das bedeutet, die Linien zu erforschen, die größere strukturelle Trends mit individuellen Verhaltensmustern, individuelle Wünsche mit kollektiven Mythen und Überzeugungen, organische und wirtschaftliche Systeme, genetische mit epigenetischen Phänomenen, Formen der Gerechtigkeit mit Formen des Begehrens und der Erwartungen, Mikro- mit Makrosystemen verbinden. Kurz gesagt, Wesen sind immer in andere Systeme eingebettet. Die Fantasie der Individualität ist genau das: eine bloße Fantasie, wenn nicht gar ein reiner epistemischer Irrtum.
Nur wenn wir es vermeiden, diese verbindenden Muster zu erkennen, können wir glauben, dass das Subjekt über der Landkarte schwebt und nicht eng mit dem Territorium verwoben ist. Die extraktivistische Subjektivität wird die Idee aufrechterhalten, dass die Welt (sozial, biologisch, mineralisch usw.) dazu da ist, ihren Bedürfnissen zu dienen. Das extraktivistische Subjekt behandelt die Welt als eine Ansammlung von Ressourcen und erwartet, dass andere Subjekte Formen der Versorgung, Ideen oder Energie bereitstellen, ohne den Gemeinschaften, die es ausbeutet, etwas zurückzugeben; es erwartet, dass sich die natürliche Welt entsprechend seinen Bedürfnissen und Erwartungen verhält; es plündert und verwüstet Umgebungen und Gemeinschaften und setzt extaktivistische Praktiken fort, indem es Gesellschaften und Umgebungen plündert, individuelle Prioritäten über kollektive Bedürfnisse stellt und Wohlstand über das stellt, was als “el buen vivir” bezeichnet wurde.
Psychische, soziale und umweltbezogene Ökologie
Um diese Tendenz zu überwinden, schlug der Psychoanalytiker, politische Philosoph und Aktivist Felix Guattari vor, über die Idee einer einzigen Ökologie hinauszugehen und in Begriffen eines dreifachen ökologischen Systems zu denken. Er schlug einen Begriff von Ökologie vor, der eine mentale Ökologie (Subjektivität, Kultur, Sensibilität, Wünsche usw.), eine soziale Ökologie (soziale Beziehungen, Formen der Ungleichheit, Institutionen usw.) und eine ökologische Ökologie (Wasser, Luft, Land, nicht-menschliche Wesen usw.) umfasst.
Guattari ist der Ansicht, dass diese drei Systeme ineinander eingebettet sind und sich ständig gegenseitig formen und mitdefinieren. Sie können nicht als getrennte Einheiten betrachtet werden. Die Umwelt formt soziale Strömungen und Tendenzen, die mentale oder subjektive Positionen definieren. Subjektivitäten können soziale Konstruktionen aufrechterhalten oder in Frage stellen, die die Art und Weise, wie man in dieser Welt lebt, aufrechterhalten oder verändern können. Strukturelle Formen der Ungleichheit prägen das Leben der einzelnen Menschen, die ihrerseits diese Verhaltensweisen subjektivieren und naturalisieren, wodurch sie letztlich aufrechterhalten werden. Genau diese Verhaltensweisen und Subjektivitäten formen die Umwelt und schaffen Produktionsweisen und materielle Infrastrukturen, die wiederum diese Ideen in die Zukunft projizieren. Die Natur steht also nicht außerhalb der Produktionsweisen, die sie ausbeuten sollen. Diese Produktionsweisen hängen von Subjektivitäten und sozialen Wünschen ab. Diese werden durch materielle Bedingungen und geistige Ideale geprägt. Die drei Ökologien formen und definieren sich gegenseitig.
Guattari lädt uns ein, die Landkarte aufzugeben und mit Diagrammen zu arbeiten. Statt starrer Kartographien denkt er in prozessualen Diagrammen, die neu angeordnet werden können. Diagramme, die zeigen, wie sich verschiedene Ebenen der Ökologie überschneiden und gegenseitig formen. Diagramme, in denen Fluchtlinien eingeführt und imaginiert werden können und in denen sich neue Subjektivitäten verwirklichen lassen. So verstanden sind Diagramme epistemische Artefakte, die radikale Formen der Vorstellungskraft und innovative Überschneidungen und Formen der Einbettung ermöglichen. Auf diese Weise helfen Diagramme zu erklären, dass kein individuelles Handeln außerhalb von tieferen sozialen Regeln, Vorstellungen, Infrastrukturen oder Institutionen betrachtet werden kann; dass keine natürliche Umgebung betrachtet werden kann, ohne die Ideen und Produktionsweisen zu verstehen, die sie formen.
Nicht zuletzt erlauben uns solche Diagramme zu verstehen, dass die Idee der Unabhängigkeit eine Fiktion ist und dass die neoliberale Idee eines sich selbst überlassenen Subjekts ein Mythos ist, der extraktivistische und egoistische Subjektivitäten aufrechterhält. Hier hört die Welt auf, eine Bühne zu sein und ein Theater für einige wenige privilegierte Subjekte, die eine Show genießen. Stattdessen wird die Welt zu einem dichten System von Systemen, in das der Mensch tief eingebettet ist. So helfen uns die fraglichen Diagramme letztlich, unsere Wünsche und Bedürfnisse neu zu definieren und das Muster zu visualisieren, das uns alle verbindet. Menschen und Nicht-Menschen. Lebewesen und Umwelt. Materie und Bedeutung.
Dieser Text ist ein Beitrag zur “After Extractivism”-Textreihe der Berliner Gazette; seine englische Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de
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Unten — Die Entwaldung bedroht viele Arten Baumfrösche, die sehr empfindlich gegenüber Umweltveränderungen sind. Der Gelbgebänderte Baumsteiger ist abgebildet.
Die koloniale Hinterlassenschaft wirkt nach. In Kenia, wo die Flaggen auf halbmast hängen, hat sie nicht nur das Gesicht des brutalen Kolonialkrieges.
Elizabeth II. wurde 1952 in Kenia Königin. Als ihr Vater George VI. starb, befand sie sich gerade auf Weltreise mit ihrem Ehemann und übernachtete in Treetops, einer Lodge im kenianischen Aberdare-Nationalpark. Die Schlafsuite war in einen alten Feigenbaum hineingebaut, mit Blick über ein Wasserloch. Nach ihrem Dinner traf Elizabeth am Abend dort auf einen Elefanten. In der Nacht starb im fernen London ihr Vater, aber das erfuhr sie erst am nächsten Tag in der königlichen Sagana Royal Lodge.
Die ehemaligen Kolonien haben mit dem Empire nicht gebrochen. Sie haben sein Erbe verinnerlicht !
Auf den Stufen vom State House in Nairobi wurde dann die Proklamation von Queen Elizabeth II. verlesen. Ein Jäger, der Elizabeth in Treetops bewachte, schrieb später ins Gästebuch: „Zum ersten Mal in der Weltgeschichte ist ein junges Mädchen an einem Tag als Prinzessin in einen Baum gestiegen und am nächsten Tag als Königin vom Baum geklettert.“
Wenige Monate später riefen dieselben britischen Kolonialbehörden in Kenia den Ausnahmezustand aus, um die Mau-Mau-Rebellion zu vernichten – die bewaffnete Unabhängigkeitsbewegung des Kikuyu-Volkes, die sich in Reaktion auf die Landnahme durch weiße Siedler im kenianischen Hochland gebildet hatte. Ganze Landstriche wurden zu Sperrzonen erklärt. Zehntausende Menschen wurden getötet, Hunderttausende in Lagern interniert.
Der Staatsterror war vergeblich, wie alle europäischen Kriege gegen afrikanische Unabhängigkeitsbewegungen. Die Rebellion wurde zerschlagen, aber die Legitimation der Kolonialherrschaft war dahin. 1963 wurde Kenia unabhängig, unter Kikuyu-Führer Jomo Kenyatta. Die Spuren der Queen in Kenia sind auch Spuren des Krieges.
Mulmig nach dem Tod der Queen
Im Jahr 1953 plünderten Rebellen die Sagana Royal Lodge. Treetops wurde 1954 von Mau-Mau-Kämpfern in Brand gesteckt. Für Elizabeths Sicherheit in Sagana war der britische Polizeioffizier Ian Henderson zuständig: Er persönlich spürte am 21. Oktober 1956 den Anführer der Mau-Mau-Rebellion, Dedan Kimathi, auf, schoss ihn an und verhaftete ihn. Kimathi wurde 1957 gehenkt. Henderson wurde befördert.
Von 1966 bis 1998 leitete er den Inlandsgeheimdienst von Bahrain – eine typische postkoloniale Karriere: Nicht nur in Großbritannien, auch in anderen Kolonialmächten haben alte Amtsträger mit Blut an den Händen und mit Orden überhäuft den neuen Staaten gedient. Henderson erhielt 1984 von der Queen den Orden des Britischen Empire. Kimathis Grab in Kenia wurde erst 2019 entdeckt – auf einem Gefängnisgelände. Überlebende des Mau-Mau-Krieges streiten bis heute für Anerkennung und Entschädigung.
Und so manche Kenianer haben ein mulmiges Gefühl bei der weltweiten Huldigung für die Queen, die zwar zu militärischen Angelegenheiten überhaupt nichts zu sagen hatte, aber das dafür verantwortliche System repräsentierte. Großbritannien war mit seinem Wüten in Kenia keineswegs allein. Zur gleichen Zeit überzog Frankreich seine Algerien-Kolonie mit noch viel blutigerem Terror, Hunderttausende starben. Eine kleinere Version davon wiederholte Frankreich in Kamerun.
Auch das ist Nairobi – heute noch !
Belgien setzte beim Abzug aus Ruanda ab 1959 und Kongo 1960 blutige Konflikte in Gang, die bis heute andauern. Der Kampf zwischen weißem Herrschaftsanspruch und schwarzem Freiheitsanspruch zerriss ganz Afrika. Ab den 1960er Jahren kamen die Freiheitskriege in den ehemaligen portugiesischen Kolonien Angola, Mosambik und Guinea-Bissau dazu, ab den 1970er Jahren in Rhodesien (heute Simbabwe), und der Umgang mit der weißen Apartheidherrschaft in Südafrika überschattete die Beziehungen zwischen Afrika und dem Rest der Welt.
Kein Bruch mit dem Empire
Wer sich wundert, warum viele afrikanische Länder heute noch Sympathien für Moskau hegen und warum viele Afrikaner westliche Diskurse über universelle Freiheitswerte als verlogene Heuchelei abtun, muss nur einen Blick in die Geschichtsbücher werfen und auf Ereignisse, die viele Menschen in Afrika nicht aus Büchern, sondern aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern kennen, besonders in den ehemaligen Siedlerkolonien: Algerien, Simbabwe, Namibia und eben Kenia, mit dem Sonderfall Südafrika.
Aber die ehemaligen Kolonien haben mit dem Empire nicht gebrochen. Sie haben es im besten dialektischen Sinne „aufgehoben“, sein Erbe verinnerlicht und für ihre eigene Neuerfindung angenommen. Das englischsprachige Afrika bewegt sich mit großer Selbstverständlichkeit im englischsprachigen Kulturraum, der längst ein globaler ist.
„Aber ein Gebrauchswert, der nicht das Produkt der Arbeit, kann keinen Wert haben, d.h., er kann nicht als Vergegenständlichung eines gewissen Quantums sozialer Arbeit, als sozialer Ausdruck eines gewissen Quantums Arbeit ausgesprochen werden. Er ist es nicht. Damit der Gebrauchswert als Tauschwert sich darstelle – Ware sei –, muss er das Produkt konkreter Arbeit sein. Nur unter dieser Voraussetzung kann diese konkrete Arbeit ihrerseits wieder dargestellt werden als gesellschaftliche Arbeit, Wert.“ (K. Marx, Theorien über den Mehrwert III, in: MEW 26.3, S. 509)
„In demselben Maße wie die Arbeitszeit – das bloße Quantum Arbeit – durch das Kapital als einzig bestimmendes Element gesetzt wird, in demselben Maße verschwindet die unmittelbare Arbeit und ihre Quantität als das bestimmende Prinzip der Produktion – der Schöpfung von Gebrauchswerten – und wird sowohl quantitativ zu einer geringen Proportion herabgesetzt, wie qualitativ als ein zwar unentbehrliches, aber subalternes Moment gegen die allgemeine wissenschaftliche Arbeit, technologische Anwendung der Naturwissenschaften nach der einen Seite, wie gegen die aus der gesellschaftlichen Gliederung in der Gesamtproduktion hervorgehende allgemeine Produktivkraft – die als Naturgabe der gesellschaftlichen Arbeit (obgleich historisches Produkt) erscheint. Das Kapital arbeitet so an seiner eignen Auflösung als die Produktion beherrschende Form.“ (K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW 42, S. 587f.)
„Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muss aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert (das Maß) des Gebrauchswerts.“ (K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42, S. 601)
1.
Was ist der Wert? Ganz generell kann man sagen: die Tauschfähigkeit der Ware, oder, wenn man so will, das spezifische Gewicht der Ware im Austausch, dasjenige also, was in letzter Konsequenz die Tauschraten der Waren bestimmt.
In einer Gesellschaft, die auf der Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln nicht nur arbeitsteilig, sondern auch privat produziert, kann logischerweise die Verteilung der Produkte nur über den Austausch erfolgen – und dieser macht jene zu Waren. Mit anderen Worten: Der Austausch setzt das Privateigentum an den Produktionsmitteln als seine Basis voraus. Ohne dieses Privateigentum gibt es keinen Austausch und daher auch keinen Warenwert. Das leuchtet unmittelbar ein: Wenn das, was die Bedingung einer Sache ist, allen gehört oder, was auf dasselbe hinausläuft, diese Sache frei verfügbar ist wie die Luft, braucht man nicht zu tauschen und kann man auch gar nicht tauschen (oder eben nur so tun, als ob man austauschen würde). Und dann gibt es keine Waren und auch keinen Wert.
Privateigentum allein genügt aber noch nicht, damit eine Sache zur „Wert-Sache“ wird. Diese Katze, diese Muscheln, die ich am Strand gesammelt habe, dieser Talisman mögen mir gehören, für andere sind diese Objekte indessen völlig belanglos. Jede Ware muss nicht nur über einen spezifischen Gebrauchswert verfügen (was evident ist), sondern auch über einen „Gebrauchswert für andere“, und zugleich muss sie ein Nicht-Gebrauchswert für denjenigen sein, der austauscht oder, was dasselbe ist, diese Ware veräußert. Wenn nicht, würde man offenbar nicht austauschen können, und es gäbe weder Waren noch gäbe es Wert. Gebrauchswerte aber (Objekte, die einen spezifischen Bedarf decken können) entstehen (historisch gesprochen) in den allermeisten Fällen nicht von allein, sie sind eben nicht so wie Beeren am Wegrand, die man nur zu pflücken braucht, um sie konsumieren zu können.
Der Gebrauchswert, der in den Austausch eingeht (d.h. in ein gesellschaftliches Austauschsystem), ist vielmehr Funktion der Arbeit, d.h. der aktiven Manipulation von Objekten im weitesten Sinn (wozu die Produktionsinstrumente auf der einen und die Arbeitsmaterialien, Rohstoffe und Halbfertigprodukte, auf der anderen Seite zählen) im Hinblick auf die Deckung eines bestimmten (gesellschaftlichen) Bedarfs. Um überhaupt austauschen zu können, muss zuvor in irgendeiner Weise Gebrauchswert (in der Form von Produktionsmitteln) in einen neuen Gebrauchswert (sei dieser nun wieder ein Mittel zur Produktion oder ein Konsumtionsgegenstand) transformiert worden sein (was den Transport durchaus miteinschließt), es bedarf des Arbeitsprozesses in seinen diversen Ausprägungen, oder, wie Marx es genannt hat, der konkreten Arbeit.
Austauschbar aber (im Sinne gesellschaftlicher oder funktioneller Austauschbarkeit) sind Dinge nur dann, wenn sie sich in bestimmter Weise als gleich und somit als vergleichbar erweisen. Denn sonst liefe der Austausch (der Stellungswechsel der „Waren“) auf eine gesellschaftlich sinn- und gehaltlose Übung hinaus.
Hier sind zwei Aspekte zu beachten:
1. Da diese Dinge im Austausch offenbar spontan gleichgesetzt werden, so müssen sie in irgendeiner Hinsicht qualitativ gleich oder „gleichwertig“ sein, d.h. über eine gemeinsame Substanz verfügen, und diese kann nur in dem Umstand bestehen, dass sie an der gesamtgesellschaftlichen Arbeitszeit partizipieren, mit anderen Worten: einen aliquoten Teil dieser Gesamtarbeitszeit absorbieren – dessen, was der Gesellschaft „Mühe kostet“. Denn niemand (zumindest in einem Warensystem) wäre so blöd, sich in einem Arbeitsprozess abzumühen und dabei Lebenssubstanz einzubüßen, um dann für diese Anstrengung und diese Verausgabung von Arbeitskraft eine Sache zu bekommen, die nichts „gekostet“ hat. Und eben das, die Partizipation an der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit, macht die Wertqualität der Waren aus, d.h. verleiht ihnen die prinzipielle Fähigkeit zum Austausch – fügt ihnen einen „gesellschaftlichen Gebrauchswert“ hinzu, wie Marx das genannt hat. Denn was nicht an dieser Gesamtarbeitszeit partizipiert, so wie etwa die Luft (die ja auch ein Gebrauchswert und zwar ein sehr nützlicher ist), wird nie und nimmer ausgetauscht werden können – wenn diese Operation gesellschaftlichen Sinn haben soll. Man versuche es mit einem Haustier, mit einer Muschel vom Strand oder mit einem belanglosen Ding, das für den, der es trägt, Glück bringen soll – alles Dinge, die eben keinen „gesellschaftlichen Gebrauchswert“ besitzen.
2. Aber nicht nur bestimmt die abstrakte Arbeit, die Verausgabung von Arbeitskraft als solche, die Arbeitszeit mithin, die prinzipielle Tauschfähigkeit der Waren, sondern sie determiniert auch die Raten, zu denen sie ausgetauscht werden. Die gesellschaftlich zu ihrer Produktion notwendige Arbeitszeit bestimmt die Tauschrelationen der Waren, denn wenn (der Tendenz nach) in Relation zur und auf der Grundlage der (gesellschaftlich notwendigen) Arbeitszeit ausgetauscht wird, wird sich die (gegebene) Warengesamtheit, werden die Warenquanta, die, so wollen wir annehmen, in der adäquaten Proportion hergestellt worden sind, sich gemäß der Bedarfsstruktur verteilen (die selbst wieder in letzter Konsequenz dieser Proportion zugrunde liegt), oder anders gesagt: wird die Distribution in Einklang mit dieser Struktur organisiert und geregelt werden, wenngleich hinter dem Rücken der Akteure und in einem fortwährenden Prozess der Oszillation zwischen Deviation und Adaption (vgl. E. Nyikos, Das Kapital als Prozess, Peter Lang (2010), S. 86ff.).
Es sei hier nur nebenbei bemerkt, dass diese Bedarfsstruktur selbst (das relative Verhältnis der nachgefragten Warenkategorien) sich als völlig irrational herausstellen kann – zu diesen Kategorien mögen auch Werbespots, Drohnen oder sonstige im Prinzip überflüssige Gebrauchswerte zählen –, was der Angemessenheit der Distribution gemäß der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, die in den jeweiligen Waren „dargestellt“ ist, keinerlei Abbruch tut – eine Angemessenheit freilich, die sich, wie gesagt, immer nur post festum bewährt.
Es kann hier nicht näher auf weitere Aspekte der Werttheorie eingegangen werden, da dies in die Details und daher zu weit führen würde. Nur so viel: Der Wert einer Ware wird sichtbar, manifestiert sich in einem bestimmten Quantum des Gebrauchswerts einer anderen Ware, und dieses Quantum ist der Tauschwert der Ware (in dem sich das konkrete Tauschverhältnis ausdrückt), der, in der Geldware, dem allgemeinen Äquivalent, ausgedrückt, zum Preis der Ware wird. In dieser Konstellation wirkt dann der Warenwert gewissermaßen als Attraktor der Preise.
2.
Das Kapitalsystem ist ein zutiefst historisches Gesellschaftssystem, es durchläuft mithin im Laufe der Zeit verschiedene Phasen, die sich eine aus der anderen zwanglos und notwendigerweise ergeben. Es unterliegt sozusagen einer strukturellen Genese. Die Triebfeder dieser Metamorphosen ist dabei der gesellschaftliche Zwang zur Profitmaximierung, der auf die Kapitalentitäten ausgeübt wird und der sich aus dem Konkurrenzcharakter des Systems, also daraus ergibt, dass diese Kapitalentitäten sich als Rivalen (innerhalb einer Branche und zwischen den Branchen) hinsichtlich des Mehrwerts gegenüberstehen, der in der Gesellschaft produziert worden ist.
Diejenige Methode nun, die an vorderster Front diese Profitmaximierung zu realisieren erlaubt, ist die Produktion eines Extramehrwerts durch den Einsatz jeweils produktiverer (effektiverer) Verfahren (von Maschinerie usw.), die, wenn sie in den Sektoren der Lohngüter angewandt werden (wodurch der Wert der gesellschaftlichen Arbeitskraft infolge der Wertminderung der notwendigen Lebensmittel herabgesetzt wird), in der Produktion des relativen Mehrwerts resultieren.
Daraus ergeben sich im zeitlichen Ablauf folgende Modifikationen struktureller Natur:
1. die Differenzierung der Sektoren im Hinblick auf das Gewicht des konstanten Kapitals und damit die Tendenz zur Ausbildung einer uniformen Profitrate mit dem Korollarium der Verwandlung der direkten Preise in Produktionspreise (die dennoch in letzter Konsequenz an den Warenwert gebunden sind);
2. die Konzentration und Zentralisation des Kapitals, die zur Monopolisierung und daher zu Monopolpreisen führt (die sich noch weiter von den Werten entfernen, aber auch in diesem Fall letztendlich an sie gebunden sind);
3. die Automation der Produktion, die nur eine direkte Fortsetzung des beständigen Anhebens des gesellschaftlichen Niveaus der Produktivkräfte infolge technologischer Innovationen ist und sich der Aneignung der Wissenschaft durch das Kapital (weitgehend auf der Basis von Monopolprofiten) schuldet (im speziellen der Kybernetik und der Informationstheorie).
3.
Die Computerisierung und Robotisierung der Produktion, die die letzte Phase des Kapitalsystems eingeleitet haben, machen die Arbeit (verstanden als Produktionstätigkeit im Rahmen des Stoffwechsels mit der Natur) der Tendenz nach überflüssig. Was nun aber würde geschehen, wenn dieser Prozess irgendwann einen hypothetischen Endpunkt erreichte? Was, wenn die gesamte Produktion automatisiert werden würde? Wenn, mit anderen Worten, die Arbeitsprozesse aus der Produktion einmal völlig eliminiert worden sind? Dann lässt sich zeigen (vgl. ebenda, S. 473ff.), dass der Wert jeder Ware sich auf Null reduziert (und natürlich muss das dann auch, wie gleichfalls gezeigt werden kann, für den Wert der Produktionsmittel gelten). Man könnte auch sagen: Die totale Automatisierung der Produktion (die die Selbstreproduktion der Automaten impliziert, die, wie John von Neumann schon vor langer Zeit theoretisch nachweisen konnte, im Prinzip kein Problem ist) führt zur Gebrauchswertproduktion ohne Arbeitsprozesse. Und wo diese fehlen, da gibt es auch keinen Wert, ist die abstrakte Arbeit, die Arbeitszeit, doch, wie wir sahen, dessen Substanz. Der Wert verschwindet ganz einfach aus dem System.
Dieser (absolute) Bedeutungsverlust ist jedoch nur der Höhepunkt eines Prozesses, der schon früh eingesetzt hat und der sich in letzter Konsequenz dem zunehmenden Gewicht des konstanten Kapitals (der „toten Arbeit“) im Laufe des historischen Akkumulationsprozesses schuldet: So ist der Produktionspreis Konsequenz der relativen Bedeutung der Masse des konstanten Kapitals, der Monopolpreis Konsequenz der absoluten Bedeutung der Masse des konstanten Kapitals und der fiktive Preis, derjenige Preis, der in der Luft hängt, weil völlig losgelöst vom Wert (den es ja dann gar nicht mehr gibt), Konsequenz des konstanten Kapitals in seiner Form als fixes Kapital, das keiner Arbeit mehr bedarf, weil die Prozesse automatisch ablaufen können – des konstanten Kapitals mithin, das allein überlebt und in das sich das Gesamtkapital, nachdem das variable Kapital glücklich entsorgt worden ist, komplett und restlos aufgelöst hat – wenn man dann überhaupt noch von „Kapital“ im eigentlichen Sinn sprechen kann, das ja definitionsgemäß ein Produktionsverhältnis: „der sich selbst verwertende Wert“ ist.
4.
Verschwindet der Wert aus dem System, so beruht der produzierte Gebrauchswert exklusiv auf der vergangenen Arbeit in ihrer konkreten Dimension – auf der Arbeit der Toten mithin. Das aber heißt, dass, da die Toten tot sind, die Gebrauchswerte denselben Status besitzen wie das, was gar nicht produziert worden ist. Im Prinzip bedeutet dies: Die Gebrauchswerte sind da, so wie die Luft.
Rekapitulieren wir: Geht man davon aus, dass die Substanz des Werts die abstrakte Arbeit, also die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist, dass, weiter, die Wertstruktur nur die Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit auf die diversen Warenkategorien reflektiert, d.h. diese Verteilung die relative Tauschfähigkeit der Waren begründet – also die Werte derselben in ihrer quantitativen Dimension –, dann folgt aus der (perspektivischen) Vollautomatisierung der Produktion, die natürlicherweise die Elimination der Arbeit aus dem Produktionsprozess impliziert, dass die Waren ihre Tauschfähigkeit verlieren oder, wenn man so will, gar nicht mehr ausgetauscht werden müssten. Denn was die Fähigkeit verliert, verliert auch die Notwendigkeit: Wenn ein Organismus die Fähigkeit zum Stoffwechsel einbüßt, also tot ist, dann muss er auch nicht mehr Nahrung assimilieren und exkrementieren, obwohl man ihm durchaus noch künstlich Nahrung zuführen könnte. Oder, um eine andere Analogie zu bemühen: Wer die Fähigkeit, Steuern zu zahlen, verliert (weil er bankrott ist), muss keine Steuern mehr zahlen, obwohl er die Steuererklärung nach wie vor ausfüllen kann. Damit fällt aber auch die Grundlage des Warensystems, die private Produktion auf der Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln und damit auch das Privateigentum an den Produktionsmitteln selbst dem Verdikt der Obsoletheit anheim. Denn wenn die Gebrauchswerte da sind so wie die Luft, dann macht es gar keinen Sinn, ja dann ist es in hohem Grade widersinnig, dass privat „produziert“ und damit ausgetauscht wird – was durch das Verschwinden des Werts, der Tauschfähigkeit, sinnfällig wird.
5.
All dies heißt aber nicht, dass das (kapitalistische) Warensystem, seiner Wertgrundlage beraubt, notwendig zusammenbrechen müsste – etwa in einer apokalyptischen Krise. Denn es ist ein Preissystem denkbar – wie etwa von V. K. Dmitriev oder S. J. Pack gezeigt worden ist –, das, auf der Basis der Vollautomatisierung der Produktion (und dem Eigentumsmonopol an den Produktionsmitteln), durchaus eine positive Profitrate zulässt, die überhaupt die mathematische Bedingung eines solchen Preissystems ist. Die Gebrauchswerte verschwinden ja nicht und auch nicht das Surplus (in Gebrauchswertausdrücken), das freilich dann mit dem Nettoprodukt in eins fallen wird. Ein solches (post-modernes) System (die Endphase des Kapitalsystems) muss in keine Krise schlittern (was Turbulenzen und Dysfunktionalitäten, so wie bisher, beileibe nicht ausschließt), es ist nur völlig fiktiv, sinnentleert, grotesk, absurd, kläglich, eine leere Hülle, die jedweder Notwendigkeit entbehrt und reif ist, auf den Abfallhaufen der Geschichte geworfen zu werden.
Post scriptum: Der Umstand, dass das System des Kapitals nicht „zusammenbrechen“ muss, wenn es sich selbst seine Wert-Grundlage entzieht, impliziert, dass der fortschreitende geistige Verfall der bürgerlichen Gesellschaft, der jetzt schon sehr schön am Corona-Wahn ablesbar ist, bis zur Vollendung fortschreiten kann. Diese „Verwilderung des Denkens“ ist freilich nicht zufällig, sondern sie ist direkte Konsequenz der Funktionsweise des Kapitalsystems selbst, insbesondere der obstinaten Fixierung auf die Gegenwart, die in der „Post-Moderne“ endemisch, ja virulent geworden ist. Diese Fixierung ist das Gift, das dabei ist, der Kritik und der Logik den Garaus zu machen. Diesbezüglich sollte man keinen Illusionen erliegen.
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Die Schweiz will das Endlager für Atommüll an der Grenze zu Deutschland im Gebiet Nördlich Lägern, wenige Kilometer südlich der deutschen Gemeinde Hohentengen bauen. Das teilte der Sprecher der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra), Patrick Studer, am 10.9.2022 mit. Die Veröffentlichung erfolgte zeitlich fast parallel zum Erdbeben mit Stärke 4,7 in der französisch-Schweizer Grenzregion. Die jetzige Standortauswahl, für den besten aller schlechten Standorte eines atomaren Endlagers in der Schweiz spricht für eine gewisse Verzweiflung der AKW-Betreiber und der NAGRA und verheißt nichts Gutes. Atommüll, der eine Million Jahre sicher verwahrt werden muss, braucht eine gute Geologie und nicht gute Worthülsen. Die Geologie (und sie alleine zählt!) spricht gegen den Standort Nördlich Lägern
Die Opalinustonschichten im Gebiet Nördlich Lägern sind im internationalen Vergleich sehr dünn, auch wenn die NAGRA gerne die darüber und darunter liegenden tonhaltigen Schichten dazurechnet.
Am wichtigsten aber: „Der Standort Nördlich Lägern liegt über einem Permo-Karbon-Trog, dessen Bedeutung bisher nicht sauber abgeklärt wurde. Findet man tatsächlich Erdgas in diesem Trog, dürften die Tage eines Endlagers in diesen Gebieten gezählt sein“, sagt der unabhängige Experte Marcos Buser.
Hier braucht es weitere, unabhängige Untersuchungen und eine intensive wissenschaftliche Analyse.
Für den Standort gibt es allerdings auch einige Argumente:
Im Gebiet „Nördlich Lägern“ rechnet die Schweizer Atomlobby und die NAGRA mit einem geringeren innerschweizer Widerstand als beispielsweise im Weinland.
Ein grenznäherer Standort war schwer find bar und die Beteiligung der direkt betroffenen deutschen AnliegerInnen war und ist die mächtig aufgeblasene Illusion von Beteiligung. Was würden die Menschen in der Schweiz sagen, wenn Deutschland seine gesamten atomaren Hochrisiko-Anlagen im Grenzgebiet konzentrieren würde?
Ein Teil der Regional- und Kommunalpolitik auf beiden Rheinseiten schaut leider weniger auf die Sicherheit als auf den zu erwartenden großen Geldsegen aus dem Geldsäckel der Atomindustrie. Es ist erschreckend, wie in Demokratien das lang geübte Prinzip der atomaren Käuflichkeit auch von den Medien als Selbstverständlichkeit hingenommen wird.
Der extrem grenznahe Standort entspricht einem alten europäischen Prinzip: Nationale Vorteile werden genossen – Risiken aber international verteilt. Wir Deutschen haben mit unseren politisch gewählten Atommüll-Standorten Gorleben/Morsleben an der ehemals innerdeutschen Grenze, sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Plutonium hat eine längere Halbwertszeit als Nationalstaaten. Bei einem Endlager, das Sicherheit für eine Million Jahre geben soll, muss die Geologie im Vordergrund stehen und nicht die, auch mit viel Geld erkaufte, politische Durchsetzbarkeit.
Die wichtigen offenen Fragen und berechtigten Zweifel im Bereich der Geologie beim Standort Nördlich Lägern müssen jetzt kritisch und vor allem unabhängig und neutral geprüft werden. Hier steht auch das Land Baden-Württemberg in Verantwortung.
Nach dieser schlechten Standortvorentscheidung wachsen allerdings massiv die Zweifel, ob die Schweiz in der Lage ist, den langlebig-hochradioaktiven Müll im eigenen Land zu lagern.
Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein, (Der Autor war 30 Jahre lang BUND-Geschäftsführer und ist Mitglied im Vorstand des Trinationalen Atomschutzverbandes TRAS)
Die nachfolgenden Generationen werden uns und unser Zeitalter der Zerstörung und der Gier für unseren Nachlass hassen und verachten. Für die Klimakatastrophe, die Artenausrottung, für Atomwaffen, Rohstoff verschwendenden Überkonsum und Antibiotikaresistenzen… Und für die Produktion und schlechte Lagerung von Atommüll, der noch 33.000 Generationen gefährden wird.
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Nur noch 24 Prozent aller defekten Elektrogeräte werden repariert
Repair-Café
Von Jonathan Schött
Unsere Gesellschaft produziert auf Kosten von Menschen, Umwelt und Klima riesige Abfallberge – so kann es nicht bleiben. Warum wir jetzt ein Recht auf Reparatur brauchen
Wenn Sie heute ein neues Produkt kaufen, dann ist Ihnen wahrscheinlich schon beim Kauf bewusst, dass dieses Produkt nicht besonders lange hält. Im besten Falle wird es einige Jahre seinen Dienst tun, bis es schließlich den Geist aufgibt und Sie es ersetzen. Eine Normalität, die sich in Deutschland jedes Jahr millionenfach – nein, milliardenfach – wiederholt: Elektrogeräte, Smartphones, Kleidung, Kühlschränke, praktisch alle Produkte unseres Lebens. Die lächerlich kurze – und immer weiter abnehmende – Lebensdauer unserer alltäglichen Begleiter zeigt sich in den riesigen Abfallbergen, die unsere Gesellschaft produziert. 2021 fielen allein unvorstellbare 376.748 Tonnen Elektroschrott an.
Die ökologischen Folgen unseres Neugerätekonsums sind allgemein bekannt und vielen mittlerweile auch bewusst: Treibhausgasausstoß bei der Herstellung, Abhängigkeit von autokratischen Staaten, Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung entstehen durch die unaufhörliche Extraktion der begrenzten Ressourcen unserer Erde.
Viele Menschen arbeiten daher daran, dass unsere Wirtschaft weniger ressourcenintensiv und zirkulärer wird. Viel zu oft konzentriert man sich aber ausschließlich auf das Recycling. Doch dieser Ansatz allein greift zu kurz, denn auch ein überwiegend aus recyceltem Material erstelltes Produkt wird unter erheblichem Aufwand an Energie und neu extrahierten Ressourcen hergestellt. Um tatsächlich Ressourcen und Energie zu sparen, müssen wir unsere Gegenstände länger nutzen. Das bedeutet: Wenn etwas kaputtgeht, müssen wir es reparieren.
Das Problem ist: Heutzutage werden Reparaturen nur noch selten und vor allem bei besonders teuren Geräten durchgeführt. Nur 24 Prozent aller Elektrogeräte werden bei einem Defekt repariert, der Rest wird zu Elektroschrott. Bei kleinen Geräten wie Toastern und Haartrocknern liegt die Reparaturquote sogar deutlich unter 10 Prozent.
Dabei war das Reparieren bis vor wenigen Jahrzehnten eine gesellschaftlich fest verwurzelte, sogar überlebensnotwendige Praxis. Ob es Kleidung, Möbel oder später Elektrogeräte waren: Dinge zu reparieren oder reparieren zu lassen, war technisch möglich und finanziell meist erschwinglicher als ein Neuerwerb.
Der massive Rückgang von Reparaturen lässt sich mit den heutigen Bedingungen von Produktion und Konsum erklären. Zum einen wenden Hersteller Praktiken an, die eine Reparatur erschweren, und damit teurer oder sogar unmöglich machen. Das Design eines Produktes wird zum Beispiel meist nach Kosteneffizienz optimiert – die Reparierbarkeit spielt keine Rolle. Dazu kommen Techniken, die keinen anderen Zweck haben, als Reparatur zu verhindern. Außerdem bieten Hersteller in vielen Fällen weder Information noch Ersatzteile an, die für Reparaturen essenziell sind. Und wenn sie Ersatzteile anbieten, dann oft zu so hohen Preisen, dass eine Reparatur sich finanziell nicht lohnt.
Auf der anderen Seite sind die Preise vieler Neuwaren sehr niedrig. Durch Verlagerung der Produktion ins Ausland können Hersteller elektronische Geräte, Möbel, Textilien und andere Produkte unter schlechten Arbeitsbedingungen zu extrem niedrigen Kosten produzieren. Es muss aber jedem klar sein, dass Neuanschaffungen nur durch Ausbeutung und auf Umweltkosten so günstig sein können.
Darüber hinaus arbeiten Werbemaschinerien seit Jahrzehnten daran, in uns Bedürfnisse nach dem neuesten Produkt zu wecken. Die Anbieter von Reparaturdienstleistungen können leider nicht auf solche Werbeetats zurückgreifen. Und so werden Reparaturen oft noch nicht einmal mehr dort durchgeführt, wo sie finanziell sinnvoll sind (und das sind immer noch sehr viele Situationen).
Glücklicherweise steigt das Bewusstsein dafür, dass dieser Zustand aus ökologischer und sozialer Sicht unhaltbar ist. In immer mehr Städten gründen Menschen Reparatur-Cafés. Das Netzwerk Reparatur-Initiativen listet auf seiner Website fast 1.000 Initiativen auf. Eurostat-Umfragen zeigen, dass 77 Prozent der Menschen ihre Geräte lieber reparieren würden, als sie zu ersetzen.
Sowohl in Europa als auch in den USA wächst eine Reparaturbewegung aus Umweltaktivist:innen, Wissenschaftler:innen, Verbraucherschützer:innen, Handwerker:innen und Ehrenamtlichen. Diese fordern ein universelles und herstellerunabhängiges „Recht auf Reparatur“, um die aktuelle Situation zu durchbrechen. Ein Recht auf Reparatur würde bedeuten, dass Menschen jederzeit in der Lage wären, ihre Dinge günstig entweder selbst zu reparieren oder bei einem Anbieter ihrer Wahl reparieren zu lassen.
Konkret bedeutet das, dass vielfältige Maßnahmen, von Produktpolitik über Verbraucherrecht hin zu Steuerpolitik ergriffen werden müssen. Ein Bruch mit den bestehenden Verhältnissen ist Bedingung dafür, dass die Methode Reparatur ihr volles Potenzial entfalten kann. Einen Überblick über die vielfältigen Weichenstellungen, die die Politik umsetzen muss, hat der Runde Tisch Reparatur gemeinsam mit 24 weiteren Organisationen bereits im Februar veröffentlicht.
Nur beispielhaft seien hier einige erwähnt: umfangreiche Pflichten für Hersteller zum Produktdesign sowie zur langfristigen Bereitstellung von günstigen Ersatzteilen, Informationen und Softwareupdates. Ein Verbot reparaturbehindernder Praktiken und die Einführung eines aussagekräftigen Labels, welches die Reparierbarkeit eines Produkts bewertet.
Außerdem ist die Zahl der unabhängigen Reparaturbetriebe derzeit stark rückläufig. Das bedeutet einen kritischen Verlust von Infrastruktur und Wissen, welches wir für ein Recht auf Reparatur aber brauchen. Dem müssen wir uns durch staatliche Unterstützung, wie den in Österreich und Thüringen bereits erfolgreichen Reparaturbonus, entgegenstellen.
Für ein Recht auf Reparatur muss der Staat Rahmenbedingungen schaffen, die es einfacher und günstiger machen, Dinge zu reparieren. Aber auch wir Bürger:innen müssen wieder mehr Reparaturerfahrung sammeln. Dafür braucht es offene Räume, in denen wir gemeinsam mit Reparatur in Kontakt kommen können. Der Boom der Reparatur-Cafés ist daher ein wichtiger Trend, den auch die Kommunen aktiv fördern sollten. Reparatur-Cafés bieten darüber hinaus neue soziale Räume, in denen wir gemeinsam kreativ werden, lernen und praktisch handeln können. Gerade solche Orte ohne Konsumorientierung fehlen in unserer Gesellschaft – sie könnten einen zentralen Beitrag zur Wiederbelebung unserer Innenstädte und Dorfzentren leisten.
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Während ökologische und ökonomische Systeme kollabieren, tobt ein Kampf um die weiße Vorherrschaft, der nicht zuletzt ein Klassenkampf um den Zugriff auf den schrumpfenden Lebensraum auf dem Planeten ist. Es ist höchste Zeit, dieser Entwicklung eine radikale Politik der Earth Care entgegenzusetzen, argumentiert Manuela Zechner in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism”.
Für diejenigen von uns, die sich mit radikalen, nachhaltigen und gerechten Wegen aus unseren vielfältigen, miteinander verflochtenen Krisen befassen, ist es sehr wichtig, eine solide Politik der Fürsorge zu entwickeln – in der Praxis. Ich habe schon früher darüber geschrieben, was es bedeuten könnte, sich angesichts der Krise radikal und nachhaltig zu kümmern, und habe versucht, Werkzeuge zu finden, um Scheißdiskurse der Fürsorge zu analysieren und unzureichender Fürsorge entgegenzuwirken. Denn unsere ökologische Krise ist eine tiefe Sackgasse der Fürsorge. Was bedeutet das in der neuen Phase der Krise, die wir gerade erleben?
Ökologische (was nicht nur den Zusammenbruch des Klimas, sondern viele planetarische Grenzen einschließt) und soziale Krisen verbinden sich heute auf immer lebensbedrohlichere Weise mit energetischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Krisen. Krieg, Hunger, Katastrophen, Ausrottung und rassistisch-faschistische Gewalt kosten Leben, während Armut, Extraktivismus, Toxizität und Opferbereitschaft die Lebensgrundlagen und Gemeinschaften zerstören. Gerade als die Genesung von der Pandemie eine Normalisierung bringen sollte, spüren wir, wie ein neuer Krieg zu großen Spannungen und Engpässen führt (in Europa, aber auch in Afrika und darüber hinaus); wir hören das Gerede über Atomwaffen und sehen, wie Atomkraftwerke bombardiert werden; wir stehen an ausgetrockneten Flüssen (zuletzt in Europa); wir erleben neue Ausmaße von Waldbränden, Dürre und Überschwemmungen. Was die Menschen im Globalen Süden seit langem als Realität kennen, beginnt nun auch breite Bevölkerungsschichten im Globalen Norden zu betreffen, was unser Verhältnis zur Frage der Fürsorge erschüttert.
Ein Teil davon ist die Erkenntnis, dass wir als “sichere” Bevölkerungsgruppen betroffen sind. Auch wenn wir nicht geopfert werden, können wir doch Teil des Kollateralschadens in dem Klassenkampf sein, der unsere gemeinsame Welt ruiniert. Diese schleichende Erkenntnis ist von großer Bedeutung für die soziopolitische Subjektivität und unsere Beziehungs- und Handlungsfähigkeit. Das Gerangel um einen Platz in der ersten Klasse des Planeten verschärft sich, und den Arbeiter- und Mittelschichten in den wohlhabenden Ländern wird klar, dass auch sie schutzlos dastehen werden – mit weniger Energie, mit eingeschränkter Mobilität, in Armut. Die zunehmenden Hindernisse für das Autofahren (die eher auf die hohen Kraftstoffpreise als auf die Klimaschutzmaßnahmen zurückzuführen sind) machen vielen die “Abwärtsmobilität” auf schmerzhafte Weise bewusst. Eine ironische Art, materiellen Grenzen zu begegnen, aber haben wir wirklich geglaubt, die Menschen würden sich mit den planetarischen Grenzen auf eine unvermittelte oder abstrakte Weise auseinandersetzen und nicht als “Ressourcenkrise”?
Diese planetarischen Grenzen werden immer durch unser Management und unser Verständnis von “Ressourcen” – oder besser von Gemeingütern – vermittelt. Menschliches, soziales Zeug. All dies erfordert soziale Kämpfe: kollektive Weigerung, für Energie zu bezahlen, Kampagnen für kostenlose öffentliche Verkehrsmittel und natürlich die vielen laufenden Gemeinschaftskämpfe gegen Toxizität, Vertreibung und Extraktivismus.
Politik der Erdpflege
Gleichzeitig begreifen einige von uns, dass es in diesem kritischen Moment nicht nur um unser menschliches Leben geht, sondern dass wir mit allen Lebewesen und Ökosystemen verflochten und voneinander abhängig sind. Wir spüren, dass unser Leben und unser Lebensunterhalt gefährdet sind, dass der Tod immer in greifbarer Nähe ist und dass wir uns um die Erde kümmern müssen. Auch diese Lektion haben wir in den reichen Industrieländern zu spät gelernt, da wir unsere Verletzlichkeit während des spektakulären kolonial-kapitalistischen historischen Intermezzos, das wir als Moderne bezeichnen können, vergessen haben. Indigene und subalterne Völker wussten das schon immer. Hier in Europa geht es immer noch darum, die Prekarität als Lebensrealität zu begreifen und den Fordismus und den Wohlfahrtsstaat als Ausnahme. Diese Erkenntnis der radikalen Verflechtung und Verletzlichkeit führt uns in übermenschliche Kämpfe, die nicht zuletzt auch die Vorstellungen von Kollektivität neu definieren.
(Öko-)Feministinnen, Ökologinnen, Pazifistinnen, Wissenschaftlerinnen, indigene Völker und viele andere kämpfen seit langem für eine globale Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit, für eine Politik der Interdependenz und der Fürsorge, damit Leben in seiner Ko-Abhängigkeit wertgeschätzt und Wege des Extraktivismus und der Verschwendung verlassen werden können. Aus diesem Blickwinkel heraus beobachten wir den gegenwärtigen Moment mit Aufmerksamkeit. Es gibt ein Fenster, das sich durch die gegenwärtige gesellschaftliche Anerkennung der Verwundbarkeit geöffnet hat – ein Fenster der Gelegenheit, wie wir meinen. Wir wissen, dass es nicht unbedingt für lange Zeit offen sein wird. Was muss geschehen, damit dieses Gefühl der Verwundbarkeit in kollektive statt individuelle Fürsorge und Selbstverteidigung umgesetzt wird? Und kann es zu einer Subjektivität führen, die sich als Teil von mehr als nur menschlicher Kollektivität begreift, so dass unser menschliches Leben in seiner gegenseitigen Abhängigkeit von nicht-menschlichen Anderen weitergehen kann?
Das zu öffnende Fenster bietet die Chance auf frische Luft und Licht, aber auch auf Hightech-Alarmanlagen und geschlossene Fensterläden. Es gibt zwei Möglichkeiten, grob gesagt. Das Gefühl der Bedrohung kann uns in einer Weise verwundbar machen, die für die gegenseitige Fürsorge und Verteidigung notwendig ist, aber es kann auch Angst, Misstrauen und die Art von atomisierter Vorbereitung auslösen, die ihre Fürsorge auf das eigene Ich, die Kernfamilie und das Zuhause (oft als Eigentum) beschränkt, was manchmal mit einem sehr rigide definierten Sinn für eine rettungswürdige Gemeinschaft verbunden ist.
Machen Sie einen Spaziergang mit Octavia Butler (ihr unglaublich visionäres Buch “Das Gleichnis vom Sämann” spielt im Jahr 2024, vielleicht haben wir ja noch ein paar Jahre Zeit, um die Apokalypse abzuwenden). Wir alle denken manchmal über Prepper nach, “was würden wir tun, wenn”, aber lassen Sie uns eines klarstellen: Die meisten Prepper sind Männer, in bestimmten Positionen und an bestimmten Orten. Wenn wir uns als Frauen oder queere, transsexuelle oder andere Menschen vorbereiten, sieht unsere Vorbereitung so aus: Fürsorge. Bumm! Wir machen das schon seit Jahrhunderten, es nennt sich Haushaltsführung, Gemeinschaftsbildung, mentale Belastung, Pflegenetzwerke, feministische Selbstverteidigung. Bei dieser Verteidigung geht es nie um ein solipsistisches “Ich”, sondern um kollektive Stärke und Widerstand. Das Ziel ist niemals Unabhängigkeit, Selbstgenügsamkeit oder das Überleben in einem Bunker. Das ist etwas für das Patriarchat und für die Reichen.
Vorbereitung, Aufopferung oder Pflege
Wenn unsere Verwundbarkeit also Angst und Unsicherheit auslöst, statt den Impuls zu wecken, andere zu suchen, haben wir ein Problem – siehe die alte Rechte. Andererseits können wir uns vielleicht einfach nicht aus dem Fenster lehnen, wenn unsere Erfahrung mit der Katastrophe so direkt und konkret ist, dass sie uns in eine Position drängt, in der wir nur ums Überleben kämpfen können – anstatt uns zu sorgen oder vorzubereiten. Wie ich bereits an anderer Stelle gesagt habe, besteht unser globales Versorgungsproblem nicht nur darin, dass sich einige reiche Leute nicht wirklich kümmern (auch wenn sie das vorgeben), sondern auch darin, dass die Menschen, die die Arbeit leisten, die das Leben weltweit erhält, so ausgebeutet werden, dass ihnen nicht einmal die Fähigkeit zur Sorge zugeschrieben wird. Viele Menschen in der reichen Welt, vor allem diejenigen, die als Männer sozialisiert wurden, können nicht einmal Menschen, die sich kümmern, als solche erkennen und sich mit einer Sorge auseinandersetzen, die nicht nur auf das Individuum gerichtet ist. Und so fragte kürzlich jemand auf Twitter: “Männer bereiten sich angesichts des gesellschaftlichen Zusammenbruchs vor, aber was tun Frauen?” Nun, vielleicht kümmern sie sich.
Zurück zum konjunkturellen Bild: Wenn wir uns die “Mächtigen” dieser Tage anschauen (Märkte, Regierungen), spüren wir einen neuen Klassenkampf von oben. Das bedeutet: immer mehr Opferbereitschaft. Die Bedrohung durch einen Krieg führt dazu, dass sozialökologische Narrative zugunsten nationaler Narrative in den Hintergrund gedrängt werden; Industrieinteressen werden weiterhin vor Leben geschützt, reicheres Leben vor ärmerem Leben, nördliches Leben vor südlichem Leben, und zwar mit Hilfe von Bullshit-Diskursen, in denen behauptet wird, der Übergang sei unmöglich oder müsse langsam vonstatten gehen (wobei manchmal “soziale” Entschuldigungen für diesen Protokollonialismus vorgebracht werden). Die derzeitige Energiepolitik verzögert die Abkehr von fossilen Brennstoffen eher, als dass sie eine Chance für einen schnellen und gerechten Übergang bietet; massive Krisengewinne fließen in die Energiekonzerne und andere Unternehmen, während die Menschen leiden; usw.
Es gibt eine verblüffende politische Unterstützung für die fortlaufende Umverteilung von Reichtum zugunsten der sehr Reichen, die auf Zerstörung aus sind und denen Leiden gleichgültig ist, und eine schockierende politische Akzeptanz von immer mehr Opferzonen und Opferbevölkerungen für Produktion und Energie, trotz schwindender planetarischer Lebenserhaltungssysteme. Opfer sind nach wie vor das Gebot der Stunde, wobei die weiße, wohlhabende, männliche Minderheit der Hauptverursacher ist und der Rest der lebenden Welt weiterhin das Ziel ist. Und diese Logik des Opfers ist in “grünem” Zeug (grüne Parteipolitik, grüne Technologie, grüner New Deal, grüne Energie, …) oft genauso enthalten wie im Standard-Neoliberalismus. Während Degrowth und Suffizienzökonomie oft als unhaltbare Selbstaufopferung dargestellt werden, ist die Aufopferung von anderen tatsächlich im Gange – von Gemeinschaften, Ökosystemen, Versorgungsnetzen, Körpern, Leben. Opferzonen sind ein Ausdruck des Klassenkampfes, der unsere gemeinsame Welt ruiniert.
Agenten der Transformation
Was können wir angesichts von Angst, Solipsismus und Opfern tun? Die einfache Antwort ist ziemlich radikal: Wir können uns kümmern. Bei den Problemen bleiben und Leben und Welten erhalten, für unsere Interdependenz kämpfen. Es folgt eine kurze Liste von Hypothesen, die auf dem basieren, was ich von feministischen Landwirtschaftskämpfen, durch unsere Earthcare Fieldcast und Common Ecologies Kursarbeit (hier dokumentiert) gelernt habe.
Es gibt bäuerliche Kämpfe mit Organisationen wie La Via Campesina, die weltweit über 200 Millionen Mitglieder hat und sich für eine antikapitalistische, feministische, antirassistische und agrarökologische Landwirtschaft einsetzt; es gibt feministische und antirassistische Kampagnen, um die Ausbeutung im räuberischen kapitalistischen Agrarsystem zu stoppen, für Gerechtigkeit zu kämpfen und Visionen jenseits dieses Modells zu entwickeln; es gibt genossenschaftliche Bauernhöfe und Lebensmittelkooperativen, die radikal demokratische Infrastrukturen für die Lebensmittelproduktion und -verteilung entwickeln; es gibt urbane Gärten und Feldkollektive, die basisdemokratisches Wissen über den Anbau von Lebensmitteln aufbauen und die Städte verändern, usw.
Diejenigen, die uns das Essen auf den Tisch bringen, werden selten als Akteure der Veränderung, des Kampfes und der Fürsorge gesehen. Und doch sind sie es. Bleiben Sie bei ihnen als Schutzheilige gegen die Apokalypse, als Göttinnen der Erdpflege gegen das Plantagenozän, halten Sie Ausschau nach ihnen in Ihrer Nähe – und setzen Sie sich auch für andere ein, die an den Frontlinien der sozialen und übersozialen Reproduktion kämpfen.
Wir müssen um ökologische und soziale Belange kämpfen. Diese sind untrennbar miteinander verbunden: Wir müssen zum Beispiel Landwirtschaft und Natur nicht voneinander trennen. Der Mensch ist nicht von Grund auf schlecht und muss nicht von der lebenden Welt abgekapselt werden: Es sind der kapitalistische Extraktivismus und die Auslöschung ökologischer Kenntnisse und Praktiken, die unsere Aktivitäten schlecht machen. Die Agrarökologie zum Beispiel ist eine Form der Landwirtschaft, die auf die eine oder andere Weise seit Tausenden von Jahren praktiziert wird, nachhaltig ist und im Einklang mit der lebendigen Welt steht. Sie ist quelloffen und nutzt Technologien auf intelligente und soziale Weise, wobei sie die materiellen Grenzen beachtet und darauf achtet, wie etwas wächst. Bauern, die traditionelle Landwirtschaft betreiben, ernähren immer noch den größten Teil der Welt – vor allem, wenn man die Produktion von Lebensmitteln für den menschlichen Verzehr (und nicht die von Biokraftstoffen und Viehfutter) mitzählt.
Die Idee, dass wir die industrielle Landwirtschaft hier und den Naturschutz dort unterbringen müssen – und noch dazu beides finanzieren – ist ein Klassenkampf-Narrativ, das darauf abzielt, uns alle zu Gunsten des Unternehmensprofits zu enteignen und zu proletarisieren. Es stützt sich auf technische Lösungen, die urheberrechtlich geschützt sind und vom Kapital kontrolliert werden. Der Genuss “unberührter Natur” ist etwas für Touristen und Reiche – zum größten Teil sind die Menschen jedoch Teil der Ökosysteme, und das ist gut so. Gleichzeitig dürfen wir nicht zulassen, dass die “soziale” Argumentation in den reichen Ländern den raschen Wandel auf Kosten der armen Länder und Ökosysteme abwürgt.
Wir müssen in der menschlichen und in der übermenschlichen Welt kämpfen und uns kümmern. Dies ist eine Frage des Überlebens, da wir ohne die Pflanzen, Tiere, Bakterien und Pilze, die derzeit das Leben erhalten, nicht leben können. Es gibt keine Technologie, die menschliches Leben ohne die übermenschliche Welt ermöglichen kann, und diese Welt kann nicht in einem Labor eingeschlossen werden. Leben wird immer nur auf der Grundlage eines ökosystemischen Zusammenspiels möglich sein – und dieses Zusammenspiel ist immer autopoietisch und nicht vom Menschen gesteuert.
Die Technologie muss die gegenseitige Abhängigkeit fördern, anstatt sie zu beseitigen – sie muss Gegenseitigkeit und Fürsorge ermöglichen. Fantasien von menschlicher Superkontrolle sind ebenso toxisch wie die von männlicher Dominanz, Teil derselben ando-anthropozentrischen Logik, die wir mühsam auflösen müssen. Der Kampf mit der Welt, die mehr ist als der Mensch, ist keine zweitrangige Angelegenheit, sondern bedeutet, zu verstehen, dass wir in unserer Welt der vielen Spezies alle miteinander zu tun haben.
Wir müssen über utopische und defensive Dynamiken hinweg kämpfen und sie miteinander verbinden. Wir können keine Kämpfe führen, die nicht die Kämpfe derjenigen, die im toxisch-industriellen-kapitalistischen System leben, mit den Kämpfen und Anliegen derjenigen verbinden, die alternative Modelle zum Laufen bringen. Ohne eine starke Verbindung zwischen utopisch-experimenteller Arbeit, traditionellen Gemeinschaften und Technologien (z.B. Bauern, indigene Völker) und defensiven Kämpfen auf der Ebene des Territoriums (z.B. Landrechte, Umweltschützer) und der Arbeit (z.B. Arbeiter in der industriellen Landwirtschaft) wird Earthcare nicht möglich sein.
In unserem Klima der Zerstörung müssen wir über die individuelle Abwehrhaltung hinausgehen, und das bedeutet, Netzwerke der Solidarität, Unterstützung und Fürsorge zwischen denen, die bauen, und denen, die verteidigen, aufzubauen. Wenn wir die Verteidigung kollektiv machen und wissen, dass wir es nicht mit Naturgewalten zu tun haben, sondern mit spezifischen kapitalistischen Interessen, können wir härter und besser kämpfen. Jeder kann dazu beitragen, diese Allianzen zu schmieden – sei es in Bezug auf unsere alltägliche Versorgung mit Wohnraum, Lebensmitteln, Transportmitteln, Energie usw.
Wir müssen die Technofixe entwaffnen, denn sie sind Instrumente des Klassenkampfes. Die “klimafreundliche Landwirtschaft” beispielsweise bringt neue Formen des Extraktivismus und der Unternehmenskontrolle mit sich. Technofixes sind Instrumente der Akkumulation. Klimasmarte Landwirtschaft soll laut Weltbank “die Entwicklung fördern, die Anfälligkeit verringern und den Übergang zu kohlenstoffarmen Wachstumspfaden finanzieren”. Wir müssen Entwicklung als Codewort für kapitalistische Akkumulation und Finanzialisierung als eine Form der Enteignung ablehnen und Verwundbarkeit bejahen, statt sie zu fürchten.
Verwundbarkeit ist unsere Grundvoraussetzung. Die einzige Art von Souveränität, die wir uns leisten können, ist die der kollektiven Autonomie als Teil der Interdependenz, wie bei der Ernährungssouveränität. In unseren ökologischen Kämpfen bedeutet dies auch, dass wir über jede Fixierung auf Klima und Kohlenstoff hinausgehen müssen, die die vielfältigen Grenzen, die gegenseitigen Abhängigkeiten, die systemischen extraktivistischen Opfer und die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Transformation ignoriert.
Wir brauchen Gemeingüter sowohl zum Überleben als auch zum Widerstand. Es gibt einen Namen für die Systeme und Infrastrukturen, die wir brauchen: Gemeingüter. Sie sind historisch und geografisch reichhaltig, voller Erfahrungen mit Management und Pflege und Schatzkammern für die Arten von situiertem Wissen und gemeinsamen Verhandlungen, die wir brauchen, um die kommende Zukunft zu überstehen. Wenn wir Dinge als Gemeingüter investieren, können wir aus unserer Verwundbarkeit Kraft schöpfen – kollektiv und konkret.
Commons und Fürsorge tragen dazu bei, in unseren Herzen und Beziehungen die patriarchalisch-kapitalistisch-anthropozentrische Ideologie zu überwinden, die gegenseitige Abhängigkeit eher als Problem denn als Lösung begreift. Und sie helfen uns, Territorien als gelebte Räume der Reproduktion, Erinnerung und Fürsorge aufzubauen. Gemeinschaftskämpfe und indigene Kämpfe fördern das Bewusstsein für Territorien als sozialräumliche, lebendige Ökologie. Commons ermöglichen es uns, Lebenssysteme auf den Ruinen des Neoliberalismus zu kultivieren. Es gibt viele Wege – Fürsorge und ökologischer Munizipalismus, Transition Towns, Landverteidigung und Schutz von Lebensräumen, gemeinschaftliche Landwirtschaft und bäuerliche Kämpfe, Hausbesetzungen und kollektiver Infrastrukturaufbau. Der Aufbau materieller und verkörperter Beziehungen zu dem, wo wir leben und wovon wir leben, ist ein Weg, um Vertrauen und Fürsorge zu fördern.
Wir müssen Erinnerung und generationenübergreifende Macht aufbauen. Die meisten von uns wurden durch Kolonialismus und Kapitalismus ihres Gedächtnisses und ihres Wissens über ihre Vorfahren beraubt. Auch im Globalen Norden, sogar in Europa, können wir unsere Wurzeln des Widerstands, unsere bäuerlichen und gärtnerischen Vorfahren, wiederfinden. So viel Wissen über die Pflege der Erde und die wechselseitige Verwundbarkeit ist in der Zeit der letzten Generationen verloren gegangen – aber es ist nicht für immer verloren, und es ist wichtig, dass wir unsere Älteren finden und mit ihnen lernen, seien sie kulturell oder biologisch mit uns verbunden. Die älteren Generationen müssen aufstehen und Wege finden, sich in die Paradoxien ihrer Zeit hineinzuversetzen und sich im Kampf für eine gerechte Zukunft zu verbünden. Und wir müssen die koloniale Geschichte als unser gemeinsames Dilemma begreifen und uns mit den Muttermorden und der Auslöschung von Wissen auseinandersetzen, die sie mit sich gebracht hat.
Schließlich müssen wir uns in dieser Liste mit offenem Ende für neue Wege öffnen, um von anderen betroffen zu sein. Wir dürfen nicht in Panik verfallen, wenn wir von einer Katastrophe betroffen sind, wir dürfen nicht zulassen, dass die Politik der Angst unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt und unsere Körper vereinnahmt. Eine postextraktivistische Zukunft ist eine, in der wir die sozio-affektiven Grenzen durchbrechen, die durch Klasse, Rasse, Spezies, Religion, Beruf, Körpertyp usw. gesetzt sind. Dies ist die einzige Möglichkeit, die globalen Ketten der Ausbeutung und Extraktion zu durchbrechen. Unsere gegenseitige Verwundbarkeit und Beeinflussbarkeit ist unsere Stärke, die Grundlage unseres gemeinsamen Lebens.
Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur “After Extractivism”-Textreihe der Berliner Gazette; die englischsprachige Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de
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Kohl, Schröder, Merkel und Scholz, sie haben den Bürger-innen den Klimawandel verkauft.
Warum in die Ferne schweifen wenn genug Schlechtes auch ganz nahe ist?
In den meisten Industrieländern fürchten die Menschen die Klimakrise. Aus dem Rahmen fallen vor allem die USA – auf den ersten Blick. Der zweite offenbart die psychologisch-politische Kluft im Land.
Auch in den USA sind die dramatischen Auswirkungen der Erderhitzung nicht mehr zu übersehen. Hitze- und Kältewellen, Dürren, Brände, Wasserknappheit, austrocknende Flüsse und Seen – und dann wieder extreme Regenfälle, Überschwemmungen, Wirbelstürme. Allein 2021 zählte die US-Regierung 20 Extremwetterkatastrophen, die Schäden von jeweils mehr als einer Milliarde Dollar verursacht haben. Die Gesamtrechnung nur für 2021 liegt bei 145 Milliarden Dollar .
Und doch sind die USA einsamer Ausreißer in einer Studie, die das US-Umfrageinstitut Pew diese Woche veröffentlicht hat. Pew selbst hat über die Mitteilung zu den Ergebnissen diese Überschrift gesetzt: »Der Klimawandel bleibt in einer Umfrage in 19 Ländern die globale Spitzenbedrohung.«
Mehr Angst vor Cyberangriffen als vor der Klimakrise
Tatsächlich landete der Klimawandel bei der Frage, ob man etwas als »große Bedrohung, kleinere Bedrohung oder keine Bedrohung« für das eigene Land einschätze, in den meisten der untersuchten Länder auf Platz eins oder zwei. In Deutschland etwa nannten 73 Prozent der Befragten den Klimawandel als große Bedrohung, knapp davor landete, mit 75 Prozent, Desinformation im Internet.
Die vier Ausreißer auf der Liste sind Israel (47 Prozent), Malaysia (44 Prozent), Singapur (57 Prozent) – und die USA. In den Vereinigten Staaten landete die Bedrohung durch den Klimawandel auf dem letzten Platz, mit 54 Prozent Zustimmung. 71 Prozent fürchten sich dort dagegen vor »Cyberangriffen anderer Länder«.
Es scheint paradox: Die Krise und ihre Auswirkungen sind klar spür- und sichtbar, teuer und tödlich. Und doch will nur etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung der USA eine echte Bedrohung erkennen. Der Anteil derer, die diese Bedrohung sehen, ist in den vergangenen Jahren sogar leicht gesunken. Wie kann das sein?
Weniger als ein Viertel der Republikaner lebt in der Realität
Um das zu verstehen, muss man sich die Daten aus den USA genauer ansehen, was Pew in einer separaten Auswertung auch getan hat . Darin wurde auch die politische Ausrichtung der Befragten berücksichtigt. Das Ergebnis: eine krasse, klaffende Kluft. Sie wird viele vermutlich nicht überraschen, aber ihr Ausmaß ist dennoch erschreckend.
Unter den Befragten in den USA, die die Demokraten unterstützen oder ihnen zuneigen, halten 78 Prozent den Klimawandel für eine große Bedrohung. Unter den Fans und Sympathisanten der Republikaner dagegen sind es nur 23 Prozent. Weniger als ein Viertel.
Die echte »Big Lie« ist viel älter als Bidens Wahlsieg
Die Republikaner und ihre größten Spender belügen ihre Parteigänger in Wahrheit schon seit Jahrzehnten – im Dienste der Fossilbranchen. Donald Trumps »Big Lie« über den Wahlausgang ist ein Neuzugang. Die Leugnung des menschengemachten Klimawandels war lange Zeit eine Kernposition der Partei. Mittlerweile wird sie nicht mehr so offen vertreten , aber unter den eigenen Wählerinnen und Wählern hat sie sich festgesetzt. Die ältere und, global betrachtet, schlimmere »Big Lie« ist: Es gibt keinen menschengemachten Klimawandel, und falls doch, dann ist er kein Problem.
Ein – von den Republikanern eingesetzter – US-Bundesrichter notierte 2019 in einem Verfahren gegen Exxon, Shell, BP und Co .: »Statt die Alarmglocken zu läuten, gaben sich die Beklagten alle Mühe, den wissenschaftlichen Konsens zu vernebeln und Änderungen – obwohl sie existenziell notwendig sind – zu verzögern, die ihren Milliardenprofiten im Weg gestanden hätten.«
In anderen Industrienationen ist das völlig anders
Die 54 Prozent, die die Studie im Ländervergleich für die USA insgesamt ausweist, verschleiern das wahre Bild: In den USA lebt nur ein Teil der Bevölkerung, nämlich die Anhänger der Demokraten, in der gleichen Wirklichkeit wie die Bevölkerungen anderer Industrieländer wie Deutschland, Japan (82 Prozent sehen dort den Klimawandel als große Bedrohung), Frankreich (81 Prozent), Großbritannien (75 Prozent) oder Australien (71 Prozent).
Die Wählerschaft der Republikaner dagegen hat sich mehrheitlich aus dieser global geteilten Realität verabschiedet: über drei Viertel. Daran haben die Ölkonzerne, die »Stiftungen«, »Thinktanks« und gekauften »Fachleute« der Koch-Brüder und anderer fossiler Propagandisten jahrzehntelang mit Milliardeninvestitionen gearbeitet. All das ist glasklar dokumentiert .
Die Ölkonzerne schufen die republikanische Identität
Gleichzeitig aber haben ihre Kampagnen die Identitätskonstruktion von Abermillionen verändert. In einer psychologischen Überblicksstudie , die vergangenes Jahr erschien, ist zu lesen: »In vielen Ländern ist der Klimawandel zu einem politisch polarisierten Thema geworden, wobei Menschen, die sich selbst als liberal einstufen, eher Klimaschutzpolitik unterstützen als Menschen, die sich selbst als Konservative betrachten.« Dafür gibt es viele empirische Belege .
Die Überblicksstudie weist explizit darauf hin, dass dieses Phänomen besonders bei älteren, weißen Männern zu beobachten ist, die Angst vor dem Verlust von Status und Privilegien haben: »Wer zu einer Gruppe gehört, die vom Klimawandel besonders bedroht ist, wird besonders motiviert sein, Eindämmung zu unterstützen, während diejenigen, die vom Status quo profitieren, sich eher gegen Eindämmungsschritte stellen.«
Stammeszugehörigkeit alter, weißer Mann
Psychoanalytiker sprechen in den USA sogar von »Petro-Maskulinität« , die »Aspekte von Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Klimawandelleugnung« umfasse. Das passt hervorragend zur Allianz der Freunde fossiler Brennstoffe mit der reaktionären internationalen Rechten. Die Kulturkampfspaltung der USA, die die Neue Rechte so gern nach Deutschland verpflanzen möchte, ist (auch) eine Konsequenz fossiler Propaganda.
Wer sich in Australien mehr Klimaschutz gewünscht hatte – auch auf dem Kontinent auf der Südhalbkugel ist das inzwischen die Mehrheit – atmete auf, und das bereits zum zweiten Mal in vier Monaten: Denn im Mai wählten die Australierinnen und Australier die konservative Regierung von Scott Morrison ab, Labor gewann die Mehrheit, Anthony Albanese wurde neuer Premierminister. Die Grünen holten vier, und damit mehr direkte Mandate als je zuvor, zusätzlich bekam eine Gruppe von Parteilosen (Independents) im Parlament mehr Gewicht. Anfang August billigte das Repräsentantenhaus dann das erste Klimagesetz, das das Land je hatte, und Labor macht die im Wahlkampf versprochenen Schritte in Richtung Klimaschutz zu geltendem Recht: Bis 2030 sollen die CO2-Emissionen um 43 Prozent gesenkt werden, die Zustimmung des Senats Mitte September gilt als sicher. Unabhängige und Grüne, deren Unterstützung Labor in der zweiten Kammer braucht, dürften dort allerdings noch ein paar Bedingungen einbringen.
In der ersten Runde stimmten die Grünen mit Labor, obgleich die Regierungspartei auf eine ihrer wesentlichen Forderungen nicht eingegangen war: Australiens Greens wollen in den nächsten acht Jahren nicht nur eine CO2-Reduktion von 75 Prozent sehen, sondern auch ein Ende neuer Kohle- und Gasprojekte. „Dies ist ein kleiner Schritt nach vorn bei der Bewältigung der Klimakrise“, sagte Grünenchef Adam Bandt nach der Sitzung. „Doch die Arbeit auf dem Weg zum Stopp für neue Kohle- und Gasprojekte geht weiter.“ Trotzdem waren viele Australier, auch viele Greens-Wählerinnen, über die Ankündigung des ersten Klimagesetzes erleichtert. Denn es ist immerhin besser als nichts, so das Motto. 2009 hatten Grüne und Konservative noch ein eher lauwarmes Emissionshandelsgesetz blockiert – weil es ihnen nicht weit genug ging. Dass in der Folge statt wenig so gut wie keine Fortschritte in der Klimapolitik gemacht wurden, war zwar nicht die Schuld der Grünen, wurde ihnen aber dennoch lange angekreidet.
Eine Dekade der Blockade endet
Um zu verstehen, warum schon kleine Schritte in Australien als Durchbruch gefeiert werden, hilft ein Blick zurück. Denn bis vor kurzem befand sich Australien auch klimapolitisch in einer anderen Zeitzone als Europa. Parteiinterner Zynismus, eine hoch subventionierte und gewinnbringende Kohleindustrie und nicht zuletzt die Klimawandelleugner in der Regierung bremsten über ein Jahrzehnt jegliches Handeln. Zuletzt hatte Labor 2019 ohne Erfolg eine „Klima-Wahl“ propagiert. Der Pfingstkirchler Scott Morrison nannte seinen überraschenden Sieg für die Liberals damals nach einem weitgehend inhaltsleeren Wahlkampf „ein Wunder“. Viele Analysten stimmten ihm zu. Der Konservative ignorierte Rufe nach mehr Klimaschutz, blieb vage und vor allem seiner geliebten Kohle treu. Australien ist der zweitgrößte Kohleexporteur der Welt, und Morrisons Leidenschaft für den Rohstoff nahm mitunter kuriose Formen an: 2017 wedelte er, damals noch Finanzminister, im Parlament aufgeregt mit einem Stück Kohle. „Haben Sie keine Angst, es wird Ihnen nicht weh tun, es ist nur Kohle!“, rief er den Abgeordneten zu und lobte den Rohstoff als „wichtigen Teil unserer nachhaltigen Energiewirtschaft der Zukunft“.
Selbst nach der Vorstellung des alarmierenden IPCC-Berichts 2021 zur Erderwärmung blieb er unverbindlich, schob die Schuld auf andere und predigte vorwiegend, was er nicht tun wolle: „Ich werde keinen Blankoscheck im Namen der Australier unterschreiben.“ Statt Null-Emissionen bis 2050 versprach Morrison einen „australischen Weg“ mit „Technologien statt Abgaben“. Im eigenen Land lamentierte er gern, Chinas Emissionen seien „höher als die der gesamten OECD“ und Australien folglich nur ein Zünglein an der Waage. Was nicht das überzeugendste Argument ist, schließlich leben in China 70 Millionen mehr Menschen als in der OECD.
Die meisten Australier waren allerdings auch zu der Zeit schon deutlich weiter als ihr Regierungschef: 80 Prozent wollten dringend mehr Taten im Klimaschutz sehen, pro Kopf haben die Australier mehr Solarzellen auf ihren Dächern als jede andere Nation. Viele Landwirte und Industriezweige setzen ebenso wie einige Bundesstaaten auch ohne finanzielle Anreize auf mehr erneuerbare Energien sowie klimafreundlicheres Leben und Wirtschaften. Allein die Koalition aus Liberals und Nationals und ein paar Ultrarechte blieben stur. Im Mai passierte daher, was 2019 fehlschlug: Nach einer Waldbrandsaison, in der auf dem Kontinent mehr katastrophale Feuer mit höherer Intensität wüteten als je zuvor, nach drei „Jahrhundert-Überschwemmungen“, die binnen eines Jahres in vielen Regionen Hab und Gut, Ernten und Vieh davon spülten, entschieden sich Bürgerinnen und Bürger an den Urnen für mehr Klimapolitik. Dabei wählten sie nicht nur Labor, sondern auch mehr Unabhängige und Grüne. Nie zuvor hatten es aus dem so konservativen wie rohstoffreichen Queensland Mitglieder der Greens ins Unterhaus des Parlaments geschafft. Im Mai gelang der Sprung gleich drei grünen Kandidaten im Nordosten. „Die Menschen sind wütend, sie haben den Status quo satt und sind genervt von der völligen Untätigkeit beim Klimawandel“, kommentierte Stephen Bates, der in Queenslands Hauptstadt Brisbane die Mehrheit errang.
Klimaschutz, ja – aber keine Abkehr von der Kohle
Fraglich ist, wie die neue Regierung ihre Ambitionen nun umsetzen will. Ein Hauptelement des Gesetzes ist ein CO2-Limit für die 215 größten Treibhausgasverursacher, die mehr als ein Viertel der australischen Emissionen produzieren. Jeder dieser Konzerne ist für mehr als 100 000 Tonnen CO2 pro Jahr verantwortlich und muss auf andere, saubere Technologien umsatteln oder Carbon Offsets, also Klimakompensationen kaufen. Zugleich will Labor den Anteil der Erneuerbaren im Energiemix von derzeit 30 Prozent auf 82 Prozent erhöhen. Das sind die groben Eckpunkte, viele Details fehlen jedoch noch. Der Kohle ganz den Rücken kehren wird allerdings auch Labor nicht. Mehr als 200 Mio. Tonnen des fossilen Brennstoffs werden 2022 voraussichtlich exportiert. Australiens Grüne argumentieren, ohne ein Moratorium auf Kohle- und Gasprojekte sei die globale Erwärmung kaum unter den anvisierten 1,5 Grad zu halten. Albanese lässt dennoch keine Zweifel an seiner Position: Jetzt die Kohle- und Gasförderung zu stoppen, würde „verheerende Folgen“ für die Wirtschaft, Steuern und Gesellschaft haben. Die Lücke würden nur andere Exporteure mit qualitativ schädlicherer Kohle füllen – diese Argumente waren auch bei den Liberals beliebt.
Viele politische Beobachter hoffen, dass die Regierung am Ende vielleicht kein offizielles Anti-Kohle-Statement mehr benötigt, weil der Rohstoff ohnehin irgendwann ökonomisch irrelevant wird. Bergbaugiganten wie Rio Tinto oder BHP beginnen bereits, sich aus dem Markt zu verabschieden, große Energieversorger wie AGL satteln auf Erneuerbare um. Als die Liberals hartnäckig an fossilen Energieträgern festhielten, kritisierte der Wirtschaftswissenschaftler Richard Denniss 2021 in der „Financial Times“: „Was wir tatsächlich tun, ist der Versuch, die Gewinne im Endspiel zu maximieren“, schrieb der Chefökonom des Think Tanks „Australia Institute“ und polemisierte: „Deshalb haben wir es so eilig, neue Kohleminen zu genehmigen. Wir wissen, dass in 30 Jahren niemand mehr Kohle kaufen wird. Aber wenn wir den Markt überschwemmen und den Preis nach unten drücken, können wir in den nächsten 15 Jahren noch etwas verkaufen.“ Nach Labors Sieg klingt Denniss konzilianter, bleibt aber seinem Standpunkt treu: „Je schneller Australien in erneuerbare Energien, Speicher und Übertragungskapazitäten investiert […], desto schneller werden die Strompreise und die Treibhausgasemissionen Australiens sinken“, schreibt er im australischen „Guardian“.
Trotz des fehlenden Neins zu Kohle und Gas gibt es Zeichen für Veränderungen. Am gleichen Tag, an dem in Canberra im Mai das Klimagesetz beschlossen wurde, sprach sich Umweltministerin Tanya Plibersek gegen eine neue Kohlemine des ultrarechten United-Australia-Party-Gründers Clive Palmer aus. Die Landesregierung in Queensland hatte das Vorhaben des Bergbaumilliardärs schon 2021 abgelehnt, doch zum ersten Mal erfuhr ein Kohleprojekt nun auch auf nationaler Ebene Widerstand. Nicht mit einer klima-, aber immerhin einer umweltpolitischen Begründung: Die Lage des geplanten Projekts, kaum zehn Kilometer jenseits der Küste könne „inakzeptable Folgen“ für das ohnehin bedrohte Korallenriff haben. „Eine neue Kohlemine in der Nähe des Great Barrier Riffs zu stoppen ist Fortschritt“, schreibt der Meeresbiologe Terry Hughes von der James-Cook-Universität in Queensland im Kurznachrichtendienst Twitter. „Doch die australische Regierung unterstützt Dutzende weitere enorme fossile Brennstoffprojekte“, so der Professor, unser Planet aber habe nur eine Atmosphäre.
Mehr als 200 bedrohte Tier- und Pflanzenarten seit 2016
In Peru, wo die Natur als billige und schier unerschöpfliche Quelle für die Profitakkumulation behandelt wird, bricht die Realität des Extraktivismus gewaltsam in das Leben der Ureinwohner*innen. Der Widerstand gegen diese Gewalt offenbart indigene Lebensformen, die, obwohl sie von der Auslöschung bedroht sind, der Schlüssel zu unserer planetarischen Zukunft sein könnten, wie Eliana Otta in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” zeigt.
Im Januar 2022 machten der portugiesische Filmemacher Nuno Cassola und ich uns auf den Weg zu einer der vier indigenen Gemeinden, die unseren Besuch akzeptierten, , um Material für die Erstellung einer Website über kürzlich getötete indigene Führer zu sammeln. Wir wussten nicht, dass eine kleine Fluggesellschaft seit kurzem von Lima nach Mazamari fliegt, dem nächstgelegenen städtischen Zentrum zu Nuevo Amanecer Hawai, unserem Ziel. Also nahmen wir eine übliche Route von der Hauptstadt in diesen Teil des Landes: einen Flug nach Jauja, einer sehr alten Andenstadt, wo wir eine Nacht verbrachten, bevor wir eine siebenstündige Fahrt nach Satipo, der wichtigsten Stadt in dieser Gegend, antraten. Víctor Pío Flores, unser Kontakt bei Nuevo Amanecer, hatte uns gesagt, dass wir so früh wie möglich ankommen sollten. Sie würden uns für eine weitere fünfstündige Fahrt zu ihrer Gemeinde abholen.
Wir wachten um 5 Uhr morgens auf, um unsere Gastgeber um 12 Uhr zu treffen. Es war ein langer Morgen mit gemischten Gefühlen. Die wunderschöne Umgebung, die von den Anden in das farbenfrohe Amazonasgebiet überging, stand im Gegensatz zu den riskanten Manövern der Fahrer, die in den Kurven die Geschwindigkeit nie verringerten. Als wir ankamen und froh waren, am Leben zu sein, wurden wir von niemandem empfangen. Wir warteten ein paar Stunden und chatteten über WhatsApp mit Víctor, der uns immer antwortete, dass er gerade eine Besprechung beendete. Wir schlugen vor, uns in der Nähe des Flusses zu treffen, da die Hitze kaum zu ertragen war. Wir fuhren mit dem Motorradtaxi dorthin und suchten uns einen Weg zum Wasser und in den Schatten. Ich machte ein Nickerchen auf dem Rucksack, während Nuno anfing zu üben, wie man die Steine des Flusses mit einem Tablet scannt, für die Website, die wir nach diesen Ausflügen erstellen würden.
“Die große Weide”
Die Website “Luto Verde” ist das Herzstück des Projekts “Virtual Sanctuary for Fertilizing Mourning” im Rahmen von “Seven Prototypes for Eco-Social Renewal“. Sie enthält Videos über Gebiete, die indigene Führer und Waldhüter beschützt haben, als sie ermordet wurden. Diese Art der Ermordung hat in den letzten zehn Jahren weltweit deutlich zugenommen. Von 2002 bis 2020 wurden laut Global Witness mehr als 2.000 Umweltschützer in 64 Ländern ermordet. In Peru stehen sie im Zusammenhang mit extraktivistischen Aktivitäten wie Holzeinschlag, Bergbau und Ölförderung, aber auch mit Landhandel und Drogenproduktion.
Der Fall von Nuevo Amanecer Hawai ist noch komplexer. Diese Gemeinde liegt in einem riesigen Gebiet namens El Gran Pajonal, was “Die große Weide” bedeutet. Manche führen den Namen auf eine alte koloniale Fantasie zurück, in der es darum ging, den Ort mit Weideland für das Vieh zu füllen. El Gran Pajonal wird seit jeher von den Ashéninka und Asháninka bewohnt, den wichtigsten ethnischen Gruppen in Nuevo Amanecer, wo auch Matsiguenga, Yánesha und gemischtrassige Völker leben. (Das Kulturministerium erkennt die Existenz von 55 indigenen Gruppen in Peru an, von denen 51 im Amazonasgebiet leben).
Die Gemeinschaft besteht aus einer einzigartigen interethnischen Verbindung, die aus den Erfahrungen der Vertreibung und des Überlebens entstanden ist. Wenn sie ihre Geschichte erzählen, sagen sie, dass sie vier Jahre in Frieden gelebt haben. Zum ersten Mal wurden sie 1987 von ihrem Land vertrieben, als die aufständischen Gruppen “Leuchtender Pfad” und “Movimiento Revolucionario Túpac Amaru” ihren Krieg gegen den Staat in den Regenwald brachten und sogar den wichtigen indigenen Führer Alejandro Calderón töteten. Das Volk der Asháninka bildete eine Armee, um diesen Tod zu rächen und die Eindringlinge zu vertreiben. Dabei setzten sie ihre traditionellen Kampfmethoden ein: giftige Pflanzen und kodierte Pfiffe, die es ihnen ermöglichten, sich gegenseitig zu finden und den Feind in einem dichten Wald anzugreifen, der den städtischen Eindringlingen unbekannt war.
“Neuer Sonnenaufgang”
Víctor Pío war damals ein Teenager, und seine Gemeinde hatte einen anderen Namen. Sie wurde Piriali genannt, nach dem Fluss, an dem sie sich ursprünglich niedergelassen hatte. Er, seine zwei Brüder, zwei Schwestern und der Rest der Familien von Piriali folgten ihrem Anführer Mauro Pío Peña in die nächstgelegene Stadt, Satipo. Sie fanden Zuflucht in einem Kloster, so wie Hunderte von Eingeborenen, die damals vor dem Krieg flohen. So lernten die meisten von ihnen Spanisch zu sprechen, Nudeln, Reis und Lebensmittel zu essen, die nicht gejagt, gezüchtet oder gefischt wurden. So begann Víctor in einer Erfrischungsmittelfabrik zu arbeiten. So lernte sein Vater Mauro grundlegende medizinische Hilfe, Buchhaltung und verschiedene Fähigkeiten, die ihn zu der einfallsreichen und inspirierenden Führungspersönlichkeit machten, von der heute alle sprechen.
Sie alle lebten im Schutz der Kirche bis Anfang der 2000er Jahre, als die Streitkräfte verkündeten, dass im Gran Pajonal wieder Frieden herrsche. Mauro ermutigte die Mitglieder der Gemeinde, zurückzukehren und sie gemeinsam wieder aufzubauen. Diesmal jedoch unter einem neuen Namen: Nuevo Amanecer Hawai. Der Name, der “Neuer Sonnenaufgang” bedeutet, ehrt auch die “hawaiianische” Art von Ananas, die in der Region wächst und die sie bei ihrer Ankunft gerne vorfanden. Diesmal siedelten sie sich oberhalb des Flusses an, höher in den Bergen, in einem idealen Terrain für den Kaffee, den sie anbauen wollten, und folgten damit Mauros Traum, eine moderne und produktive Gemeinschaft zu werden.
Von 2004 bis 2008 stellte sich Nuevo Amanecer Hawai eine blühende Zukunft vor, zu der auch der Bau einer Schule gehörte, um das Wissen, das sie in der Stadt erworben hatten, zu vertiefen. Doch seit den späten 2000er Jahren haben Holzfäller begonnen, in der Zone zu arbeiten, dank unregelmäßiger Konzessionen der regionalen Behörden, die die Ansprüche der Indigenen auf Landbesitz und Umweltschutz nicht anerkennen.
Die Ermordung von Mauro Pío und seinem älteren Sohn Gonzalo
Mauro Pío konzentrierte sich darauf, die Titel für die kommunalen Ländereien zu erhalten. Er reiste ständig nach Satipo, besuchte Rathäuser und Ministerien, wie es indigene Führer in Peru täglich tun. Er war auch geschickt darin, Ablehnungen, Aufschübe und falsche Versprechungen zu akzeptieren, denn er wusste, dass die Hälfte seiner Gesprächspartner wahrscheinlich ein Geschenk von einem befreundeten Holzfäller erhalten hatte. Aber er kehrte immer voller Optimismus in die Gemeinde zurück, hatte Süßigkeiten für die Kinder dabei und Pläne, die er mit seiner Familie besprechen wollte. Er vermittelte ihnen seine Visionen von einem wohlhabenden Ort, der in der Lage ist, traditionelles indigenes Wissen mit modernen Praktiken zu verbinden und ein Leben außerhalb der Armut zu ermöglichen.
Bei einem dieser Besuche in der Stadt, nachdem er die Resolution zur Einweihung der Gemeindeschule abgeholt hatte, wurde Mauro Pío auf offener Straße von einem Arbeiter des Unternehmens Forests’ Products erschossen. Es war der 27. Mai 2013, eine Woche vor einem geplanten Treffen mit dem Vorsitzenden des Ministerrats, der bei der Vergabe von Landtiteln helfen sollte. Nach seinem Tod wurde sein älterer Sohn Gonzalo zum Anführer ernannt. Er kämpfte weiter für die Landtitel, während er an der Universität studierte und die Sache des Vaters in Bezug auf die Erziehung der Kinder der Gemeinschaft weiterführte. Doch im Jahr 2020 wurde auch er ermordet, nachdem er zusammen mit seiner Frau entführt worden war, die den Angriff überlebte.
Willkommen in Nuevo Amanecer Hawai
Im Anschluss an diese Geschichte sind Nuno und ich nach Nuevo Amanecer Hawai gereist. Wir trafen nicht nur auf traurige Erinnerungen im Zusammenhang mit diesen Morden, sondern auch auf eine großzügige, äußerst gastfreundliche Gemeinschaft, die den Lebensraum, den sie verteidigt, gerne zeigt. Und wir trafen andere Söhne und Töchter von Mauro. Beatriz, die uns erzählte, dass sie vor unserer Ankunft einen Traum hatte. Darin bat ihr Vater sie, nett zu den Besuchern zu sein, sie zu beherbergen und sie freudig zu empfangen, wie es die Gemeinschaft immer tun sollte.
Nach der langen Fahrt dorthin kamen wir schließlich um Mitternacht an. Unser erster Morgen begann mit einem reichhaltigen Frühstück: Kaffee aus ihrer Ernte und ein gegrillter Santani-Vogel, den wir neugierig aßen, ohne zu wissen, dass er ihnen heilig ist. Unsere Gastgeber brachten uns in den Gemeinschaftsraum, wo eine Versammlung beginnen sollte. Alle waren gekommen, um der Versammlung beizuwohnen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene saßen auf Holzbänken in einer großen Hütte, in deren Mitte sich eine Tafel befand. Die Leiter sprachen. Zuerst Víctor, der uns begrüßte und sagte, dass sie sich sehr über unseren Besuch freuen und dass sie gerne andere aufnehmen, die ihr Land und ihre Lebensweise kennen lernen wollen.
Der derzeitige Leiter, Jhover Meléndez, setzte die Begrüßung fort und erläuterte mit Hilfe von Elvis, dem Bruder von Víctor, das Programm, das sie für uns vorbereitet hatten. Es war an die Tafel geschrieben. Erstens: Empfang der Besucher, zweitens: Exkursion, drittens: Besuch des Hauses der Gemeindemitglieder, viertens: Besuch der nahe gelegenen heiligen Stätten.
“Kitaitirí hermanita”
Für den Empfang der Besucher schlugen sie mir vor, aus der Gemeinschaft herauszugehen und meinen Auftritt zu wiederholen, dieses Mal mit der Kamera, um meine Ankunft und ihre Begrüßung zu registrieren. Ich folgte dieser Aufforderung, bat aber Nuno, sich irgendwo zu verstecken, da es seltsam sein könnte, dass ein weißer Europäer, der mich erwartet, unter den Menschen ist.
Ich betrat den Gemeinschaftsraum in Begleitung eines Hundes und hörte den kräftigen Klang der Schnecke, mit der sie die Versammlung ankündigen. Als ich das Gemeinschaftshaus erreichte, blies Emilio gerade eine Schnecke, und aus verschiedenen Richtungen tauchten langsam Leute auf, die mich begrüßten. Einer nach dem anderen kam auf mich zu, begrüßte mich mit einem Händedruck und sagte “Kitaitirí hermanita” (“Guten Morgen, Schwester”), wobei er Asháninka und Spanisch mischte. Sie hießen mich herzlich willkommen, und auch die Kinder grüßten schüchtern, aber freundlich. Vom jüngsten bis zum ältesten Gemeindemitglied trugen sie alle die traditionellen Cushmas, handgefertigte Tuniken, die mit einem Hüftwebstuhl hergestellt werden.
Im Gemeinschaftshaus hielt Víctor eine Rede und wir teilten uns alle etwas zu essen. Sie kündigten an, dass wir zu einer Wanderung in den Regenwald aufbrechen und am Abend desselben Tages zurückkommen würden. Nuno und ich beschlossen, wegen des möglichen Regens ein zusätzliches Paar Kleidung mitzunehmen. Außerdem hatten wir zusätzliche Batterien und Speicherkarten vorbereitet. Später waren wir froh, dass wir das getan hatten, denn wir kehrten erst drei Tage später zurück.
“Exkursion”
An diesem ersten Tag nach der Versammlung hatten wir nicht erwartet, dass wir auf eine Reise gehen würden, die vom Land, dem Wetter und den kollektiven Entscheidungen der dreißig Personen, die mit uns unterwegs waren, geprägt sein würde. So lernten wir, dass “Exkursion” in Nuevo Amanecer Hawai bedeutet, zu wandern, zu zelten, Essen zu teilen und unsere Gastgeber beim Fischen, Spielen und Singen im Regenwald zu beobachten. Und so packten wir unsere Sachen, ohne zu wissen, dass wir völlig erschöpft zurückkommen würden, wie Vagabunden aussehen würden, aber mit einem der tiefsten Gefühle der Dankbarkeit, die wir je erlebt haben.
Das war der Beginn eines Projekts, das darauf abzielt, Teile des Universums zu teilen, das jede Gemeinschaft bewohnt und das von dem Terrain, auf dem sie lebt, ihren kollektiven Aktivitäten und ihren Verbindungen zu anderen als menschlichen Wesen zutiefst beeinflusst ist. Mündliche Überlieferungen, Erinnerungen, Lieder und andere Informationen, die sie für geeignet hielten, werden nun genutzt, um Tore zu Lebensweisen zu schaffen, die vom Aussterben bedroht sind, und gleichzeitig Hinweise auf die unsichtbaren und geliebten Verbindungen zu geben, die sie aufrechterhalten.
Anm.d.Red.: Dieser Beitrag zur “After Extractivism”-Textreihe der Berliner Gazette basiert auf dem Soundstück “Chronicles of threatened rainforests and ghostly caretakers”, das im Rahmen des Eco-social renewal Festivals im Silent Green in Berlin (25.-27. November) ausgestellt wird; die englischsprachige Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de
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Millennials und Zoomer – Klima und Krieg verängstigen junge Leute.
Von Katharina Körting
Millennials und Zoomer – Sie übernehmen Verantwortung, wollen die Welt retten und für die Fehler der Alten geradestehen.
Dies wird kein gerechter Text, beschäftigt er sich doch mit etwas, das es nur als Behauptung gibt: DIE JUGEND. Überdies meint er von dieser nur den kleinen, tonangebenden Teil, den die tonangebenden Medien favorisieren: junge Erwachsene, die im sogenannten globalen Norden daheim sind, keine existenziellen Geldsorgen, Abitur gemacht, studiert haben und die Welt besser machen wollen – also diejenigen mit einer Einstellung, die man früher „irgendwo links“ einsortierte.
Soziale Gerechtigkeit: Nemesis, an die Arbeit bitte
Von Ulrike Winkelmann
Oft fällt bei Fragen der Umverteilung der Begriff „Neiddebatte“. Doch dieser ist eine Beleidigung des politischen Verstands.
Wenige Begriffe bringen mich so zuverlässig auf die Palme wie die „Neiddebatte“. Schon beim Schreiben des Wortes werde ich sauer, merke ich gerade.
Mit „Neiddebatte“ versuchen FDP-Vizefraktionschefs und ihre Seelenverwandten seit jeher, Umverteilungsdiskussionen abzuwürgen – und zwar immer dann, wenn sie besonders interessant, also konkret werden. Zuletzt ging es um den Anspruch von Zahnärztinnen, höheren Angestellten und Unternehmensberatern, sich das Fahren großer Autos von der Steuerzahlerin bezuschussen zu lassen.
Die Freunde des Dienstwagenprivilegs behaupteten nun, schon im Begriff „Privileg“ eine Neiddebatte zu erkennen, da es sich ja um ein Recht und keine Bevorzugung handle. Doch ist ja eben genau das der Skandal, dass hier ein Gesetz unbegründbare Vorrechte schafft. Oder mag jemand begründen, was die unersetzliche Deutsche Umwelthilfe ausgerechnet hat? Je nach Porsche, Audi- oder Mercedes-Modell zahlt demnach der Staat bis zu 154.000 Euro dazu. Die meisten superteuren Wagen, die Sie sehen, sind Dienstwagen. Die Fördersumme wächst mit dem Maß, in dem die Karre Verachtung für Mitmensch und Planet bezeugt.
Eine Beleidigung des politischen Verstands
Das gehässig hingeworfene „Das ist doch eine Neiddebatte“ aber ist kein Argument, sondern eine Beleidigung des politischen Verstands auf gleich mehreren Ebenen. Denn behauptet wird, es gehe nicht um Gerechtigkeit, sondern um ein Gefühl, genauer: um ein soziales Gefühl, das historisch und kulturell hinlänglich diskreditiert ist, Stichwort Todsünde. Hervorgerufen werden soll mit dem Neidvorwurf die errötete Schwester des Neids, die Scham: Stell dich in die Ecke, und zwar mit dem Gesicht zur Wand, dass du es wagst, anderer Leute Privileg infrage zu stellen.
Gerechtigkeit und göttliche Rache verfolgen Verbrechen
Nach diesem Muster lässt sich natürlich jede Form der Ungleichbehandlung neu beschreiben. So führen am Ende auch die Mädchen in Afghanistan eine Neiddebatte gegen die Taliban, und haben die Sklaven eine Neiddebatte gegen die Plantagenbesitzer geführt.
Das dürfte auch der Punkt sein, der mich bei diesem Begriff jedes Mal so aufregt: Es wird nicht nur im konkreten Einzelfall, sondern generell damit nahegelegt, es gebe in der Politik keine Gerechtigkeitsdimension, ja, Gerechtigkeit habe gar nicht ihr Gegenstand zu sein. Ein paar Tausend Jahre weltweites Nachdenken über das friedliche und gedeihliche Zusammenleben von Menschen wird mal eben weggewischt, und dies in eine übergriffige, unverschämte Unterstellung verkleidet: Du bist ja nur neidisch.
Während unsere Politiker trefflich über Für und Wider der Globalisierung streiten, hat China längst die Vorteile internationalen Handels und Kulturaustausches – wohl aufgrund der Erfahrung mit der „alten Seidenstraße“ – verinnerlicht und zeigt dem stupenden Westen, dass man internationale Beziehungen auch ohne Macht und Gewalt zum gegenseitigen Vorteil pflegen kann.
Blindwütig mit den hausgemachten Fehlern beschäftig, haben unsere Politiker den Blick für die Realitäten unserer Welt verloren und wollen uns in die falsche Richtung drängen: weg von China. Dabei übersehen sie geflissentlich oder haben es bewusst verschlafen, dass China mittlerweile mit dem“globalen Süden“ Geschäfte im Volumen gleichgroß mit denen der USA und Europa zusammen betreibt. Nur, im Gegensatz zur US-Kuli-Mentalität betreibt China die „neue Seidenstraße“ (BRI) im Geist einer ausgewogenen Partnerschaft und hilft seinen Partnern, dem Beispiel Chinas für den eigenen Erfolg zu folgen. Dazu fördert China das Potential seiner Partner durch den Aufbau einer soliden Infrastruktur, baut Fabriken und installiert eine zeitgerechte IT-Technik inklusive Bildung und Ausbildung. Wenn unsere hoch- bzw. langnäsigen Politiker das nicht verstehen wollen oder können, sollten sie Firmen wie Bosch, VW, BMW und viele mehr befragen, warum deren Geschäfte in China trotz Pandemie besser laufen als die im eigenen Land. Oder Duisburg und Piräus, wie diese die Zusammenarbeit mit China bewerten.
Beziehungen und Geschäfte nur zum eigenen Vorteil und ohne Respekt vor der Kultur des Anderen sind langfristig zum Scheitern verurteilt. Ohne Respekt und Austausch von Kultur ist jede Beziehung hohl und morsch. Ein Reichtum unserer Welt ist die Vielfalt der Kulturen. Unsere christlich-abendländliche Kultur mit ihrem Aufruf, sich due Erde untertan zu machen (1.Mose 1,27-28), ist da ein eher fragwürdiges Leitbild. China hingegen zeigt uns, wie man seit nunmehr 5000 Jahren das stets größte und menschenreichste Land der Welt zum Wohl des Volkes führt.
Das mögen wir mit unserer Bildung nicht immer verstehen. Respekt fordert aber allemal, dass und wie China in nur vier Jahrzehnten sein Volk aus 90% Armut herausgeführt hat, und zwar mit den Gewinnen, die es mit den Produktionsaufträgen aus dem Ausland und den daraus entwickelten Eigeninitiativen und -Innovationen zum Wohl des Volkes realisiert hat. Daran könnten wir und insbesondere die USA uns ein Beispiel nehmen. Aber nein, immer wieder dieselben eigenen Fehler machen, weil man die ja so gut kennt.
Zum Gedeihen braucht unsere Welt Frieden und Kooperation und nicht Aufrüstung mit Waffen und/oder Missachtung bis Hass und Gewalt. Wenn unsere Politiker nicht sehen wollen, dass ein Bruch mit China zum totalen Zusammenbruch unserer Wirtschaft führt, liefern sie selber den Beweis ihrer mangelnden Kompetenz und Verantwortung für das Amt, in das sie gewählt worden sind. In dem kümmerlichen Rest von Demokratien im globalen Norden müssen wir alles tun, um zu verhindern, dass wir trotz der scheinbar blinden Politiker nicht in die falsche Richtung gedrängt werden. Der Weg ist das Ziel, so Konfuzius, und nicht der geile Profit für wenige. Und der Weg kann sehr lang sein. Nicht gerade das Traumziel der Eigennutzer.
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Unten — Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.
Im Umgang mit explodierenden Strompreisen. Die exorbitanten Strompreise bescheren den Energieunternehmen leistungslose Extraprofite. Dieses Marktversagen ist seit 200 Jahren bekannt.
Die aktuellen Extrempreise beim Strom wirken völlig neu, doch tatsächlich ist das Grundprinzip schon seit 200 Jahren bekannt. Allerdings ging es damals nicht um Elektrizität, sondern um Lebensmittel.
Anfang des 19. Jahrhunderts überlegten die beiden englischen Ökonomen Thomas Malthus und David Ricardo, was wohl passieren würde, wenn die britische Bevölkerung ständig anwüchse. Der Ausblick des Freundespaares war düster. Malthus hatte nämlich beobachtet, dass sich die vielen Menschen nur ernähren ließen, wenn auch schlechte Böden bewirtschaftet wurden. Diese minderwertigen Felder erforderten jedoch mehr Arbeit und erbrachten eine geringere Ernte, weswegen der Getreidepreis deutlich steigen musste, damit sich der Anbau lohnte.
Die Nahrungsmittel wurden also für alle Kunden teurer, während gleichzeitig jeder Landbesitzer diesen erhöhten Getreidepreis kassierte – auch die Eigentümer der besten Böden, die mit wenig Aufwand große Ernten einfahren konnten. Die Besitzer dieser produktiven Felder erhielten also ein leistungsloses Zusatzeinkommen, das Malthus „Grundrente“ nannte.
Genau diese Art der „Rente“ kassieren jetzt viele Stromanbieter. Der Preis für Elektrizität klettert in bisher unbekannte Höhen, weil ein Teil des Stroms mit Gaskraftwerken produziert wird. Gas aber ist sehr teuer, seitdem Russland seine Pipelines geschlossen hat. Also laufen die Gaskraftwerke nur, wenn der Strompreis noch höher liegt. Von diesen hohen Preisen profitieren aber auch Kohlekraftwerke oder Windparkbesitzer, obwohl ihre Kosten viel niedriger liegen. Wie einst die Bauern in Großbritannien fahren sie ein leistungsloses Einkommen ein.
Für die beiden erzliberalen Ökonomen Malthus und Ricardo war es völlig undenkbar, dass der Staat in den Markt eingreifen und die leistungslosen Einkommen wieder absaugen könnte. Stattdessen ging Ricardo so weit, dass er den baldigen Untergang des Kapitalismus vorhersagte. Er erwartete, dass der Feudalismus zurückkehren würde, weil durch die Nahrungsknappheit sämtliches Geld an den landbesitzenden Hochadel fließen würde.
Menschen müssen essen – sodass jeder Preis gezahlt wird, wenn Nahrungsmittel rar werden. Gleiches gilt für Energie
Diese Prognose erwies sich als falsch. Die Industrialisierung setzte sich ungebremst fort, und zugleich blieben die Preise der Grundnahrungsmittel stabil, obwohl sich die britische Bevölkerung zwischen 1811 und 1841 von 12,5 auf 26,7 Millionen verdoppelte. Malthus und Ricardo hatten die Leistungsfähigkeit der britischen Landwirtschaft unterschätzt, die permanent produktiver wurde.
Trotzdem sollte man sich nicht über Malthus und Ricardo lustig machen. Denn als Erste haben sie akkurat beschrieben, dass Märkte versagen, sobald es zu Knappheiten bei existenziellen Gütern kommt. Menschen müssen essen – sodass jeder Preis gezahlt wird, wenn Nahrungsmittel rar werden. Gleiches gilt für Energie. Natürlich lässt sich Strom sparen, aber ganz ohne Strom geht es nicht, weswegen er jetzt absurd teuer wird.
Daher führt es in die Irre, das Geschehen auf den Energiemärkten mit Ebay zu vergleichen. Niemand ist gezwungen, eine Schrankwand oder eine Jeans bei den Online-Auktionen zu ersteigern. Aber eine Gasheizung muss im Winter laufen.
Auch bringt es nicht weiter, darauf zu verweisen, dass immer gewisse „Renten“ zu verzeichnen sind. Zum Beispiel gibt es sehr ertragreiche Ölfelder, vor allem im Nahen Osten, während Fracking ziemlich aufwendig ist – weswegen die Saudis an einem Barrel Öl mehr verdienen als ihre US-amerikanischen Konkurrenten.
Diese kleinen Unterschiede stören nicht weiter und gehören zum normalen Marktgeschehen. Aber dieser Normalzustand ist derzeit vorbei: Im vergangenen Monat haben sich die Preise an der Strombörse verdreifacht. Das ist völlig neu, zumindest in Friedenszeiten.
Elegant wäre eine Übergewinnsteuer, die die Renten wieder abschöpft – und an die Bedürftigen umverteilt
Wie ungewöhnlich die jetzige Gas- und Stromnot ist, macht ein Vergleich mit der Ölkrise 1973 deutlich. In die kollektive Erinnerung hat sich ein markantes Bild eingebrannt: die leeren Autobahnen. An vier Sonntagen vor Weihnachten galt ein generelles Fahrverbot, um Erdöl einzusparen. In einer Fernsehansprache hatte Kanzler Brandt die Nation auf diese drastische Maßnahme eingestimmt: „Zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges wird sich … unser Land in eine Fußgängerzone verwandeln … Die junge Generation erlebt zum ersten Mal, was ein gewisser Mangel bedeuten kann.“
Ist dieses „Nicht-wissen-wollen-dürfen“ nicht den Reisenden geschuldet welche-r für die Kosten nicht selber aufkommen müssen, gleichwohl eine Physikerin es hätte Wissen müssen? Ein Hausmeister braucht es nicht, da lag die Absicht auf der Hand!
Eine Kolumne von Bernhard Pötter
Irgendwas ist bei mir mächtig schiefgelaufen. Ich bin ein privilegierter alter weißer Mann. Ich lebe in Berlin. Ich bin Journalist. Ich schreibe seit 30 Jahren über Umweltpolitik. Und ich bin trotzdem kein Zyniker.
Aber letzte Woche telefonierte ich mit meinem Kollegen Bill in Texas. Wir sprachen über die Hitze in den USA und Europa, die Unwetter, die Fluten und Brände. Und immer wieder schlich sich der Teufel des „Haben wir es Euch nicht schon lange gesagt?“ in unser Gespräch.
Das wirklich Erstaunliche an diesem wieder einmal heißen Dürresommer ist ja: Wie erstaunt alle über diese Zustände sind. Ja, wir haben in der Schule alle in Physik und Chemie geschlafen, aber dieses „Nichtwissenwollen und dann überrascht die Augen reiben“ ist schon bemerkenswert. Wie jetzt? Wenn man die Atmosphäre mit Treibhausgase aufheizt, wird es immer wärmer? Wirklich? Warmes Wasser dehnt sich aus und überflutet die Strände? Was? Je heißer und trockener es wird, desto weniger Regen bewässert unsere Felder? Echt jetzt? Wenn es nicht mehr regnet, werden selbst große Flüsse zu Kinderplanschbecken? Huch! In der Dürre können auch in Deutschland Wälder brennen? Und selbst Schweizer Qualitätsgletscher schmelzen ab, wenn die Sonne glüht? Unglaublich: Starkregen löst das Problem nicht, sondern führt nur zu Überschwemmung? Zwei und zwei sind wirklich vier? Wenn wir das mal gewusst hätten!
Ein bisschen Ignoranz, schön und gut, das hilft durchs Leben. Aber das hier war Realitätsverweigerung mit gespieltem Erstaunen. Früher gab es für die große Mehrheit keinen Klimawandel, dann war er kein Problem, dann wollten wir uns lieber anpassen, und vor allem bloß nicht übertreiben und auf keinen Fall Panik machen! Klimakrise war in diesem Denken weit weg und etwas für Opfer: arme Länder, arme Leute, arme Schweine. Plötzlich sind es auch wir reichen Länder, wir reichen Leute und unsere reichen Kuscheltiere, denen der Boden unter den Füßen brennt.
Ob Wirtschaft, Euro, Flüchtlinge oder Krieg: Immer gab es in den letzten Jahren eine dringendere Krise. Die gute Nachricht der letzten Sommer, wenn ich das mal zynisch sagen darf, ist aber: Erdüberhitzung – und bisher sind es ja „nur“ 1,2 Grad – gehört jetzt auch dazu. Man kann sie nicht mehr wegdrücken. Wir hätten es nicht nur wissen können. Wir wussten es. Da muss man gar nicht so überrascht Sondersendungen im Fernsehen ansetzen oder von „Jahrhundertfluten“ reden, die in zwei Jahren wiederkommen.
Klimakrise und Klimapolitik: Ein Sommer geht zu Ende
Eine Kolumne von Kersten Augustin
Am Ende des Hitzesommers schaut unser Kolumnist einen Horrorfilm und liest in der Bibel. Aber auch dort findet er keine Lösung für die Klimakrise.
Der Sommer geht zu Ende! Noch nie klang dieser Satz so vorfreudig wie in diesem Jahr. Morgens ist jetzt manchmal das Fenster leicht beschlagen, aber vielleicht liegt das auch am Pfusch am Bau.
Ein Sommer geht zu Ende, den man sich auch als den Beginn eines Horrorfilms vorstellen könnte. Ein Kameraflug über die französische Atlantikküste. Wir sehen einen Campingplatz von oben. Idylle. Am Horizont etwas Rauch. Dann explodieren Gasflaschen, Menschen rennen schreiend aus ihren brennenden Zelten. Dröhnende Hans-Zimmer-Musik setzt ein. Cut. Eine Fernsehmoderatorin steht in der Mitte eines ausgetrockneten Flussbettes. Cut. Ein weinender Fischer zieht tote Fische aus der Oder. Cut. Schwarzer Bildschirm.
In einem Horrorfilm würden in der nächsten Szene die Zombies aus ihren Löchern steigen. Aber die Realität ist brutaler. Da steigt ein Mann mit einer Ledertasche aus dem Flugzeug, senkt die Steuern auf Erdgas und grinst spitzbübisch. Dieser Albtraum heißt Olaf Scholz. Und die Untoten sind die Gasunternehmen, die als erstes Robert Habeck fressen, der in dieser Geschichte leider auch nicht zum Helden taugt.
Wenn Sie mit apokalyptischen Filmen nichts anfangen können, können Sie ja die Bibel aus Ihrem Nachtschrank nehmen. Denn auch dort wird der Sommer 2022 und das Fischsterben in der Oder beschrieben. Zum Beispiel im Buch Hosea: „Darum wird das Land dürre stehen, und alle seine Bewohner werden dahinwelken; auch die Tiere auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer werden weggerafft.“
Vom Stammtisch der späteren Wüstennomaden. Sie schaffen das !!
Es brennt in der Gegenwart
Ich glaube nicht daran, dass uns ein Gott straft oder rettet, das müssen wir schon selber tun. Nur war das politische Zeitfenster, in dem eine Mehrheit der Bevölkerung die Klimakrise nicht mehr geleugnet hat, bis zu dem Moment, in dem sie mit voller Wucht den Alltag bestimmt, viel zu kurz. Was folgt daraus?
Eine realistische Klimapolitik kann sich nach diesem Sommer nicht darauf beschränken, für eine klimaneutrale Welt 2050 zu kämpfen. Vielleicht ist dieses Ziel sowieso utopisch und unvereinbar mit Moderne.
Seit der Industriellen Revolution steigt die Konzentration von CO2 in der Luft. Wohlstand für alle, das gab und gibt es nur mit immer mehr CO2. Nur wenn die Weltwirtschaft zusammenbrach, wie 2009 und 2020, sanken auch die Emissionen.
Natürlich bleibt das Ziel einer klimaneutralen Welt richtig. Aber dieser Sommer hat gezeigt, dass es nicht reicht, für ein fernes Ziel zu kämpfen, wenn schon die Gegenwart brennt.
Unten — Aktivist*innen von Extinction Rebellion spielen Koalitionsverhandlungen von SPD, Grüne und FDP (vlnr Christian Lindner, Olaf Scholz, Analena Baerbock, Robert Habeck)
Die politischen Esel kommen alle aus den gleichen internationalen Stall. Ein Neuer wartet lange hinter der nächsten Ecke. Geld ohne Arbeit und Verantwortung bietet nur die Politik.
Von Niklas Franzen
Die Präsidentschaftswahl am 2. Oktober ist in der Landesgeschichte die wichtigste. Siegt Bolsonaro erneut, könnte der Umbau zur Diktatur beginnen.
Im politischen Diskurs sollte man sparsam mit Superlativen sein. Es ist allerdings nicht übertrieben, die für den 2. Oktober angesetzte Präsidentschaftswahl in Brasilien als die wichtigste Wahl in der Geschichte des Landes zu bezeichnen. Denn nichts weniger als die Demokratie steht auf dem Spiel. Mit Jair Messias Bolsonaro tritt nicht irgendein Politiker zur Wiederwahl an. Der ultrarechte Amtsinhaber hat nie einen Hehl daraus gemacht, wer er ist und wofür er steht: Er ist ein notorischer Antidemokrat, ein hasserfüllter Rechtsradikaler, ein glühender Bewunderer brutaler Militärdiktaturen.
In den dreieinhalb Jahren seiner Amtszeit hat Bolsonaro eine Spur der Zerstörung im größten Land Lateinamerikas hinterlassen. Seine Angriffe gegen die Umwelt, internationale Konventionen und demokratische Normen haben Brasilien durchgerüttelt. Bolsonaro hat alte Wunden aufgerissen, neue hinzugefügt. Für Typen wie Bolsonaro sind Wahlen nur ein Mittel zum Zweck. Viele Analyst*innen sind sich sicher: Der ultrarechte Staatschef hätte längst geputscht, wenn er könnte. Doch Brasiliens Institutionen haben sich in den letzten Jahren als überraschend widerstandsfähig erwiesen und vielen autoritären Sehnsüchten des Pöbelpräsidenten getrotzt.
Es ist nicht gelungen, einen offenen Bruch zu provozieren. Ein Grund zur Beruhigung ist das trotzdem nicht. Denn Bolsonaro hat andere Wege gefunden, um das demokratische System auszuhöhlen: mit Attacken auf Medien und die Justiz, durch staatlich legitimierte Gewalt, Eingriffe im Bildungsbereich und den Aufbau von klaren Feindbildern. Wie auch in anderen Ländern geschieht die Erosion der brasilianischen Demokratie in vielen kleinen Schritten, die oft nicht direkt wahrnehmbar sind. In ihrem Buch „Wie Demokratien sterben“ schreiben die Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt: „Aber es gibt noch eine andere Art des Zusammenbruchs, die zwar weniger dramatisch, aber genauso zerstörerisch ist. Demokratien können nicht nur von Militärs, sondern auch von ihren gewählten Führern zu Fall gebracht werden, von Präsidenten oder Ministerpräsidenten, die ebenjenen Prozess aushöhlen, der sie an die Macht gebracht hat.“
In Europa wird viel über das Konzept der „illiberalen Demokratien“ diskutiert, in denen eine demokratische Fassade aufrechterhalten wird, um ihre Substanz von innen aufzulösen. Auch hier verschwinden Demokratien meist nicht mehr über Nacht, mit einem großen Knall. Es sind Entwicklungen, oft langfristig angelegte Projekte. Der brasilianische „Autoritarismus über Wahlen“ steckt noch in seiner Anfangsphase. Und in vielen Punkten wurden Bolsonaro Grenzen aufgezeigt, vor allem von der Justiz. Der Blick in andere Länder offenbart aber auch: Wenn ein Kandidat wiedergewählt wird, öffnet das die Türen für einen autoritären Staatsumbau. Die Entwicklungen in Ungarn, Polen und der Türkei sollten deshalb eine Warnung für Brasilien sein. Eine zweite Amtszeit Bolsonaros wäre ein schwerer Schlag für Brasiliens junge Demokratie.
So hat er bereits erklärt, den Obersten Gerichtshof umbauen zu wollen. Eine Mehrheit zugunsten konservativer Richter*innen könnte das Gefüge von Staat und Gesellschaft nachhaltig verrücken. Ähnlich wie in den USA, wo unlängst der Supreme Court das Recht auf Abtreibung kippte, könnten dann auch in Brasilien Grundsatzurteile fallen. Was außerdem Sorgen bereiten sollte: Bolsonaro hat angedeutet, rechte Fanatiker in ein mögliches neues Kabinett zu holen. Und er wird wahrscheinlich versuchen, autoritäre Projekte wie eine Reform des Antiterrorgesetzes voranzupeitschen. Eine zweite Amtszeit Bolsonaros wäre auch für die Umwelt eine Katastrophe. Der Raubbau am Regenwald hat bereits jetzt verheerende Auswirkungen. Die Prozesse, die unter Bolsonaro an Fahrt aufgenommen haben, werden sich nur schwer zurückdrehen lassen. Vier weitere Jahre unter „Kapitän Kettensäge“ könnten für das Weltklima dramatische Folgen haben. Somit ist die Wahl im Oktober nicht nur eine Richtungsentscheidung über die Zukunft des Landes, sondern eine über den gesamten Planeten.
Datei:2 de Outubro é dia de luta – Bolsonaro tem que sair – Impeachment já (2021) (Porto Alegre, Brasilien) 6.jpg
Erstellt: 2. Oktober 2021
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Unten — Protesto Fora Bolsonaro em Campinas em 29.05.2021. O protesto partiu do Largo do Rosário, atravessando a Av. Francisco Glicélio, pela Av. Dr. Moraes Sales e pela Rua Irmã Serafina.
Der Krieg in der Ukraine bestimmt vollkommen zu Recht die Politik, auf internationaler wie nationaler Ebene. Von einer „Zeitenwende“ ist im politischen Berlin die Rede. Doch dieser Begriff verdeckt mehr, als er hilft. Nüchtern betrachtet geht es um drei Dinge:
Die Realität zu sehen, naive Fehleinschätzungen offenzulegen und eine neue Politik demokratisch zu gestalten und zu verantworten. Dies betrifft nach dem russischen Überfall auf die Ukraine den Zerfall der europäischen Ordnung, die sich nach 1989 entwickelt hat. Darüber hinaus dürfen wir aber auch die gleichzeitig drängenden Gegenwarts- und Zukunftsfragen nicht vernachlässigen: die soziale Ungleichheit, den digitalen Strukturwandel und die ökologischen Krisen.
Insbesondere mit Blick auf die ökologische Herausforderung gilt es, endlich ebenfalls einen neuen Wirklichkeitssinn zu entwickeln: Der Klimawandel steht uns nicht bevor, sondern wir befinden uns bereits mitten in der Klimakatastrophe. Wir ignorieren das exponentielle Artensterben, obwohl wir längst in einer globalen „Gesellschaft des Verschwindens“[1] leben. Auf den ansteigenden Meeren schwimmen unsere Plastikinseln, deren Partikel über die globalen Stoffströme wieder in unsere Körper zurückfinden. Unser Versuch, den Atommüll aus gut fünfzig Jahren „friedlicher“ Nutzung der Kernenergie „für einen Zeitraum von einer Million Jahren“[2] zu „entsorgen“, ist Ausdruck einer „Metaphysik der Endlagerung“[3]. Angesichts dieser Entwicklungen brauchen wir mehr sozialen und ökologischen Realitätssinn. Wir leben nicht nach dem Grundsatz: Nach uns die Sintflut. Vielmehr findet die Sintflut bereits neben uns statt.[4]
In dieser Situation müssten wir eigentlich versuchen, mit der Natur einen „Friedensvertrag“ zu schließen. Doch die Natur wird nicht mit uns verhandeln, nicht über den Biodiversitätsverlust, nicht über Extremwetter und auch nicht über die Polarschmelzen. Eine ökologische Schubkraftumkehr erscheint kaum noch möglich. Wir können nur noch versuchen, den anthropozänen Drift der Erdsysteme zu verlangsamen und unsere Zukunft ökologisch zu gestalten. Dies bedeutet aber, dass wir vor der schwierigsten Frage der praktischen Philosophie und der politischen Praxis stehen: Wir müssen unsere Lebensgewohnheiten fundamental ändern.
Ein zentraler Baustein dafür ist die ökologische Transformation unserer Verfassungsordnung, die unser individuelles und soziales Leben demokratisch regelt. Doch damit ist neben unserem ökologischen Konsumismus sogleich das zweite Grundproblem formuliert, vor dem wir verfassungsrechtlich stehen: Demokratie ist Herrschaft auf Zeit. Vor allem das parlamentarische Regierungssystem agiert in vierjährigen Legislaturperioden; und der jeweilige Koalitionsvertrag bildet die unüberwindbare Schranke jeder zukunftsorientierten politischen Phantasie. Wir müssen also zwei Dinge gleichzeitig tun: unsere Verfassungsordnung ökologischer und zukunftsoffener gestalten. Ein ökologisches Grundgesetz wäre zugleich auch ein zukunftsoffenes Grundgesetz.
Die liberale, die soziale und die ökologische Revolution
Unsere Verfassungsordnung ist das Ergebnis von Revolutionen. Die Amerikanische und die Französische Revolution des 18. Jahrhunderts haben uns den liberalen Verfassungsstaat gebracht, der die Menschen- und Bürgerrechte mit der Demokratie verbindet. Die liberale Verfassungsordnung hat sodann die zweite – soziale – Verfassungsrevolution angestoßen: Die Wirtschafts- und Eigentumsfreiheit der bürgerlichen Gesellschaft bildete die verfassungsrechtliche Grundlage der Industrialisierung. In Europa und in den USA hat die Industrialisierung zur sozialen Ausbeutung und Verelendung der Bevölkerung geführt und in globaler Perspektive den Kolonialismus noch einmal weiter befeuert. Doch während die koloniale Ausbeutung vollkommen ausgeblendet wurde, stand die soziale Frage in den Industrienationen des Globalen Nordens nun auf der politischen Tagesordnung. In Deutschland versuchte man sie noch im 19. Jahrhundert mit der Entwicklung des Interventionsstaats und der Einführung der Sozialversicherung zu beantworten.
Die zweite verfassungsrechtliche Revolution fand in Deutschland jedoch erst statt, als die Weimarer Reichsverfassung die soziale Frage mit über hundertjähriger Verspätung aufgriff: mit einem Wandel des verfassungsrechtlichen Wirtschafts- und Eigentumsverständnisses, mit Regelungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz, mit der Anerkennung von Tarifautonomie und Mitbestimmung. Ihr sozialpolitisches Programm fasste die Weimarer Reichsverfassung in ihrem Art. 151 Abs. 1 zusammen: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern.“ Das Ergebnis der zweiten Revolution war also der Sozialstaat, der sich in der Bundesrepublik voll entfaltet hat.
Heute stehen wir nach der liberalen und der sozialen Revolution vor einer dritten – ökologischen – Revolution unserer Verfassungsordnung: Die liberalen und sozialen Wohlfahrtsgesellschaften in Europa und in den USA haben sich auf Kosten des Globalen Südens und auf Kosten der globalen Natur entwickelt. Die Menschen des Globalen Nordens sind dadurch selbst zu einer Naturgewalt geworden. Damit ist die Erde in ein neues Zeitalter eingetreten: in das Erstzeitalter des Menschen, das Anthropozän.[5] Aus diesem Grund wird seit den 1970er Jahren über eine ökologische Revolution unserer Gesellschafts- und Verfassungsordnung diskutiert. Angesichts der anthropozänen Krisen kommt es nun darauf an, diese dritte Revolution in einem ökologischen Grundgesetz umzusetzen, ohne dabei die postkoloniale Frage aus den Augen zu verlieren.[6]
Staatsziel »Umweltschutz«: Das veraltete Verfassungsrecht
Das Grundgesetz versucht, die ökologische Frage mit der Staatszielbestimmung „Umweltschutz“ zu beantworten, die 1994 in unsere Verfassung aufgenommen und 2002 durch den Tierschutz ergänzt wurde: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung“, heißt es in Artikel 20a Grundgesetz (GG). Auf den ersten Blick klingt dieses Staatsziel „Umweltschutz“ nicht schlecht: Art. 20a GG verpflichtet den Staat, die Umwelt zu schützen, also beispielsweise die Artenvielfalt zu erhalten und Klimaschutz zu betreiben. Auf den zweiten Blick stellt sich jedoch die Frage: Wie kann es sein, dass angesichts der desaströsen ökologischen Bilanz der Bundesrepublik das Staatsziel „Umweltschutz“ in den vergangenen dreißig Jahren keinerlei verfassungsrechtliche Rolle gespielt hat?
Die Antwort ist ganz einfach. Art. 20a GG kennt nur einen Akteur: den Staat, dem ein weiter Ermessens-, Gestaltungs- und Abwägungsspielraum zukommt, ob, wann und wie er Umweltschutz betreiben möchte. Damit verzichtet das Grundgesetz jedoch gerade mit Blick auf den Naturschutz auf das zentrale Instrument der subjektiven Rechte, das in allen anderen Lebensbereichen für eine dynamische und innovative Rechtsentwicklung sorgt. Denn durch subjektive Rechte erhalten Bürgerinnen und Bürger die Fähigkeit, die Rechtsordnung im eigenen oder fremden Interesse in Bewegung zu setzen.[7] Dies führt zu rechtlichen Konflikten, die durch Gerichte entschieden oder durch den Gesetzgeber gelöst werden. Deshalb sind subjektive Rechte eine ganz entscheidende Quelle für eine dynamische Rechtsfortbildung. Rechtliche Konflikte halten eine Rechtsordnung auf der Höhe ihrer Zeit. Doch das Staatsziel „Umweltschutz“ wendet sich ausschließlich „objektiv-rechtlich“ an den Staat. Die Bürgerinnen und Bürger können aus Art. 20a GG kein subjektives Recht auf Umweltschutz herleiten. Deshalb kennt das Grundgesetz bisher nur ein statisches Umweltverfassungsrecht „von oben“. Was wir aber brauchen, ist ein dynamisches Umweltverfassungsrecht „von unten“: Die Bürgerinnen und Bürger müssen durch ökologische Rechte die Möglichkeit erhalten, einen effektiven Naturschutz einzufordern und gegebenenfalls einzuklagen.
Das Staatsziel „Umweltschutz“ ist aber nicht bloß statisch, es hat auch seine normative Steuerungskraft mit Blick auf die ökologische Langzeitverantwortung eingebüßt. Zwar nimmt die Regelung des Art. 20a GG mit dem Schutz der Natur auch – in Verantwortung für künftige Generationen – das Nachhaltigkeitsprinzip auf, das sich seit dem Brundtland-Bericht der Vereinten Nationen von 1987 zu dem ethischen „Weltprinzip“ entwickelt hat.[8] Doch zugleich muss man sich klarmachen: Das Nachhaltigkeitsprinzip schützt keineswegs die Natur als solche, sondern die nachhaltige Entwicklung.[9]
Was kommt nach der Nachhaltigkeit?
Diese nachhaltige Entwicklung wird heute nach Maßgabe des sogenannten Drei-Säulen-Konzepts bestimmt. Wenn aber Nachhaltigkeit auf einen angemessenen Ausgleich von sozialen, ökonomischen und ökologischen Interessen zielt: Was ließe sich dann Nachhaltiges über das Artensterben und die Klimakatastrophe, über die Vermüllung der Meere und die „Entsorgung“ atomarer Brennelemente für eine Million Jahre sagen? Die fatale Antwort lautet: Nichts! Wir haben den Punkt längst verpasst, an dem das letztlich konservative Nachhaltigkeitsprinzip noch hätte greifen können, um die Natur zu schützen. Und deshalb stehen wir heute vor der zentralen Frage: Was kommt nach der Nachhaltigkeit?
In seiner Klima-Entscheidung vom 24. März 2021 macht das Bundesverfassungsgericht einen Schritt in die richtige Richtung:[10] Auf die Verfassungsbeschwerde vor allem junger Menschen erklären die Karlsruher Richterinnen und Richter das angegriffene Klimaschutzgesetz für verfassungswidrig, weil es die CO2-Reduktionslasten nicht freiheitsschonend auf die Generationen verteilt, sondern einseitig auf die Zeit nach 2030 verschoben hat. Um dies zu begründen, haben die Karlsruher Richterinnen und Richter genau das getan, was notwendig ist, um unsere Verfassungsordnung ökologisch zu dynamisieren: Sie erkennen ein subjektives Recht der Bürgerinnen und Bürger an, um die Rechtsordnung im ökologischen Interesse mit demokratischer Langzeitwirkung in Bewegung zu setzen. Sie leiten aus der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Staatsziel „Umweltschutz“ (Art. 20a GG) ein neues Grundrecht auf „intertemporale Freiheitssicherung“[11] ab. Man kann dies auf die Formel bringen: Freiheitsrecht plus Staatsziel „Umweltschutz“ gleich intertemporale Freiheitssicherung. Die auf diese Weise, durch das subjektive Recht auf intertemporale Freiheitssicherung, erzeugte Rechtsdynamik schlug sich unmittelbar nach der Klima-Entscheidung insofern nieder, als es den Gesetzgeber dazu veranlasste, das Klimaschutzgesetz ambitionierter zu gestalten. Dieser grundrechtliche Ansatz lässt sich verallgemeinern, um demokratische Langzeitverantwortung auf einer sehr viel breiteren Linie zu verwirklichen.
Über Gleichheit und Teilhabe: Grundrechte sind nicht nur Freiheitsrechte
In seiner Klima-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht „nur“ auf die zukünftige Freiheitssicherung abgestellt. Doch Grundrechte sind nicht nur Freiheitsrechte. Sie vermitteln auch Gleichheitsrechte und Teilhabeansprüche. Deshalb lässt sich im Anschluss an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts neben dem Recht auf intertemporale Freiheitssicherung auch ein Recht auf intertemporale Gleichheits- und intertemporale Teilhabesicherung herleiten. Ein Beispiel für die Anwendung des Rechts auf intertemporale Gleichheitssicherung ist unsere Verschwendung von natürlichen Ressourcen wie beispielsweise fossilen Brennstoffen, Erzen und Metallen zulasten künftiger Generationen. Ein Beispiel für einen intertemporalen Teilhabeanspruch bildet das Recht künftiger Generationen auf Biodiversität, das dem exponentiell beschleunigten Artensterben entgegengesetzt werden kann. Doch so wichtig dieser ökologische Verfassungswandel auch ist, den das Bundesverfassungsgericht mit seinem Klima-Beschluss eingeleitet hat: Eine Gerichtsentscheidung führt noch nicht zu einer ökologischen Verfassungsordnung. Deshalb müssen wir verfassungsrechtlich sehr viel grundlegender und umfassender ansetzen. Wir brauchen ein ökologisches Grundgesetz.
Ein wirklich ökologisches Grundgesetz verbindet ökologische Grundrechte mit einem ökologisch ausgerichteten Staatsorganisationsrecht. Die verfassungspolitische Debatte über diese ökologische Transformation unserer Verfassungsordnung muss allerdings nicht vollkommen neu beginnen. Seit über fünfzig Jahren werden Vorschläge für eine ökologische Reform des Grundgesetzes formuliert und diskutiert. Insbesondere die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung hat vor und nach der deutschen Einheit sehr innovative und vor allem auch umfassende Vorstellungen für eine soziale und zugleich ökologische Verfassungsordnung unterbreitet, zunächst für die DDR nach der friedlichen Revolution und sodann für eine gesamtdeutsche Verfassung.[12] Viele dieser Vorschläge sind in die ostdeutschen Landesverfassungen eingegangen, die deshalb ökologisch sehr viel innovativer als die westdeutschen Landesverfassungen sind. Doch in der Verfassungsreform nach der deutschen Einheit wurden die Vorschläge der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung leider nicht berücksichtigt. Stattdessen haben wir 1994 die Staatszielbestimmung „Umweltschutz“ (Art. 20a GG) als ökologisch und rechtlich folgenlosen Minimalkonsens bekommen. Deshalb sollten wir die innovativen Anregungen von 1989 heute für die unbedingt notwendige ökologische Transformation unserer Verfassung aufgreifen – zwar spät, aber hoffentlich nicht zu spät.
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File:2020-02-13 Deutscher Bundestag IMG 3438 by Stepro.jpg
Erstellt: 13. Februar 2020
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Unten — German Overshoot Day, Düsseldorf, Burgplatz, 3. Mai 2020.
Warum schafft die Menschheit es nicht, sich von fossilen Brennstoffen zu lösen? Es gibt technische Hürden, einiges müsste man anders machen – vor allem aber wird mit CO₂ viel Geld verdient. Von ziemlich wenigen.
Zehn Banken, Finanzdienstleister und Staaten besitzen einer brandneuen, in einer wissenschaftlichen Publikation erschienenen Studie zufolge , gemeinsam die Rechte an fast fünfzig Prozent aller fossilen Brennstoffvorräte in privatwirtschaftlicher Hand. Das hier ist die Liste:
Die Kapitalinteressen dieser zehn stehen, das sollte klar sein, im Widerspruch zum Fortbestand der menschlichen Zivilisation. Dass die Buchstabenkombination US in dieser Liste sehr oft auftaucht, ist natürlich kein Zufall – und es dürfte zwischen diesem Umstand, und der Tatsache, dass in den USA jetzt der Supreme Court dabei ist, elementarste Umweltregeln außer Kraft zu setzen, einen Zusammenhang geben.
Investoren zur Rechenschaft ziehen
Die Autoren der Studie stammen aus Kanada, Neuseeland und Frankreich. Einer der Autoren, Alain Naef, arbeitet für die Banque de France, die französische Zentralbank also. Die Studie kommt deshalb mit dem Disclaimer daher, dass sie »nicht die Meinungen der Banque de France oder des Eurosystems« repräsentiere. Dass Europa auf der Liste nur in Gestalt des Nicht-Eurolandes Norwegen auftaucht, ist aber ein Faktum.
Tatsächlich enthält die Studie nicht nur Fakten, sondern auch Meinungen. Diese hier zum Beispiel: »Es erscheint unwahrscheinlich, dass das Finanzsystem die transformativen Veränderungen mittragen wird, die notwendig sind, um auf die Klimakrise zu reagieren, wenn es nicht dazu gebracht wird (im Original steht hier »disciplined to do so«).« Es sei nötig, Investoren zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie die nötige Transformation behinderten oder bremsten.
»Wahnsinn«, sagt der Uno-Generalsekretär
Das ist nicht optional, es ist überlebenswichtig. Oder um es mit Uno-Generalsekretär Antonio Guterres zu sagen : »Neue Investitionen in Exploration und Förderinfrastruktur für fossile Brennstoffe sind Wahnsinn.«Die Liste der zehn Übeltäter basiert auf einer Netzwerk- und Investitionsanalyse einer anderen, längeren Liste: den sogenannten Carbon Underground 200 . Die wiederum hat ein anderes Investmentunternehmen ermittelt – eines, das ausschließlich CO₂-freie Investitionen verspricht. Diese Liste umfasst je 100 börsennotierte Unternehmen, die entweder über noch nicht geförderte Gas- und Öl- oder über Kohlevorkommen verfügen.
Das Wort »börsennotiert« ist hier relevant, denn in Wahrheit gibt es noch mehr Öl, Gas und Kohle als von der Zehner- und der Zweihunderterliste erfasst wird – viel mehr. Zu den Top fünf der Öl- und Gasproduzenten etwa gehören neben den zwar staatlichen, aber dennoch börsennotierten Unternehmen Aramco (saudi-arabisch), Gazprom und Rosneft (russisch) auch die iranische Ölfirma NIOC und der chinesische Staatskonzern CNPC. Nach diesen fünf erst folgen ExxonMobil, BP, Shell und Chevron, wie der »Economist« kürzlich ermittelte .
Es sind Staatskonzerne, aber nur ziemlich wenige
Hinter den privaten vier Ölgiganten kommen dann schon wieder, mit sehr wenig Abstand, die Staatskonzerne ADNOC (Abu Dhabi), KPC (Kuwait), Sonatrach (Algerien), dann mit TotalEnergies der einzige europäische Konzern auf dieser Liste, und schließlich mit QuatarEnergy und PEMEX (Mexiko) wiederum zwei Staatskonzerne. Mexiko hat nicht nur Kohle- sondern auch Ölvorräte und verweigert sich derzeit einem Umbau hin zu erneuerbaren Energien.
Nach der auf Daten der Internationalen Energieagentur IEA beruhenden »Economist«-Auswertung sitzen Staatskonzerne insgesamt auf zwei Drittel der bisher bekannten, noch nicht geförderten Ölreserven.
Das Gesamtbild ist glasklar
Das sorgt jetzt für ein etwas verwirrendes Gesamtbild, denn mehrere dieser Staatskonzerne sind ja ihrerseits börsennotiert (Saudi Aramco, Rosneft, Gazprom, dazu gewisse Tochterunternehmen etwa des chinesischen Konzerns CNPC).
Klar ist aber: Die Vorräte, über die die diese börsennotierten und staatseigenen Unternehmen noch verfügen, übersteigen das Restbudget, das wir noch an CO₂ in die Atmosphäre pusten können, um die Durchschnittstemperatur bei 1,5 oder auch nur 2 Grad über vorindustriellen Zeiten zu halten, um ein Vielfaches. Sowohl die Staaten, denen diese Vorräte gehören, als auch die Investoren, die in diese Konzerne investiert haben, müssen dringend dazu gebracht werden, das CO₂ im Boden zu lassen. Es gilt, gewaltige Mengen fiktiven Geldes zu vernichten, um nicht die menschlichen Lebensgrundlagen zu zerstören.
Im Moment ist davon nichts zu sehen, im Gegenteil. Die größten Öl- und Gasfirmen des Planeten planen Investitionen in Höhe von über 850 Milliarden Euro , um weitere Quellen zu erschließen. Wie Guterres sagt: »Wahnsinn«.
Grosskonzerne zapfen Trinkwasser an, Anwohner sitzen auf dem Trockenen. Ein Dokumentarfilm zeigt die Zustände in Vittel und Volvic.
Seit Jahren steht Nestlé in Vittel in der Kritik. Dasselbe gilt für Danone in Volvic. Die beiden Konzerne stehen im Verruf, mit abgefülltem Wasser Millionen zu verdienen, während der Bevölkerung das Trinkwasser langsam aber sicher ausgeht. Infosperber berichtete mehrmals über die Skandale in Frankreich. Ein Dokumentarfilm veranschaulicht nun, wie die Konzerne dabei vorgehen. Vordergründig ernsthaft um Lösungen bemüht, agieren sie hinter den Kulissen kühl berechnend, immer um den eigenen Vorteil bedacht. Mit dem Ziel, Mineralwasser zu verkaufen. Greenwashing par excellence.
Auf den Punkt bringt es im Film die Pariser Rechtsprofessorin Aurore Chaigneau: «Nestlé Waters stellen sich als Hüter der Ressource Wasser dar. Doch aus rechtlicher Sicht sind sie bloss Nutzer. Halten wir fest, dass sie nur da sind, um abgefülltes Wasser zu verkaufen. Dieses Unternehmen hat nur einen Zweck, nämlich aus der Ausbeutung von Wasser Profit zu schlagen.»
Diese Klarstellung ist nötig, nachdem die Dokumentation auch die Sicht des Unternehmens zeigte sowie Interessenskonflikte in der Lokalbevölkerung thematisierte. Denn allzu schnell entsteht ein Abwägen zwischen ökonomischen und ökologischen Zielen. Vor einigen Jahren noch hatte Nestlé etwa 1300 Angestellte in Vittel, zum Zeitpunkt des Filmdrehs im Jahr 2021 waren es noch 900. Dieser Trend dürfte sich verschärfen, nachdem das Unternehmen Anfang 2022 bekannt gegeben hatte, Vittel-Wasser vom deutschen Markt zu nehmen. Dorthin waren die mit Abstand meisten Exporte gegangen.
Vor diesem Hintergrund kann man sich die Diskussionen in der örtlichen Wasserkommission gut vorstellen, als in den Vogesen vor einigen Jahren das Wasser knapp wurde. Was tun? Nestlé den Hahn zudrehen und damit Arbeitsplätze gefährden, vielleicht sogar jene von Freunden, Ehemännern und -frauen, des halben Dorfs? Oder dann doch lieber Trinkwasser über eine mehrere Millionen Euro teure Pipeline aus den Nachbardörfern anpumpen? Die Wasserkommission entschied sich für Letzteres. Doch später kam ans Licht, dass die Vorsitzende mit einem Nestlé Manager verheiratet war, der dem Verein La Vigie de l’eau vorstand. Dieser wiederum gibt vor, wissenschaftlich zu arbeiten, wird aber massgeblich durch Nestlé finanziert. Unter Druck kippte die Wasserkommission den Entscheid schliesslich und sagte das Pipeline-Projekt ab. Ob das Ganze für Nestlé juristische Folgen haben wird, ist noch offen. Wie so oft in solchen Fällen ist es schwer zu beweisen, ob Nestlé sich einer illegalen Einflussnahme schuldig gemacht hat, wie Kritiker dem Konzern vorwerfen.
«Wir entnehmen mehr Wasser, als sich bildet»
Rechtsprofessorin Chaigneau, die 2020 für Forschungen nach Vittel reiste, hält solche Interessenskonflikte in der Lokalbevölkerung für verständlich. Darum plädiert sie dafür, dass der Staat eingreift und eine rechtliche Basis schafft: «Es geht nicht darum, den Menschen vor Ort die Schuld zuzuschieben. Wir müssen schlicht dafür sorgen, dass wir auch an den Erhalt des Wassers denken, nicht nur an seinen Verbrauch. So etwas sieht das französische Recht bisher kaum vor.» Oder zugespitzt formuliert: Man kann das Schicksal des Planeten nicht jenen Konzernen überlassen, die komplett andere Ziele verfolgen – selbst wenn sie sich noch so umweltfreundlich geben.
Proteste auch in Kanada gegen die Wasserentnahme
In Vittel ist die Kritik am Vorgehen von Nestlé über die Jahre gewachsen. Denn auch zum Vorschein gekommene Plastik-Müllhalden und Hunderte von Lastwagen, die durch das Vogesental donnern, erzürnen Anwohnende. Es bildete sich eine Bürgerinitiative, die für eine gerechtere Verteilung des Wassers kämpft. Das Problem streitet mittlerweile nicht einmal mehr Nestlé selbst ab: Der Grundwasserpegel sinkt seit Jahrzehnten bedrohlich. «Wir entnehmen mehr Wasser, als sich neu bildet», sagt ein Nestlé-Mann im Film erstaunlich offenherzig. «Dass der Pegel sinkt, ist nichts Neues.» Der Konzern wies aber auch darauf hin, dass er die Entnahmen freiwillig um etwa die Hälfte reduziere und ausserdem Gelder für die Regenierung der Ökosysteme ausgebe. Bis 2027 soll das Sinken des Grundwasserpegels gestoppt werden. Kritiker halten das für zu spät.
Danone kontrolliert sich selbst
Was der Wassermangel für die Bevölkerung bedeutet, wird in Volvic deutlich sichtbar, wo der Danone-Konzern Wasser entnimmt, in Flaschen abfüllt und danach in Frankreich und halb Europa verkauft: Die Bäche führen immer weniger Wasser. Die älteste Fischzucht Europas musste den Betrieb einstellen. Behörden riefen wegen des sinkenden Grundwasserpegels zum Wassersparen auf und widerriefen bereits ausgestellte Baugenehmigungen, da es für zusätzliche Einwohner an Wasser fehlte. Und Danone? Der Konzern habe die Wasserentnahmen in dieser schwierigen Zeit gar noch erhöht, sagen Kritiker. Danone jedoch behauptet im Gegenteil, «als verantwortungsvoller Akteur den Wasserverbrauch seit 2018 gesenkt» zu haben. Die Entnahmen würden um 19 Prozent unter der genehmigten Menge liegen. Wer hat recht? Das Hauptproblem ist in diesem Fall, dass unabhängige Daten fehlen. Denn Danone selbst wurde von den Behörden angehalten, Daten zu sammeln, ob die eigenen Wasserentnahmen dem Ökosystem schaden. Anders gesagt: Danone überprüft sich selbst. Auch hier reibt man sich ob der Gutgläubigkeit der Behörden den Milliardenkonzernen gegenüber verwundert die Augen.
Dass man den Konzernen ganz genau auf die Finger schauen sollte, zeigen Recherchen von Journalisten der deutschen «Zeit». Sie machten eine wissenschaftliche Studie publik, die Danone 2012 selbst in Auftrag gegeben hatte. Diese weist nach, dass die Entnahmen Danones einen andauernden Einfluss auf den Pegel des Grundwassers haben. Doch Danone konnte die Arbeit lange geheim halten, weil der Konzern sie selbst finanziert hat – bis diese geleakt wurde.
Heute deutet alles darauf hin, dass das Sinken des Grundwasserpegels in Volvic zwar natürliche Ursachen hat, dass Danone mit seinen Wasserentnahmen das Problem aber zumindest verschärft. Danone widerspricht nach wie vor, für die Folgen der Wasserknappheit verantwortlich zu sein – kein Wunder, befindet es sich auch in einem Rechtsstreit mit einem Fischzüchter. Trotzdem hat sich der Konzern nach Ausstrahlung des Films mit den Behörden geeinigt. Die Wasserentnahmen sollen um 10 Prozent, ab 2025 um 20 Prozent reduziert werden.
Coca Cola blies Ausbaupläne in Norddeutschland ab
Was in Vittel und Volvic geschieht, passiert vielerorts auf der Welt. In Erinnerung ist der Schweizer Dokumentarfilm «Bottled Life» aus dem Jahr 2012, der das Geschäft von Nestlé mit dem Trinkwasser kritisiert. Der neue deutsche vom ZDF finanzierte Dokumentarfilm thematisiert auch die Situation im norddeutschen Lüneburg, wo Coca Cola einen dritten Brunnen für die Wassergewinnung installieren wollte, das Projekt nach heftigen Protesten aus der Bevölkerung aber abblies.
Für Experten ist klar, dass der Klimawandel das Problem der schwindenden Wasserressourcen verschärfen wird. Entsprechend wird mehr staatlicher Einfluss gefordert. «Das Problem ist, dass die Folgen des Klimawandels noch nicht in den Gesetzen verankert sind», sagt Marianne Temmesfeld von der Bürgerbewegung in Lüneburg. Sie fordert ein Moratorium für Wassergesetze, ehe dies passiert ist. «Unser Wasser in Flaschen zu füllen und durch die Welt zu karren, das ist jedem klar, dass das keinen Sinn macht».
Auch die französische Professorin Chaigneau hält mehr staatlichen Einfluss für angebracht, um die Wasserressourcen langfristig zu sichern. «Im Gesetz wird Wasser stets im Zusammenhang mit Grundbesitz behandelt. Im Mittelpunkt stand der Boden. Heute ist uns bewusst, dass Wasser eine eigenständige Ressource ist», sagt sie. Das Schlusswort im Dokumentarfilm hat die ehemalige französische Umweltministerin Corinne Lepage, die als Anwältin einen betroffenen Fischzüchter gegen Danone vertritt: «A priori gehört das Wasser niemandem. Es gibt die Möglichkeit Wasser zu teilen, zu privatisieren. Aber das Wasser bleibt ein Gemeingut. Das Recht auf Wasser ist ein Menschenrecht wie das Recht auf Luft zum Atmen.»
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Fischsterben in der Oder: Intransparenz und Verharmlosung
Von : Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz
Zu spät und zu spärlich klärte die Regierung in Warschau über die Verseuchung der Oder auf. Für das deutsch-polnische Verhältnis ist das verheerend.
Es war schwer zu widerstehen. Als der Berlin–Warschau-Express auf die Eisenbahnbrücke rollte, die Deutschland mit Polen verbindet, klebten die Fahrgäste ihre Nasen an die Fenster. Alle suchten das schöne Oderufer sorgfältig mit den Augen ab und hielten Ausschau nach toten Fischen. Es war der 12. August, und die Wissenschaftler überschlugen sich mit Vermutungen, was diesen großen polnischen Fluss vergiftet haben könnte. Bis heute ist das Rätsel der ökologischen Tragödie nicht vollständig gelöst.
Seit zwei Wochen hatten die polnischen Medien an diesem Tag bereits darüber berichtet. Zunehmend wurde darauf hingewiesen, dass wir es höchstwahrscheinlich mit einer großen, von Menschen verursachten Katastrophe zu tun haben. Die Regierung von Mateusz Morawiecki in Warschau hatte sich jedoch zunächst kaum geäußert. Unser deutscher Nachbar erfuhr erst 24 Stunden vor der Überfahrt unseres Zugs von der Nachricht von der „Giftwelle an der Oder“.
Die Quelle des Flusses liegt in Polen, südlich von Breslau, und erst dann wendet sich die Oder nach Norden. Sowohl die polnischen als auch die deutschen Grenzgebiete hätten sich also darauf vorbereiten können, sie hätten die Giftwelle eindämmen können, aber Warschau beschloss zu schweigen. Heute ist die Oder an einigen Stellen praktisch tot. Dutzende von Tonnen toter Fische und anderer Wassertiere wurden aus dem Wasser gefischt.
Eine eilige Entsorgung wurde vorgenommen, doch die bittere Wahrheit ist, dass an manchen Stellen nichts mehr von der einstigen Artenvielfalt des Flusses übrig ist. In dieser dramatischen Angelegenheit spiegelt sich – wie in der Oberfläche eines Flusses – die aktuelle Politik wider. Erstens geht es um die Praxis der deutsch-polnischen Nachbarschaft. Theoretisch ist alles darüber gesagt, und praktisch sind alle möglichen Schritte unternommen worden.
Dynamik des Populismus
Von der im Schweiße des Angesichts aufgebauten deutsch-polnischen Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zu den letzten Jahren, in denen die Regierung in Warschau eine dezente antideutsche Propaganda verbreitete. Jetzt aber hat die Nachbarschaft nicht so funktioniert, wie sie sollte. Mit der Zurückhaltung wichtiger Informationen hat Warschau so getan, als ob der westliche Nachbar einfach nicht existierte.
Zweitens geht es um die Dynamik des Populismus. In der ausgezeichneten Serie „Tschernobyl“ (2019) unter der Regie von Johan Renck sehen wir gleich nach der Explosion im berühmten Reaktor IV die gegensätzlichen Ziele der Figuren in diesem Drama. Auf der einen Seite gibt es Menschen, die versuchen, die Wahrheit über die Katastrophe herauszufinden. Auf der anderen Seite stehen die Behörden, die verhindern wollen, dass Informationen über das Ausmaß der Explosion bekannt werden.
Die Oder ist nicht Tschernobyl, Polen ist nicht die UdSSR, und 2022 ist nicht 1986. Trotzdem muss man sagen, dass der politische Mechanismus an alte Handlungsmuster erinnert. Hier wird, so lange es geht, eine Atmosphäre der Intransparenz und der Verharmlosung der möglichen Bedrohung aufrechterhalten.
Romeo Rey, früher Lateinamerika-Korrespondent von Tages-Anzeiger und Frankfurter Rundschau, fasst die jüngste Entwicklung zusammen.
Inmitten eines Nachrichtenpanoramas, das auf einen sukzessiven Linksrutsch in Lateinamerika hindeutet, richtet sich jetzt der Fokus auf die nächste Präsidentenwahl in Brasilien. Die erste Runde soll am 2. Oktober stattfinden und die wahrscheinlich notwendige Stichwahl am 30. Oktober. Die hinsichtlich der Bevölkerungszahl, des wirtschaftlichen Gewichts und der geografischen Ausdehnung mit Abstand grösste Nation des Subkontinents steht vor einem schicksalhaften Entscheid: Laut aktuellen Umfragewerten liegt der gemässigt linksgerichtete Ex-Präsident Lula da Silva im beginnenden Wahlkampf deutlich vor dem amtierenden Staatschef Jair Bolsonaro. Der scheint jedoch entschlossen, einen Sieg des Gegners um jeden Preis zu verhindern.
Eine unter dem Namen Civil Society Spotlight Report erschienene Untersuchung, die sich an den 17 wichtigsten Kriterien der sogenannten Agenda 2030 der UNO orientiert und durch solides Quellenmaterial unterstützt wird, stellt in Brasilien nach fast vierjähriger Herrschaft Bolsonaros einen Rückschritt in praktisch allen Bereichen fest. Zwar hat der stramm konservative amtierende Präsident im Hinblick auf die für ihn bedenklichen Umfrageresultate noch kurz vor den Wahlen ein populistisch motiviertes und kurzfristig angelegtes Sozialhilfeprogramm angekündigt. Es stellt sich jetzt die Frage, wie viele BrasilianerInnen sich in den wenigen Wochen bis zu den Wahlen durch ein solches «Geschenk» verführen lassen. Eigentlich müsste man annehmen, dass in dem riesigen Land Millionen Menschen den vielfältigen Rückschritt am eigenen Körper und vor allem im eigenen Geldbeutel zu spüren bekommen. Doch in einem Land, wo Dutzende Millionen von der Hand in den Mund leben und grossartige, wenn auch letztlich leere Versprechungen in der Regel mehr gelten als makroökonomisch tragbare und für das Gemeinwohl sinnvolle Programme, ist alles möglich.
Neben Brasilien regieren Konservative derzeit auf dem südamerikanischen Halbkontinent nur noch in Ecuador, Paraguay und Uruguay – alles Länder, die hinsichtlich ihrer politischen und wirtschaftlichen Bedeutung Leichtgewichte sind. Auf der anderen Seite muss man sich fragen, wie weit es den linksgerichteten Kräften in den übrigen sechs Ländern, die ein Vielfaches auf die Waage bringen, gelingen wird, ihre Pläne zu einer gerechteren Verteilung von Einkommen und Reichtum zu verwirklichen. Immer und überall wird zudem entscheidend sein, wie die jeweils gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen ausfallen.
In Ecuador ist seit etwas mehr als einem Jahr der konservative Banker Guillermo Lasso, einer der reichsten Männer des Äquatorstaats, nach knapp gewonnener Wahl am Ruder. Die Ausübung der ihm anvertrauten Macht gestaltet sich für ihn jedoch schwieriger als erwartet. In wochenlangen Verhandlungen mit der Indigenen-Organisation Conaie, die von landesweiten Streiks begleitet wurden, musste er der immer massiver und selbstbewusster auftretenden Pachakutik-Bewegung der indigenen Bevölkerung Änderungen in seinen neoliberalen wirtschafts- und sozialpolitischen Plänen zugestehen. Der Einfluss dieser Indigenen-Organisation, die sich in den 1980er Jahren zu formieren begann, hat mittlerweile so weit zugenommen, dass er von keiner Regierung mehr ignoriert werden kann.
Scheinbar fest in den Händen der Rechten liegt die Macht in Guatemala. Die oligarchischen Kreise haben es in diesem zentralamerikanischen Staat verstanden, den jahrelangen, von der UNO direkt unterstützten Kampf oppositioneller Gruppen gegen die seit Jahrzehnten vorherrschende Korruption zu neutralisieren und das Ruder sogar auf den alten Kurs zurückzudrehen. In dieser dramatischen Auseinandersetzung wird jetzt Rache geschworen und Rache geübt. Es geht dabei letztlich um die Erhaltung von Privilegien und garantierte Straflosigkeit für die wieder frei herrschende Klasse der Mächtigen in Politik und Wirtschaft, die seit den 1960er Jahren mit wenigen Unterbrüchen schalten und walten. Diese Restauration des Ancien Régime wird, wie der Berichterstattung der spanischen Zeitung «El País» zu entnehmen ist, mit zunehmender Zensur und Repression durchgesetzt (Artikel hier und hier).
In jenen Ländern Lateinamerikas, wo das Pendel wieder einmal mehrheitlich zugunsten von linksgerichteten Kräften auszuschlagen scheint, sind zumindest einmal gewisse Zweifel und Vorbehalte anzumelden. Wie überwältigend die Zustimmung der Stimmberechtigten in Chile zum Entwurf eines neuen Grundgesetzes 2019 auch ausgefallen war: Bei der Umsetzung des Volkswillens gab es zahllose Hindernisse. Drei chilenische Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler haben den Versuch unternommen, die umstrittensten Punkte im neuen Verfassungstext herauszuarbeiten, der das definitive Ende der Pinochet-Epoche bedeuten sollte. Für einen nicht geringen Teil der Bevölkerung stellt sich jetzt die schwierige Wahl, ob sie das neue Grundgesetz mit vielen strittigen Punkten gutheissen soll oder mit einem Nein die konstitutionelle Grundlage aus den Zeiten der Diktatur für unbestimmte Zeit beibehalten würde.
Ob man die seit Ende 2018 amtierende Regierung in Mexiko als linksgerichtet einstufen kann, damit haben wir uns in der vorherigen Nachrichtenübersicht aus Lateinamerika ausführlich befasst. Einige Initiativen, die unter Präsident López Obrador in Angriff genommen wurden, sprechen dafür, aber ein einheitliches und kohärentes Bild entsteht dabei nicht. Ähnlich heterogen und widersprüchlich sind die jüngsten Massnahmen, die Amtskollege Alberto Fernández in Argentinien ergriffen hat. Dazu gehört in erster Linie die Ernennung eines «Superministers» in der Person von Sergio Massa, der in der Vergangenheit mit Parteien aller möglichen Couleur geliebäugelt hat und schlussendlich im Lager des seit jeher populistisch getünchten Peronismus gelandet ist. Man kann darin kaum etwas Anderes sehen als den verzweifelten Versuch, den seit den 1960er Jahren anhaltenden Niedergang mit chronischer Überschuldung, Kapitalflucht und Notstand bei den Devisenreserven, nunmehr mit 70 Prozent per annum galoppierender Inflation und einer tragischen Verelendung immer breiterer Kreise der Bevölkerung endlich aufzuhalten – eine wahre Sisyphusarbeit.
Einen zusehends fragwürdigen Kurs schlägt der damalige Chefkommandant der Sandinisten-Revolution in Nicaragua ein. Daniel Ortega, der mehrmals vom Volk zum Staatspräsidenten gewählt wurde, die Grundregeln demokratischer Herrschaft aber immer gröber missachtet, hat in letzter Zeit auch ehemals führende GenossInnen unter erbärmlichen Haftbedingungen einsperren lassen, zuletzt eine der ranghöchsten Frauen der Bewegung. Seine Herrschaft scheint auf ein Regime hinauszulaufen, das in erster Linie die Interessen des eigenen Klans vertritt. Sie gleicht damit in zentralen Aspekten jener der jahrzehntelangen Diktatur der Familie Somoza, die 1979 nach einem langen und aufreibenden Kampf von der FSLN-Guerilla gestürzt wurde.
Von Häme und Hass freie Analysen der Reformbemühungen in Kuba sind in bürgerlichen Medien absolute Mangelware. «Makroskop», ein entwicklungspolitisch orientiertes Magazin, hat den Versuch unternommen, diesen Prozess aus neutraler, wissenschaftlich bemühter Warte darzustellen. Wer sich für substantielle Fakten in dieser Geschichte interessiert, dem ist der «Makroskop»-Beitrag sehr zu empfehlen.
Ein letztes Wort soll Kolumbien gelten, wo am vergangenen Sonntag erstmals in der 200-jährigen Geschichte der Republik ein Linker die Präsidentschaft der 50-Millionen-Nation übernommen hat. Das allein grenzt eigentlich an ein Wunder: Mehrere namhafte, um eine sozial engagierte Politik bemühte Figuren wie Jorge Eliécer Gaitán (1948) und Luis Carlos Galán (1989) hatten neben Tausenden anderer Gesinnungsgenossen ihr Leben auf diesem langen Weg gelassen – Opfer einer unstillbaren Mord- und Rachlust gegen Linke. Gustavo Petro musste sich in seiner Wahlkampagne mit einer etwa zehn Mann starken Leibwache gegen ständig drohende Attentate schützen.
Anstatt von Regierungsplänen, die erst einmal umgesetzt werden müssen, sei an dieser Stelle von einer Episode die Rede, die den Akt im Palacio Nariño in Bogotá prägte: Die nicht-kommunistische, linkspopulistische M-19-Guerilla, der Präsident Petro in jungen Jahren angehörte, hatte 1974, am Tag ihrer Gründung, das Schwert des Befreiers Simón Bolívar aus einem Museum entwendet und verschwinden lassen. Diese Trophäe wurde dem kolumbianischen Staat 1990 anlässlich eines Friedensvertrags und der militärischen Demobilisierung der M-19 zurückerstattet.
„Wir haben alles geschafft ! Auch die Umwelt!“
Petro liess seinen Amtsvorgänger, den rechtsliberalen Iván Duque wissen, dass er das Schwert Bolívars nach der Machtübernahme in seinen Händen halten wolle. Duque lehnte kategorisch ab. Unmittelbar nach seiner Amtseinsetzung erklärte Petro, sein erster Regierungsakt bestehe darin, das Schwert, das den Landsleuten während mehr als drei Jahrzehnten verborgen geblieben war, in den Regierungspalast bringen zu lassen. Soldaten in historischen Uniformen wurden abkommandiert, um das Museumsstück herbeizuschaffen. Der neue Staatschef und das versammelte Volk harrten aus, bis die historisch so bedeutsame Waffe zur Stelle war.
Insgesamt verstärkt sich der Eindruck, dass Lateinamerika im Zuge des erneuten Linkstrends seine einst unverbrüchlich geglaubten Bindungen an Europa und Nordamerika allmählich auflöst und neue Möglichkeiten aussenpolitischer und wirtschaftlich-finanzieller Abkommen mit China und Russland sowie mit der von diesen angeführten BRICS-Gruppe ausbauen will, zu der bis anhin auch Indien, Brasilien und Südafrika gehören. Wie lange diese Umorientierung auf eine multipolare Welt dauern wird, ist eine offene Frage. Dass eine Rückkehr zu alten Allianzen und Gewohnheiten aber durchaus möglich ist, wenn die Resultate an den Urnen – oder zum Beispiel die Stimmung in den Streitkräften – wieder zugunsten der Rechten kippen sollte, kann ebenso wenig ausgeschlossen werden.
Bei einer Online-Nutzung ist die Quellenangabe mit einem Link auf infosperber.ch zu versehen. Für das Verbreiten von gekürzten Texten ist das schriftliche Einverständnis der AutorInnen erforderlich.
Wasserknappheit und Baguette-Kilometer: Wenn die Umweltkrise ins Urlaubsidyll eindringt, balanciert man zwischen Moral und Genuss.
„Rasensprengen und Blumengießen sind zu unterlassen“, heißt es schon seit Jahren, aber diesmal kam etwas dazu. „Ihr könnt Euer Wasser am Friedhof von O. holen, da ist ein Wasserhahn.“ Als wir verdutzt blickten, klärte uns der Bürgermeister auf. Die Behörden hatten den Bürgern des kleinen Ort im Jura, an dem wir seit vierzig Jahren die Sommer verbringen, nahegelegt, das Leitungswasser nicht mehr zu trinken. Die Grenzwerte wegen des Pflanzenschutzmittels, das die Bauern der Umgebung überreichlich auf die Maisfelder gekippt hatten, werden nicht erreicht, aber wer zur Vorsicht neigt, holt sich das Wasser nun aus dem Brunnen des Nachbardorfes.
Die Umweltkrise war in den Alltag unserer Sommeridylle eingedrungen. Es war nicht nur das Wasser. Zum ersten Mal seit vierzig Jahren nisteten keine Schwalben an der Scheune nebenan. Im oberen Jura, einer der feuchtesten Gegenden Frankreichs, brannten vier Quadratkilometer Wald ab. Und am 28. Juli, früher als sonst, kam die Meldung vom Earth Overshoot Day: Die Menschheit habe an diesem Donnerstag die Ressourcen aufgebraucht, die ihr in diesem Jahr zustehen.
Im Fluss konnten wir noch baden wie immer, aber die Knappheit in einer Welt, die zur Neige geht – sie wurde zum leisen Dauerthema in dieser Sommerfrische: Müsst ihr eigentlich dreimal am Tag duschen? Müsst ihr solange spülen für das bisschen Pipi, Jungs? Eigentlich kann man das Abwaschwasser auch auf die Rosen gießen … Der Achtsamkeitsdiskurs weitete sich aus: Muss man das Licht nachts brennen lassen, nur weil Neulinge auf der Wendeltreppe stolpern könnten? Dass ich mit dem Auto (6,3 Liter auf 100 km) jeden Morgen fünf Kilometer fuhr, um beim besten Bäcker weit und breit Baguettes zu holen, kam überhaupt nicht gut an. Und war nicht selbst die nächtliche Boule-Partie im Schein von Handys und einer Taschenlampe schon eine kleine Sünde? Man hält solchen Rigorismus nicht ewig durch, und als irgendwann, beim dritten Kaffee am Morgen die Gespräche über den Palmölgehalt in Nutella und den Zuckeranteil im Fertigmüsli wieder ansetzten, provozierte mich das zu dem absurden Satz: „Alles gut, aber ich gebe zu bedenken, dass ein SUV-fahrender, Kette rauchender Ingenieur mit 120.000 Flugkilometern, der an der Solarisierung Afrikas arbeitet, mehr für die Erhaltung des Planeten tut als siebzig von uns, die auf Palmöl und Fleisch verzichten. Wenn wir nicht Politik machen, ist das alles vergebens.“
Da blickten die moralischen Teenies erschreckt auf, und mein Glaubwürdigkeitsbonus schmolz schneller als der Rhônegletscher. Es ist natürlich völlig irrsinnig, die kleinen Revolutionen des Alltags gegen die großen politischen Hebel auszuspielen, aber aus den Widersprüchen kommt zur Zeit wohl niemand raus. Der mich morgens noch gerügt hatte wegen meiner Baguette-Kilometer, sagte am Nachmittag: „Dass wir das alles noch wenden können, ist die unwahrscheinlichste aller Hypothesen.“
Ich bin umgeben von Freunden, Kollegen, Familienangehörigen, denen wie mir der Boden unter den Füssen bebt und die Seele dazu, weil sich die Krisen ineinanderschieben: Klima, Artenschwund, Ungleichheit, Ressourcenkämpfe, Corona und nun noch der heiße Krieg. Und dazu eine Regierung, die den Bürgern versichert, wir werden schon durch den Winter kommen, you’ll never walk alone, und die Steuern werden gesenkt. Eine Zeitenwende ist das jedenfalls nicht, und an der Mechanik des mediengetriebenen Parlamentarismus zerbröselt jeder radikalere Gedanke.
Also: Was kann man denn, was müsste man tun, wenn man das wirklich mal ernst nimmt: das Gerede von den Enkeln, an denen wir uns versündigen? Was sind wir noch schuldig, die so alt waren wie Greta, als die „Grenzen des Wachstums“ erschienen? Zuallererst wohl: Illusionslosigkeit verbreiten. Das heißt: keinen Hehl mehr daraus machen, dass es auf absehbare Zeit schlimmer werden wird. „In Zeiten zunehmenden Chaos werden die Menschen Schutz durch Tribalismus und Streitkräfte suchen“, schrieb Jonathan Franzen vor ein paar Jahren, und weiter: „Jede Bewegung in Richtung einer gerechteren und zivilgesellschaftlicheren Gesellschaft muss als sinnvolle Klimamaßnahme angesehen werden. Die Bekämpfung extremer Vermögensunterschiede ist eine Klimaschutzmaßnahme. Die Abschaltung der Hassmaschinen in sozialen Medien ist eine Klimaschutzmaßnahme. Eine humane Einwanderungspolitik, eine freie und unabhängige Presse zu unterstützen, das Land von Angriffswaffen zu befreien – das alles sind sinnvolle Klimaschutzmaßnahmen.“
Oben — Bundespräsident Walter Scheel mit Frau Mildred und den Kindern Simon-Martin, Cornelia und Andrea (von links) in ihrem Urlaubsort Hinterthal (Österreich) am 19.8.1974
Viele Menschen wähnen sich in einer Welt, die längst nicht mehr existiert. Einer stabilen Welt, mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Berechenbar, planbar. Darunter sind leider weite Teile der politischen Elite.
»Wir machen weiter bis zum letzten Mann, jedes Molekül Kohlenwasserstoff wird herausgeholt.«
Abdulaziz bin Salman, der saudische Energieminister im Jahr 2021
»Wir werden es ausbeuten, wir werden es fördern, wir werden es verkaufen, wir werden es zu Geld machen.«
Didier Budimbu, der Kohlenwasserstoffminister der Demokratischen Republik Kongo im Jahr 2022
Die katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise sind inzwischen so überdeutlich, dass man schon gewaltige Anstrengungen unternehmen muss, um sie weiterhin zu ignorieren oder ihre Ursache zu leugnen (trotzdem wird man das im Forum zu dieser Kolumne wieder beispielhaft beobachten können). Spanien und Portugal vertrocknen, Rhein und Loire führen so wenig Wasser, dass sie mancherorts wie Wüsten- oder Wattlandschaften aussehen, in weiten Teilen Europas ächzte man wochenlang unter nie dagewesener Hitze. Die Dürre verursacht Brände, gefährdet Ernten und treibt Land- und Forstwirte zur Verzweiflung. Die deutschen Gletscher schmelzen ihrer Vernichtung entgegen.
Anderswo gibt es nicht zu wenig Wasser, sondern zu viel. In Florida etwa kann man schon jetzt viele Häuser kaum noch oder gar nicht mehr versichern – nicht nur, aber auch wegen der Gefahr durch steigende Meeresspiegel und immer extremere Hurrikane. Insgesamt, stellte die »Union of Concerned Scientists« schon 2018 fest, sind mindestens 300.000 Privathäuser und 18.000 Gewerbeimmobilien in den USA bis 2045 von »permanenter Überflutung« bedroht. Der Gesamtwert der buchstäblich dem Untergang geweihten Gebäude an den Küsten wurde damals auf über 130 Milliarden Dollar geschätzt. Zu erwartende Hurrikanschäden sind da noch nicht mit eingerechnet.
Auch auf der anderen Seite des Globus, in Korea zum Beispiel, gibt es gerade zu viel Wasser. Seoul hat eben die heftigsten Regenfälle seit 115 Jahren erlebt. Mindestens neun Menschen starben. Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol sagte: »Wir können diese extremen Wetterlagen einfach nicht weiterhin ungewöhnlich nennen.«
»The new normal«? Weit gefehlt
Der Mann hat recht. Was gerade passiert, ist nicht mehr ungewöhnlich. Es ist aber auch nicht »der neue Normalzustand«, wie mancherorts gerade öfter zu lesen oder zu hören ist. Wir haben es mit etwas völlig anderem zu tun.
Vielen Menschen scheint nach wie vor nicht bewusst zu sein, in welch einer klimatisch friedlichen, außergewöhnlich menschenfreundlichen Zeit die menschliche Zivilisation entstanden ist. Und dass diese friedliche, stabile Zeit gerade endet. Verursacht durch uns, die Menschheit. Genauer: verursacht vor allem durch die gegenwärtige und historische Bevölkerung des sogenannten Globalen Nordens im erdgeschichtlich betrachtet wirklich winzigen Zeitraum von gut 200 Jahren. Die einzigen Ereignisse, die sich nur halbwegs mit dem Zerstörungstempo menschlichen Handelns vergleichen lassen, sind Asteroideneinschläge.
So wie der, der die Dinosaurier vor 66 Millionen Jahren ausrottete. Er verursachte das fünfte Massenaussterben der Geschichte. Wir verursachen gerade das sechste.
Vom Kühlhaus zum Treibhaus in einem Wimpernschlag
Das sogenannte Holozän mit seinem stabilen, berechenbaren, menschen- und zivilisationsfreundlichen Klima begann vor etwas weniger als 12.000 Jahren, am Ende der letzten Eiszeit. Noch immer aber leben wir, auch wenn das die meisten nicht so wahrnehmen, auf einer »Kühlhaus-Erde«, wie der Paläontologe Thomas Halliday das in seinem faszinierenden Buch »Otherlands« nennt, das vom Wandel von Ökosystemen im Lauf der Erdgeschichte handelt.
Brasilien steuert auf die vielleicht wichtigste Wahl seiner bisherigen Geschichte zu. Denn wenn am 2. Oktober im größten Land Lateinamerikas die erste Runde der Präsidentschaftswahl stattfindet, geht es um nichts weniger als die Zukunft der brasilianischen Demokratie.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass es zu einem großen Showdown zwischen dem aktuellen Amtsinhaber Jair Bolsonaro und Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva kommen wird. Damit stehen sich nicht nur zwei Personen, sondern auch zwei politische Projekte gegenüber, die über die Zukunft des Landes entscheiden werden: Autoritarismus oder Demokratie. In den Umfragen liegt derzeit der Sozialdemokrat Lula weit vorne. Der Rechtsradikale Bolsonaro hat im Laufe seiner Amtszeit viel Unmut auf sich gezogen, kann sich aber auf den harten Kern seiner Anhänger*innen verlassen. Sollte keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang über 50 Prozent der Stimmen erzielen, kommt es am 30. Oktober zur Stichwahl. Und Bolsonaro hat bereits mehrfach erklärt, die Ergebnisse nur im Falle seines eigenen Sieges anerkennen zu wollen. Viele rechnen deshalb mit Gewalt während der Wahl, einige befürchten sogar einen Putschversuch.
Die große Frage lautet: Sind die demokratischen Institutionen stark genug, um einen institutionellen Bruch aufzuhalten? Fest steht: Nach dreieinhalb Jahren der Präsidentschaft Bolsonaros ist Brasilien ein anderes Land. Der Ultrarechte hat die Zerstörung zu seinem Regierungsprogramm gemacht und das Land an den Rand des Kollapses geführt: traumatisiert durch die Pandemie, als Paria im Ausland, zernagt durch die Wirtschaftskrise. Wie konnte es so weit kommen?
Bolsonaros fulminanter Aufstieg war alles andere als vorgezeichnet.[1] Nur wenige Monate vor der Wahl 2018 hatte ihm kaum jemand Chancen ausgerechnet. Der rechtsradikale Politiker war gar als Freak und Außenseiter belächelt worden. Bolsonaro ging für die Sozialliberale Partei, die PSL, ins Rennen, eine bis dahin weitestgehend unbekannte Kleinstpartei, die keinen einzigen Gouverneur stellte und nur über einen Sitz im Kongress verfügte. Doch Bolsonaro brauchte eine Partei, die für seine Inszenierung nicht zu stark mit Korruption in Verbindung gebracht werden konnte. Für ihn war es eine Zweckehe, mehr nicht. Ein Problem für Bolsonaro: Da in Brasilien seit 2015 Privatspenden an Parteien verboten sind und diese ihre Wahlkämpfe fast ausschließlich über öffentliche Mittel finanzieren müssen, die ihnen nach Fraktionsstärke im Parlament zustehen, stand der Minipartei PSL nur ein Bruchteil der Gelder anderer Parteien zur Verfügung. Nichts sprach für Bolsonaro. Doch entgegen allen Erwartungen stieg er schier unaufhaltsam in den Umfragen auf und gewann letztlich die Wahl mit großem Vorsprung.
Dieser Aufstieg lässt sich vor allem mit den turbulenten Jahren vor 2018 erklären. Die Wirtschaft des einst gefeierten Global Players kriselte, und nach der Aufdeckung gigantischer Korruptionsskandale schlug der gesamten politischen Klasse jede Menge Wut und Ablehnung entgegen. Diese „antipolitische“ Stimmung sollte die Wahl entscheiden. Was zuvor als Bolsonaros Nachteil betrachtet worden war, war jetzt seine Stärke. Obwohl er Mitglied verschiedener Parteien gewesen war und für fast drei Jahrzehnte im Kongress gesessen hatte, hatte Bolsonaro nie ein Amt innegehabt. Doch vor allem liefen keine Korruptionsermittlungen gegen ihn. Das reichte Bolsonaro, um sich als Saubermann inszenieren zu können, als jemand außerhalb des korrupten Kreises der Eliten. Zusätzlich gelang es ihm mit einem geschickten Wahlkampf in den sozialen Medien, den Hass auf die Arbeiterpartei PT zu kanalisieren. Zugute kam ihm dabei auch, dass sein größter Widersacher, Ex-Präsident Lula, der in allen Umfragen vorne gelegen hatte, durch eine juristisch extrem fragwürdige Verurteilung von der Wahl ausgeschlossen worden war. 2019 konnten der US-amerikanische Journalist Glenn Greenwald und sein Team des Onlinemediums „The Intercept Brasil“ beweisen, dass tatsächlich ein Justizkomplott gegen Lula stattgefunden hatte.[2] Der ehemalige Star-Richter Sergio Moro und die Staatsanwaltschaft hatten zusammengearbeitet, um Lula hinter Gitter zu bringen und seine Wahl zu verhindern. Moro hatte politische Ambitionen zwar immer abgestritten und stets seine Unabhängigkeit betont. Doch nur wenige Tage nach Bolsonaros Wahlsieg ließ er sich vom Präsidenten zum Justizminister ernennen.
Auch die schwere Sicherheitskrise spielte Bolsonaro bei der vergangenen Wahl in die Hände. 2017, ein Jahr vor der Wahl, wurden in Brasilien mehr als 63 000 Menschen ermordet, so viele wie nirgendwo sonst auf der Welt. Der Law-and-order-Politiker Bolsonaro wusste die Verängstigung vieler Brasilianer*innen geschickt auszunutzen. Er forderte, alle „Banditen abzuknallen“, stellte sich demonstrativ hinter tötende Polizist*innen und erklärte vollmundig, die Bevölkerung bewaffnen zu wollen.
Im Wahlkampf umgarnte Bolsonaro zudem die evangelikalen Kirchen. Sein Wahlkampfmotto lautete: „Brasilien über alles. Gott über allen.“ Er ließ sich medienwirksam im Jordan taufen, gab dem evangelikalen Sender „Record“ Exklusivinterviews und wurde von Star-Pastor Silas Malafaia mit seiner dritten Ehefrau vermählt. Ebenso kamen bei den Freikirchen seine homo- und transfeindlichen Ausfälle, die Hetze gegen eine vermeintliche Genderideologie sowie die Ankündigung an, die strengen Abtreibungsgesetze noch weiter verschärfen zu wollen. Die Konsequenz: Erstmals unterstützten alle großen Freikirchen einen Kandidaten, nämlich Bolsonaro. Die Kirchen sind mittlerweile ein wichtiger gesellschaftlicher und politischer Faktor in Brasilien.[3] Immer mehr Menschen wenden sich den ultrakonservativen Pfingstkirchen zu. Gerade in den vom Staat vernachlässigten Armenvierteln haben sie großen Zulauf. Während sich 1990 noch mehr als 80 Prozent der Bevölkerung als katholisch bezeichneten, waren es 2020 nur noch rund 50 Prozent. 32 Prozent der Bevölkerung verstehen sich mittlerweile als evangelikal – Tendenz steigend. Laut Berechnungen könnten die bibeltreuen Christ*innen schon bald die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung stellen.
Neben den Evangelikalen suchte 2018 auch die Wirtschaftselite den Schulterschluss mit dem Rechtsradikalen. Die Agrarlobby stand treu auf Bolsonaros Seite, auch weil dieser erklärte, als Präsident „keinen weiteren Zentimeter“ für indigene Territorien ausweisen zu lassen, gegen Umweltschützer*innen hetzte und die Ausbeutung Amazoniens zu einem seiner wichtigsten Versprechen machte. Auch die Finanzelite suchte die Nähe zum Rechtsradikalen. Das hing vor allem damit zusammen, dass Bolsonaro Paulo Guedes in sein Team holte, den er später zum Wirtschaftsminister ernannte. Der ehemalige Investmentbanker ist ein Ultraliberaler, wie er im Buche steht: Studium bei Milton Friedman an der berüchtigten Chicago School, Karriere bei der rechten Militärjunta in Chile, Gründung neoliberaler Thinktanks in Brasilien. Als Bolsonaro gewählt wurde, knallten die Sektkorken in den Büros der Faria Lima, der symbolträchtigen Finanzstraße von São Paulo. Auch die meisten deutschen Firmen in Brasilien bejubelten den Sieg des Rechtsradikalen, die Deutsche Bank sprach vom „Wunschkandidaten der Märkte“.[4] Es war eine historische Koalition ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Kräfte, die 2018 dafür sorgte, dass Bolsonaro tatsächlich mit großem Vorsprung die Wahl gewann.
Eine Spur der Zerstörung
Bereits bei der Amtsübergabe am Neujahrstag 2019 ließ Bolsonaro keinen Zweifel daran, wohin die Reise mit ihm gehen würde. In einer flammenden Rede auf dem Praça dos Três Poderes, dem Platz der Drei Gewalten, in der Hauptstadt Brasília wetterte er gegen „Sozialismus, politische Korrektheit und die Umkehrung der Werte“. Und in der Tat begann der rechtsradikale Präsident ab Tag eins, sein rechtsautoritäres Projekt umzusetzen. Allerdings kann Bolsonaro dabei nicht durchregieren. Im Parlament erreicht er kaum Mehrheiten, er regiert per Dekret, und viele seiner Gesetzesprojekte sind gescheitert. Einige vertreten deshalb die Auffassung, Bolsonaro habe auf ganzer Linie versagt, er sei eigentlich ein schwacher Präsident, nichts mehr als ein zahnloser Tiger. Es stimmt zwar, dass ihm gerade der Oberste Gerichtshof immer wieder Grenzen aufzeigt. Doch in vielen Punkten war Bolsonaros rechte Revolte extrem erfolgreich – gerade in der Umweltpolitik.
Für Bolsonaro ist der Amazonas-Regenwald vor allem eines: eine Ressource, die es auszubeuten gilt. Soja-Barone und Rinder-Könige nehmen in Brasilien politisch seit jeher starken Einfluss. Eine dem Agrobusiness nahestehende Interessenvertretung im Kongress wird auf fast die Hälfte aller Abgeordneten geschätzt. Bolsonaro kann sich auf ihre Unterstützung verlassen, der Verein weißer Großgrundbesitzer*innen gehörte gar zu den Hauptunterstützer*innen seines Wahlkampfes.[5]
Für die Durchsetzung von deren Interessen scheint Bolsonaro jedes Mittel recht zu sein. Die Regierung und ihre Verbündeten setzen beispielsweise alles daran, indigene Schutzräume zu verkleinern und somit letztlich auch Stück für Stück deren in der Verfassung garantierten Rechte aufzuweichen. Allerdings blockieren der Kongress und der Oberste Gerichtshof regelmäßig die Gesetzesprojekte der Regierung – auch, weil Zweifel an der langfristigen Wirtschaftlichkeit bestehen. Im April d.J. kippte der Oberste Gerichtshof etwa ein Dekret des Präsidenten, das zum Ziel hatte, Organisationen der Zivilgesellschaft aus dem Nationalen Umweltfonds (FNMA) auszuschließen. Daher schöpft Bolsonaro andere Mittel aus, um sein Kahlschlagprojekt voranzutreiben. So hat die Regierung Umweltbehörden wie die Ibama oder die Indigenen-Behörde Funai entmachtet. Sie kürzte ihnen die sowieso schon spärlichen Mittel, setzte linientreue Funktionär*innen in Führungspositionen ein und feuerte Mitarbeiter*innen mit technischer oder umweltpolitischer Expertise. Einige wenige Beamt*innen setzen zwar weiterhin die Gesetze durch, auch gegen die Interessen der Regierung. Doch in vielen geschützten Gebieten sind die Behörden nun völlig unterbesetzt. Die Konsequenz: Es gibt immer weniger Kontrollen und immer weniger Bußgelder. Holzfäller*innen, Goldgräber*innen und Landräuber*innen verstehen das als Freifahrtschein für ihre illegalen Aktivitäten.[6] Nach Bolsonaros Amtsantritt ist die Abholzung des Regenwaldes daher sprunghaft angestiegen. Deutlichster Ausdruck der Zerstörung sind die Waldbrände, die jedes Jahr in der Trockenphase wüten. All das wird die Region nachhaltig verändern und sich nur schwer zurückdrehen lassen. Auch erbitterte Landkonflikte sind eine direkte Folge dieser Politik: An allen Ecken und Enden des Regenwaldes eskaliert die Gewalt. All diejenigen, die sich dem Raubbau entgegenstellen, leben gefährlich. Jüngster Höhepunkt dieser Gewalt war der Mord an dem britischen Journalisten Dom Phillips und dem Indigenenexperten Bruno Pereira im Juni dieses Jahres, die für ein Buchprojekt in der Region recherchiert hatten.[7]
Und noch an einem zweiten Punkt war Bolsonaros rechte Revolte durchaus erfolgreich: den Waffengesetzen. Unmittelbar nach Amtsantritt brachte er mehrere Dekrete auf den Weg, um die strengen Waffengesetze zu liberalisieren. Zwar machte ihm der Oberste Gerichtshof bei vielen Initiativen einen Strich durch die Rechnung, aber Bolsonaro konnte durchaus einige Erfolge feiern. Per Dekret ordnete er beispielsweise an, dass einfache Bürger*innen bis zu sechs Waffen erwerben können, Jäger*innen und Sportschütz*innen können sogar bis zu 60 Waffen horten. Die wenig überraschende Konsequenz: In Brasilien sind immer mehr Waffen im Umlauf. Laut Bolsonaro sei der bewaffnete Bürger „die erste Verteidigungslinie eines Landes“. Die Idee ist simpel: Gewalt mit mehr Gewalt bekämpfen. Ein Irrglauben, sagen fast alle Expert*innen.[8] Studien zeigen, dass lockerere Waffengesetze genau zum Gegenteil führen: zu mehr Morden, mehr Unfällen, mehr Suiziden. Wer unter Bolsonaros Aufrüstungspolitik besonders leiden wird, ist die arme, schwarze Bevölkerung in den Favelas. Was vielen zudem Sorgen bereitet: Bolsonaro könne versuchen, seine radikalisierte Basis hochzurüsten.
Der ultrakonservative Umbau des brasilianischen Staates
Schließlich hat mit dem Amtsantritt Bolsonaros, drittens, ein regelrechter Umbau des Staates nach ultrakonservativen Vorstellungen begonnen. Fundamentalistische religiöse Gruppen haben gezielt die Regierung infiltriert. Unter Bolsonaro wurden ganze Referate ausgewechselt und Expert*innen durch religiöse Hardliner ersetzt. Die Evangelikalen und auch einige ultrakonservative Katholik*innen versuchen zudem, alle Ausschüsse zu besetzen, in denen Themen behandelt werden, die für sie von Interesse sind: Abtreibung, LGBTIQ-Rechte, Drogen. Ebenso versuchen sie Einfluss bei der Vergabe von Radio- und Fernsehlizenzen zu nehmen, die alle fünf Jahre neu zugeteilt werden, damit sie nicht zu Ungunsten ihrer eigenen Netzwerke und Sender verändert werden. Doch auch in der vordersten Riege der Regierung befinden sich Evangelikale. Vor allem eine Personalie hat es in sich: Bolsonaros Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Damares Alves. Vor ihrer Nominierung predigte die evangelikale Pastorin in vollbesetzten Megakirchen und tourte als Abtreibungsgegnerin durchs Land. In der ersten Rede nach ihrer Nominierung erklärte sie, nun sei der Moment gekommen, in dem die Kirche regiere und Jungen wieder blau und Mädchen wieder rosa trügen.[9] Als Ministerin fungiert sie als Bindeglied zwischen der Regierung und den evangelikalen Gemeinden und treibt den ultrakonservativen Umbau Brasiliens voran.
In der ganzen Welt versuchen christliche Fundamentalist*innen die Politik mitzugestalten. Anti-Abtreibung-Lobbys agieren transnational, in vielen Ländern sind Bibeltreue bis auf die Regierungsebene vorgedrungen.[10] Der Schulterschluss zwischen Rechtsradikalen und Christ*innen ist fast überall gelungen. Doch in kaum einem anderen Land war diese unheilige Allianz so erfolgreich wie in Brasilien – und unter Bolsonaro verschwimmt die Trennlinie zwischen Politik und Kirche immer mehr.
Die berechtigte Angst vor der Inflation treibt die Menschen in Deutschland um. Krieg war immer eine makaber gute Zeit für Spekulanten. Ob Wohnungsunternehmen, Agrar- oder Ölkonzerne – zurzeit scheint für Unternehmen jeder Anlass recht, beim Preisetreiben mitzumachen und so die eigenen Gewinnmargen zu erhöhen. Es wird Zeit, etwas dagegen zu unternehmen.
Kriegsgewinnler sind Personen, Firmen und Organisationen, die Notsituationen in Kriegszeiten ausnutzen, um überproportional hohe Profite zu erwirtschaften.
Inflation bezeichnet den Anstieg des Preisniveaus einer Ökonomie über einen bestimmten Zeitraum. Das allgemeine Preisniveau steigt und die Menschen können für jede Geldeinheit weniger Güter und Dienstleistungen kaufen.
Kriegsgewinnler & Inflationstreiber: (nicht nur) Öl- und Energiekonzerne
Die Welt erlebt und erleidet den menschengemachten Klimawandel. Dürren, Wüstenbildung, Extremwetterereignisse und extreme Hitze sind noch schneller gekommen, als es die Umweltbewegung und die Wissenschaft prognostiziert haben. Öl-, Gas-, Kohle- und Energiekonzerne haben auf eine verbrecherische Art und Weise das Thema heruntergespielt und mit atomar-fossilen Seilschaften die Klimawandelleugner und die Energiewendegegner finanziert. Sie sind Täter und Klimaverbrecher. Jetzt werden sie nicht etwa bestraft, sondern mit Milliardenprofiten belohnt. Alle großen Energiekonzerne treiben die Öl- und Gaspreise infolge des Ukraine-Krieges und fördern so die Inflation. Die demokratiegefährdende, neoliberale Umverteilung von unten nach oben beschleunigt sich.
Die globalen Energieunternehmen profitieren massiv vom Ukraine-Krieg. So konnte das britische Energieunternehmen Shell seinen Gewinn im zweiten Quartal 2022 auf 18 Milliarden US-Dollar verfünffachen. Der US-amerikanische Mineralölkonzern Exxon Mobile machte im zweiten Quartal des laufenden Jahres 17,9 Milliarden US-Dollar Gewinn. Im zweiten Quartal des Vorjahres waren es noch 4,7 Milliarden.(Eine Milliarde sind unglaubliche 1000 Millionen!). Der französische Konzern TotalEnergies verdoppelte seinen Gewinn, ebenso der spanische Ölkonzern Repsol. In Deutschland hat der Energiekonzern RWE seine Prognose für das laufende Geschäftsjahr stark nach oben korrigiert – das Unternehmen erwartet nun einen Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen von bis zu 5,5 Milliarden Euro statt bislang rund vier Milliarden Euro.
Es sind diese Konzerne, denen wir die Klimakatastrophe zu verdanken haben. Sie haben in Deutschland keine Übergewinnsteuer zu befürchten, denn mit der FDP sitzen die Schutzheiligen der Superreichen und der Konzerne in der Regierung.
Es ist gut, richtig und wichtig, im Krieg auf die Opfer zu schauen. Wir sollten dabei aber auch die Kriegsgewinnler und Profiteure des Krieges nicht aus den Augen verlieren und ihnen mit einer Übergewinnsteuer auf die Finger schlagen. Es ist gut, richtig und wichtig, auf die Folgen der Klimakatastrophe zu schauen. Wir sollten aber auch deutlicher und lauter als bisher die Täter benennen.
Es ist erschreckend, wie selten in unseren Medien über die Täter der Klimakatastrophe, über Kriegs-Profiteure und über die tatsächliche Ursache der Inflation berichtet wird.
Nachtrag: Die explodierenden Energiepreise und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich könnte im Herbst / Winter 2022 zu Energieaufständen auch in Deutschland führen. Diese werden schon jetzt im Internet von rechts-libertären Netzwerken und auch von Klimawandelleugnern vorbereitet, die (nicht nur in den USA) teilweise von amerikanischen Energiekonzernen und Energiemilliardären gesponsert werden. Die kommenden Demos gegen „das System“ und gegen die hohen Energiepreise werden auch von den Profiteuren der hohen Energiepreise finanziert.
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E-Busse statt Abgase: Krieg und Kenia auf Kampalas Straßen
Von Joachim Buwembo
Bisher galt E-Mobilität in Uganda eher als Spinnerei. Doch Präsident Museveni fing an, sie zu fördern. Nun zahlt sich das aus.
Jahrzehntelang hat Uganda den globalen Kampf gegen Klimawandel und für saubere Energie ignoriert. Jetzt plötzlich gibt es nichts Wichtigeres. Elektroautos werden entwickelt, um Benziner abzulösen. Dass das arme ostafrikanische Land jetzt ganz dringend seine chaotischen und abgasintensiven Minibusse überwinden will, das Rückgrat des öffentlichen Nahverkehrs, die aber zum Zeitpunkt ihres Imports schon zwanzig Jahre alt sind, und nun auf elektrische und geräuscharme Luxusbusse setzt, hat zwei Gründe, und sie liegen außerhalb des Landes.
Der erste Grund ist der Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Die Benzinpreise haben sich seitdem verdoppelt. Der zweite ist die Präsidentschaftswahl im Nachbarland Kenia, das wichtigste Transitland für Ugandas Im- und Exporte über den Hafen Mombasa am Indischen Ozean.
Über Mombasa kommen Ugandas Ölproduktimporte im Wert von 1,5 Milliarden US-Dollar im Jahr. Uganda nutzt Mombasa dafür seit über einem Jahrhundert und kümmerte sich um Alternativen erst, als Ende 2007 und Anfang 2008 Gewalt in Kenia nach umstrittenen Wahlen über 1.000 Tote forderte. Wütende Anhänger von Raila Odinga, die sich um dessen Sieg durch den damaligen Amtsinhaber Mwai Kibaki betrogen fühlten, rissen Teile der Eisenbahnlinie aus Mombasa Richtung Uganda, dem sie die Unterstützung Kibakis vorwarfen, aus den Gleisen.
Das panische Uganda tat sich sogleich mit Tansania zusammen, um die Alternativstrecke über den tansanischen Hafen Daressalam auszubauen. Aber dann kehrte in Kenia wieder Frieden ein und Uganda war wieder zufrieden mit Mombasa, das näher und moderner ist. Fracht aus Mombasa nach Kampala braucht nur halb so lang wie aus Daressalam.
Alle fünf Jahre gibt es Wahlen in Kenia, und jedes Mal bereitet sich Uganda halbherzig auf Probleme vor, wie die Lagerung von ein paar Millionen Litern Benzin mehr. Aber dieses Jahr fällt Kenias Wahl mitten in den Krieg in der Ukraine, und da reicht so was nicht mehr. Ugandas Regierung will nun den Verkehr auf Elektrik umschalten, um weniger Benzin zu benötigen.
Präsident vergaß das Projekt nicht
Bisher galt E-Mobilität in Uganda eher als Spinnerei. Ingenieursstudenten an der Universität Makerere in der Hauptstadt Kampala entwickelten 2011 das erste ugandische E-Auto, selbst entworfen und selbst gebaut. Sie luden Präsident Yoweri Museveni ein, damit auf dem Universitätsgelände herumzufahren. Die Öffentlichkeit spendete Beifall und das Projekt wurde vergessen. Nicht aber von Museveni.
Ist es die Hitze, Dürre und die allgemeine Schlappheit? Das Thema dieses Sommers scheint jedenfalls der Rücktritt zu sein. VW-Chef Herbert Diess gibt das Steuer aus der Hand; der nächste Papst redet davon, nicht erst im Himmel in Rente zu gehen; Birgitte Nyborg, die dänische Außenministerin in der Netflix-Serie „Borgen“, denkt gerade über ihr politisches Ende nach; und RBB-Intendantin Patricia Schlesinger tritt als ARD-Chefin und Senderleiterin zurück.
Vielleicht sollten wir so weitermachen. Es gibt jedenfalls noch eine Menge anderer Leute, auf deren Demission wir dringend warten. Weil sie ihre Arbeit nicht tun, ihr Amt beschädigen, unser Geld verprassen oder uns alle immer tiefer in den Mist reiten.
Wo soll man da anfangen? Vielleicht bei Manuela Schwesig, die als Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern mit Gazprom-Geld eine staatliche „Klimastiftung“ aufgebaut hat, um den dreckigen Nord-Stream-Deal mit einem Verbrecherregime grün anzumalen. Oder bei Andreas Scheuer, der offenbar das Parlament belog, trotz Warnungen 500 Millionen Steuergeld versenkt hat, trotzdem bis zum Ende Verkehrsminister bleiben durfte und weiter im von ihm ausgetricksten Bundestag sitzt. Was ist mit Markus Söder, der Bayern in 18 Jahren klimaneutral sehen will, statt Windrädern aber vor allem heiße Luft produziert? Oder mit so ziemlich allen Landwirtschaftsminister-Innen, unter denen die Höfe und Bauern sterben, die Tiere leiden, die Natur verkümmert und nur die fetten Agrarbetriebe gedeihen? Und schließlich: Könnte nicht endlich auch mal Gerhard Schröder vom Amt als Altkanzler zurücktreten?
Diese Blender, alle längst weg vom Fenster – leben aber von den Steuerzahlern !
Aber auch dann bleibt noch viel zu tun. Die EU-Kommission hat die Gelegenheit zum Rücktritt verpasst, als über Jahre der Emissionshandel floppte und 2010 die EU-Ziele zur Rettung der Biodiversität einfach mal verfehlt und um zehn Jahre gestreckt wurden. Der deutsche Nachhaltigkeitsrat zieht immer wieder eine düstere Bilanz des Regierens und Wirtschaftens – von Rücktritten danach keine Spur. Ähnlich geht es den anderen Öko-Warnern aus all den Kommissionen, Runden Tischen und Sachverständigenräten: Die Probleme werden immer besser bekannt und benannt. Konsequenzen für die (nicht) handelnden Personen: keine.
„Das Thüringer Festmahl“ von Arno Funke – Standort 1.Bratwurstmuseum Holzhausen Personen auf dem Bild „Das Thüringer Festmahl“ von Arno Funke: Thomas Münzer Martin Luther Johann Sebastian Bach Friedrich Schiller Lucas Chranach der Ältere Anna Amalia von Sachsen-Weimar Johann Wolfgang von Goethe Bratwurstkönig Obama Otto Dix Elisabeth von Thüringen Alfred Brehm Kloßmarie Angela Carl Zeiss
Die Minderjährige, die zu meiner Infektionsgemeinschaft gehört, findet mich stark verlangsamt. Ich stelle hierzu fest: Es stimmt.
Während sie zwischen Schnorcheln und Eis essen Seite um Seite verschlingt, kommt es mir vor, als wären die Buchstaben meiner Urlaubslektüre so zäh, dass ich mich nach jedem Umblättern erst einmal ausgiebig ausruhen muss. Ich lese sozusagen im Streckbetrieb.
zu langsam
Aber Streckbetrieb grassiert ja derzeit überall. Noch vor einem Monat beispielsweise war der Streckbetrieb bei Atomkraftwerken völlig indiskutabel. Superwirtschaftsklimaminister Robert Habeck befand: Bringt doch absolut rein gar nichts für unsere Versorgungssicherheit. Seit dieser Woche aber ist Streckbetrieb eventuell und ganz vielleicht und nur nach vielen, vielen Prüfungen was richtig Feines, denn es klingt so viel besser als „Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken“.
Andere haben damit deutlich weniger Probleme. Bundeskanzler Olaf Scholz hat beispielsweise schon immer im Streckbetrieb gelebt. Energie sondert er nur in sehr kleinen Dosen ab. Um die noch vorhandene Energie weiter zu strecken, ist der Kanzler nun in die Ferien gefahren. Deshalb gehörte es diese Woche zu Habecks Aufgaben als Vizekanzler, die Kabinettssitzung zu leiten. Und es hat jetzt nichts mit Missgunst zu tun, dass Außenministerin Annalena Baerbock ausgerechnet bei dieser Sitzung prompt zu spät kam.
zu spät
Für die Annalenas und Roberts dieser Welt wurde das englische Wort „frienemy“ erfunden. Auch auf Christian Lindner und seine Einstellung zu den Koalitionspartnern passt es ganz gut. Lindner ist aber noch nie im Streckbetrieb gefahren. Wenn überhaupt, kennt er sich nur mit Laufzeitverlängerung aus. Als er bei der FDP die Macht übernahm, war die Laufzeit der FDP im Bundestag abgelaufen. Eine Weile ist sie noch im Streckbetrieb gefahren, was Lindner so wenig ertrug, dass er bald eine Laufzeitverlängerung erreichte. Allerdings nur nach umfangreicher Überprüfung, zu der die FDP keinesfalls abgeschaltet werden musste – ebensowenig wie AKWs übrigens.
Habeck höchstselbst war 2016 als Landesminister in Schleswig-Holstein für Brokdorf zuständig und müsste eigentlich wissen, dass nicht stimmt, was er sagt. Aber gut, man kann sich ja nicht alles merken. Ich beispielsweise habe bereits vergessen, was auf der zurückliegenden Doppelseite meiner Urlaubslektüre stand. Es könnte daran liegen, dass Christian Lindner der Autor ist und das Buch „Schattenjahre“ heißt. Die Vorstellung von Lindner im Schatten ist so schwierig, dass sie in meinem Gehirn beständig wieder gelöscht wird.
Loitz bekam den Zuschlag als Zukunftsstadt 2030+. Aber was ist von den Hoffnungen gegen den Strukturverfall im pommerschen Hinterland geblieben?
Im Restaurant „Korl Loitz“ ist Hochbetrieb. Die Camper vom „Amazonas-Camp“ nebenan decken sich mit Loitzer Torf-Bier und Cola ein, um die kalten Getränke auf der Terrasse des Restaurants oder auf den Stufen zum Hafenbecken zu genießen. Träge fließt die Peene vorbei, auf der anderen Seite steht meterhohes Schilfrohr. Das Restaurant im stillgelegten Bahnhofsgebäude liegt direkt gegenüber dem Hafen mit seinem leerstehenden riesigen Backsteinspeicher.
Es ist die einzige Einkehrmöglichkeiten neben dem Bistro mit Döner und Pizza in Loitz (gesprochen „Lötz“), einem 4.300 Einwohner zählenden Städtchen in Mecklenburg-Vorpommern. Die Alterskurve zeigt den höchsten Ausschlag bei der Gruppe der 45- bis 59-Jährigen (1.067) und fast noch mal so viele zwischen 60 und 74. Jetzt im Sommer kommen Wassertouristen, Angler und Ausflügler dazu. Doch bald soll hier alles anders werden: Loitz zählt zu den Gewinnern des Bundeswettbewerbs „Zukunftsstadt 2030+“.
„Amazonas des Nordens“ wird die Peene bisweilen genannt. Sie ist Lebensader eines der größten zusammenhängenden Niedermoorgebiete Mittel- und Westeuropas mit einer Fläche von etwa 20.000 Hektar: ein CO2-Speicher. Die Peene mäandert durch Heide, Äcker und Wald – ein fast unberührter Fluss. Bei Loitz haben sich ehemalige Torfabbauflächen mit Wasser gefüllt und sind über Zugänge mit der Peene verbunden.
Das schafft traumhafte Bedingungen für die Tierwelt: Fast 40 Fischarten leben hier. Dazu kommen mehr als 150 Vogelarten, Amphibien, unzählige Insekten, Fischotter und Biber. Typische, selten gewordene Pflanzen wie Ostsee-Knabenkraut, Mehl-Primel oder verschiedene Sumpfblumen und zwölf Orchideen-Arten breiten sich dort aus. Sie gedeihen prächtig an den weitgehend naturbelassenen Ufern der Peene.
Zukunftsstädte
Der Wettbewerb
Loitz wurde gemeinsam mit sieben weiteren Städten – Bocholt, Norderstedt, Lüneburg, Ulm, Gelsenkirchen, Dresden und Friedrichstadt – als Gewinner des Wettbewerbs Zukunftsstadt 2030+ ausgewählt. Mit dem Wettbewerb des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) sollen Teams aus Bürgerinnen und Bürgern, Wissenschaft, lokaler Politik, Wirtschaft und Verwaltung mit ihren Vorstellungen in ihren Kommunen an einen Tisch gebracht werden. Ziel ist die Entwicklung nachhaltiger Projekte für die Stadt.
Die Vision
Insgesamt umfasst die Aktion drei Phasen: von der Entwicklung einer gemeinsamen Vision für eine nachhaltige und lebenswerte Zukunft in der Stadt über die Planung der Umsetzung bis hin zur nun anstehenden Realisierung der Vorhaben. Das BMBF will Kommunen dabei unterstützen, den nachhaltigen Wandel konstruktiv und wirksam zu gestalten. Und die Innovationsplattform Zukunftsstadt soll einen Marktplatz bieten, der erfolgreiche Lösungen aufzeigt.
Das Geld
Aufbauend auf den Ergebnissen aus den Zukunftsstadt-Projekten unterstützt das BMBF Städte, Gemeinden oder Landkreise mit 200.000 Euro für zwei Jahre, um Forschungsergebnisse und innovative Ansätze der nachhaltigen Stadtentwicklung mit anderen Städten der Europäischen Union zu teilen und im partnerschaftlichen Austausch die Umsetzung in die Praxis voranzutreiben.
Seit 2011 steht diese Landschaft unter Schutz: als Naturpark Flusslandschaft Peenetal. Nachhaltiger – oder auch „sanfter“ – Tourismus soll eine wirtschaftliche Alternative für die Bewohner des dünn besiedelten Landstrichs bieten.
Loitz ist trotz Peene-Idyll und der unmittelbaren Nähe zu Greifswald verschlafen. Hier verfallen leerstehende Wohnhäuser, wie auch die ehemalige Kartoffelstärkefabrik, die früher Arbeitsplatz für viele war. Neben der neuen Sparkasse gibt es einige Friseurläden, einen Blumenladen, Elektroshop und die Großversorger Aldi und Edeka. Seit Neustem organisierte Anette Riesinger, zugezogene Loitzerin, einen Wochenmarkt. Jeden Mittwoch können die Loitzer hier Brot aus Hohenbrünzow und Fleisch von einem Biometzger bei Behrenhoff kaufen. Ansonsten tote Hose.
Oder eben doch nicht ganz: Die Stadt ist in Sachen Kultur in Vorpommern bekannt geworden. Regelmäßig gibt es Aktionen, zahlreiche Kunstschaffende haben sich in und um Loitz niedergelassen. So gilt etwa der „Kultur-Konsum“ als feste Adresse für Ausstellungen, Veranstaltungen und Zusammenkünfte. Auch der „Ballsaal Tucholski“ gleich um die Ecke ist ein kultureller Treffpunkt, unter anderem als Spielstätte der „Festspiele Mecklenburg-Vorpommern“.
Der Verein „Künstlergut Loitz“ mit seinem Ausstellungsdomizil „Peenetranz“ in einer Baracke des ehemaligen Reitertouristikheims aus den 1960er Jahren bietet Kunst und 21 Gästezimmer. Hinzu kommt die jährliche Beteiligung an der landesweiten Aktion „Kunst:Offen“.
Nachhaltig Farbe und Leben im Alltag bringen der Kleinstadt die Wandmalereien des Künstlers Hein Lohe. Er lebt seit acht Jahren hier, nennt sich selbst einen „Graffiti-Opa“. Nach Loitz sei er wegen der „morbiden Jungfräulichkeit“ des Ortes gekommen. „Ich bin einfach an offensichtlich herrenlose beziehungsweise ungepflegte Wände herangegangen, und seltsamerweise hat es niemanden gestört.“ Im Gegenteil: Er habe viel Zuspruch für seine Farbe bekommen, sagt der zunächst unauffällige Endfünfziger, der in Loitz’ ehemaliger Kirche wohnt. Hein Lohes Graffiti überraschen, geben bröckelnden, grauen Fassaden neuen Optimismus.
Ballsaal-Betreiber Peter Tucholski hingegen ist eigentlich kein richtiger Neubürger: Sein grau verputzte Fachwerkhaus ist ein Familienerbe. Der 70-jährige Theaterschaffende, Kurator und Kneipier kam aus Berlin nach Loitz zurück in sein Elternhaus. Im 200 Quadratmeter großen Ballsaal des ehemaligen Hotels und späteren Internats veranstaltet er heute etwa Tango- und Salsakurse.
Loitz lockt Großstadtmenschen mit Basiseinkommen in Leerstände – die sie im Gegenzug aufwerten
Im großzügigen Hinterhof des Ballhauses, der sich in einer Wiese bis an die Peene erstreckt, treffen sich an diesem Abend Loitzer Bürger zum Gespräch. Fast alle sind aus Großstädten nach Loitz gezogen. Die meisten haben die Hoch-Zeit ihres Berufslebens hinter sich und engagieren sich für die Künste und die Zukunft ihrer Wahlheimat. Eine echte Aufbruchsstimmung habe es vor ein paar Jahren in der Kleinstadt gegeben, auch wenn davon nur wenig übrig geblieben sei.
Von allein kam der kulturelle Neustart nicht. Um dem Strukturverfall im vorpommerschen Hinterland die Stirn zu bieten, nahm Loitz 2015 am bundesweiten Wettbewerb „Zukunftsstadt 2030+“ teil. Der Wettbewerb, den das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ausschreibt, stellt Gemeinden Fördermittel zu Verfügung. Die Bürger sollen zusammen mit der Verwaltung eine ganzheitliche und nachhaltige Vision 2030+ für ihre Kommune entwickeln. Die Mittel sind für die Umsetzung von Ideen, nicht aber für konkrete Investitionen gedacht.
Eines der für die Ausschreibung erdachten „Leuchtturmprojekte“ ging etwa so: Loitz lockt kreative Großstadtmenschen mit einem Basiseinkommen in seine leerstehenden Häuser – für die sie als Gegenleistung ein Nutzungskonzept erstellen sollen.
In einem dieser Häuser lebt heute Bernd Borgmann. „In das Projekt Zukunftsstadt haben die Leute Hoffnung gesetzt“, sagt der Rechtsanwalt aus Berlin. Direkt gegenüber Tucholskis Ballsaal betreibt er die Galerie „Peenerei“, wo sich die Bürger in der ersten Projektphase zusammengesetzt und Ideen entwickelt haben. Aus dem dafür gegründete Partizipationsbüro wurden 30 Projekte eingereicht.
Mitten in diesen unübersichtlichen Zeiten, in denen Krieg in Europa herrscht und die Weltordnung zerbröselt, stellt sich die Frage: Haben wir in den ersten Monaten des Jahres ein Momentum erlebt, in dem die sozial-ökologische Transformation unseres Landes eine entscheidende Wendung hätte nehmen können? Sind wir dabei, dieses Momentum zu verpassen?
Der Überfall Russlands auf die Ukraine bedeutet für Öl und Gas das, was die Kernschmelze in Fukushima für die Atomkraft bedeutet hat. Nach dem Tsunami in Japan war auch den Letzten klar, dass die Risiken von Kernkraftwerken auch für technologisch weit entwickelte Industriegesellschaften nicht kalkulierbar sind. Nun beendet der Krieg in Europa die Erzählung vom beständig verfügbaren, billigen Gas und Öl, deren Herkunft keine Rolle spielt. Technologie, die auf ungestörter Versorgung durch Erdgas- und Ölpipelines beruht, hat keine Zukunft mehr. Während der Industrie schon länger mehr oder weniger klar war, dass sie auf Erdöl als Energierohstoff zumindest langfristig würde verzichten müssen, galt ihr Erdgas mit seiner vermeintlich besseren Klimabilanz als unbedenkliche Alternative. Gas zu substituieren, das war ein Projekt höchstens in einer ganz, ganz fernen Perspektive.
Das hat sich nun geändert. Auch wenn jetzt rasch Kapazitäten für Flüssiggaslieferungen aufgebaut werden und die Versorgung somit gesichert bleiben sollte, wird Gas auf jeden Fall teurer werden. Unternehmen und Privatpersonen werden ihren Energiebedarf für Industrieprozesse oder zur Strom- und Wärmeerzeugung mittelfristig nicht mehr mit Erdgas decken können und wollen – weil es zu teuer ist und der Schock, die Heizungen könnten kalt bleiben, weil ein ferner Diktator es so will, bei vielen tief sitzt.
Das ist gut, denn auch Erdgas ist nicht klimaneutral. Einmal mehr erweist sich eine Brückentechnologie als Sackgasse. Flugs entdeckte der Porsche-Fan und Finanzminister Christian Lindner (FDP) erneuerbare Energien denn auch als „Freiheitsenergien“, und Hausbesitzer*innen rennen den Heizungsinstallateuren die Türen nach Wärmepumpen ein.
Zugleich schreibt die Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer in der Wochenzeitung „Die Zeit“, nur weil die Richtigen regierten, werde nicht unbedingt auch richtig regiert, und rechnet tief enttäuscht mit der Energie- und Klimapolitik der Bundesregierung ab.[1] Sie ist die prominenteste Stimme in einem größeren Chor. Der Vorwurf: Die Bundesregierung verheddert sich in populistischen, kurzatmigen Aktionen wie dem von Finanzminister Lindner durchgesetzten Tankrabatt, mit dem sie dringend für anderes benötigte Steuermilliarden auf die Konten der Mineralölkonzerne umlenkt, oder dem Neun-Euro-Ticket, das zu überfüllten Zügen, aber keinem zusätzlichen Angebot im Öffentlichen Nahverkehr führt.
Und tatsächlich: Eine wahre Liste des Grauens hat Klimaminister Robert Habeck inzwischen aufgestellt: Er lässt Kohlekraftwerke länger laufen und schafft mit neu geplanten LNG-Terminals fossile Infrastruktur für einen Rohstoff, der doch eigentlich der Vergangenheit angehören soll, ja mehr noch: Es werden auch neue Abhängigkeiten von Autokratien geschaffen. Wetten darüber, ob der grüne Minister auch aus dem Atomausstieg wieder aussteigt, werden Mitte Juni noch entgegen genommen. Gibt es aber zugleich auch irgendwelche lautstarken Initiativen für den Einstieg in eine ökologische Kreislaufwirtschaft? Wenige.
Experiment Ampel
Seit ihrem ersten Regierungstag ist die Ampel ein Experiment. Als solches war und ist sie ja besonders deswegen interessant, weil ihre Versuchsanordnung in Bezug auf die sozial-ökologische Transformation in etwa die Positionen der Gesellschaft spiegelt: Die Grünen stehen für die ökologische Avantgarde der akademischen Mittelschichten, die mehrheitlich, obgleich sie zum Teil einen Lebensstil mit einem vergleichsweise hohen Ressourcenverbrauch pflegen, zumindest einer Transformation hin zu weniger Mobilität, weniger Konsum sowie neuen Wohnformen nicht im Weg stehen wollen und entsprechende Gesetze und Preise tolerieren würden (und größtenteils auch bezahlen könnten). Die Klientel der SPD verhält sich, wie die Partei, abwartend. Man darf davon ausgehen, dass Partei und Wähler*innen überwiegend verstanden haben, dass die fossile Industriegesellschaft angesichts des Klimawandels mittelfristig ein Ende finden muss, doch scheinen die Konsequenzen zu hart. Was auch nicht verwundert, weil das Klientel der Arbeiter und Angestellten der unteren Mittelschichten mit ihrem global hohen Konsumniveau der große Verlierer in einer postfossilen Gesellschaft werden könnte. Insofern spielt etwa SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil eine wichtige Rolle, weil er die Schwächen der post-industriellen Arbeitswelt – Stichwort Plattform-Ökonomie – erkennt und an Lösungen arbeitet. Über konkretes klima- oder umweltpolitisches Know-how verfügt die Partei allerdings noch immer kaum. Das grüne Milieu erwartet endlich und schnell Gesetze, die den Schutz von Klima und Natur gewährleisten. Das sozialdemokratische Milieu gilt es mitzunehmen und zu überzeugen.
Das Klientel, zu dem die FDP spricht, dürfte Klimawandel und Artensterben hingegen nicht als fundamentale Krisen auffassen. Falls es den Begriff „sozial-ökologische Transformation“ schon einmal gehört hat, hält es ihn wohl für esoterischen Blödsinn oder gleich für einen gefährlichen Einstieg in die Planwirtschaft. Dieses Milieu ist mit Argumenten kaum zu erreichen und zu Verhaltensänderungen – weniger Fliegen, weniger Fleisch konsumieren, weniger Autofahren – nur über den Preis oder über das Ordnungsrecht zu bewegen.
Das Problem dabei: Mit der FDP sitzt dieses Milieu in der Regierung und entscheidet über das Ordnungsrecht mit. Sie müsste Instrumente, wie beispielsweise ein Tempolimit, ein schnelles Verbot von Verbrennungsmotoren oder CO2-Budgets für private Flugreisen verabschieden; genau wie Vorschriften, in den nächsten Jahren Gasheizungen in Wohngebäuden auszutauschen oder Häuser energetisch zu sanieren. Laut dem Weltklimarat IPCC müssen die globalen Treibhausgasemissionen im Jahr 2025 ihren Höhepunkt erreichen und danach sinken, um das 1,5-Grad-Ziel überhaupt noch zu erreichen. Die Jahre bis 2030 sind entscheidend wichtig, um das Klima auf der Erde stabil zu halten. Für die Bundesregierung heißt das: Wenn sie die Ziele des deutschen Klimaschutzgesetzes einhalten will, müssen die Grünen das Kunststück vollbringen, sowohl die SPD zu überzeugen, ehrgeizige Gesetzesprojekte mitzutragen, als auch die FDP in der Regierung zu halten und sie dabei notwendigerweise inhaltlich so weit wie möglich zu neutralisieren.
Eine Wärmewende ist nötig
Die Reaktion des grünen Klima- und Wirtschaftsministers auf mögliche Lieferstopps von Gas und Öl in der ersten Jahreshälfte lässt diese Herausforderung in einem neuen Licht erscheinen. Robert Habeck hat sich vor allem als klassischer Wirtschafts- und Energieminister verhalten, der einen drohenden Energieengpass managt. Die Interessen der Industrie und ihrer Arbeiter*innen und Angestellten fest im Blick, hat er auf diese Weise moralisches und politisches Kapital angehäuft, das sich in hohen Sympathiewerten in der Bevölkerung äußert. In den politischen Debatten, die in den nächsten Monaten anstehen, wird er das dringend brauchen. Konkret geht es darum, Mehrheiten für eine grundlegend neue Gebäude-, Verkehrs- und Energiepolitik zu organisieren.
Urlaub zwischen Pandemie und Krieg: Ehe die Welt untergeht
Von : Fatma Aydemir
Immer häufiger stellt sich die Frage: Wer kann sich eigentlich noch einen Urlaub leisten? Und was macht fehlende Erholung mit einer Gesellschaft?
Neulich traf ich diesen Freund aus den USA, der seine Sommer immer in Berlin verbringt. Außer in den letzten beiden Jahren natürlich, die Reisebeschränkungen in der Anfangsphase der Pandemie zwangen ihn, zu Hause zu bleiben. Nun freute er sich, endlich wieder da zu sein, erinnerte sich, wie sehr ihn seine allererste Reise nach Europa geprägt hatte.
Und dann stellte er eine gewagte, aber letztlich doch recht weit verbreitete These auf: „Die meisten Amerikaner waren nie im Ausland, weil sie es sich nicht leisten können. Das ist sehr fruchtbarer Boden für die Behauptung, die uns früh schon eingetrichtert wird: dass wir im besten Land der Welt leben.“
Reisen wird ja oft als eine wegweisende Erfahrung wahrgenommen, die den Blick für andere Perspektiven weitet. Nicht im Sinne von weißen Hippie-Touris auf Bali, die bei Locals betteln, um die Kreditkarte nicht zücken zu müssen. Ich meine, im Sinne von ehrlichen Begegnungen.
Ich musste an die Autorin Maya Angelou, ebenfalls US-Amerikanerin, denken, die schrieb mal: „Reisen hilft dem Individuum, sich von der eigenen Ignoranz zu befreien. Manchmal glauben Menschen, Ignoranz sei das Ausbleiben von Lernen […]. [Ignoranz] ist aber ein Mangel an Kontakt, nicht, weil die Person nichts lernen möchte. [Der Kontakt] wurde ihr lediglich verwehrt.“
Durch Urlaub tritt man in Kontakt mit sich selbst
Nun lässt sich darüber streiten, wie viel Kontakt mit anderen Lebens- und Sichtweisen eigentlich ein All-inclusive-Urlaub in einer Resort-Anlage bedeutet. Doch ist es auch ziemlich snobby, einer überarbeiteten Mutter oder einer Vollzeitpflegekraft die Woche Auszeit und den Cocktail an der Strandbar madig zu machen. Sie sollten sich den gönnen können, nicht nur für eine Woche im Jahr.
Vielleicht ist das ja auch bloß eine andere Form des Kontakts, sich ein paar Tage lang der Außenwelt komplett zu entziehen. Wenn die Verantwortung für Wäsche, Einkauf und die Mitmenschen entfallen, tritt man dann nicht automatisch in Kontakt mit sich selbst und den eigenen Bedürfnissen?
Als diese Woche das Lufthansa-Bodenpersonal streikte und mehrere Hundert Flüge gestrichen wurden, liefen die Menschen trotzdem in Scharen durch die Abflughallen. Die meisten wussten vom Streik, trotzdem hatten sie ihre Koffer gepackt, waren zum Flughafen gefahren und warteten, wie auf ein Wunder. Dabei waren es sehr irdische Forderungen, die zu dem Warnstreik führten: 9,5 Prozent Lohnerhöhung angesichts der hohen Inflation, der Überbelastung des Personals und dessen Lohnverzicht über die letzten drei Jahre, in denen der Flugverkehr stark eingeschränkt war.
Kein maschinenlesbarer Autor angegeben. Ssolbergj ging davon aus (aufgrund von Urheberrechtsansprüchen). – Keine maschinenlesbare Quelle angegeben. Eigene Arbeit vorausgesetzt (aufgrund von Urheberrechtsansprüchen).
CC VON 2.5Dieses Bild enthält kommunistische Abzeichen, die in einigen Ländern verboten sein können.
Der Klimanotstand ist nicht mehr zu ignorieren, trotzdem mangelt es an Handlungsbereitschaft. Das hat auch psychologische Gründe – wir denken erst um, wenn wir selbst Katastrophen erleben. So bitter es klingt: Das werden wir.
Die Klimaforscherin Friederike Otto hat der »taz« diese Woche einen beklemmenden, wenn auch nicht überraschenden Satz gesagt: »Wir müssen auch in Europa lernen, dass Wetter tödlich sein kann.« Wir müssten lernen, uns zu schützen. Noch ist nicht sicher, wie viele Menschen den extremen Temperaturen dieser Woche zum Opfer gefallen sind, hierzulande und weltweit, aber dass diese extreme Hitzewelle Todesopfer gefordert hat, ist sicher .
Dass die schlimmste wetterbedingte Katastrophe der deutschen Nachkriegsgeschichte gerade erst ein Jahr her ist, rutscht angesichts der aktuellen Nachrichtenlage schon wieder fast in den Hintergrund. Starkregen wird durch die Erderhitzung wahrscheinlicher, auf Hitzewellen trifft das noch ungleich stärker zu, und, so Friederike Otto: »Hitzewellen sind mit Abstand die tödlichsten Extremwetterereignisse, die wir in Europa haben.« Europa, heißt es in einer kürzlich erschienen »Nature«-Studie , ist ein »Hitzewellen-Hotspot«.
Und die Hitzewelle betrifft nicht nur Europa, sondern weite Teile des Planeten.
Dass wir längst mittendrin stecken in der Klimakrise, sollte nun wirklich für alle offensichtlich sein. Trotz alledem gibt es weiterhin Menschen, die die menschengemachte Erwärmung nicht wahrhaben wollen. In Deutschland sind das einer britischen Studie zufolge immer noch 18 Prozent . »Es ist eben Sommer«, konnte man diese Woche in den sozialen Medien häufiger lesen. Natürlich wird diese Position mit jedem weiteren Extremwetterereignis noch absurder, aber sie ist immer noch da.
Viel problematischer ist aber mittlerweile etwas anderes: Die meisten Menschen wissen oder ahnen jetzt, dass das, was die Klimaforschung seit Jahrzehnten ankündigt, jetzt wirklich eintritt, und zwar oft schneller als erwartet. Sie ziehen daraus aber keinerlei Konsequenzen. Noch nicht ganz so klar scheint vielen zu sein, dass wir weiterhin erst am Anfang einer Periode stehen, in der es immer heißer, immer extremer werden wird. Das schlägt sich aber auch in der Berichterstattung noch nicht ausreichend nieder – oder wie viel haben Sie vom »Petersberger Klimadialog« diese Woche mitbekommen?
Nur ein Drittel »sehr besorgt«
Der oben zitierten Befragung zufolge sind nach wie vor nur 34 Prozent der Deutschen »sehr besorgt« über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Zukunft der Menschheit, weitere 45 Prozent »etwas besorgt«. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch in den übrigen europäischen Ländern, die in der Studie vorkommen. Das ist eine enorm verzerrte Wahrnehmung der Realität.
Am größten ist die Sorge in Italien, am geringsten in Norwegen – was viel mit persönlichen Erfahrungen mit Extremwetter, Hitze und Dürre zu tun haben dürfte. Interessanterweise wachsen die Anteile der Besorgten, wenn nicht nach der Menschheit, sondern nach »künftigen Generationen« gefragt wurde. Um deren Klimazukunft sorgen sich in Deutschland demnach immerhin fast die Hälfte »sehr« und weitere 34 Prozent »etwas«.
Noch immer fehlen die Mehrheiten
Für wirklich entschlossenes Gegensteuern scheinen aber weiterhin die politischen Mehrheiten zu fehlen. Der jetzt regelmäßig in Deutschland durchgeführten Planetary Health Action Survey (PACE) zufolge ist die Bereitschaft, in Sachen Klima zu handeln – individuell wie politisch – in Deutschland sehr ungleichmäßig verteilt.
Am weitesten verbreitet ist Handlungsbereitschaft bei den Wählerinnen und Wählern der Grünen (82 %), am wenigsten bei denen von AfD (21 %) und FDP (26 %). Das erklärt vermutlich auch Teile des Verhaltens von FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner und Verkehrsminister Volker Wissing. Und natürlich der massive Einfluss von Porsche auf die FDP-Spitze, den »Die Anstalt« diese Woche enthüllte . Demnach brüstete sich Porsche-Chef Oliver Blume bei einer Betriebsveranstaltung, Lindner habe ihn während der Koalitionsverhandlungen »fast stündlich auf dem Laufenden gehalten«. Nicht alles ist Psychologie, vieles auch nur knallharte, skrupellose Klientelpolitik.
Unter den Wählerinnen und Wählern der SPD sind immerhin fast zwei Drittel (62 %) handlungsbereit in Sachen Klima, unter denen der Union aber weniger als die Hälfte (42 %).
Psychologische Grundkonstanten
Für dieses (Ver-)Zögern im Angesicht der Katastrophe gibt es – neben fossiler Propaganda und Lobbyeinfluss – eine ganze Reihe von psychologischen Erklärungen.
Die einfachste und kürzeste ist das moderne Äquivalent dessen, was Freud »Verdrängung« genannt hätte. Im Jargon der Kognitionspsychologie heißt das: Dissonante Information wird abgewertet, konsonante Information wird aufgewertet. Wenn wir etwas wissen, das eigentlich mit unserem eigenen Verhalten oder unseren Einstellungen unvereinbar ist, dann suchen wir Menschen nach Informationen und Deutungen, die den Widerspruch zu reduzieren scheinen. Deshalb kennt jeder Raucher einen Raucher, der 90 Jahre alt geworden ist.
Beim Klima klingt das so: »Ist eben Sommer.« »Deutschland stellt nur ein Prozent der Weltbevölkerung.« »Aber China.« »Wir brauchen Technologieoffenheit.« »Wir tun doch schon mehr als andere.«
Auf der internationalen Bühne spielt die Klimakatastrophe zurzeit nur eine Nebenrolle. Das muss sich ändern: Die Industrienationen sind gefragt.
Von der Coronapandemie über Russlands Krieg in der Ukraine hin zu einer beispiellosen Inflation und drohenden Hungerkatastrophe: Je mehr Krisen auftauchen und die Verantwortlichen in Politik und Medien auf Trab halten, desto stärker rückt das Thema Klimaschutz auf der internationalen Agenda in den Hintergrund. Selbst eingeschworene Klimaaktivisten stehen nun vor der Frage, wie sie weiterhin überzeugend auf die dringend notwendigen Maßnahmen für einen gerechten Umstieg auf eine kohlenstoffarme Wirtschaft pochen können.
Doch auch wenn Schlagzeilen regelmäßig wechseln und immer neue Krisen erschütternd sind – das Klima sollte nicht auf die lange Bank geschoben werden. Die Klimakrise ist ein Dauerzustand; sie verschärft sich rasant und erfasst alle Bereiche unseres wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Und aus eben diesem Grund sollten wir die aktuelle Reihe globaler Krisen unter dem Aspekt des Klimas betrachten.
Tatsächlich aber haben sie sich für den einfachen Weg entschieden, indem sie die Klimaresilienz auf die lange Bank schoben und der kurzfristigen Sorge um steigende Ölpreise den Vorrang gaben. Das Resultat liegt auf der Hand: ein Ausbau fossiler Brennstoffe, der steigende Emissionen in den wohlhabenden Staaten und prekäre Verhältnisse in armen Ländern nach sich zieht. Damit nehmen die G7-Staaten in Kauf, dass sich die Lebensumstände all jener verschlechtern, die den Klimarisiken am stärksten ausgesetzt sind – und das nur wenige Monate vor der nächsten UN-Klimakonferenz im ägyptischen Scharm al-Scheich (COP27) im November.
Unsere Verantwortlichen in der Politik dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken. Wenn wir die globalen Treibhausgasemissionen nicht jetzt deutlich reduzieren, werden wir nie in der Lage sein, dieses Ziel zu erreichen. Die Dringlichkeit, die in den jüngsten Berichten des Weltklimarats zum Ausdruck kommt, verdeutlicht die Notwendigkeit sofortigen Handelns. Jeden Tag sehen wir in den Nachrichten, wie die Klimakrise die Lebenssituation einiger der am meisten gefährdeten Gemeinschaften der Welt zusehends verschlechtert. Diese Menschen tragen kaum Verantwortung für die Erderhitzung.
Als im April schwere Überschwemmungen und Erdrutsche in Südafrika zum Tod von mindestens 443 Menschen und Vertreibung von mehr als 40.000 führten, erwähnten viele internationale Medien nicht einmal das Wort „Klimawandel“. Derartige Naturkatastrophen ereignen sich indes nicht nur in weit entfernten Ländern. In Deutschland und Belgien richteten im vergangenen Jahr Überschwemmungen verheerende Schäden an, bei denen mindestens 180 Menschen ums Leben kamen; ganze Ortschaften wurden überflutet, Bahngleise weggeschwemmt. In den kommenden Jahren werden wir vermehrt und in beschleunigtem Tempo mit solchen Katastrophen konfrontiert werden – und wir sind überhaupt nicht darauf vorbereitet.
Aktuell stellen wir jedoch fest, dass viele Länder ihren Verpflichtungen zur Emissionsreduzierung nicht nachkommen – insbesondere diejenigen, von denen man eine Vorreiterrolle erwartet hatte. Laut UN-Generalsekretär António Guterres lügen einige dieser Länder schlichtweg, wenn es darum geht, die angestrebte Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius einzuhalten. Auch das Finanzpaket der G7 greift zu kurz und kommt zu spät, zumal die angekündigten Finanzierungsquellen nicht wirklich als neu zu bezeichnen sind. Solche widersprüchlichen Verhaltensweisen untergraben das Vertrauen und schwächen die zukunftsweisenden Bündnisse zwischen Industrie- und Entwicklungsländern.
File:Group photo of the G7 members at the Scholss Elmau summit (2).jpg
Erstellt: 26. Juni 2022
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Unten — Dieses Balkendiagramm ist eine visuelle Darstellung der Temperaturänderung in den letzten 100+ Jahren. Jeder Streifen repräsentiert die Temperatur, die über ein Jahr gemittelt wird. Die Durchschnittstemperatur in den Jahren 1971-2000 wird als Grenze zwischen blauen und roten Farben festgelegt, und die Farbskala variiert von ±2,6 Standardabweichungen der jährlichen Durchschnittstemperaturen zwischen den im Dateinamen genannten Jahren. Datenquelle: Berkeley Earth. Für weitere Informationen besuchen Sie https://showyourstripes.info/faq
Große Brände werden in Zeiten der Klimakrise zur neuen Normalität. Dagegen müssen wir als Gesellschaft eine Feuerkultur entwickeln – und wir brauchen eine politische Antwort.
Auf einer Aussichtsplattform auf einem Berg stehe ich. Mein Blick wandert den Hang herab über den verkohlten Boden. Er ist von verbrannten Vegetationsresten bedeckt. Langsam hebe ich den Blick, sehe verbrannte Bäume. Leichte Irritation, dass an manchen noch Blätter hängen. Doch auch die sehen verbrannt aus.
Mein Blick schweift langsam weiter, ich erkenne, dass Rauchschwaden in der Luft hängen, was ich schon zuvor anhand des Geruchs erahnte. Immer höher schaue ich, und es entfaltet sich eine Höllenlandschaft. Es wirkt nicht real, eher wie eine gigantische Katastrophenfilmkulisse. Vernebelt vom Rauch verbrannter Bäume, Pflanzen, Tiere reiht sich Hügelkette an Hügelkette hintereinander, jede einzelne ist bewaldet, oder treffender: war bewaldet.
Denn die Bäume sind allesamt verbrannt. Da ist einfach nichts mehr, nichts außer Baumskeletten und Rauch in der Luft. Anders als frischer Brandrauch schmerzt er jetzt nicht mehr in Nase und Rachen, rund zehn Tage, nachdem die letzten größeren Feuer erloschen sind. Aber ich nehme eine Art olfaktorisches Echo der beißenden Schwaden wahr, meine Nase erinnert sich an den aggressiven Rauch eines noch brennenden Feuers einige Tage zuvor.
Mein Blick führt in die Ferne, ein, zwei, drei, vier, fünf Reihen von Hügeln, alles verbrannt. Bis zum Horizont lässt sich kein Flecken ausmachen, wo die Feuer nicht gewütet hätten. Es fühlt sich an, als sei hier zwar eine besonders eintönige Form der Apokalypse geschehen, aber doch eine Apokalypse. Ich habe diese Momente auf einem kurzen Video festgehalten; es gibt einen ungefähren Eindruck.
Deutschland steuert auf ein Brandrekordjahr zu
Die Szene ist Anfang 2020 in Australien aufgenommen, als ich zu den damaligen Jahrhundertbränden reiste, die wir – eine Pandemie und einen europäischen Angriffskrieg später – am anderen Ende der Welt praktisch vergessen haben. Meine Reise hatte damals den Grund, dass mich solche Großbrände faszinieren, ein Satz, der zugegebenermaßen klingt wie »ich höre gern Musik«. Aber das, was ich dort beobachten konnte, und auch die Gespräche mit Betroffenen helfen mir, die derzeitigen Brände besser einzusortieren.
Der Grund, weshalb ich meine australischen Recherchen aufschreibe, gehört zu den unterschätzten Konsequenzen der Klimakatastrophe: Deutschland wird jetzt zum Waldbrandland. Das sagt Waldbrandexperte Somidh Saha vom Karlsruher Institut für Technologie . Diese Einschätzung folgt dem Forschungsprojekt »Pyrophob« , das in Brandenburg untersucht, wie sich »Wälder gegen Brände und Klimawandel wappnen« können. Dabei geht es auch darum, wie sich Wälder nach einem Waldbrand erholen können, hier hat die Forschung allerdings einen Rückschlag erlitten – denn ein großer Teil der Forschungsfläche ist kürzlich erneut verbrannt .
Ganz Europa brennt derzeit, Deutschland steuert auf ein Brandrekordjahr zu. Australien ist nach Meinung von Fachleuten schon sehr lange ein Wald- oder Buschbrandland. Ein deutlicher Hinweis ist einerseits die uralte, kluge Brandkultur der indigenen Bevölkerung. Und andererseits gibt es in Australien viele pyrophile Pflanzen wie etwa Banksien . Das sind Bäume, die Feuer für die Vermehrung gut gebrauchen können. Die äußere Schicht ihrer Zapfen verbrennt, darunter aber ist ein Stoff, der das Innere mit den Samen vor der Hitze schützt.
Nach dem Feuer öffnen sich die Samenkapseln, oft beim ersten Regen, der auf den verbrannten Zapfen trifft. Weil Australien schon so lange Waldbrandland ist, kann man die dortigen Erkenntnisse nur in Teilen auf Deutschland übertragen. Aber manches kann man eben doch lernen.
Die Überromantisierung der Natur
Die vielleicht wichtigste Lehre ist, dass die Überromantisierung der Natur, die in Städten noch stärker wirkt als auf dem Land, völlig fehl am Platz ist. In Australien hat die aus Europa mitgebrachte weiße, rassistische Arroganz lange Jahre dazu geführt, dass die alte Feuerkultur der Aborigines verachtet wurde . Sie wurde ersetzt durch die Bekämpfung des Feuers ohne jede Differenzierung, weil in den weißen Köpfen Feuer etwas ausnahmslos Böses, Schlechtes, Bedrohliches war.
Brandbekämpfungsstrategien in Australien eine Rolle gespielt. Dabei ist die gezielte Zerstörung der Natur ein wichtiger Teil des langfristigen Schutzes. Regelmäßige, kontrollierte und zu bestimmten Zeiten absichtlich gelegte Brände verhindern, dass zu viel brennbares Unterholz entsteht.
Die Überromantisierung der Natur und speziell des Waldes ist auch eine urdeutsche Haltung, sie geht leider oft einher mit dem völligen Ignorieren der Regeln eines Ökosystems und wird ergänzt durch ökonomische Gier und Kurzsicht. Aus diesen Gründen wurde über Jahrzehnte in einigen Teilen Deutschlands eine Art monokultureller Blitzwald etwa aus Kiefern geschaffen, der besonders schnell wächst . Aber eben auch besonders heftig brennt und darüber hinaus noch anfälliger ist für Schädlinge.
Der Europäische Green Deal nährt und nutzt die verheerenden Auswirkungen des postsozialistischen Übergangs weiter aus. Wenn wir uns eine gemeinsame, nachhaltige und gerechte Zukunft vorstellen, müssen wir die realen und imaginären Kosten der Umwandlung der Welt in ein kapitalistisches Spielfeld neu bewerten, wie die Wissenschaftlerin Tsvetelina Hristova in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” argumentiert.
Während die Europäische Union ihre Strategie für einen “Green Deal” entwickelt, der ihre Mitglieder auf den Übergang zu einer nachhaltigeren Wirtschaft vorbereiten soll, werden einige zentrale Annahmen und Mechanismen für die wirtschaftliche Entwicklung zwangsläufig die Schäden vergangener Übergänge wiederholen und verschlimmern. Vor allem aber vertiefen diese Mechanismen einen gesellschaftlichen Transformationsprozess, der 1989 mit dem Übergang zum Kapitalismus der freien Marktwirtschaft im Osten eingeleitet wurde.
Die Logik der Transition mit einem großen T
Der Begriff des Übergangs, der sich nach 1989 herausgebildet hat, ist immer noch ein starker Motor für Vorstellungen, die die Grenzen des politischen Handelns bestimmen. Srećko Horvat und Igor Štiks sprechen von der “Wüste des Übergangs” – der Vorstellung vom Übergang als einem Fegefeuer, das ertragen und durchlitten werden muss, um auf die andere Seite zu gelangen. Eine Geschichte, die der Wanderung von Moses in der Wüste und den suspendierten Zeitlichkeiten von Reinigung und Verderben auf der Reise ins “gelobte Land” des kapitalistischen Wohlstands ähnelt.
So gesehen funktioniert Übergang, oder Transition, nicht nur als eine Reihe von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Transformationen, sondern auch als ein diskursives Instrument, das Vorstellungen von Gerechtigkeit in der postsozialistischen Welt formt und begrenzt, indem es das Gespenst des “Zombie-Sozialismus” als Schreckgespenst und Erklärungsrahmen für jegliches Versagen des neuen Regimes mobilisiert. Darüber hinaus negiert das Narrativ des Übergangs die Vergänglichkeit des politischen Konsens, gemeinsamer Horizonte und politischer Programme und blendet damit nicht zuletzt die Vorstellung von “Übergängen ohne Telos” aus, in denen Kampf, Neuverhandlung und Anfechtung noch möglich sind.
Kurz gesagt: Transition funktioniert durch Auslöschung, Verleugnung und die Tyrannei eines idealisierten Modells, die sowohl durch diskursive Macht als auch durch die Mechanismen ausgeübt werden, die zur Umwandlung und Etablierung neuer Institutionen, Infrastrukturen und Wege der konstitutiven Ströme sozioökonomischer Räume – Geld, Waren, Menschen und zunehmend auch Daten – eingesetzt werden.
Im politischen Diskurs ist es immer noch üblich, die sozialistische Periode als eine stagnierende und monolithische Zeitlichkeit zu betrachten, die von Defiziten, Knappheit und totalitärer Macht beherrscht wird. Diese Sichtweise hat die Notwendigkeit von Transition (mit einem großen T) weitgehend gerechtfertigt – ein politischer Rahmen, in dem die Kopplung der liberalen Demokratie mit dem neoliberalen Kapitalismus als quasi heilig gilt und daher nicht in Frage gestellt wird.
Dennoch war die sozialistische Periode eine sich wandelnde und sich selbst erneuernde Zeit, die gegen Ende viele der Grundsätze einführte, die der kapitalistische Übergang zu versprechen vorgab: verstärkter Handel und Zusammenarbeit mit nichtsozialistischen Ländern, aufkommende Formen des Privateigentums und der Unternehmensführung, eine wachsende Chance für politischen Pluralismus und einige Möglichkeiten zur Kritik am Regime. Gegen Ende nahm der Sozialismus in Bulgarien langsam eine Form an, die der Vision eines “Kapitalismus mit menschlichem Antlitz” ähnelte, bei dem der Staat versuchte, Wirtschaftsreformen mit dem Schutz der sozialen Rechte der Arbeitnehmer*innen zu verbinden.
Ökologische Bewegungen waren ein wichtiger Teil dieser aufkeimenden internen Regimekritik, ebenso wie künstlerische Kritiken der Entfremdung in den Industriegesellschaften und die Anprangerung von Machtungleichheiten. Die Brüche von 1989 haben nicht nur die Institutionen und Infrastrukturen zerstört, die die soziale Sicherheit und die Gemeinschaftlichkeit aufrechterhielten, sondern auch das Wachstum einer solchen internen Kritik unterbrochen, die sich in ihrem Streben nach sozialer, ökologischer und politischer Gerechtigkeit auf die ideologischen Grundsätze des Kommunismus berief.
Das ökologische Vermächtnis der Transition
Während das sozialistische Regime in Osteuropa ein modernistisches Projekt für eine groß angelegte Industrialisierung mit den damit verbundenen Auswirkungen von Landaneignung, Ausbeutung und Umweltverschmutzung war, wächst das Bewusstsein dafür, dass es umweltpolitische Maßnahmen auf mehreren Ebenen beinhaltete. Die Länder des Ostblocks haben Bräuche des alltäglichen Natur- und Umweltschutzes entwickelt, die durch Massenerziehung und Umweltbrigaden unterstützt werden und sich vom Modell des westlichen kapitalistischen Umweltschutzes unterscheiden. Ganz zu schweigen von dem Ethos des Recyclings, der Wiederverwendung und der Reparatur, das in der postsozialistischen Welt vorherrschend war und dann durch die Einführung des Einwegkonsums nach 1989 fast vollständig ausgelöscht wurde.
In den 1980er Jahren entstanden auch zahlreiche einheimische Umweltbewegungen im gesamten Ostblock, die wichtige Kritik an den Kosten der Industrialisierung übten und langsam die Grundlage für politischen Pluralismus schufen. In Bulgarien bildete sich die Bewegung Ekoglasnost (in Anlehnung an Michail Gorbatschows Begriff für “politische Offenheit und Pluralismus”) aus dem Protest der Umweltschützer*innen und galt als eine der ersten politischen Oppositionsparteien. 17 ihrer Mitglieder wurden in das erste postkommunistische Parlament gewählt, was 4 % der Mandatsträger*innen ausmachte, eine Zahl, die seither von keiner grünen Partei im Lande erreicht wurde. Barbara Jancar-Webster merkt an, dass die anfängliche Präsenz umweltpolitischer Bewegungen in den postsozialistischen Parlamenten nach 1989 stetig abnahm, als die bittere Armut die Menschen dazu brachte, sich auf Fragen des bloßen Überlebens zu konzentrieren, und den Spielraum für politische Anliegen einengte.
Dieses allmähliche Verblassen der Umweltbelange lässt sich auch in den programmatischen Texten der Transition in Bulgarien ablesen. In dem von der bulgarischen Regierung in Auftrag gegebenen Aktionsplan für Bulgarien, der von einem Team US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler*innen unter der Leitung von Ronald Utt und Richard Rahn ausgearbeitet wurde, heißt es beispielsweise unverblümt, dass Umweltbelange für einige Jahre auf Eis gelegt werden müssen und die Menschen in Bulgarien ihren Wunsch nach Umweltgerechtigkeit ertragen und auf den Zeitpunkt verschieben müssen, zu dem das Land endlich eine kapitalistische Wirtschaft erreicht hat. Sie rieten dazu, die Idee der ökologischen Allmende aufzugeben und stattdessen die Umweltschutzpolitik auf die Grundsätze des Privateigentums zu gründen. Dieser Plan, der in seinen Einzelheiten von der Regierung weitgehend ignoriert wurde, gab dennoch den Ton für den “Schocktherapie”-Übergang an, der Massenprivatisierung, juristische Reformen, Mechanismen des freien Marktes und einen Abbau garantierter sozialer Rechte miteinander verband.
Spätere Berichte über den Zustand des Umweltschutzes im Lande zeigen eine beunruhigende Tendenz. Die industrielle Umweltverschmutzung war aufgrund der Vernichtung von Staatsbetrieben und der massenhaften Schließung von Fabriken weitgehend zurückgegangen. Allerdings nahmen neue Formen der Umweltverschmutzung und -zerstörung im Einklang mit den neuen Prinzipien der postsozialistischen Wirtschaft – primitive Akkumulation und bittere Armut – Gestalt an. Natürliche Ressourcen und geschütztes Land wurden in einem beschleunigten Prozess der Einschließung des Gemeineigentums beschlagnahmt, der durch das Gebot der Schaffung von Privateigentum und der Förderung des Unternehmertums sanktioniert wurde. Darüber hinaus trug eine neue Form der armutsbedingten Umweltverschmutzung zur schlechten Luftqualität im Land bei – alte Autos waren einer der Übeltäter, aber noch besorgniserregender war der Rückgriff auf Holzöfen, die von der Mehrheit der Menschen zum Heizen verwendet wurden, da sie sich die Rechnungen für Strom oder Zentralheizungen nicht leisten konnten.
In den späten 2000er Jahren begannen neue Umweltbewegungen, gegen die Einfriedung von Land und die Zerstörung natürlicher Lebensräume Stellung zu beziehen, doch blieben die Fragen der Armut und der Umweltpolitik voneinander getrennt. Der neue Kontext des Denkens über Umweltgerechtigkeit, der auf dem Primat des Privateigentums und dem Gebot des Profits und des freien Marktwettbewerbs beruht, erwies sich als unfähig, die Mechanismen für ein Eingreifen zu liefern. Die von den Grünen in Bulgarien am häufigsten angewandte Strategie – Sanktionen durch die Europäische Kommission – hat den Effekt, dass Verluste sozialisiert werden, ohne dass private Gewinne gefährdet werden.
Der Europäische Grüne Deal
Dieser Kontext des Übergangs, der den postsozialistischen Raum und Europa als Ganzes geprägt hat, setzt den Europäischen Green Deal in Beziehung zu drei wichtigen Fragen. Welche Diskurse werden durch das Narrativ eines grünen Übergangs ausgelöscht und zum Schweigen gebracht? Welche Mechanismen werden eingesetzt? Und was sind die Auswirkungen der vielschichtigen Übergänge, die jeweils ihren eigenen Horizont einer idealisierten und reduktiven Zukunft erzeugen?
Große Worte – ohne Taten
In den letzten Monaten hat sich der Diskurs über den “grünen” Übergang in beunruhigender Weise an frühere Dichotomien des Kalten Krieges angelehnt und es geschafft, erneut das Bild des (neo)liberalen Kapitalismus als einzig gangbare Option für unsere Zukunft zu konstruieren, ein ideologisches Narrativ, das schamlos Anleihen beim Mythos des Übergangs nimmt. Auf geopolitischer Ebene hat sie einmal mehr den progressiven Westen dem autoritären und regressiven Osten gegenübergestellt. Während der REPowerEU-Plan die Energiewende mit der geopolitischen Positionierung gegen Putins Russland verknüpft, gibt es Hinweise darauf, dass der Plan zu viele Bestimmungen und Ausnahmen enthält, die es den Öl- und Gasriesen in der EU ermöglichen würden, weiterhin russische fossile Brennstoffe zu importieren.
Gleichzeitig stützt sich das Programm für einen “grünen” Übergang weiterhin auf die Säulen der Entwicklung des freien Marktes, die durch die Strukturen der internationalen Hilfe, der Infrastrukturzuschüsse und der Phantasien über die Höherqualifizierung von Arbeitskräften eingeführt wurden. Der wichtigste Mechanismus für die Umsetzung des “Green Deal” ist nach wie vor der Kohäsionsfonds der EU, ein System zur Umverteilung von Kapital, das dazu beigetragen hat, Abhängigkeiten zwischen politischer und wirtschaftlicher Macht in post-sozialistischen Ländern wie Bulgarien zu fördern. Der Kohäsionsfonds, der als Instrument für die Umsetzung eines gerechten Übergangs angesehen wird, bildet den ideologischen und politischen Rahmen für die Umwandlung der territorialen Struktur der Europäischen Union in verschiedene Kategorien von regionalen Einheiten. Die ärmsten Einheiten werden durch eine Politik der Privilegierung ausländischer Direktinvestitionen, der Steuersenkungen und der Umverteilung öffentlicher Gelder an private Unternehmen zu Vehikeln für den Kapitalverkehr umgedeutet. Diese Logik der Entwicklung durch privates Kapital wurde als Kernelement der Transition in Osteuropa etabliert, und ironischerweise wurden die im Plan für einen gerechten Übergang skizzierten Mechanismen bereits in die Praxis umgesetzt und sind in der Region durchweg gescheitert.
Ukraine, saubere Technologie und die Gewalt des Outsourcing
Was für Landschaften bringen diese Mechanismen hervor? Eine der weniger beachteten Folgen des russischen Einmarsches in der Ukraine ist die Neuordnung des Marktes für digitale Dienstleistungen im Osten Europas – eine Branche, die immer wieder als wesentlicher Bestandteil des Green Deal gepriesen wird.
Die Ukraine gehört mit ihren billigen Arbeitskräften und einem großen Pool an gut ausgebildeten IT-Spezialist*innen zu den besten Outsourcing-Zielen in der Region und in ganz Europa. Große Unternehmen wie SAP, EPAM und Grammarly kämpfen damit, sich aus dem Land zurückzuziehen und gleichzeitig ihre billigen Arbeitskräfte in Osteuropa zu halten. Die Ukraine steht stellvertretend für einen Trend in der gesamten postsozialistischen Region, in der sich aus dem Outsourcing eine neue Tech-Industrie entwickelt hat – eine Wirtschaftstätigkeit, die die Postulate der Übergangsmechanismen gleichzeitig bestätigt und herausfordert.
Das Outsourcing, das als Mittel für ausländische Direktinvestitionen in Osteuropa gepriesen wurde, schafft unangenehme Abhängigkeiten zwischen den im Vergleich zum übrigen Europa niedrigen Löhnen und den lokalen Bestrebungen nach wirtschaftlichem Fortschritt. Kalindi Vora argumentiert, dass Outsourcing im Kern ein extraktivistisches Unterfangen ist, das bestimmte Bevölkerungsgruppen in eine Quelle lebenswichtiger Energie für andere verwandelt, indem es “von Gebieten der Lebenserschöpfung zu Gebieten der Lebensbereicherung” führt.
Diese Bevölkerungsgruppen in der Dritten Welt und zunehmend auch in der Zweiten Welt werden als Hilfs-, Wartungs- und Pflegekräfte für Kund*innen und Produktionsstätten im Globalen Norden angesehen.
Upskilling: ein Mittel für den “grünen” Übergang
Das Outsourcing führt selbst im Rahmen der Volkswirtschaften zu neuen Geografien des Lebensunterhalts und zu extremen Einkommensungleichheiten. Im Jahr 2022 liegt der Medianlohn im bulgarischen IT-Sektor, einer Branche, die dank Outsourcing-Projekten und -Unternehmen schnell gewachsen ist, bei etwa 2500 Euro. Demgegenüber liegt der monatliche Mindestlohn bei 350 Euro, und nach Angaben einer der wichtigsten Gewerkschaften erhalten zwei Drittel der bulgarischen Arbeitnehmer*innen weniger als den landesweiten Medianlohn, der immer noch dreimal niedriger ist als der Durchschnittslohn im IT-Sektor.
Diese zunehmende Ungleichheit wird jedoch hinter der allgegenwärtigen Rhetorik des Humankapitals und der hochqualifizierten Arbeitskräfte im europäischen Green Deal und in der nationalen Wirtschaftspolitik verborgen. Die EU sieht die Höherqualifizierung als Mittel für den “grünen” Übergang – ein Mittel, das eine unklare Zukunft für diejenigen verspricht, deren Arbeitsplätze als gering qualifiziert gelten, und das die Union in einer neuen Welle extraktivistischer Politik positioniert: einer Politik, die sich stark auf die Gewinnung von Biokapital aus ihren Peripherien und von außen stützt. Das Bestreben, Migrant*innen aus so genannten “Drittländern” anzuziehen, um hochqualifizierte Arbeitsplätze zu besetzen, ist in den Programmen der EU deutlich erkennbar und wurde von ihren Mitgliedern übernommen.
In der ersten Woche des russischen Einmarsches in der Ukraine bot der bulgarische Verband der Softwareunternehmen schnell Hilfe für Softwareingenieure an, die die Ukraine verlassen wollten, um qualifizierte Arbeitskräfte ins Land zu holen. Getrieben von der kalkulatorischen Logik des politischen Diskurses über das Humankapital wurden die Menschen in der Ukraine, selbst im Kontext des Kriegsschreckens und der grenzüberschreitenden Solidarität, durch die Linse wünschenswerter Fähigkeiten gesehen. Diese Logik reproduziert die geografischen Ungleichheiten der Europäischen Union innerhalb des postsozialistischen Raums, in dem die Konvergenz von Visa- und Arbeitsregelungen, die durch die Mitgliedschaft in der Union bestimmt werden, zu vielfältigen heterogenen Möglichkeiten der Gewinnung und des Abbaus von Biokapital führen.
Reproduktion oder Bekämpfung von Ungleichheiten?
Während die EU-Strategie zur Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte aus Drittländern ausdrücklich klar ist, bleibt das Schicksal der gering qualifizierten Arbeitnehmer*innen unklar. Die Strategie der Union verspricht durchweg eine Erhöhung des Anteils qualifizierter Arbeitsplätze in verschiedenen Branchen. Die bisherige Praxis der Union deutet jedoch darauf hin, dass ihre Entwicklungspolitik eine kapitalzentrierte Logik bevorzugt, die die Kluft zwischen Gewinner*innen und Verlierer*innen vertieft. Diese Politik hat bereits die Ungleichheiten zwischen Ost und West genährt und ausgenutzt, indem sie eine hoch mobile, gering qualifizierte Arbeitskraft aus dem postsozialistischen Raum hervorgebracht hat.
Es gibt bereits Befürchtungen über die geopolitischen Auswirkungen des Green Deal in Bezug auf Handel und Energie, aber die Egozentrik dieser EU-weiten Strategie geht über Treibstoff und Handel hinaus. Sie nutzt die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, die durch die politisch-ökonomischen Projekte der osteuropäischen Transition und des globalen Kolonialismus entstanden sind, eher aus, als dass sie versucht, diese zu beseitigen. Das Bestreben, qualifizierte Arbeitskräfte von außen zu importieren und gering qualifizierte Arbeitnehmer konsequent an den Rand zu drängen, ist in seiner Logik der Absorption der produktiven Arbeitskraft und der Auslagerung der Kosten und Mühen ihrer sozialen Reproduktion an die soziale und geografische Peripherie extraktivistisch.
Wenn wir uns eine gemeinsame nachhaltige Zukunft vorstellen, müssen wir nach alternativen Vergangenheiten und Modellen suchen, die einen anderen Rahmen für Fragen der Umweltgerechtigkeit bieten, einen Rahmen, der Umweltschutz, soziale Reproduktion und Volkssouveränität gegen die Interessen der extraktivistischen kapitalistischen Politik miteinander verbindet. Hier liefert die postsozialistische Erfahrung wichtige Lektionen – nicht nur solche, die kritisch gegenüber der Erzählung von Transition sind, sondern auch Beispiele für Praktiken des populären Umweltschützens und ein Kompendium von verarmten Räumen und zerbrochenen Leben, die auf dem Weg zu einem sinnvollen Übergang in eine bessere Zukunft gepflegt und repariert werden müssen.
Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur “After Extractivism”-Textreihe der Berliner Gazette; seine englische Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de
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Oben — US-amerikanische, chinesische und sowjetische Flaggen, die am Earth Day 20 International Peace Climb (1990) auf den Gipfel des Mount Everest gebracht wurden. Ausgestellt als Teil von Glasnost & Goodwill: Bürgerdiplomatie im Nordwesten, eine Ausstellung im Washington State History Museum, Tacoma, Washington, USA 7. Oktober 2017 – Sonntag, 21. Januar 2018.
Unten –– Der damalige indische „Minister für Erdöl und Erdgas“ Veerappa Moily präsentiert auf der 11. International Oil & Gas Conference and Exhibition (PETROTECH 2014, einer internationalen Öl- und Gaskonferenz und -ausstellung) in Noida, Uttar Pradesh, eine „Carbon Neutrality Initiative“
The Union Minister for Petroleum & Natural Gas and Environment and Forests, Dr. M. Veerappa Moily releasing the “CARBON NEUTRALITY INITIATIVE” during the 11th International Oil & Gas Conference and Exhibition – PETROTECH-2014, in Noida, Uttar Pradesh on January 14, 2014. The CMD, ONGC, Shri Sudhir Vasudeva is also seen.
File:M. Veerappa Moily releasing the “CARBON NEUTRALITY INITIATIVE” during the 11th International Oil & Gas Conference and Exhibition – PETROTECH-2014, in Noida, Uttar Pradesh. The CMD, ONGC, Shri Sudhir Vasudeva is also seen.jpg
Abkühlung ist derzeit dringend nötig – aber das ist in den Städten schwierig. Sogar die Museen und andere Kulturorte sind gerade ziemlich erhitzt.
Es ist Sommer. Was früher noch eine Verheißung auf Biergarten, Balkon und Baden war, ist heute nur noch heiß. Damals konnten manche sich mit viel Mühe noch einreden, die Welt sei in Ordnung. Ich fand Sommer schon damals eine Zumutung und war das anstrengende Kind, das immer lieber im Schatten spielen wollte.
Aber weil ich in den vergangenen Wochen erlebt habe, dass Träume, zumindest im Kleinen, Privaten, nicht immer Träume bleiben müssen, träume ich mal. Vielleicht kommt ja Olaf Scholz auf seiner Sommertournee aka Bürgergespräche auch bei mir vorbei. Dann würde ich mir wünschen, dass jedes Auto, das jeden Straßenrand zuparkt, durch einen Baum ersetzt wird. Bäm, schon hätten wir Schatten, weniger versiegelte Böden.
Klar, Bäume zu pflanzen ist nicht Scholz’ Ressort, er hat außerdem wahrlich genug am Hacken. Nicht mal das Twittern klappt. Da hat Scholz mal etwas Utopie gewagt und gleiche Bezahlung für die deutschen Fußballnationalspielerinnen gefordert. Ein Sakrileg offenbar. Wer sich mit dem DFB anlegt, braucht’s bei der Autolobby in Deutschland gar nicht erst versuchen. Olaf Scholz hat, so wird nicht erst jetzt getan, das Spiel nicht kapiert.
Das macht ihn mir sympathisch, ich verstehe es ja auch meistens nicht: Klar gibt es tausend gute Gründe, warum das mit den 50 Millionen Bäumen (so viele Pkws gibt’s in Deutschland) nicht geht. Aber es gibt mindestens 2.000 gute Gründe, warum es gehen sollte.
Utopie ist machbar
Umweltministerin Steffi Lemke ist übrigens ganz bei mir. Es gibt sie, die Schattenspenderkampagne des Umweltbundesamts. Sie ist Teil größerer Klimaanpassungsmaßnahmen, die aber wohl erst mal nur sensible Gruppen, etwa in Kitas und Krankenhäusern, ins Auge fassen. Schon okay, die Verletzten und Verletzlichen haben immer Vorrang, aber wie gesagt, Schritte in Richtung Utopie sind möglich, sicher auch für die Bundesregierung.
Schon klar, die Hitze hier ist – wie mein Vater sagen würde – ein Luxusproblem. Mein Vater ist in der DDR aufgewachsen, da gab’s nichts, nicht nur keine Nazis, auch keine Umweltzerstörung. Aber er hat natürlich trotzdem recht, in sehr weiten Teilen der Welt herrschen Dürre, Hunger, Krieg; wie vieles andere bekommen wir auch den Klimawandel nur in der ausgepolsterten Variante mit. Trotzdem, Städte sind Hitzetreiber.
Könnte ein Schatten bei Politikern-Innen nicht fatale Folgen auslösen ?
Abkühlung im Fluss geht in den meisten Städten nicht, weil zu dreckig, die umliegenden Seen kochen bald über. Bliebe als schattiger, kühler Ort noch das Museum, aber auch da geht’s diesen Sommer hitzig zu.
Zeitgenössischer Eiertanz
„Aufklärung dringend nötig“, heißt es derzeit in Sachen documenta 15. Wenn dieser Satz mehr als dreimal zu einem Thema die Schlagzeile ist, kann man sicher sein, dass es keine Aufklärung geben wird. Nicht weil es zu mühsam oder die Realitäten zu komplex wären, sondern aus Bammel. Weil es unangenehm würde. Manchmal hieße Aufklärung einfach, zu sagen, was ist. Zum Beispiel, dass bei der diesmaligen Kunstausstellung in Kassel durchaus antisemitische Kunst zu sehen war.
Die durch die Pandemie COVID-19 ausgelöste Krisenwelle hat zusammen mit den steigenden Mieten auf dem Immobilienmarkt zu einem raschen Anstieg der Zahl der Obdachlosen geführt, die mit extremen Wetterbedingungen wie Hitzewellen konfrontiert sind. Höchste Zeit, über die Boden- und Wohnungsfrage nachzudenken, wie Ela Kagel in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” am Beispiel Berlins argumentiert.
Wenn wir uns die neuere Geschichte Berlins erzählen, dann geht es im Kern immer um den fortschreitenden Fraß von Freiflächen. Da, wo das „kreative Berlin“ einst entstand, in den Brachen, den Ruinen, im Niemandsland zwischen Ost und West, konkurrieren heute innerstädtische Investitionsprojekte wie die Wasserstadt Mitte oder Mediaspree um die Aufmerksamkeit der Besserverdienenden.
Im Jahr 2006 begann das Künstlerkollektiv KUNSTrePUBLIK eine fünf Hektar große, verlassene Brachfläche zwischen Mitte und Kreuzberg als “Skulpturenpark Berlin_Zentrum” für legendäre Kunstprojekte und öffentliche Aktionen zu nutzen. Vier Jahre hielt sich das Projekt, bis Verkäufe an Investoren und umfangreiche Baumaßnahmen eine weitere Nutzung unmöglich machten.
Etwa zehn Jahre später, 2021, kehrte das Kuratorenteam mit dem Projekt “RE:TURN” in den ehemaligen Skulpturenpark, der heute vollständig bebaut ist, zurück. Im Gedächtnis bleibt die letzte unbebaute Parzelle des Areals, grotesk klein, ein Schlauchgrundstück in einer Schlucht von angrenzenden Neubauten. Das Gras stand hoch auf dem Grundstück, ein paar Bäume spendeten Schatten und es gab eine improvisierte Bar. Dort wurden die Gäste nostalgisch angesichts der Tatsache, dass auch hier, auf kleinster Fläche, schon bald die Bagger anrücken würden. Der nächste Millionen-schwere Investor-Traum hatte das Grundstück bereits vereinnahmt.
Ethik des Bodens
In seiner berühmten Essay-Sammlung “A Sand County Almanac” (1949) beschreibt der Ökologe Aldo Leopold eine Ethik des Bodens, die er folgendermaßen zusammenfasst: „Eine Sache ist richtig, wenn sie dazu beiträgt, die Integrität, Stabilität und Schönheit der biotischen Gemeinschaft zu erhalten. Es ist falsch, wenn es zum Gegenteil tendiert.“ (Im Original: „A thing is right when it tends to preserve the integrity, stability, and beauty of thebiotic community. It is wrong when it tends otherwise.“) Leopold ruft dazu auf, das Land, auf dem wir leben, als Gemeinschaftsprojekt zu sehen, was es zu schützen und zu erhalten gilt. So gedacht, soll das Projekt zum Ausgangspunkt einer Pflegebeziehung zwischen Mensch und Land werden.
Die Art und Weise, wie wir über Grundbesitz nachdenken, ist jedoch meist ausschließlich ökonomisch geprägt. Die Eigentümer*innen der einzelnen Parzellen des ehemaligen Skulpturenparks haben ja auch nach dieser Logik gehandelt. Niemand von ihnen hat beschlossen, sein Land bewusst als natürlichen Freiraum in der Stadt zu erhalten, stattdessen haben alle an die meistbietenden Immobilieninvestoren verkauft. Würde man sonst nicht für verrückt erklärt? Wer würde auf einem Grundstück in Berlin-Mitte schon Tomaten züchten?
Von politischer Seite wird definitiv nicht genug getan, um die rasant fortschreitende Spekulation mit dem Boden unserer Stadt zu verhindern. Man bemerkt durchaus einen gewissen Aufwind von private-public Partnerschaften, Modellprojekten und einer Rhetorik des guten Willens. Schlussendlich hat die Landespolitik aber kaum Mittel in der Hand, um den „Mietenwahnsinn“ zu stoppen. Somit können wirklich radikale Ansätze, die zu einer langfristigen Umverteilung von Land oder zu einer Entsiegelung des Bodens führen können, politisch nicht umgesetzt werden. Der Druck der Immobilienlobby, die Macht des Geldes und die Verflechtungen von Interessen sind zu groß.
Die Stadt als Gemeinschaftsbesitz
Es gibt ein paar Initiativen in Berlin, denen es auf beeindruckende Art und Weise gelungen ist, die Macht des Geldes herauszufordern und neue Denk-und Handlungsmuster stark zu machen. Eine davon ist “Deutsche Wohnen & Co. Enteignen”, eine Bürgerinitiative in Berlin, die einen erfolgreichen Volksentscheid über die Enteignung und Vergesellschaftung privater Wohnungsunternehmen auf den Weg gebracht hat. Das heißt, die Mehrheit der Bürger*innen Berlins haben dafür gestimmt, dass private profitorientierte Immobiliengesellschaften, die mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin besitzen, enteignet und in Gemeinschaftsbesitz überführt werden.
Dass so etwas im Wahl-Sommer 2021 überhaupt möglich war, lag nicht zuletzt daran, dass mitten in der COVID-19-Pandemie die Wohnungskrise einen neuen Höhepunkt erreicht hatte: Die Mieten in Berlin haben sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt, während die Löhne in derselben Zeit nur unwesentlich gestiegen sind. Der Mietendeckel wurde noch vor der Wahl von den einflussreichen Immobiliengesellschaften abmoderiert und vom Verfassungsgericht schließlich gekippt. Das schuf die Basis für einen gesellschaftlichen Dialog, in dem öffentlich über Vergesellschaftung und Enteignung diskutiert worden ist.
Hinzu kommt, dass noch weitere, spannende Projekte in Berlin entstanden sind, die den Grund und Boden der Stadt dauerhaft für die Gemeinschaft sichern wollen: Die Stadtbodenstiftung zum Beispiel sieht sich als „Mit-Mach-Angebot an die Stadtgesellschaft: Projekte initiieren, Nachbarschaften stärken, durch eine breite Mobilisierung von Ressourcen wahrnehmbare Zeichen einer solidarischen Stadtentwicklung setzen.“ Nach dem Vorbild der Community „Land Trusts“ will die Stadtbodenstiftung Land in Berlin kaufen, beziehungsweise als Schenkung oder Erbe annehmen, um den Boden dauerhaft der Immobilienspekulation zu entziehen und eine gemeinwohlorientierte Bewirtschaftung zu sichern.
Auch hier steht die Idee einer Gemeinschaft im Mittelpunkt, deren Regeln und soziale Protokolle gar nicht so einfach zu erlernen beziehungsweise zu definieren sind. Obwohl der städtische Grund und Boden eigentlich allen Bürger*innen gehört, leben die meisten nicht unbedingt in diesem Bewusstsein. Im Gegenteil: Der tägliche Überlebenskampf in einer Stadt, in der sich die Spirale der Gentrifizierung immer weiter dreht, macht nicht nur müde, sondern meist auch einsam. Oft genug fehlt es schlicht an Zeit und Geld für gesellschaftliche Teilhabe. Aktivismus muss man sich zumindest zeitlich auch irgendwie leisten können. So bleibt für viele der Traum vom Gemeinschaftsbesitz eine mindestens ebenso große Utopie, wie der Erwerb eines Privatgrundstücks.
Darin liegt eine wichtige Botschaft für alle Community-Projekte, ob es sich nun um alternatives Wohnen handelt, um Gemeinschaftsgärten oder Freiflächen für Kinder und Jugendliche: Wenn es nicht gelingt, diejenigen mitzudenken und mitzufinanzieren, die gesellschaftlich marginalisiert sind, werden diese Projekte auch nicht nachhaltig wirken können. Der Schlüssel liegt in der Entwicklung von solidarischen Prinzipien, die in die DNA dieser Projekte eingebaut werden. Etwa so, wie Stadtbodenstiftung es für sich postuliert: „Über den Boden zur solidarischen Stadt“.
Hunger nach Boden
“Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.” So steht es im Grundgesetz. Gleichzeitig schützt das Grundrecht aber auch die Grundlagen der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung und der freien Marktwirtschaft. Wenn wir uns den unstillbaren Hunger nach Boden in einer Stadt wie Berlin anschauen sehen wir den Interessenkonflikt in dieser gesetzlichen Regelung. Hinzu kommen noch weitere interessante Details, etwa die Tatsache, dass man in Deutschland problemlos 3.000 Wohnungen besitzen und dabei aber vollständig anonym bleiben kann.
Christian Trautvetter leitet das Projekt “Wem gehört die Stadt?” der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In der Publikation “Wem die Stadt gehört geht uns alle was an” beschreibt er, wie Schluss gemacht werden könnte mit anonymem Immobilieneigentum. Es ist faszinierend, nachzulesen, wie einfach es doch wäre, die im Grundgesetz verankerte soziale Verantwortung des Immobilienbesitzes einzufordern, wenn nur alle beteiligten Stellen wollten. Zum Vergleich: In unseren europäischen Nachbarländern sind die Grundbücher öffentlich einsehbar.
Schaut man sich das in Artikel 11 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) verbriefte “Recht auf Wohnen” einmal genauer an, wird deutlich, dass die Vorstellungen von angemessenem Wohnraum weit über das hinausgehen, was heute für viele Menschen Realität ist. Da ist beispielsweise die Rede von “diskriminierungsfreiem Zugang zum Wohnraum” und “kultureller Angemessenheit”. Bei der Lektüre dieses Artikels wird schnell klar, dass wir heutzutage den einst selbst gesetzten Standards gewaltig hinterherhinken.
Wohnungskrise trifft Klimakatastrophe
Die Diskussion um Standards bekommt angesichts der Klimakrise eine neue Dimension: Wer wird denn noch in eine Stadt investieren wollen, die im Sommer vor Hitze kocht? Wo großflächig versiegelte Betonflächen und dichte Bebauung jede Abkühlung verhindern?
Die apokalyptischen Szenarien sind bereits heute spürbare Realität wie Tomasz Konicz zeigt. Es ist kaum anzunehmen, dass sich hier etwas von selbst verbessern wird. Schon heute sind nicht einmal mehr die Hälfte aller Stadtbäume in Berlin „gesund“, wie der Straßenbaum-Zustandsbericht von 2020 eindringlich aufzeigt. Und die Entwicklung ist dramatisch: Während im Jahre 2015 insgesamt rund 52 % der untersuchten Bäume als nicht geschädigt eingestuft wurden, sind es für 2020 nur noch rund 44 %.
Während einerseits die städtischen Ökosysteme die Belastungsgrenze erreicht haben, werden täglich neue Baustellen eröffnet und neue Flächen versiegelt. Und das, obwohl spätestens nach dem UNO Climate Report vom April diesen Jahres allen klar sein müsste, dass wir “jetzt oder nie” gegensteuern müssen.
Der Boden ist nicht nur Lebensgrundlage und Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen. Der Boden, auf dem wir leben, ist der Grund, auf dem wir unsre Gemeinschaft aufbauen: unsere Wohnräume, unsere Infrastrukturen, unsere sozialen Beziehungen. Seit 23 Jahren ist das Bodenschutzgesetz der BRD in Kraft, das die Funktionen des Bodens nachhaltig sichern und wiederherstellen soll. Noch scheint von diesem Gesetz keine spürbare Wirkung auszugehen, obwohl dies doch so dringend notwendig wäre.
Das von Öko-Aktivist*innen entwickelte Konzept „Peak Soil“ beschreibt auf der Basis wissenschaftlicher Fakten die Tatsache, dass die Menschheit mittlerweile den Scheitelpunkt der Ausbeutung des Bodens auf der Welt überschritten hat. Es fällt schwer, diesen Artikel mit einer solchen Feststellung zu beenden. Was kann man dazu noch schreiben? An wen soll man eigentlich Mahnungen richten oder Forderungen stellen, außer an sich selbst?
Gehen wir doch nochmal zurück an den Anfang dieses Textes, wo von den damaligen Besitzer*innen der Parzellen im Skulpturenpark die Rede ist. Damals, vor gerade mal zehn Jahren, schien der Verkauf der Flächen die einzige zwingende Logik für alle zu sein. Ich frage mich: Wie wäre es heute? Gesetzt den unwahrscheinlichen Fall, es gäbe heutzutage noch Privatmenschen, die über größere Flächen unbebauten Landes im Berliner Stadtzentrum verfügten, und die gerade jetzt, im historisch heißen Monat Juli 2022, bemerkten, wie essentiell so eine Frischluftschneise in der Stadt heute ist.
Würden sie auch heute noch meistbietend verkaufen oder das Land als Refugium bewusst zurückhalten, im Wissen darum, dass der Wert der künftigen Stadt möglicherweise nicht mehr auf Basis ihres Betongolds, sondern ihrer Naturflächen gemessen wird?
Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englischsprachige Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de
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Gigantische Steinkohlemine schädigt die Natur, verursacht Krankheiten und vertreibt die Einheimischen.
Vor rund 40 Jahren begann der multinationale Konzern Glencore mit Sitz in Baar (CH) im Norden Kolumbiens Kohle abzubauen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte wuchs die Mine, die von Anwohnern oft auch als «Monster» bezeichnet wird, zu einer gigantischen Kraterlandschaft heran. Inzwischen gilt die Mine, die immer noch von Glencore kontrolliert wird, als grösste Steinkohlemine in Lateinamerika.
Seit die Mine existiert, leiden die Indigenen und Afrokolumbianer, die in Dörfern rund um die Mine leben, unter Atemwegserkrankungen und massiven Hautausschlägen. Bagger und Maschinen fressen sich immer weiter ins Land hinein und nähern sich den indigenen Siedlungen. Feinstaub- und Quecksilberemissionen führen zu Krankheiten, sind die Anwohner überzeugt. Vor allem nach den Explosionen ist die Luft angereichert mit Staub, der bei Regen auf die Blätter der Bäume fällt.
Seit Jahren dokumentiert etwa Misael Socarras Ipuana, der mit seiner Familie hier lebt, die über Dörfer hinweg wehenden Staubwolken. Auf den Arm seiner fünfjährigen Tochter sind zahlreiche offenen Wunden zu sehen, ausgelöst durch den Kohlestaub, wie er sagt.
Auch Luz Ángela Uriana ist überzeugt, dass der aufgewirbelte Kohlestaub die Ursache für die Erkrankung ihres Sohnes war, der im Alter von acht Monaten unter Fieber und Atemnot litt. Damals haben die Erschütterungen der Maschinen Risse in den Wänden ihres einstigen Hauses in der Indigenen-Siedlung Provincial verursacht, bis es zusammenbrach.
Rund um die Mine wird immer mehr Natur zerstört. Mehr als ein Dutzend Wasserläufe seien für den Tagebau bereits verlegt oder zerstört worden, erklärt Stephan Suhner von der Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien (ASK). Um an die darunter liegende Kohle zu kommen, leitete das Unternehmen den Arroyo Bruno, einen der wichtigsten Flussläufe der Region, über knapp vier Kilometer um. Seither hat sich die Wasserknappheit vor Ort massiv verschärft. Das zwingt die Anwohner indirekt umzusiedeln.
Mehrere Attentate überlebt
Um die Staubentwicklung zu reduzieren, besprenkele man die Halden mit Wasser, welches zur menschlichen Nutzung ungeeignet sei, behauptet Glencore. Dieses Wasser sei früher sauber gewesen, sagen die Einheimischen. Es gehe nicht nur um ökologische Aspekte, ergänzt Rosa Maria Mateus Parra. Die Anwältin gehört zum kolumbianischen AnwaltskollektivCAJAR, das die Wayuú unterstützt. In den Flüssen lebe eine der höchsten Gottheiten der Wayúu. Sei der Fluss nicht mehr da, könne die Göttin nicht mehr angerufen werden.
Der immense Wasserverbrauch ist das eine Problem, ein anderes sind die massiven Verschmutzungen. Misael Socarras trägt eine schusssichere Weste, wenn er zum Fluss hinunter geht, in dem er als Kind badete, um dessen Verschmutzungen zu dokumentieren. Dank der Weste überlebte er bereits vier Attentate.
Auch die Aktivistin Ángela Uriana riskiert im Kampf gegen Umweltverschmutzung und Menschenrechtsverletzungen ihr Leben und das ihrer Familie: So fuhren am Abend des 21. Mai 2022 Männer auf Motorrädern bis vor ihr Haus, in dem sie mit ihrem Mann und acht Kindern lebt, und feuerten Schüsse auf das Dach ab. Zum Glück wurde niemand verletzt. Der Minenbetreiber distanzierte sich von dem Anschlag.
Investoren klagen, um eigene Interessen durchzusetzen
Als die Menschen in La Guajira vor einigen Jahren vor dem kolumbianischen Verfassungsgericht klagten, bekamen sie zunächst Recht. Der Fluss müsse in sein ursprüngliches Flussbett zurückgeleitet werden, entschied das Gericht 2017 und begründete dies mit ungeklärten Auswirkungen auf das Klima und die Gesundheit, aber auch mit durch die Verfassung geschützten kulturellen Rechten der indigenen Anwohner. Unternehmen, Behörden und Anwohner sollten eine gemeinsame Lösung finden. El Cerrejón wurde verpflichtet, Übergangsmassnahmen zu ergreifen, um die Gefahr von Umwelt- und Gesundheitsschäden für die Wayuú-Gemeinde Provinzial zu verhindern.
Seither sei wenig passiert, berichtet Luz Ángela Uriana. Stattdessen kämen Vertreter der Mine in die Siedlungen, um nachzufragen, zu welchen Zeiten sie die Sprengungen machen könnten. Entgegen eigenen Behauptungen wurde der Fluss noch immer nicht zurückgeleitet. Trotz allem gibt es unter den Anwohnern auch Befürworter. In einer der ärmsten Regionen Kolumbiens sei El Cerrejón ein wichtiger Arbeitgeber, sagen sie. Viele Dörfer und Geschäfte existierten nur dank der Mine.
Bereits vor dem Urteil wurden die Indigenenmassiv unter Druck gesetzt. So drohte der Präsident der Mine mit dem Verlust tausender Arbeitsplätze für den Fall, dass die Mine geschlossen werde. Im Mai 2021 schliesslich verklagte Glencore den kolumbianischen Staat – zum dritten Mal in Folge. Grundlage ist ein Investitionsschutzabkommen zwischen der Schweiz und Kolumbien, das zu Zeiten der Dekolonisierung entstand, als die Industriestaaten des globalen Nordens ihren direkten Zugriff auf die Rohstoffe im globalen Süden in Gefahr sahen. Bereits die Ankündigung einer Klage könne dazu führen, dass Staaten geplante Gesetze nicht vorantreiben, erklärt Rechtsexperte Lukas Schaugg. Damit blockiere der Konzern das Urteil des höchsten Gerichts. Vor allem aber werde verhindert, dass sich Umweltstandards durchsetzen.
Man habe klagen müssen, weil man keine Lösung gefunden habe und der Wert des Arroyo-Bruno-Projektes gesunken sei, begründen Konzernsprecher das Vorgehen.
Abbaugebiet wird vergrößert
Mordanschläge, Vertreibung und Umweltverschmutzung warfen lange kein gutes Bild auf die Kohleunternehmen und ihre deutschen Geschäftspartner. Auch deshalb bezog Deutschland in der Vergangenheit Steinkohle hauptsächlich aus Russland. Bis vor Kurzem betrug die Kohle aus Kolumbien gerade Mal sechs Prozent an deutschen Importen. Nun soll sie die Kohle aus Russland ersetzen. Allein im März wurden 690‘000 Tonnen aus Kolumbien importiert – dreimal so viel wie im Vormonat. Zu den Kunden gehören die deutschen Firmen STEAG und EnBW. Auch Uniper und RWE kaufen Kohle aus Kolumbien, die wahrscheinlich aus eben dieser Mine stammt. Ausser in die EU wird die Kohle in die USA, seit Kurzem auch verstärkt nach China exportiert.
Vor wenigen Wochen telefonierte der deutsche Bundeskanzler mit dem kolumbianischen Präsidenten Iván Duque wegen der Kohle-Importe. Am selben Tag erhielten indigene Gemeinden, die gegen Minenausbau und Flussumleitung geklagt hatten, eine Mail vom kolumbianischen Umweltministerium, in der es ankündigte, das Abbaugebiet vergrössern zu wollen. Wegen des Drucks durch europäische Firmen würden die vorgeschriebenen Emissionswerte inzwischen wieder eingehalten, behauptet ein STEAG-Sprecher. Die Aktivistin Luz Ángela Uriana bezweifelt dies. Vertreter deutscher Unternehmen sollten am besten selbst anreisen und sich vor Ort ein umfassendes Bild machen, fordert sie.
Der kolumbianische Staat sei zu schwach, die gesetzlichen Vorschriften seien zu flexibel und lax, wenn es um Naturzerstörung gehe, erklärt die Anwältin Rosa Maria Mateus Parra. Deutsche Firmen sollten keine Kohle kaufen, die mit Blut und Tränen beschmiert sei. Die Unternehmen sollten die Risiken für Menschenrechte und Umwelt umfassend untersuchen, klare Anforderungen an die Bergbauunternehmen stellen und die entstandenen Schäden wiedergutmachen.
Nach europäischen Standards hätte die Mine vermutlich längst schliessen müssen. Erst im Januar 2022 wurde das «Neue UN-Abkommen über transnationale Konzerne und Menschenrechte» formuliert. Wird es im Ausland nicht durchgesetzt, bleibt es – wie viele andere Beschlüsse dieser Art – ein Papiertiger ohne Konsequenzen.
Die Provinz La Guajira
La Guajira liegt im Norden Kolumbiens, an der Grenze zu Venezuela. Die relativ dünn besiedelte Provinz ragt ins Karibische Meer. Während im Süden Bananen auf relativ fruchtbaren Böden wachsen und Viehzucht betrieben wird, ist es im Norden relativ trocken, bis die Landschaft in eine Wüste übergeht. Die grösste Kohlenmine Lateinamerikas hat eine Fläche von etwa 70‘000 Hektar, das entspricht etwa 98‘000 Fussballfeldern. Mehr als dreissig Millionen Tonnen Kohle pro Jahr werden hier gefördert, 42 Prozent der gesamten Förderung in Kolumbien. Über eine150 Kilometer lange Bahnstrecke wird die Kohle zum Karibikhafen Puerto Bolívar transportiert. Täglich werden rund 50‘000 Tonnen in bis zu 130 Wagen lange Güterzügen zu Hafen transportiert.
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Die imperialen Beziehungen im Bereich der geostrategischen Ressourcen, insbesondere der Kohlenwasserstoffe, sind heute mit einem auf den ersten Blick abweichenden oder umgekehrten Extraktivismus verbunden. Das Ergebnis ist jedoch letztlich eine Ausweitung der imperialen Beziehungen und eine Einschränkung der Energiesouveränität und der ökologischen Gerechtigkeit für die Staaten des Globalen Südens, wie Anna Zalik in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” zeigt.
Die Debatten über die Zukunft des Extraktivismus, die in der Reihe “After Extractivism” vorgestellt werden, sind hilfreich, um die umfassende Kritik an der Extraktion zu untersuchen, die in linken Kreisen im letzten Jahrzehnt üblich war. Insbesondere wird in den Beiträgen der Reihe darauf hingewiesen, dass die Kontrolle über die mineralgewinnenden Industrien, die zu staatlichem Eigentum führen kann, sowie die auf den inländischen Verbrauch außerhalb der kapitalistischen Märkte ausgerichtete Förderung zu ganz anderen sozialen Ergebnissen führen könnte als die von Wissenschaftlern wie Eduardo Gudynas kritisierte groß angelegte exportorientierte Förderung aus dem globalen Süden. In diesem Beitrag werden einige dieser Debatten aus zwei Blickwinkeln betrachtet.
Imperiale Beziehungen bei geostrategischen Ressourcen
Zunächst wird in dem Beitrag auf Probleme bei der Begriffsbestimmung hingewiesen. Zum einen auf die Tendenz der Kritik am Extraktivismus zur Fetischisierung, die verschleiert, wie tief die nominell extraktiven Industrien mit vermeintlich “weniger extraktiven” Produktionsprozessen verflochten sind, die ähnliche Merkmale der Hyperausbeutung im Neoliberalismus aufweisen. Andererseits besteht die Gefahr der Verdinglichung des Staates, die dazu führen kann, dass die Rolle des transnationalen Kapitals bei der historischen Konstituierung und der gegenwärtigen Konfiguration des Staates übersehen wird.
Zweitens wird eine Reihe empirischer Manifestationen dessen betrachtet, was man als das “Gegenteil von Extraktivismus” bezeichnen könnte. Natürlich kann es nicht darum gehen, den eindeutigen Anstieg ökologisch intensiver und extensiver ressourcenintensiver Industrien (von Bergbau über Ökotourismus bis hin zu Palmen) in den letzten 30 Jahren und ihre Einbettung in transnationale Konsummuster zu leugnen. Wir müssen jedoch kritisch anmerken, dass imperiale Beziehungen bei geostrategischen Ressourcen wie Kohlenwasserstoffen heute mit Dingen verbunden sind, die auf den ersten Blick vom Extraktivismus abzuweichen scheinen oder ihn umkehren. Ein Beispiel wäre der Export von Nord nach Süd statt von Süd nach Nord.
Darüber hinaus sind die imperialen Beziehungen bei geostrategischen Ressourcen auch mit angeblich umverteilenden globalen Regimen verbunden, wie z. B. beim Tiefseebergbau, der durch das UN-Seerechtsübereinkommen geregelt wird. Eine nicht unähnliche Entwicklung zeigt sich in der “Veräußerung” von Shells umstrittenen Beteiligungen im nigerianischen Nigerdelta, die angeblich im Rahmen einer Politik der Indigenisierung von Energie erfolgt. Mit dieser Veräußerung wird jedoch die Verantwortung für die veraltete Infrastruktur und die jahrzehntelange soziale und ökologische Verwüstung auf private Unternehmen aus Nigeria übertragen, wodurch die erhebliche Haftung des transnationalen Unternehmens, das es zuvor kontrolliert hat, verringert wird.
Die ersten drei Präsidenten des indigenen Samen-Parlaments in Norwegen: Sven-Roald Nystø, Aili Keskitalo und Ole Henrik Magga (2006)
Trotz der scheinbaren Umkehrung der Bedingungen, die sich aus diesen Abweichungen von historischen Formen des Extraktivismus ergeben, ist das Endergebnis also eine Ausweitung der imperialen Beziehungen und eine Verringerung der Energiesouveränität und der ökologischen Gerechtigkeit für die Staaten des globalen Südens.
Um die Beziehung zwischen der Umkehrung des Transfers von Rohstoffen und dem Imperialismus zu verdeutlichen, befasst sich der Text mit den jüngsten Verschiebungen in der Richtung der nordamerikanischen Transfers von Kohlenwasserstoffen seit der Energiereform Mexikos von 2014. Ein Gesetzentwurf der mexikanischen Regierung aus dem Jahr 2022, der diese Reform rückgängig machen sollte (der nach Ansicht einiger Kritiker zu spät kam), wurde nicht verabschiedet. Wie weiter unten beschrieben, gab es jedoch auch Siege sozialer Bewegungen, insbesondere die einer regionalen Mobilisierung gegen den Verlauf einer TC Energy-Pipeline. Das Pipeline-Projekt und die Haftung der mexikanischen Regierung dafür bleiben jedoch bestehen, ebenso wie die zunehmende strukturelle Abhängigkeit Mexikos von Energieimporten aus den USA.
Der Staat verdinglicht, der Extraktivismus fetischisiert
Die Rolle des ökologischen Imperialismus und der metabolische Riss in der Weltgeschichte sowie der Aufstieg des globalen Kapitalismus gehören zu den wichtigsten linken Erkenntnissen über die Rolle der historisch intensiven Extraktion und des Exports von Natur. In diesem Zusammenhang ist der Extraktivismus von zentraler Bedeutung für die Entstehung des sogenannten Anthropozäns oder alternativ des Kapitalozäns und des rassischen Kapitalozäns. Andere Stränge linker Kritik an der Extraktion müssen jedoch aufgrund ihrer Tendenz, a) den Staat zu verdinglichen und/oder b) die Extraktion im Unterschied zur Produktion zu fetischisieren, hinterfragt werden.
Was den ersten Punkt betrifft, so können Diskussionen, die sich auf den Export von Mineralien und Materialien aus Staaten konzentrieren, die Staatsbildung als einen langwierigen historischen Prozess vernachlässigen und versäumen zu hinterfragen, dass sozio-territoriale Grenzen reale Auswirkungen haben, aber dennoch Ergebnisse sozialer Beziehungen sind. Folglich kann eine solche Theorie in eine Falle tappen, die typisch für konventionelle, liberale öffentliche Politik ist – wie z.B. Ressourcenfluch-Ansätze -, die Staaten des globalen Südens pathologisieren, anstatt die Verflechtung von Staaten und transnationalen Konzernen und Kapitalblöcken bei der Gestaltung des historischen und gegenwärtigen Imperialismus zu reflektieren. Ein wichtiges Korrektiv hierzu bietet die seit langem bestehende und kürzlich wiederveröffentlichte Arbeit des verstorbenen jamaikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Norman Girvan.
Was die Fetischisierung der Extraktion angeht, so verwenden linke ökologische Bewegungen den Begriff manchmal in einer Form, die dazu tendiert, Extraktion von Produktion oder von anderen historischen Formen der Ausbeutung zu unterscheiden. Während es wichtig ist, dass der Begriff “Extraktion” analytisch nützlich bleibt und nicht mit allen Formen der Ausbeutung vermischt wird, argumentieren wir an anderer Stelle für die Notwendigkeit, darüber nachzudenken, wie eine Reihe von hyperneoliberalen Produktionsformen, einschließlich des Maquila-Sektors und Elementen der Wanderarbeit, verschiedene Merkmale mit anderen Formen der intensiven Aneignung von Natur teilen.
In der Tat ist für die kapitalistische Produktion im Allgemeinen, wie auch für die mineralgewinnenden Industrien, ein Wertgesetz, das auf der Ausbeutung menschlicher Arbeit beruht – oder, vielleicht besser verstanden, als Arbeit/Natur – die eigentliche Quelle des Widerspruchs. In Anlehnung an James O’Connor spielt es keine Rolle, ob diese Widersprüche aus den untrennbar miteinander verflochtenen Folgen der ersten (aus der sinkenden Profitrate/dem Industriekapitalismus und der Konkurrenz) oder der zweiten (häufig als Entwertung von Arbeit und Natur verstanden) Widersprüche des Kapitalismus entstehen.
Die Widersprüche des Kapitalismus und die “Umkehrung” des Extraktivismus
Die Widersprüche des Kapitalismus, die sinkende Profitrate des Kohlenwasserstoffkapitals und die sozial-ökologische Degradation haben das Kapital in den letzten fünf Jahren zu einer Umkehrung des Transfers von Kohlenwasserstoffen in Nordamerika geführt. Hier finden das US-amerikanische Erdgas- und das kanadische Pipeline-Kapital in Mexiko ein Ventil für die Proteste, denen sie innerhalb ihrer Grenzen ausgesetzt sind. Die Rolle des transnationalen Kapitals in Mexikos zuvor verstaatlichtem Energiesektor hat sich seit der Kohlenwasserstoffreform von 2014 und der Aushandlung von NAFTA 2.0 im Jahr vor der Wahl der Regierung Andres Manuel Lopez Obrador deutlich beschleunigt. Das Ergebnis war eine erhebliche Umkehrung der mexikanischen Energiesouveränität, die mit der Umkehrung der mexikanischen Lebensmittelsouveränität nach der Umsetzung des ersten NAFTA-Abkommens in den 1990er Jahren vergleichbar ist.
Seit 2017 ist Mexiko ein Nettoimporteur von Kohlenwasserstoffen aus den Vereinigten Staaten, die zum Teil über kanadische Pipelines transportiert werden – vor allem über die von TC Energy, ehemals Trans Canada Pipelines, dem Unternehmen hinter Keystone XL. Auf den ersten Blick weicht dies deutlich von der intensiven Aneignung von Ressourcen für den Export vom globalen Süden in den globalen Norden ab, die Eduardo Gudynas als Extraktivismus bezeichnet. Tatsächlich könnte man den Ausbau von Infrastrukturen, die die Abhängigkeit Mexikos von den in den Vereinigten Staaten geförderten Kohlenwasserstoffen verfestigen, als das “Gegenteil von Extraktivismus” bezeichnen, wenn man ihn allein auf der Grundlage des Materialtransfers versteht.
Dies ist nicht als Kritik an Gudynas gedacht, da er diese Dynamik sicherlich anerkennen würde. Vielmehr möchte ich damit andeuten, dass die Neukonfiguration des Ressourcentransfers in einer Form, in der die Extraktion Ressourcen vom Norden in den Süden transferiert und nicht umgekehrt, stark mit geostrategischen, imperialen Beziehungen verbunden ist – in diesem Fall mit dem Aufstieg der USA als Energiesupermacht seit 2008 und als Nettoenergieexporteur ab 2019. Im Zusammenhang mit Erdöl und “kritischen Mineralien” ist die Richtung der Export-/Importbeziehungen an sich nicht aussagekräftig für die Ausbeutung. In diesem Fall ist das Ergebnis sogar eine Umkehrung der Energiesouveränität Mexikos, die die Dominanz des US-amerikanischen und kanadischen Kapitals bei der Erzeugung von Strom auf Kohlenwasserstoffbasis in diesem Land festigt.
Weitere Verankerung des imperialen Rohstoffkapitalismus
In diesem Zusammenhang sind die Pipelines in den USA und insbesondere in Kanada bei indigenen und landwirtschaftlichen Gemeinschaften auf heftigen Widerstand gestoßen, und im ganzen Land wurde gegen diese Projekte mobilisiert. In den letzten Jahren hat ein regionaler Rat von Gemeinden in den mexikanischen Bundesstaaten Puebla und Hidalgo TC Energy und die mexikanische Regierung erfolgreich dazu gedrängt, die Route eines Abschnitts der Tuxpan-Tula-Pipeline zu ändern, der durch heilige Gebiete und Wassereinzugsgebiete führt. Unterdessen wird in Kanada die Mobilisierung der indigenen Wet’suwet’en gegen die von TC Energy betriebene Coastal Gas Link-Pipeline weiterhin gewaltsam unterdrückt. In Mexiko ist die Ankündigung, dass die Tuxpan-Tula-Route geändert werden soll, ein großer Erfolg der sozialen Bewegung. Die Einzelheiten der neuen Route sind jedoch noch nicht festgelegt. Die Tatsache, dass die Pipeline auf einer anderen Route gebaut werden soll, spiegelt auch wider, wie eine grüne Energiewende die imperialen Beziehungen untermauert, wobei Akteure wie Joe Biden die mexikanische Regierung für die Nutzung “sauberer” Energiequellen, insbesondere von US-Fracking-Gas anstelle des mexikanischen “Schweröls”, loben.
In Mexiko wird seit langem darauf gedrängt, mehr Rohöl im eigenen Land zu raffinieren, anstatt es nach der Raffination in den Vereinigten Staaten wieder zu importieren. Die offensichtlichen Fortschritte, die durch die Einweihung der Raffinerie Dos Bocas im Bundesstaat Tabasco Ende Mai 2022 und die erfolgreiche Verstaatlichung des Lithiumsektors zwei Monate zuvor erzielt wurden, stehen jedoch im Zusammenhang mit einer neuen öffentlich-privaten Partnerschaft zwischen der mexikanischen Bundeskommission für Elektrizität und US-amerikanischem und kanadischem Kapital, insbesondere TC Energy, das sich selbst als Kanadas größter Einzelinvestor in Mexiko bezeichnet.
Damit ist der mexikanische Energiesektor noch stärker an das globale Kapital gebunden. Verträge, nach denen die mexikanische Regierung für Projekte haftet und zahlt, die auf den Widerstand von Landverteidigern stoßen könnten, sind fest verankert, was an anderer Stelle in der Reihe “Nach dem Extraktivismus” zu sehen ist. Die Verbindung zwischen der Eröffnung von Dos Bocas und der Ankündigung von TC Energy hängt zweifellos mit dem NAFTA-2.0-Abkommen zusammen, das vor der Regierung Lopez Obrador ausgehandelt wurde, das er aber später unterzeichnete. Im Rahmen dieses Abkommens unterliegt Mexiko weiterhin der internationalen Investor-Staat-Schiedsgerichtsbarkeit im Energiesektor, die für die USA und Kanada im Rahmen desselben Abkommens abgeschafft wurde. Die angebliche “Ökologisierung” der Stromerzeugung, mit der diese Schritte begründet werden, hält nicht nur die intensive Aneignung der Natur aufrecht. Sie führen auch zu einer Umkehrung der materiellen Transfers zwischen den Staaten und zu Infrastrukturinvestitionen im Süden statt im Norden, während sie gleichzeitig den imperialen extraktiven Kapitalismus weiter festigen.
Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englischsprachige Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de
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From left to right: Sven-Roald Nystø, Aili Keskitalo and Ole Henrik Magga, the second, third and first president of the Norwegian Sámi Parliament. Picture by Trond Trosterud.
Deforestation in Atlantic Forest Rio de Janeiro – Brazil. This hill was deforestated in order to use its clay in civil construction in Barra da Tijuca. Many trucks with the city public service logo worked on the hill destruction.
Die grüne Revolution nach Covid-19 blieb aus. Aber es gibt Hoffnung – eine wichtige Rolle dabei spielen Städte.
Nach den ersten Lockdowns versprachen Politiker weltweit, die Covid-Krise zu nutzen, um grüne Technologien nach vorne zu bringen. Das Ergebnis ist ernüchternd. Zwei Jahre später ist klar: «Build Back Better» ist gescheitert. Aber nicht überall.
Das resümiert die Organisation REN21 (Renewable Energy Policy Network for the 21st Century), der mehr als 80 nationale und internationale Organisationen, Industrieverbände, Regierungen, Nichtregierungsorganisationen und Hochschulen angehören, in ihrem Jahresbericht.
Oder eher: in einem kleinen Buch zum Stand der Dinge bei nachhaltigen Energien. Die Arbeit, an der mehr als 650 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mitgewirkt haben, umfasst neben Datenauswertungen und internationaler Expertise viele Fallbeispiele und ist mehr als 300 Seiten lang.
Die guten Neuigkeiten in Kürze:
Der Ausbau regenerativer Energiequellen wächst schnell. Noch nie gab es so viel Erneuerbare wie 2021.
Mehr als 10 Prozent des weltweiten Strombedarfs werden durch Solar- und Windkraft abgedeckt.
Im vergangenen Jahr wurden 366 Milliarden Dollar in erneuerbare Energien investiert, so viel wie nie zuvor.
Auch steigende Preise konnten das grüne Wachstum bisher nicht abbremsen.
Wind- und Wasserkraft, Geothermie und Bioenergien spielen eine wachsende Rolle in der öffentlichen Diskussion.
Nicht zuletzt aufgrund der russischen Invasion in die Ukraine streben viele Länder verstärkt nach Unabhängigkeit von Kohle, Öl und Gas.
Die schlechten Neuigkeiten:
Wir verbrauchen mehr fossile Rohstoffe als jemals zuvor.
Seit zehn Jahren stagniert der Anteil Erneuerbarer am Endenergieverbrauch weltweit.
«Build Back Better» ist fehlgeschlagen. Der 2021 global wieder steigende Energiebedarf wurde vor allem mit fossilen Rohstoffen aufgefangen, was zwei Milliarden Tonnen CO2-Emissionen (6 Prozent) zusätzlich bedeutete.
Öl und Gas dominieren weiter. Neben Fortschritten bei der Stromerzeugung hinkt vor allem der Transport- und Mobilitätssektor hinterher.
In fossile Rohstoffe wird weitaus mehr investiert als in Erneuerbare. 2020 wurden weltweit Subventionen von 5900 Milliarden Dollar dafür ausgegeben. Das entspricht 7 Prozent des globalen Bruttosinlandsprodukts (BIP).
Die Pariser Klimaziele zu erreichen, wird so schwierig bis unmöglich.
Viele Regierungen wünschen sich derzeit, sie hätten mehr zur Förderung Erneuerbarer getan. «Wir geben weltweit 11 Millionen Dollar pro Minute für die Subventionierung fossiler Brennstoffe aus», zitiert die «BBC» die REN21-Vorsitzende Rana Adib. Obwohl erneuerbare Energien wirtschaftlich durchaus eine Alternative zu fossilen Brennstoffen seien, sei der Markt nicht fair.
Städte treiben die Nachhaltigkeit voran. Zum Beispiel Belgrad. Und Amsterdam und Le Havre und Durban und Essen.
Aber es gibt Hoffnung. In der serbischen Hauptstadt Belgrad zum Beispiel. Die Stadt, in der rund 1,7 Millionen Menschen leben, plante im vergangenen Jahr 5,2 Milliarden Euro ein, um bis 2030 die Luftqualität zu verbessern und CO2-Emissionen zu reduzieren. Mit dem Geld will Belgrad unter anderem Zug- und Tramlinien ausweiten. 1,2 Milliarden Euro sollen helfen, öffentliche und private Fahrzeuge, Busse und Taxis zu elektrifizieren und den Fuss- und Veloverkehr zu fördern. Drei Milliarden Euro sind eingeplant, um Gebäude besser zu isolieren und Heizungsnetze zu verbessern. Die Gasversorgung soll in Zukunft vermehrt aus Erneuerbaren bestehen, die lokal produziert werden. Windparks, Müllverbrennung und Biogas sollen insgesamt rund 170 Megawatt an Strom und Wärme liefern.
Städte sind besonders von der Klimakrise betroffen
Weitere Positivbeispiele sind Helsinki, Durban, Le Havre und Essen. Die Stadt, stellt REN21 fest, ist einer der wichtigsten Akteure der Zukunft, um damit nur eines von sieben Kapiteln herauszugreifen. Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt in Städten. Städte können nachhaltige Entwicklung massgeblich vorantreiben. Wenn es schlecht läuft, könnten sie aber auch zu Katastrophenschauplätzen der Klimakrise werden.
Viele Auswirkungen der Klimakrise wie Luftverschmutzung, Überschwemmungen oder Hitze kommen in Städten zusammen. Dazu müssen sie sich besonders mit Armut und Ungleichheit auseinandersetzen. Etwa eine Milliarde Menschen lebt in städtischen Slums oder in Elendsquartieren an den Rändern grosser Städte.
Der urbane Bedarf an Heizung, Kühlung und Transport wächst ständig, vor allem in Afrika und Asien. Drei Viertel des globalen Endenergieverbrauchs und ein entsprechender Anteil der CO2-Emissionen entfällt auf Städte.
Viele Nachhaltigkeitsprojekte wegen Covid-19 zurückgestellt
Die Lebensqualität der ärmeren Einwohner zu verbessern und dabei nachhaltig zu wirtschaften, ist für viele Städte ein wichtiges Ziel. REN21 führt mehrere Beispiele auf, darunter ein Projekt in Houston, Texas, in dem 5000 einkommensschwache Haushalte neu mit Solarenergie versorgt wurden.
Leider hätten viele Städte Nachhaltigkeitsprojekte während der Pandemie verschoben, schreiben die Autorinnen und Autoren. Während die Steuereinnahmen schrumpften, hatte die Bekämpfung von Covid-19 höhere Priorität, das gelte von Thailand bis Michigan.
Die Stimme der Städte
Änderungen in urbanen Zentren betreffen viele Menschen. 1500 Städte weltweit haben ein nachhaltiges Entwicklungskonzept oder entsprechende politische Ziele. Fast ein Drittel (30 Prozent) der städtischen Bevölkerung lebt in einer davon. 920 Städte in 73 Ländern haben laut REN21 Zielvorgaben für die Nutzung erneuerbarer Energien in wenigstens einem Bereich, 1100 Städte haben angekündigt, dass sie ihre Emissionen auf null reduzieren wollen. Ein umfassendes Nachhaltigkeitskonzept, das Bereiche wie Bau und Transport nicht getrennt voneinander behandelt, haben aber nur wenige.
Städte, finden die Autorinnen und Autoren des «Städte»-Kapitels, sollten dringend mehr gehört werden. Wenn sie genügend Ressourcen haben und nicht durch nationale Gesetze eingeschränkt sind, können sie viel bewirken. Vieles hänge allerdings davon ab, wie viel Spielraum eine Stadt hat. In der globalen Klimadiskussion würden die Städte nur zögerlich abgebildet.
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Italien, Spanien und Portugal vertrocknen, Teile Australiens saufen ab, die Alpengletscher verschwinden immer schneller, der Bundeskanzler will mehr Gas fördern – aber es gibt auch gute Nachrichten zur Klimakrise.
Die Nachrichtenlage scheint, was das wichtigste Thema der Menschheitsgeschichte angeht, derzeit apokalyptisch. In Australien ereignet sich gerade die vierte Überflutungskatastrophe in 18 Monaten, Spanien und Portugal sind so trocken, wie sie es seit über 1000 Jahren nicht mehr waren, in den Alpen zerbröseln die Gletscher , Norditalien geht das Wasser aus . Unterdessen will Bundeskanzler Olaf Scholz neue Gasfelder im Senegal erschließen lassen, obwohl der Uno-Generalsekretär immer lauter warnt , dass weitere fossile Entwicklungsprojekte mit allen Klimazielen unvereinbar sind.
Gleichzeitig passieren weltweit aber auch Dinge, die Hoffnung machen. Die Entwicklung von Technologien, die CO2-neutral Energie erzeugen und speichern können, schreitet nämlich weiterhin in rasantem Tempo voran. Auch wenn man bei uns – kapitalen politischen Fehlentscheidungen der vergangenen vier Legislaturperioden sei Dank – im Moment wenig davon merkt.
Hier sind fünf gute Klimanachrichten:
1. Vor allem China baut Windkraft in atemberaubendem Tempo aus
Die auf erneuerbare Energien spezialisierte Agentur Bloomberg NEF prognostiziert , dass allein die Leistung von Offshore-Windkraftanlagen sich weltweit von 2021 bis 2035 verzehnfachen wird, auf dann 504 Gigawatt. Zum Vergleich: Die Gesamtkapazität aller US-amerikanischen Elektrizitätslieferanten liegt derzeit bei etwa 1,1 Terawatt, also etwas mehr als doppelt so hoch. Den bei Weitem größten Anteil an der rasanten Entwicklung von Offshore-Windenergie wird demnach China haben: bis 2030 entfällt der Prognose zufolge mehr als die Hälfte des globalen Wachstums im Bereich Offshore-Energie auf dieses Land. Auch Windenergie an Land wächst dort extrem schnell: Allein in diesem Jahr wird ein Onshore-Kapazitätszuwachs von 50 Gigawatt erwartet. Zu On- und im Meeresboden verankerten Offshore-Windkraftwerken kommen voraussichtlich ab Mitte des Jahrzehnts auch noch vermehrt schwimmende Windkraftanlagen. Bloomberg NEF prognostiziert für diese Art der Energieerzeugung bis 2035 weitere 25 Gigawatt Kapazität.
2. China baut auch Sonnenenergie in atemberaubendem Tempo aus
Auch Solarstromkapazität wächst in China rasant. Dem China Renewable Energy Engineering Institute zufolge kommt in dem Land allein im Jahr 2022 eine Kapazität von 100 Gigawatt dazu . Wenig überraschend: Sieben der zehn größten Hersteller von Fotovoltaikzellen haben ihren Sitz in China , und dort wird auch etwa 80 Prozent allen für Solarzellen nötigen Polysiliziums hergestellt . Auch das ist eine Folge europäischer Regulierungsfehler. Der einzige europäische Polysilizium-Hersteller in den Top 5 ist Wacker Chemie . Insgesamt wird China unterschiedlichen Prognosen zufolge allein in diesem Jahr erneuerbare Energiekapazitäten von 140 bis 154 Gigawatt zubauen. Das ist knapp dreimal so viel wie die gesamte derzeit installierte Fotovoltaik-Kapazität Deutschlands. Zusätzlich. In einem Jahr. Bis 2025 will China laut Fünfjahresplan insgesamt 570 Gigawatt erneuerbare Energiekapazität hinzufügen , also etwa halb so viel wie die Gesamtkapazität aller Kraftwerke der USA. Wenn das so weitergeht, prognostizieren die Fachleute von »Carbon Brief« , könnte China sein Ziel, den Gipfelpunkt seiner CO2-Emissionen zu überschreiten und den Ausstoß dann endlich zu senken, schon früher erreichen als geplant: 2026 statt 2030. Denken Sie daran, wenn Ihnen bei einer Diskussion über Klimathemen jemand mit dem reflexhaften Einwand »aber China« kommt.
3. Gas ist so teuer, dass es sich bald nicht mehr rechnet
4. Es wird bald neue Energie-Supermächte geben
Der Wechsel hin zu erneuerbaren Energien, mit denen man nicht nur Autos laden und Elektrogeräte betreiben, sondern auch Wasserstoff, CO2-neutralen Diesel und sogar Kunststoffe herstellen kann, wird die globale Wirtschaftslandkarte verändern. Australien mit seinen riesigen, sonnendurchfluteten Flächen dürfte am Ende zu den Gewinnern gehören, genauso wie andere Länder, in denen oft die Sonne scheint, sich selten Wolken zeigen, die über hochliegende Gebiete und saubere Luft verfügen. Zu den – theoretischen – Topstandorten für Sonnenstrom gehören neben Chile, das all diese Voraussetzungen erfüllt, auch Namibia, Jordanien, Ägypten, Jemen, Oman, Saudi-Arabien und viele andere Golfstaaten; aber auch Länder wie Pakistan und Afghanistan oder lateinamerikanische Staaten von Bolivien über Peru bis Argentinien.
Hier fiel einer Physikerin nicht das erste mal das Klima auf dem Kopf ?
Eine Kolumne von Bernhard Pötter
Wenn ich Sie heute hier vor mir sehe, kommt es mir vor, als hätten Sie alle einen Oscar gewonnen: die Herren zum ersten Mal im Anzug, die Damen in unglaublichen Kleidern, die LehrerInnen unfassbar kumpelig. Und sicherlich fühlen Sie sich zu Recht auch genau so, als hätten Sie eine große Trophäe gewonnen: Die Arbeit hat sich gelohnt, 13 Jahre Schule – oder mehr – liegen hinter Ihnen. Und da draußen wartet das Leben auf Sie.
Und genau deshalb wollte ich Ihnen kurz ein paar ungebetene Ideen mitgeben. Blicken wir kurz zurück: Als Sie eingeschult wurden, die meisten im Jahr 2009, scheiterte gerade mit großem Krawall die Klimakonferenz in Kopenhagen. Das war nicht Ihre Schuld, aber es hat was mit Ihnen zu tun. Damals stand die CO2-Konzentration in der Atmosphäre noch bei etwa 390 ppm (fragen Sie den zauberhaften Physik-Nerd mit der roten Mütze neben sich nach Details), heute sind wir bei etwa 420. Während Sie damit beschäftigt waren, Mathe und Französisch zu lernen, haben wir Eltern hunderte von Tier- und Pflanzenarten ausgerottet, riesige Flächen von Naturschätzen verwüstet und mit Plastikflaschen alles zwischen Südsee und Arktis vermüllt. Sie haben darüber sicher mal ein Referat gehalten.
Nun stehen wir da, wo wir stehen. Und Sie gehen voller Vorfreude in eine Zukunft, die entscheidend für uns alle wird. Wenn Sie in 30 Jahren stolz bei der Abiturfeier Ihrer ersten Tochter in der Schule erscheinen, ist diese Welt eine andere. Entweder Deutschland und Europa stoßen 2052 kein einziges Molekül Kohlendioxid mehr aus oder wir (und Sie) haben diese Schlacht verloren. Dann sind Sie (viele von uns heute stolzen Eltern fungieren dann schon als Kohlenstoffsenken) echt im Schlamassel. Das kann man Ihnen nicht wünschen.
Wer gibt Ihnen solche Ratschläge? Ein Abiturient des Jahrgangs 1984. Wir hatten Orwells Buch gelesen, konnten uns aber nicht vorstellen, wie recht er haben würde: Dass seine Slogans „Freiheit ist Sklaverei“, „Friede ist Krieg“ und „Unwissenheit ist Stärke“ heute in so vielen Gegenden offizielles Regierungsprogramm sind. Und dass der Große Bruder von uns freiwillig mit so vielen persönlichen Daten gefüttert wird, dass es 1984 als Horrorszenario galt.
Ich will Ihnen keine Angst machen, eher Mut zum Kämpfen. Sie werden Bio oder Chemie studieren und neue technische Lösungen für die Klima- und die Artenkrise erfinden, Sie werden als Juristin bessere Gesetze machen und als Ökonom endlich eine Wirtschaft, die uns nicht ruiniert. Nehmen Sie Ihre Arbeit ernst. Die Coronapandemie hat Sie besonders getroffen. Aber auch gezeigt: In natürlichen Kreislaufen herumzupfuschen kann böse Folgen haben. Nicht alles ist beherrschbar, was aus dem Wald kommt. Und systemrelevant sind auch und vor allem Menschen, die nicht auf die Uni gegangen sind: Krankenpfleger, BusfahrerInnen, Reinigungskräfte – die Leute, die Ihnen mit ihren Steuern nun das Studium finanzieren werden.
Oben —Copenhagen climate summit, 2009 – President Barack Obama briefs European leaders following a multilateral meeting at the United Nations Climate Change Conference in Copenhagen, Denmark. Participants include British Prime Minister Gordon Brown, French President Nicolas Sarkozy, Danish Prime Minister Lars L. Rasmussen, Swedish Prime Minister Fredrik Reinfeldt, and German Chancellor Angela Merkel.
Die Generation Boomer sucht nach Lösungen für die Klimakrise im eigenen Konsumverhalten. Jüngere betrachten das große Ganze.
Wenn ich mit Boomern über die Klimakrise spreche, fühle ich mich oft an den Familienesstisch meiner Jugend zurückversetzt. Dort sprachen wir mit den Eltern über die Erderhitzung als Konsumthema – es ging etwa um unsere Ernährung oder um das Fliegen. Die beste Lösung schien es zu sein, den klimaschädlichen Konsum runterzuschrauben.
Wenn ich mich im Freundeskreis umhöre, gewinne ich den Eindruck, dass die vermeintliche Klimalösung meiner Familie stellvertretend für die vieler weiterer bürgerlicher Familien mit Boomereltern steht – und, bis zu einem gewissen Punkt, für die von Boomern allgemein.
Ein weiteres Beispiel: Ende letzten Jahres erschien eine Klimakolumne in der taz, in welcher ein 54-jähriger Kollege seine Liebe für Schweinsbraten beschrieb. Die Kolumne beginnt mit zwei Paragrafen Essenspornografie für Fleischliebhaber:innen, danach wiegt mein Kollege seine Konsumentscheidungen gegeneinander auf: keinen Führerschein und fair produzierte Unterwäsche, aber dafür Schweinsbraten. Er möchte suggerieren, so meine Interpretation, dass er, wie wir alle, nicht perfekt ist.
Für mich ist die Frage, ob man noch in Frieden Steak genießen darf, wenn man sich dafür anderweitig engagiert, die falsche. Sie ist eigentlich unbedeutend. Wenn ich an die Klimakrise denke, kommen mir weder Schweinsbraten noch nachhaltige Mode als erstes in den Sinn. Ehrlich gesagt, denke ich dann gar nicht so sehr an mich selbst. Und das liegt nicht daran, dass ich mir nie Gedanken über meinen zu großen ökologischen Fußabdruck mache.
Der Globale Norden lebt über die ökologischen Verhältnisse
Ich bin 1995 geboren, für Menschen wie meine Eltern macht mich das zum Millennial oder Gen-Zler, aber auf jeden Fall zugehörig zur „Generation Klima“. Meine Top 3 Klima-Buzzwords sind multinationale Großkonzerne, Globaler Norden, Top 1 Prozent der Bevölkerung. Multinationale Großkonzerne profitieren von den globalen Freiräumen für extraktiven, umweltverachtenden Kapitalismus.
Deutlich lassen sich die unterschiedlichen Blickwinkel auf die gleiche Krise auch anhand des Buchs „Noch haben wir die Wahl“ erkennen. Die Klimaaktivistin Luisa Neubauer (24) und Bernd Ulrich (61), stellvertretender Chefredakteur der Zeit, nehmen die Klimakrise als Anlass für ein gedrucktes Gespräch.
Ulrich, als Repräsentant der Boomer-Generation, spricht in seiner „Klimabiografie“ zwar über seinen „Friedens-/Umwelt-/Anti-AKW-“Aktivismus, doch vor allem schildert er sein Konsumverhalten. Er beschreibt seine „Volvo-Phase“, in der er zu viel geflogen und gefahren sei, noch dazu viel gekauft habe. Später habe er seinen Lebensstil zurückgeschraubt, sei kleinere Autos gefahren, habe sich ökologischer ernährt und nachhaltigere Kleidung getragen.
Jede Generation führt ihre eigenen Debatten
Ulrich bereut, dass sein Lebensstil zur Klimakrise beigetragen hat. Neubauer hingegen widmet sich nach einem kurzen Abriss ihrer emissionsstarken Jahre direkt den großen Themen. „Es ist für mich immer noch eine offene Frage, was genau die Rolle der Privilegierten ist, auf dem Weg Richtung Klimagerechtigkeit“, schreibt sie, als Ulrich sie auf ihre Klimabiografie anspricht.
Neubauer stellt ihr Konsumverhalten, anders als Ulrich, nicht in den Mittelpunkt. Möchte sie uns etwas verheimlichen? Ich glaube nicht. Die eigene Konsumvergangenheit, so scheint es mir, erkennt sie an, sogar als weltanschauungsverändernden Faktor. Aber sie hält sich nicht damit auf. Ich denke, dass sie es für unnötig hält, denn die entscheidenden Fragen und Lösungen sind andere.
Hier führen verschiedene Generationen unterschiedliche Debatten über die gleiche existenzielle Krise. Wir sprechen aneinander vorbei
„Klima schützen statt GroKo retten!“
Neue Schmeißfliegen welche im politischen Dreck sitzen wollen, finden sich immer.
Und hierin besteht der Unterschied, der Konflikt, wenn man so will. Für die ältere Generation ist der eigene Konsum das Ventil der Veränderung. Es ist ihr individueller, reflektiver Check, ob sie sich genug fürs Klima engagieren. Jede Generation führt ihre eigenen Debatten, das ist normal. Doch hier führen verschiedene Generationen unterschiedliche Debatten über die gleiche existenzielle Krise. Wir sprechen aneinander vorbei.
Dabei unterscheiden sich Begriffe und Meinungen zum Thema Klima auch innerhalb meiner Generation gewaltig. Neubauer und Ulrich fassen diese Meinungsheterogenität in ihrem Buch treffend zusammen: „Fürs Klima sein ist in etwa so wie Demokratie gut finden.“ Will heißen: Fast jede:r ist dafür, aber dieses „Dafür-sein“ muss man auch erst mal mit Leben füllen. Da gibt es große Kontraste.
Boomer haben den Großteil der politischen Macht
Doch beim Mittel der Wahl, um Veränderung herbeizuführen, ist meine Generation sich weitestgehend einig: Wir gehen auf die Straße, wenden uns mit unseren Ideen und Forderungen an eine möglichst breite Öffentlichkeit, einige leisten zivilen Ungehorsam. Diejenigen, die das nicht machen, verurteilen den Protest nur selten.
Wir versuchen natürlich auch, unseren Lebensstil den Klimarealitäten anzupassen, aber vielen ist klar, dass das nicht zu den großen, schlagartigen Veränderungen führt, die die Welt jetzt braucht. Der Fokus liegt nicht bei uns selbst, sondern bei den Mächtigen.
Unten — Demonstration unter dem Titel „Klima schützen statt GroKo retten!“ vom Theodor-Heuss-Platz zum CityCube, in dem zeitgleich der SPD Parteitag stattfindet, am 6. Dezember 2019.
Würde der Verstand in der Politik so schnell fließen wie das Wasser, wäre dieses Land viel weiter. Aber 50 Jahre verpennt – ist auch verschlagen.
Von Bernward Janzing
Die Bundesregierung will der Kleinwasserkraft die Förderung streichen. Der älteste Ökostrom, von dem die Energiewende ausging, steht vor dem Aus.
Es ist – wie so vieles – eine Frage der Abwägung. Auf der einen Seite steht die CO2-neutrale Erzeugung von jährlich 3 Milliarden Kilowattstunden Strom aus kleinen Wasserkraftwerken. Wertvoller Strom, gerade heute. Auf der anderen Seite sind Bauwerke immer ein Eingriff in die Natur. So hat auch jede Anlage an und in einem Fließgewässer zwangsläufig Auswirkungen auf die Ökologie.
Ökologische Abwägungen sind oft nicht trivial. Deshalb führte man lange Zeit Debatten über fachliche Details der Wasserkraft. Darüber, wie gute Konzepte aussehen. Wie klimafreundlich erzeugter Strom mit der Gewässerökologie zusammenfindet. So brachte man durch Auflagen Wasserkraftbetreiber dazu, den ökologischen Zustand an ihren Standorten zu verbessern.
Solche differenzierten Sachdiskussionen will die Bundesregierung jetzt beenden – mit der radikalsten aller Lösungen, nämlich dem grundsätzlichen Ende der sogenannten Kleinwasserkraft. Für Anlagen bis 500 Kilowatt soll es künftig keine Einspeisevergütung mehr geben.
Damit will die Bundesregierung ausgerechnet die älteste aller erneuerbaren Energien im Stromsektor abschießen; Kraftwerken, die mehr als hundert Jahre überlebt haben, droht das Ende. Der große Showdown der Kleinwasserkraft – in dieser Woche vermutlich im Bundestag mit der Novelle des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes (EEG).
Viel bittere Ironie steckt in dieser Geschichte. Ausgerechnet die Kleinwasserkraft war es, von der die deutsche Energiewende ausging. Denn das erste Stromeinspeisungsgesetz – 1991 in Kraft getreten – kam auf Betreiben vor allem bayerischer Wasserkraftwerker zustande. Es sollte die Kleinerzeuger in der damaligen Monopolwelt der Stromwirtschaft durch Mindestvergütungen vor allzu selbstherrlich agierenden Stromkonzernen schützen.
Weil der Gesetzgeber nun gerade dabei war, schrieb er kurzerhand auch für Strom aus anderen erneuerbaren Quellen Mindestvergütungen ins Gesetz – ohne die Konsequenzen auch nur halbwegs zu erahnen. Die waren enorm: Ein Windkraftboom an der Küste machte Deutschland zur weltweit führenden Windkraftnation. Entsprechend wuchs das Selbstbewusstsein der Ökostrom-Verfechter, was sich ab April 2000 im EEG widerspiegelte. Dieses wiederum katapultierte auch den Solarstrom nach vorne. Schmankerl am Rande: Bis 2004 war es die Große Wasserkraft, die im EEG explizit von den Vergütungen ausgeschlossen war.
Diese Geschichte der Kleinwasserkraft muss man kennen, um zu verstehen, dass es bei den kleinen Turbinen um mehr geht als um „nur“ 3 Milliarden Kilowattstunden. Die Kleinwasserkraft ist ein Stück Landesgeschichte. Ein Stück Industriegeschichte. Auch ein Stück Kulturgeschichte. Wer sie abschießt, zerstört vor allem in den südlichen Teilen des Landes ein Stück regionaler Identität.
Spätere Generationen werden einmal über die Nachkriegspolitik die Köpfe schütteln, wenn sie erfahren, was diesem Land alles entwendet wurde.
Viele Orte in den Mittelgebirgen verdankten zwischen dem Jahr 1900 und dem Ersten Weltkrieg ihren ersten Stromanschluss der heimischen Wasserkraft. Findige Unternehmer bauten Turbinen an den Bächen, versorgten anfangs damit nur ihre eigenen Fabrikhallen, bauten dann aber auch Leitungen zu Nachbarhäusern und wurden so zu regionalen Stromversorgern. Über Jahrzehnte hinweg, mitunter bis in die 1970er Jahre hinein, bekamen Stromkunden ihre Energie von der örtlichen Papier-, Nähseide- oder Zündholzfabrik. Erst dann wurden die Netze in Konzernstrukturen integriert.
Wasserkraft im Jugendstil
Nach wie vor laufen Wasserkraftanlagen in Jugendstilgebäuden. Beim Besuch eines Turbinenhauses kann es passieren, dass man noch ein altes Holzkammrad entdeckt oder auch Armaturen, die ein ganzes Jahrhundert überdauert haben. Zugleich vermitteln die historischen Generatoren samt ihren wuchtig-eleganten Schwungrädern den Eindruck, für die Ewigkeit gebaut worden zu sein.
Damit ist die Kleinwasserkraft nicht nur die älteste, sondern auch die eindrucksvollste Art der Stromerzeugung. Vermutlich muss man selbst einmal in einem der Turbinenräume gestanden haben, um das nachempfinden zu können. Entsprechend entspinnt sich die Debatte über die Wasserkraft nicht stur entlang der Parteigrenzen. Die Konfliktlinie verläuft vielmehr zwischen Großstadt und Landregionen; zwischen dem Flachland und jenen Mittelgebirgen, die über die faszinierendste aller Kraftquellen verfügen, die uns gegeben sind, nämlich ins Tal sprudelnde Bäche. Die Debatte ist daher ein Stück weit auch ein Dissens zwischen Nord und Süd, denn 80 Prozent des deutschen Wasserkraftstroms stammen aus Bayern und Baden-Württemberg.
Ein nationaler Schulterschluss, der keine Interessengegensätze mehr kennen will. Für die Rettung des Klimas und den Erfolg der deutschen Wirtschaft.
Mit einer öffentlichen Erklärung zur Energiesparkampagne des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (Öffentliche Erklärung der Verbände zum Gipfel Energieeffizienz am 10. Juni 2022 anlässlich des Starts der Energiesparkampagne des BMWK) haben sich Politik, Industrie, Mittelstand, Betriebe und Unternehmen, Handwerk, Sozialpartner, Kommunen, Umweltverbände und Verbraucherorganisationen zu Wort gemeldet und so den nationalen Schulterschluss in der Energiefrage demonstriert.
Die Begründungen für diese Aktion fallen jedoch – gerade angesichts der bekannten Unterschiede bei den Interessengruppen – etwas seltsam aus. Dazu hier einige Hinweise.
„Energiesparen für mehr Unabhängigkeit und Klimaschutz“
„Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist die hohe Energieabhängigkeit von Russland in den Fokus gerückt. Ersatz für notwendige Rohstoffe zu beschaffen, die unser Land politisch und energiepolitisch Schritt für Schritt unabhängiger von russischen Energieträgern machen, war in den vergangenen Monaten vordringliche Aufgabe und hat weiterhin Priorität. Klar ist: Es braucht den Abschied von fossilen Energien, um unabhängiger zu werden und die Klimaziele zu erreichen. Deshalb arbeiten wir in Deutschland gemeinsam daran, den Ausbau erneuerbaren Energie zu beschleunigen. Wir wollen zugleich Energie einsparen und effizienter nutzen. Dabei liegt noch ein herausforderndes Stück des Weges vor uns.“ (Erklärung)
Wenn die Autoren der Erklärung die Energieabhängigkeit beschwören, dann wissen sie, dass die Adressaten dieser Erklärung, die verehrten Bürger und Bürgerinnen, gleich ihre Abhängigkeit von den Energiekonzernen vor Augen haben. Otto Normalverbraucher ist allerdings in ganz anderer Art und Weise von der Lieferung der benötigten Energie abhängig als es die meisten Parteien sind, die diese Erklärung abgegeben haben. Während die Politik in der Abhängigkeit von Energielieferungen gleich eine Einschränkung ihrer Handlungsfreiheit sieht, weil der Handel mit Energieleistungen auch Rücksichtnahme auf die Interessen des Lieferlandes bedeutet, ist der besagte Stoff für die Wirtschaft ein Geschäftsmittel.
Und zwar ist er ein ganz spezielles Mittel, das die Voraussetzung für so gut wie jede Produktion im Lande bildet und an dem in erster Linie der Preis interessiert. Ein hoher Preis ist hier jedoch kein Hindernis, wenn er auf die Kundschaft abgewälzt werden kann. Für die Endverbraucher gibt es diese Möglichkeit nicht; ihre Abhängigkeit von Energielieferungen für Licht und Heizung ist gerade die Basis des Geschäfts der verschiedenen Energiefirmen, die diese Abhängigkeit leidlich auszunutzen wissen, wie die Preise für die betreffenden Produkte gerade zeigen.
Wenn aus der Abhängigkeit sofort eine politische Aufgabe deduziert wird, so betrifft diese den einfachen Bürger nicht, schliesslich ist er kein Akteur in dem ganzen Geschehen, sondern immer nur mit den negativen Folgen der einschlägigen Entscheidungen konfrontiert – nämlich in Form hoher Preise, die seinen Geldbeutel strapazieren.
Dabei wirft die Zielsetzung der Aktion ebenso Fragen auf. Ist doch die Herbeiführung einer Unabhängigkeit von russischer Energielieferung durch erneuerbare Energien ein anderes Ziel als die Verhinderung der Erderwärmung. Dass die beiden Zielsetzungen – anders als die Autoren der Erklärung weismachen wollen – nicht einfach zusammengehen, wird gerade an den praktizierten Massnahmen deutlich. Um unabhängiger von russischen Energielieferungen zu werden, ist ja der verstärkte Einsatz heimischer Braunkohle wieder ein akzeptiertes Mittel, obwohl er alles andere als einen Beitrag zum Klimaschutz leistet. Das fällt ja auch zunehmend den Teilen des Ökoprotests auf, die auf die Grünen im Amt grosse Hoffnungen gesetzt hatten.
Wichtig ist natürlich, dass sich die Effizienz der unterschiedlichen Energien auf recht unterschiedliche Weise bestimmen lässt. Es macht eben einen Unterschied, ob die Angelegenheit physikalisch betrachtet wird – sprich der sachliche Aufwand an Energie für die Herstellung bestimmter Produkte ins Auge gefasst wird – oder ob die Betrachtung ökonomischer Natur ist, die Kostenkalkulation also den Massstab bildet. Dann kann auch viel billige Energie durchaus lohnend sein.
So ist denn auch das Motto der Kampagne des grünen Wirtschaftsministers mit den Sorgenfalten auf der Stirn ziemlich verlogen: „Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz startet im Juni eine Energiespar-Kampagne, die unter dem Motto ‚80 Millionen gemeinsam für den Energiewechsel‘ steht – sie lädt ein, aktiv mitzuarbeiten und kreativ zu sein: Denn jede eingesparte Kilowattstunde Energie leistet einen Beitrag für unsere Unabhängigkeit, senkt den Kostendruck und hilft unsere Klimaziele zu erreichen.“ (Erklärung)
Die Gemeinsamkeit, die der Wirtschaftsminister mit seiner Kampagne beschwört, ist eine von oben verordnete. Was da als Einladung daherkommt, stellt sich für die meisten Menschen als reine Notwendigkeit dar. Schliesslich müssen sie sich einschränken, weil die Kosten für Energie, ob an der Tankstelle oder für Heizung und Strom, steigen. Auch wenn sie noch so kreativ sich einen Pullover überziehen oder vom Auto aufs Fahrrad umsteigen, bleiben sie doch abhängig von den Energiekonzernen und deren Preisgestaltung, zu der die Politik mit ihren Steuersenkungen für die Energiekonzerne diesen alle Freiheiten eingeräumt hat. Auch wird der Kostendruck nicht weniger, wenn man sich einschränkt, hilft die Einschränkung doch gerade, mit dem Kostendruck umzugehen, und schafft diesen nicht aus der Welt.
Damit die Bürger dennoch mitmachen und ihren Einschränkungen die richtige Deutung abgewinnen, melden sich die Unterstützer der Kampagne einzeln zu Wort.
Alle für den Erfolg der Nation
Als erste dürfen die Vertreter von Städten und Kommunen ihren Senf zur Aktion des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klima beitragen: „Wir als kommunale Akteure unterstützen die Energiespar-Kampagne. Jede eingesparte Kilowattstunde ist ein echter Beitrag zum Klimaschutz. Städten, Landkreisen und Gemeinden kommt eine Schlüsselrolle zu. Sie sind Vorbild und beraten Bürgerinnen und Bürger und die Wirtschaft… Die grossen Potenziale, etwa bei über 180.000 kommunalen Gebäuden, über 2 Millionen kommunalen Wohnungen, bei Strassenbeleuchtungen oder auch im Verkehr müssen gehoben werden.“ (Deutscher Städtetag, Deutscher Landkreistag, Deutscher Städte- und Gemeindebund) Zwar ist es ein offenes Geheimnis, dass die Aktion des Bundesministeriums in erster Linie auf das kurzfristige Einsparen von Energie zielt, um unabhängiger von Gas- und Öllieferungen aus Russland zu werden, dennoch wollen die kommunalen Akteure ihren Beitrag als einen zum Klimaschutz verstanden wissen. Wenn sie auf die Möglichkeiten zum Klimaschutz durch die Sanierung der oft verkommenen öffentlichen Gebäude und Wohnungen verweisen, haben sie keine Angst, sich zu blamieren – schliesslich würde die betreffende Sanierung Jahre dauern und einen Energieeinspareffekt erst in fernerer Zukunft bewirken. Hauptsache, man hat seinen guten nationalen Willen gezeigt.
Was faktisch bleibt, ist die Beratung der Bürger. Denen beim Umgang mit der teurer werdenden Energie und mit einem schrumpfenden Geldbeutel ermunternd zur Seite zu stehen, das sehen die kommunalen Vertreter offenbar als ihre vordringlichste Aufgabe und als ihren positiven Beitrag für die Bürgerschaft in Städten und Gemeinden an.
Direkt angesprochen fühlen sich auch die Handwerker – und das mit Recht: „Wir als Handwerker sind Umsetzer und zugleich Betroffene beim Einsparen von Energie. Wir bauen und installieren das, was in privaten Haushalten und im gewerblichen Bereich eine effiziente Energienutzung möglich macht… es liegt auch im ureigenen Interesse von Handwerksbetrieben, selbst möglichst energieeffizient zu arbeiten“. (Zentralverband des Deutschen Handwerks – ZDH) Die Kampagne des Bundeswirtschaftsministers stellt geradezu eine kostenlose Werbung für die Handwerksbetriebe dar, die mit der Installation von Heizungen und Solardächern ihr Geschäft betreiben. Und da Energieeinsatz Kosten verursacht, ist das Handwerk auch immer bedacht, ihn niedrig zu halten. So kann man sich leichten Herzens der Kampagne des Ministers anschliessen, zeigt sie doch wieder einmal: Handwerk hat goldenen Boden.
Doch nicht nur das Handwerk ist beteiligt, die sogenannten Sozialpartner treten sogar gemeinsam an: „Energieeffizienz ist ein wichtiger Lösungsansatz, um Klimaziele zu erreichen und mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft und hochwertigen Arbeitsplätzen zu verbinden. Das gilt umso mehr in Zeiten rasant ansteigender Energiekosten. Wir als Sozialpartner werben daher dafür, weiter in Energieeffizienz zu investieren… Wichtig sind dafür qualifizierte Fachkräfte, finanzielle Anreize und langfristig gesicherte Rahmenbedingungen.“ (Deutscher Gewerkschaftsbund – DGB, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände – BDA).
Zwar geht es in erster Linie um die Unabhängigkeit von russischen Energielieferungen, aber auch die Sozialpartner wollen das Energiesparen als Beitrag zum Klimaschutz deuten. Sie bringen das vorgeschobene Ziel jedoch gleich in Verbindung damit – und so gleich unter den Vorbehalt –, dass es im Zusammenhang mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft und entsprechenden Arbeitsplätzen zu sehen sei. Was nichts anderes bedeutet, als dass Klimaschutz gut und schön ist, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft aber in keiner Weise beeinträchtigen darf, sondern befördern soll.
Dass eine wettbewerbsfähige Wirtschaft gleichzusetzen ist mit hochwertigen Arbeitsplätzen, ist eine Mär, die Gewerkschafter gerne verbreiten. Sie werden dabei auch nicht an den Rationalisierungen der Betriebe irre, die Arbeitsplätze ständig überflüssig machen. Hochwertige Arbeitsplätze sind nach der marktwirtschaftlichen Logik eben solche, die sich für die Unternehmen lohnen – gezahlt in nationalen Betrieben, die möglichst auf dem Weltmarkt den Ton angeben. Dass dies immer auch niedrige Löhne bedeutet, haben die Gewerkschafter der IG Metall gerade wieder in der Stahltarifrunde unterstrichen, in der sie von vornherein auf einen Ausgleich für die Inflation verzichteten und so zur Lohnsenkungen zum Wohle der Stahlindustrie beitrugen (vgl. Die Leistung der deutschen Gewerkschaft in Kriegszeiten.
Schliesslich befindet sich die Stahlindustrie in der Umstellung auf die Direktreduktion durch den Einsatz von Wasserstoff, was zunächst Investitionskosten verlangt, aber für die Zukunft eine kostengünstigere Produktion – auch unter Einsparung von Lohnkosten – erbringen soll. Als Partner der Unternehmen wollen Gewerkschafter somit nichts mehr von einem Gegensatz von Kapital und Arbeit wissen, machen sich vielmehr zu Lobbyisten für die Unternehmen, indem sie zur Absicherung der Gewinne beim Einsatz von energieeffizienten Massnahmen finanzielle Anreize und rentierliche Rahmenbedingungen fordern. Für die Qualifizierung von Fachkräften, also die Sicherung der Nützlichkeit der Arbeitsmannschaft, sehen sich die Gewerkschaften dann selber zuständig und sind dafür auch in Tarifrunden stets zu Lohnverzicht bereit.
Unternehmen können nie genug Bedarf zur Förderung ihres Geschäfts durch die Politik anmelden und so treten sie gleich mehrfach in Erscheinung: „Wir als Industrie stehen für die Wirtschafts- und Innovationskraft Deutschlands. Wir wollen den immer effizienteren Einsatz von Energie als wichtiger Beitrag zu einer modernen, leistungsfähigeren Wirtschaft beschleunigen… Wegen des russischen Krieges in der Ukraine unterstützt die deutsche Industrie nun so rasch wie möglich den Gasverbrauch in der Stromerzeugung zu senken und Kohlekraftwerke schon jetzt aus der Reserve wieder in den Markt zu nehmen, um Gas für den Winter zu speichern.“ (Bundesverband der Deutschen Industrie – BDI)
Unternehmen haben es offenbar nicht nötig, wie andere Interessenvertreter zu heucheln. Sie verweisen schlicht auf ihre Bedeutung in diesem Staat, in dem alles vom Gelingen des Geschäftemachens abhängig gemacht ist. Ihren Erfolg in der Konkurrenz setzen sie daher gleich mit dem Erfolg Deutschlands. Dem hat auch der Einsatz von Energie zu dienen, daran bemisst sich deren Effizienz. Von daher braucht der BDI auch gar nicht gross den Klimaschutz zu bemühen, sondern kann klar zum Ausdruck bringen, dass es bei dieser Kampagne darum nicht geht. Wenn billige Energie gebraucht wird für die deutsche Wirtschaft, dann müssen halt die Braunkohleschlote wieder rauchen.
Die deutsche Wirtschaft besteht aber nicht nur aus der Industrie und so meldet sich auch der Handel zu Wort: „Um noch mehr Einsparungen anzuregen, setzen wir auf Energieeffizienz- und Klimaschutznetzwerke und wollen in den nächsten Jahren weitere 10.000 Energie-Scouts im Rahmen unseres Unternehmensnetzwerkes Klimaschutz ausbilden. Damit können wir den Mut und das Engagement dieser jungen Menschen nutzen, um bisher liegen gebliebene Einsparpotenziale in den Betrieben aufzuspüren und neue, innovative Wege zu gehen. Ganz nebenbei tragen die Jugendlichen das erworbene Knowhow auch in ihr privates Umfeld, und machen Erfolgsprojekte zu einem Baustein mit doppelter Rendite – für den Klimaschutz und für mehr Unabhängigkeit.“ (Deutscher Industrie-und Handelskammertag – DIHK)
Als Unternehmer sehen sich die Verbände angesichts der Kampagne gefordert, ihre Innovationskraft zu zeigen. Die besteht in der Ausbildung von jungen Leuten, die in den Betrieben Energieeinsparpotenziale ausfindig machen sollen, schliesslich ist Energie immer ein wichtiger Kostenfaktor und überflüssige Kosten gilt es zu vermeiden. Zudem lassen sich aus solchen Ideen vielleicht neue Geschäftsmöglichkeiten erschliessen – Erfolgsprojekte, die sich auch mit Unterstützung dieser jungen Menschen im privaten Bereich vermarkten lassen. So können diese Projekte nicht nur für die Unabhängigkeit Deutschland, alias Klimaschutz, sorgen, sondern auch für die Betriebe eine Rendite abwerfen.
Die Wirtschaftszweige, die vom Geschäft mit der Energie leben, dürfen in der Kampagne natürlich nicht fehlen und so reihen sich auch der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), die Deutsche Unternehmensinitiative Energieeffizienz (DENEFF) und der Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) in die Liste der Propagandisten ein.
Es fehlen aber auch nicht die Umweltverbände: „ Wir als Umweltverbände sehen in der absoluten Reduktion des Energieverbrauchs den Schlüssel für ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat unsere Abhängigkeit brutal vor Augen geführt und zwingt uns zum sofortigen Kurswechsel. Als Umweltverbände unterstützen wir alle Bemühungen der Bundesregierung, diesen Kurswechsel zu vollziehen. Nur wenn es uns gelingt, den Energiebedarf dauerhaft drastisch zu senken, können wir als Industrienation Vorbild sein für ein Wohlstandsmodell, das nicht auf Kosten anderer Weltregionen und der Natur wirtschaftet. Dafür braucht es die richtigen politischen Weichenstellungen und einen regulatorischen Rahmen, der Reduktion, Effizienz und Flexibilität belohnt und Ineffizienz und Verschwendung verhindert. Kurzfristig sind wir alle aufgerufen, durch individuelle Verhaltensänderungen den Energieverbrauch drastisch zu senken…“ (Deutscher Naturschutzring – DNR)
Es ist schon interessant, wie die Umweltverbände auf die Zielsetzung des Wirtschafts- und Klimaministers eingehen. Dass es sich bei der Kampagne um eine Massnahme im Wirtschaftskrieg mit Russland handelt, bleibt ihnen nicht verborgen. Offenbar sehen sie in dem Umgang der Politik mit der Reduzierung der Lieferungen aus Russland eine Chance zur Verwirklichung ihres Anliegens, eben des Klimaschutzes. Nur wollen sie nicht zur Kenntnis nehmen, dass es dem Minister nicht um eine absolute Reduktion von Energie geht, er will ja vielmehr sicherstellen, dass der Wirtschaft und den Verbrauchern immer in ausreichender Menge Energie zur Verfügung steht. Die Wirtschaft soll ja weiter wachsen und dazu braucht es auch Bürger, die sich nicht wegen mangelhafter Heizung erkälten und so unbrauchbar werden.
Auch die Behauptung, bei Deutschland handle es sich um ein Wohlstandsmodell, ist eine Schönfärberei sondergleichen. Sie will von der massenhaften Armut im Lande nichts wissen, schliesst sich vielmehr den gängigen Umdeutungen an, dass man es mit massenhaften Einzel- und Sonderfällen zu tun hat.
Dass am deutschen Wesen die Welt genesen soll, wird geteilt. Das weist die Vertreter der Umwelt als stramme Nationalisten aus. Ihr Aufruf zur individuellen Verhaltensänderung – wie das Gürtel-Enger-Schnallen in ihrem Jargon heisst – wird von den Regierenden sicher wohlwollend zur Kenntnis genommen; was aber nicht heisst, dass diese sich damit auch das Anliegen des Naturschutzes zu eigen machen.
Last but not least treten auch noch die Verbraucherschützer auf den Plan: „Wir als Verbraucherschützer helfen Verbraucherinnen und Verbrauchern mit der unabhängigen Energieberatung, Energie und Bares zu sparen und uns unabhängiger von fossiler Energie zu machen… Zur Wahrheit gehört aber auch, dass viele Menschen keinen oder kaum noch Spielraum für Einsparungen haben. Damit die steigenden Energiepreise sie nicht in existentielle Nöte bringen, muss die Politik sie gezielt unterstützen und entlasten.“ (Verbraucherzentrale Bundesverband – vzbv)
Die Tatsache, dass der Verbraucher des systematischen Schutzes bedarf, dementiert eigentlich schon eine weit verbreitete Lobhudelei, der zufolge der Kunde König ist und darüber entscheidet, was wie hergestellt wird – seien es nun Textilien, Lebensmittel oder sonstige Produkte, die es für den Lebensunterhalt braucht. Die Existenz der zahlreichen Verbraucherschutzinstanzen, angefangen von Ministerien bis hin zu einschlägigen Verbänden, zeigt das Gegenteil.
Es ist schon eine seltsame Aktion, die sich die Verbraucherschützer da leisten. Sie beteiligen sich an einem Aufruf an die Bürger, Energie zu sparen, wohl wissend, dass viele dies überhaupt nicht leisten können, weil sie mangels Geld schon an allen möglichen Ecken und Enden sparen müssen. Dann kann sich die Beratung in vielen Fällen offenbar nur darauf beschränken, Trost zu spenden. Es kommt zudem einer Beschönigung gleich, wenn davon die Rede ist, dass viele Menschen erst in Zukunft in existentielle Nöte geraten werden, haben doch diejenigen, von denen die Verbraucherschützer Hilfe erwarten, mit der Festlegung von Grundsicherungs-, Arbeitslosengeld II-Sätzen und ähnlichen Sozialleistungen dafür gesorgt, dass sich viele Menschen beständig in existentiellen Nöten befinden.
Die Adressaten: solidarisch vereinnahmt
Mit der Kampagne der Bundesregierung und den Unterstützungserklärungen der Verbände wendet sich die Bundesregierung an die 80 Millionen Bürger im Lande. Für viele von ihnen haben bereits die Interessenverbände ohne ihr Wissen ihre Solidarität bekundet. Aber alle anderen werden mit der Kampagne vor die Frage gestellt, ob sie sich diesem breiten Bündnis anschliessen oder abseits stehen wollen. Dabei stellt sich die Frage des Energiesparens für die 80 Millionen in ganz unterschiedlicher Art und Weise – je nach Grösse ihres Geldbeutels. Viele werden sich – ganz gleich, was sie von der Kampagne halten – dem Einspargedanken nicht verschliessen können. Und das nicht, weil sie der Aufruf überzeugt hätte. Schliesslich müssen sie sehen, wie sie angesichts der allgemein steigenden Preise nicht nur bei Energie mit ihrem begrenzten Geldbeutel zu Recht kommen. Da braucht es keine Vorschriften durch die Politik, sondern es bleibt ganz ihrer freien Entscheidung überlassen, wo sie auf Dinge verzichten und was sie sich noch leisten wollen und auch können.
Jubel, Trubel, Heiterkeit unter den politischen Specknacken
Der Verzicht auf Urlaub oder die Fahrt mit dem Auto lässt sich natürlich auch in Kilowattstunden umrechnen und in die Vorstellung übersetzen, der eigene Verzicht würde einem höheren Zwecke dienen. Und traditioneller Weise steht – seit mittlerweile 150 Jahren – eine politische Kraft, nämlich die deutsche Sozialdemokratie den „kleinen Leute“ zur Seite, um ihnen den Respekt der Staatsgewalt für die nimmermüde (und immer wieder aufs Neue geforderte) Verzichtshaltung zu erweisen.
Das Ganze kann auch ein grüner Minister, dessen Ansehen, wie man aus den Meinungsumfragen erfährt, dank des moralischen Rigorismus grüner Kriegstreiberei stark gestiegen ist. Wie die Nachdenkseiten vermerkten hat man hier im Grunde einen „grünen Sarrazin“ vor sich. Der damalige Berliner Finanzsenator Sarrazin hatte ja finanzschwachen Bürgern anlässlich steigender Energiepreise empfohlen, doch einfach die Heizung runterzudrehen und sich einen dicken Pullover anzuziehen, was damals einen Aufschrei in der sozial denkenden Öffentlichkeit verursachte: „Heute wäre Sarrazin voll im Trend, denn wenn es gegen Russland geht, scheint es in der politischen Debatte keine Tabus mehr zu geben.“ (Jens Berger, NDS)
Auf die Freiwilligkeit des Publikums verlässt sich die Politik natürlich nicht. Laut letzten Meldungen prüft die Bundesnetzagentur bereits, ob Vermieter zur Absenkung der Mindesttemperatur in Wohngebäuden verpflichtet werden könnten. Worauf der Deutsche Mieterbund den interessanten Protest einlegte, dass sei grundfalsch, da die Mieter schon allein deshalb auf ihre Energiebilanz achteten, weil sie ihre Energiekosten kaum noch zu schultern vermöchten.
Was auch immer die neue Energiespar-Kampagne bewirkt, sie ist in jedem Fall ein Beitrag zur nationalen Bewusstseinsbildung, also dazu, dass sich die Bürger weiterhin alle Zumutungen gefallen lassen, die für sie aus den Massnahmen der Regierung zur Befeuerung von Krieg und Wirtschaftskrieg gegen Russland resultieren. Wie der Steckrübenwinter im Ersten Weltkrieg und das Winterhilfswerk im Zweiten sind das eben die Momente, wo die Nation zur Hochform aufläuft und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Volksgemeinschaft für jeden hautnah erlebbar wird.
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2.) Von Oben — Präsentation der MCV-Motivwagen für den de:Mainzer Rosenmontagszug 2015. Der russische Wladimir Wladimirowitsch Putin als „Problembär“ der am Gashahn dreht.
Wie Wirtschafts- und Klimakrise im globalen Süden ineinandergreifen und sich wechselseitig hochschaukeln.
Was das alles wieder kostet! Eigentlich kann sich der Spätkapitalismus keine kostspielige Klimapolitik mehr leisten. Schon gar nicht dort, wo es vor allem darauf ankäme: im globalen Süden.
Die Weltbank warnte Anfang Juni angesichts hoher weltweiter Staatsverschuldung, die im Verlauf der Pandemiebekämpfung sprunghaft anstieg, vor einer schweren Schuldenkrise in Ländern mit „niedrigen und mittleren Einkommen“, ähnlich derjenigen Welle von Staatspleiten und Wirtschaftseinbrüchen, die in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts viele Entwicklungsländer verwüstete.1 Gegenüber 2019 drohe weiteren 75 Millionen Menschen in der Peripherie des Weltsystems der Absturz in „extreme Armut“, da extreme Schuldenlast, Inflation und ein rasch steigendes Zinsniveau eine Wirtschaftslage zur Folge hätten, die „ähnlich den 1970ern“ sei, hieß es weiter (siehe hierzu auch: „Zurück zur Stagflation?“).2
Von den 305 Billionen US-Dollar, auf die sich die weltweiten Schuldenberge inzwischen summieren,3 entfallen rund 100 Billionen auf Schwellenländer inklusive China.4 Die globale Gesamtverschuldung betrug 2019, am Vorabend der Pandemie, rund 320 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Sie liegt nun, nach einem Spitzenwert von 360 Prozent 2020, bei 350 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Dabei ist ein Großteil des Schuldenwachstums, das vornehmlich durch die Gelddruckerei der Notenbanken ermöglicht wurde, gerade in der Semiperipherie zu verorten. Mehr als 80 Prozent der im letzten Jahr akkumulierten Schulden sind in den Schwellenländern neu aufgenommen worden.
Die Entwicklungs- und Schwellenländer drohen somit unter ihrer Schuldenlast gerade zu dem Zeitpunkt zusammenzubrechen, wo umfassende Investitionen in den Klimaschutz notwendig wären. Geradezu dramatisch entfaltet sich die Wechselwirkung aus ökologischer und ökonomischer Krise auf dem weitgehend wirtschaftlich abgehängten Kontinent, der am wenigsten zur Klimakrise beigetragen hat: im subsaharischen Afrika.5 Der gesamte afrikanische Kontinent ist nur für vier Prozent der globalen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich, die – historisch betrachtet – zum überwiegenden Teil vom globalen Norden verursacht worden sind. Dennoch wird ein Großteil der ohnehin zu knappen Klimahilfen der Zentren für Afrika in Form von Krediten geleistet, mit denen die Schuldenlast in der Peripherie weiter ansteigt, während Investmentgesellschaften wie Blackrock – mit Investments von mehr 10 Billionen Dollar der weltweit größte Vermögensverwalter – sich weiterhin weigern, einem substanziellen Schuldenerlass zuzustimmen.
Blackrock war auch der größte Gläubiger Sambias, das Ende 2020 den Staatsbankrott erklären musste, nachdem der Vermögensverwalter sich weigerte, einer Aussetzung des Schuldendienstes zuzustimmen. Die Pleite des südafrikanischen Staates, der mit 13 Milliarden Dollar in der Kreide stand, dürfte aber nur den Auftakt der afrikanischen Schuldenkrise bilden. 2015 waren laut Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) acht Staaten im subsaharischen Afrika überschuldet und liefen Gefahr, in den Staatsbankrott zu taumeln. Im März 2022 waren es schon 23 Staaten. Die Wirtschafts- und Einnahmeneinbrüche im Verlauf der Pandemie, das Auslaufen eines Zinsmoratoriums im Dezember 2021, der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 und die Zinswende der US-Notenbank Fed lassen immer mehr afrikanische Staatshaushalte in Schieflage geraten.6 Zudem sieht sich China, das in den vergangenen Jahren als wichtiger Kreditgeber und Wirtschaftspartner Afrikas agierte, selber mit den Folgen einer gigantischen Immobilienblase und des pandemiebedingten Lockdowns konfrontiert. Die Gesamtverschuldung der Region hat sich von 380,9 Milliarden 2012 auf rund 702,4 Milliarden im Pandemiejahr 2020 nahezu verdoppelt.7
Diese Schuldenlast erstickt alle Ansätze, die Folgen der Klimakrise in der Peripherie mit umfassenden Maßnahmepaketen zu mildern, wie Nichtregierungsorganisationen (NGO)8 im Herbst 2021 warnten.9 Demnach ist die Summe, die von den 34 ärmsten Staaten der Welt zur Bedienung ihrer Schulden aufgewendet werden muss, um das Fünffache größer als ihre Investitionen in den Klimaschutz. Den Schuldenzahlungen in Höhe von 29,4 Milliarden Dollar stehen Klimaschutzmaßnahmen im Umfang von 5,4 Milliarden entgegen. Jahrelang haben Weltbank und IWF die Entwicklungsländer zur Aufnahme von Krediten bei der Finanzierung von Entwicklungsprojekten ermuntert, doch seien deren Zinsen aufgrund des höheren Risikos um ein Vielfaches höher als in den Industriestaaten, warnte die NGO Jubilee Debt Campaign. Mitunter sind Zinssätze von mehr als zehn Prozent üblich, wobei die Zinswende der Fed diese Finanzierungskosten in der Peripherie noch weiter hochtreiben dürfte.
Das Ineinandergreifen von kapitalistischer Schuldenkrise und Klimakrise torpediert nicht nur die Klimapolitik in den besonders gefährdeten Regionen der Peripherie des Weltsystems, die sich kaum noch Klimaschutz leisten können. Zusätzlich belasten die sich in zunehmenden Wetterextremen und Naturkatastrophen manifestierenden Folgen der Klimakrise die Staatshaushalte vieler Staaten aufgrund der damit einhergehenden Kosten – und sie tragen zur Destabilisierung des aufgeblähten globalen Weltfinanzsystems bei. Allein 2021 summierten sich die Kosten der zehn größten Naturkatastrophen auf rund 170 Milliarden Dollar, die – zumindest bei der Instandsetzung der zerstörten Infrastruktur – von den Staatshaushalten gestemmt werden müssten. Die Klimakrise wirkt somit längst als ein weiterer Kostenfaktor in dem überschuldeten spätkapitalistischen Weltsystem. Der Klimawandel beschleunigt somit das Wachstum der globalen Schuldenberge zusätzlich, er trägt somit zur Destabilisierung des Finanzsystems bei.
Diese Kombination aus Schuldenbergen und eskalierender Klimakrise könnte sich zu einem „systemischen Risiko“ für die Weltwirtschaft entwickeln, warnten US-Medien 2021 unter Verweis auf Einschätzungen der Weltbank und des IWF.10 Untragbare Schulden, Klimawandel und Umweltzerstörung würden demnach einen „Zyklus aus verringerten Einnahmen, steigenden Ausgaben und zunehmenden klimatischen Anfälligkeiten“ verstärken. Evident ist diese Krisenmechanik in der Periphere: Während Entwicklungsländer schon 2019 Kredite von rund 8,1 Billionen gegenüber ausländischen Gläubigern akkumuliert hatten, deren Bedienung 17,4 Prozent ihrer Staatseinnahmen verschlang (eine Verdreifachung der Schuldenlast gegenüber 2011!), ist von den versprochenen Klimahilfen des Nordens, die sich auf 100 Milliarden Dollar summieren sollen, kaum etwas geflossen.11
Die verheerende Wechselwirkung aus Überschuldung und Naturkatastrophen wird etwa am Beispiel des südwestafrikanischen Entwicklungslandes Mosambik deutlich, das schon 2019 unter einer hohen Verschuldung litt,12 als es von zwei Zyklonen verwüstet wurde, die mehr als 1000 Menschen töteten und Schäden von 870 Millionen Dollar verursachten. Die Regierung in Maputo sah sich genötigt, infolge des Extremwetterereignisses weiter Kredite aufzunehmen, um die Schäden zumindest teilweise zu beseitigen. Nun ist Mosambik auf der besagten IWF-Liste der vom Staatsbankrott gefährdeten afrikanischen Länder zu finden. Im vergangenen März warnten bereits die Finanzminister etlicher afrikanischer Staaten, dass „ein beträchtlicher Teil“ ihrer Haushaltsmittel in Reaktion auf Extremwetterereignisse wie Dürren und Überflutungen aufgewendet werden müsse, die „Finanzpuffer“ seien bereits weitgehend erschöpft.13
Doch die Klimakrise dürfte auch das gesamte Weltfinanzsystem zunehmend in Schieflage bringen, da dessen einstmals als solide erachtetes Fundament, der Markt für Staatsanleihen, kaum noch die wachsenden Risiken reflektiert, warnte jüngst die Nachrichtenagentur Bloomberg.14 Demnach würden institutionelle Investoren zunehmend die Bewertung von Staatsanleihen durch die großen Ratingagenturen hinterfragen, da die plötzlichen Erschütterungen durch Extremwetterereignisse kaum in deren Berechnungen einfließen würden. Die Noten, die Ratingagenturen wie Moody’s Investors Service, S&P Global Ratings, und Fitch Ratings für Anleihen vergeben, sind aber entscheidend für deren Zinsniveau. Je schlechter die Benotung, desto teurer gestaltet sich der Schuldendienst.
Eine umfassende „Einpreisung“ von Klimarisiken würde somit den Schuldendienst verteuern, was die Gefahr von Staatspleiten ansteigen lassen würde. Dies gilt nicht nur für die Peripherie des kapitalistischen Weltsystems, wie Bloomberg ausführte. Auch Länder wie Japan, Mexiko, Südafrika oder Spanien könnten in den kommenden Dekaden durch die Wechselwirkung aus Kreditlast und Klimakrise in die Staatspleite getrieben werden, wenn ihre Bemühungen zur Reduzierung der CO2-Emissionen „zu spät, zu abrupt oder ökonomisch schädigend“ seien. In Schieflage könnten aber auch Staaten wie Russland, Kanada oder Australien geraten, die sehr stark vom Export fossiler Energieträger abhängig sind.
Staatsanleihen, insbesondere in den Zentrumsländern wie USA oder BRD, gelten aber als das Fundament, als der Beton des globalen Finanzkartenhauses. Bei jeder Krise flieht Kapital aus risikoreichen Investments in den „sicheren“ Anleihemarkt. Sollte dieser Anleihemarkt nicht mehr als ein „sicherer Hafen“ angesehen werden können, dann würde dies das gesamte Finanzsystem bei künftigen sozioökologischen Krisenschüben destabilisieren. Der Staatsanleihenmarkt sei „das Auffangnetz“ des Weltfinanzsystems, erklärte ein Analyst gegenüber Bloomberg, „jeder zieht sich dorthin zurück in Zeiten von Turbulenzen und Desastern“.
Diese üblichen Krisenreflexe auf den Finanzmärkten, die durch die gute Bewertung von Staatsanleihen durch Ratingagenturen befördert werden, stimmen aber nicht mehr mit der Realität der Klimakrise überein. Die Ratingagenturen haben schon früher katastrophale Fehleinschätzungen abgegeben, im Vorfeld der Weltfinanzkrise von 2008, als Hypothekenverbriefungen, die während der Immobilienblase in den USA und der EU die Finanzmärkte überfluteten, viel zu gut bewertet wurden. Nun droht ein ähnliches Szenario auf den Anleihemärkten, wo die Risiken der Klimakrise systematisch ausgeblendet werden.
Die Staaten fungieren ohnehin seit dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase 2008 als letztes Aufgebot des an seiner Produktivität erstickenden Spätkapitalismus, der nur noch durch immer neue, kreditfinanzierte Konjunkturprogramme, durch extreme Gelddruckerei seine Agonie prolongieren kann. Diese innere Schranke des Kapitals15 tritt somit auch auf den Anleihemärkten in direkte Wechselwirkung mit der äußeren Schranke des Kapitals,16 der Endlichkeit des Planeten Erde und den Grenzen seiner ökologischen Belastbarkeit.
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Es ist sehr heiß dieses Wochenende, und den meisten Leuten dämmert mittlerweile auch, warum. Trotzdem passiert zu wenig Klimapolitik. Woran das liegt? Analyse eines Gesprächs mit dem Schornsteinfeger.
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Ihnen, während Sie diese Kolumne lesen, ziemlich warm ist. Und nein, das ist nicht »normal« – Europas Temperaturen liegen vielerorts 12 bis 16 Grad über dem langjährigen Mittelwert für diese Jahreszeit.
In Teilen Frankreichs wurden Veranstaltungen im Freien und in Räumen ohne Klimatisierung verboten . Mehrere Städte stellen im Freien Nebelmaschinen auf. Zur Erinnerung: Bestimmte Temperaturen kann ein Mensch, wenn die Luftfeuchtigkeit hoch ist, nicht längere Zeit überleben. Diese Temperatur liegt, wie eine neue Studie zeigt »deutlich unter 35 Grad Celsius«. Das französische Innenministerium warnte über Twitter, man solle sich »nicht dem Wetter aussetzen«. Mit »Wetter« ist das gemeint, was früher »Sommer« hieß.
Man darf nie vergessen, dass all das immer noch nur der Beginn ist. Es geht jetzt erst richtig los, es wird vorerst nicht besser, sondern weiterhin schlimmer. Aber wir erzeugen ja, global gesehen, auch weiterhin Jahr für Jahr mehr CO₂, nicht weniger.
Ich habe in dieser Kolumne schon diverseMale darüber geschrieben, dass es einer gewaltigen Zahl von Menschen augenscheinlich weiterhin gelingt, diese äußerst bedrohlichen Fakten weitgehend auszublenden. Ich habe auch schon diverseMale psychologische Erklärungen für diese Blindheit erläutert, und auch, was sich an diesen Faktoren gerade ändert. Aber geht diese Änderung schnell genug?
Alle, mit denen ich in den vergangenen Monaten über dieses Thema gesprochen habe (es sind ziemlich viele), treibt diese Frage mehr als alles andere um: Fernsehstars und Ökonominnen, 80-jährige Veteranen der Umweltbewegung und 20-jährige Aktivistinnen, Regisseure, Philosophinnen, Journalisten, Studierende. Wie kann es sein, dass die Leute weiterhin so ruhig sind?
Ein erhellendes Gespräch mit dem Kaminkehrer
So bitter das klingt: Viele Menschen haben wohl nach wie vor nicht zu viel Angst vor der Klimakrise, sondern zu wenig. Sonst müssten Wahlergebnisse anders aussehen, politische Debatten anders verlaufen. Sonst müsste einfach mehr passieren, das in die richtige, nicht weiterhin in die falsche Richtung läuft.
Diese Woche hatte ich eine erhellende Konversation mit unserem Schornsteinfeger. Sie hat mich bei dieser Frage ein entscheidendes Stück weitergebracht.
Der Schornsteinfeger ist ein freundlicher Mann mit grauem Schnauzer. Ein zupackender Typ, der sich für Technik interessiert. Er stellte erstaunt fest, dass unser Schornstein ja gar nicht benutzt worden sei. Wir haben einen Holzofen für Notfälle, aber wenn der Strom nicht ausfällt, benutzen wir den auch im Winter nicht. Und unser Haus ist hervorragend gedämmt.
Anschließend sprachen wir über das Wetter. Über die Temperaturen in Frankreich und Spanien, über das bevorstehende Wochenende in Deutschland.
»Nee, das wird auch wieder weniger«
»Das wird jetzt immer schlimmer«, sagte ich. »Nee, das wird auch wieder weniger«, antwortete er, »die Erde wackelt«. Irgendetwas mit der Entfernung zur Sonne. Anschließend verwies er darauf, dass es auf der Erde doch schon immer »CO₂ und Stickstoff« gegeben hätte, und dass auch Vulkane CO₂ ausstießen.
Ich widersprach energisch und hielt ein Kurzreferat über CO₂-Konzentrationen in der Atmosphäre und deren Anstieg in den vergangenen 70 Jahren, über ausgegrabenen, uralten Kohlenstoff, den wir seit 220 Jahren verfeuern, und so weiter. Beim Thema CO₂-Konzentration warf mein Schornsteinfeger die korrekte Maßeinheit »ppm« (parts per million) ein, um mir zu signalisieren, dass ich ihm da nichts Neues erzählte.
Das war der erste Erkenntnismoment des Gesprächs: Der Mann weiß durchaus, was wirklich los ist. Aber er erzählt sich selbst und jedem, der es hören will, lieber eine andere Geschichte.
Warum mir der Gaspreis egal ist
Damit war er bei mir selbstverständlich an der falschen Adresse, aber ich wollte mich auch nicht streiten. Also begann ich, um eine positive Wendung des Gesprächs bemüht, von unserer Erdwärmepumpe und der Fotovoltaikanlage auf unserem Dach zu schwärmen, und von der Tatsache, dass mir persönlich der aktuelle Gaspreis egal sein kann.
»Ja, aber wie viel CO₂ steckt denn in den Solarzellen?«, fragte mein Schornsteinfeger zurück, jetzt augenscheinlich doch an CO₂-Vermeidung interessiert. Ich versicherte ihm, dass Solarzellen sich, entgegen solchen häufig vorgebrachten Einwänden, sehr schnell klimatechnisch amortisieren, hatte aber leider keine Zahl parat.
Mittlerweile habe ich nachgesehen: Einer Studie des Umweltbundesamtes von 2021 zufolge liegt die sogenannte Energy Payback Time einer in Deutschland betriebenen Solaranlage, je nach verwendeter Zellentechnik, zwischen 0,9 und 2,1 Jahren. Spätestens dann ist sie gut fürs Weltklima.
Das Windrad muss 750 Jahre laufen?
Mein Schornsteinfeger ließ aber nicht locker, immer freundlich lächelnd: Ältere Windkraftanlagen, die damals noch aus Aluminium hergestellt worden seien, seien erst nach 750 Jahren klimaneutral, behauptete er. Ich erwiderte, dass ich gerne die Quelle für diese Angabe wüsste, und er murmelte etwas von »Reader’s Digest«.
Er wusste außerdem durchaus, wie sich dann zeigte, dass moderne Windkraftanlagen völlig anders konstruiert werden – aber was ihm zum Thema einfiel, war dann doch diese groteske, in keinem Bezug zur gegenwärtigen Realität stehende Pseudoinformation. In der Psychologie nennt man so etwas »Aufwertung konsonanter Information«. Wie ein Raucher, der einen Raucher kennt, der 90 Jahre alt geworden ist.
Ich verlegte mich auf eine Strategie, die mir in letzter Zeit erfolgversprechend erscheint und wies auf den tatsächlichen Feind in dieser Frage hin: Die Konzerne, die mit fossilen Brennstoffen ihr Geld verdienen und seit Jahrzehnten mit gewaltigen Summen Desinformationskampagnen finanzieren , unter anderem mit dem Ziel, jede Alternative zu ihren Geschäftsmodellen als unmöglich darzustellen.
Jeder der Konzerne gebe Dutzende Millionen pro Jahr für Lobbying aus, ergänzte ich, und das stimmt: Bei BP sind es 53 Millionen Dollar, bei Shell 49, bei ExxonMobil 41 und bei Chevron und Total je 29 Millionen Dollar – pro Jahr. Zusammen also mindestens 200 Millionen Dollar pro Jahr, um effektive Klimagesetzgebung zu verhindern. Das sage übrigens nicht ich, das sagt »Forbes« . Der Schornsteinfeger nickte ernst.
Die kapitalistische Klimakrise fordert bereits massenhaft Todesopfer unter armen und gefährdeten Bevölkerungsschichten – nicht nur im globalen Süden.
Die Klimakrise fordert längst massenhaft Todesopfer. Auch dieses Jahr dürften abermals Hunderte Obdachlose der buchstäblich mörderischen Hitze zum Opfer fallen, die alljährlich weite Teile der Vereinigten Staaten heimsucht.1 Letztes Jahr wurden US-weit rund 1500 Todesfälle registriert, die einen direkten Zusammenhang mit den Hitzewellen aufweisen, die insbesondere im Süden und Westen des Landes immer neue Rekordwerte erreichen. Rund die Hälfte dieser Hitzetoten war obdachlos. Es sind somit gerade die ärmsten der Armen, die zuerst der sich voll entfaltenden Klimakrise zum Opfer fallen.
Doch eigentlich weiß niemand so genau, wie viele Obdachlose alljährlich in der Hitze umkommen, da viele Fälle einfach nicht registriert werden. Alljährlich werden während der zunehmenden Hitzewellen Tote in Zeltlagern oder vor Suppenküchen gefunden, die nicht immer als Opfer der Witterungsverhältnisse Eingang in die Statistiken finden. Besonders gefährdet sind pauperisierte Menschen in Städten wie Phoenix, im westlichen Wüstenstaat Arizona, wo die Temperaturen inzwischen mehr als 45 Grad Celsius erreichen können. Es sei im Sommer ziemlich schwer, einen kühlen Platz zu finden, ohne gleich von der Polizei vertrieben zu werden, klagte ein Obdachloser gegenüber der Nachrichtenagentur AP.
In den Zelten auf den Bürgersteigen oder auf brüllend heißen Parkplätzen, in denen Obdachlose in Los Angeles und Phoenix zu überleben versuchen, wird die Hitze sehr schnell lebensbedrohlich. Die zunehmenden Hitzephasen führen in den USA inzwischen zu mehr Todesopfern als Hurrikane, Überflutungen und Tornados zusammengenommen. Allein im südwestlichen Bundesstaat Arizona, dessen Hauptstadt Phoenix als eine der hitzeanfälligsten Großstädte der USA gilt,2 wurden 2021 offiziell 339 Hitzetote erfasst, von denen 130 obdachlos waren. In der Glücksspielmetropole Las Vegas bringen sich viele wohnungslose Menschen buchstäblich im Untergrund in Sicherheit – sie hausen in Abwasserkanälen, die etwas Schutz vor der mörderischen Hitze bieten.
Die ökonomische und die ökologische Krise des Kapitals greifen längst ineinander. Der pandemiebedingte Krisenschub3 samt den steigenden Mieten auf dem überhitzten US-Immobilienmarkt hat zu einer raschen Zunahme der Zahl der Obdachlosen geführt,4 die inzwischen mehr als eine halbe Million Menschen5 umfasst – und die sich extremen Witterungsbedingungen ausgesetzt sehen. Mit immer neuen Hitzerekorden nimmt somit auch die Zahl der Hitzetoten in den Vereinigten Staaten zu: zwischen 2018 und 2021 um 56 Prozent.6 Die Wahrscheinlichkeit,dem Hitzetod zu erliegen, ist für einen Obdachlosen um den Faktor 200 höher als bei Mietern oder Wohnungsinhabern.
Das kapitalistische System ist aufgrund des Verwertungszwangs des Kapitals, der sich volkswirtschaftlich als das allseits fetischisierte „Wirtschaftswachstum“ manifestiert, außerstande, die Verschwendung von Rohstoffen und die Verbrennungfossiler Energieträger zu begrenzen, was sich ganz konkret in alljährlich global steigenden CO2-Emissionen manifestiert.7 Folglich laboriert die Politik selbst in Reaktion auf das aufkommende Phänomen des Hitzetodes nur an dessen Symptomen, anstatt die Ursache der Klimakrise, die durch den Wachstumszwang des Kapitals verursachte Verbrennung der ökologischen Lebensgrundlagen der Menschheit, zu bekämpfen.
In den Vereinigten Staaten werden in gefährdeten Regionen inzwischen „Kühlräume“ für Obdachlose aufgebaut, während Freiwillige deren Zeltlager mit Wasser versorgen. Dabei weitet sich das Problem der Phasen lebensbedrohlicher Hitze zunehmend aus. Städte und Regionen, die bislang kaum davon betroffen waren – wie Boston, Portland oder Seattle – sehen sich nun gezwungen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um das Überleben insbesondere der pauperisierten Stadtbewohner in extremem Witterungsverhältnissen zu ermöglichen. New York etwa veröffentlichte Mitte Juni einen Bericht über 370 hitzebedingte Todesfälle im vergangenen Jahr, der eine steigende Zahl heißer Tage in den vergangenen Jahren konstatierte (bei gleichbleibender Zahl sehr heißer Tage).8
Neben diesen direkten Todesfällen führen längere Hitzeperioden auch mittelbar zu einer höheren Sterberate, da Kranke mit Herz- und Kreislaufproblemen eher in solchen extremen Witterungsverhältnissen ihrem Leiden erliegen.9 Besonders betroffen sich zudem ältere Menschen über 50 und Übergewichtige, was insbesondere in der Vereinigten Staaten überproportional oft für die pauperisierten Bevölkerungsschichten zutrifft, die sich eine gesunde Ernährung schlicht nicht leisten können.10 Der berüchtigte Hitzesommer 2003 in Europa hat so zu insgesamt 70 000 Todesfällen geführt.11 Derzeit bemühen sich die Behörden in Frankreich aufgrund der sehr früh einsetzenden Hitzeperiode um die Einrichtung ähnlicher „Kühlräume“, wie sie in den USA üblich sind.12
Indiens Arbeiter und Arme am Rande der Überlebensfähigkeit
Von solchen Maßnahmen wie Kühlräumen können die Obdachlosen und arbeitenden Armen Indiens oder Pakistans nur träumen. Eine verheerende, historisch beispiellose Hitzewelle hat den indischen Subkontinent in diesem Frühjahr heimgesucht, bei der bereits die Grenzen der Überlebensfähigkeit der betroffenen Menschen erreicht wurden.13 Die Temperaturen erreichten in etlichen besonders schwer getroffenen Regionen bis zu 45 Grad Celsius im März und 49 Grad Celsius im April.14 Über die Zahl der Hitzetoten gibt es in der Region aufgrund mangelnder Erfassung keine zuverlässigen Zahlen, doch gehen Schätzungen von Tausenden Opfern aus.
Bauarbeiter in der südindischen Stadt Chennai berichteten gegenüber Medien, dass die Verrichtung ihrer Arbeit in der Hitze nahezu unmöglich sei.15 Ein Arbeiter, der in 12-Stunden-Schichten Stahlrahmen herstellt, klagte über Temperaturen von 38 Grad Celsius im vergangenen März, die weit über dem üblichen Temperaturniveau von rund 32 Grad lagen. Er sei nicht mehr in der Lage gewesen, die die Metallrahmen zu montieren, ohne sich die Finger zu verbrennen, so der Arbeiter, der über Schwindelgefühle klagte. Etliche Bauarbeiterinnen seien unter der Hitze zusammengebrochen. Er könne es sich nicht leisten, zu pausieren oder in seiner Konzentration nachzulassen, klagte der interviewte Bauarbeiter, da es inzwischen „Maschinen gibt, die meine Arbeit machen können“. Dieser Sommer habe die Grenzen seiner Ausdauer getestet.
Das Schwellenland Indien, das ein hohes jährliches Wirtschaftswachstum zwecks Aufrechterhaltung sozialer Stabilität anstrebt, ist zugleich einer der größten Konsumenten von Steinkohle – und der Bedarf an dem klimaschädlichen Energieträger steigt gerade in den Hitzephasen steil an, wenn all jene Betriebe und Bürger, die sich Klimaanlagen leisten können, den Energiebedarf ansteigen lassen. Die ökologische Unhaltbarkeit kapitalistischen „Entwicklung“ tritt gerade in solchen Hitzephasen krass zutage: Das Wirtschaftswachstum, auf das Lohnabhängige im Kapitalismus angewiesen sind, da sie nur dann überleben können, wenn ihre Arbeitskraft vom Kapital in der Warenproduktion zwecks Profitmaximierung verwertet wird, entzieht ihnen zugleich die ökologischen Lebensgrundlagen.
Tatsächlich ist die Hitze in Indien bereits nicht nur für gesundheitlich angeschlagene Menschen oder arbeitende Arme – etwa auf dem Bau – lebensbedrohlich. Die zunehmenden Extremwetterereignisse drohen ganze Landstriche unbewohnbar zu machen, da der menschliche Körper in der manifesten Klimakrise auf dem indischen Subkontinent an die Grenze seiner Funktionsfähigkeit rückt. Die sogenannte Kühlgrenztemperatur bildet dabei den zentralen Wert,16 der die Grenze der Bewohnbarkeit einer von häufigen Hitzewellen heimgesuchten Region markiert. Dabei gilt: Eine Kühlgrenztemperatur, die bei einer Luftfeuchtigkeit von 100 Prozent rund 35 Grad Celsius beträgt, bildet die Grenze, nach deren Überschreiten es dem menschlichen Körper nicht mehr möglich ist, durch Schwitzen die eigene Temperatur zu regulieren – es folgt nach wenigen Stunden bei 35 Grad und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit der Hitzetod.
Dabei gilt: Je niedriger die Luftfeuchtigkeit, desto höher die Kühlgrenztemperatur. Bei hoher Luftfeuchtigkeit, etwa in den Tropen, sind das somit niedrigere Temperaturen, als etwa in einer Wüstenregion. Für den indischen Subkontinent, der vom besonders warmen Indischen Ozean mit Feuchtigkeit versorgt wird, ergeben sich bereits dramatische Annäherungen an diese biologische Grenze der Bewohnbarkeit, warnten indische Medien unter Bezugnahme auf entsprechende Studien Anfang Juni.17
Insbesondere in den feuchten Küstenregionen Indiens erreicht die Kühlgrenztemperatur bereits des Öfteren 32 Grad Celsius, was die normale Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers über längere Zeiträume beeinträchtigen kann. Vier der sechs größten Städte Indiens, in denen dutzende Millionen Menschen leben, haben ebenfalls diese Grenze in den vergangenen Jahren zumindest einmal überschritten, darunter auch die Hauptstadt Neu-Delhi. In der ostindischen Küstenstadt Kalkutta, in deren Einzugsgebiet mehr als 14 Millionen Menschen leben, wird die Kühlgrenztemperatur von 32 Grad Celsius inzwischen nahezu jährlich übertroffen.18 Es ist somit absehbar, dass Teile Indiens in den kommenden Dekaden tatsächlich unbewohnbar werden.
Da die Klimaanlagen für die meisten armen Bürger aufgrund des gegebenen „Reichtumsgefälles“ Indiens einen unerreichbaren „Luxus“ darstellen, drohe künftig „Millionen von Indern der Tod aufgrund hitzebedingter Probleme“, warnten indische Medien.19 Sollte es der Regierung nicht gelingen, „kostengünstige Wege“ zur Versorgung der Bevölkerung mit Klimaanlagen oder Kühlzonen zu finden, würde die 1,7 Milliarden betragende Bevölkerung bald massenhaft sterben. Deswegen stelle „ein Ende des Klimawandels die einzige Lösung“ dar.
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Ein konventioneller Krieg mit schweren deutschen Waffen gegen einen mit 6.250 Atomsprengköpfen bewaffneten Despoten muss nicht automatisch zum großen, letzten Atomkrieg führen. Es braucht für diese Gewissheit nur zwei Voraussetzungen: Der Despot muss menschenfreundlich und berechenbar sein…
Der bei gutem Willen verhinderbar gewesene, dumme, mörderische und völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands, dieser Stellvertreterkrieg, unter dem die Menschen in der Ukraine so schrecklich leiden, zeigt wieder einmal, welche Gefahren von den aktuell noch ca. 13.400 existierenden, „ungebrauchten“ Atomwaffen und Atombomben ausgehen. Der lange schon jeden Tag mögliche, gut verdrängte Atomkrieg ist wieder wahrscheinlicher geworden und atomare Reaktionäre, Militaristen & Laufzeitverlängerer sind Kriegsgewinnler und bekommen überall Aufwind. Die weltweit ca. 13.400 Atomwaffen und Atombomben ermöglichen den Militärs immer noch einen Overkill und eine mehrfache Totalauslöschung der Menschheit.
Die gleichen Menschen, PolitikerInnen und Lobbyisten, die noch im Jahr 2021 sagten, die NATO-Osterweiterung wird niemals einen mörderischen und verbrecherischen russischen Krieg provozieren, sagen heute, dass ein Atomkrieg „sehr unwahrscheinlich“ sei.
Selbstverständlich könnte man versuchen, den Stellvertreterkrieg in der Ukraine mit der Lieferung von deutschen Panzern und Geschützen zu beenden. Doch diese uralte militärische Logik endete am 6. Aug. 1945 mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima. Wer nach Hiroshima einen konventionellen Krieg gegen einen mit 6.257 atomaren Sprengsätzen bewaffneten, unberechenbaren Autokraten „gewinnen“ will, der hat das Prinzip Atomwaffe nicht verstanden.
Zu den größten Problemen der Menschheit zählt die Apokalypse-Blindheit und die Unfähigkeit, aus vergangenen Kriegen und menschengemachten Katastrophen, aus den Kriegsverbrechen von Hiroshima und Nagasaki zu lernen. Kriegszeiten sind Zeiten größtmöglicher Dummheit, Irrationalität und selektiver Wahrnehmung, in denen menschliches Denken und Handeln und die Berichterstattung in den Medien von stammesgeschichtlich erklärbaren, steinzeitlichen Reflexen geprägt ist.
Alle wollen den Krieg gewinnen, alle reden von Waffen und viel zu wenige reden von Waffenstillstand und Frieden. Wir brauchen endlich auch eine konkrete Debatte, wie dieser Krieg und das damit verbundene entsetzliche Leid schnell und ohne globalen Atomkrieg beendet werden kann.
Wenn sie Dich fragen, wie konnte das geschehen, kannst Du ihnen dann sagen, Du hast es nicht gewusst?
Urheberrecht
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Von : Heather Alberro, Bron Taylor und Helen Kopnina /
Abkehr vom immer noch dominanten Anthropozentrismus: Drei Forschende fordern einen grundlegenden Wandel im Naturschutz.
psi.Dies ist ein Gastbeitrag der Forschenden Heather Alberro (Nottingham Trent University), Bron Taylor (University of Florida) und Helen Kopnina (Newcastle Business School und Northumbria University, Newcastle). Er erschien zuerst am 8. Juni 2022 in Englisch bei The Conversation.
Der sich beschleunigende Artenverlust auf der ganzen Welt ist so umfangreich, dass viele Experten inzwischen von einem sechsten Massenaussterben sprechen. Hauptursache dafür ist der beispiellose Verlust lebenswichtiger Ökosysteme wie Wälder und Feuchtgebiete, der das Ergebnis eines auf ständiges Wachstum ausgerichteten Gesellschafts- und Wirtschaftssystems ist.
Die jüngste UN-Biodiversitätskonferenz, die COP15, deren zweite Sitzung im Oktober 2022 stattfinden wird, soll ehrgeizige Massnahmen zur Eindämmung des Biodiversitätsverlustes umsetzen. Oberstes Ziel ist es, bis 2050 eine Harmonie zwischen Mensch und Natur herzustellen.
In einem kürzlich erschienenen akademischen Artikel zeigen wir jedoch, dass wichtige Akteure wie das Gremium der Naturschutzwissenschaftler, das für die UNO Berichte über die biologische Vielfalt erstellt, dem menschlichen Wohlergehen nach wie vor Vorrang vor allem anderen einräumen.
Diese Prioritätensetzung könnte auf eine anthropozentrische Kultur zurückzuführen sein, die den Menschen in der Regel als von anderen Arten getrennt und wertvoller als diese betrachtet.
Um unsere Ausrottungskrise wirksam zu bekämpfen, brauchen wir mehr als nur technische Fortschritte oder politische Massnahmen, die in anthropozentrischen Annahmen verhaftet bleiben. Vielmehr müssen wir die Art und Weise, wie wir die Natur und andere Arten betrachten und bewerten, grundlegend ändern.
Die Vorherrschaft des Menschen
Der Anthropozentrismus führt dazu, dass andere Arten und die Natur als Objekte und Ressourcen für menschliche Zwecke behandelt werden. Diese Annahme liegt immer noch der Art und Weise zugrunde, wie viele Menschen den Naturschutz angehen.
In den Umweltwissenschaften und im Ressourcenmanagement spiegeln die Begriffe «natürliche Ressourcen» und «Ökosystemleistungen» den vorherrschenden anthropozentrischen Ansatz zur Bewertung des natürlichen Wertes wider, insbesondere durch wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analysen.
Die Biodiversitätswissenschaft ist immer noch auf den Menschen fixiert
Die COP15 wird zum Teil von der Arbeit der Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) geprägt sein, des Pendants der Naturschutzwissenschaftler zur IPCC-Gruppe der Klimawissenschaftler. Die jüngste, 2019 veröffentlichte globale Bewertung der Biodiversität und der Ökosystemleistungen des IPBES fördert den Begriff «Beiträge der Natur für den Menschen» als einen umfassenderen Rahmen für die Erfassung des natürlichen Wertes jenseits rein wirtschaftlicher Indikatoren.
Das erklärte Ziel ist es, zu betonen, dass die Natur und andere Arten «nicht nur Waren» sind, und die verschiedenen materiellen und immateriellen Beiträge der Natur zur «Lebensqualität der Menschen» hervorzuheben.
Es ist lobenswert, dass der Bericht versucht, ein breiteres Spektrum an ökologischen Weltanschauungen und Werten als Grundlage für die Erhaltung der biologischen Vielfalt zu berücksichtigen. Wir sind jedoch der Meinung, dass sein Ansatz weiterhin auf den Menschen ausgerichtet ist. Nicht-menschliche Arten werden nach wie vor nur instrumentell bewertet, im Sinne dessen, was sie für uns leisten können.
Die Beziehung zwischen Menschen und natürlichen Lebewesen dreht sich immer noch um den wahrgenommenen Nutzen anderer Arten für das «gute Leben» des Menschen. Es gibt keinen ausdrücklichen Hinweis auf das gute Leben unserer irdischen Verwandten, auf das, was sie brauchen könnten, um zu gedeihen.
Der Bericht versäumt es auch, sich für den inhärenten Wert aller Erdbewohner einzusetzen. Wir sind der Meinung, dass dies ein schwerwiegender Mangel für jede Plattform ist, die die grundlegenden kulturellen Veränderungen fördern will, die erforderlich sind, um das UN-Ziel «Harmonie mit der Natur» bis 2050 zu erreichen.
Hin zu einem ökozentrischen Naturschutz
Eine Alternative wäre, den Fokus der Naturschutzwissenschaft und -politik von den «Ökosystemleistungen» und den «Beiträgen der Natur für den Menschen» auf die ausdrückliche Einbeziehung der moralischen Verpflichtungen der Menschen gegenüber der Natur auszuweiten. Wir konstatieren, dass dies eine Verlagerung hin zum Ökozentrismus erfordern würde, einer moralischen Sichtweise, bei der jede Art und jedes Ökosystem als wertvoll angesehen wird.
Diese Art von moralischem Empfinden, das sich auf viele religiöse und philosophische Arbeiten stützt, bedeutet im Wesentlichen, dass nicht-menschliche Organismen und Umweltsysteme einen Wert an sich haben und nicht nur als Mittel für menschliche Zwecke dienen.
Aus dieser Perspektive würden wir nicht nur fragen, was die Natur für uns tun kann, sondern auch, wie wir zur Gesundheit und Widerstandsfähigkeit der gesamten Biosphäre und aller Lebewesen, die sie beleben, beitragen können. Mit diesem Ansatz würden wir auch fragen, wie wir sicherstellen können, dass auch andere Arten das haben, was sie für ein «gutes Leben» brauchen.
Von Ressourcen zu Verwandten
Motive sind wichtig. Wenn wir die Natur und andere Arten weiterhin nur auf der Grundlage dessen bewerten, was sie uns bieten können, werden wir nicht in der Lage sein, unsere Beziehung zu ihnen radikal zu verändern. Ihr Leben ist unbezahlbar, und ihr Verlust lässt sich weder beziffern noch wiedergutmachen. Schliesslich ist das Aussterben für immer. Ihre zunehmende Abwesenheit bedroht nicht nur unsere Existenz, sondern stellt auch ein schweres ethisches Versagen dar.
Angesichts der bevorstehenden Abschlusssitzung der COP15 ist es von entscheidender Bedeutung zu erkennen, dass die innovativen politischen Massnahmen, die erforderlich sind, um die biologische Auslöschung zu verhindern, unmöglich auf rein anthropozentrischen Prämissen beruhen können. Eine angemessene Antwort auf die Krise der biologischen Vielfalt erfordert einen grundlegenden Wertewandel, bei dem wir andere Arten als Verwandte und alle vielfältigen Umweltsysteme der Erde als von Natur aus wertvoll betrachten.
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Die armen Länder werden sich zunehmend des ökologischen Wertes ihrer Ressourcen bewusst
Von Rolf Langhammer
Klingt abwegig, ist aber sinnvoll: Reiche Länder bezahlen dafür, dass arme Länder zum Schutz des Klimas ihre natürlichen Ressourcen nicht ausbeuten.
Von Belize über Gabun bis zu den Seychellen hat der COP26-Klimagipfel in Glasgow ein altes Tauschmodell wiederaufleben lassen: Entwicklungsländer mit einem für Weltklima und Biodiversität wichtigen Naturschatz bieten reichen Ländern und privaten Investoren an, diesen Schatz vor wirtschaftlicher Ausbeutung zum Nachteil des Weltklimas zu schützen. Im Gegenzug verlangen sie die Bereitstellung von Kapital. Die Logik dahinter: Reiche Länder haben mehr Interessen am Schutz der Natur als arme, für die wirtschaftliche Nutzung Priorität hat. Diese Interessenunterschiede sind Grundlage des sogenannten Nutznießerprinzips (victim pays principle). Anders als früher gewinnen jetzt neben reicheren Staaten auch private Anleger Interesse an solchen Tauschgeschäften, um Forderungen nach nachhaltigeren Investitionen nachzukommen.
1987 machte Bolivien mit dem ersten debt-for-nature swap (DNS) den Anfang: Eine Nichtregierungsorganisation erhielt Mittel von einer US-Stiftung, um auf dem Sekundärmarkt internationale Altschulden des Landes mit einem erheblichen Abschlag aufzukaufen und Bolivien de facto zu erlassen. Im Gegenzug stellte Bolivien Mittel in heimischer Währung zur Verfügung, die für den Schutz der natürlichen Ressourcen eingesetzt werden sollten. Wegen seiner Zahlungsbilanznot war das für Bolivien reizvoll.
Die Erfahrungen mit dieser Urversion der DNS waren nicht ermutigend. Trotz relativ kleiner Summen verglichen mit den Gesamtschulden zogen sich Verhandlungen mit den staatlichen Gläubigern, zumeist im Pariser Klub der offiziellen Geber, lange hin. Strittig waren der Gegenwartswert im Vergleich zum Nennwert der Schulden, Wechselkursrisiken, das Mitspracherecht der Geber, die Höhe der Beiträge des Schuldnerlandes in heimischer Währung und seine Verwendung, vor allem aber das Erreichen und Überprüfen der Ziele. Vielfach wurde die Natur weiter ausgebeutet.
Zwanzig Jahre später machte der damalige Präsident Ecuadors, Correa, ein neues Angebot: Verzicht auf die Ölförderung in einer intakten Regenwaldregion, wenn die internationalen Gemeinschaft das Land finanziell kompensierten – nach Vorstellungen Correas in Höhe der Hälfte der erwarteten Öleinnahmen. Correa stellte als Gegenleistung Mittel für die Förderung erneuerbarer Energien in Aussicht. Nachdem die Reaktion der internationalen Gemeinschaft weit hinter den Erwartungen Correas blieb, begannen 2016 die Ölbohrungen. Die Bundesregierung lehnte das Angebot besonders vehement ab, sie sah nur Anreize für unterlassene Ölförderung, nicht aber für aktiven Naturschutz.
Politiker führen Kriege für eine Hand voll Dollar oder Rubel ?
COP26 hat gezeigt, dass beide Varianten künftig an Bedeutung gewinnen werden. Der Schuldenstand vieler Entwicklungsländer ist wegen der Pandemie stark gestiegen, naturgebundene Dienstleistungen wie Ökotourismus konnten nicht mehr verkauft werden. Damit schwinden Anreize für den Naturschutz. Gleichzeitig werden sich die Länder aber zunehmend des ökologischen Wertes ihrer Ressourcen gegenüber reichen Ländern bewusst. Diese müssten das Unterlassen oder Begrenzen wirtschaftlicher Ausbeutung honorieren. Anbieter eines Tauschgeschäfts gibt es also tendenziell mehr. Auch die Nachfrage steigt: Dank der öffentlichen Diskussionen rund um die Klimakonferenzen steigt der Druck auf reiche Länder und ihren Finanzsektor, natürliche Ressourcen in armen, hochverschuldeten Ländern zu schützen. Beliebig gewählte Transfers wie 100 Milliarden US-Dollar jährlich reichen dafür nicht aus, so die Überzeugung. Zusätzlich ist die Ausgabe rentabler „grüner oder blauer Anleihen“ durch den privaten Finanzsektor nötig. Die Kaufbereitschaft für solche Anleihen würde voraussichtlich wachsen, wenn sie längere Laufzeiten hätten, sie zumindest teilweise von internationalen Institutionen gegen Ausfall geschützt und überprüfbar an den Erfolg des Naturschutzes geknüpft wären. Damit sich beide Seiten treffen, sind vier Erfahrungen aus der Vergangenheit nützlich:
Erstens, der völlige Verzicht auf eine wirtschaftliche Nutzung natürlicher Ressourcen ist kontraproduktiv. Er senkt den Anreiz in ärmeren Ländern, den ökologischen Wert der Ressourcen zu erkennen und sich für den Schutz einzusetzen. Umgekehrt steigt der Anreiz für Raubbau. Einnahmen beispielsweise aus hochwertigem Ökotourismus oder aus dem Verkauf von natürlichen Ressourcen für die Medizin- und Arzneimittelforschung könnten die Balance zwischen Schutz und Nutzung bewahren.
Der Wert von Strom schwankt durch Wind und Sonne erheblich.
Von Bernward Janzing
Die Preise bleiben trotzdem gleich und damit das Verbraucherverhalten. Die Chance, durch Verlagerungen der Nachfrage Extrem Belastungen des Systems zu entschärfen, wird verspielt.
Ortstermin am Autobahnkreuz Hilden in Nordrhein-Westfalen, an einem der europaweit größten Ladeparks für Elektroautos. Es ist ein ambitioniertes Projekt, das – nette Anekdote am Rande – von einem regionalen Biobäcker realisiert wurde. Aber um das Projekt selbst soll es hier gar nicht gehen, sondern vielmehr darum, wie sich in Hilden exemplarisch die vielleicht größte Fehlsteuerung der Energiewende offenbart.
Der Wert einer Kilowattstunde Strom schwankt in Deutschland inzwischen erheblich, was sich logisch aus dem steigenden Anteil von Solar- und Windstrom ergibt. Mal ist Strom im Überfluss im Netz, weil gerade eine Sturmfront übers Land zieht oder weil flächendeckend die Sonne auf die Dächer brennt. Wenn dann noch Wochenende ist und die Stromnachfrage gering, kann Strom für Stunden zu einem wertlosen Produkt verkommen.
Zu anderen Zeiten hingegen, wenn Sonne und Wind gleichermaßen fehlen und es zudem auch noch kalt ist in Mitteleuropa, wird die Kilowattstunde Strom sehr wertvoll – schlichte Ökonomie; Angebot und Nachfrage eben. Der Spotmarkt der Strombörse macht diese Wertschwankungen zeitlich hochaufgelöst transparent: Im 15-Minuten-Takt des Intraday-Markts bekommt der Strom jeweils sein aktuelles Preisschild aufgedrückt. Betreiber flexibler Kraftwerke reagieren darauf. Sie erhöhen oder drosseln ihre Produktion entsprechend der Marktsignale und liefern so den Ausgleich, den das Netz für seine physische Stabilität dringend benötigt. So weit, so gut, so eingespielt.
Zugleich aber herrscht im Land eine Praxis, die zu diesem ausgeklügelten System der Stromerzeugung so gar nicht passt. Sie könnte im weiteren Verlauf der Energiewende zu einem handfesten Problem werden. Womit wir wieder in Hilden sind. Betreiber haben hier Dutzende von Ladesäulen für Elektroautos installiert. An manchen können die Fahrzeuge mit einer Leistung von bis zu 250 Kilowatt tanken. Befremdlich jedoch: Für die Kunden ist der Preis zu allen Zeiten gleich – egal, ob die Kilowattstunde im Großhandel gerade 70 Cent kostet, wie schon der Fall, oder ob der Strom zu einem negativen Preis gehandelt wird, was ebenfalls immer wieder vorkommt.
Würden die Verkaufspreise an die Preise der Strombörse gekoppelt, könnte bei hohem Anteil erneuerbarer Energien das Tanken billiger werden. Nur ist das bislang nicht praktikabel. Zwar erklärte das Bundeswirtschaftsministerium, zeitvariable Tarife seien durchaus zulässig – sofern „entsprechend geeignete und konformitätsbewertete Messgeräte“ zur Verfügung stünden. Daran aber hapert es offenbar – an eichrechtlichen Fragen.
Damit wird eine Absurdität der Energiewende-Wirtschaft deutlich: Während die Stromwirtschaft mit ihren Kraftwerken viel Aufwand betreibt, um die schwankende Erzeugung der Erneuerbaren auszugleichen, bleiben Anreize für Verbraucher, sich im Sinne des Stromnetzes zu verhalten, auf der Strecke. Die Chance, durch Verlagerungen von Nachfrage Extrembelastungen des Stromsystems zu entschärfen, wird damit verspielt. Unverständlich, bei diesen Mengen: Alljährlich könnten durch zeitvariables Laden von Autos 70 Milliarden Kilowattstunden auf solche Termine verschoben werden, zu denen ausreichend Strom vorhanden ist, analysierte jüngst das Öko-Institut.
Das klingt plausibel. Denn wer beobachtet, wie sehr Autofahrer ihr Tankverhalten mitunter danach ausrichten, ob das Benzin gerade ein paar Cent mehr oder weniger kostet, kann sich ausmalen, welche Effekte durch variable Strompreise an der Ladesäule zu erzielen sind. Zumal bei Strom noch weitaus höhere Einsparungen möglich sind als bei Benzin: Faktor fünf zwischen Tiefstpreis und Höchstpreis an der Ladesäule ist durchaus mal drin, wenn man die Preissignale der Börse eins zu eins durchreicht.
Ähnliche Potenziale der Verbrauchsverlagerung ermittelte das Öko-Institut im Wärmesektor. Auch dieser wird das Stromsystem erheblich fordern, wenn die elektrische Wärmepumpe – aktuell als die große Alternative zum Erdgas hochgejubelt – mit Macht in die Häuser einzieht. Die Folgen sind absehbar: Die Spitzenlast im Stromnetz wird an kalten Tagen beachtlich zulegen.
Die Versprechen wirtschaftlicher Entwicklungen wurden nicht erfüllt
Von Alejandra Ancheita
Indigene Völker sollten beim Kampf gegen die Erderwärmung einbezogen werden. Stattdessen verlieren sie durch die Errichtung von Windparks Ländereien und Einnahmequellen.
Der Übergang zu Erneuerbaren Energien hat sich als zentraler Beitrag zur Begrenzung der Erderhitzung erwiesen – einer komplexen Krise in vielfältigen Formen und Dimensionen, die sich nicht nur auf den Alltag der Menschen auswirkt, sondern alles Leben auf unserem Planeten gefährdet. Der Wechsel zu nachhaltiger Energiegewinnung ist Teil der Lösung, wenn wir den Klimawandel stoppen wollen.
Auf dem Weg dahin sind indigene Bevölkerungsgruppen und ethnische Minderheiten wichtige Beteiligte, die nicht übersehen werden dürfen. Die Weltbank weist darauf hin, dass die traditionellen indigenen Gebiete, die nur gut 20 Prozent der Erdfläche ausmachen, 80 Prozent der verbliebenen Biodiversität unseres Planeten halten. Außerdem verfügen sie über ein in Jahrtausenden gewachsenes Wissen darüber, wie sie den durch den Klimawandel erzeugten Gefahren begegnen müssen, wie sie sie verringern oder sich an sie anpassen können. Obwohl diese Gruppen also bei der Verteidigung unseres Planeten in vorderster Linie stehen, wurden sie in der Regel von der öffentlichen Debatte über Lösungen ausgeschlossen. Man hat sie stattdessen verfolgt, bedroht und attackiert.
Indigene Gruppen und Ethnien werden insbesondere in Lateinamerika diskriminiert und sind strukturellem Rassismus ausgesetzt. Armut und Ausgrenzung treffen sie ebenso hart wie soziale Ungerechtigkeit. Nach Informationen der Weltbank machen indigene Gruppen nur 6 Prozent der Weltbevölkerung aus, aber 15 Prozent der Menschen, die in extremer Armut leben. Ihre Lebenserwartung liegt um 20 Jahre niedriger als die der nicht-indigenen Bevölkerung, und ihr Zugang zur Justiz und anderen Entscheidungsträgern ist sehr erschwert. Diese Nachteile machen es für sie mühsam, die negativen Auswirkungen des Klimawandels abzuwehren. Sie sind ihnen deshalb stärker ausgesetzt.
Wir konnten diese Trends selbst in der agrarischen und indigenen zapotekischen Gemeinschaft in der Gemeinde Unión Hidalgo (15.000 Einwohner*innen) am Isthmus von Tehuantepec im Süden Mexikos beobachten. Der Isthmus ist der wichtigste Standort für die Windenergiegewinnung in ganz Mexiko. Dutzende großer Windenergiefarmen sind bereits aktiv vor Ort. In Unión Hidalgo ist ein Windpark namens „Piedra Larga“ errichtet worden, seine 114 Windturbinen ragen in kaum 500 Meter Abstand von der Gemeinde in den Himmel.
Die Windparks werden als Beitrag zur Energietransformation und als ökonomische Alternative vorgestellt, um die Armut in der Region zu beenden. Tatsächlich wurden sie aber auf sehr fruchtbaren Böden errichtet, was das auf Landwirtschaft und Viehzucht basierende Entwicklungsmodell der zapotekischen Gemeinden zerstörte. Die Windkraftbetreiber behaupten, dass nur 2 Prozent der Gesamtfläche für die Stromgewinnung benötigt werden und die übrigen Flächen anderweitig genutzt werden können. In Wirklichkeit werden beim Bau dieser Anlagen große Gebiete eingezäunt und bewacht. Zutritt ist nicht mehr erlaubt. Die Windparks verletzten die Menschenrechte der indigenen Bevölkerung, darunter ihr Recht auf Selbstbestimmung. Ebenso wenig wurde beachtet, dass indigene Gemeinschaften laut mexikanischem Recht solchen Vorhaben auf ihrem Land vorab, ungehindert und auf der Grundlage vollständiger Informationen auch über die Umwelt folgen zustimmen müssen.
In Unión Hidalgo haben sich elf Jahre nach dem Bau des ersten Windparks die Versprechen wirtschaftlicher Entwicklung nicht erfüllt. Vielmehr hat sich ein Gefühl der Unsicherheit und der Gewalt entwickelt. Offizielle Daten zeigen, dass 57,6 Prozent der Bevölkerung weiterhin in Armut leben, 35,1 Prozent haben in ihren Häusern keinen Zugang zu grundlegender öffentlicher Versorgung, 37,1 Prozent leben in Ernährungsunsicherheit und 21,4 Prozent haben keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Außerdem hat sich die Gewalt innerhalb der indigenen Bevölkerung verschärft, weil Leute mit einem Interesse am Zustandekommen der Projekte die Gemeinden gespalten und deren sozialen Zusammenhalt zerstört haben. Vertreter der Windkraftbetreiber locken mit Stipendien, Jobs oder Aufträgen, wenn sie ihre Anlagen bauen wollen. Die Unternehmen machen solche Versprechungen in der bewussten Absicht, bestimmte Gruppen in der Region des Isthmus gegeneinander auszuspielen. Dabei zeigen die bisherigen Erfahrungen, dass die Unternehmen ihre Zusagen nicht einhalten, wenn sie die Baugenehmigung erhalten haben.
Nachdem die Kommune Unión Hidalgo 2015 erfahren hatte, dass ein neuer Windpark auf ihrem Territorium errichtet werden sollte, suchte sie die Unterstützung von ProDesc, um den Bau dieses Projekts zu verhindern. Nach monatelangen Recherchen wurde bekannt, dass hinter dem geplanten Windpark eine mexikanische Tochtergesellschaft von Électricité de France (EDF) stand, dem französischen Staatsunternehmen und einem der weltweit größten Energieproduzenten. Dieser große Windpark namens „Gunaa Sicarú“ hätte sich über eine Fläche von mehr als 47 Quadratkilometern erstreckt. Es wäre das größte Windprojekt in Lateinamerika gewesen und hätte den Ort vollständig mit Windturbinen umgeben. Das Unternehmen informierte die Gemeinde jedoch nicht über alle Einzelheiten und den Umfang des Projekts, geschweige denn über dessen ökologische und soziale Auswirkungen.
Datei:Senator Protest gegen den Windpark Wolverine.jpg.jpg
Erstellt: 13. Juni 2008
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Unten — 500px bereitgestellte Beschreibung: Es gibt so viel Wind, Vögel fliegen rückwärts. La Venta, Oaxaca. M?xico. [#birds ,#wind ,#wind Generatoren]
Jedes Jahr sterben etwa neun Millionen Menschen wegen Umweltverschmutzung einen zu frühen Tod, die meisten durch schmutzige Luft.
Umweltverschmutzung ist um ein Vielfaches tödlicher als Krieg, Terrorismus, Infektionskrankheiten oder Drogen. Einer von schätzungsweise sechs Todesfällen weltweit geht darauf zurück. Das zeigt ein Bericht im Fachmagazin «The Lancet Planetary Health».
2019 sind neun Millionen Menschen an den Folgen von schmutzigem Wasser, schmutziger Luft oder anderen Umweltverschmutzungen gestorben, das ist jeder sechste Todesfall weltweit.
Am tödlichsten ist Luftverschmutzung. Auf Ozon, Feinstaub und giftige Gase waren 6,7 Millionen Tote zurückzuführen. 1,8 Millionen Todesfälle standen in Verbindung mit chemischer Verschmutzung, die Hälfte davon geht auf Blei zurück.
Wo findet sich am meisten Dreck?
Immer weniger Menschen sterben durch verschmutztes Wasser und den Rauch von Holz- und Kohlefeuern. Diese «traditionelle» und meist armutsbedingte Verschmutzung wird durch bessere Wasser-, Abwasser- und Medizinversorgung und sauberere Brennstoffe weniger.
Seit der letzten Auswertung, die auf Daten von 2015 beruht, haben sich die Ursachen umweltbedingter Todesfälle aber lediglich verschoben. An der Gesamtsumme von schätzungsweise neun Millionen Todesfällen durch Umweltverschmutzung hat sich seit 2015 nichts geändert. Seit der Jahrtausendwende sterben aber mehr Menschen an den Folgen «moderner» Umweltverschmutzung wie Smog und Chemikalien.
Wer leidet am meisten unter Umweltverschmutzung?
Neun von zehn umweltbedingten Todesfällen entfallen auf Länder mit geringem und mittlerem Einkommen. Dort hat die industrielle Verschmutzung in den vergangenen 20 Jahren stark zugenommen. Besonders trifft das auf Asien und Südostasien zu, wo in einigen Ländern mehrere ungünstige Einflüsse zusammenkommen: Die Bevölkerung wird älter, sie lebt in Megastädten teilweise eng zusammen und die Industrialisierung schreitet schnell voran.
In der Entwicklungsarbeit werde dieser enorme Einfluss auf Gesundheit, Wirtschaft und Sozialleben grösstenteils übersehen, sagt der Erstautor Richard Fuller. In Ländern wie Indien, Pakistan, China oder Bangladesch sei im Schnitt jeder vierte Todesfall umweltbedingt. Aber auch in Europa sterben jedes Jahr Hunderttausende vorzeitig an den Folgen von Luftverschmutzung.
Eher überraschend: In finanziell schwachen Ländern sterben besonders viele Menschen an den gesundheitlichen Auswirkungen von Bleiverschmutzungen. Verbleites Benzin ist zwar inzwischen in allen Ländern der Welt verboten. Heute gelangt das giftige Schwermetall vor allem durch schlampiges Batterie-Recycling und Elektroschrott in die Umwelt. Auch Gewürze, Anstriche und Keramikfarben können Blei enthalten.
Wie hoch ist die Dunkelziffer?
Die Autoren vermuten, dass es zahlreiche nicht erfasste Bleivergiftungen gibt, weil die Grenzwerte systematisch zu hoch angesetzt worden seien. Das betreffe auch Industrieländer wie die USA. Besonders dramatisch sind die Auswirkungen für Kinder: Blei verringert Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung , stört die Entwicklung des Gehirns und kann damit den Bildungserfolg beeinträchtigen. Das verschärft die Armut in betroffenen Gebieten.
Umweltverschmutzung tötet selten direkt. Grundlage für die Berechnung der vorzeitigen Todesfälle sind epidemiologische Studien weltweit. Todesursache ist offiziell Krebs, eine Herzerkrankung, ein Schlaganfall oder Ähnliches. Umweltgifte schädigen ausserdem die Leber, die Nieren und das Immunsystem, was weitere Krankheiten hinter sich herziehen kann. Hormonell wirksame Umweltchemikalien können unfruchtbar machen.
Die publizierten Zahlen sind laut Fuller eine eher vorsichtige Schätzung. Wäre die Datenlage besser, lägen sie zweifellos höher, schreiben die Autorinnen und Autoren in ihrer Zusammenfassung. Die Gesamtauswirkung von Feinstaub, Pestiziden, Schwermetallen, Ozon, gesundheitsschädlichen Gasen und anderen Umweltgiften auf die Gesundheit wäre anerkannt grösser, wenn alle Übertragungswege von Chemikalien in die Umwelt ermittelt und analysiert würden.
Was kostet Umweltverschmutzung?
Die gesundheitlichen Auswirkungen verschmutzter Umwelt haben ökonomische Konsequenzen. In Afrika führen allein Bleivergiftungen zu einer Verminderung des Bruttoinlandsprodukts um vier Prozent, in Asien reduziert sich das BIP dadurch um zwei Prozent.
Weltweit verursachte Umweltverschmutzung 2015 wirtschaftliche Verluste von 4’600 Milliarden US-Dollar, das waren 6,2 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Das stellte die Lancet-Kommission für Umweltverschmutzung und Gesundheit mit Hilfe von Daten aus der Global Burden of Diseases, Injuries, and Risk Factors Study (GBD) in einer 2017 veröffentlichten Studie fest. Die Lasten sind dabei äusserst ungleich verteilt – mehr als 90 Prozent der vorzeitigen Todesfälle entfallen auf Länder mit geringem oder mittlerem Einkommen.
Genauer hinsehen und danach handeln
Die Autoren der Studie fordern, dass ein derart grosses Gesundheitsrisiko grössere Beachtung in politischen Prozessen finden müsse. Vor allem die am stärksten betroffenen Länder müssten viel mehr gegen Luftverschmutzung, Blei und andere Umweltgifte tun.
Regierungen und internationale Organisationen müssten Umweltverschmutzung neben der Klimakrise und dem Artensterben als drittes globales Umweltthema anerkennen. Massnahmen gegen Umweltverschmutzung seien meist schnell wirksam und es gebe dafür bereits bewährte Strategien. Mittel wie mehr Wind- und Solarenergie hätten dazu doppelten oder dreifachen Nutzen, weil sie auch andere Umweltprobleme abmildern.
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Haben Sie mitbekommen, dass diese Woche gleich zwei gewaltige Umweltskandale in den Nachrichten waren? Oder dass die Uno mittlerweile offen vor einem »globalen Kollaps« warnt? Nein? Das hat seine Gründe.
»Die Erde, die einst so groß schien, muss als so klein erkannt werden, wie sie ist. Wir leben in einem geschlossenen System, wir sind absolut abhängig von der Erde und voneinander, sowohl, was unsere eigenen Leben betrifft als auch für die nachfolgender Generationen.« Aus der von 2200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichneten Menton-Botschaft von 1972
Man kann der Menschheit eigentlich nicht vorwerfen, dass sie nicht begriffen hätte, was sie sich selbst und ihrem einzigen Planeten antut. Im Gegenteil. Wir wissen seit mehr als fünfzig Jahren, dass unsere Art, den Planeten zu zerwirtschaften, für die Menschheit nicht langfristig überlebbar ist. Dabei spielte die Klimakrise in der oben zitierten Erklärung von Menton (ein Ort in Frankreich), die im Zusammenhang mit der ersten Uno-Nachhaltigkeitskonferenz der Geschichte vor 50 Jahren veröffentlicht wurde, noch gar keine Rolle.
Darin geht es trotzdem um diverse Probleme, die heute noch drängender, existenzieller sind als damals: Umweltzerstörung, Ressourcenverbrauch, Bevölkerungswachstum und Hunger, Krieg. Die zwei apokalyptischen Reiter der Gegenwart, die permanent zunehmende Erhitzung von Atmosphäre und Ozeanen und das sechste Massenaussterben der Erdgeschichte, hatten die Unterzeichnenden damals noch nicht so klar vor Augen wie wir heute – aber natürlich sind beide direkte Auswirkungen der gleichen menschlichen Misswirtschaft.
Das Bruttoinlandsprodukt ist ein miserables Maß
Bei der genannten Uno-Nachhaltigkeitskonferenz wurde damals, 1972, einiges erreicht : Zum Beispiel wurde die Uno-Umweltorganisation Unep gegründet, die später wiederum eine Rolle bei der Gründung des Weltklimarats IPCC spielte und maßgeblich am Kampf gegen das Ozonloch beteiligt war – ein schönes, Hoffnung machendes Beispiel für die Effektivität realer globaler Kooperation. Außerdem wurden erstmals konkrete Nachhaltigkeitsziele etwa für Biodiversität und gegen Wüstenbildung ins Werk gesetzt.
Unglücklicherweise ist die Lage der Menschheit fünfzig Jahre später nämlich nicht besser, sondern weit schlechter als damals. Die Warnungen des im selben Jahr erschienenen Club-of-Rome-Reports »Die Grenzen des Wachstums« verhallten, zumindest auf der politischen und wirtschaftlichen Ebene, weitgehend ungehört. Bis heute streben praktisch alle Nationen auf dem Planeten Erde ein mindestens prozentual konstantes und damit exponentielles, ständig beschleunigtes Wirtschaftswachstum an – gemessen an dem für menschliches Wohlergehen reichlich ungeeigneten Maß »Bruttoinlandsprodukt«. Dass dies kein gutes Maß für eine gute Zukunft ist, hat man sogar bei der Industrieländerorganisation OECD längst erkannt , die einst zur Steigerung des Wirtschaftswachstums gegründet wurde.
Zwei schön-schreckliche Beispiele
Noch mehr auf Wachstum bedacht sind die Unternehmen, die dieses blinde, längst als Irrweg erkannte, völlig undifferenzierte Wirtschaftswachstum tragen. Zwei schön-schreckliche Beispiele lieferte die Nachrichtenlage der vergangenen Tage.
Der gigantische Rohstoffkonzern Glencore, der unter anderem mit Öl handelt, einigte sich mit einem US-Gericht auf einen Vergleich: Glencore wird mehr als eine Milliarde Dollar bezahlen, weil seine Manager in Afrika Millionen von Dollar an Schmiergeldzahlungen verteilt haben, um sich Ölförderrechte zu sichern. Außerdem soll der Konzern Ölpreise manipuliert haben. In Großbritannien und Brasilien stehen weitere Strafen an. Insgesamt hat der Konzern dafür vorsorglich 1,5 Milliarden Dollar beiseitegelegt .
So machen die Konzerne, die den Planeten zugrunde richten, das oft: Sie brechen so lange Gesetze, wie sie damit durchkommen, und wenn es nicht mehr geht, dann kaufen sie sich frei. Um die 1,5 Milliarden Dollar ins Verhältnis zu setzen: Glencore hat seinen Anteilseignern gerade vier Milliarden Dollar als Dividende ausgeschüttet . Der Profit des Konzerns lag 2021 bei über 21 Milliarden Dollar.
Uno-Generalsekretär sieht »Sucht nach fossilen Brennstoffen«
Die zweite Nachricht aus der zurückliegenden Woche, die erstaunlich wenig Wellen geschlagen hat, ist eine große Razzia bei der Fondsgesellschaft DWS , die mehrheitlich der Deutschen Bank gehört. Der Vorwurf lautet, dass man dort das doch immer noch recht harmlos klingende »Greenwashing« betrieben habe: Als nachhaltig deklarierte Investitionsvehikel seien in Wahrheit keineswegs nachhaltig. Dafür, dass an den Vorwürfen etwas dran ist, sprechen zwei Tatsachen: Der erste Hinweis, der zu der Razzia führte, kam von der ehemaligen Nachhaltigkeitsbeauftragten der DWS selbst . Und der Chef der Fondsgesellschaft musste unmittelbar nach der Razzia gehen.
Das alles geschieht vor dem Hintergrund, dass wir mit der Erschließung neuer Ölvorkommen und anderen klimaschädlichen Investitionen dringend aufhören müssten, und zwar sofort. Uno-Generalsekretär António Guterres hat vor ein paar Wochen erst gesagt, die Welt müsse ihre »Sucht nach fossilen Brennstoffen« beenden , Investoren müssten aufhören, entsprechende Projekte zu finanzieren.
Von : Stefan Weinert / Ich wünsche allen Leser/innen ein gutes und nachdenkliches Pfingstfest 2022!
Zu unserer Galaxie, die wir Milchstraße nennen und die nur eine von vielen Milliarden Galaxien [rund 250 Milliarden] im Universum ist, gehören mehrere hundert Milliarden von Sterne. Unsere Sonne und ihr System gehören auch dazu. Jeder dieser Sterne ist ebenfalls eine Sonne, die wiederum Planeten um sich kreisen lässt, von denen manche – wie der blaue Planet auf dem wir leben – einen oder meist mehrere Monde hat.
Unsere Sonne zieht im kleinen Orion-Arm ihre Bahn, etwa 27.000 Lichtjahre vom Zentrum der Galaxie entfernt. Erinnern wir uns. Das Licht legt in einer Sekunde 300.000 Kilometer zurück. Die Entfernung zwischen Helios (Sonne) und Terra (Erde) beträgt acht Lichtminuten. (Erde – Mond = 1 Lichtsekunde)
Nun dauert es etwa 225 Millionen Jahre, bis unsere Erde das Zentrum der Milchstraße einmal umrundet hat. Ein Stern (Sonne) mit dem Namen S2 ist da deutlich schneller unterwegs: Er braucht nur 16 Jahre für eine Tour um den galaktischen Kern. Das liegt daran, dass er in unmittelbarer Nähe des galaktischen Zentrums kreist. Dort liegt ein super massives schwarzes Loch. Es heißt Sagittarius A* und ist etwa vier Millionen Mal so massereich wie unsere Sonne. Unter anderem für den Nachweis seiner Existenz gab es vor ein paar Jahren den Physik-Nobelpreis.
Mittlerweile sind sogar Sonnen bekannt, die dem schwarzen Loch im Herzen der Milchstraße noch ein wenig näher sind. Doch sie riskieren auf absehbare Zeit nicht, vom Galaktischen Kern verschluckt zu werden. Dafür müssten sie sich auf die Entfernung von etwa 16 Lichtminuten (doppelte Entfernung Sonne-Erde) nähern. Und darauf deutet derzeit nichts hin, die Bahnen gelten als stabil. Aber schwarze Löcher haben eine solch enorme Anziehungskraft, dass sogar das Licht von ihnen festgehalten wird und nicht aus ihnen entweichen kann. – Und da sind dann noch die Kometen (griech. kómä = Haupthaar, Mähne) die durch die Weiten ihrer Galaxie ihre Bahnen ziehen und – kommen sie einer der Sonnen zu nahe – einen sichtbaren „Schweif“ hinter sich her ziehen. Ihre Bahnen sind so groß, dass der Menschen einen solchen „Allschweifer“ – wenn überhaupt – nur einmal im Leben zu sehen bekommt.
Ich versuche einmal, dieses – in groben Strichen gezeichnete – Bild des Universums auf unsere Gesellschaft auf „dich und mich“ zu übertragen. Alles ist in Bewegung: Nichts ist heute so, wie es gestern war – und auch morgen wird es eine neue, noch nie dagewesene Situation geben. Die gegenseitigen Einflüsse, die guten und die schlechten, das Kreisen umeinander und um sich selbst, die Expansion und die Gefahren aus den Weiten – all das finden wir in der menschlichen Gesellschaft wieder. Sicher scheint nur der Moment – und Zeit war schon vor Einstein immer nur relativ. Wer mit dem Licht reisen kann – so Einsteins Theorie – für den bleibt die Zeit stehen, für den gibt es nur die „Ewigkeit“.
Im Thomasevangelium, das es tatsächlich gibt, aber das es nie in die offizielle Bibel geschafft hat, heißt es an einer Stelle: „Yeshua (Jesus) sagte: ‚Elend ist der Körper, der von einem anderen Körper abhängt. Und elend ist die Seele, die von beiden abhängt [Von ihrem eigenen und dem Körper eines anderen].‘ „.
Wenn wir unseren Blick auf den kleinen (winzigen) Ausschnitt der Milchstraße, unser Sonnensystems richten, und hier wiederum nur auf die Sonne „Helios“, den Planeten = Wanderer, umherschweifen) „Terra“ und seinen Trabanten „Luna“, erkennen wir sofort, was gemeint ist.
Luna kann nur leuchten, man kann auch sagen „glänzen“, in Er-SCHEIN-ung treten, sich bemerkbar machen, wenn er (der Mond) sich im Lichte der Sonne befindet und sich in ihm/in ihr wider-spiegeln kann. Ansonsten ist er schwarz – und obwohl präsent – doch unsichtbar, oder „Weiß wie eine Wolke“ und kaum wahrnehmbar – am Himmel zu sehen. Solche Zeitgenossen in unserer Gesellschaft gibt es viele. Und wenn wir ehrlich sind, steckt ein solches „Glänzen im Spiegel anderer“ in jedem von uns – mehr oder weniger. Und dass der Mond nicht in den Weiten des Universums verschwindet, hat er auch jemand anderem zu verdanken und keinesfalls sich selbst.
Doch dem „blauen Planeten“ geht es da nicht viel besser. Ohne die Sonne (Helios war der Sonnengott der alten Griechen; bei den alten Ägyptern war es „Ra“), ohne ihr Licht und ihre Wärme, ohne den notwendigen Abstand von ihr, wäre sie „tot“ wie der Mond und der Mars. Einzig die Sonne ist es (zumindest in unserem System), die unabhängig von anderen ist. Sie hat Licht und Wärme von Innen und aus sich selbst. Sie ist Quelle des Lebens nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für andere.
Zwar ist der homo sapiens auch ein „Wanderer, jemand der umherschweift“, – wenn auch nicht mehr physisch und in dem Maße wie einst die Jäger und Sammler, so doch immer noch psychisch -, aber jeder von ihm ist aus Fleisch und Blut und hat Leben IN sich. Das heißt: Jeder von uns kann oder zumindest könnte eine Sonne sein. Ein Mensch, (hebr. = adam; dam = Blut; adama = Ackerboden) hat nicht nur Energie für sich selbst, sondern auch für seinen Nächsten, seinen Mitmenschen, für solche, die aufgrund ihrer Vita nur noch ein „glimmender Docht“ sind. Jedenfalls potentiell. Es kommt nur darauf an, ob er/sie bereit ist, diese Energie auch abzugeben, oder ob er/sie äußerlich kalt bleibt und und die Kraft für sich behält mit der Folge, dass sie ihn letztlich innerlich verbrennen wird.
Doch selbst der/die, der/die ein so erlöschendes Licht ist, oder schon kalt wie der Mond sollte wissen, dass er dennoch Einfluss auf die, die in „voller Blüte stehen“ hat und haben kann. Ohne Luna keine „Ebbe und Flut“. Ohne Luna keine Stabilität der „Erde“ in ihrer Umlaufbahn um die Sonne. Und ohne Luna keine „Träume – in denen die Zeit scheint stehen zu bleiben – mit offenen Augen. Das sollten weder diese vielen „Monde“ unter uns und vor allem die (noch) gesunden und vitalen „Erden“ unserer Gesellschaft nicht vergessen.
Und da gibt es dann auch noch die so genannten „schwarzen Löcher“ inmitten unserer Gesellschaft. Alles muss sich um sie drehen. Was ihnen zu nahe kommt, verschlingen sie auf „nimmer wiedersehen.“ Sie besitzen mehr Energie, als alle anderen zusammen. Sie sind losgelöst von Zeit und Raum. Sie existieren tatsächlich in einer völlig anderen Dimension. Ihre Macht und ihr Reichtum sind dermaßen stark, dermaßen „energetisch energiegeladen aufgeladen“, dass sie nicht mehr in der Lage sind, davon auch nur ein Partikel abzugeben. Sie halten sich für „das Licht der Welt“ – und doch ist es in ihnen „stockdunkel“.
Nicht zu vergessen – die Kometen. Jene, die unser System verlassen und in den Weiten verschwinden, und doch irgendwann für eine gewisse Zeit wieder in unser Sichtfeld zurückkehren, um dann nach kurzer Zeit für weitere hundert Jahre oder mehr in die „Unendlichkeit“ zurückzukehren. Als der Halleysche Komet (einer der hellsten Kometen) im Jahre 1911 am europäischen Nachthimmel erschien, sahen die damaligen Zeitgenossen in ihm eine Art „Menetekel“ – ein Warnzeichen bezüglich eines zukünftigen großen Weltgeschehens. Drei Jahre später brach tatsächlich der 1. Weltkrieg aus, in dessen Kontext auch der Weltkrieg II. gesehen werden muss. 75 Jahre nach 1911 – im Jahre 1986 – erschien „Halley“ wieder am europäischen Nachthimmel. Doch der westliche Mensch war inzwischen weit aufgeklärter als zu Kaisers Zeiten. Ich war damals 34 Jahre alt, und kann mich nicht daran erinnern, dass dieser Komet damals als ein „Menetekel“ für die Welt verstanden wurde. Doch just drei Jahre später fiel die für die Ewigkeit gebaute Mauer, die Deutschland und Berlin getrennt hatte. Wenn das kein Weltereignis war ..!
Ob das Zufälle waren und sind, lasse ich mal dahingestellt sein. Aber „Kometen“ in der Menschheitsgeschichte, ob in unseren Breitengraden, oder in Asien, Vorderasien, Afrika, Amerika …, gab es immer wieder und wird es auch weiterhin geben. Aber sie tauchen eben sehr selten auf und sind auch selten. Ich denke dabei an die bekannten „Kometen“, wie Siddhartha Gautama, den Buddha, der 500 Jahre vor Jesus von Nazareth lebte; ich denke dabei an diesen Jeshua (Jesus) selbst, über dessen Geburtsstall ein „Komet“ erschien, ich denke an Franz von Assisi, an Ibn Sina, an Mahatma Gandhi, an Martin Luther King, an Nelson Mandela, an Mutter Theresa. Aber auch an jene, nicht so bekannten und sogar unbekannten „Kometen“ der Zeitgeschichte und in unserer eigenen Vita. Ob Christ, Muslim, Buddhist oder Atheist – jeder kann es sein. Leider gibt es von ihnen aber viel zu wenig. So wenig, dass wir sie fast an zwei Händen abzählen können. Menschen, deren Vorbild bis in die Gegenwart leuchtet. Das aber muss nicht so bleiben …
Man/frau muss sich nur entzünden lassen, begeistern lassen und den MUT haben, es nicht nur bei „ich sollte“ oder „ich müsste“ oder „ich könnte“ belassen, sondern es TUN! Wer aber zufrieden ist mit seinem Trabantentum oder seiner Abhängigkeit von anderen, kann da lange auf „Inspiration von Oben“ warten . . .
Oben — Postkarte von Mailick, „Fröhliche Pfingsten!“
Verfasser
Alfred Moritz Mailick (1869–1946) / Quelle : Postkarte / Datum : Vor dem 17. Mai 1902
Dieses Werk ist in seinem Ursprungsland und anderen Ländern und Gebieten, in denen die Urheberrechtsfrist das Leben des Autors plus 70 Jahre oder weniger ist, gemeinfrei.
Unten — Das Bild des Weltraums, der in ein Schwarzes Loch fällt, hat eine solide mathematische Grundlage, die erstmals 1921 vom Nobelpreisträger Alvar Gullstrand und unabhängig von dem französischen Mathematiker und Politiker Paul Painlevé entdeckt wurde, der 1917 und dann wieder 1925 Premierminister von Frankreich war. Physikalisch beschreibt die Gullstrand-Painlevé-Metrik den Raum, der mit der Newtonschen Fluchtgeschwindigkeit in das Schwarzschild-Schwarze Loch fällt. Außerhalb des Horizonts ist die einfallende Geschwindigkeit geringer als die Lichtgeschwindigkeit. Am Horizont entspricht die einfallende Geschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit. Und innerhalb des Horizonts übersteigt die einfallende Geschwindigkeit die Lichtgeschwindigkeit. Obwohl sich nichts schneller als die Lichtgeschwindigkeit durch den Weltraum bewegen kann, kann der Raum selbst mit jeder Geschwindigkeit einfallen.
Das 9-Euro-Ticket ist ein schönes Experiment. Aber revolutionieren wird den Verkehr nur das Lastenrad.
Wie sehr kann man sein eigenes Klischee sein? Dieser Herausforderung möchte ich mich in diesem Jahr stellen. Erst habe ich meinen VW-Bus ohne Umweltplakette verkauft, dann habe ich ihn vergangene Woche durch – Achtung, Triggerwarnung! – ein Lastenrad mit Elektromotor ersetzt. Damit fahre ich nun meine Kinder durch Berlin. Und wenn Sie sagen, Papa, mach’ mal Turbo, dann mach’ ich Turbo.
Merken Sie schon, wie sich Ihr Puls beschleunigt? Dann sind Sie nicht allein: Irgendwann ist es Mode geworden, sich über Lastenräder aufzuregen. Zuletzt klang das in der Berliner Zeitung so: Guck mal, der Papa mit den zwei Kindern da, der grinst so arrogant! Wie viel Platz der wegnimmt! Der ist doch voll Prenzlauer Berg! Und im Netz alle so: Haha, genau.
Das Lastenrad hat im Debattenkarussell den Platz eingenommen, den vergangenes Jahr das vermeintlich drohende Verbot des Einfamilienhauses und der Currywurst in der VW-Kantine hatten. Nur dass es diesmal nicht um Ernährung oder Wohnen geht, sondern darum, wie wir uns in der postfossilen Welt bewegen.
Solche Kulturkämpfe sind praktisch: Alle können einmal Dampf ablassen. Ist ja auch nötig, wird ja immer wärmer da draußen. Doch leider werden dabei die materiellen Fragen vermieden. Das Niveau der Lastenrad-Witze ist ungefähr so hoch wie vor zehn Jahren, als Fleischesser noch Witze über Vegetarier machten („Die essen meinem Essen das Essen weg“). Auch denen wurde vorgeworfen, missionarisch zu sein, weil man sonst keine Argumente hatte.
Besser als E-Autos
Es stimmt, beim Fahren auf dem Lastenrad muss man grinsen. Aber das ist nicht überheblich gemeint! Es ist nur der Fahrtwind, der die Mundwinkel verzieht. Und, zugegeben, das Gefühl, Teil der Avantgarde zu sein. Denn ich wage die These, dass das Lastenrad den Verkehr revolutionieren wird. 9-Euro-Ticket, schön und gut, aber eine individualisierte Gesellschaft braucht individuelle Verkehrsmittel.
48 Prozent, also fast die Hälfte der Arbeitnehmer pendelt zur Arbeit weniger als zehn Kilometer. Undenkbar, dass all diese Menschen auf ein Fahrrad ohne Motor, Bus und Bahn umsteigen. Und was das kosten würde! An neuen Schienen, Fahrzeugen, Busfahrern. Auf so einer Strecke ist das Lastenrad schneller als das Auto und der Bus: am Stau vorbei, als Abkürzung durch den Park und kein Stress beim Parken.
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Ein Streifzug durch Technologieparks in Deutschland offenbart: Wie die Wolken am Himmel befinden sich die urbanen Infrastrukturen der sogenannten „Cloud“ in ständiger Transformation. Anders jedoch als die Wolken am Himmel hinterlassen sie jedoch eine immobile Materialität: versiegelte Flächen und Beton, sowie ein undurchschaubares Geflecht an privaten Besitzverhältnissen, wie der Autor und Aktivist Christoph Marischka in seinem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” zu denken gibt.
Die Wolken am Himmel wirken auf uns schwerelos, fluide oder gar immateriell, wobei wir wissen, dass dies nicht wahr ist: Sie bestehen aus riesigen Mengen Wasser und bergen Differenziale in teilweise katastrophischem Ausmaß. Davon unbenommen gilt auch die digitale „Cloud“ irgendwie als immateriell oder zumindest lightweight und energiesparend. Diese Assoziation erscheint als Voraussetzung, dass Digitalisierung und Informationalisierung kontrafaktisch, aber teilweise erfolgreich, als nachhaltig beworben werden. Ein Unfall des Wissens, von dem ein Set von Akteur*innen – auch mit rein finanziellen Interessen – profitiert.
Die hier beschriebenen und verallgemeinerten Beobachtungen gehen auf umherschweifende Besichtigungen zurück – insbesondere von Rechenzentren und Technologieparks in Westdeutschland, darunter Stuttgart, Frankfurt/Offenbach, Bochum, Paderborn und Hannover Ende 2021/Anfang 2022 sowie den unmittelbaren Auseinandersetzungen um das „Cyber Valley“ in und v.a. um Tübingen in den drei vorangegangenen Jahren.
Das materielle Zentrum
Wir wissen eigentlich, dass die „Cloud“ aus Rohstoffen gebaut ist und diese fortwährend verbraucht. Sie gilt als „kritische Infrastruktur“ und wird mit öffentlichen Mitteln gesichert, während sie private Gewinne produziert. Ihre materielle Realisierung geht einher mit massiven Verschiebungen des Eigentums und einer dieselbewölkten Logistik von Erde und Zement.
So wird Zement offensichtlich gebraucht, um die Rechen- und Datenzentren selbst zu bauen – die zunehmend als Orte der städtischen wie ländlichen Gentrification und Verdrängung in Erscheinung treten. Sie benötigen Flächen und zumindest eine gewisse Nähe zu logistischen, administrativen und/oder finanziellen Knotenpunkten, sogenannten Hubs. Sie basieren auf einer kontinuierlichen Stromversorgung, die nicht nur unternehmerisch, sondern zunehmend für die öffentlichen Infrastrukturen kritisch ist. Die Rechen- und Datenzentren speisen sich gerne aus lokalen, regenerativen Energiequellen und fördern diese, erfordern aber auch eine nationale Absicherung der Stromversorgung mit Gas oder Atomkraftwerken sowie eine Versorgung der Notstromaggregate mit Diesel.
Wo auch immer diese Rechen- und Datenzentren gebaut werden, wird der Asphalt von verschiedenen Richtungen aufgerissen, werden Kabel verlegt und wieder begraben. Und andersherum: Wo auch immer neue Autobahnen oder Zugverbindungen gebaut werden, werden auch Breitbandverbindungen verlegt. Neue Knotenpunkte entstehen jenseits der alten Städte. Diese Städte expandieren und investieren. Sie investieren in neue Kraftwerke, Straßen, Fahrradwege und Jogging-Strecken, welche den Raum zwischen landwirtschaftlich genutzten Flächen, Technologieparks und gleichzeitig entstandenen Wohngebieten erschließen und restrukturieren.
Das unmittelbare Vorfeld
Was die Wolken im Himmel tatsächlich mit ihren imaginierten Entsprechungen am Boden gemein haben ist deren Fluidität – die schiere Unmöglichkeit, ihre sich beständig ändernden Grenzen zu definieren.
Während uns die Rechen- und Datenzentren zunächst als räumlich klar von der Umwelt abgegrenzte und eingezäunte Territorien mit wenig, diskretem Personal und somit als praktisch autark erscheinen, erfordern sie doch anhalte Wartung, Schutz und Versorgung mit Betriebsstoffen. Obgleich davon vieles automatisiert ist, braucht es Menschen, die den Zugang, den Wareneingang und die Müllentsorgung kontrollieren; Dienstleister, die Rasen mähen, Insekten bekämpfen, die Flure sauber halten, Nahrung und Betriebsstoffe liefern und mehr oder wenig kontinuierlich Hardware austauschen.
Die Unternehmen, welche für den Unterhalt und die Verwaltung der Rechen- und Datenzentren zuständig sind, befinden sich meist in deren – mehr oder weniger unmittelbaren – Nähe. Manchmal bilden sie auch räumlich das unmittelbare Vorfeld der Rechenzentren in sehr einfachen Bürogebäuden diesseits des Stacheldrahtes und der gut gesicherten Zugänge zum Rechenzentrum selbst.
Diese Vorhöfe der Rechenzentren bestehen aus einem typischen Mix an Unternehmen, zumindest was ihre Präsenz auf Schildern an der Einfahrt und den Parkplätzen angeht. Ein oder zwei von ihnen wurden konkret als Betreiber des jeweiligen Rechenzentrums gegründet, drei bis fünf international tätige Unternehmen wie Bosch, Siemens, Atos und Spie sind für einzelne, aber für Außenstehende schwer abzugrenzende Aspekte des Betriebs zuständig und eine vergleichbare Anzahl namenloser lokaler Unternehmen für die Sicherheit, das Personalwesen oder was auch immer. Manchmal gibt es dann auch noch Schilder oder zumindest einzelne Parkplätze, welche die Präsenz eines der bekannten Weltunternehmen wie Microsoft oder google proklamieren, die auch in der Verwaltung von Daten und Datenzentren aktiv sind. Die Geschäftsbeziehungen und Besitzverhältnisse zwischen diesen Konzernen, welche die „Cloud“ letztlich konstituieren, sind wie die inneren Strukturen der Wolken am Himmel allenfalls zu erahnen – und in ständiger Transformation begriffen.
In anderen Fällen bilden diese Vorhöfe den Kern eines nahe gelegenen Technologie-Parks, der meist erst kurz zuvor am Rande der alten Städte auf der grünen Wiese errichtet wurde und Anlass war zum Ausbau bestehender Verkehrs-Infrastrukturen aus öffentlichen Mitteln. Auch hier finden sich meist ein kleineres Kraftwerk und neue Wind- oder Solarfelder in der Umgebung. Wie schon bei älteren Gewerbegebieten, ging auch deren Errichtung mit der Privatisierung und Umverteilung von Land, der Zerstörung von Ökosystemen und Baumaßnahmen einher. Wie auch die älteren Gewerbegebiete ist ihr Bau eine treibende Kraft bei der Ausdehnung des Urbanen, der Versiegelung von Flächen und der Transformation der vorherrschenden oder auch nur möglichen Formen der Einkommensgenerierung.
Die unterstellte Präferenz der vermeintlich jungen und gut bezahlten Arbeitskräfte im Tech-Sektor für lokal und biologisch angebaute Produkte steht jedenfalls zumindest in einem Spannungsverhältnis zum Raum und den Chancen, die ihre modernen Fabriken dem Anbau von Lebensmitteln lassen. Vielleicht sind aber auch diese Vorlieben ein Mythos, denn um die Mittagszeit werden die Technologieparks durch Schwärme von Fahrzeugen geflutet, welche Fast-Food aller Art in die Büros liefern. Bäckereien und Restaurants gibt es dort nämlich nur selten und wenige, von Bioläden ganz zu schweigen. Obwohl meist gut an den öffentlichen Nahverkehr angebunden, scheinen zu jedem Technologiepark auch größere Parkhäuser zu gehören.
Wolkenstädte
Vor Ort erwecken diese Orte oft einen ganz anderen Eindruck als ihre Internetauftritte in der Cloud, wo sie modern, dynamisch, prosperierend und bevölkert dargestellt werden. Sozusagen in der ersten Reihe, nahe den Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs, finden sich tatsächlich oft einigermaßen repräsentative Gebäude, auf denen Fahnen neben dem Haupteingängen, die Logos von bekannten Firmen tragen – die gar nicht wirklich präsent sind. Die Cafeterien im Eingangsbereich sind meist verwaist, und stattdessen neben der ungenutzten Theke einfache Snack-Automaten aufgestellt. Selbst der Empfang ist oft schon verlassen oder mit schlecht bezahltem und billig uniformiertem Personal irgendeiner Sicherheitsfirma besetzt.
Oft stehen in diesen Gebäuden ganze Etagen leer oder werden von überregional tätigen Dienstleistern ausgestattet und tage- bis monateweise untervermietet. Die dauerhaftesten Mieter dieser Gebäude sind oft jene öffentlich geförderten Unternehmen, welche für das Management und die Promotion des jeweiligen Standorts selbst zuständig sind oder im Auftrag irgendwelcher lokalen Netzwerke aus öffentlicher Gewerbeförderung und Gewerbeverbänden die vor Ort zugleich präsente und absente (fluide?) Startup-Szene unterstützen sollen.
Nochmal anders sieht es in der zweiten und der dritten Reihe dieser High-Tech-Gewerbegebiete aus, wo die minderwertige Bausubstanz der schnell errichteten Gebäude sofort auffällt, obwohl sie meist noch recht neu sind. Die Briefkästen offenbaren eine große Zahl von Firmen, deren Präsenz eher übergangsweisen Charakter hat. Oft gibt es Briefkästen von Anwalts-Kanzleien oder Steuerberatungen, auf denen gleich ein Dutzend Unternehmen durch teilweise von Hand beschriftete Aufkleber genannt sind.
Das Vermächtnis der „Cloud“
Angesichts der Ausmaße dieser Technologie-“Parks“ und der „Ökosysteme“, die sie hervorbringen sollen, kann es trotzdem sein, dass dort jeweils tausende Menschen in hunderten verschiedenen Firmen arbeiten, von denen vielleicht etwa die Hälfte tatsächlich so viel mit IT zu tun haben, wie das Standort-Marketing behauptet. Diese Unternehmen entwickeln die Dienstleistungen und Technologien zur Verarbeitung von Daten, wie sie die Cloud einerseits möglich macht und andererseits erfordert. Ein großer Teil basiert auf den Erwartungen zukünftiger Profite durch die weitere Digitalisierung und „smarte“ Städte.
Von den meisten wird man niemals etwas hören und viele von ihnen werden in dem explizit „disruptiven“ Umfeld auch nicht lange existieren. Manche werden von größeren Playern eingekauft werden – was dann weniger das Personal oder den Standort, als die Patente einschließt. Einzelne werden vielleicht – zwischendurch – Erfolg haben und wachsen. Sie können dann die leer stehenden Flure und Büros in den Nachbargebäuden mieten. Aber wachsende Unternehmen wollen kaufen und bauen, und sie werden dabei von der Politik unterstützt, die ihre „Leuchttürme“ und “Champions“ in der Stadt bzw. Region behalten will.
Dies erklärt zumindest in Teilen die Tendenz dieser „Ökosysteme“, sich räumlich auszudehnen, während in anderen Ecken der Zerfall längst eingesetzt hat. Wie die Wolken am Himmel befinden sie sich in ständiger Transformation; ihre Auflösung ist absehbar. Anders als die Wolken am Himmel werden sie eine immobile Materialität hinterlassen, versiegelte Flächen und Beton, sowie ein undurchschaubares Geflecht an privaten Besitzverhältnissen. Wie die Parkhäuser im Herzen dieser Ökosysteme, so sind sie selbst nur zu verstehen durch eine politisch forcierte Umverteilung und Inwertsetzung von Fläche – und die billige Verfügbarkeit von Zement. Und wenn die nächste Disruption ein Netzwerk ohne Knoten, Sondermüll der Urbanisierung hinterlässt, wird sie womöglich trotzdem eine Erfolgsgeschichte sein: Move fast and break things – Let‘s go to Mars.
Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englische Version ist auf Mediapart verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de
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Datei:15. Oktober… bereit für Madagaskar. – Flickr – belgische Schokolade.jpg
Erstellt: 15. Oktober 2005
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2.) Unten — Große Flächenversiegelung in der Stadt (Industrie- und Gewerbegebiet Hamburg-Billbrook)
Pincerno – Von Pincerno am 26. Juni 2008 in die deutschsprachige Wikipedia geladen.
Hamburger Stadtteil Billbrook: Ein riesiges, zusammenhängendes Industrie- und Gewerbegebiet, das eine Ausdehnung von etwa drei mal drei Kilometern aufweist. Das Foto zeigt die Nord-Süd-Ausdehnung von der B5 im Norden (Vordergrund) bis zum Heizkraftwerk Tiefstack im Süden (größeres Gebäude am Horizont zwischen den Schornsteinen). Aufnahmeort ist das 9. Obergeschoss des Panorama Inn-Komplexes an der Billstedter Hauptstraße/Moorfleeter Straße.