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Scheitern der Nichtigkeiten

Erstellt von Redaktion am 12. Juli 2023

Revolten in Frankreich und ihre Ursachen

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von :      pm

Der Scheiterhaufen der Nichtigkeiten. Wieder einmal wird ein Jugendlicher von einem französischen Polizisten bei einer Kontrolle erschossen.

Wie ein Brandsatz löst der Tod eine Welle des Vandalismus bis in die kleinsten Städte aus, die sich nicht nur gegen die Konsumtempel richtet, sondern auch gegen die politischen Instanzen. Diese Aufstände kehren seit Jahrzehnten immer wieder und haben dieselben Ursachen, ohne dass sich die Politik ändert. Einer der besten Kenner der Verhältnisse ist Alèssi Dell’Umbria, dessen Buch „Wut und Revolte“ 2017 herausgebracht wurde.Es hat nichts von seiner Aktualität eingebüsst hat, weil auch 2005 schon die Polizei für den Tod arabisch-stämmiger Jugendlicher verantwortlich war, die in dritter oder vierter Generation Franzosen sind, aber in Gettos leben und diskriminiert werden. Alèssi nennt es eine Apartheitspolitik im Städtebau, die seit dem 19. Jahrhundert praktiziert wird. Eine wichtige Ursache ist die Kolonialherrschaft, die bis heute nicht beendet ist.

Alèssi Dell‘Umbria : Wut und Revolte

In Frankreichs jüngerer Geschichte war 2005 ein entscheidendes Jahr. Der Innen-minister Sarkozy wollte Präsident werden, indem er das Politikfeld des rassistischen Front National neu besetzte.

Die Vorstädte rebellierten, als wieder einmal „arabische“ Jugendliche von der Polizei in den Tod getrieben wurden. Die Wut über die gesellschaftliche Verachtung brach sich Bahn. Die Folge waren brennende Vorstädte. Anschliessend streikten Schüler und Studenten, weil ein neues Gesetz die schlechten Perspektiven der Jugend verschlimmern sollte.

Der Autor beschreibt, wie die Bewohner der Vorstädte in ein System der Segregation getrieben wurden und sich feindlich gegen diese Welt wendeten, die sie als Feinde behandelt. Dell‘Umbria zeichnet nach, wie sich schon seit dem 19. Jahrhundert die Politik durchsetzte, bestimmte Bevölkerungsschichten in eine Art Gettos weg zu sperren, so dass man von „Apartheitspolitik“ sprechen kann. Drogen einerseits und Fundamentalismus andererseits sind die Konsequenzen. Dell’Umbria’s Text liefert einen Schlüssel zur Erklärung islamistischer Attentate.

Alèssi Dell’Umbria ist in Marseille aufgewachsen, wo er bis heute lebt und politisch aktiv ist. Sein Interesse gilt der Stadtgeschichte von unten, insbesondere den Ausgeschlossenen.

2006 erschien von ihm im Marseiller Verlag Agone „Histoire universelle de Marseille, de l’an mille à l’an deux mille“ [Die universelle Geschichte Marseilles vom Jahr Tausend zum Jahr Zweitausend].

Als 2005 die Aufstände in den Vorstädten den französischen Präsidenten Sarkozy veranlassten, zur Säuberung mit dem ‚Kärscher‘ von der „Racaille“ [das Ausgekotzte, der Abschaum] aufzufordern, schrieb Dell’Umbria das Buch: „C’est de la racaille? Eh bien, j’en suis!“ [Das ist Abschaum? Na, dann gehöre ich dazu!]

Der Essay wurde sofort ins Italienische, Spanische und Griechische übersetzt. Aktualisiert und mit neuem Titel wurde er als „La Rage et la Révolte“ [Wut und Revolte] 2010 im Verlag Agone veröffentlicht.

Dell’Umbria hat sich auch für die Revolte der indigenen Bevölkerung von Oaxaca in Mexiko 2006 interessiert und darüber geschrieben. 2014 drehte er einen Dokumentarfilm über den „Wind der Revolte“ in Tehuantepec (im Staat Oaxaca), wo die indigene Kultur durch industrielle Windparks zerstört wurde.

Übersetzung aus dem Französischen von Elmar Schmeda.

Der Scheiterhaufen der Nichtigkeiten

„Ce soir, on vous met le feu !“ Das hätte der Hit des Herbstes 2005 sein können. Drei Wochen lang haben hunderte Jugendliche, in verschiedenen Banlieues Frankreichs, das leere Versprechen dieses Fussballfanliedchens in Praxis umgesetzt.

Die Beobachter sind sich allgemein darüber einig, dass etwa zehntausend Jugendliche, fünfzehntausend Maximum, irgendwie an diesen Zwischenfällen beteiligt waren, und vorwiegend in kleinen Gruppen von zehn bis fünfzehn Individuen gehandelt haben : Die Revolte erscheint als eine Erweiterung einer Lebensweise, die der Bande, des Stammes, des Posses.

Das erklärt auch dass, abgesehen von den drei Krawallnächten in Clichy-sous-Bois (Seine-Saint-Denis), die direkten Auseinandersetzungen mit der Polizei vereinzelt geblieben sind. Jedoch zwei Ausnahmen: in Evreux (Eure) hat, am Abend des Samstags dem 5. November 2005, eine Gruppe von zweihundert mit Hackenstielen, Boulekugeln und Molotow-Cocktails ausgerüsteten Jugendlichen, es geschafft ein Einkaufszentrum zu verwüsten und ist der Polizei direkt gegenübergetreten.

2020

Aber sind es nicht letztendlich die Bürger-innen welche sich ihren Arroganten Schrott der Politik wählen ?

Am Abend darauf, in der Hochhaussiedlung der Grande Borne in Grigny (Essonne), hat ein Angriff von zwei bis dreihundert Jugendlichen ungefähr dreissig verletzte CRS hinter sich gelassen. Diese Beispiele tendieren dazu zu beweisen dass, selbst auf dem ungünstigen Gelände der Banlieue, mit seinen freien Flächen, die für die Polizeiintervention geschaffen sind, Krawallmacher die Polizeikräfte erfolgreich angreifen können. Im Übrigen war es ein eher heisses Wochenende, da, in der Nacht vom 6. auf den 7. November, mit 1400 in ein paar Stunden in ganz Frankreich verbrannten Autos der Höhepunkt der Brände erreicht wurde : Die Revolte fand ihren Ausdruck viel mehr durch das Feuer, als durch die Auseinandersetzung mit einer Polizei, die in der Ausrüstung überlegen ist.

„Ziele waren vor allem die Symbole des Staates; die Post, die Postautos wurden verbrannt… Dann gab es die Auseinandersetzungen mit den Bullen… Ich weiss, dass die Leute bei jedem geworfenem Stein sagten, na ja : Das ist für Bouna und Zyed! Um nicht zu sterben“, erzählt ein Jugendlicher aus Clichy-sous-Bois, der klarstellt : „In Clichy waren es nicht die Moslems gegen etwas Anderes, es waren eher die Jugendlichen der Banlieue, die keinen Bock mehr hatten, keinen Bock mehr auf ihr Leben, die gegen die Regierung waren. Es waren nicht nur Moslems.“

Ein von einer Pariser Tageszeitung befragter Islamspezialist erklärte, dass es sich nicht um eine fundamentalistische Revolte handelte (man hätte es sich denken können… ), sondern um eine anarchistische. Er kam der Wahrheit ein wenig näher, aber ohne dabei einen entscheidenden Unterschied zu berücksichtigen : Die Anarchisten haben Propaganda durch die Tat betrieben und der Antagonismus mit dem Staat war durch eine Langzeitstrategie gekennzeichnet. Wohingegen der Antagonismus mit dem Staat in der Revolte des Herbstes 2005 unmittelbar war. Aber eine weitere wichtige Erläuterung ist nötig : Diese Revolte war nicht nur antagonistisch, sie war ebenfalls agonistisch. Die Brände bekamen in der Tat sehr schnell den Charakter einer gegenseitigen Herausforderung, eines Wettkampfes oder, wenn man so will, eines Wetteiferns zwischen den Jugendlichen verschiedener armer Vorstädte.

„Wir finden es cool im Fernsehen alles brennen zu sehen. Ich gehe fast nie aus meinem Viertel raus, ausser um ins Bled in Algerien zu fahren – aber wir kommunizieren mit den Typen aus Seine-Saint-Denis über den Bildschirm, alle Sender zeigen Bilder, sogar die arabischen Fernsehsender über Satellit.“ Wenn man dem den Gebrauch von SMS und E-Mails zufügt, hat man da eine komplette Verfremdung der Technologien, die missbräuchlicherweise als Kommunikationstechnologien bezeichnet werden. „Wir fordern uns auf Distanz heraus.“ Die Herausforderung, alle sogenannten primitiven Gesellschaften kennen das, ist der Akt, der die Kommunikation begründet: Hier läuft die Herausforderung über die Vermittlung der Tagesschau… „Es gibt keine Konkurrenz zwischen den Siedlungen, das ist reine Solidarität“, erklärten Jugendliche aus der Siedlung 112 von Aubervilliers.

Über den Protest gegen die polizeilichen Ausschreitungen hinaus, wollten die Brandstifter, die gewöhnlich durch den Banlieue-Urbanismus voneinander getrennt sind, sich untereinander wieder erkennen. Und somit gewinnen sie eine skandalöse Berühmtheit. Täglich von der Hogra geprägt, können sie von der Gesellschaft Anerkennung nur in Form des Skandals erwarten. Schon Marx bemerkte zu seiner Zeit, das es in Frankreich genügt Nichts zu sein um Alles sein zu wollen! Wenn die Jugendlichen nicht mehr als ihre Epoche sein können, so können sie doch ihrer Epoche gewachsen sein. Die Gesellschaft des Spektakels hat die Berühmtheit als einzige Kommunikationsform, als einzige öffentliche Form der Anerkennung durchgesetzt. Die Aussage dieses jungen Brandstifters, zufolge der sie über den Bildschirm kommunizierten, zeigt das gut. Der Skandal ist die negative Form der Berühmtheit.

Alèssi Dell‘Umbria : Wut und Revolte. Edition Contra-Bass 2017. 144 Seiten. ca. 15 SFr. ISBN 978-3-943446-29-6.

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Oben        —      Marche blanche pour Nahel à Nanterre, le jeudi 29 juin 2023

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Neues aus DIE LINKE

Erstellt von Redaktion am 12. Juli 2023

Bundessanierungsprogramm für Schwimmbäder

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Quelle       :        Scharf  —  Links

Von DIE LINKE  –  Janine Wissler mit ihrem Konzept

Sanierungsbedürftige Schwimmbäder und massiver Personalmangel. Die Partei DIE LINKE schlägt ein Bundessanierungsprogramm vor.

Seit dem Jahr 2000 ist bundesweit jedes zehnte Schwimmbad geschlossen worden, das sind durchschnittlich mindestens 40 Bäder pro Jahr. Derzeit gibt es etwa 6.500 öffentlich zugängliche Bäder – Hallen, Frei-, Natur- und Schulbäder. Jedes zweite Schwimmbad muss saniert, genauer gesagt modernisiert werden. Im Mittelpunkt stehen dabei die energetische Sanierung und die Schaffung von Barrierefreiheit. Der Sanierungsstau betrug laut einer Studie der Universität Wuppertal im Jahr 2016 bereits 4,5 Milliarden Euro und ist in den vergangenen Jahren weiter angewachsen, auch weil die von Bund und Ländern aufgelegten Programme viel zu gering waren bzw. sind.

Ein Problem: Die Kommunen sind dramatisch unterfinanziert, viele zum Sparen gezwungen. Weil Bäder freiwillige Leistungen der Kommunen sind, gehören sie oft zu den ersten Angeboten, die weggekürzt werden. Besonders betroffen sind also Gemeinden, die wenig Geld haben. 2017 hat der Bundesfinanzhof die Quersubventionierung der Schwimmbäder aus Gewinnen anderer kommunaler Betriebe als unvereinbar mit dem EU-Wettbewerbsrecht gerügt. Das EUGH hat bisher nicht dazu entschieden.

Das Bädersterben ist fatal. Deutschland entwickelt sich zu einem Land der Nichtschwimmer*innen. Immer weniger Kinder lernen schwimmen. Laut der DLRG sind derzeit sechs von 10 Kindern (58 Prozent) am Ende der Grundschule keine sicheren Schwimmer. Fast 300 Menschen ertranken 2021 in Deutschland, darunter 47 Kinder und Jugendliche. Ertrinken gehört inzwischen zu den häufigsten Unfalltodesursachen für Kinder.

Im Sommer fällt besonders auf, dass die Bäder fehlen. Vor allem Familien, die sich keinen Urlaub oder teure Ausflüge leisten können, sind in den Sommerferien auf Angebote in der Nähe angewiesen. Doch Schwimmbäder sind nicht nur wichtige Sport – und Freizeitangebote, Ausbildungsstätten für Rettungsschwimmer*innen sowie des Rehabilitations- und Gesundheitssports, sondern einer der wenigen Orte der Gemeinde, an denen noch alle zusammenkommen. Sie zu erhalten, ist deshalb ein Beitrag zu einer solidarischen Gesellschaft. Das kostet Geld – Schwimmbäder sind ein Zuschussgeschäft. DIE LINKE findet: Sie sind Teil der Daseinsvorsorge und dürfen nicht weggekürzt werden. Das Bädersterben muss gestoppt werden, wir wollen eine Trendwende: ausreichende Finanzierung für die Bäder und kostenlosen Eintritt für alle Kindern. Schwimmbäder und die Möglichkeit schwimmen zu lernen sollte als kommunale Pflichtaufgabe definiert werden. Bund und Länder müssen hier angemessen unterstützen.

Ein weiteres Problem ist der Personalmangel. Laut DLRG fehlen mindestens 2.500 Schwimmmeister*innen. Es fehlen Schwimmlehrer*innen, Rettungsschwimmer*innen, Übungsleiter*innen in den Vereinen und weiteres Personal in den Schwimmbädern. Es wird zu wenig ausgebildet, unattraktive Arbeitszeiten und schlechte Bezahlung verschärfen das Problem. Auch das führt zum Ausfall von Schwimmunterricht sowie eingeschränkten Öffnungszeiten von Schwimmbädern und zu geringen Angeboten zum Training in Schwimmvereinen.

Rede zum Parteivorsitz, Parteitag der Partei DIE LINKE, February 2021

Die Partei DIE LINKE fordert ein Bundessanierungsprogramm „SOS-Seepferdchen“

  1. Wir brauchen ein Bundessanierungsprogramm für eine in allen Regionen des Landes bedarfsgerechte Ausstattung mit modernen, ökologischen und barrierefreien Schwimmbädern. Mit einem „Goldenen PlanSportstätten“ sollte der Sanierungsstau durch Modernisierungen und Neubau in den folgenden 15 Jahren gemeinsam durch Bund, Ländern und Kommunen abgebaut werden. Der Bund sollte sich daran mit mindestens einer Milliarde Euro pro Jahr (darunter mindestens 500 Millionen für Schwimmbäder) beteiligen.
  2. Ein Bonusprogramm für Kommunen, die Schwimmbäder zur Verfügung stellen – Kommunale Schwimmbäder sind als Teil der kommunalen Daseinsvorsorge dringend erforderlich. Die Länder müssen im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs einen dauerhaften und berechenbaren Bäderbonus einführen und dies aus Landesmitteln finanzieren. Der Bonus soll jährlich den Schwimmbad betreibenden Kommunen zugutekommen, insofern diese einem Schwimmbad als tragende Gesellschaft beteiligt sind.
  3. Sofortige Umsetzung des Beschlusses der Kultusministerkonferenz zum Schwimmunterricht vom 04. Mai 2017. Allen Schülerinnen und Schüler ist die Teilnahme am Schwimmunterricht zu ermöglichen, mit dem Ziel, dass alle Kinder bis zum Ende der Primarstufe sicher schwimmen können.
  4. Kostenloser Zugang für Kinder: Wir wollen, dass alle Kinder ticketlosen Zugang zum Freibad haben – unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Weiterhin sind finanziell benachteiligte Familien weitere Unterstützung, zum Beispiel durch Bereitstellung von Badebekleidung und Übernahme von Eintritts- und Fahrtkosten sowie Mitgliedsbeiträgen in Schwimmvereinen zu gewähren.
  5. Anerkannte Sportorganisationen, Schulen und Hochschulen sollen das Recht haben, Schwimmbäder sowie andere Spiel- und Sportanlagen öffentlicher Träger für den Übungs-, Lehr- und Wettbewerbsbetrieb unentgeltlich zu nutzen.
  6. Ehrenamtliches Engagement als Übungsleiter*in oder Rettungsschwimmer*in muss dringend stärker gefördert werden, u.a. durch Anerkennung ihrer Ausbildung als Bildungsurlaub in allen 16 Bundesländern.

Für DIE LINKE ist klar: Solange Bund, Länder und Kommunen in Deutschland keinen vernünftigen Schulsport und Schwimmunterricht absichern können und die Sportsta?ttensanierung nicht endlich voranbringen, werden wir uns nicht fu?r weitere deutsche Olympiabewerbungen engagieren.

Urheberrecht
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Grafikquellen      :

Oben      —       Freibad in Grins

Unten      —           Rede zum Parteivorsitz, Parteitag der Partei DIE LINKE, February 2021

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 12. Juli 2023

Bundesjugendspiele, Thüringen und Bundestag: – Ich reg‘ mich nicht auf!

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Lukas Wallraff

Je lauter man in den Thüringer Wald hineinruft: „Ihr seid scheiße“, desto mehr wählen dort erst recht rechts. Deshalb gilt: nur immer die Ruhe bewahren.

Am Ende dieser Woche ist mir eines klar geworden: Wir müssen uns abregen. Dringend. Alles andere führt ins Verderben. Die ständigen Empörungswellen von links und rechts scheinen ja nur Rechten Erfolg zu bringen. Weltweit, auch in Deutschland, ist die Tendenz eindeutig. Grüne und SPD verlieren, die Union liegt vorn. Die AfD steht bei 20, die Linke bei 4 (!) Prozent. Und je lauter man in den Thüringer Wald hineinruft: „Ihr seid scheiße“, desto mehr wählen dort erst recht rechts. So kann, so darf das nicht weitergehen.

Stopp! So weit, so einfach. Abregen ist leider schwieriger. Eine Möglichkeit, die ich erwogen habe, ist, auf Sahra Wagenknechts Parteiaustritt zu warten, weil dann die Linke vielleicht wieder für Linke wählbar wird, ein Linksruck im Land entstehen oder wenigstens ein paar AfD-Fans zu Wagenknechts neuer Partei abwandern könnten. Aber das dauert wohl noch etwas und scheint mir bei näherer Betrachtung auch keine hinreichende Perspektive, um die Weltlage oder wenigstens mich persönlich zu beruhigen.

Also habe ich versucht, mich in dieser Woche über gar nichts aufzuregen und alles gut zu finden. Zum Beispiel die neue Kindergrundsicherung, die endlich beschlossen wurde, um wenigstens den Kleinsten in diesen harten Zeiten beizustehen: Jedes Kind bekommt ab sofort garantiert eine Urkunde bei den Bundesjugendspielen, ohne strenge Punktwertung, egal wie weit es genau gesprungen, gerannt oder gestolpert ist. Wenn das nichts ist!

Damit helfen die KultusministerInnen auch der Ampel, weil die armen Kleinen und ihre Familien jetzt sicher dankbar sind und gern auf das schnöde Geld verzichten, das die Regierung einst versprochen hatte, aber leider auch nach zwei Jahren noch nicht zusammenkratzen konnte, weil …, weil …, ja weil halt. Irgendwas Wichtigeres ist immer, und seien es Spionageschiffe. Immerhin bekommt das Prekariat als Inflationsausgleich 41 Cent mehr Mindestlohn! Wer will da noch klagen?

Einmal vorn sein

Trotzdem gab es auch in dieser Woche wieder einige Wutausbrüche. Viele JournalistInnen empörten sich, weil Eltern, die mehr als ein Jahresbrutto von 180.000 Euro verdienen, kein Elterngeld mehr bekommen! Soll keiner sagen, dass nicht über echte Not berichtet wird. Andere sahen das Vater-Jahn-Land in Gefahr, weil die Kleinen ohne knallharten Wettbewerb an der Sprunggrube ab der ersten Klasse nicht ausreichend auf die real existierende Leistungsgesellschaft vorbereitet werden.

File:Keine AFD V1.svg

Die Sportnation Deutschland schafft sich ab! Echt jetzt? Ich gebe zu, ich schwanke noch, weil das mit der Gerechtigkeit auch hier leider nicht so einfach ist. Einerseits stellten die Bundesjugendspiele unsportliche Kinder vor eine Herausforderung und mögliche Blamage, die ihnen nun zum Glück erspart bleibt – auch wenn es für manche StreberInnen die einzige Pleite im Jahr war.

Andererseits bietet gerade dieser Wettkampf bisher den bildungshintergründlich Gehandicapten und deshalb schulisch Schwächsten eine Chance, wenigstens einmal im Jahr aufzutrumpfen. Aber der Kulturkampf wird hier sicher nicht entschieden, und ich will mich ja nicht aufregen!

Quelle         :          TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Schöne Worte reichen nicht

Erstellt von Redaktion am 11. Juli 2023

Der Westen muss aufhören, die Brandstifter zu hofieren.

Wer in der Politik kein Pack hofiert – bleibt selber im dunkeln stehen !

Ein Debattenbeitrag von Manfred Dauster und Alexander Rhotert

28 Jahre nach dem Völkermord in Srebrenica schüren serbische Nationalisten alte Konflikte. Hätte es Srebrenica nicht gegeben, wären die weiteren serbischen Verbrechen wohl in Vergessenheit geraten.

Am 11. Juli jährt sich der Genozid an 8.372 Bosniaken in Srebrenica zum 28. Mal. Obwohl es dank des ehemaligen Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina, Valentin Inzko, ein Gesetz gibt, das die Leugnung des Völkermords unter Strafe stellt, wird dieser vom bosnischen Serbenführer Milorad Dodik gebetsmühlenartig bestritten. Die fehlende Durchsetzung der Strafvorschriften des bosnischen Strafgesetzbuchs gegenüber denjenigen, die laut und deshalb auch vorsätzlich diese Vorschriften verletzen, legt deutlich die Defizite des Rechtsstaats offen.

Srebrenica steht exemplarisch für die von Serben begangenen Kriegsverbrechen. Warum verbeißt sich Dodik seit Jahren in Srebrenica und leugnet diesen ersten Völkermord in Europa nach 1945? Eben weil der Genozid ein Menschheitsverbrechen ist. Hätte es Srebrenica nicht gegeben, wären die weiteren serbischen Gräueltaten wohl vergessen. Wer erinnert an die Belagerung Sarajevos – die längste Belagerung einer Hauptstadt in der Geschichte, bei der über 11.000 Bosniaken, Serben, Kroaten, Roma, Juden und Angehörige anderer Gruppen durch serbisches Artillerie- und Scharfschützenfeuer starben? Wer erinnert an die Zehntausenden zumeist bosniakischen Mädchen und Frauen, die in serbischen Vergewaltigungslagern in Foča, Višegrad und anderswo monatelang gefoltert wurden? Wer erinnert an die ausgemergelten Insassen der serbischen Konzentrationslager Trnopolje, Keraterm und Omarska, in denen Tausende Bosniaken und Kroaten ermordet wurden?

Was Dodik, aber auch den heutigen serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić bewegt, den Genozid immer wieder kleinzureden, ist die Tatsache, dass der Name Srebrenica für alle Zeiten mit der serbischen Geschichte verbunden sein wird – genau wie Auschwitz mit der deutschen Geschichte. Die Anerkennung dieser monströsen Verbrechen und der Schuld ist die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Aber daran ist der serbischen Führung nicht gelegen. Grund hierfür sind Pläne von Kumpanen des ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević, dessen großserbisches Projekt zu verwirklichen.

Vučić und sein Außenminister Ivica Dačić waren während der von Milošević angezettelten Kriege dessen Propagandisten. Vučić erklärte in einer Rede vor dem Parlament am 20. Juli 1995, dass man für jeden getöteten Serben 100 Bos­nia­ken umbringen werde. Gleichzeitig war der Genozid von Srebrenica in vollem Gange, unter Beteiligung von Spezialeinheiten des Belgrader Innenministeriums, die gefesselte Jugendliche mit Schüssen in den Rücken ermordeten.

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Trotz Vučić’und Dačić’Vergangenheit als Schergen Milošević’unterstützen die USA und weitere westliche Mächte die aktuelle serbische Regierung und betrachten sie Stabilitätsfaktor in der Region. Dabei hat erst Ende Mai das UN-Tribunal in Den Haag zwei Mitstreiter von Milošević, die ehemaligen Chefs des staatlichen serbischen Sicherheitsdienstes Jovica Stanišić und Franko Simatović, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Urteil ist ein Meilenstein der internationalen Strafjustiz und für Bosnien von großer Bedeutung, denn die beiden wurden wegen ihrer Rolle während des Angriffskriegs Serbiens gegen Bosnien für schuldig befunden.

In Deutschland wird das kaum wahrgenommen. Erst vor Kurzem stellte ein Journalist einer deutschen Tageszeitung in Frage, ob Srebrenica tatsächlich das größte Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg gewesen sei. Immerhin seien in Bleiburg im Mai 1945 mehrere Zehntausend Anhänger des faschistischen kroatischen Ustaša-Regimes von den kommunistischen Partisanen Josip Broz Titos umgebracht worden. Doch ein von der internationalen Strafjustiz anerkannter Völkermord wie der in Srebrenica ist nicht einfach mit anderen Kriegsverbrechen vergleichbar. Was der unwissenschaftliche und ahistorische Vergleich aber trotzdem bewirken kann, ist eine Retraumatisierung der Überlebenden des Genozids. Alle, die sich mit dem Thema Srebrenica beschäftigen, sollten sich mehr Zurückhaltung auferlegen und sensibler damit umgehen.

Vor einem Jahr, am 11. Juli 2022, hielt der Hohe Repräsentant Christian Schmidt eine „Nie wieder“-Rede in Srebrenica. Gleichzeitig beseitigten Serben im nur 15 Kilometer entfernten Kravica Spuren in einer Lagerhalle, in der serbische Soldaten im Juli 1995 über 1.300 Menschen ermordet hatten. Das UN-Tribunal hatte die Lagerhalle als Tatort deklariert. Diese Stätte des Grauens hätte Schmidt mit einer Unterschrift erhalten können.

Quelle        :           TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben           —   An exhumed mass grave in Potocari, Bosnia and Herzegovina, where key events in the July 1995 Srebrenica Massacre unfolded. July 2007.

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Hitze-Hotspot Deutschland

Erstellt von Redaktion am 11. Juli 2023

Warum das Wasser immer knapper wird und was wir dagegen tun müssen

Liegt Jordanien neuerdings am Main? Bayerns Umweltminister Thorsten Glauber warf jedenfalls unlängst den Vergleich in den Raum und warnte davor, dass es klimatisch so weit kommen könnte. Und tatsächlich lassen die letzten Jahre Schlimmes befürchten.

Schon im und nach dem Hitzesommer 2018 mussten im Würzburger Stadtgebiet 5000 vertrocknete Bäume gefällt werden. Ende August 2022 weckt die Landschaft nordwestlich der Bischofsstadt beim Besucher tatsächlich Assoziationen in Richtung Wüste. An einer Kuppe ragt ein verkrüppelter Baumstamm nach oben, unter den Schuhen vertrocknetes Gras, dazu ein träger, aber unangenehm heißer Wind, der verdorrte Blätter durch die Gegend schiebt. Vieh grast auf dieser Weide schon lange nicht mehr; was sollten die Kühe auch fressen? Hier wächst nichts mehr. Schwer drückt die Hitze auf diesen von der Sonne braun gebrannten Landstrich nordwestlich von Würzburg. Und die Stadt selbst kommt einem vor wie ein Backofen: Die heiße Luft steht, und jede noch so kleine körperliche Anstrengung lässt den Schweiß fließen.

Gemeinhin verbindet man mit Unterfranken sattgrüne Hänge, prächtige Weinberge, fruchtbares Land. Im Sommer 2022 aber leidet das nordwestliche Bayern unter Sonnenbrand und Hitzschlag. So wenig wie in jenem August habe es in ganz Nordbayern seit 62 Jahren nicht geregnet, rechnen Meteorologen vor. Vier Millimeter pro Quadratmeter, das seien 16 Prozent des durchschnittlichen Niederschlages dort in den Jahren 1971 bis 2000. Und selbst wenn man den vorausgegangenen Winter hinzurechnet, erreicht die Regenmenge in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 nur drei Viertel des langjährigen Mittelwertes. Unvorstellbar war das noch vor wenigen Jahren, doch nach 2018, 2019 und 2020 war 2022 schon das vierte Dürrejahr binnen kürzester Zeit in Deutschland.

Gleichzeitig wird das Wasserproblem immer sichtbarer. Der Grundwasserspiegel sinkt, fast die Hälfte der amtlichen Messpegel hierzulande weisen sehr niedrige Wasserstände aus. Die Versorgung mit Wasser schwächelte, für Gärten, Autos und Planschbecken war nicht mehr genug da. Frachter schipperten halb leer den Rhein rauf und runter, weil Deutschlands längster Fluss einen so niedrigen Wasserstand hatte, dass die Schiffe, voll beladen und bei entsprechend größerem Tiefgang, auf Grund gelaufen wären.

In manchen Gemeinden mussten gar Tankwagen anrücken, um die Einwohner mit frischem Trinkwasser zu versorgen, denn aus den Hähnen kam nichts mehr. Weil Brunnen ausgetrocknet waren, Flüsse, Bäche und Seen nur noch bedenklich wenig Wasser führten und die öffentlichen Versorger an ihre Grenzen kamen. In einer ganzen Reihe von Gemeinden haben die Verwaltungen verboten, private Schwimmbecken mit Leitungswasser zu befüllen, Spiel-, Sport- und Fußballplätze, überhaupt Rasenflächen zu gießen. Dementsprechend sehen sie aus. Manche Bäche sind zu Rinnsalen mutiert, der Wasserspiegel vieler Teiche ist geschrumpft.

Selbst der Main würde gefährlich austrocknen, würden nicht pro Sekunde elf Kubikmeter Wasser über ein Stausystem, bestehend aus dem Main-Donau-Kanal und dem Fränkischen Seenland südlich von Nürnberg, in den Fluss gepumpt. Was den Artenschützern Sorge bereitet: Die Wassertemperatur des Mains ist mit bis zu 25 Grad zu hoch für viele der in dem Fluss lebenden Tiere und Pflanzen. Die Gewässerökologie leidet. 25 Grad Wassertemperatur – das schaffte hier früher kein Freibad ohne Beheizung.

Auch der Anbau des Frankenweins wird immer schwieriger. In Steillagen vertrocknen Trauben oder bekommen Sonnenbrand, sofern die Weinberge Richtung Süden ausgerichtet sind, funktioniert es ohne Bewässerung nicht mehr. Immer mehr Extremsteillagen in Mainfranken werden von den Winzern aufgegeben; zu aufwendig wäre Bewässerung.

Ist der Zustand, den Heiko Paeth schon seit Jahren vorhergesagt hat, nun eingetreten? Er ist Klimaforscher an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, präziser formuliert: Leiter der Professur für Geografie mit Schwerpunkt Klimatologie am Lehrstuhl für Geomorphologie. Ein renommierter Experte weit über die Region hinaus. Schon 2016 hatte er Unterfranken zu „einem Hotspot des Klimawandels“ erklärt. Und im Mai 2019 hat er in einem Interview mit der in Würzburg erscheinenden „Main-Post“ präzise vorhergesagt, was dauerhaft geschehen wird. „Wir bekommen in etwa das Klima von Bordeaux, mit vier bis fünf Grad Erwärmung im Maintal, im Winter wie im Sommer. Wir hätten 20 bis 30 Prozent weniger Niederschlag im Sommer und etwa zehn Prozent mehr Niederschlag im Winter.“ Immer vorausgesetzt, es ändere sich klimapolitisch nichts Grundlegendes. Und das hat es nicht in den vergangenen Jahren.

Die Klimapolitik, die angekündigten diversen Wenden von Energie und Verkehr beispielsweise, sie kommt in Deutschland nicht wirklich voran. „Unser Planet hat sich seit Beginn der flächendeckenden Messungen im Jahr 1881 um 0,9 Grad erwärmt, Unterfranken im gleichen Zeitraum um zwei Grad“, rechnet Paeth vor. „Das ist mehr als doppelt so viel als im globalen Durchschnitt. Nur an den Polkappen liegt die Erwärmungsrate jenseits von drei Grad.“ Der Ausblick des Professors, bezogen auf die Region um Würzburg, fällt nicht nur im Main-Post-Interview wenig zuversichtlich aus. „Bis Ende des Jahrhunderts, also dem Zeitraum 2070 bis 2099, wird sich die Zahl der Hitzetage an manchen Orten im Vergleich zum Zeitraum 1970 bis 1999 verfünffachen.“ Und Paeth prophezeit: „Wir werden auch mit Dürren kämpfen müssen und haben gleichzeitig einen hohen Wasserbedarf.“ Er sei sich, so der Professor, „nicht mehr sicher, ob das rein physikalische Ausmaß des Klimawandels bei uns glimpflicher ablaufen wird als in der Sahelzone oder in Ostafrika“.

Vom Wasser als Abfall zum Wasser als Luxus

Dass Deutschland ein Wasserproblem hat und auf eine Krise zusteuert, ist unter Fachleuten und Politikern, die sich mit dem Thema beschäftigen, längst Gewissheit. Die Klimakrise hat demnach immer mehr Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von und die Versorgung mit Wasser.[1] „Es fehlt uns das Wasser in der Fläche und der Tiefe“, sagte der bayerische Umweltminister Thorsten Glauber am 28. Oktober 2020 in einer Regierungserklärung im Landtag – und er meinte damit nicht nur den Freistaat. „Der hitzegestresste Boden wird zu Knäckebrot, irgendwann zu Sand, er hat kein Wasser mehr und nimmt auch keines mehr auf“, schilderte der Politiker der Freien Wähler und forderte: „Wir müssen weg vom entwässerten Boden, auf den die Sonne knallt. Die Vision ist der speicherfähige Boden mit Schatten spendenden Uferstreifen.“ In den vergangenen zehn Jahren, so Glauber, sei die Grundwasserneubildung um fast ein Fünftel zurückgegangen. „Wir sind auf dem besten Weg in einen Grundwassernotstand“, warnte Glauber.

Wohlgemerkt: Da spricht kein Klimaaktivist, der sich gerade auf eine Straße geklebt hat, sondern der Umweltminister einer durch und durch bürgerlich-konservativen Regierung eines Bundeslandes, in dessen Süden es zumindest, verglichen mit anderen Teilen der Bundesrepublik, noch ordentlich Wasservorräte gibt.

Das Deutsche GeoForschungsZentrum in Potsdam meldete bereits für den Dürresommer 2019 ein Wassermassendefizit von 43,7 Mrd. Tonnen in Deutschland. Die Niederschläge reichen nicht mehr aus, um die Speicher wieder zu füllen. Oder sagen wir es so: Die Menge ist, übers Jahr gesehen, vielleicht gar nicht das Problem, sondern dass Wasser zur falschen Zeit in zu großen Mengen auf einmal auf den Boden fällt, sodass es gar nicht erst versickern und sich als Grundwasser absetzen kann, sondern rasend schnell abfließt.

Noch verschärft wird die Situation durch ein Problem, das dieses Land seit vielen Jahren nicht in den Griff bekommt, obwohl es weithin bekannt ist und man auch weiß, wo sein Ursprung liegt: Die Rede ist von den Belastungen der Flüsse, Seen und Grundwasserschichten durch schädliche Einträge wie Nitrat, Phosphat oder andere Substanzen. Gebündelt verknappen Klimawandel und Schadstoffproblem nicht nur das Wasserdargebot (also die Menge an Grund- und Oberflächenwasser, die potenziell genutzt werden kann), sondern sie machen auch die Gewinnung und Aufbereitung von Trinkwasser immer aufwendiger – und damit teurer.

Diese Herausforderungen verschärfen sich gerade schneller als von vielen erwartet. Und wir als Staat und Gesellschaft sind darauf nur sehr unzureichend, in Teilen überhaupt nicht vorbereitet. Auch wenn Deutschland insgesamt weiter ein wasserreiches Land sei, heiße das nicht, „wir könnten uns auf Dauer darauf verlassen, dass wir immer und überall genug Wasser zur Verfügung hätten“, sagte Professorin Irina Engelhardt, Fachgebietsleiterin Hydrogeologie am Institut für Angewandte Geowissenschaften und zugleich Koordinatorin des Wasserressourcenmanagement-Projektes SpreeWasser:N, in einem Interview mit der „WirtschaftsWoche“. Bei anderer Gelegenheit formulierte sie es drastischer: „Deutschland war immer in einer Luxusposition. Wir hatten einfach immer genug. Wasser war ja quasi Abfall in Deutschland“, sagte Engelhardt. „Und wenn man von etwas genug hat, dann kümmert man sich auch nicht so darum.“ Gewiss, niemand in Deutschland muss Angst haben, dass er verdurstet, dass er sich nicht mehr oder nur noch sporadisch waschen kann oder dass Sanitäranlagen abgestellt werden. Deutschland ist ein Land mit verhältnismäßig viel Wasser, nach wie vor. Aber dieses Wasser wird weniger. Und das Ausmaß der Verknappung nimmt schneller zu, als selbst kritische Experten es vor wenigen Jahren noch geglaubt haben. Darauf muss reagiert werden, und zwar schnell und konsequent.[2]

Es ist spät, aber noch nicht zu spät

Zwischen Oktober 2018 und Oktober 2020 trafen sich Fachleute aus der Wasserwirtschaft sowie zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger immer wieder zu einem sogenannten Nationalen Wasserdialog. Angestoßen hatte ihn die Bundesregierung, die Umsetzung lag beim Bundesumweltministerium und dem Umweltbundesamt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten Handlungsfelder und definierten daraus Handlungsbedarf, formulierten strategische Ziele und empfahlen Lösungen. Das Ergebnis ist eine „Nationale Wasserstrategie“, welche die Grundlage für das Wassermanagement in Deutschland werden soll. Meere sollen besser geschützt und das Bewusstsein für die Ressource Wasser geschärft werden. Wasser-, Energie- und Stoffkreisläufe sollen besser miteinander verbunden, klimaangepasst weiterentwickelt oder Gewässer nachhaltig bewirtschaftet werden. Das sind nur einige der wesentlichen Punkte im Strategiepapier. Gewiss, manches klingt floskelhaft und ohnehin auf der Hand liegend, ist deswegen aber nicht falsch. Die Nationale Wasserstrategie weist in die richtige Richtung. Und dennoch fehlen, zumindest im letzten Entwurf des Strategiepapiers, das diesem Text zugrunde lag, zentrale Punkte.

1. Die öffentliche Versorgung muss klaren Vorrang erhalten vor privatwirtschaftlichen Interessen

Der Vorrang der öffentlichen Trinkwasserversorgung vor allen anderen Nutzungen ist nicht klar und unmissverständlich festgeschrieben. Genau das muss aber sein. Es genügt nicht, den Grundsatz als allgemein und unverbindlichen Glaubenssatz unterschwellig zugrunde zu legen. Das war er nämlich bisher auch schon – und trotzdem bedienten sich Energieversorger und Industrie, Mineralwasserhersteller und Landwirtschaft reichlich ungeniert und mit dem Segen allzu sorgloser Behörden am Allgemeingut Wasser. Die Vorrangstellung der öffentlichen Trinkwasserversorgung muss daher bundesweit festgeschrieben werden. So, dass lokale Genehmigungsbehörden, aber auch Gerichte sich bei ihren Entscheidungen darauf stützen können. Wenn man so will, etwas Klares, Praktisches für den täglichen Gebrauch.

2. Die Wasserversorgung darf nicht privatisiert und dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden

Die Nationale Wasserstrategie beschäftigt sich mit der Zukunft. Das ist ihre Stärke und Schwäche zugleich. Ihre Ziele sind auf 30 Jahre ausgelegt, und es ist richtig zu definieren, wohin man langfristig will. Die Verteilungskämpfe haben jedoch bereits begonnen. Folgerichtig braucht es auch kurzfristige Zielvorgaben und ein Instrumentarium, um sofort entscheiden und strategisch handeln zu können. Und nicht erst 2050.

Es ist an der Zeit, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Der Strommarkt wurde liberalisiert, also dem freien Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte unterworfen. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre und speziell die energiepolitischen Verwerfungen seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine führen jedoch die Schwächen des Systems vor Augen. Wenn es darum geht, Probleme im Sinne der Allgemeinheit zu lösen, ist von den Profiteuren der Liberalisierung nichts mehr zu sehen und zu hören. Dann muss der Staat plötzlich eingreifen, mit Milliarden an Steuergeldern. Daraus leitet sich die banale, aber entscheidende Erkenntnis ab, dass Privatunternehmen nicht alles automatisch besser können als öffentliche Versorger.

Im Gegenteil: Es gibt kein einziges Beispiel dafür, wo ein Privatinvestor im Bereich der Daseinsvorsorge Verantwortung übernommen hat, wenn ein System nicht mehr funktionierte. Die Energieriesen haben jahrzehntelang mit Gas aus Russland oder Atomstrom Milliardengewinne eingefahren. Den Umbau der Systeme, die Kosten für deren Versagen, finanziert jedoch der Staat, die Allgemeinheit. Bestes Beispiel ist das Milliardendrama um Uniper, jene börsennotierte Gesellschaft, die 2016 als Abspaltung des ebenfalls börsennotierten Energieriesen E.ON entstanden ist. Als Uniper im Zuge des Ukrainekriegs und des damit verbundenen Lieferstopps von russischem Gas in die Bredouille geriet, musste der Bund das als systemrelevant eingestufte Unternehmen mit Milliardenhilfen aus dem Steuersäckel stützen. Im Dezember 2022 wurde Uniper verstaatlicht.

Die Trinkwasserversorgung ist ebenfalls elementarer Bestandteil öffentlicher Daseinsvorsorge, mindestens so sehr wie die Strom- und Energieversorgung. Man darf sie nicht dem freien Spiel privater Kräfte überlassen, nicht Investoren und profitmaximierenden Unternehmen. Wasser ist ein derart elementares Gut menschlichen Daseins, dass es nicht marktliberalen Mechanismen unterworfen werden darf. Nicht Wettbewerb, sondern funktionale Sicherheit müssen im Vordergrund stehen. Wir brauchen ein öffentliches, staatliches bzw. kommunal betriebenes Versorgungssystem für Trinkwasser, das auch im Krisenfall stabil und resilient ist. Vor allem die Städte und Gemeinden stehen hier in der Verantwortung. Sie müssen ihre eigene Wasserversorgung sicherstellen – bei Bedarf auch mit Nachbargemeinden zusammen; es gilt das Solidarprinzip.

3. Das Land braucht eine umfassende Wasserschutzagenda

Ressourcenschutz fängt nicht erst an, wenn es im konkreten Einzelfall darum geht, einen übermäßigen Wasserausbeuter in die Schranken zu weisen. Er beginnt viel früher. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, eine andere Herangehensweise mit dem Ziel, Wasser im Boden zu halten. Dafür zu sorgen, dass es nicht so schnell abfließt. Mit konsequentem Gewässerschutz, Investitionen in Leitungssysteme und Wasseraufbereitungsanlagen, aber auch, indem die Flächenversiegelung begrenzt, mehr Wasserschutzgebiete ausgewiesen und insgesamt das Bewusstsein für sorgfältigeren Umgang mit der Ressource Wasser geschärft wird. Das Thema kommt einer Allensbach-Umfrage von 2022 zufolge immer mehr in der Bevölkerung an; drei von vier Deutschen gaben an, bewusster und sparsamer mit Wasser umzugehen als früher. Wassersparen hilft, aber das allein reicht nicht. Sümpfe, Moore und andere Feuchtgebiete müssen geschützt werden, die Versiegelung der Landschaft durch Wohn- und Gewerbegebiete, Straßen und andere Baumaßnahmen muss insgesamt reduziert werden. Wir brauchen im Einzelfall mehr Dachbegrünungen, aber auch Bauverbote in Gebieten mit Überschwemmungspotenzialen. Die Versickerung von Wasser an Ort und Stelle muss erleichtert werden.

Vielleicht sollten die Politiker-innen im Ausland von den roten Teppichen herunterkomme um sich die Wasserversorgung aus dem 12.Jahrhundert anzusehen, welche heute noch teilweise  funktionieren.

Auch der Grundwasserschutz muss verbessert werden. Experten der Vereinten Nationen sind überzeugt, dass aktuelle und künftige Wasserkrisen nur mit Hilfe des Grundwassers zu bewältigen sind. „Eine bessere Nutzung des Grundwassersystems könne zur Klimaanpassung beitragen“, heißt es im UNESCO-Weltwasserbericht 2022. So sei es etwa möglich, saisonale Überschüsse von Oberflächengewässern in Grundwasserleitern zu speichern. So könnten nämlich Verdunstungsverluste verringert werden, „wie sie etwa bei Stauseen auftreten“. Eine sinnvolle, umfassende Wasserschutzagenda beginnt schon bei der Erfassung aktueller Daten. Ferner muss eine Wasserschutzagenda schärfere Regelungen zum Schutz vor Verunreinigungen etwa durch Nitrat und Pflanzenschutzmittel beinhalten. Das Herumlavieren, mit dem sich Deutschland in der beschriebenen Weise seit Jahren um die konsequente Einhaltung schärferer EU-Vorgaben drückt, muss ein Ende haben.

4. Privilegien für Großverbraucher abschaffen

Bayern, Hessen und Thüringen verzichten bislang auf ihn und in den anderen 13 Bundesländern ist er marginal bemessen. Die Rede ist vom Wassercent, im Behördendeutsch: dem Wasserentnahmeentgelt.

Richtigerweise muss es endlich jeder bezahlen, der sich am Allgemeingut bedient, um es für seine privatwirtschaftlichen Zwecke zu verwenden. Mineralwasserhersteller, Landwirte, Energieversorger, Industriebetriebe – bisher profitieren alle großen Schlucker von einer fatalen Nulltarif- oder Kostet-fast-nichts-Mentalität hierzulande. Geht es um die Bedürfnisse von Unternehmen, waren die Behörden, die Landesregierungen und die Kommunalpolitiker vor Ort stets sehr großzügig bei Entnahmemengen oder langfristigen Laufzeiten von Entnahmerechten. Das muss gestoppt werden. Behörden müssen die Mengen und die Laufzeiten begrenzen und unter den Vorbehalt stellen, dass sie in Dürrezeiten bei Bedarf auch unterbrochen oder stärker kontingentiert werden können. Und vor allem: Das jahrhunderte-, bisweilen sogar jahrtausendealte und besonders reine Tiefengrundwasser muss weitaus strenger geschützt werden. Übrigens nicht nur vor den Entnahmen gewerblicher, sondern auch öffentlicher Nutzer.

Ein probates Mittel ressourcenschonender Wasserbewirtschaftung wäre es, private und gewerbliche Nutzer gleichzustellen. Ihnen dieselben Gebühren abzuverlangen, wenn sie aus dem öffentlichen Netz schöpfen, und keine Rabatte für Großabnehmer mehr zu gewähren. Überdies müssen all jene spürbarer als bisher zur Kasse gebeten werden, die eigene Brunnen oder Wasserfassungen nutzen. Der Wassercent darf daher im Sinne der Allgemeinheit gerne ein Wassereuro werden.

Gewiss, die Wirtschaft im weitesten Sinne braucht Wasser und sie soll es auch in Zukunft bekommen. Dass Firmen für Wasser aber kaum oder fast nichts bezahlen, setzt jedoch keinerlei Anreize, um sich über Einsparungen, interne Wasserkreisläufe, Wasserrecycling oder Brauchwassersysteme Gedanken zu machen. Wir brauchen eine Gebührenpolitik, die genau solche Anreize schafft. Hier sind vor allem die Landespolitiker gefordert, bei denen das Thema bislang nicht angekommen ist. Geradezu unerträglich ist es, wenn, wie im Fall Tesla in Brandenburg, ein Unternehmen in einer trockenen Region angesiedelt wird und zig Mrd. Liter Wasser zugeteilt bekommt, während ringsum Gemeinden keine Wohngebiete und Schulen mehr planen können, weil das notwendige Wasser fehlt. Es kann auch nicht sein, dass einhergehend damit der Trinkwasserbedarf von Privatpersonen im Bedarfsfall eingeschränkt und Mehrbedarf finanziell sanktioniert wird, während die Versorgung der Großfabrik nebenan Priorität genießt.[3]

5. Wassertröpfchen für die Landwirtschaft

Quelle          :           Blätter-online          >>>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben           —      Talsperre Lehnmühle Oktober 2018 im Tal der Wilden Weißeritz im Erzgebirge. Sonst geflutete Brücke der Zinnstraße zum Erztransport von Altenberg nach Freiberg.

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Unten         —         The park in the Byzantine-era Cistern of Aspar in November 2013

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Schwarzbuch Axel Voss:

Erstellt von Redaktion am 11. Juli 2023

Ein CDU-Abgeordneter schreibt Digitalgesetze –
und berät nebenher die Digitalbranche

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von            :       

Wenn die EU das Netz reguliert, dann ist der konservative Parlamentarier Axel Voss nicht weit. Doch sein Abgeordnetengehalt bessert der CDU-Mann mit Nebenjobs auf, die Interessenskonflikte vermuten lassen. Transparenzorganisationen fordern ein Ende dieser Praxis.

Wer Axel Voss trifft, lernt einen freundlichen Herren kennen. Der 60-jährige Jurist aus dem Rheinland ist einer jener unaufgeregten EU-Abgeordneten, die nicht in die Tagesschau drängen, sondern geduldig die Facharbeit in den Ausschüssen des EU-Parlaments erledigen. Voss ist, trotz jahrzehntelanger politischer Tätigkeit, fast nur Eingeweihten in Brüssel ein Begriff.

Lobbyismus-Kritiker:innen ist Voss allerdings schon lange ein Dorn im Auge: Denn in Brüssel wirkt der CDU-Abgeordnete wie ein digitalpolitischer Konzernlautsprecher. Im vergangenen Jahrzehnt hat Voss an mehreren Schlüsselgesetzen der EU mitgeschrieben – und dabei vehement die Positionen von Lobbyisten und Branchenverbänden vertreten. In Deutschland kaum bekannt, scheint Voss einer der wichtigsten Gehilfen der Digitalbranche im EU-Parlament zu sein.

Umso drastischer erscheint in diesem Licht ein offener Brief von Transparenzorganisationen, die Voss einen Interessenskonflikt vorwerfen. Er arbeite nebenher für Firmen mit geschäftlichem Interesse an genau jenen Themen, zu denen er als Abgeordneter Gesetze schreibe – beispielsweise erhält Voss ein Zubrot von der Deutschen Telekom. Welchen Einfluss haben Voss‘ Nebengeschäfte auf seine politische Tätigkeit? Der Brief, der von Transparency International, LobbyControl, Corporate Europe Observatory und Friends of the Earth Europe unterzeichnet wurde, ging vorige Woche an EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, eine Fraktionskollegin von Voss.

„Voss hat eine Schlüsselrolle in zahlreichen digitalen Gesetzgebungsprozessen gespielt, von ePrivacy und der Urheberrechtsrichtlinie bis hin zum Gesetz über Künstliche Intelligenz, die alle stark von Unternehmensinteressen beeinflusst wurden“, sagt Bram Vranken vom Corporate Europe Observatory. Die Nebenjobs von Voss würden Fragen darüber aufwerfen, wessen Interessen er vertritt, so Vranken: „Die seiner Wähler oder die seiner Arbeitgeber?“

DSGVO als „völliger Quatsch“

Einen seiner ersten großen netzpolitischen Auftritte machte Voss als Chefverhandler für die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) um die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), wo er unermüdlich für mehr Ausnahmen im Gesetz kämpfte. Letztlich war der wirtschaftsfreundliche Christdemokrat dann aber so unzufrieden, dass er die DSGVO in Interviews als „völligen Quatsch“ kritisierte. Das Gesetz gerate zu einem „Behinderungsinstrument für die digitale Wirtschaft in Europa“.

Auch bei der ePrivacy-Reform, die die Vertraulichkeit der Kommunikation im Internet stärken sollte, drängte Voss auf Änderungen, die großen Technologiekonzernen mehr Spielraum beim Datensammeln geben sollten. Bemühungen anderer Abgeordneter, den Entwurf für die ePrivacy-Verordnung im Sinne der Privatsphäre zu stärken, verglich der CDU-Politiker mit dem Wächterrat des iranischen Regimes. Auch wegen des großen Widerstandes aus Teilen der Digitalwirtschaft und der Verlagslobby ist die ePrivacy-Reform bis heute nicht beschlossen.

Seinen größten Erfolg fuhr Voss womöglich mit der Urheberrechtsrichtlinie ein. Das umstrittene Gesetz verpflichtet Internetplattformen dazu, von Nutzer:innen hochgeladene Inhalte auf Urheberrechtsverletzungen zu scannen. Bekannt wurde das als sogenannte Uploadfilter. Suchmaschinen sollen außerdem Lizenzgebühren für Teasertexte zu redaktionellen Inhalten zahlen, das Prinzip ist als Leistungsschutzrecht bekannt.

Das Gesetz wurde von Google und anderen Tech-Konzernen bekämpft, fand allerdings große Unterstützung der Film- und Musikbranche sowie von Presseverlagen wie Axel Springer. Als Chefverhandler der Europaparlaments boxte Voss die Reform trotz heftiger Kritik aus der Zivilgesellschaft und großen Protesten durch.

Dabei glänzte der CDU-Abgeordnete nicht immer mit Detailkenntnis seines Vorschlags. Im Gespräch mit netzpolitik.org zeigte Voss sich damals überrascht, dass Nutzer:innen bei Wikipedia Bilder, Tonaufnahmen oder Videodateien hochladen können und die freie Enzyklopädie damit ebenfalls unter die Filterpflicht seiner Richtlinie fällt. Nach der finalen Abstimmung offenbarte Voss Unkenntnis darüber, dass durch sein Gesetz private Fotos und Videos von Sportveranstaltungen zur Urheberrechtsverletzung werden könnten. Von der Verlagslobby wurde Voss‘ Arbeit trotzdem ausdrücklich gelobt.

Seit der Europawahl 2019 widmet sich Voss hauptsächlich einem neuen Thema, der Regulierung Künstlicher Intelligenz. In der Debatte um eine KI-Verordnung war Voss einer der Wortführer seiner Fraktion, erneut vertrat er sie im federführenden Ausschuss und mischte zudem in einem beratenden Ausschuss mit. Unter anderem setzte er sich dafür ein, dass Ermittlungsbehörden KI-Überwachung einsetzen können. Zugleich drängte er vehement auf einen „Raum für Innovation“ für die Wirtschaft, den Entwurf des Parlaments kritisierte er wegen seiner Maßnahmen zur Minimierung von Risiken durch KI-Systeme als unausgewogen.

Während er im Parlament zur KI-Verordnung verhandelte, geriet Voss wegen seiner Tätigkeit im Verband SME Connect in die Kritik. Der Verband gibt vor, kleine und mittelgroße Unternehmen in Brüssel zu vertreten. Kritiker:innen werfen ihm aber vor, sich durch große Technologiekonzerne wie Meta und Amazon unterstützen zu lassen. Gegenüber Corporate Europe Observatory wendet Voss ein, dass SME Connect, wo er im Vorstand vertreten ist, nicht direkt Lobby-Arbeit leiste, sondern lediglich „Diskussion ermögliche“. Gleichwohl findet sich die Gruppierung im EU-Transparenzregister. Dort müssen sich Interessenvertreter:innen registrieren, deren „Tätigkeiten darauf abzielen, Einfluss auf die EU-Politik und den Beschlussfassungsprozess zu nehmen.“

Nebentätigkeiten für Telekom und Sozietät werfen Fragen auf

Der offene Brief der Transparenzorganisationen wirft unterdessen Fragen zu Voss‘ Verbindungen mit der Digitalbranche auf. Laut seiner Erklärung der finanziellen Interessen verdient er zusätzlich zu seinem Abgeordnetengehalt monatlich zwischen 1.001 und 5.000 Euro brutto mit Tätigkeiten für die Sozietät Bietmann Rechtsanwälte Steuerberater. Deren Website nennt als Tätigkeitsschwerpunkte von Voss das Datenschutzrecht sowie Urheber- und Medienrecht.

Für wen Voss genau arbeitet, bleibt unklar. Für die NGOs ist aber insbesondere ein Gespräch des Abgeordneten zu einer geplanten EU-Richtlinie mit der Lobbyfirma B-Connect fragwürdig. Denn B-Connect steht eng mit der Sozietät Bietmann in Verbindung, für die Voss tätig ist. Haben sich hier private Interessen und politische Tätigkeiten Voss‘ vermischt? Dafür gebe es zwar keine Beweise, das Treffen sorge aber für Klärungsbedarf.

Auf Anfrage betont Axel Voss, bei seiner Tätigkeit für Bietmann Rechtsanwälte gehe es um eine rein rechtliche Beratungstätigkeit. „Ich habe für keinen Mandanten gearbeitet, dessen Geschäftsinteressen von meiner politischen Arbeit berührt werden“, so der Abgeordnete.

Eine direkte Verbindung zu B-Connect streitet Voss ab. Bei dem Treffen beziehungsweise Telefonat, das er am 13. September 2021 geführt hatte, sei es um eine „rein rechtliche Interpretationsfrage zum deutschen Lieferkettengesetz“ gegangen. Knapp ein halbes Jahr später stellte die EU-Kommission ihren Gesetzesentwurf über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen in ihren Lieferketten vor. Die EVP-Fraktion vertritt in den Trilog-Verhandlungen als sogenannter Schattenberichterstatter: Axel Voss.

Verschwundene Treffen

Ebenso hinterfragt der offene Brief die Tätigkeit von Voss im Datenschutzbeirat der Deutschen Telekom. Dafür erhält er zwischen 501 und 1.000 Euro monatlich. Zugleich arbeite er im Parlament an Themen, die die Telekom direkt betreffen würden. Dazu habe er sich nicht nur mit Vertreter:innen der Telekom ausgetauscht, sondern auch mit Lobby-Gruppen wie GSMA, ETNO und Bitkom, denen der deutsche Telekom-Riese angehört. Voss habe sogar Telekom-Lobbyisten getroffen, die Meetings aber wieder von seiner Abgeordnetenseite nehmen lassen, berichtet der offene Brief. Dadurch riskiere Voss einen Interessenskonflikt.

Bei den aus dem Register verschwundenen Einträgen handle es sich laut Voss um Fehler, denn ursprünglich habe er mehr angegeben, als vom Transparenzregister gefordert wird. „Als Abgeordneter muss ich Treffen veröffentlichen, wenn sie Dossiers betreffen, bei denen ich Schattenberichterstatter oder Berichterstatter bin“, schreibt Voss an netzpolitik.org. „Nun hatte ich zunächst auch andere Treffen veröffentlicht, die keinerlei Verbindung zu einer Berichterstattung hatten, diese wurden wieder rückgängig gemacht.“ Anders gesagt: Die Treffen fanden statt, gelangten aber nur irrtümlich an die Öffentlichkeit.

Den Datenschutzbeirat der Telekom beschreibt Voss als ein Expertengremium, das den Fokus auf die rechtliche Interpretation der Datenschutzgrundverordnung gelegt habe – „die seit meiner Tätigkeit im Beirat abgeschlossen ist“, so Voss. Indes wird der Abgeordnete weiterhin als Mitglied des Beirats geführt, zu den Themenschwerpunkten des vergangenen Jahres zählten unter anderem die ePrivacy-Verordnung, der Data Act oder das KI-Gesetz.

Diese Themen sind auch dem Lobby-Büro der Deutschen Telekom in Brüssel wichtig. Über ein halbes dutzend Angestellte versuchen dort, EU-Gesetze zu beeinflussen, kosten lässt sich das der Konzern geschätzt über zwei Millionen Euro im Jahr – nicht eingerechnet sind die Lobby-Kosten von Verbänden, denen die Telekom angehört. „Voss riskiert einen sehr problematischen Interessenkonflikt, da er Mitglied im Datenschutzbeirat der Deutschen Telekom ist und gleichzeitig Änderungen am KI-Gesetz vorschlägt, die der gleichen Firma zugute kommen könnten“, sagt Bram Vranken vom Corporate Europe Observatory.

Untersuchung läuft, Reformen sollen folgen

All diese Nebentätigkeiten und unklaren Verstrickungen müssen untersucht werden, fordern die Transparenz-NGOs von Parlamentspräsidentin Metsola. Zwar würden sie dem Abgeordneten nicht unterstellen, mit seiner parlamentarischen Arbeit seine Nebenarbeitgeber zu begünstigen. Dafür fehlten die Beweise. Dies sei aber nicht relevant: „Die Situation, gleichzeitig ein EU-Abgeordneter zu sein, der in den Bereichen Lieferketten, KI, Data Act und verwandten Dossiers aktiv ist und diese spezifischen Nebenjobs innehat, ist der relevante Sachverhalt“, schreiben die NGOs. Insgesamt stehe Voss im Verdacht, den Verhaltenskodex für EU-Parlamentarier:innen verletzt zu haben. Dieser gibt sich gegenüber netzpolitik.org gelassen: „Ich stelle mich auch gerne dem Prüfverfahren des Parlaments“, so Voss.

Allein die weltweit führende Rolle, die die EU bei der Netzregulierung inzwischen einnimmt, macht sie zum begehrten Lobbyziel der Digitalbranche. Einen dreistelligen Millionenbetrag investiert sie jährlich, um Einfluss zu nehmen, dabei übertrumpft sie mittlerweile die Ausgaben von Ölfirmen, der Finanzbranche oder der Pharmaindustrie.

Ein Sprecher von Parlamentspräsidentin Metsola bestätigt, den offenen Brief erhalten zu haben, nun werde der Fall untersucht. Zugleich arbeite die EU-Institution daran, die Regeln zu Interessenskonflikten zu präzisieren und zu verschärfen. Das soll die Integrität des EU-Parlaments verbessern, so der Sprecher. Zuletzt litt das Ansehen des Parlaments aufgrund von Korruptionsskandalen, ein nachhaltiges Beben löste etwa jüngst die sogenannte Katargate-Affäre aus.

Wie weit die Transparenzreformen reichen werden, bleibt vorerst offen. Die Transparenz-NGOs wollen jedenfalls so weit wie möglich gehen: In ihrem Brief fordern sie Metsola auf, das bestehende Verbot für Abgeordnete des EU-Parlaments, gleichzeitig Nebenjobs in der Lobbyarbeit auszuüben, vollständig umzusetzen. „Angesichts von Katargate steht das Europäische Parlament wie nie zuvor unter Druck, dafür zu sorgen, dass seine Ethikregeln so robust wie möglich sind und gut durchgesetzt werden.“

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —          Demonstration gegen die Urheberrechtsreform der EU in Freiburg auf dem Rathausplatz

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Putins Mann in Belarus

Erstellt von Redaktion am 10. Juli 2023

Lukaschenko und Russlands Atomwaffen

Ein Debattenbeitrag von Alexander Friedmann

Lukaschenkos atomares Säbelrasseln ist unverantwortlich. Aber es ist nicht zuletzt auch ein vorsichtiges Gesprächsangebot an den Westen.

Seit Monaten schlägt Juri Felschtinski Alarm. Der amerikanisch-russische Historiker geht von einem düsteren Szenario aus: Um das Blatt im Ukrainekrieg doch zu seinen Gunsten zu wenden, bereite der Kreml einen Atomschlag auf Polen oder Litauen vor und würde dafür gezielt das Territorium des Satellitenstaates Belarus verwenden.

Putins perfides Kalkül, so Felschtinski, ist dieses: Im Ernstfall würden Washington, London und Paris einen atomaren Schlagabtausch nicht riskieren und ihre osteuropäischen Partner sowie vor allem die Ukraine im Stich lassen. Und sollten die USA doch mit Atomwaffen antworten, würden sie Belarus, nicht Russland treffen.

Diese apokalyptischen Thesen finden Gehör – in Osteuropa. In Westeuropa werden sie hingegen als Panikmache zurückgewiesen: Einerseits sind sie zu erschreckend; andererseits genießt Felschtinski einen ambivalenten Ruf, wobei ihm eine gewisse Neigung zu Verschwörungstheorien unterstellt wird.

Noch in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren hat er mit dem früheren Offizier des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Alexander Litwinenko, zusammengearbeitet, der 2006 in London mit Polonium-210 vergiftet wurde. Litwinenko und Felschtinski warfen damals dem FSB grausame Verbrechen vor, darunter auch die Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser in Moskau 1999.

Genüsslich als Haudegen inszeniert

Aber vielleicht hat der radikale Kreml-Kritiker recht und die westliche Politik agiert fahrlässig, indem sie den Faktor Belarus übersieht?

Inzwischen spricht tatsächlich einiges für Felschtinskis Theorie. Moskau hat die Stationierung seiner taktischen Atomwaffen im Nachbarland bereits verkündet. Die Atomdrohungen gehören längst zum Arsenal der russischen Propaganda. So stellt etwa der ehemalige Staatspräsident Dmitri Medwedew die Auslöschung Polens in Folge eines Atomkrieges in Aussicht. Der einflussreiche Politikwissenschaftler Sergei Karaganow fordert einen präventiven Atomangriff auf Europa.

Und da gibt es noch den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, der beim Thema Atomwaffen immer häufiger im Vordergrund steht und sich dabei genüsslich als Haudegen inszeniert, der die taktischen russischen Atomwaffen bereits nach Belarus geholt habe und dort in Zukunft auch strategische Atomwaffen stationieren lassen könne.

Weiterhin behauptet Lukaschenko, an Entscheidungen über den Einsatz von Atomwaffen beteiligt zu sein, und lässt zudem die Ent­schei­dungs­trä­ge­r*in­nen im Westen wissen, seine Hand würde nicht dabei zittern, wenn er auf die „Atomknöpfe“ drücken müsse.

Lukaschenko ist zwar ein williger Vollstrecker des Kreml, agiert jedoch stets auf seine eigenen Interessen bedacht

Was spielt Lukaschenko da? Lange unterschätzt und belächelt, wird er von westlichen Po­li­ti­ke­r*in­nen und Be­ob­ach­te­r*in­nen eher als Marionette wahrgenommen, welche zwar keinerlei Einfluss habe, jedoch überzeugend die ihm vom Kreml zugewiesene Rolle eines unberechenbaren Diktators mit Atomwaffen verkörpere. Seine Eskapaden sollten helfen, die Nato im Vorfeld des Juli-Gipfels in Vilnius zusätzlich zu verunsichern und ihre Entscheidungen hinsichtlich der Unterstützung der Ukraine zu beeinflussen.

Dass Lukaschenko seine Auftritte im Auftrag des Kremls oder zumindest in Absprache mit Putin macht, scheint naheliegend. Moskau betont zwar gelegentlich, dass Russland die Kontrolle über die Atomwaffen im Nachbarland obliege. Die russische Führung lässt Lukaschenko allerdings gewähren und macht gleichzeitig keinen Hehl daraus, dass Belarus als russische Einflusszone betrachtet wird.

Der „Retter Russlands“?

Juri Felschtinskis Grundannahme, Belarus solle von Moskau lediglich als Vorhang verwendet werden, erweist sich somit als nicht stichhaltig, denn Putin macht keinen Unterschied mehr zwischen Belarus und dem russischen Kerngebiet. Und auch der Westen betrachtet die Atomwaffen in Belarus als ein russisches Projekt, für das Moskau Verantwortung trägt.

Der Autokrat aus Minsk ist zwar ein williger Vollstrecker der Kreml-Politik. Jedoch agiert er stets auf seine eigenen Interessen bedacht. Die groteske Wagner-Meuterei kommt ihm zupass. Obschon die Rolle, welche Lukaschenko in Verhandlungen mit dem Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin tatsächlich gespielt hat, nach wie vor unklar bleibt, wird er vom Kreml zum „Friedensstifter“, sogar zum „Retter Russlands“ stilisiert.

In der Russischen Föderation ohnehin beliebt, genießt der belarussische Machthaber nunmehr außergewöhnliche Anerkennung. In der neuesten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum gehört er sogar zur Spitze vertrauenswürdiger Politiker, vor Außenminister Sergei Lawrow und nicht weit hinter Putin.

Absicherung seiner Herrschaft

Dies, gepaart mit russischen Atomwaffen und der geplanten Stationierung der Wagner-Gruppe in Belarus, führte kurzfristig zu einer rasanten Aufwertung Lukaschenkos in der westlichen Presse. Manche Medien brachten ihn sogar als Putins Nachfolger ins Spiel.

Quelle          :        TAZ-online             >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —       Раис Республики Татарстан Рустам Минниханов встретился с Президентом Республики Беларусь Александром Лукашенко.

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Der Nahostkonflikt :

Erstellt von Redaktion am 10. Juli 2023

Der Teufelskreis von Jenin

Quelle      :        INFOsperber CH.

Gudrun Harrer /   Die neuen bewaffneten palästinensischen Gruppen im Westjordanland sind ein Symptom für den Zusammenbruch der Palästinenserbehörde.

Jenin ist der Geburtsort der neuen palästinensischen «Banditen»: Diese Bezeichnung stammt nicht etwa von Israel, das nach eigenen Angaben seinen Militäreinsatz in der Stadt im Westjordanland am Mittwoch beendet hat, sondern von der Palästinensischen Behörde. Die neuen bewaffneten Gruppen, gegen die sich die israelische Militäraktion gerichtet hat, kämpfen gegen die israelische Armee und die Siedler – aber gleichzeitig sind sie eine Folge des Kontrollverlusts der Palästinenserführung.

Laut israelischer Armee waren alle zwölf getöteten Palästinenser Kämpfer, rund 300 «Terrorverdächtige» wurden festgenommen. Nominell sind die neuen bewaffneten Palästinenser von den «alten» bekannten radikalen Gruppen unabhängig, es wird jedoch immer wieder vermutet, dass etwa über den Islamischen Jihad iranische Unterstützung zu ihnen gelangt.

In Jenin ist eine solche Gruppe 2021 zum ersten Mal aufgetaucht, bezeichnenderweise nach der Absage der palästinensischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen: eine verpasste Chance, der palästinensischen Führung und Verwaltung wieder Legitimität zu verschaffen. Drei Viertel der Palästinenser und Palästinenserinnen sprechen sich bei Umfragen für einen Rücktritt von Präsident Mahmud Abbas aus. Er ist 87 und wurde 2005 auf vier Jahre ins Amt gewählt. Seinem eigenen Ansehensverlust sieht er in geistiger Versteinerung zu.

«Löwengrube» in Nablus

Neue bewaffnete Gruppen gibt es heute nicht nur in Jenin, sondern auch in anderen Städten, in Nablus – eine namens «Löwengrube» – oder etwa auch in Tulkarem und Jericho. Mit der Ankunft der Rechtsradikalen in der israelischen Regierung ergibt sich eine Art Teufelskreis. Siedlergewalt wird ermutigt, das Versagen der Palästinenserbehörde, für Sicherheit zu sorgen, wird immer offenkundiger, mehr junge Palästinenser radikalisieren und bewaffnen sich, und die israelische Armee verstärkt wiederum ihre Razzien – und zerstört den letzten Rest der Glaubwürdigkeit der Führung. Und so fort.

Die Palästinenserbehörde wurde 1994 im Rahmen des Oslo-Friedensprozesses geschaffen, sie war als Übergangsverwaltung auf dem Weg zu einem palästinensischen Staat gedacht. Der ist nicht in Sicht, und aus der aufgeblähten, durch Korruption und Nepotismus gekennzeichneten Behörde ist ein Dauerzustand geworden. Und nun gibt es eine israelische Regierung, zu deren Programm die «Anwendung von Souveränität» im Westjordanland gehört, was auf Annexion hinausläuft.

Schwere Finanzkrise

Die finanzielle Krise der Palästinenserbehörde wird durch israelische Schikanen und durch eigene Misswirtschaft dauerverschärft, dazu kamen zuletzt Covid und der internationale Anstieg von Energie- und Lebensmittelpreisen. Auf dem sogenannten C-Gebiet, das völlig unter israelischer Kontrolle steht und das laut Uno und EU die wirtschaftliche Entwicklung eines Palästinenserstaats ermöglichen sollte, dehnt sich Israel aus.

Die Behörde konnte ihre ureigenste Aufgabe nicht erfüllen, den Übergang von Besatzung zu einem freien Staat zu managen, aber sie scheitert auch dabei, die Bevölkerung mit Dienstleistungen zu versorgen. Dazu kommt ihre Unfähigkeit, die innerpalästinensische Spaltung mit der Hamas – die 2006 die Wahlen gewann und in der Folge den Gazastreifen unter ihre Herrschaft brachte – zu beenden.

Bei Umfragen stellt sich heraus, dass immer mehr Palästinenser und Palästinenserinnen der Meinung sind, ihr Leben würde sich nicht verschlechtern, sollte die Behörde zusammenbrechen. Genau das wird für den Fall befürchtet, dass es nach dem Tod von Mahmud Abbas Streit um die Nachfolge gibt.

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Abbas hat alle politischen Prozesse zur Klärung der Frage unterminiert, wer die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), die Fatah-Partei und die Präsidentschaft übernehmen sollte. Seit dem Machtkampf mit dem früheren Sicherheitschef von Gaza, Mohammed Dahlan, ersetzt Paranoia die Zukunftsplanung. Dass der israelischen Rechten, die einen Palästinenserstaat immer abgelehnt hat, diese politische Lähmung nicht unrecht kommt, liegt auf der Hand.

Alleinherrscher

Abbas übernahm nach dem Tod Yassir Arafats im November 2004 dessen Ämter, 2005 wurde er zum Präsidenten gewählt. Seine Herrschaft hat sich in den vergangenen Jahren zur Diktatur entwickelt. Die Gewaltenteilung ist de facto abgeschafft: 2016 wurde ein Verfassungsgerichtshof eingeführt, der Abbas‛ Entscheidungen scheinlegalisiert und 2018 das Parlament auflöste. Es gibt keine Medienfreiheit, Kritiker werden verfolgt, die Menschen leiden unter Repression und Menschenrechtsverletzungen.

Mehrere Personen werden als mögliche Nachfolger Abbas‛ genannt, wobei sich die Frage stellt, ob sie einen Konsens innerhalb von PLO und Fatah und danach eine Legitimation durch den Wählerwillen erreichen können: Da sind etwa PLO-Generalsekretär Hussein al-Sheikh oder Majed Faraj, der mächtige Geheimdienstchef, sowie einige andere. Alles Kaffeesatzleserei. Die Artikel über die «drohende palästinensische Nachfolgekrise» häufen sich, während die palästinensische Bevölkerung nie aus der Krise herausgekommen ist.

Dieser Artikel ist am 6. Juli im «Standard» erschienen.

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Oben      —   Jenin, West Bank, Palestine

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DIE * WOCHE

Erstellt von Redaktion am 10. Juli 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

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Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Sonne, Sommer,  –  Menschens Werk und Gottes Sohn vereinen sich aufs heißeste. Zuckerberg als kalifornischer Gegenpapst. –  Polizeigewalt und Recht vor Gnade.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: US-Streubomben für die Ukraine.

Und was wird besser in dieser?

Es hat gedauert, aber – endlich mal eine Waffe, die die Grünen nicht gut finden.

Der Bundestag konnte sich beim Thema Sterbehilfe nicht einigen. Wo stehen Sie in der Debatte?

Wer den Freitod wählt, „springt aus dem brennenden Haus“. Niemand weiß, wohin. Die gegenwärtige Qual wird als unerträglicher empfunden als alles, auch das Ungewisse. Das schürt die Sorge, dass Menschen „springen“, bevor wirklich final ausgelotet ist. Also ist kluge Beratung nötig, ein neu­tra­ler Blick auf die Lage. Wer an der Selbsttötung verdient, scheidet als Berater aus. Hier hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil pro „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ Recht vor Gnade ergehen lassen. Gibt es dann tatsächlich keinen Ausweg mehr, kommen Pflegende und ÄrztInnen in Not, weil ihnen das Strafrecht droht. Also: zwingende Beratungen, raus aus dem Strafrecht, kein Kommerz und das letzte Medikament in die Hände derer, die schon heute insgeheim viel auf ihr Gewissen nehmen.

Deutsche Haushalte mit einem Einkommen von 150.000 Euro sollen kein Elterngeld mehr bekommen. Halten Sie die Befürchtung für berechtigt, dass dies fatal für die Emanzipation in der Erziehung wäre?

Wenn es wirklich um Sozialpolitik und Kinderarmut ginge, würden wir diskutieren, warum Empfänger von Bürgergeld, formerly known as Hartz, weder Kinder- noch Elterngeld bekommen. Warum Alleinerziehende nach 14 Monaten kein Elterngeld mehr bekommen. Bei Spitzenverdienern dagegen – Paaren, die zusammen über 12.000 Euro im Monat kassieren – darf man schon fragen, ob ­monatlich 1.800 Euro Elterngeld bei denen große Lenkungswirkung entfalten. Männer, die so viel Kohle haben und sie nicht dazu nutzen, Zeit mit ihrem Kind zu verbringen, gehören bestraft. Was jetzt mustergültig erfüllt ist.

Für den französischen Polizisten, der den 17-jährigen ­Nahel M. erschossen hat, sind über eineinhalb Millionen Euro gesammelt worden. Die Spendenaktion für Nahels Familie hat weniger als 500.000 Euro eingebracht. Regiert Geld halt die Welt, oder steckt da Beunruhigenderes drin?

Was machen die mit der Kohle, wenn der Polizist straffrei davonkommt? Anzahlung auf den nächsten Schuss? In Frankreich sind Spendensammlungen für Straftäter verboten. Deshalb gelten beide Sammlungen formal den Familien von Täter und Opfer. Vor vier Jahren verprügelte ein Ex-Boxprofi als Gelbweste Polizisten, eine Spendensammlung für Anwaltskosten wurde unterbunden. Damals echauffierten sich ­Regierungsmitglieder: „Scheinbar zahlt es sich aus, Polizisten zu schlagen.“ Diesmal schimpfen Linkspolitiker: „Tötet einen Araber, und ihr werdet Millionär.“

Bis zur Frauen-WM sind Fußballfans auf Entzug gesetzt. Substituieren Sie eher mit Wimbledon oder mit der Tour de France?

Selber mal den Arsch bewegen. Im südmünsterländischen Selm – so weit bin ich mit dem Rad gekommen – gibt es einen schicken neuen ebenerdigen Flächenbrunnen. Rund 30 Düsen schießen aus dem Erdboden unberechenbar Wasser: ein Slalom der Freude.

Der vergangene Montag war der heißeste Tag seit Beginn der Aufzeichnungen. Greift der liebe Gott jetzt zur Brechstange?

Gott ist in der Tat verdächtig, weil sich des Menschen Werk und Gottes Sohn – El Niño, „der Knabe“ – aufs Heißeste vereinen. Es ist also das, was früher mal ein sehr heißer Sommer war, plus das, was heute ein sehr heißer Sommer ist.

Die Anzahl lesbarer Tweets wird eingeschränkt, Meta startet die Konkurrenz-App ­Threads – war’s das mit Twitter?

Quelle          :          TAZ-online           >>>>>      weiterlesen

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Oben     —   Bearbeitung durch User: Denis_Apel –

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Das ewige Bündnis

Erstellt von Redaktion am 9. Juli 2023

Die ewige Nato und der russische Angriffskrieg

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Eine immerwährende Angriffsmaschinerie der westlichen Welt

Nachdenkliches von Stefan Reinecke

Die russische Aggression macht die Nato wichtiger denn je. Und dennoch darf die Kritik am größten Militärbündnis aller Zeiten nicht vergessen werden.

Vilnius liegt 30 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Im Westen sind es keine 200 Kilometer bis zur russischen Enklave Kaliningrad. Die litauische Hauptstadt ist einer der Orte, an denen ad hoc einleuchtet, warum in Osteuropa viele die Nato für eine unverzichtbare Lebens­versicherung halten. Seit Putins Angriffskrieg gegen die ­Ukraine wirkt die gigantische US-Militärmaschine mit ihrer atomaren Overkillkapazität für jene, die in der Nähe russischer Grenzen leben, beruhigend.

Dass der Nato-Gipfel in der nächsten Woche in Vilnius stattfindet, ist ein Zeichen. Putin spekuliert darauf, dass die dekadenten Stimmungs­demokratien im Westen irgendwann die Lust verlieren, Kiew in einem Krieg zu unterstützen, der viel Geld kostet, in dem viel gestorben wird und bei dem kein Ende in Sicht ist. Die Nato wird in Litauen grimmig entschlossen demonstrieren, dass Putin falschliegt. Russland bleibt, auch wenn die wüsten atomaren Vernichtungsdrohungen aus Moskau abgenommen haben, eine Bedrohung über die Ukraine hinaus.

Auch wer kritisch auf die USA schaut, fürchtet derzeit weniger eine entfesselte aggressive US-Außenpolitik als einen isola­tio­nistisch gesinnten, rechten US-Präsidenten, der den atomaren Schutzschirm über Europa einklappen könnte. Die Daseinsbegründungen der Nato nach 1991 waren flüchtig, brüchig und vage. Mal war sie, wie in Bosnien und im Kosovo, ein Instrument, um Bürgerkriege mit zwiespältigem Erfolg zu befrieden. Mal war sie für die Europäer ein Medium des durchweg gescheiterten Versuchs, die brachiale Gewalt und Hybris der US-Politik nach 9/11 einzuhegen.

Alles vergangen und vergessen. Das Bündnis hat wieder einen Gegner und eine moralisch wie strategisch einleuchtende Aufgabe. Die kann man in Abwandlung einer berühmten Bemerkung von Lord Ismay aus den 1950er Jahren so skizzieren: „die Amerikaner drinnen, die Russen draußen halten – und Osteuropa schützen“. Das ist seit dem 24. Februar 2022 so selbstverständlich, dass es kaum ausgesprochen werden muss. Die westliche Allianz verteidigt, glaubt man der Bundesregierung, „Frieden, Demokratie, Freiheit und die Herrschaft des Rechts“. Universalismus gegen Repression. Liberale Werte versus Autokratie. Gut gegen Böse. Ist das Bild so klar? Nur schwarz-weiß und ohne Grautöne? Oder hat der Blick von Vilnius aus auf die Welt Verkrümmungen und blinde Flecken?

Der Westen sollte vorsichtig mit Belehrungen sein

Ehe man die Nato allzu freudig als antiimperialistisches Bollwerk feiert, sollte man sich ins Gedächtnis rufen, dass die westlichen Truppen vor noch nicht mal zwei Jahren aus Afghanistan flohen und ein geschundenes, kriegsverwüstetes Land hinterließen. Das war nach 20 Jahren Erfahrung mit Isaf-Truppen, viel Demokratie- und Menschenrechtsrhetorik noch gewalttätiger, grausamer, elender als zu Beginn der Intervention 2001.

Der Westen neigt dazu, die blutigen Verwüstungen, die er im Irak, in Afghanistan und Libyen angerichtet hat, leichthändig zu verdrängen. In den westlichen Regierungszentralen gibt man das Scheitern der Interventionen von 2001 bis 2021 zwar zu – aber nur nuschelnd und halbherzig. Die Rolle der Nato als globaler Ordnungsmacht wurde stillschweigend ins Regal geräumt – aber kaum selbstkritisch verarbeitet. Das bedeutet für die Zukunft: Falls es opportun erscheinen sollte, kann man mit völkerrechtlich windigen Begründungen und militärischer Gewalt wieder auf ­Regime-Change setzen.

Viele Staaten im Globalen Süden scheuen sich, im Ukrainekrieg Täter und Opfer klar zu benennen. Manche wollen den Import russischen Öls und russischer Waffen nicht gefährden. Andere halten eine dritte Position in dem aufziehenden Konflikt zwischen dem Westen und China/­Russland für günstiger als die Parteinahme für Kiew.

Das muss man kritisieren. Allerdings sollte der Westen Belehrungen in Richtung des Globalen Südens lieber vorsichtig dosieren. Der Westen, der für sich überlegene Moral reklamiert, weckt nicht nur Assoziationen an die koloniale Ära. Auch die Bomben auf Libyen, den Irak und Afghanistan fielen im Namen von Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechten. Im Globalen Süden sind die Erinnerungen daran nicht so schnell ausgebleicht wie in London und Washington. Die Selbstinszenierung der Nato als Garantin von Freiheit und Frieden stößt von Brasilien bis Südafrika daher auf eine gewisse Skepsis.

Darüber aus der Höhe ethischer Überlegenheit den Kopf zu schütteln verdoppelt ein unbegriffenes Pro­blem. Die Erklärungen der Nato in Vilnius werden kristallklar und entschlossen klingen: dauerhafte Unterstützung für Kiew, Verteidigung von jedem Zentimeter der östlichen Staaten. Welche Rolle die Nato in der zerklüfteten, unübersichtlichen globalen Staatenwelt des 21. Jahrhundert spielen wird, ist weniger eindeutig. Ob die europäischen Nato-Staaten den Sidekick im Kampf der USA mit China um die globale Vorherrschaft geben werden, ist offen. Es ist auch möglich, dass sich eher Macrons Kurs einer von den USA weitgehend unabhängigen, auf eigene Interessen fokussierten, weicheren europäischen Chinapolitik durchsetzt.

Ernüchterndes Erbe der Friedensbewegung

Der Westen ist gut beraten, globale Konkurrenzen nicht reflexhaft in das Raster „Demokratie versus Diktatur“ zu pressen und moralisch aufzuladen. 71 Prozent der Weltbevölkerung lebt in Autokratien. Kompromisse lassen sich leichter finden, wenn man Interessen abgleicht – und sich nicht als edler Ritter in Szene setzt.

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Welche Rolle spielt Deutschland dabei? Die Bundesrepublik ist heute mehr als in den letzten 30 Jahren auf die USA und die Nato angewiesen. Die Debatten über europäische Souveränität und Sicherheit ohne Washington sind, was sie immer waren: akademisch.

Eher ernüchternd fällt die Inspektion des Erbes der bundesdeutschen Friedensbewegung der 80er Jahre aus. Die war immer vielfältig und heterogen. Ende der 90er Jahre spaltete sie sich in zwei fundamental entgegengesetzte Teile. Angesichts der Massaker in den Jugoslawienkriegen bildeten die Grünen eine moralisch begründete Pro-Nato-Haltung heraus, die den Antimilitarismus abstreifte wie ein altes Hemd.

2023 unterstützen nur WählerInnen der Grünen mehrheitlich deutsche Kriegsbeteiligungen, wenn diese sinnvoll seien. Unter Anhängern der Union ist es nur ein Drittel, unter denen der SPD ein Viertel. Die grüne Klientel ist auch entschieden für eine wertegeleitete Außenpolitik. In der heraufziehenden internationalen „Wolfswelt“ (Marc Saxer) ist der Westen nur ein Player unter anderen. Ob die grüne Mixtur aus Moral und Militär da ein angemessenes Werkzeug ist, kann man bezweifeln. Es ist klug, Pragmatismus größer als Prinzipien zu schrei­ben.

Auf der anderen Seite existiert eine kleine, teils mit der Linkspartei verbundene Fraktion, die eisern an der linken US-Kritik der 70er und 80er Jahre festhält. Dieser Steinzeit-Antiimperialismus folgt dem Motto, dass der Feind meines Feindes mein Freund sei, und hat Sympathien mit Regimen von Venezuela bis Moskau. Diese Gruppe würde Kiew ohne Wimpernzucken russischen Panzern überlassen. Seit dem 24. Februar 2022 ist diese Oldschool-Anti-Nato-Ideologie endgültig moralisch und politisch bankrott. Es ist kein Wunder, dass die Wagenknecht-Schwarzer-Demo ein One-Hit-Wonder war.

Die Interessensvertretung reicher Staaten

Quelle       :          TAZ-online           >>>>>          weiterlesen 

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Grafikquellen     :

Oben           —     NATO Parliamentary Assembly Pre-Summit Conference in London, 2 September 2014.

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Unten          —       Antikriegsdemonstranten zur zweiten Amtseinführung von George W. Bush am 20. Januar 2005

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Die Degitalisierung:

Erstellt von Redaktion am 9. Juli 2023

Das Hype-Gap

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Manchmal hat es auch einen Vorteil, dass die Verwaltung und das Gesundheitswesen in Deutschland so langsam sind, meint unsere Kolumnistin. Etwa, weil sie dann auch mal die Hypes verschlafen, auf die sonst jeder Dödel schon aufgesprungen ist. Ist das ausnahmsweise mal nicht der Fall, sind die Folgen nämlich verheerend.

Wir sollten mal über Hypes sprechen. Oder die Lücken, englisch Gap, die Hypes in ihrer Wirkung und Wahrnehmung in der digitalen Verwaltung oder dem Gesundheitswesen reißen können. Eigentlich generell bei allem, was einen Funken von Bedeutung im Sinne einer Infrastruktur haben kann.

Ganz im Sinne des Themas dieser Kolumne, der Degitalisierung, geht es dabei nicht um eine befürchtete Hypevergiftung, bei der dann am Ende doch wieder alles gut wird. Nein, hier wird erst mal nichts von alleine gut. Und besser wird es erst durch die Zuwendung auf die Probleme, die mit Hype-Technologien allzu gern überdeckt werden sollen. Aber der Reihe nach.

Der Hype-Zyklus

Bei der Betrachtung von Hypes ist es hilfreich, den sogenannten Hype Zyklus zu verstehen. Er wurde von Jackie Fenn geprägt, einer Analystin bei der Marktforschungsfirma Gartner, und beschreibt den Zusammenhang von zeitlicher Entwicklung und der Aufmerksamkeit für eine neue Technologie. Üblicherweise folgt die Aufmerksamkeit für neue Technologien dabei einer bestimmten Kurve: Nach einem extrem schnellen Anstieg der Aufmerksamkeit zu einem „Gipfel der überzogenen Erwartungen“ durchlaufen Technologien das „Tal der Enttäuschungen“ und kommen über einem „Pfad der Erleuchtung“ zu einem „Plateau der Produktivität“.

Anders gesagt: Auf eine Überschätzung von Technologien folgt nach etwas Frustration eine realistische Wahrnehmung und Einschätzung einer neuen Technologie. Damit in Beziehung steht auch der entsprechend sinnhafte Einsatz eben dieser neuen Technologie. Anfangs wird eine neue Technologie als Lösung aller Probleme gesehen. Nach Enttäuschungen bleibt am Ende zumeist nur ein Bruchteil an sinnvollen Anwendungen dieser neuen Technologie übrig.

Für Gesundheitswesen und Verwaltung gilt dieser Hype-Zyklus auch, nur sehen wir in diesen beiden Feldern meist eine stärkere zeitliche Verzögerung. Das passiert sowohl in der Wahrnehmung neuer Hype-Technologien als auch in der Anwendung. Ein Phänomen, das ich als Hype-Gap bezeichnen möchte und das mehrfach negativ wirkt.

Blockchain-KI-Hypermega-Tech

Um das Wirken von Hype-Gaps in Verwaltung und Gesundheitswesen genauer zu erklären, müssen wir uns leider zwei Technologien zuwenden, die wir entweder (hoffentlich) bereits verdrängt oder (hoffentlich) bereits richtig eingeschätzt haben in ihrer Sinnhaftigkeit oder Unsinnigkeit. Ich spreche von Blockchains und sogenannter Künstlicher Intelligenz.

Es gibt in der öffentlichen Verwaltung nicht besonders viele Blockchain-Projekte. Eine Ausnahme: die Blockchain des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF. Die „Föderale Blockchain Infrastruktur Asyl“ (FLORA) ist eigentlich als „Blockchain-Lösung für die behördenübergreifende Zusammenarbeit im Asylprozess“ gedacht und verspricht eine „Verbesserung der Arbeitsabläufe“ und „eine Reduktion der Anfälligkeit für Prozessfehler“.

Das klingt jetzt erst mal toll. Lässt aber außer Acht, dass diese vermeintlichen Vorteile gar nicht durch den Einsatz von Blockchains allein entstehen oder nur wegen Blockchain allein möglich wären. Schlimmer noch: Durch die Unveränderlichkeit von verketteten Daten-Strukturen wie sie in Blockchains gehalten werden, ergeben sich durch den Einsatz eben jener Technologie Nachteile im praktischen Einsatz. Wie sieht es bei dieser für Geflüchtete relevanten Technologie aus mit einem Recht auf Vergessen? Recht auf Korrektur? In Blockchains ist beides nur mit Umwegen und davon losgelösten Techniken möglich.

Man könnte jetzt das verpönte Wort Datenschutz anbringen, würde dann aber eine Kaskade von Gegenrede à la „Datenschutz verhindert Innovationen“ auslösen. Und am Ende gäbe es zwei Seiten, die isoliert voneinander auf ihrem Standpunkt verharren. Daher zur Nichtsinnhaftigkeit von Blockchains für alles, was mit den Grundrechten von Menschen zu tun hat, nur kurz folgender Aspekt:

Auch bei den Daten von Geflüchteten geht es um die Daten von Menschen. Es mag verlockend klingen, für die Daten von Geflüchteten keine direkte Verantwortung übernehmen zu müssen. Weil die Daten in der Blockchain, also einer dezentralen Datenkette liegen, die rein physikalisch quasi überall und nirgendwo liegt. Am Ende geht es aber auch technologisch darum, Verantwortung für Menschen, deren Grundrechte und daraus abgeleitet Daten zu übernehmen. Eine Blockchain aber ist das genaue Gegenteil von digitaler Verantwortungsübernahme – Hype und damit verbundene vermeintliche Innovation hin oder her.

„Wir lösen das mit KI“

Auch im Kontext sogenannter Künstlicher Intelligenz können Hypes negativ wirken. Beispiel Gesundheitswesen. Hier mag der Eindruck entstehen, dass es durch den Einsatz von KI möglich wäre, analoge Arztbriefe oder Befunde „einfach mit KI“ zu digitalisieren. Dass eine elektronische Patientenakte mit PDFs von eingescannten Papieren und anderen nicht strukturierten Daten kein Problem mehr sei. Dass man einfach mit einer solchen Patientenakte starten könne, den Rest mache ja eine KI.

Nur ist hier abseits vom KI-Hype eines klar festzuhalten: Eine KI, die Texte von Ärzt*innen interpretiert und daraus Befunde mit einer gewissen Fehlerrate ableitet, ist die schlechtere Lösung im Vergleich zu einem klar definierten und von einem Menschen kodierten digitalen Befund. Vermeintliche Innovation und Hype hin oder her.

Der Hype-Gap-Zyklus

In diesen beiden Beispielen zeigt sich auch das Wirken des Hype-Gap. Digitales Gesundheitswesen und digitale Verwaltung in Deutschland möchten ihren technologischen Rückstand aufholen und jetzt am besten mit angesagten und gehypten Technologien auch noch innovativ sein. Dabei sind Verwaltung und Gesundheitswesen aber meistens spät dran im Erkennen von Technologietrends. Es ergibt sich analog zum Hype-Zyklus also meist Phase eins eines Hype-Gap-Zyklus: Verschlafen des Hypes.

Darauf folgt Phase zwei: eine verzerrte Einschätzung der Technologie, die ich als Gipfel der Verkennung bezeichnen möchte. „Die Technik wird das schon lösen.“ Sich bereits abzeichnende Probleme im Einsatz von Hypetechnologien werden oftmals nicht berücksichtigt. Es herrscht auch ein wenig die „Fear of missing out“, also Angst als einzige nicht bei etwas Coolem mit dabei zu sein. „Wenn wir jetzt nicht noch schnell auf den Hype-Zug mit aufspringen, verpassen wir was.“

Weil Projekte in Verwaltung und Gesundheitswesen meist langwierig sind und mehr Zeit in Anspruch nehmen, folgt das lange Tal der Umsetzung, gefolgt von einem Pfad von technischen Schulden. Einmal eingeführte Hype-Technologien in Verwaltung und Gesundheitswesen bleiben da leider oftmals länger als im Rest der digitalen Welt, weil die Laufzeiten von Verfahren länger sind und rechtliche Grundlagen diese Technologien darüber hinaus oft schützen.

Weil sich speziell die Verwaltung aber auch noch besonders schwer damit tut, Fehler nach außen zuzugeben, genießen falsch angewendete Hype-Technologien hier noch mal erhöhten Bestandsschutz. Auch wenn längst klar ist, dass diese Technologien anderswo die eigentlichen Probleme kaum lösen oder, noch schlimmer, mehr Probleme schaffen als sie lösen, lässt man sie nicht los. Sonst müsste man ja zugeben, dass die Idee schlecht war.

Löst eine Hype-Technologie dann das eigentliche Problem nicht und bringt darüber hinaus viele Nachteile mit sich, endet der Hype im Plateau des technischen Rückstands.

Selbstverstärkender Rückstand

Je mehr falsch eingesetzte Hype-Technologien auftreten, desto höher wird der technische Rückstand (und desto verlockender sind wiederum weitere Hype-Technologien). Und leider ist dieser sich selbst verstärkende technische Rückstand die eigentliche Konsequenz des Hype-Gaps. Weil Hype-Technologien auch noch zusätzlich Geld und Zeit binden, bleibt dann meist noch viel weniger Zeit für sinnvolle digitale Basistechnologien oder Infrastruktur.

Eigentlich könnte die etwas träge Art, wie Verwaltung und Gesundheitswesen mit technologischen Trends umgehen, dazu beitragen, Chancen und Risiken von Hypes richtig zu bewerten. Wenn andere Sektoren bereits die Probleme von Hype-Technologien in voller Breitseite abbekommen haben, wäre es töricht, diese Probleme noch einmal durchleben zu wollen. Hype hin oder her.

Vielleicht folgt so auf den Hype-Gap also nicht nur Negatives, sondern ausnahmsweise mal was Positives. Nicht immer muss das vermeintliche Verschlafen von Hypes etwas Schlechtes sein.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —        Ein alter Eisenriegel und ein verrostetes Vorhängeschloss auf wettergegerbten Türbrettern sichern die Türe einer verlassenen Fabrik in Dötlingen, Niedersachsen. Die Originalaufnahme entstand in Mai 1980 auf Kodachrome 25 Farb-Diafilm und wurde in Juni 2018 auf einer spiegellosen Kamera mit einem 42 Megapixel-Sensor digitalisiert.

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Die politischen Schleimer

Erstellt von Redaktion am 9. Juli 2023

Wenn Milliarden locken, werden «westliche Werte» zur Makulatur

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Um Mohammed bin Salman versammeln sich viele westliche politusche Stinker.

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von           :          Pascal Derungs / 

Saudi-Arabiens Herrscher Mohammed bin Salman entlarvt das Gesicht mancher westlicher Schönredner. Der Diktator ist salonfähig.

Der saudische Staatschef trotzt allen Drohungen, ihn zu isolieren. Kronprinz Mohammed bin Salman hat wiederholt den Reichtum und Einfluss Saudi-Arabiens genutzt, um die internationale Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen des Königreichs zu ignorieren. In seinem Artikel vom 10. Juni 2023 berichtet Ben Hubbard in der New York Times über die wundersame Verwandlung Bin Salmans vom «Paria» zum Partner.

Wie aus Moralisten Wendehälse wurden 

Bei seiner Kandidatur für das Weisse Haus hatte Joe Biden geschworen, den saudischen Kronprinzen wegen der Ermordung des Dissidenten Jamal Khashoggi zum «Paria» zu machen. Erst im vergangenen Herbst drohte er dem Prinzen erneut mit «Konsequenzen», sollte er sich den amerikanischen Wünschen in der Ölpolitik widersetzen. Der republikanische Senator Lindsey Graham nannte Prinz Mohammed eine «Abrissbirne», die «niemals eine Führungspersönlichkeit auf der Weltbühne sein» könne.

Jetzt klängen diese Worte hohl, schreibt Hubbard, Präsident Biden habe Prinz Mohammed bei seinem Besuch in Saudi-Arabien per Handschlag begrüsst und schicke regelmässig hohe Beamte zu ihm, einschliesslich seines Aussenministers Antony J. Blinken. Senator Graham habe neben dem Prinzen gegrinst während eines Treffens im April. «Daran sieht man, dass Geld eine grosse Rolle spielt, denn dieser Mann sitzt auf einer Ölquelle und hat so viel Geld, dass er sich im Grunde aus allem herauskaufen kann», zitiert Hubbard den entschiedenen Gegner der Monarchie Abdullah Alaoudh, den saudischen Direktor der «Freedom Initiative», einer in Washington ansässigen Menschenrechtsorganisation.

Der Kronprinz hat gelernt und das Machtspiel durchschaut 

Während seines achtjährigen Aufstiegs zur Macht, so die NYT, habe der 37-jährige Prinz Mohammed immer wieder den Erwartungen getrotzt, dass seine Herrschaft in Gefahr sei, und gleichzeitig den Reichtum des Königreichs, seinen Einfluss auf die Ölmärkte und seine Bedeutung in der arabischen und islamischen Welt genutzt, um wiederholten Drohungen, ihn mit internationaler Isolation zu bestrafen, zu entgehen.

Auf seinem Weg habe er nicht nur seine Vision für die Zukunft Saudi-Arabiens als selbstbewusste Regionalmacht mit einer wachsenden Wirtschaft und grösserem politischem Einfluss geschärft, sondern auch Lehren aus seinen Rückschlägen gezogen, um seine Methoden zur Erreichung seiner Ziele zu verfeinern, so Analysten und Beamte, die Hubbard befragte.

Zumindest im Moment scheine dem Kronprinzen alles gut zu gelingen, stellt Hubbard fest. Die starke Ölnachfrage der letzten Jahre hat die Kassen des Königreichs gefüllt. Es kaufte einen englischen Fussballverein, zahlte eine beachtliche Summe, um Cristiano Ronaldo in seine nationale Liga zu holen, und versucht, immer neue internationale Stars anzuwerben, um das saudische Image aufzuwerten.

Auch im Profi-Golfsport zeichne sich eine prestigeträchtige Partnerschaft ab zwischen der renommierten PGA und der neu gegründeten, von Saudi-Arabien unterstützten LIV Golf Liga, weiss Hubbard. Sollte dieser Golf-Deal zustande kommen, würde ein enger Vertrauter von Prinz Mohammed zu einer der mächtigsten Persönlichkeiten des Sports werden und Saudi-Arabien eine weitere wichtige Plattform bieten, um sein internationales Image zu verbessern.
[Red. Unterdessen ist der Deal zustandegekommen: Wie sich Saudi-Arabien ins Herz des Golfsports einkauft]

Aus dem «jungen Wilden» wurde ein besonnener Staatslenker

Das alles, so die NYT, seien bedeutende Fortschritte für einen jungen Prinzen, der weithin als gefährlicher Emporkömmling gegolten habe, als sein Vater 2015 König wurde. Noch im selben Jahr startete der Prinz eine Militärintervention im Jemen, die enorm viele zivile Opfer forderte und «in einem Sumpf versunken» sei. Später schockierte er die diplomatische Gemeinschaft mit der Entführung des libanesischen Premierministers und versetzte die Geschäftswelt in Schrecken, indem er Hunderte reicher Saudis im Rahmen einer angeblichen Korruptionsbekämpfungsaktion wochenlang in ein Luxushotel sperrte.

Sein internationales Ansehen ging 2018 stark zurück, nachdem ein saudisches Killerkommando den regimekritischen saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Konsulat des Königreichs in Istanbul getötet und zerstückelt hatte. Prinz Mohammed bestritt, von dem Anschlag gewusst zu haben, aber die CIA kam zum Schluss, dass er die Operation wahrscheinlich angeordnet hatte.

Das sei vermutlich sein Tiefpunkt gewesen, schreibt Hubbard. Doch in den folgenden Jahren habe der Kronprinz dank des beträchtlichen Reichtums und der Macht seines Landes einen Grossteil seines Einflusses zurückgewonnen. Schon früh habe er interne Rivalen ausgeschaltet, um seine Kontrolle im eigenen Land zu festigen. Die von ihm angestossenen sozialen Veränderungen, wie die Erlaubnis für Frauen, Auto zu fahren, und die Ausweitung der Unterhaltungsmöglichkeiten in einem Land, in dem Kinos früher verboten waren, hätten ihm Fans unter der Jugend des Königreichs eingebracht.

Staatsoberhäupter von der Türkei bis zu den Vereinigten Staaten, die Prinz Mohammed einst verschmähten, hätten ihn in den letzten Jahren als die Zukunft Saudi-Arabiens akzeptiert, analysiert Hubbard. Der Kronprinz habe auch die Beziehungen des Königreichs zu China vertieft. So habe China Saudi-Arabien zu einem diplomatischen Durchbruch mit dem langjährigen regionalen Rivalen Iran verholfen.

Letztlich gewinnt der lange Atem des Autokraten

Bin Mohammed wisse genau, dass er als «König im Wartestand» in einer Monarchie mit viel Geduld spielen könne. Tatsächlich wird er sich nie zur Wiederwahl stellen müssen, und er hat es bereits mit dem dritten amerikanischen Präsidenten zu tun. Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele weitere kommen und gehen werden, während er im Amt bleiben wird.

Seine «Genesung» von der Khashoggi-Affäre habe gezeigt, dass das Geld des Königreichs einen langen Weg zurücklegen könne und dass, egal wie sehr westliche Regierungen über Menschenrechte reden würden, andere Interessen schliesslich Vorrang hätten, bilanziert Hubbard.

Das Einfordern von Menschenrechten hielten die arabischen Golfstaaten «für einen Witz», zitiert Hubbard Dina Esfandiary, Senior-Beraterin für den Nahen Osten und Nordafrika bei der «International Crisis Group»: «Sie sind sich ihres Wertes für die westliche Welt bewusst, als Partner, als Energieproduzenten, als Länder mit wirtschaftlicher Macht. Also können sie mit dieser leeren Drohung leben, weil sie einfach zur Beziehung gehört.»

Ben Hubbard

Ben Hubbard ist der Leiter des Istanbuler Büros der New York Times. Er hat mehr als ein Dutzend Jahre in der arabischen Welt verbracht, darunter in Syrien, Irak, Libanon, Saudi-Arabien, Ägypten und Jemen. Er ist Autor des Buches «MBS: The Rise to Power of Mohammed bin Salman».

Big Business erringt Vorrang vor Moral und Ethik

Als der Dissident Khashoggi getötet wurde, verteidigte der damalige US-Präsident Trump den Kronprinzen nachdrücklich, indem er unter anderem herausstrich, dass die saudischen Waffenkäufe den Vereinigten Staaten zugutekämen. Auch der republikanische Senator Graham aus South Carolina, der damals sagte, Prinz Mohammed sei nicht geeignet, die Führung zu übernehmen, ist mittlerweile umgeschwenkt, indem er sich bei Bin Salman im April für den Kauf amerikanischer Flugzeuge bedankte: «Sie haben für 37 Milliarden Dollar Flugzeuge gekauft, die in meinem Staat und meinem Land hergestellt wurden», sagte der Senator dem saudi-arabischen Fernsehsender Al Arabiya. Und fügte an: «Als Senator der Vereinigten Staaten behalte ich mir das Recht vor, meine Meinung zu ändern.»

Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, dessen Regierung Einzelheiten über die Ermordung Khashoggis an die Öffentlichkeit durchsickern liess, habe seine Einwände schliesslich fallen gelassen, schreibt Hubbard. «Letztes Jahr übertrug ein türkisches Gericht das Verfahren gegen Khashoggis Mörder an Saudi-Arabien und beendete damit den letzten Prozess, der die Verantwortlichkeit für das Verbrechen sicherstellen sollte». Und er ergänzt vielsagend: «Kurz darauf hat das Königreich der türkischen Zentralbank Einlagen in Höhe von 5 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt, um die türkischen Finanzen zu stützen.»

Die Einflusssphäre der USA schwindet zunehmend

Viele der Entscheidungen von Kronprinz Bin Salman in den letzten Jahren seien durch das wachsende Gefühl innerhalb des Königreichs beeinflusst worden, dass die USA ein unzuverlässiger Partner geworden seien, schreibt Hubbard in der NYT. Der Kronprinz habe es bereits mit drei US-Präsidenten beider Parteien zu tun gehabt, die alle das amerikanische Engagement im Nahen Osten zurückfahren wollten.

Die Risiken eines solchen Rückzugs für Saudi-Arabien seien 2019 deutlich zu Tage getreten, als Drohnen- und Raketenangriffe, deren Orchestrierung die USA dem Iran vorwarfen, saudische Öleinrichtungen trafen und fast die Hälfte der Produktion des Königreichs vorübergehend zum Erliegen brachten. Präsident Trump lehnte damals eine Intervention ab, woraufhin Prinz Mohammed und seine Amtskollegen in den Vereinigten Arabischen Emiraten zum Schluss gekommen seien, dass die USA ihnen nicht mehr den Rücken freihielten und dass sie selbst für ihre Sicherheit sorgen müssten.

Seither sei es unwahrscheinlicher geworden, dass Saudi-Arabien automatisch auf amerikanische Forderungen eingehe, stellt Hubbard in der NYT fest. Bin Salman habe sich geweigert, die westlichen Sanktionen mitzutragen, mit denen der russische Präsident Putin nach der Ukraine-Invasion isoliert werden sollte. Stattdessen habe Saudi-Arabien die Importe von verbilligten russischen Ölprodukten sogar erhöht.

Abschlägig beschieden wurde auch die Forderung der Regierung Biden, die Ölproduktion hoch zu halten, um die Gaspreise in den Vereinigten Staaten vor den Zwischenwahlen im November zu senken. Im Gegenteil: Im Oktober einigte sich das Königreich mit den anderen Mitgliedern des Ölkartells OPEC Plusdarauf, die Produktion stattdessen zu drosseln, um die Preise hoch zu halten.

Doch die von Präsident Biden angedrohten «Konsequenzen» seien nie eingetreten. Das mache deutlich, dass selbst die USA ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Saudi-Arabien für zu wichtig hielten, um sie zu gefährden, analysiert Hubbard.

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte

Die Wahrnehmung, dass sich die USA aus dem Nahen Osten zurückziehen, habe Prinz Mohammed dazu veranlasst, die diplomatischen Beziehungen Saudi-Arabiens auszuweiten, insbesondere zum grössten Rivalen der USA, zu China. China ist der wichtigste Handelspartner des Königreichs und der grösste Abnehmer saudischen Öls. Ben Hubbard schreibt, beim chinesisch-arabischen Gipfeltreffen in Riad im Dezember 2022 hätten die beiden Staatsoberhäupter darüber gesprochen, dass China als Vermittler fungieren könnte, um den Konflikt mit dem Iran zu entschärfen. Tatsächlich sei es bereits einige Monate später zu einem überraschenden diplomatischen Durchbruch gekommen, als Saudi-Arabien und Iran ankündigten, wieder normale diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Laut Hubbard ist dies ein doppelter Gewinn für Prinz Mohammed, der dadurch die Wahrscheinlichkeit eines Konflikts mit seinem Hauptfeind in der Region verringert und gleichzeitig dem US-Rivalen China eine Vermittlerrolle zugespielt habe. Die USA seien aufgrund ihrer eigenen angespannten Beziehungen zu Teheran nicht in der Lage gewesen, eine iranisch-saudische Vereinbarung zu vermitteln.

Vom Saulus zum Paulus?

Mittlerweile würden selbst einige ehemalige Kritiker des Königreichs in Kronprinz Bin Salmans Bemühungen, die Region zu stabilisieren, positive Zeichen erkennen, schreibt Hubbard. Er zitiert Dennis Horak, einen ehemaligen kanadischen Botschafter, der 2018 wegen saudi-kritischen Twitter-Beiträgen von seinem Posten in Riad verwiesen wurde: «Riad baut wieder Brücken und versucht, die Hand auszustrecken und eine konstruktivere Kraft in der Region zu sein».

Die Frage sei nur, ob dies von Dauer sein könne, stellt Hubbard abschliessend fest.

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Grafikquellen        :

Oben      —   Arab leaders, U.S. president Joe Biden and Mohammed (fifth from right) at the GCC+3 summit in Jeddah, 16 July 2022

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Unten           —         Speaking with U.S. president Donald Trump in Washington, D.C., 14 March 2017

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Krawalle in Frankreich

Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2023

Der Zorn aus den Vorstädten

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Aus Paris von Christian Jakob

Ein Teenager starb in Frankreich nach einem Polizeischuss, es kam zu Krawallen. Warum findet das Land keine Antwort auf die Wut der Jugend?

Julien Mari aus Marseille, genannt Jul, ist einer der bekanntesten Rapper Frankreichs. Für sein neues Video „Ragnar“ war er im Mai nach Nanterre gereist. Er versammelte Dutzende junger Männer um sich, sie reckten die Finger in die Höhe, sie fuhren durch diese Vorstadt von Paris, zogen durch die Straßen. „Ich komme von dort, wo man die Mütter schreien hört“, rappt Mari in dem Video.

Bei Minute 5:32 steht ein junger Mann neben Mari: braune Mütze, braune Augen, gesenkter Blick. Als Mari das Video vor einigen Wochen drehte, kannte niemand diesen jungen Mann. Heute ist er das wohl bekannteste Opfer von Polizeigewalt in Frankreich: Nahel Merzouk, Sohn algerischer Einwanderer, am 27. Juni im Alter von 17 Jahren bei einer Polizeikontrolle in Nanterre erschossen.

Zwei Reihen weiter hinten steht in dem Video ein 13-jähriger Junge. Er ist der Sohn von Mornia Labssi. Auch ihre Familie stammt aus Algerien, sie wuchs im selben Viertel auf wie die Merzouks. Eine Woche nach dem Tod Nahels sitzt sie in einem schwarzen Kleid mit goldenen Fingernägeln im Café Voltaire in Paris. Dort arbeitet sie als Arbeitsinspekteurin. Labssi kontrolliert, ob Betriebe Vereinbarungen zu Arbeitszeiten und dem Mindestlohn einhalten.

Sie wusste, dass es ihr Kind war

Mehr als eine Woche nach dem Tod Nahels versucht sie im Café Voltaire noch immer zu begreifen, was geschehen ist. Als die Nachricht vom Tod Merzouks auf Facebook die Runde machte, „waren wir nicht schockiert“, sagt Labssi. „Das passiert dauernd. Wir haben das psychisch in unseren Alltag integriert.“ Doch dann, erinnert Labssi sich, habe ihr Sohn zu ihr gesagt: „Du kennst ihn auch.“ Nahel habe doch als Essenslieferant gearbeitet. Dann verbreitete sich das Video von den Todesschüssen in den sozialen Netzwerken.

Der Polizist hatte die Schüsse fast direkt neben der Präfektur abgegeben. Labssi ging zu dem Ort. Am Mittag lag die Leiche noch abgedeckt auf dem Boden. Nahels Mutter stand an der Absperrung. „Diese Szene werde ich nie vergessen. Sie wusste, dass das ihr Kind war. Aber sie durfte nicht zu ihm. Er war der einzige Sohn. Sie haben zusammen gelebt. Sie hat jetzt nichts mehr.“

Mornia Labssi, Einwohnerin von Nanterre

„Die Polizei tötet, die Justiz macht ihre Arbeit nicht.“

Labssi schaut aus dem Fenster und fängt an zu weinen.

Am Abend gingen sie und ihr Sohn zu Nahels Mutter nach Hause, brachten Essen. Viele Menschen aus dem Viertel waren da.

Von Nahel redeten jetzt alle. Aber es gebe so viele andere, sagt Labssi. „Sie behandeln uns wie Tiere. Als ob wir keine Menschen wären.“

Wen meint Labssi mit „sie“ – die französischen Polizeigewerkschaften, die kurz nach Nahels Tod von „Horden“ sprachen, gegen die sie nun „im Krieg“ seien? Nein, sagt sie, wenn es nur die wären. Der Innenminister Gérald Darmanin habe genauso geredet, sagt Labssi. Sie zeigt auf ihrem Handy einen Artikel: „Il faut stopper l’ensauvagament“, zu Deutsch: „Wir müssen die Verwilderung stoppen“, ist er überschrieben.

„Sie halten uns für Wilde“, sagt Labssi.

Ihr Vater, erzählt sie, habe in Algerien bei der FLN im Widerstand gegen die Franzosen gekämpft. Im Jahr 1971 kam er nach Frankreich, um Arbeit zu finden. Labssi wurde in Nanterre geboren, sie hat sieben Geschwister. Als einzige lebt sie noch in der Banlieue, neben der Wohnung der Mutter. Diese ist 87 Jahre alt, Französisch spricht sie bis heute nicht.

Wer hier wohnt, muss mit Kontrollen rechnen

Wer hier wohne, in der Vorstadt, müsse damit rechnen, mehrmals am Tag kontrolliert zu werden, sagt Labssi. Und immer könne das geschehen, was mit Merzouk passiert ist: „Die Polizei tötet, die Justiz macht ihre Arbeit nicht.“

Seit zwei Jahren ist Labssi im Koordinationsrat der Committees pour la defense des Quartiers Populaires, einem landesweiten Verband der Ban­lieue-Bewohner.

Früher hießen Viertel, in denen Menschen wie sie leben, „Cité“. „Das zeigte, dass dort Bürger wohnen“, sagt Labssi. Die heutigen Worte stehen für etwas anderes: „In der Banlieue wohnen keine Bürger. Dort leben schlechte Eltern und Delinquenten.“

In den Tagen nach den Krawallen hat Labssi Familien junger Festgenommener zu den Gerichtsverfahren begleitet. „Sie klagen sie immer in Gruppen von drei oder vier an“, sagt Labssi. Schnellverfahren in Serie seien das, allein auf Grundlage vager schriftlicher Anschuldigungen in Polizeiberichten. „Die Polizisten machen sich nicht mal die Mühe, zum Prozess zu kommen.“ In einem Fall seien zwei Minderjährige wegen Brillendiebstahls verurteilt worden. „Der einzige Beweis: dass irgendwo in der Nähe eine Tasche mit Brillen gefunden wurde. Das reicht.“

Der rechtsextreme Rassemblement National von Marine Le Pen sage „schon die ganze Zeit, dass die Migranten Islamisten, Gewalttäter und Diebe“ seien. 70 Prozent der Polizisten wählten Le Pen, glaubt Labssi.

Seit 2017 dürfen Polizisten die Waffe auch dann einsetzen, wenn kein Leben bedroht ist und mutmaßliche Straftäter nicht unmittelbar ein Verbrechen begangen haben. „Wie können die das rechtfertigen?“, fragt Labssi. Für sie zeigt das: „Die Exekutive sieht uns nicht als Bürger, sondern als Feinde.“ Und deshalb kämpfe die Polizei gegen die Menschen in den Banlieues „wie gegen eine fremde Armee.“

Gefährliche Entwicklung

Schon vor Jahren hätten antirassistische Gruppen aus den Banlieues gesagt: Was sich entwickelt, ist gefährlich. „Aber es wurde abgetan. Der Repression wurde politisch nicht entgegengetreten.“ So würden Kinder wie ihr eigenes „geboren in ein Land, das sie misshandelt“, sagt Labssi.

Die Antwort des Staates auf die Misere in den Banlieus sei: „Hier habt ihr Geld, macht damit schöne Projekte – und dann bleibt in eurem Ghetto.“ Die seit Jahrzehnten fließenden Subventionen seien „nicht, damit es besser wird, sondern damit wir unter uns bleiben“. glaubt Labssi. Eine Veränderung müsse auf zwei Ebenen ansetzen: auf der juristischen Ebene einerseits und bei der Stadtplanung andererseits. Das repressive Polizeirecht und die ausschließende Architektur der Banlieues: „Das hängt zusammen“, ist Labssi überzeugt.

Sie gehört zu einer Gruppe, die am Dienstag eine Petition gestartet hat, um die Spendensammlung für die Familie des Polizisten zu stoppen, der Nahel Merzouk erschossen hatte. Bis Mittwochnachmittag waren dabei 1,7 Millionen Euro zusammengekommen. „Das ist eine klare politische Botschaft: Wer in Frankreich einen Araber ermordet, wird Millionär“, sagt Labssi. Gegen diese Haltung würden die jungen Leute rebellieren: „Sie sind keine Delinquenten. Wir sind da, wir sind Franzosen und wir akzeptieren das nicht mehr.“

Aber so einfach ist es nicht. Ihr eigener Sohn kommt nun genau in das Alter, in dem er selbst zum Opfer werden kann. Labssi sagt, sie habe deshalb schon darüber nachgedacht, Frankreich zu verlassen.

Den Gedanken hat auch Éléonore Luhaka. Die Tochter eines kongolesischen Luftwaffensoldaten wuchs in Aulnay-sous-Bois auf, einem Vorort im Nordosten von Paris. Auch dort gab es in den vergangenen Tagen schwere Krawalle.

Beamte stellen Blut fest, aber fesseln ihn trotzdem

Im Jahr 2017 wurde ihr Bruder Théo Luhaka von vier Polizisten der Spezialeinheit BST bei einer Personenkontrolle mit Stöcken angegriffen. Auf der Wache bemerkt ein Beamter, dass „er aus dem Arsch blutet“. Die Beamten stellen die Blutspuren auf dem Sitz des Fahrzeugs und auf seiner Hose fest, fesseln Luhaka aber dennoch erst mal an eine Bank. Die Feuerwehr bringt ihn schließlich als Notfall in ein Krankenhaus. Dort diagnostizieren die Ärzte einen zehn Zentimeter langen Riss im After – einer der Polizisten hat einen Schlagstock in Théos Anus eingeführt.

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Der Fall gehört zu den bekannteren Polizeigewaltskandalen der letzten Jahre – auch weil Éléonore Luhaka sich mit dem Vorfall nicht abfinden will.

Der damalige Präsident Frankreichs, François Hollande, kommt ans Krankenbett, hält Théos Hand. Viele Fotos wurden von der Szene gemacht.

Sonst gab es nichts.

Gegen vier der Beamten wurde ermittelt. Der Prozess wurde immer wieder verschoben, Anfang 2024 soll er jetzt beginnen. Der Anwalt Luhakas hat zwischenzeitlich einen Vorschuss auf eine mögliche Entschädigung geltend gemacht, 10.000 Euro gab es. „Wir sollen uns keine Illusionen machen“, habe er gesagt, erzählt Éléonore Luhaka. Viel mehr werde es am Ende nicht werden.

Ihr Bruder ist dauerhaft erwerbsunfähig geschrieben, er bezieht eine kleine Rente. Nach dem Tod von Nahel Merzouk ist Théo mit einem seiner Brüder nach Nanterre gefahren. Er hat die Mutter von Nahel besucht.

Éléonore Luhaka sagt: „Bis heute fahren die Polizisten langsam an unserem Haus vorbei. Wenn Sie meinen Bruder sehen, dann winken sie ihm mit dem Schlagstock. ‚Hallo Théo‘, rufen sie dann.“

Eine Drohung?

„Spott.“

Wie oft kommt das vor?

„Dauernd.“

Sie selbst will das Land verlassen. „Aber nicht als Flüchtling.“ Vorher will sie etwas aufbauen. Bei der Stiftung des Schwarzen US-Schauspielers Forest Whittaker macht sie derzeit eine Fortbildung. Danach will sie ein Projekt für benachteiligte Jugendliche in den Banlieues starten.

Lange Zeit hat er gar nicht gesprochen

Ihrem Bruder habe ein Psychiater Medikamente gegen die Schlafstörungen verschrieben. Eine Psychotherapie konnte er erst vor Kurzem beginnen. Lange Zeit habe er fast gar nicht gesprochen. „Sobald es lauter wurde, hat er sofort die Kopfhörer aufgesetzt.“ Die Wohnung zu verlassen, falle ihm schwer. Eine Reise nach Paris sei für ihn wie eine in ein anderes Land. Deshalb wolle er in Aulnay bleiben. „Das gibt ihm Sicherheit, trotz allem.“

Diskriminierung, sozialer Ausschluss, Polizeigewalt: Bürgermeister Bakthiari glaubt nicht an diese Erklärungen

Sicherheit will auch Zartoshte Bakhtiari. Er ist Bürgermeister von Neuilly-sur-Marne im Südosten von Paris. Auch hier gab es schwere Krawalle. Bakhtiari sieht die Dinge grundlegend anders als die Banlieue-Bewohnerinnen Labssi und Luhaka.

Quelle          :           TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben        —         Vorstadt Le Quartier de la Fauconnière in Gonesse im Norden von Paris

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DIE EINGEHEGTE STADT

Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2023

Unter dem Al-Sisi-Regime verschwindet in Kairo immer mehr öffentlicher Raum

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von Sophie Pommier

Früher traf man sich an der Corniche, um einfach mal frische Luft zu schnappen. Doch damit ist es vorbei, seit die Uferstraße am Nil vor vier Jahren umgestaltet wurde – ausgerechnet unter dem Slogan „Mamshaa Ahl Misr“ (Promenade für die Menschen Ägyptens).

Seitdem gibt es zwei Bereiche: Der eine ist der für alle zugängliche Bürgersteig neben der im Dauerstau vor sich hin stinkenden Autoschlange, vom Volksmund zahma (Marmelade) genannt. Der andere Bereich liegt direkt am Wasser: eine hölzerne Promenade mit Restaurants und Cafés, an der Privatjachten und Wassertaxis anlegen können.

Aber die Promenade ist nicht frei zugänglich. Der Zutritt kostet 20 ägyptische Pfund (60 Eurocent) pro Person – in einem Land, in dem der monatliche Mindestlohn im öffentlichen Dienst bei 3500 Pfund (106 Euro) und im Privatsektor bei 2700 Pfund (82 Euro) liegt. Alle 100 Meter steht ein Ticket­kiosk, und alle 20 Meter eine Überwachungskamera. Sobald man vom Bürgersteig auch nur an das Geländer herantritt, das die Welt der Reichen und Schönen vom gemeinen Volk trennt, wird man von einem Wachmann höflich, aber bestimmt auf Abstand verwiesen.

Vorbei sind die Abende, da man mit Freunden auf Plastikstühlen am Nil saß und den Feluken hinterhersah, die das Ufer mit ihren dröhnenden Musikboxen beschallten. Auch die hölzernen Partyboote sind fast ganz verschwunden, abgelöst durch einen gediegeneren – und exklusiveren – Bootsservice.

„Wegen der Neubauviertel, der Hochhäuser und jetzt auch noch der neuen Uferpromenade sieht man den Fluss überhaupt nicht mehr“, klagt Selim1 , der seine Stadt über alles liebt. Dabei sei der Nil ein Teil der ägyptischen Identität, abgesehen davon, dass er den ganzen Großraum Kairo strukturiere.

Mit dem Eintrittsgeld zur Promenade erwirbt man noch nicht das Recht, eines von den Happy Few frequentierten Restaurants zu betreten oder in einem Lokal ein Glas zu trinken. Auch an der Tür wird streng gesiebt. Selbst wer zur ägyptischen Mittelklasse gehört, wurde in bestimmten Lokalen schon abgewiesen. „Sie wollten mein Facebook-Konto sehen, um mein soziales Umfeld einzuschätzen“, ärgert sich Mona. Die junge Frau berichtet, dass sie um ein Haar nicht reingelassen worden wäre. Mona trägt einen eleganten Hi­dschab, damit wäre sie in einigen exklusiven Resorts an der Mittelmeerküste unerwünscht, in denen Bikinis und Alkoholkonsum die Norm und Kopftücher verboten sind.

Auch die von den Briten übernommene Klubtradition trägt dazu bei, dass die Segregation weiterlebt. In den zahlreichen Offiziersclubs der ägyptischen Armee gibt es seit Langem exklusive Zirkel wie den Klub der Grenzschützer, den Klub der Offiziere der Streitkräfte, den Klub der Sicherheitsoffiziere, den Klub der Polizeioffiziere.

Die hohen Zäune um die Armenviertel sind ebenfalls nichts Neues: Schon zu Mubaraks Zeiten sollte durch  Mauern um die informellen Siedlungen das Elend versteckt werden. Seitdem hat die so­zia­le Polarisierung noch zugenommen. Ägyptens Wirtschaft liegt am Boden, das Land braucht dringend Geld. Den Konsum stützen nur noch die Reichen, für die – nach dem Vorbild der Golfstaaten – immer mehr öffentliche Räume reserviert werden. So entstehen ständig neue Res­tau­rants und Boutiquen und Bankfilialen, für die der Staat, oft in Gestalt der Armee, Mietzahlungen und Gewerbesteuer kassiert.

Die neuen Bars und Restaurants setzen auf einen pseudokosmopolitischen Look. Vor dem London-Café stehen vier Wachen wie vor dem Buckingham-Palast, mit den bekannten roten Uniformen und den schwarzen Bärenfellmützen. Mit solchen Lokalitäten verliert Ägypten immer mehr von seinem einheimischen Kolorit, was langfristig sogar Einnahmen aus dem Tourismus kosten könnte. Doch bisher scheint sich das vom Golf übernommene Konsumkonzept noch zu rechnen.

Vor allem die Armee hat ein vitales Interesse an der neuen urbanen Entwicklung. Ihr gehören nicht nur die Baufirmen, die die Projekte umsetzen. Sie organisiert auch die Bewirtschaftung, was ihr satte Gewinne einbringt.2 In Kairo ist es ein offenes Geheimnis, dass das berühmte Restaurant Séquoia im Zamalek-Viertel an der Nordspitze der Gezira-Nilinsel geschlossen wurde, weil sich die Besitzer nicht mehr vom Militär erpressen lassen wollten. Die Lokalitäten, die an seiner Stelle aufmachten, führt die Armee.

Triumph des Autos über den Flaneur

Der Kairoer Zoo und der angrenzende Botanische Garten wurden dem Militär ebenfalls zur Sanierung überantwortet, inklusive des Nutzungsrechts mit einer Laufzeit von 25 Jahren. Die meisten ärmeren Familien, die hier am Wochenende auf den Wiesen picknicken, werden sich die Eintrittspreise nach der Wiedereröffnung bestimmt nicht mehr leisten können.

Dasselbe gilt für den mehr oder weniger erschwinglichen Teil des größten ägyptischen Freizeitparks: Der Gezira Sporting Club entstand 1882 auf dem Gelände eines Botanischen Gartens auf der Gezira-Insel. Vor allem an den Wochenenden wurden die Eintrittspreise drastisch angehoben.

Und selbst die archäologischen Stätten wurden teilweise privatisiert. Der koptische Medien- und Mobilfunk-Mogul Naguib Sawiris, einer der reichsten Männer Ägyptens, hat im Oktober 2020 ein Restaurant mit Blick auf die Pyramiden eröffnet.

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Da sind wir wieder in der Politik, wo fast alle den gleichen Gestank ausströmen

Auch die Bewohner des eleganten Stadtteils Heliopolis, benannt nach der nahegelegenen altägyptischen Stadt im Nordosten Kairos, sind verunsichert und fürchten um ihr Viertel. Die Gartenstadt wurde Anfang des 20. Jahrhunderts auf Initiative des belgischen Eisenbahnunternehmers Édouard Empain auf 24 Quadratkilometern mitten in der Wüste angelegt, mit breiten Boulevards und modernster Infrastruktur.

Gegen den Bau einer Straße, die Heliopolis mit der zukünftigen ägyptischen Hauptstadt verbinden soll, die Präsident al-Sisi als Leuchtturmprojekt rund 50 Kilometer östlich von Kairo hochziehen lässt, haben hier viele protestiert. Zahlreiche alte Bäume wurden für die neue Trasse schon gefällt; an einigen Stellen wurde die Straße durch die Bauarbeiten völlig blockiert.3

„Meine Mutter ist schon ein bisschen älter, sie traut sich gar nicht mehr aus dem Haus“, erzählt Mahmud, ein Stadtentwicklungsexperte. „Die neue Schnellstraße verläuft direkt vor ihrer Haustür, und sie haben die Bürgersteige einfach entfernt.“ Die neuen Verkehrsachsen zementieren den Triumph des Autos über den Flaneur.4

Bei dieser urbanen „Entwicklung“ geht es aber auch um die sicherheitspolitische Kontrolle des öffentlichen Raums. Bereits nach dem Militärputsch im September 2013 hatte die Stadtverwaltung von Kairo angekündigt, die wichtigsten Plätze im Stadtzentrum umzugestalten. Damit sollte verhindert werden, dass die Versammlungsorte zu Stätten des Protests werden wie der Tahrir-Platz 2011, im Jahr des Arabischen Frühlings.5

Die Reichen haben sich ohnehin längst in ihre privaten Gated Communities am Stadtrand zurückgezogen, wo man sich nur mit dem Auto fortbewegen kann. Und die Armen sollen möglichst in die noch weiter entfernten Vorstädte ziehen, damit man im Stadtzentrum die alten oder ungenehmigt errichteten Häuser abreißen kann.

In den neuen Vierteln, die sich endlos in eine wüstenähnliche Weite ausdehnen, stehen die Betonklötze reihenweise in der prallen Sonne. An der Hauptstraße gibt es ein paar Cafés, Supermärkte und Einkaufszentren – als Treffpunkt alles andere als attraktiv. Und so sitzen die meisten Leute in ihrer Freizeit zu Hause vor dem Fernseher mit seinem weitgehend staatlich kontrollierten Programm, oder sie chatten in den sozialen Netzwerken, in denen das Regime kaum weniger Einfluss hat.

Der gesamte Lebensstil hat sich verändert. In Ägypten hielten sich die Menschen früher, sobald es die Temperaturen zuließen, vorwiegend auf der Straße auf, vor allem während der Abende im Ramadan. In den neuen fernen Stadtvierteln sind die Mo­scheen mittlerweile fast der einzige Ort, an dem man sich noch versammeln kann. Aber auch sie unterliegen einer strengen Kontrolle, was man daran merkt, dass alle Predigten gleich klingen.

Ein Volkspark für die besseren Kreise

Quelle         :  LE  MONDE diplomatique          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben        —         President Sisi speaking at the UK-Africa Investment Summit in London, 2020

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Im Pariser Mai 68

Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2023

„Überall muss das Unglück zurückgeschlagen werden“

Datei:Paris July 1968.jpg

Vieles hat sich verändert – nur die Dummheit der Politiker-innen nicht

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von              :      Hanna Mittelstädt

René Viénet: Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68. Zur Neuherausgabe der deutschsprachigen Ausgabe von René Viénet, Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68 in der Edition AV.

Ein Auszug aus dem aktuellen Vorwort:Schnell! war eine der Parolen, die im Pariser Mai 1968 auf den Mauern auftauchten. Schnell ist auch dieses Buch erschienen. Das französische Manuskript wurde schon Ende Juli 1968 an den Verlag Gallimard übergeben. Es enthält eine genaue Schilderung der Ereignisse mit Schwerpunkt auf Paris und Umgebung (die Universitäten, die Fabriken und Unternehmen) und im Anhang Flugblätter und andere Dokumente. Es ist eine parteiliche Zusammenstellung, keine ausgewogene oder wissenschaftliche Darstellung. Die Texte geben die Unbedingtheit der Forderungen, die Direktheit der Gesten wieder und verströmen die empfundene Dringlichkeit des Projektes, seine ganze Heftigkeit.In deutscher Übersetzung erschien das Buch 1977 in einer einmaligen Auflage in der Edition Nautilus (Übersetzung Pierre Gallissaires und Barbara Merkel) und war seit langem vergriffen. Für die neue Ausgabe konnte die damalige recht rohe Übersetzung bearbeitet und ein neues Vorwort beigesteuert werden.

Die Situationistische Internationale, deren Mitglied der Autor René Viénet seit 1966 war, hatte seit ihrer Gründung Mitte der fünfziger Jahre an einer „Neudefinition der Revolution“ gearbeitet und diese Art einer autonomen Eruption ausserhalb der üblichen Institutionen der Arbeiterbewegung, wie sie im französischen Mai 68 hervorbrach, vorhergesehen. Die Situationisten waren also in gewisser Hinsicht vorbereitet und hatten ein Verständnis von dem, was sich abspielte. Sie hatten ein begriffliches Instrumentarium entwickelt und konnten so in die Unruhe, die sich ausbreitete, praktisch intervenieren.

Dass sich in Frankreich, anders als z.B. in Deutschland, diese Art des Denkens entfalten konnte, lag unter anderem auch an den unterschiedlichen Auswirkungen des gerade beendeten faschistischen Regimes. Während in Deutschland die revolutionären Erfahrungen der Klassenkämpfe durch die extreme Zäsur des Nationalsozialismus, den Angriffskrieg und die rassistische Vernichtungsmaschine abgewürgt waren und die Nachkriegsgeneration mit der Einhegung der grauenbeladenen Schuld beschäftigt war, hatte sich der antifaschistische Widerstand Frankreichs in den hegemonialen Vorstellungen der Résistance kondensiert. Diese Kommandovorstellungen der KPF mit ihrem Heldenpathos galt es nach Kriegsende zu demontieren und statt dessen die Bezüge zur Pariser Commune und zur Räteorganisation aufzufrischen und zu beleben, um zu neuen Aktionsformen und einer neuen Sicht auf die Gesellschaft und ihre Veränderung zu gelangen.

So hatten die Situationistischen im November 1966 eine „vorbereitende“ Aktion unternommen, indem sie mit einigen Studenten der Universität Strassburg eine Broschüre in grosser Auflage publiziert und verteilt hatte, welche die Zurichtung der studentischen Ausbildung auf die kapitalistischen Verwertungsinteressen und das damit einhergehende Elend im Studentenmilieu offenlegte (Über das Elend im Studentenmilieu), das schnell etliche Störmanöver an den Universitäten ausgelöst hatte. Die Eskalation dieser Störungen führte von der Universität Nanterre aus zur Besetzung der Sorbonne, zur Öffnung der Universität für alle, zu Strassenkämpfen im Quartier Latin mit Errichtung von bis zu sechzig Barrikaden, zu Fabrikbesetzungen in ganz Frankreich. Die Chronologie ist in diesem Buch aufgezeichnet.

Schnell griff der Impuls des Widerstands auf alle möglichen Bereiche der Gesellschaft über, von den Student*innen und Arbeiter*innen zu den Fussballern, die ihren Sport von den Bossen zurückverlangten, zu den jungen Ärzten, die die Funktion der medizinischen Ausbildung und Versorgung der Menschen zu Diensten des kapitalistischen Funktionierens denunzierten, die Werbeleute, die die Abschaffung der Werbung forderten, die Angestellten des Medienkaufhauses FNAC, die ohne eigene Forderungen in den Streik traten, um ihre Solidarität kundzutun, die Menschen, die in den umkämpften Vierteln wohnten und freigiebig Essen, Wasser gegen das Tränengas und kurzzeitiges Asyl vor polizeilichen Verfolgungen boten.

Wir sind nichts, wir werden alles! ist die Parole, die eine „jugoslawische Genossin, die viel weiss“, ihrem Text in diesem Buch voranstellte. Sie fordert „Gesten, die keine Bezahlung verlangen; die spontane Organisation in den Händen der Produzenten; die leidenschaftliche Organisation und die Grosszügigkeit als Komplizin …“ Das versteht sie unter der Macht der Arbeiterräte. Die Macht zerstören, ohne sie zu ergreifen, nennt sie „erlebte Poesie“. „Die Revolution kann nur alltäglich sein, wenn man gegen die Faszination der Macht kämpft. Der Wunsch zu beherrschen, bleibt noch das Gesetz des Augenblicks, die Mentalität des befreiten Sklaven, der Schwindel des Gehorsams … die Mystik der Institutionen und die Religion der Ordnung. … Wir sind alle Herren oder wir sind nichts. Unter dieser Bedingung wird die Arbeit ein grosser Lachanfall oder alles. Es lebe die Macht der Arbeiterräte. Nieder mit der jugoslawischen Selbstverwaltung.“

Es versteht sich von selbst, dass der neue Begriff von „Selbstverwaltung“ nicht bedeutete, das Vorhandene oder hierarchisch Bestimmte selbst zu verwalten, sondern autonom zu entscheiden, was und wie gemeinsam verwaltet, oder eher organisiert, produziert, gelebt werden soll. Die generalisierte Selbstverwaltung bedeutete im Sprachgebrauch der Situationisten nichts weniger als die bewusste Bestimmung des gesamten Lebens durch alle, d.h. die geschichtliche Konstruktion der freien individuellen Beziehungen, in der die Räte die einheitliche und permanente individuelle und kollektive Emanzipation ermöglichen, indem sie das Imaginäre der Geschichte verwirklichen. Jeder revolutionäre Moment führt zur sofortigen Steigerung der Lebenslust, und aus jeder praktischen Aktion filtert sich die theoretische Verbesserung (und umgekehrt). Die Selbstverwaltung ist Mittel und Zweck des Kampfes, Form und Inhalt, sie ist die Materie, die sich selbst bearbeitet.

Lauf schneller, Genosse, die alte Welt ist hinter dir her!

Im französischen Mai 68 war die Bewegung der Besetzungen (mit 11 Millionen wild, d.h. spontan und ohne das Einverständnis und die Struktur von Gewerkschaften und linken Parteien streikenden Arbeiter*innen) das grösste revolutionäre Ereignis seit der Pariser Kommune. Es war der erste wilde Generalstreik der Geschichte, und in diesem Monat Mai bildeten sich erneut Strukturen der direkten Demokratie heraus (Vollversammlungen, jederzeit abrufbare Delegierte, Aktionskomitees, Besetzungskomitees). Die Staatsmacht wich in einem heute kaum mehr vorstellbaren Mass zurück. Dieser Nullpunkt der Macht dauerte nur einen kurzen Moment, dann vereinigten sich die Führungskräfte der Alten Welt zum Gegenschlag, und die Besetzungen wurden mit allen Mitteln aufgelöst: Versprechungen, Lügen, militär-polizeiliche Gewalt. Seit den weltweiten sozialen Infragestellungen der „Alten Welt“ der späten sechziger Jahre verschärfte diese ihre Verteidigungslinien in Form von Kriegsmaschinen, die keinen Nullpunkt mehr zulassen sollen und die dabei sind, ihre Herrschaft auf den gesamten Menschen (physisch und mental) auszudehnen.

Die „Alte Welt“, das war damals die Welt der Familie, der Religion, der Konventionen, die Identifizierung mit der gesellschaftlichen Rolle, die vorhandenen und verknöcherten Institutionen des Klassenkampfes. All das wurde im Moment des Aufstands über den Haufen geschmissen, mit grosser Wucht und wenig praktischen Erfahrungen, was sicher die Schwäche dieses Aufstands wie vieler anderen gescheiterten Aufstände ausmacht.

Was andererseits die Stärke dieses Aufstands (und vieler anderer ebenso) auszeichnet, ist das spontane Wissen, dass alle Entfremdungen zusammen und gemeinschaftlich abgelehnt werden müssen, dass keine Ideologie mehr Gültigkeit hat und dass alle alten Institutionen ausgedient haben. Das Verlangen nach direktem Dialog, nach dem freien Wort, nach echter Gemeinschaft schuf sich in den besetzten Gebäuden Raum, die verhasste entfremdete Arbeit wurde für wenige Wochen ersetzt durch das Spiel und das Fest und die praktische Solidarität. „Ein Hauch von Wahnsinn lag in der Luft“, beschrieb Le Monde die Atmosphäre. Frauen und Männer, Franzosen und Menschen aus anderen Ländern kämpften spontan und gemeinschaftlich. Sie waren nicht mehr getrennt nach Hierarchien, Funktionen oder Rollen, sie kommunizierten in einer gemeinsamen Raum-Zeit. Die kapitalisierte Zeit stand still.

Wütende aller Länder, vereinigt euch!

Der Text René Viénets und die Dokumente im Anhang, ihr Ton (grossmäulig, zumeist männlich, heftig, ungezügelt etc.) und ihre Angriffslust mögen für viele eine Zumutung sein, damals wie heute. Sie zeigen uns heutigen Lesenden den Unterschied auf zum aktuellen Diskurs in einer „gezügelten“ Sprache. Sie öffnen einen geschichtlichen Raum: So fing es an, hier stehen wir heute. Wir haben an Sensibilität gewonnen, an Achtsamkeit, an Vorsicht, Rücksichtnahme, Respekt vor Schwächen, Blick auf Diversitäten. Aber wir haben auch verloren, die Wertschätzung des Negativen als Kraft der Aufhebung, d.h. der echten Veränderung, das Bewusstsein über die Notwendigkeit des Bruchs, die Verweigerung und die klare Sicht auf unsere Einbindung in die Gesellschaft des Spektakels, in die Logik der Ware, auf welcher Stufe ihrer Hierarchie auch immer.

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Das, was die Situationisten die „totale Emanzipation“ nannten, die universelle und einheitliche Befreiung ohne jede Trennungen, ist fast gänzlich aus der Debatte verschwunden. Seitdem die „Überflussgesellschaft“ durch den kapitalistischen globalen und totalen Extraktivismus zu einer Gesellschaft des Ausnahmezustands geworden ist, die ständig im Modus von Katastrophe, Krieg und Kollaps operiert, fordert die ideologische Zurichtung ein verstärktes Zusammenstehen, um die permanente Krise zu bewältigen. Wir sollen nun die Welt, wie sie ist oder wie sie vermeintlich einmal war, durch Verzicht und ständige Anpassung an die weiterentwickelten Ausbeutungsformen gemeinsam retten. Der damals so heftig vollzogene Bruch mit der „Alten Welt“ der hierarchischen Ausbeutung kann uns noch einmal vor Augen führen, wie total oder auch totalitär die aktuellen Klassenverhältnisse auf die Menschen zugegriffen haben, wie weit sich das „Spektakuläre“ von einer äusserlichen Entfremdung in den Menschen hineingefressen hat. So dass es heute noch klarer als damals ist, dass alles zusammenhängt und alles „total“ und einheitlich, d.h. universell verändert werden muss.

Es ist kein Wunder, dass die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich 2018, genau sechzig Jahre nach dem Mai 68 und mitten in einem sich seit Jahren im Ausnahmezustand befindlichen Land, die Spur der „wilden Streiks“ und der „wilden Demokratie“, der wilden Organisations- und Aktionsformen wieder aufgenommen hat. Und dass sie wie ein Gespenst der Revolution wieder aufgetaucht ist, das die herrschende Klasse zu sofortiger und brutaler Bekämpfung durch ihre Anti-Aufstandseinheiten und durch permanente mediale Denunziation veranlasste. Die Schmach der staatlichen Schwäche im Mai 68 sollte sich nicht wiederholen. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass das, was im Mai 68 einen Monat angehalten hat, bei den Gelbwesten mehr als ein Jahr andauerte, und dass die Formen der Aktionen und Vernetzung erheblich weiterentwickelt wurden. So konnte in der Gegenwart die Vergangenheit verbessert und die Tür zum verdrängten Imaginären wieder einen Spalt geöffnet werden.

Da sich die Lebensverhältnisse im Modus von Krieg und Krise nicht verbessern lassen, sondern weiter verschlechtern werden, werden auch Verweigerung und Bruch wieder wichtige Impulse werden. Autonome Strukturen des Gemeinsamen zu finden, d.h. menschliche Sicherheit und Fürsorge, planetare Nachhaltigkeit, Gesundheit für alle, Freiheit der Vielen Verschiedenen, den globalen Schutz der menschlichen und ökologischen Singularitäten in einer Gesellschaft ohne Ausbeutung zu gestalten, das heisst, die „Bewegung des Kommunismus“ als ein ständiges Werden anzugehen. Und vielleicht können die Unverschämtheit der Thesen dieses Buches, ihre Grossmäuligkeit und Frechheit uns heute, mit dem Abstand von sechzig Jahren, ein grosses Lachen schenken, das Lachen, von dem die jugoslawische Genossin, die viel weiss, sprach und das uns die Möglichkeiten einer Öffnung in eine gänzlich andere Welt aufzeigt, in unsere Autonomie und Selbstbestimmung jenseits der spektakulären Warengesellschaft.

René Viénet: Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen im Pariser Mai 68. Edition AV, Bodenburg 2023. 281 S., ca. 24.00 SFr., ISBN 978-3-86841-292-5.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —      Posters on a wall – the remnants of May 1968.

Urheber Robert Schediwy           /        Quelle    :     Selbst fotografiert    /      Datum       :    Juli 1968

Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 nicht portiert“ lizenziert.

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Unten     —         Antikriegsdemonstration in den USA, 1968

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Kolumne * FERNSICHT Polen

Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2023

Der politische Nutzen eines toten Teenagers

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Von  :  Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz

Als Teenager reisten wir nach Frankreich, England und Deutschland, um zu arbeiten und um Sprachen zu lernen. Zu dieser Zeit fuhren die Bürger Mittel- und Osteuropas, die nur wenig Geld zur Verfügung hatten, meist mit dem Bus. Eine solche Reise dauerte viele Stunden inklusive eines langen, erzwungenen Halts an der polnisch-deutschen Grenze.

Zu dieser Zeit war Polen weder Mitglied der EU noch des Schengenraums, sodass man geduldig die Passkontrolle ertragen musste. Uns frustrierte es, dass wir nicht Teil dieses Europas waren. Zugleich waren wir überzeugt, dass es sich lohnt, an dieser Grenze zu warten.

Heute hingegen versuchen populistische Parteien zu beweisen, dass der Westen bestenfalls verachtenswert sei. Dass er die Freiheit, die er genießt, missverstehe. Mehr noch: Sogar die Gegner des Populismus übernehmen diese Rhetorik, um die Aufmerksamkeit der Wähler zu gewinnen. Die Frage ist, wie sich das auf die Gesellschaft auswirken wird.

Ein gutes Beispiel ist die Antimigrations­rhetorik. Nachdem in Frankreich ein Teenager von der Polizei erschossen wurde und daraufhin schwere Unruhen ausbrachen, reagierten die osteuropäischen Länder ziemlich seltsam. Die Unruhen in den französischen Vorstädten haben in die polnische Politik eingegriffen. Der demokratische Oppositionsführer ­Donald Tusk erklärte in den sozialen Medien: „Wir sehen schockierende Szenen von den gewalttätigen Unruhen in Frankreich.“ Und fügte hinzu, dass die Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen eine Politik der Masseneinwanderung betreibe, in deren Rahmen Bürger aus muslimischen Ländern im vergangenen Jahr 135.000 Arbeitserlaubnisse erhalten hätten.

Unterdessen äußerten Vertreter der Regierungspartei unverhohlen Freude über die Krise, die die Menschen in Frankreich gerade durchleben. Es sei ein „unbestreitbares Fiasko der Migrationspolitik“, argumentierte Jan Dziedziczak, der Bevollmächtigte der polnischen Regierung im Ausland. „Frankreich steht in Flammen und leidet unter den Folgen einer fehlgeleiteten Politik der offenen Tür“, schrieb Regierungssprecher Rafał Bochenek. Es fällt schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass zumindest einige dieser Äußerungen eine besondere Art von Schadenfreude widerspiegeln. Hier ist endlich der Westen im Unrecht. Dieser große Westen, den wir einst anstrebten, macht endlich auch mal Fehler und muss nun die Konsequenzen tragen.

Es geht hier jedoch um etwas Tieferes. Niemand bezweifelt, dass Europa, sowohl im Osten wie auch im Westen, heute mit strukturellen Problemen konfrontiert ist, die den Wohnungsmarkt, den Arbeitsmarkt und verschiedene Formen der Ungleichheit betreffen; und dass allgemein die Befürchtung herrscht, dass wir nicht einer besseren, sondern einer schlechteren Zukunft entgegengehen.

Quelle          :          TAZ-online          >>>>>          weiterlesen 

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Die Hölle auf Erden

Erstellt von Redaktion am 7. Juli 2023

Es gibt gute Gründe, Afghanistan zu helfen. 

Ein Debattenbeitrag von Theresa Breuer

Aber den Preis zahlen die Frauen und Mädchen. Für sie gibt es unter den Taliban keine Freiheit. Am Tag 1 ihrer Herrschaft schafften die Taliban das Frauenministerium ab und schlossen Mädchenschulen.

Kaum ein Land auf dieser Welt behandelt Frauen so schlecht wie das Taliban-Regime. In weniger als zwei Jahren haben die selbsternannten Gotteskrieger die Hölle auf Erden geschaffen. Nichts anderes hatten sie angekündigt. Die Taliban leben ihre menschenverachtende Geisteshaltung. Ihren Worten lassen sie Taten folgen – im Gegensatz zu unserer Bundesregierung.

Am Flughafen von Kabul spielten sich apokalyptische Szenen ab, als die Taliban im August 2021 in Kabul einmarschierten. Zehntausende Menschen versuchten zu fliehen, klammerten sich in ihrer Verzweiflung an Flugzeuge und stürzten in den Tod. Die Welt war entsetzt. Trotzdem mahnten konservative Politiker in Deutschland, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

Nach der Bundestagswahl im Herbst 2021 kündigte Außenministerin Annalena Baerbock an: „Viele Menschen leben in täglicher Angst. Das gilt besonders für diejenigen, die mit uns für eine bessere Zukunft Afghanistans gearbeitet, daran geglaubt und sie gelebt haben. Am schwersten ist die Lage für die besonders gefährdeten Mädchen und Frauen. Gegenüber diesen Menschen haben wir eine Verantwortung, und wir werden sie nicht im Stich lassen.“ Die Ampelregierung beschloss ein Aufnahmeprogramm für gefährdete Afghaninnen und Afghanen. Es sollte gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgearbeitet werden. Die Zusammenarbeit war ein einziges Debakel.

Monatelang ließ das Innenministerium auf sich warten, bis Gefährdungskriterien für das Programm veröffentlicht wurden. Das Geschlecht allein hätte gereicht. Die Zeit raste. Schon am Tag 1 ihrer Herrschaft schafften die Taliban das Frauenministerium ab, schlossen Mädchenschulen und schlugen die anschließenden Proteste nieder.

Trotzdem hatten die Vereinten Nationen gehofft, die Taliban zur Einsicht bringen zu können. Ohne Erfolg. Im Mai verkündeten die Taliban die Burka-Pflicht. Frauen sollten ab sofort nur noch im Ganzkörperschleier das Haus verlassen dürfen. Das Gewand schränkt Sicht und Bewegungsfreiheit ein, es gleicht einem Gefängnis aus Stoff. Auf die Ankündigung folgte ein internationaler Aufschrei. Der Erlass war provokativ und völlig überflüssig. Die Burka ist keine Erfindung der Taliban. In vielen Teilen des Landes gehen Frauen ohne Burka nicht aus dem Haus – sofern es ihnen überhaupt erlaubt ist, das Haus zu verlassen. Warum ein Gesetz erlassen, das ungeschrieben seit Generationen gilt?

Ganz einfach, weil sie es können. Die selbsternannten Gotteskrieger haben eine Weltmacht gedemügt und bloßgestellt. Von den hehren Motiven, mit denen die USA und ihre Verbündeten den Krieg rechtfertigten, ist nicht viel übrig geblieben. Der überhastete Abzug ist zum Sinnbild westlicher Scheinheiligkeit geworden. Nun herrscht ein Terrorregime, mit dem der Westen nicht verhandeln will, es aber auch nicht ignorieren kann. Zu viel Elend würde die Aufmerksamkeit wieder auf Afghanistan lenken, Fragen von Schuld und Verantwortung aufwerfen. Niemand hat ein Interesse daran, Bilder von hungernden Kindern zu produzieren. Das ist verständlich, aber verschlimmert das Problem. Wir helfen dem Taliban-Regime zu überleben und opfern dafür die Frauen.

Das System der Taliban ist perfide. Indem der Erlass nicht Frauen selbst, sondern ihre männlichen Angehörigen bei Verstößen bestraft, macht es alle Männer in Afghanistan zu Komplizen der Taliban. Sie sind für das Verhalten ihrer Frauen verantwortlich, müssen dafür sorgen, dass die weiblichen Angehörigen die Regeln der Taliban befolgen. Der Erlass beraubt Frauen jeglicher Autonomie, gibt ihnen keine Chance mehr, sich gegen­ die Vorschriften aufzulehnen oder bei Widerstand ins Gefängnis zu gehen. Das Gesetz entmenschlicht Frauen, degradiert sie zu Eigentum ihrer männlichen Verwandten. Es schränkt nicht nur die Freiheit von Frauen ein, es gibt vor allem Männern in der Gesellschaft uneingeschränkte Macht.

Kaum eine Frau in Afghanistan wird sich einer Regel widersetzen, wenn am Ende nicht sie selbst, sondern ihr männlicher Vormund dafür bestraft wird. Wenn es doch eine Frau wagen sollte, wird sie wahrscheinlich keine Märtyrerin für Frauenrechte, sondern nur ein weiteres Opfer von häuslicher Gewalt. Afghanistan galt auch vor der Herrschaft der Taliban als eines der schlimmsten Länder für Frauen weltweit. Frauen werden von männlichen Angehörigen geschlagen, verstümmelt, mit Säure überschüttet und in Brand gesetzt. Als ein guter Ehemann gilt allein ein Mann, der seine Frau nicht grundlos schlägt.

Die Taliban machen es einem leicht, Afghanistan zu vergessen. Sie begehen keine Massaker und ziehen auch nicht plündernd oder vergewaltigend durch das Land. Sie schränken Rechte ein. Die internationale Staatengemeinschaft fordert, das zu unterlassen. Die Taliban unterlassen es, dieser Forderung nachzukommen.

Quelle          :           TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben      —      Afghanistan collage, from left to right: 1. Bamyan province, 2. The Salang Pass between Parwan and Baghlan provinces, 3. Band-e Amir National Park in Bamyan province, 4. River in Nuristan province.

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Grün als Bedrohung :

Erstellt von Redaktion am 7. Juli 2023

Warum die Klimapolitik die Arbeiter verliert

Von Klaus Dörre

In der April-Ausgabe analysierte der Soziologe Sighard Neckel, wie der Reichtum einer globalen Verschmutzerelite das Klima ruiniert. An die Gerechtigkeitsfrage anknüpfend beleuchtet sein Kollege Klaus Dörre, inwieweit der persönliche Klimafußabdruck von der jeweiligen Klassen- position abhängt und welche Resonanz die deutsche Klimapolitik in der Arbeiterschaft hervorruft.

Auf die Frage, wie er die Klimabewegung einschätze, antwortet ein Arbeiter und angehender Vertrauensmann der IG Metall: „Als gefährlich!“ Gefährlich, weil sie die dem Befragten eigene Vorstellung eines guten Lebens bedrohen – und so in eine harte Ablehnung ökologischer Politik umschlagen könne, wie wir sie momentan auch zum Beispiel in der Debatte um die Wärmepumpen erleben. Daran zeigt sich: Ohne eine echte Auseinandersetzung über Klimagerechtigkeit – und wie diese herzustellen sei – wird die Klimakrise nicht zu bewältigen sein.

Als demokratischen Klassenkampf hatte einst Ralf Dahrendorf tariflich und arbeitsrechtlich geregelte Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit bezeichnet. Den institutionalisierten Kampf um die Verteilung des gesellschaftlich erzeugten Mehrprodukts von Arbeit gibt es noch immer. Doch mit Blick auf Klimawandel, Artensterben und Ressourcenknappheit hatte er, so schien es, seine gesellschaftsprägende Kraft mehr und mehr verloren. „Not ist hierarchisch, Smog demokratisch“, hieß es vor jetzt bald 40 Jahren in Ulrich Becks „Risikogesellschaft“, sprich: Unter der Klimakrise leiden alle gleichermaßen. Doch das war schon damals eine Fehlannahme.[1]

Gewiss, ökologische Großgefahren wie die des Klimawandels betreffen alle, aber eben nicht in gleicher Weise und sie machen auch nicht alle gleich. Im Gegenteil: In Gesellschaften, in denen der demokratische Klassenkampf öffentlich marginalisiert wird, kann sich, so meine These, der ökologische Gesellschaftskonflikt in einen Modus ideologischer Beherrschung verwandeln – und zwar gerade, wenn auch nicht nur, der ökonomisch Schwachen. In Klassenlagen, die von den Zwängen des Lohns und der Lohnarbeit geprägt werden, löst das massive Widerständigkeiten aus, die als gewaltiger Bremsklotz für Nachhaltigkeit wirken und letztlich populistischen, antiökologischen Bewegungen Auftrieb verleihen.

Nehmen wir dafür ein Beispiel aus unseren laufenden Erhebungen in der Auto- und Zulieferindustrie, nämlich den oben bereits erwähnten Arbeiter, der die Klimabewegung als gefährlich einschätzt. Er bezeichnet sich selbst als „Autonarr“, der große Freude dabei empfindet, seinen PKW auf „weit über 220 km/h zu tunen“, um auf der Autobahn Teslas zu jagen, bis diese „mit überhitztem Motor von der Spur müssen“. Sein Hobby kann er sich leisten, weil er bei Opel arbeitet. Das heißt für einen Beschäftigten, der in Gotha lebt: um 3:20 Uhr aufstehen, damit pünktlich zur Frühschicht um 5:30 Uhr gearbeitet werden kann; Tätigkeit in 50-Sekunden-Takten; die Arbeitszeit unterbrochen von zwei Neun-Minuten-Pausen und einer 23-Minuten-Mittagspause; eine Stunde vor der Mittagspause „ist man platt“.[2]

Warum ist der Befragte bereit, diese monotone, körperlich enorm belastende Arbeit jeden Tag auszuführen? Er nennt dafür drei Gründe – 3800 Euro brutto, für Arbeiter in Thüringen ein Spitzenverdienst; Kolleginnen und Kollegen, die für ihn „wie eine Familie“ sind und schließlich der Schutz durch einen Tarifvertrag und einen starken Betriebsrat – also aufgrund von Sozialeigentum, das im Osten der Republik alles andere als selbstverständlich ist. Kurzum: Die Zwänge des Arbeitslebens nimmt der Befragte letztlich vor allem deshalb in Kauf, um in seiner Freizeit, wie er sagt, wirklich frei zu sein. Wie er lebt, was er nach der Arbeit macht, will er sich unter keinen Umständen vorschreiben lassen. Und das schon gar nicht von Leuten mit privilegiertem Klassenstatus, die von „Bandarbeit nichts wissen“, sich aber moralisch überlegen fühlen. Das ist der Grund, weshalb der angehende Vertrauensmann die Klimabewegung und vor allem die grüne Partei als Gegner betrachtet.

Hinzu kommt: Angehörige der Arbeiterklasse nehmen sich selbst häufig als – mehrfach abgewertete – Statusgruppe wahr. Arbeiter wird man nur, wenn man es muss; wer kann, „studiert oder geht ins Büro“. Lebt man im Osten, auf dem Land und ist ein Mann, wird die Abwertung und öffentliche Nichtbeachtung der eigenen Lebensweise umso schmerzlicher erfahren.

»Hauptursache für die steigende Emissionslast sind die Investitionen und nicht der individuelle Konsum.«

All das sind Gründe dafür, weshalb die imaginäre Revolte einer radikalen Rechten, die den Klimawandel leugnet oder stark relativiert, mit ihrer fiktiven Aufwertung des Lebens „normaler“ Arbeiter sich inzwischen selbst bei Gewerkschaftsmitgliedern Gehör verschaffen kann. Man rebelliert dabei gegen einen Modus ideologischer Beherrschung, der sich in unterschiedlichen Facetten in zahlreichen Segmenten der neuen Arbeitswelt findet.

Dabei sind, wie unsere Untersuchungen ebenfalls belegen, Klimawandel, Artensterben und andere ökologische Großgefahren selbst in den untersten Klassensegmenten subjektiv durchaus relevant. Allerdings – und das ist das zentrale Problem – verschwindet die soziale Dimension von Nachhaltigkeit im öffentlichen Diskurs fast völlig.

Dabei hängt der persönliche Klimafußabdruck eindeutig von der jeweiligen Klassenposition ab, wie Lucas Chancel in seiner jüngsten Untersuchung über soziale Ungleichheit und klimaschädliche Emissionen gezeigt hat. Die Emissionen der ärmeren Bevölkerungshälfte in Europa und Nordamerika sind zwischen 1990 und 2019 um mehr als ein Viertel zurückgegangen, während sie in den (semi-)peripheren Ländern im gleichen Ausmaß zugenommen haben. Das heißt, die untere Hälfte der Einkommens-/Vermögensgruppen in Europa und Nordamerika hat Werte erreicht, die sich denen der Pariser Klimaziele für 2030 mit einer jährlichen Pro-Kopf-Emissionslast von etwa zehn Tonnen in den USA und etwa fünf Tonnen in europäischen Ländern zumindest annähern oder diese gar erreichen. Die wohlhabendsten ein Prozent emittierten 2019 hingegen 26 Prozent mehr als vor 30 Jahren, die reichsten 0,01 Prozent legten gar um 80 Prozent zu.[3]

Hauptursache für die steigende Emissionslast sind dabei die Investitionen und nicht der individuelle Konsum.[4] Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass Produktions- und Investitionsentscheidungen in der Regel nur von Mitgliedern herrschender Klassenfraktionen, also von winzigen Minderheiten getroffen werden (nach unserer Heuristik 1,2 Prozent). Diese Entscheidungen beeinträchtigen jedoch das (Über-)Leben vor allem derjenigen Klassen, die zum Klimawandel am wenigsten beitragen und die unter den Folgen der Erderhitzung am stärksten leiden.

Die Autoindustrie liefert dafür glänzendes Anschauungsmaterial. So haben die in der Bundesrepublik ansässigen Endhersteller im Herbst 2022 trotz Inflation, Chipmangel und gestörter Lieferketten ein „Traumquartal“ erlebt. Ihre Gewinne machten sie hauptsächlich mit hochpreisigen, spritfressenden bzw. energieintensiven Luxuslimousinen und SUVs. Preissteigerungen können in diesem Segment problemlos an die Kunden weitergegeben werden. Da die Großgruppe der Reichen und Superreichen künftig noch wachse, sei es eine herausragende Leistung der deutschen Automobilhersteller, in diesem Bereich die Spitzenposition zu besetzten; so würden Arbeitsplätze gesichert, argumentiert das Vorstandsmitglied eines großen Endherstellers im Interview.

Die Realerfahrung vieler Beschäftigter in den Karbonbranchen ist jedoch eine völlig andere. Bereits jetzt gehen Arbeitsplätze in erheblichem Ausmaß verloren. Allein die Umstellung auf E-Motoren könnte in Deutschland mehr als 250 000 Jobs kosten. Ob neue Arbeitsplätze, die es in diesem Bereich zweifellos auch geben wird, hierzulande entstehen, ist hingegen eine offene Frage.

Quelle        :         Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben      —     9ª Expo de Carro Antigos – Porsche 911 Targa

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Der Mensch Heinrich Heine

Erstellt von Redaktion am 7. Juli 2023

Heinrich Heine, Jude und Deutscher

(2) Grab Heines auf dem Nordfriedhof in Paris

Quelle     :      Streifzüge ORG. / Wien 

von Hermann Engster

Von Heine wird gesagt, dass er ein in sich zerrissener Mensch gewesen sei. Heine war nicht zerrissen, sondern er wurde es, weil ihm das Verlangen, Jude und Deutscher zugleich zu sein, verwehrt wurde. Es war Deutschland, das ihn zerriss.

Düsseldorf, wo Heine 1797 geboren wird, ist eine beschauliche Stadt, in deren Kern 13.000 Menschen leben, Köln ist dreimal so groß, Hamburg zehnmal. Dort wächst er mit drei weiteren Geschwistern in einem bürgerlichen Milieu auf. Die Eltern erziehen ihre Kinder im jüdischen Glauben, orientiert an der Haskala, der jüdischen Aufklärung, gleichwohl geprägt von tiefer Religiosität.

In Düsseldorf herrscht dank der französischen Besatzung ein liberales Klima, doch wird es mit dem Sieg über Napoleon erkalten. Das preußische Judenedikt von 1812 auf der Grundlage der Hardenberg’schen Reformen hat den Juden einige bürgerliche Freiheiten gebracht, doch haben die Behörden sie nur unwillig umgesetzt, und in der Bevölkerung ändert sich am Judenhass nichts.

Die Metternich’sche Restauration errichtet aufs Neue die alte Fürstenherrschaft. Auf der Grundlage der Karlsbader Beschlüsse wird der unter preußischer Vormacht stehende Deutsche Bund im Verein mit Österreich zu einem Polizeistaat, in dem Überwachung und Verfolgung herrschen. Von den sog. Demagogenverfolgungen sind viele Tausende betroffen, die sich für demokratische Rechte einsetzen: Künstler, Intellektuelle, Handwerker, Arbeiter; sie werden in den Kerker geworfen oder flüchten ins Exil, in das freiere Frankreich und in die Schweiz, unter ihnen auch Jüdinnen und Juden, die von der demokratischen Bewegung, die in Teilen sogar eine sozialistische ist, auch für sich Freiheitsrechte erhoffen. Das mobilisiert den Antisemitismus.

Das Ungeheuer regt sich

1819 erscheint das Pamphlet Der Judenspiegel. Ein Schand- und Sittengemälde aus alter und neuer Zeit von Hartwig von Hundt-Radowsky. Dieser bezeichnet Juden als „Untermenschen“ und „Ungeziefer“. Er empfiehlt, alle Juden als Sklaven an die Engländer zur Arbeit in deren Kolonien zu verkaufen, sie in Bergwerken zu vernutzen, sie zu kastrieren und die Jüdinnen als Prostituierte in Bordellen zu versklaven. Die Tötung eines Juden solle nicht als Mord, sondern als Polizeivergehen, also noch unterhalb eines Verbrechens eingestuft werden.

Im selben Jahr, als der Judenspiegel erscheint, gründen jüdische Hegelianer den „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“. Schlüsselbegriff ist der Hegel’sche Begriff der Vermittlung, dergestalt dass das Judentum sich vermitteln solle mit dem universalen Geist der Freiheit und Humanität. Sie glauben an die Macht des Geistes – und scheitern wie alle, die diesen Traum träumen.

Im August 1822 nimmt der preußische König die Hardenberg’schen Reformen zurück, die den Juden den Zugang zu öffentlichen Ämtern erlaubten. Im selben Monat tritt Heine dem „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ bei. Für seine berufliche Karriere ist das ein Hindernis. Die Heine-Biographin Kerstin Decker stellt fest: „Ein bloßer Aufsteiger verhielte sich anders, er würde alles verleugnen, was an seine Herkunft erinnert. Heine wird das nie tun. Im Gegenteil.“

1819 brechen die Hepp-Hepp-Krawalle aus, gewalttätige Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden. „Hepp-hepp!“ sind die Rufe der Viehtreiber. Der Mob macht daraus „Hepp-hepp! Jud verreck!“. Die Pogrome gehen aus von sog. braven Bürgern, von Handwerkern, Händlern, die sich zusammenrotten, jüdische Bürger beschimpfen und misshandeln, ihre Synagogen, Geschäfte und Wohnungen angreifen und verwüsten.

Aufschlussreich ist zu sehen, welches Motiv die Pogrome haben. Sie richten sich hauptsächlich gegen die jüdische Emanzipation, die seit der Französischen Revolution auch deutsche Gebiete erreicht hat. Damit waren Juden zu gleichberechtigten Konkurrenten von Christen geworden, was bei den christlichen Wutbürgern nun Konkurrenzneid entfacht, zudem noch legitimiert vom traditionellen christlichen Judenhass. Die Pogrome zielen auf die Vertreibung aller Jüdinnen und Juden und drohen mit Massakern. In Heines Heimatstadt Düsseldorf werden im August 1819 an jüdischen Wohnhäusern Plakate angeschlagen, auf denen es heißt:

Schon zu lange hat die Herrschaft der Juden über den Betrieb des Handels gedauert. Mit ruhigen Augen haben die Christen diesem unerlaubten Unwesen zugesehen, die Zeiten haben sich geändert. Sind bis 26ten dieses Monats dem Handel und Moral verderbenden Volke nicht Schranken gesetzt, so soll ein Blutbad entstehen, das anstatt Bartholomäus-Nacht Salomoni-Nacht heißen soll.

Auswege, Schleichwege

Angesichts dieser Umstände hat, wer das Ghetto verlassen und an der deutschen Kultur teilhaben will, kaum eine andere Wahl, als sich taufen zu lassen, so z.B. Rahel Varnhagen, Henriette Herz, Ludwig Börne, und eben auch Heine.

1826/27 studiert Heine in Göttingen, lässt sich dann 1827 in aller Stille in der Wohnung eines Pfarrers in Heiligenstadt, einem Städtchen nahe Göttingen, taufen. Die Taufe ist für ihn, wie er sagt, das „Entrébillet zur europäischen Kultur“. Er lässt sich protestantisch taufen, denn, so sagt er später: „Der Protestantismus war für mich nicht nur eine liberale Religion, sondern auch der Ausgangspunkt der deutschen Revolution“, und für ihn der Ursprung der Rechte der Vernunft und der Geistesfreiheit.

Doch bringt ihm die Taufe wenig Nutzen, denn, so stellt er resigniert fest:

Ich bin jetzt bei Christ und Jude verhasst. Ich bereue sehr, dass ich mich getauft hab; ich seh noch gar nicht ein, dass es mir seitdem besser gegangen sei, im Gegenteil, ich habe seitdem nichts als Unglück.

Nach seiner Promotion zum Dr. jur. in Göttingen will ihm trotz der Konversion niemand eine Stelle geben. Ein Jahr nach der Taufe drängt es ihn, Deutschland zu verlassen. 1826 schreibt er in einem Brief:

Es ist … ganz bestimmt, dass es mich sehnlichst drängt, dem deutschen Vaterland Valet zu sagen. Minder die Lust des Wanderns als die Qual persönlicher Verhältnisse (z.B. der nie abzuwaschende Jude) treibt mich von hinnen.

Heimat Sprache

Er bleibt aber zunächst im Land, weil er mit seinem Buch der Lieder großen Erfolg hat. Trotzdem ist es, so stellt Marcel Reich-Ranicki fest, ein Triumph „auf gefährlich schwankendem Boden … Man wollte den Juden, ob getauft oder nicht, als deutschen Dichter nicht gelten lassen“.

Zusätzlich zermürben Heine die Kämpfe mit der Zensur, bis dann 1833 in Preußen und 1835 im gesamten Deutschen Bund seine Schriften verboten werden. Aber mehr noch als diese Drangsalierungen ist es die Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft, die ihn in die Emigration treibt. In Frankreich, wo es durchaus auch Antisemitismus gibt, sei, so Reich-Ranicki, Heine als Ausländer betrachtet worden, in Deutschland hingegen galt er immer als Jude und damit als Nicht-Dazugehöriger und Ausgestoßener.

Dennoch: Ein Zurück in den abgespaltenen Geborgenheitsraum einer jüdischen Gemeinschaft kommt für ihn nicht infrage. Er will als Deutscher anerkannt sein, wird aber von seinem „Vaterland“ zurückgestoßen. Als Reaktion auf die ständig zu ertragenden Demütigungen entwickelt er seinerseits einen Hass gegen das Deutsche und die deutsche Sprache selbst. Er schreibt er in einem Brief an einen Freund:

Alles was deutsch ist, ist mir zuwider … Alles Deutsche wirkt auf mich wie ein Brechpulver. Die deutsche Sprache zerreißt mir die Ohren. Die eigenen Gedichte ekeln mich zuweilen an, wenn ich sehe, dass sie auf Deutsch geschrieben sind. … “ (Erbittert wechselt er ins Französische, kehrt dann aber wieder ins Deutsche zurück.) „O Christian, wüsstest du, wie meine Seele nach Frieden lechzt, und wie sie doch täglich mehr und mehr zerrissen wird. Ich kann fast keine Nacht mehr schlafen.

Paper cut of Heinrich Heine on German stamp, 1956

Doch kommt er von Deutschland nicht los. Da ihn die Gesellschaft zurückweist, sucht er seine Heimat in der von ihm geliebten deutschen Sprache; denn das deutsche Wort sei, so schreibt er in einem Brief, „ein Vaterland selbst demjenigen, dem Torheit und Arglist ein Vaterland verweigern“. 1824 schreibt er:

Ich weiß nur zu gut, dass mir das Deutsche das ist, was dem Fisch das Wasser ist, dass ich aus diesem Lebenselement nicht heraus kann … Ich liebe sogar das Deutsche mehr als alles auf der Welt, ich habe meine Lust und Freude dran, und meine Brust ist ein Archiv deutschen Gefühls.

Wie innig er der deutschen Sprache verbunden ist, zeigt der Beginn seines Versepos Deutschland, ein Wintermärchen. Als er nach zwölfjährigem Exil 1843 wieder nach Deutschland zu reisen wagt, übermannt ihn beim Überschreiten der Grenze die Wehmut, die er in bekannter Manier durch Ironie vor Abrutschen in Sentimentalität bewahrt:

Im traurigen Monat November wars,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riss von den Bäumen das Laub,
Da reist
 ich nach Deutschland hinüber.

Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.

Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.

Das altertümlich gewordene Präteritum „begunnen“ gebraucht er ironisch-distanzierend, und im Vers, dass sein „Herz recht angenehm verblute“, mischt er den Schmerz mit Selbstironie.

Von der blauen Blume zur roten Fahne

Seine Tragik als romantischer Dichter ist, dass er ein Zu-spät-Gekommener ist. Denn als er 1797 geboren wird, bricht die romantische Dichtung gleichsam wie ein Vulkan aus und erreicht ihren ersten Höhepunkt mit Dichtern wie Brentano, Tieck, Novalis, Wackenroder.

Heine spielt zunächst virtuos auf der romantischen Klaviatur und schreibt Gedichte von unwiderstehlicher Schönheit (z.B. Der Tod, das ist die kühle Nacht). Doch wendet er sich bald ab von der Romantik und treibt sein ironisch-spöttisches Spiel mit ihr und seinen Dichterkollegen, die „Blümlein, Mondglanz, Sternlein und Äuglein“ besingen, und schließt mit den Worten: „Wie sehr das Zeug auch gefällt, / So macht’s doch noch lang keine Welt“ (im Gedicht Wahrhaftig). Eichendorff schmäht ihn deswegen einen „Totengräber der Romantik“.

Aus dem romantischen Traumreich der Phantasie wendet Heine sich der Welt zu, wie sie wirklich ist, der gesellschaftlichen und politischen Realität. In Paris, genannt die Revolutionshauptstadt der deutschen Demokraten, weil sich hier Hunderte in Deutschland verfolgter Demokratinnen und Demokraten versammeln, nimmt Heine Verbindung zu ihren führenden Köpfen auf und wandelt sich zum politischen Dichter.

Anstoß dazu gibt der Aufstand der schlesischen Weber im Jahr 1844. In der Konkurrenz mit billigerer Ware aus England und durch die Veränderung der Produktionsstruktur – die bis dahin selbständigen Handwerker werden zu Lohnarbeitern – geraten die Weber in eine Armut, die sogar zu Hungerrevolten führt. Der Aufstand wird vom preußischen Militär niedergeschlagen; viele Weber kommen ins Zuchthaus, andere wandern nach Amerika aus.

Zornbebend, nicht mit dem Florett, sondern mit dem Säbel schreibt Heine ein Gedicht, das später als Weberlied berühmt wird. Marx, mit dem Heine eng befreundet ist, sie sind sogar Cousins dritten Grades, veröffentlicht es im Pariser „Vorwärts“; 50.000 Flugblätter mit dem Gedicht werden in den Aufstandsgebieten verteilt. Der preußische Innenminister bezeichnet das Gedicht als „eine in aufrührerischem Ton gehaltene und mit verbrecherischen Äußerungen angefüllte Ansprache an die Armen im Volke“. Er hat Recht, das Gedicht ist staatsfeindlich und blasphemisch. Es wird verboten, einer, der es öffentlich rezitiert, landet im Zuchthaus, Heine ist in Paris und in Sicherheit.

Das ist der radikale politische Heine. Aber zurück nach Deutschland, zum jungen Heine!

Dichter in der Diaspora

Im Buch der Lieder, das ihn in Deutschland berühmt gemacht hat, steht ein rätselhaftes Gedicht, geschrieben um 1822:

Ein Fichtenbaum steht einsam
Im Norden auf kahler Höh’.
Ihn schläfert; mit weißer Decke
Umhüllen ihn Eis und Schnee.

Er träumt von einer Palme,
Die, fern im Morgenland,
Einsam und schweigend trauert
Auf brennender Felsenwand.

Das Gedicht wird traditionell interpretiert als ein Gedicht über eine unerwiderte Liebe. Das ist es wohl, aber es ist viel mehr als eins der üblichen romantischen Liebesgedichte. Sehen wir es uns genauer an!

Es beginnt mit dem Bild eines Fichtenbaums, der „im Norden auf kahler Höh’“ steht und „einsam steht“, in lebensfeindlicher Kälte, umhüllt von Eis und Schnee. Er ist müde, Schlaf überkommt ihn, und er fängt an zu träumen. Im Traum reist er ins ferne Morgenland, er träumt von einer Palme, dem für den Orient charakteristischen Baum, und auch diese Palme steht einsam und trauert schweigend. Und während der nordische Fichtenbaum in der Kälte steht, umhüllt von Eis und Schnee, ist die morgenländische Palme von Feuer und Glut umgeben.

Ein Liebender und eine Geliebte verzehren sich in Sehnsucht zueinander. Welche Rolle spielt aber der Gegensatz von Norden und Osten, von Okzident und Orient? Ist das nur exotische poetische Dekoration? Nein, es ist viel mehr, und das rätselhafte Gedicht beginnt zu sprechen, wenn man es einordnet in die Tradition von jüdischen Liebesgedichten, die an das ferne und unerreichbare Jerusalem gerichtet sind.

Vorbild ist der von Heine verehrte sephardische Dichter Jehuda ben ha Levy. Dieser gilt als der bedeutendste hebräische Philosoph des Mittelalters, der zudem ein vielgestaltiges dichterisches Werk hinterlassen hat; und nicht nur Dichtungen in hebräischer Sprache, sondern auch in Altspanisch, sodass man sagen kann, dass er der erste namentlich bekannte Dichter in spanischer Sprache war. Hier ein Auszug aus seinen hebräischen Zionsliedern:

Ach, wie sitzt so einsam die Stadt, einst reich an Volk!
Wie ist sie zur Witwe geworden, die groß war unter den Völkern!
Die da Fürstin war unter den Städten, ist dienstbar geworden.
Sie weint und weint durch die Nacht, Tränen auf der Wange;
Keiner ist da, der sie tröste (…)

Mein Herz ist im Osten, doch ich bin am westlichsten Ende –
Was kann mir mein Brot da bedeuten, wie könnt’ ich es kosten mit Lust, (…)
Nichts bedeutet es mir, allen Reichtum Spaniens zu verlassen,
Aber alles bedeutet mir ein Blick nur auf den Staub des zerstörten Tempels.

Wenn man Heines Gedicht vom Fichtenbaum in dieser Tradition sieht, so erweist es sich durchaus als Liebesgedicht, aber als ein entschieden religiöses, ein Gedicht von einer Sehnsucht getragen, die sich in dem alten Abschiedsgruß ausdrückt: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ Ein Gruß, der traditionell am Schluss des jüdischen Sederabends und des Versöhnungstags ausgesprochen wurde und dessen Wunsch nach zweitausend Jahren verwirklicht worden ist.

Heines Lieblingspsalm ist der Psalm 137, wo es heißt:

An den Strömen Babylons saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten … Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, so verdorre meine Rechte! Es klebe meine Zunge am Gaumen!

In seinem Versepos Romanzero, geschrieben zwischen 1848 und 1851, gedenkt er im Dritten Buch, genannt Hebräische Melodien, des von ihm bewunderten Jehuda ben ha Levy:

Hebräische Melodien

Bei den Wassern Babels saßen
Wir und weinten, unsre Harfen
Lehnten an den Trauerweiden“ –
Kennst du noch das alte Lied?
(…)

Lechzend klebe mir die Zunge
An dem Gaumen, und es welke
Meine rechte Hand, vergäß’ ich
Jemals dein, Jerusalem – “

Wort und Weise, unaufhörlich
Schwirren sie mir heut im Kopfe,
Und mir ist, als hört’ ich Stimmen,
Psalmodierend, Männerstimmen –

Manchmal kommen auch zum Vorschein
Bärte, schattig lange Bärte –
Traumgestalten, wer von euch
Ist Jehuda ben Halevy?

Zurück zum Gedicht vom Fichtenbaum! Der von Eis und Schnee umhüllte Fichtenbaum träumt „von einer Palme, / Die, fern im Morgenland, / Einsam und schweigend trauert / Auf brennender Felsenwand“. Ist es zu verwegen interpretiert, wenn mit der Felsenwand der Felsenberg gemeint ist, auf dem der Tempel stand und der von den Römern zerstört wurde? Und dass die einsame Palme in ihrer Trauer der Zerstreuung der Juden in der Diaspora gilt, einer Zerstreuung, dessen Extremfigur der einsame Fichtenbaum in der Kälte des Nordens darstellt?

Im Innersten ist Heine immer Jude geblieben. Einmal bekennt er: „Ich bin zwar getauft, aber nicht bekehrt.“ Für seinen Herausgeber und Biographen Klaus Briegleb ist dieses Zitat und sind weitere Zitate Schlüsselbelege dafür, dass Heine als „genuin jüdischer Schriftsteller in der Diaspora“ (Briegleb) zu verstehen sei: ein Getaufter, der im Herzen jüdisch geblieben ist, und dass dieses jüdische Selbstverständnis prägend sei für seine Denk- und Schreibweise.

Verstoßen in die Freiheit

Heine ist, trotz allen Spotts über mancherlei religiöse Bizarrerien, tiefreligiös. Früh vom Judentum geprägt, schreibt er in seinem Essay Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834):

Bert Gerresheim: Heinrich Heine Monument 1981, Düsseldorf

Der Verfasser dieser Blätter ist sich einer solchen frühen ursprünglichen Religiosität aufs freudigste bewusst, und sie hat ihn nie verlassen. Gott war der Anfang und das Ende aller meiner Gedanken.

Sein Bekenntnis zum Judentum ist aber nicht eine Rückkehr zum Judentum des Mittelalters; denn dieses erscheint für ihn ebenso überwunden wie das Christentum seiner Epoche. Schon 1834 schwebt ihm in einem Gedicht aus dem Zyklus Seraphine ein Drittes vor: ein drittes Testament, und er spielt an auf Jesu Wort zu Petrus, dass er auf ihm – „auf diesem Felsen“ (griech. pétros: Fels) – seine Gemeinde bauen wolle (Matthäus 16,18; nebenbei ein, wie die Bibelkritik festgestellt hat, erfundenes Jesus-Wort zur Legitimation von Kirche und Papsttum):

Auf diesem Felsen bauen wir
Die Kirche von dem dritten,
Dem dritten neuen Testament;
Das Leid ist ausgelitten.

Vernichtet ist das Zweierlei*,
Das uns so lang betöret;
Die dumme Leiberquälerei
Hat endlich aufgehöret.

Hörst du den Gott im finstern Meer?
Mit tausend Stimmen spricht er.
Und siehst du über unserm Haupt
Die tausend Gotteslichter?

Der heilge Gott der ist im Licht
Wie in den Finsternissen;
Und Gott ist alles, was da ist;
Er ist in unsern Küssen.

Diese Utopie erinnert an das Schiller’sche und Beethoven’sche Pathos der universalen Menschenliebe in der Ode an die Freude: „Alle Menschen werden Brüder … / Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Nur dass Heines Küsse durchaus sinnlicher imaginiert sind als die seiner strengen Vorgänger.

Dieses „dritte neue Testament“, das Heine erhofft, stellt nicht eine Abwendung vom Judentum dar, sondern ist die Vision eines modernen, welt- und geschichtsbewussten, zur Freiheit sich entfaltenden Judentums. Das stellt auch den alten Jehova-Gott infrage. Die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies und ihren Weg ins Erdenleben zeichnet Heine in seinem Gedicht Adam der Erste von 1844 prophetisch als Weg des Judentums in die Freiheit. Adam I. bedeutet: Dieser Adam ist der erste wirkliche, weil freie Mensch. Der auf diesen Weg sich aufmachende Adam spricht zu Gott:

Adam I.

Du schicktest mit dem Flammenschwert
Den himmlischen Gendarmen,
Und jagtest mich aus dem Paradies,
Ganz ohne Recht und Erbarmen!

Ich ziehe fort mit meiner Frau
Nach andren Erdenländern;
Doch dass ich genossen des Wissens Frucht,
Das kannst du nicht mehr ändern.

Du kannst nicht ändern, dass ich weiß,
Wie sehr du klein und nichtig,
Und machst du dich auch noch so sehr
Durch Tod und Donnern wichtig.
(…)

Vermissen werde ich nimmermehr
Die paradiesischen Räume;
Das war kein wahres Paradies –
Es gab dort verbotene Bäume.

Ich will mein volles Freiheitsrecht!
Find ich die geringste Beschränknis,
Verwandelt sich mir das Paradies
In Hölle und Gefängnis.

Diese Frage nach dem Wesen Gottes ist für Heine zentral. Erkannt wird dieses Wesen, wenn die alte Aufspaltung von Leib und Seele, Geist und Materie aufgehoben und wenn der Mensch wieder in sein ursprüngliches Freiheitsrecht eingesetzt wird.

Schmerzensmann

Dem Atheismus seiner Freunde Marx, Feuerbach, Bauer ist Heine nicht gefolgt. Nach verschlungener philosophischer Wanderschaft bekennt er sich ab 1848 offener zum Gott der Juden. Sieben Jahre vor seinem Tod schreibt er:

Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn … Das himmlische Heimweh überfiel mich und trieb mich fort durch Wälder und Schluchten, über die schwindligsten Bergpfade der Dialektik.

1833 lernt Heine in Paris die junge Schuhverkäuferin Augustine Crescence Mirat kennen, die er Mathilde nennt. Sie ist attraktiv und temperamentvoll, er liebt sie sehr, sie heiraten, und sie steht ihm bis zu seinem Tode bei.

Seit 1845 quält ihn ein Nervenleiden, 1848, als in Paris die Revolution ausbricht, kommt es zu einem Zusammenbruch, der eine acht Jahre dauernde Erkrankung einleitet, die mit Schmerzen, Krämpfen, Sehstörungen, Lähmungen und Fieberanfällen einhergeht, sodass er ans Krankenlager gefesselt ist, das er sarkastisch seine „Matratzengruft“ nennt. Er bleibt aber geistig klar und literarisch produktiv – es ist eine ungeheure Willensanstrengung, mit der er diese Produktivität seiner Krankheit abringt.

Jedoch quälen ihn Zweifel ob seiner Konversion zum Christentum. In seinen späten Gedichten zwischen 1846 und 1856 findet sich unter dem Titel Lamentationes folgendes Gedicht, das wohl das bitterste ist, das Heine je geschrieben hat:

Nicht gedacht soll seiner werden!“
Aus dem Mund der armen alten
Esther Wolf hört
 ich die Worte,
Die ich treu im Sinn behalten.

Ausgelöscht sein aus der Menschen
Angedenken hier auf Erden,
(…)

Nicht gedacht soll seiner werden,
Nicht im Liede, nicht im Buche 

Dunkler Hund im dunkeln Grabe,
Du verfaulst mit meinem Fluche!

Selbst am Auferstehungstage,
Wenn, geweckt von den Fanfaren
Der Posaunen, schlotternd wallen
Zum Gericht die Totenscharen,

Und alldort der Engel abliest
Vor den göttlichen Behörden
Alle Namen der Geladnen 

Nicht gedacht soll seiner werden!

(Esther Wolf, eine unbekannte Jüdin.) Der Fluch „Nicht gedacht soll seiner werden“ ertönt refrainartig im Gedicht; er ist ein Zitat aus dem Buch Hesekiel (21,37). Im Namen des Herrn spricht Hesekiel den Fluch gegen die feindlichen Ammoniter aus:

Du sollst dem Feuer zur Nahrung werden, dein Blut soll im Land vergossen werden, und man wird deiner nicht mehr gedenken; denn ich der Herr habe es geredet.

Es ist ein vernichtender Fluch, denn selbst beim Jüngsten Gericht soll des Schuldigen nicht gedacht werden; es ist der wildeste Fluch, den ein Jude auszustoßen vermag.

Jedoch gibt es auch Gottes Zusage des immerwährenden Gedenkens, so beim Propheten Jesaja (49,14 f.):

Zion spricht: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“ Gott spricht: „Kann auch eine Frau ihres Kindes vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und wenn sie auch seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.“

Wir können kaum ermessen, was Heine durchgemacht hat. Religiös, wie er im Innern geblieben ist, sucht er Frieden mit Gott. Wir lesen Bekenntnisse eines über viele Jahre ans Bett gefesselten, zeitweise gelähmten, schmerzgepeinigten, geistig aufgewühlten, seelisch zerrissenen Menschen – menschliche Bekenntnisse, allzu menschliche. Nietzsche hat den Gedanken formuliert, dass wir aus Treue zu uns selbst zu Wanderern zwischen Extremen werden müssen:

Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer. (Menschliches, Allzumenschliches, I, 638)

 

Rebellische Resignation

Heines Todeskampf ist quälend. Den Tod vor Augen dichtet er:

Keine Messe wird man singen,
Keinen Kadosch wird man sagen,
Nichts gesagt und nichts gesungen
Wird an meinen Sterbetagen.

Doch vielleicht an solchem Tage,
Wenn das Wetter schön und milde,
Geht spazieren auf Montmartre
Mit Paulinen Frau Mathilde.

Mit dem Kranz von Immortellen
Kommt sie mir das Grab zu schmücken.
Und sie seufzet: „Pauvre homme!“
Feuchte Wehmut in den Blicken.

Als er im Sterben liegt, kniet seine Frau an seinem Bett und betet zu Gott, dass er ihm alle Sünden verzeihen möge. Daraufhin sagt Heine mit schwacher Stimme:

Ma chère, ne t’inquiète pas, Dieu me pardonnera, c’est son metier.
(Meine Liebe, mach dir keine Sorgen, Gott wird mir schon verzeihen, das ist sein Beruf.)

Begraben wird er auf dem Friedhof Montmartre. Kein Rabbi, kein Pastor, kein Priester darf ihn begleiten. Rebell bis zuletzt, hat er es so bestimmt.

Auf der Grabplatte ist ein Gedicht von ihm eingemeißelt:

Wo wird einst des Wandermüden
Letzte Ruhestätte sein?
Unter Palmen in dem Süden?
Unter Linden an dem Rhein?

(…)
Immerhin mich wird umgeben
Gotteshimmel, dort wie hier,
Und als Totenlampen schweben
Nachts die Sterne über mir.

Neben ihm liegen Hector Berlioz, Edgar Degas, Stendhal, Alexandre Dumas fils, Jacques Offenbach.

Jahre später schreibt Gustave Flaubert, ein enger Freund Heines, in einem Brief voller Grimm:

Ich denke mit Bitterkeit daran, dass bei Heinrich Heines Begräbnis nur neun Personen anwesend waren! O Publikum! O Bürger! O Lumpenpack!

(Vortrag im Jüdischen Lehrhaus zu Göttingen, Februar 2023)

Copyleft

„Jede Wiedergabe, Vervielfältigung und Verbreitung unserer Publikationen ist im Sinne der Bereicherung des allgemeinen geistigen Lebens erwünscht. Es gibt kein geistiges Eigentum. Es sei denn, als Diebstahl. Der Geist weht, wo er will. Jede Geschäftemacherei ist dabei auszuschließen. Wir danken den Toten und den Lebendigen für ihre Zuarbeit und arbeiten unsererseits nach Kräften zu.“ (aramis)

siehe auch wikipedia s.v. „copyleft“

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Grafikquellen          :

Oben     —     (2) Grab Heines auf dem Nordfriedhof in Paris

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Wider die Korruption

Erstellt von Redaktion am 6. Juli 2023

Weltweit wird Korruption als eines der größten Hindernisse für wirtschaftliche und soziale Entwicklung gesehen

Ein Debattenbeitrag von Otto Geiß

Der Maschinen- und Anlagenbau ist zweitgrößter Industriezweig Deutschlands. Er beliefert weltweit Sektoren, die Menschenrechte missachten.

Für 50 Millionen Euro verkaufte die deutsche Krones AG im Jahr 2015 eine Brauereianlage und zwei Abfülllinien an die angolanische Firma Sodiba. Das Darlehen für Sodiba stellte die deutsche KfW-IPEX-Bank zur Verfügung. Wie sich später herausstellte, gehörte das Unternehmen Isabel dos Santos. Ihr Vater war fast 40 Jahre lang Präsident von Angola und häufte durch Vetternwirtschaft und Steuerhinterziehung ein Privatvermögen von 20 Milliarden (!) US-Dollar an. Ein Blick in das angolanische Amtsblatt hätte gereicht, um das zu wissen. Wegen fahrlässigen Vorgehens wurde der KfW eine Geldbuße auferlegt. Krones hat nach eigenen Angaben daraus gelernt und in Bezug auf Geschäftspartner sogenannte „Third Party Checks“ eingeführt.

Der Fall zeigt exemplarisch: Deutsche Unternehmen sollten besser hinschauen, mit wem sie im internationalen Handel Geschäfte machen. In vielen Ländern, in denen auch deutsche Maschinen- und Anlagenbaufirmen Geschäfte machen, gehört Korruption zur Tagesordnung. Transparency International definiert Korruption als Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Vorteil oder Nutzen. Korruption tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf, zum Beispiel als Bestechung, Wahlbetrug, unrechtmäßige Bereicherung und Vetternwirtschaft. Doch was das für Menschen- und Umweltrechte oft bedeutet, ist vielen Unternehmen nicht bewusst.

Viele Verletzungen von Menschenrechten und Umweltschutzvorgaben werden erst und gerade durch Korruption ermöglicht. Korruption ist in diesem Kontext eine stete Begleiterscheinung, ein klassisches Querschnittsphänomen – und kein Kavaliersdelikt.

Weltweit wird Korruption als eines der größten Hindernisse für wirtschaftliche und soziale Entwicklung gesehen. Der finanzielle Schaden, der wirtschaftlich schwachen Ländern durch Korruption entsteht, liegt laut der Konrad-Adenauer-Stiftung um ein Vielfaches über den Beträgen, die diese Länder als Entwicklungsgelder erhalten.

Korruption ist kostspielig – und findet auch statt, weil sich Pri­vat­ak­teu­r:in­nen aus wohlhabenden Industrieländern daran beteiligen. Es braucht immer die Hand, die gibt, und die Hand, die nimmt. Das hierzu notwendige Geld gelangt über internationale Lieferketten an Produktionsstandorte in diesen Ländern. Po­li­ti­ke­r:in­nen und Be­am­t:in­nen nehmen dort zum Beispiel Bestechungsgelder an und dulden Korruption, anstatt Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen, die Menschenrechtsverletzungen und Umweltverstöße ermöglichen oder von ihnen profitieren.

Je höher die Korruptionsrate, desto schlechter die Menschenrechtslage. Das zeigt auf eindrückliche Weise ein Vergleich des von Transparency International herausgegebenen Korruptionswahrnehmungsindex mit dem Freedom-House-Index für politische und bürgerliche Freiheiten. In beiden zählen zum Beispiel der Südsudan, Syrien, Somalia und Jemen zu den Schlusslichtern.

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Korruption, Menschenrechtsverletzungen und Umweltverstöße gedeihen also in gleichen Umgebungen und beruhen auf ähnlichen Ursachen. Wenn deutsche Unternehmen korrupte Praktiken anwenden oder dulden, schaffen sie damit direkt oder indirekt Voraussetzungen, die Menschenrechtsverletzungen ermöglichen. Korruptionsbekämpfung auf allen Stufen der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsketten ist deshalb eine Grundvoraussetzung für eine integre Umsetzung menschenrechtlicher und umweltbezogener Sorgfaltspflichten.

Von Bergbau- über Textil- bis Verpackungsmaschinen – die potenziellen und tatsächlichen negativen Auswirkungen in der nachgelagerten Wertschöpfungskette des deutschen Maschinen- und Anlagebaus sind massiv. Das belegt eine Studie, die Germanwatch, Transparency Deutschland, Gegenströmung und das Bischöfliche Hilfswerk Misereor gemeinsam herausgegeben haben, um das Problembewusstsein für die negativen Auswirkungen in der nachgelagerten Wertschöpfungskette zu schärfen. Sie zeigt die Verantwortung der Branche, Sorgfaltspflichten für die nachgelagerte Wertschöpfung zu übernehmen. Deutlich wird, dass dies für die Unternehmen keine unangemessenen Belastungen darstellt.

Die Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus sollten einen risikobasierten Ansatz für Sorgfaltspflichten zu Menschenrechten, Umweltschutz und Korruptionsprävention etablieren und dabei Querschnittsrisiken der Korruption im Auge behalten. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist eine ehrliche und systematische Risikoanalyse, auch mit Blick auf die belieferten Sektoren, jeweilige Geschäftsbeziehungen und -modelle sowie Länderrisiken.

Quelle       :        TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —     DBP 1992 1636-R

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Unten      —     BASF-Werk in Ludwigshafen

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Medien ist es egal:

Erstellt von Redaktion am 6. Juli 2023

Hunderte Migranten hätte man retten können

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Für die EU sind nur tote Migranten – gute Migranten ?

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von                :          Urs P. Gasche /   

Viele Berichte über das Wie und Warum des U-Boot-Unglücks – Kaum Berichte über das Wer und Warum der über 500 Ertrunkenen.

Trotz des höchstwahrscheinlich vermeidbaren Unglücks mit über 500 toten Migrantinnen und Migranten vor der griechischen Küste recherchierten Medien in der Schweiz und in Deutschland nicht, welches die Ursachen und die Verantwortlichen waren. Dafür berichteten sie umfangreich über Hintergründe des U-Boot-Unfalls mit den fünf verunglückten Milliardären an Bord.

Fast nur online informierten unsere grossen Medien einzig darüber, dass die Grenzschutzagentur Frontex kritisierte, dass die «griechischen Behörden trotz Aufforderung keine zusätzliche Luftunterstützung gewährten».

Anders als europäische Medien beauftragte die «New York Times» ein ganzes Recherche-Team, um die Verantwortlichen des Bootunglücks ausfindig zu machen. Unter dem Titel «Das Schiff, das die Welt nicht wollte – Griechische Regierung schickt ein Polizeiboot der Küstenwache statt Rettungskräfte» entlarvte die Zeitung zuerst am 1. Juli und ergänzt am 3. Juli Angaben griechischer Behörden als Ausreden und Lügen.

Über diese NYT-Recherche informierte von den grossen Medien in Europa erst heute, am 6. Juli, die NZZ ausführlich.

Fazit der NYT: Die meisten Toten hätten gerettet werden können

Hier die wichtigsten der recherchierten Fakten:

  • Die Schlepper kassierten von den 750 auf dem Boote zusammengepferchten Migrantinnen und Migranten insgesamt 3,5 Millionen Dollar. Abgemachtes Ziel war Italien. Schon am zweiten Tag, so erinnerten sich Überlebende, machte der Motor Probleme.
  • Niemand an Bord trug eine Rettungsmaske.
  • Die griechischen Behörden behaupteten, das Boot sei weiter normal in Richtung nach Italien gefahren, weshalb sie nicht eingeschritten seien. Doch Satellitenbilder, welche die NYT beschaffen konnte, zeigen eindeutig, dass das Boot mit einem Motorschaden in den letzten sechseinhalb Stunden vor dem Kentern eine unkontrollierte Schleife rückwärts zog.
  • Die griechischen Behörden zitieren nur den 22-jährigen Ägypter, der das Boot steuerte und angab, die Fahrt in Richtung Italien fortsetzen zu wollen. Es entsprach seinen persönlichen Interessen. Denn die Schlepper zahlen Kapitäne meist erst im Nachhinein und nur, wenn sie ihr Ziel erreichen. Ein Helikopter der griechischen Küstenwache überflog das Boot und sah um Hilfe rufenden Migranten.
  • Die Küstenwache bat zwei vorbeifahrende Schiffen, das Migrantenboot mit Wasser, Nahrung und Benzin zu versorgen. Eines der Frachtschiffe meldete dem griechischen Kontrollzentrum, dass das Boot «bedrohlich schaukelt». Die griechischen Behörden sandten keine Hilfe.
  • Etwa drei Stunden, bevor das Migrantenboot kenterte, näherte sich ein kleines Polizeiboot der griechischen Küstenwache, nahm aber keine Migranten auf. Die maskierten Männer des Polizeiboots verursachten noch mehr Angst, nachdem auf dem Migrantenboot bereits Panik ausgebrochen war. Wenige Überlebende berichteten als Zeugen, wobei ihnen die griechischen Behörden die Handys als Beweismittel konfiszierten.
  • Nach dem Untergang des Bootes konnte eine Luxusjacht, die sich in der Nähe befand, etwa hundert Überlebende aus dem Wasser retten.

Die «New York Times» kommt zum Schluss:

«Griechenland als eine der führenden Seefahrernationen der Welt war in der Lage, eine Rettungsaktion durchzuführen. In den 13 Stunden nach dem Frontex-Alarm hätten Marineschiffe, einschliesslich solche mit medizinischer Ausrüstung, vor Ort sein können.»

Den genauen Zeitablauf hat die NYT zusammengestellt und ist hier beschrieben.

Schlepper verdienen Millionen mit verzweifelten Menschen voller Hoffnung

Insgesamt zahlten die rund 750 Migranten durchschnittlich je 4660 Dollar oder insgesamt rund 3,5 Millionen Dollar, um nach Italien geschleust zu werden. Sie wurden auf dem Kutter Adriana in einem Klassensystem zusammengepfercht: Pakistaner am unteren Ende, Frauen und Kinder in der Mitte und Syrer, Palästinenser und Ägypter oben.

Für etwa 50 Dollar mehr konnte man sich einen Platz an Deck sichern. Für einige war das der Unterschied zwischen Leben und Tod.

Mindestens 350 der Passagiere kamen nach Angaben der pakistanischen Regierung aus Pakistan. Die meisten befanden sich in den unteren Decks und im Laderaum des Schiffes. Von ihnen überlebten nur zwölf.

Die Frauen und kleinen Kinder gingen mit dem Schiff unter.

Der 17-jährige Teenager Kamiran Ahmad war mit der Hoffnung auf ein neues Leben in Tobruk, Libyen, per Flugzeug angekommen. Seine Eltern in Syrien verkauften Land, um Schmuggler zu bezahlen. Sie beteten, dass Kamiran es nach Deutschland schaffen würde, um zu studieren, zu arbeiten und vielleicht etwas Geld nach Hause zu schicken.

Doch als die Adriana im Morgengrauen des 9. Juni in See stach, war Kamiran besorgt. Sein Cousin Roghaayan Adil Ehmed, 24, der ihn begleitete, konnte nicht schwimmen. Und das Boot war mit fast doppelt so vielen Passagieren überfüllt, wie ihm gesagt worden war.

Da es keine Schwimmwesten gab, zahlte Roghaayan zusätzliche 600 Dollar, um sich selbst, Kamiran und einen Freund auf ein Oberdeck zu bringen.

Sie gehörten zu einer Gruppe von elf jungen Männern und Jungen aus Kobani, einer mehrheitlich kurdischen Stadt in Syrien, die von einem mehr als zehnjährigen Krieg verwüstet wurde. Die Gruppe wohnte in schäbigen, gemieteten Zimmern in Beirut, Libanon, und flog dann nach Ägypten und weiter nach Libyen.

Der Jüngste, Waleed Mohammad Qasem, 14, wollte Arzt werden. Als er hörte, dass sein Onkel Mohammad Fawzi Sheikhi nach Europa gehen würde, bettelte er darum, mitkommen zu dürfen. Auf dem Flug nach Ägypten lächelten die beiden für ein Selfie. Sie haben die Fahrt nicht überlebt.

Unruhen breiteten sich aus, als klar wurde, dass der Kapitän, der die meiste Zeit mit einem Satellitentelefon verbrachte, sich verfahren hatte.

Als die Pakistaner auf das Oberdeck drängten, schlugen ägyptische Männer, die mit dem Kapitän zusammenarbeiteten, laut Zeugenaussagen auf sie ein. Es kam zu Tumulten.

Überlebende der Adriana sagten in eidesstattlichen Erklärungen aus, dass etliche der neun Crewmitglieder die Passagiere brutal behandelt und erpresst haben.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Grafikquellen        :

Oben      —     Während der von Frontex geführten Operation Triton im südlichen Mittelmeer rettet das irische Flaggschiff LÉ Eithne Menschen von einem überfüllten Boot, 15. Juni 2015

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Beobachter ausgeschlossen:

Erstellt von Redaktion am 6. Juli 2023

Europarat wird Künstliche Intelligenz ohne Zivilgesellschaft regulieren

Was mag der wahre Grund sein, wenn freie Länder sich von ihren ehemaligen Hinterbänklern dirigieren lassen ?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von          :     

Der Europarat will „Künstliche Intelligenz“ regulieren – allerdings ohne die Zivilgesellschaft. Überraschend hat er zivilgesellschaftlichen Organisationen den Beobachterstatus bei den Verhandlungen zu der KI-Konvention entzogen. Die Organisationen kritisieren die Entscheidung in einem offenen Brief.

Nicht nur die Europäische Union will „Künstliche Intelligenz“ (KI) regulieren, sondern auch der Europarat. Er hat vor mehr als einem Jahr Verhandlungen zur Regulierung von Künstlicher Intelligenz (KI-Konvention) aufgenommen. Der Europarat ist eine europäische internationale Organisation und kein institutionelles Organ der EU. Ihm gehören seit dem Ausschluss Russlands im vergangenen Jahr 46 Staaten an.

Die geplante KI-Konvention soll Staaten dazu verpflichten, keine Menschenrechte zu verletzen, wenn sie KI-Systeme entwickeln oder nutzen. Überraschenderweise hat der Europarat mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen, die einen Beobachterstatus bei den Verhandlungen hatten, vor die Tür gesetzt. Das Vorgehen kritisieren zehn zivilgesellschaftliche Organisationen in einem offenen Brief (PDF), unter ihnen die Digitale Gesellschaft Schweiz und AlgorithmWatch.

Die Organisationen bedauern, „dass die verhandelnden Staaten beschlossen haben, sowohl Beobachter der Zivilgesellschaft als auch Mitglieder des Europarates von den formellen und informellen Sitzungen der Redaktionsgruppe des Übereinkommens auszuschließen.“ Damit untergrabe der Europarat seine Transparenz- und Rechenschaftspflichten. Außerdem stehe die Entscheidung im Widerspruch zur gängigen Praxis des Europarats und zum Mandat des CAI, wonach die Zivilgesellschaft zu dessen Arbeit beizutragen habe.

Die Digitale Gesellschaft Schweiz schreibt in einem Blogbeitrag über den Ausschluss:

Zu Beginn der Verhandlungen wurde die Wichtigkeit der Transparenz betont. Nun haben sich die aktuell verhandelnden Staaten jedoch dazu entschieden, insbesondere zivilgesellschaftliche Organisationen mit Beobachterstatus von den Diskussionen zur KI-Konvention auszuschließen. Auch die Mitgliedsorganisationen des Europarats, die derzeit nicht direkt an den Verhandlungen beteiligt sind, wurden ausgeschlossen. Diskussionen und Entscheidungen sollen ohne die Anwesenheit von Beobachtern stattfinden. Sie sollen nur noch die Möglichkeit haben, gelegentlich Stellung zu nehmen. Beobachter sollen nicht mehr beobachten dürfen.

Bliebe es bei der Entscheidung, drohe die Konvention zu einem Papiertiger zu verkommen, so die Digitale Gesellschaft Schweiz weiter.

Transparenz untergraben

Trotz ihrer Enttäuschung unterstreichen die zivilgesellschaftlichen Organisationen in ihrem offenen Brief die Notwendigkeit der KI-Konvention:

In den vergangenen Monaten haben sich die Standpunkte der einzelnen Länder dramatisch verändert. Das unterstreicht die Notwendigkeit, rasch ein globales Übereinkommen für den Umgang mit KI zu verabschieden. Sowohl die Gesellschaft als auch der öffentliche und private Sektor fordern nun weltweit neue Regeln für den Umgang mit KI.

Die Organisationen bekräftigen, den Verhandlungsprozess von außen weiter beobachten und kommentieren zu wollen.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —      A picketer, David James Henry, carries a sign that reads „A.I.’s not taking your dumb notes!“

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Kolumne – Materie

Erstellt von Redaktion am 6. Juli 2023

Deutschland ist ein Kindergarten und die AFD verschenkt Luftballons 

Eine Kolumne von Kersten Augustin

Sie haben es vielleicht auch gesehen, das Video aus Sonneberg, Thüringen: Ein Nazi, wie er nicht mal im Comic steht, so klischeehaft sieht er aus, öffnet den Kofferraum seines Autos. Dann wirft er AfD-blaue Luftballons über den Zaun eines Kindergartens. Und alle Kinder (und Erzieherinnen) jubeln.

Viele empörte Kommentare gingen in die gleiche, naheliegende Richtung: Lasst unsere Kinder aus dem Spiel! Aber das führt in die Irre. Denn tatsächlich hat es keinen besseren Kommentar zum Erfolg der AfD in Umfragen und nun auch bei der Landratswahl in Sonneberg gegeben als dieses Video.

Die Bundesrepublik ist ein Kindergarten. Und die AfD hat das verstanden.

Die Kindergartisierung Deutschlands, sie zeigt sich in den Debatten über die AfD, aber auch im Umgang mit der Klimakrise und den Maßnahmen dagegen, etwa dem Heizungsgesetz. Ständig müssen alle „mitgenommen“, darf niemand „überfordert“ werden. Ständig soll man „zuhören“, auch wenn da nur Geschrei kommt. Jegliche Zumutung des Lebens soll von den BürgerInnen ferngehalten werden, es könnte sie verunsichern.

Jeder, der mal in einer halbwegs zeitgemäßen Kindertagesstätte außerhalb von Sonneberg war, weiß, dass diese Form der pädagogischen Ansprache längst nicht mehr zeitgemäß ist. Kein Erzieher, der noch bei Sinnen ist, würde der kleinen Alice, die im Sandkasten mal wieder mit der Plastikschaufel den Ausländer verhaut, in den Arm nehmen und trösten. Die meisten Kitas sind längst weiter als große Teile der deutschen Medien und Politik, die den Kindergarten der AfD immer noch mitmachen.

Alice im Sternhimmel

Womit wir beim Stern wären, der exem­pla­risch für den Umgang mit dem Rechtsruck und die abnehmende Relevanz klassischer Medien steht. Der Stern hat in dieser Woche Alice Weidel als Postergirl aufs Cover gedruckt und das Ganze als Tabubruch inszeniert. Das Interview mit Weidel ist dann eher naiv. „Wir stellen es uns wahnsinnig anstrengend vor, Alice Weidel zu sein“, so lautet eine Frage. Und Weidel darf behaupten, dass es bei der AfD keine Rechtsextremen gebe.

Nur, diese Alice schlägt nicht mit einer Plastikschaufel um sich, sondern ist Vorsitzende einer Partei, deren Hetze Tote in Kauf nimmt. Deswegen macht die taz keine Wortlaut-Interviews mit der AfD. Weil diese Partei lügt wie gedruckt.

Für den Stern ist die Aufregung um ihr Cover ein billiger Versuch, für einen kurzen Moment aus der selbst verschuldeten Bedeutungslosigkeit herauszutreten. Mit einem gefälschten Hitler begann vor vielen Jahren der Abstieg des Magazins, und ausgerechnet mit einer täuschend echten Führerin wollen sie ihn stoppen. Der AfD kann’s recht sein.

Quelle        :          TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Unten        —   Wahlplakat der AfD zur Bundestagswahl 2017 „Neue Deutsche? Machen wir selber.“ Aufgenommen am 22.09.2017 in München, S-Bahnhof Heimeranplatz.

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Kultur. Kampf, oder was?

Erstellt von Redaktion am 5. Juli 2023

Gerade verschwindet alles, was widerspenstig und aufregend ist

Die Uniform einer schlagenden und schießenden Einheit bringt jedes Eis zum schmelzen.

Ein Schlagloch von Georg Seeßlen

Die Kultur geht unter, wenn sie rein marktwirtschaftlich geregelt wird. Wie aber steht es um eine Kultur, die sich aus lauter Angst vor ihren Mördern selbst abschafft?

Auch wenn immer irgendwas los ist, kommt man doch manchmal ins eher fundamentale Grübeln, mitten im Sommer. Zum Beispiel darüber, was eigentlich mit unserer Kultur los ist und was das überhaupt ist: Kultur. Wahrscheinlich gehört „Kultur“ zu den Worten, die nur funktionieren, wenn man akzeptiert, dass damit mehrere verschiedene, aber miteinander verbundene Dinge gemeint sind. Man könnte sich ja mal drei grundsätzliche Bereiche vorstellen, für die das Wort „Kultur“ irgendwie angemessen sein könnte. Das Erste kommt aus dem Feld der materialistischen Gesellschaftsforschung und behauptet: Kultur ist, wie der ganze Mensch lebt. Das heißt, Kultur ist die Art, wie wir in einer Supermarktkassenschlange anstehen, wie oft wir uns eine neue Zahnbürste leisten oder ganz allgemein, wie wir mit uns selbst und mit den anderen umgehen. Kultur ist, was uns dazu bringt, mit Würde, Respekt und Empathie miteinander zu leben.

Die zweite Vorstellung widerspricht oder ergänzt da, wie man es nimmt: Kultur ist gerade das, was über den Alltag und das Benehmen darin hinausgeht, ein Experimentieren mit dem, was nicht gewöhnlich ist, eine Erfahrung jenseits der Codes und der Riten, kurz gesagt: ein freier Raum der Möglichkeiten für Fantasien, für die Kritik des ­Bestehenden und die Sehnsucht nach dem Anderen.

Und mit der dritten Definition von Kultur wird man speziell. Kultur ist ein gesellschaftliches Subsystem wie die Wissenschaft, die Religion, die Medizin oder der Sport, in dem es professionelle Arbeit ebenso gibt wie öffentliche Debatten. Diese Kultur hat nicht nur eine Funktion, und sie ist nicht nur immer auch mit ihrer eigenen Erforschung beschäftigt, sie hat auch eine politische Ökonomie.

Kultur ist etwas, das wie die Luft zum Atmen, das Wasser zum Trinken und das Recht auf Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit niemals allein marktwirtschaftlich geregelt werden kann. Eine Gesellschaft, die an Kultur nur hervorbringt, was der Markt hergibt, darf getrost barbarisch genannt werden.

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Georg Seeßlen

ist freier Autor und hat über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm „Corona­kontrolle, oder: Nach der Krise ist vor der Katastrophe“ bei bahoe books.

Die Schlagloch-Vorschau

12. 7. Ilija Trojanow

19. 7. Jagoda Marinić

26. 7. Mathias Greffrath

2. 8. Georg Diez

Für die Praxis hat August Everding einst ein schönes Beispiel angeführt: Ich, sagte er, bin in meinem ganzen Leben noch nicht in ein Freibad gegangen. Und trotzdem zahle ich mit Freuden meine Steuern, damit Menschen ins Freibad gehen­ können. Ist es deswegen nicht durchaus gerecht, dass diejenigen, denen ich mit einem Euro zum Besuch des Freibades verhelfe, mir mit fünf Cent ermöglichen, ins Theater zu gehen? Und wenn jemand, wie der Schreiber dieser Zeilen, sowohl ins Freibad als auch ins Theater gehen möchte, dann muss er es wohl sehr direkt spüren, dass Kultur in jeder Hinsicht eine Frage der sozialen Gerechtigkeit ist. Der Kulturkampf, wie ihn die Rechten wollen, beginnt, wenn die im Freibad glauben, dass die im Theater schuld daran sind, dass das Freibad so heruntergekommen ist, und wenn die im Theater glauben, die im Freibad seien schuld am Niedergang des Theaters.

Eine Gesellschaft kann man nicht nur anhand der versicherungspflichtigen Privatfahrzeuge oder der Anzahl häuslicher Unfälle, sondern auch an ihrer (dreifachen) Kultur messen. Beides ist nun aber auch wieder auf vertrackte Weise dialektisch miteinander verbunden: Kultur erzeugt Gesellschaft, so wie Gesellschaft Kultur erzeugt.

Vom harten Kern der Kultur, von den profes­sio­nell geführten Debatten, der demokratisch vermittelten Kunst, der verantwortungsvoll-freien Presse oder den selbstverwalteten Szenen aus, strahlt „Kultivierung“ auf alle anderen Lebensbereiche aus. Dann gibt es eine Kultur der Arbeit, eine Kultur der politischen Auseinandersetzung, eine Kultur der Geschlechterordnungen und der Sprachen des Begehrens, eine Kultur des Straßenverkehrs, eine Kultur des Freizeitverhaltens usw.

Oder es gibt sie eben nicht, denn so wie es die Anstrengungen der Kultivierung gibt, gibt es die Kräfte der Entkultivierung. Wer jetzt und hier die größte Kraft der Entkultivierung bildet, ist nicht zu übersehen: Es ist die Idee der radikalen Vermarktung und Selbstvermarktung, der wir den Namen „Neoliberalismus“ gegeben haben, und es ist der Rechtspopulismus, der ganz offen bereits einen „Kulturkampf“ ausgerufen hat, der für erstaunlich viele Menschen attraktiv scheint. Auch hier geht es um drei „Schlachtfelder“: die Eroberung kultureller Institutionen und Instanzen, die semantische und ideologische Hegemonie in den öffentlichen Medien und die Vernichtung des widerständigen, utopischen und queeren Geistes in der Kultur.

Quelle          :          TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben     —    Empfang der Berliner Teilnehmenden der Olympischen Winterspiele 2022 zur Gästebucheinzeichnung im Roten Rathaus

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Ein zukunftsfähige EU

Erstellt von Redaktion am 5. Juli 2023

Kein Frieden ohne Gerechtigkeit

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Eine freie EU kann  es nur ganz ohne Grenzen geben – sowohl nach Außen als nach Innen

Von Oleksandra Matwijtschuk

Der verstärkte Beschuss ziviler Ziele durch die russische Armee lenkt den Blick erneut auf die zahlreichen Kriegsverbrechen der Besatzungstruppen in der Ukraine.

Eine der wichtigsten Organisationen, die russische Kriegsverbrechen dokumentieren, ist das Center for Civil Liberties aus Kiew. Gegründet wurde die Menschenrechtsorganisation 2007, um die Demokratisierung des Landes voranzutreiben. Mit Beginn der russischen Invasion im Donbass und der Annexion der Krim 2014 begann sie zudem, politische Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten zu dokumentieren. Im vergangenen Herbst erhielt die Organisation rund um ihre Vorsitzende, die Juristin Oleksandra Matwijtschuk, den Friedensnobelpreis.

Am 9. Mai hielt Oleksandra Matwijtschuk die diesjährige „Rede an Europa“ auf dem Wiener Judenplatz. Das Format wurde vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen, der ERSTE Stiftung und den Wiener Festwochen ins Leben gerufen, um renommierten Intellektuellen die Möglichkeit zu bieten, einer breiten Öffentlichkeit originelle Denkanstöße zur Zukunft des europäischen Projekts zu geben. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Katharina Hasewend.

Die Geschichte kann nur schwerlich idealisiert werden, wenn man sie kennt. Das 20. Jahrhundert brachte zwei verheerende Weltkriege, schreckliche Kolonialkriege, Millionen von Toten und eine totale Entmenschlichung hervor, die ihre konkreteste Form im Holocaust und den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten annahm. Diese schrecklichen Ereignisse machten entschlossenes Handeln nötig. Die Tatsache, dass man gewillt war, Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen, kam im Mahnruf „Nie wieder!“ zum Ausdruck. Staats- und Regierungschefs schufen die Vereinten Nationen und unterzeichneten internationale Abkommen. Die Schuman-Erklärung markiert den Beginn des Projektes eines vereinten Europas. Getragen von der Auffassung, dass jeder Mensch frei und gleich an Würde und Rechten geboren ist, entstand in der Nachkriegszeit ein neuer Humanismus.

Aber das Böse lässt sich nicht für immer besiegen. Menschen müssen sich jeden Tag aufs Neue entscheiden. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte wurden nur in einem Teil Europas zur gelebten Praxis, und der totalitäre sowjetische Gulag wurde nie gerichtlich verurteilt. Und so kehrt das Böse immer wieder zurück: das Massaker von Srebrenica; die Zerstörung von Grosny, wo damals eine halbe Million Menschen lebte; die russische Bombardierung von Aleppo; die Brandbomben auf Mariupol; die Leichen der Ermordeten auf den Straßen von Butscha.

Wie können wir im 21. Jahrhundert Menschen, ihre Würde, ihre Rechte und ihre Freiheit verteidigen? Können wir uns auf das Recht stützen – oder werden Waffen das Einzige sein, was zählt?

Ich stelle diese Fragen nicht nur als Bürgerin eines Landes, das sich gegen eine militärische Aggression Russlands verteidigt. Ich stelle diese Fragen als Bürgerin Europas. Europa muss auf die Herausforderungen der heutigen Zeit reagieren. Europa muss seine Rolle in einer globalen Welt wahrnehmen, in der Autoritarismus und Demokratie, Interessen und Werte, Macht und Recht, schnelle Gewinne und langfristige Perspektiven gegeneinanderstehen. Es ist die Entschlossenheit zum Handeln, die eine Gesellschaft zukunftsfähig macht.

Das gelungene Europa…

Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl sollte nicht nur eine gemeinsame Grundlage für wirtschaftliche Entwicklung schaffen. Vielmehr vertieften die Bemühungen für ein gemeinsames europäisches Projekt die Solidarität zwischen Ländern, deren Beziehungen jahrhundertelang durch blutige Auseinandersetzungen belastet waren. Der Europäischen Union ist es gelungen, dieses Erbe zu überwinden und Frieden zwischen ihren Mitgliedsstaaten zu gewährleisten. Die kontinuierlichen Bemühungen der Regierungen um die Förderung von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ermöglichten über Jahrzehnte hinweg ein stabiles Wachstum. Dies ist jenes Europa, dem es gelungen ist, kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern.

Dieses Europa befindet sich nach wie vor auf dem schwierigen Weg der Selbstfindung. Auch wenn es sich heute mit neu entdeckten guten Absichten schmückt, kommt es nicht umhin, das verheerende Erbe seiner kolonialen Vergangenheit anzuerkennen. Europa steht vor der Herausforderung, eine Einheit zu erzeugen, ohne auf Uniformität zu drängen; Integration zu gewährleisten, ohne Homogenität zu erzwingen. Es muss lernen, seine Vielfalt als Quelle der Solidarität zu nutzen. Es darf nicht zulassen, dass Autoritarismus und Imperialismus in seinen Gesellschaften Wurzeln schlagen.

Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, ist fast vollständig von uns gegangen. Die nachfolgenden Generationen sahen sich nicht gezwungen, ihr Blut zu vergießen. Sie haben die Werte der Demokratie von ihren Eltern übernommen. Und sie begannen, Rechte und Freiheiten als selbstverständlich zu betrachten. Zunehmend verhielten sie sich weniger als Träger dieser Werte denn als deren Konsumenten. Sie verstanden Freiheit immer öfter bloß als die Möglichkeit, im Supermarkt zwischen verschiedenen Käsesorten zu wählen. Und so sind sie bereit, Freiheit gegen Profit, Sicherheitsversprechen oder persönlichen Komfort einzutauschen. Es sollte nicht überraschen, dass populistische Kräfte in den entwickelten Demokratien an Boden gewinnen; Kräfte, die die Grundsätze der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte infrage stellen.

Unsere heutige Welt ist schnelllebig, komplex und vernetzt. Die technologische Entwicklung, der Klimawandel, Verletzungen der Privatsphäre, wachsende Ungleichheit, die Entwertung von Wissen und andere globale Herausforderungen verlangen nach Antworten, die nicht im Rückgriff auf Vergangenes formuliert werden können. Jahrzehnte des relativen Wohlstands und das wachsende Verlangen nach einfachen Lösungen haben den Blickwinkel der entwickelten Demokratien verändert. Sie verstehen nicht mehr, dass der Frieden in Europa nicht ohne Anstrengungen erhalten werden kann, die dem Grad der Gefährdung angemessen sind.

…und die Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen

Die Europäische Union umfasst bei weitem nicht ganz Europa. Sie ist jener Teil Europas, der es geschafft hat, den Grundsatz zu verwirklichen, dass Frieden, Fortschritt und Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind. Dann sah sie sich der Gefahr der Stagnation gegenüber. Das gelungene Europa sollte die Bewegung anderer Länder in Richtung europäischer Werte unterstützen. In einer sich ständig verändernden Welt überleben nur offene Systeme und wandlungsfähige Kulturen. Mauern und Grenzen können nicht vor globalen Herausforderungen schützen. Wer aufhört, nach vorne zu schreiten, wird untergehen.

Die gegenwärtige Lage hängt nicht nur von den Entscheidungen und Handlungen des gelungenen Europas ab, sondern auch von seiner unmittelbaren Umgebung. Es ist das eine, von Ländern umgeben zu sein, die sich ebenfalls den Werten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte verschrieben haben. Ganz anders stellt sich die Situation dar, wenn man von Staaten umringt ist, die diese Werte ablehnen. Wenn solche Länder an Stärke gewinnen, werden sie versuchen, euch zu zerstören.

Das gelungene Europa hat sich lange Zeit geweigert, gegenüber anderen Ländern der Region Verantwortung zu übernehmen, und dadurch die Etablierung autoritärer Regime zugelassen. Dieses Europa hat vergessen, dass Länder, die Journalisten töten, Aktivisten inhaftieren und friedliche Proteste auflösen, nicht nur für ihre eigenen Bürger eine Gefahr darstellen. Solche Staaten sind eine Bedrohung für die gesamte Region, ja, für die ganze Welt. Aus diesem Grund hätte es einer Reaktion auf systematische Menschenrechtsverletzungen bedurft. Menschenrechte sollten bei politischen Entscheidungen eine ebenso wichtige Rolle spielen wie wirtschaftlicher Nutzen oder Sicherheitsfragen. Ein Ansatz, der diesem Imperativ Rechnung trägt, muss auch in der Außenpolitik verfolgt werden.

Das zeigt sich sehr deutlich im Fall Russlands, das seine eigene Zivilgesellschaft Schritt für Schritt zerstört hat. Doch die entwickelten Demokratien haben davor lange die Augen verschlossen. Sie schüttelten russischen Repräsentanten die Hände, bauten Gaspipelines und machten weiter wie bisher. In vielen Ländern begingen russische Streitkräfte über Jahrzehnte hinweg Verbrechen, die stets ungeahndet blieben. Sogar bei der Annexion der Krim, einem beispiellosen Vorgang im Europa der Nachkriegszeit, zeigte die Welt kaum eine Reaktion. Russland glaubte tun zu können, was ihm beliebt.

Das gescheiterte Europa

Im Februar 2014 begann Russland einen Krieg gegen die Ukraine und besetzte die Halbinsel Krim sowie Teile der Oblaste Donezk und Luhansk. Zu diesem Zeitpunkt war die „Revolution der Würde“ in der Ukraine gerade zu einem Ende gekommen. Millionen von Menschen hatten sich mutig gegen ein autoritäres und korruptes Regime aufgelehnt. Im ganzen Land gingen sie auf die Straße und forderten eine weitere Annäherung an Europa und an wahrhaft demokratische Werte. Sie kämpften für das Recht, einen Staat aufzubauen, in dem die Rechte jedes Einzelnen geschützt werden, in dem Behörden Rechenschaft ablegen müssen, Gerichte unabhängig sind und die Polizei nicht auf friedlich demonstrierende Studenten einprügeln darf.

Es sollten die Politiker-innen eingesperrt werden, welche den Menschen die Freiheit verwehren !

Einige von ihnen zahlten dafür den höchsten Preis. Im Herzen der Hauptstadt erschoss die Polizei mehr als hundert friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten. Menschen starben unter den Bannern der Ukraine und der Europäischen Union.

Als das autoritäre Regime zusammenbrach, erhielt die Ukraine ihre Chance auf einen demokratischen Wandel. Um den Fortschritt der Ukraine zu einer wahren Demokratie aufzuhalten, begann Russland im Februar 2014 seinen Krieg. Im Februar 2022 weitete es diesen Krieg zu einer umfassenden Invasion aus. Nicht die Nato ist es, die Putin fürchtet; er hat Angst vor der Demokratie. Diktatoren fürchten die Idee der Freiheit.

Nun versucht Russland, den Widerstand zu brechen und die Ukraine zu besetzen, indem es der Zivilbevölkerung größtmögliches Leid zufügt. Russische Streitkräfte zerstören gezielt Wohnhäuser, Kirchen, Schulen, Museen und Krankenhäuser; sie schießen auf Evakuierungskorridore; sie halten Menschen in Filtrationslagern gefangen; sie führen Zwangsdeportationen durch; sie entführen, foltern und töten Menschen in den besetzten Gebieten. Europa gelang es nicht, dem ein Ende zu setzen.

Dies ist nicht zuletzt ein Krieg der Werte. Russland versucht, die ukrainische Nation davon zu überzeugen, dass ihre Entscheidung für die europäische Integration ein Fehler war. Russland versucht, die ganze Welt davon zu überzeugen, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ein Betrug sind, dass sie falsche Werte sind. Denn in Kriegszeiten schützen sie niemanden. Russland will beweisen, dass ein Staat mit einem mächtigen Militär und Atomwaffen der gesamten internationalen Gemeinschaft die Spielregeln diktieren und sogar international anerkannte Grenzen verschieben kann. Es handelt sich also nicht um einen Krieg zwischen zwei Ländern, sondern um einen Krieg zwischen zwei Systemen – Tyrannei und Demokratie. Der Kampf wütet bereits. Die Menschen begreifen dies zwar erst, wenn ihnen die Bomben auf den Kopf fallen, aber dieser Krieg hat noch andere Dimensionen: Er ist ein Wirtschaftskrieg, ein Informationskrieg, ein Krieg der Werte. Ob wir den Mut haben, es einzugestehen oder nicht, dieser Krieg hat bereits die Grenzen zur Europäischen Union überschritten.

Russland hat Europa den Krieg erklärt. Russland kämpft gegen jene Werte, die Europa ausmachen. Europa muss also Verantwortung übernehmen. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte können nicht ein für alle Mal erkämpft werden. Vielmehr müssen die Werte der modernen Zivilisation verteidigt werden. Wir müssen für sie kämpfen.

Das ängstliche Europa

Europa weiß nicht, wie es den Krieg beenden soll. Immer wieder fordern einzelne Stimmen die Ukraine dazu auf, Frieden zu schließen. Niemand will den Frieden mehr als die Ukrainer. Aber es gibt keinen Frieden, wenn das angegriffene Land die Waffen streckt. Das ist kein Frieden, sondern eine Besatzung, und Besatzung ist lediglich Krieg in anderer Gestalt.

Quelle         :       Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Spontaneously errected grave at the Marsch der Entschlossenen demonstration in Berlin, Germany

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Gutes aus Kranenburg

Erstellt von Redaktion am 5. Juli 2023

Kranenburg – Niederrhein

Die alte Schule

Von Jimmy Bulanik

Die Menschen definieren mit ihrem Eigenschaften wie dem menschlichen Wesen den Raum in dem sie Leben und Wirken. So auch im Landkreis Kleve. Mit seinen sechzehn Gemeinden.

So weit westlich gelegen ist dies ein von seiner Geographischen Lage, darunter der Topographie die niederrheinische Gemeinde de.wikipedia.org/wiki/Kranenburg_(Niederrhein) welches ein unmittelbarer Grenzort zu den Niederlanden mit der Provinz Gelderland ist, im Alltag ein niederländisch geprägter Teil innerhalb des Niederrhein. Dort wo die Lebensqualität hoch ist, kommen entsprechende Produktionsgüter her. Wie die hochwertigen, in Bio Qualität zertifizierte Naturprodukte.

Aktuell hat der Ostaras Morgenröte Rotkultur Käse welcher Bioland zertifiziert ist die Auszeichnung der Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft mit DLG Gold 2023 verliehen bekommen. Das erfreut naturgemäß auf beiden Seiten der Grenze viele Menschen. Dies ist ein pittoreskes Beispiel dafür das der grenzüberschreitende Zusammenhalt zwischen den Menschen, die Kooperation zwischen dem Königreich der Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland ausschlaggebend für den gemeinsamen Erfolg ist.

Europa bleibt Trumpf

aurora-kaas.com/de

aurora-kaas.com/de/gold-fur-ostara

Weil die Aurora Kaas GmbH aus Kranenburg so gut sind, wie es er Fall ist dürfen sich die interessierten Menschen im Rahmen eines Besuches am Niederrhein wie der Landkreis Kleve diese Gesellschaft besuchen. Dazu sich für den 06. September 2023 für 10 Uhr anmelden. Der Besuch ist gratis.

aurora-kaas.com/de/kaesereifuehrung-biowochen-nrw

Bei dieser Gelegenheit gibt es einen Transfer von Wissen und dem persönlichem Bezug. Von der regionalen Gesellschaft an die geneigte Kundschaft, sowie die Interessentinnen und Interessierten. Dies ist geeignet junge Menschen für das ehrliche Handwerk zu begeistern, zukünftig die Mittel zum Leben selber als Manufaktur herzustellen.

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Nützliche Links im Internet:

Wir sind Kleve (nach Johannes Oerding):

soundboxstudio.de/wp-content/uploads/2020/05/Musikvideo_WirsindKleve_5MBits-Web.mp4

Ein niederländischer Großmeister der epischen Musik ist Boudewijn de Groot: Land van Maas en Waal

www.youtube.com/watch?v=7RrndbK4ztA

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Oben     —     Die alte Schule

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von Redaktion am 5. Juli 2023

„Krieg und Frieden“
Der Angst zum Trotz: Rückkehr nach Russland

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Aus Moskau XENIA BABICH

Mein Bekannter, der Moskau im vergangenen September über Kasachstan Richtung Tbilissi verlassen hatte, gab damals seine ganzen Ersparnisse für Flugtickets aus.

Immerhin ging es ihm darum, der Mobilmachung Russlands zu entfliehen. Ein halbes Jahr später kehrte er jedoch zurück. Ich habe davon nur erfahren, weil wir uns zufällig auf einer Geburtstagsfeier gemeinsamer Bekannter trafen. Auf Social Media tut er alles, damit es so aussieht, als halte er sich weiter nicht in der russischen Hauptstadt auf.

Über seinen Umzug und seine Rückkehr erzählte er, dass er Georgien liebe und den Mut der Georgier bewundere, die gegen das Ausländische-Agenten-Gesetz auf die Straße gegangen waren. Aber er könne nicht länger dort bleiben, da er in Moskau leben wolle. Als die russischen Behörden bekannt gaben, dass die Grenzen für diejenigen geschlossen würden, die eine Vorladung zur Einberufung bekommen haben, schrieb er mir, dass er einen Job in Moskau suche und zu Vorstellungsgesprächen gehe. Er war immer gegen Putins Krieg. Auch jetzt beteuert er, dass er ihn ablehne. Dennoch ist er zurückgekommen.

Ein paar Wochen später erfuhr ich, dass ein anderer Bekannter, der vor der Mobilmachung geflohen war, ebenfalls wieder in die russische Hauptstadt zurückgekehrt ist, aus dem georgischen Batumi. Er versuche, nicht groß an seine Emigration zu denken und zu leben wie in der Zeit davor, sagt er; in Bars und Cafés gehen und sich mit Freunden treffen.

Es sind Männer im wehrpflichtigen Alter, die jetzt zur „Risikogruppe“ gehören und jeden Tag einberufen werden könnten. Aber sie sagen mir auf Nachfrage, dass sie jetzt einfach „nicht darüber nachdenken“ und sich stattdessen Arbeit suchten, durch die Straßen ihrer geliebten Stadt liefen und ihre Freunde treffen wollten. Und nur leise miteinander über Politik sprächen.

Noch im Februar 2023 hatten russische Beamte erklärt, dass 60 Prozent derer, die wegen des Krieges das Land verlassen haben, zurückkehren würden. Auch wenn bis heute darüber keine genaue Zahlen oder statistischen Erhebungen veröffentlicht wurden, ist der Trend im Sommer 2023 klar: Die Zahl der Rückkehrer aus anderen Ländern wächst – trotz des Risikos der Mobilmachung, trotz neuer repressiver Gesetze, trotz schwieriger Wirtschaftslage in Russland.

Quelle         :          TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —      Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Die Anti-AKW-Bewegung

Erstellt von Redaktion am 4. Juli 2023

Es ist noch nicht vorbei

Ein Debattenbeitrag von Reimar Paul

Die Anti-AKW-Bewegung bleibt auch nach Abschalten der Meiler nötig: Das Müllproblem bleibt, Atomforschung und Brennstäbeproduktion gehen weiter.

Am 15. April war Schluss. Eine Minute vor Mitternacht ging mit dem Reaktor Neckarwestheim II das letzte von einst 36 Atomkraftwerken in Deutschland vom Netz. Die Produktion von Atomstrom und Atommüll ist seitdem Geschichte – ein jahrzehntelanger gesellschaftlicher Großkonflikt scheint mit einem großen Erfolg der Anti-AKW-Bewegung be­endet. Schließlich hat sie mit langem Atem mächtige Gegenspieler aus Wirtschaft und Politik zum Umlenken gebracht. Zahlreiche geplante Atomkraftwerke wurden nie gebaut, nukleare Wiederaufarbeitungsanlagen im Wendland und in Wackersdorf verhindert, den Anstoß für den Siegeszug der erneuerbaren Energien gab die Bewegung ebenfalls. Wie viele Gerichtsbeschlüsse und vor allem das Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeigen, wurde auch die Demokratie in der Wilstermarsch und in Gorleben verteidigt.

Dennoch fiel die Freude über das AKW-Aus bei vielen aus der Bewegung eher verhalten aus. Denn der Konflikt um Atomkraft und Energiewende ist mit der Abschaltung der Meiler nicht vorbei. Nicht nur der laufende Betrieb von Atomkraftwerken, auch der sich über Jahrzehnte hinziehende Abriss birgt Gefahren. Zehntausende Tonnen teils stark verstrahlten Schrotts müssen abgetragen und abtransportiert werden. Die Strahlenschutzverordnung erlaubt es, radioaktiv belastetes Material wie kontaminierten Bauschutt oder Metallteile als „normalen“ Müll zu entsorgen – sofern ein bestimmter Grenzwert nicht überschritten wird. Erst vor wenigen Tagen sorgte die Meldung für Unruhe, dass der Betreiber des Gorlebener Zwischenlagers Hauben von Castorbehältern bei einem örtlichen Schrotthändler entsorgen ließ. Vollständig ist der Atomaussstieg auch nicht: Die Brennelementefabrik in Lingen und die Urananreicherungsanlage in Gronau, die Atomkraftwerke in halb Europa mit frischem „Brennstoff“ beliefern, haben unbefristete Betriebsgenehmigungen. Die Lingener Fabrik will ihre Produktion in einem Joint Venture mit dem russischen Atomkonzern Rosatom sogar ausweiten und Brennstäbe künftig auch nach Osteuropa exportieren. Diverse Forschungsreaktoren sind ebenfalls noch in Betrieb. Und in die Atomforschung etwa in Karlsruhe oder Aachen fließen nach wie vor erhebliche Summe aus öffentlicher Hand.

Noch nicht einmal ansatzweise erledigt hat sich das Atommüllproblem. Es betrifft einerseits die neu aufgerollte Suche nach einem Endlager für die hochradioaktiven Abfälle. Nachdem die mit der Suche betraute Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) 2020 einen ersten Zwischenbericht veröffentlichte, der mehr als die Hälfte des Bundesgebietes als potenziell geeignet ausweist, soll die Suche zunächst im Verborgenen weiterlaufen. Es besteht die Gefahr, dass die BGE erst in einigen Jahren weitere Gebietsausschlüsse veröffentlicht, wenn sie Standortregionen benennt, die ober­irdisch geprüft werden sollen. Damit blieben die Betroffenen erneut außen vor. Maßgeblich dem Einsatz Anti-AKW-Bewegter ist es zu verdanken, dass diese „Transparenzlücke“ wenigstens öffentlich problematisiert wurde. Völlig ungeklärt ist der dauerhafte Verbleib des schwach und mittelradioaktiven Atommülls. Zwar wird dafür seit Jahren das frühere Eisenerzbergwerk Konrad umgebaut, doch der Standort steht nach massivem Bürgerprotest auf der Kippe. Die Kritik: Konrad entspricht nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik, es handelt sich um ein altes Bergwerk, es gab kein vergleichendes Auswahlverfahren. Außerdem wäre Konrad viel zu klein – für die Abfälle, die aus dem maroden Atomlager Asse geborgen werden sollen, und für die Rückstände aus der Urananreicherung gäbe es dort gar keinen Platz.

Ebenso umstritten ist das auf dem Gelände des früheren AKW Würgassen in Nordrhein-Westfalen geplante Bereitstellungslager, in dem die Abfälle für Konrad zunächst gesammelt und neu verpackt werden sollen. Durch dieses Lager würde sich die Zahl der gefährlichen Atommülltransporte durch Deutschland deutlich vermehren. Dazu kommt: Die Genehmigungen für die in den vergangenen Jahrzehnten an den AKW-Standorten hochgezogenen Zwischenlager für hochradioaktive Abfälle laufen in absehbarer Zeit aus. Ein Endlager wird wohl erst zur Jahrhundertwende betriebsbereit sein. Bis dort alle rund 1.900 Castoren aus den 16 Zwischenlagern eingelagert sind, werden weitere Jahrzehnte vergehen.

Quelle        :           TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Oben           —       Zehntausende Menschen demonstrierten am 6. September 2009 in Berlin gegen Atomkraft. Das Motto: Endlich mal abschalten.

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Hessens Spitzenkandidatin

Erstellt von Redaktion am 4. Juli 2023

Nancy Faeser und der Koalitionsvertrag

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von         :     

Für Innenministerin Nancy Faeser scheint der Koalitionsvertrag eher ein lästiges Stück Papier zu sein. Ein Einblick in das schwierige Verhältnis der hessischen Spitzenkandidatin zu Vereinbarungen der eigenen Partei.

Nancy Faeser ist die aktuelle Bundesinnenministerin. Und Nancy Faeser möchte Ministerpräsidentin in Hessen werden. Kürzlich hat ihre Partei, die SPD, sie zur Spitzenkandidatin für die Landtagswahl im Oktober gewählt. Frei nach dem Motto „Wenn’s in Hessen nicht klappt, für’n Bund reichts“ möchte Faeser aber Innenministerin bleiben, wenn die Wahlergebnisse für ein Landesregieren nicht genügen.

Derzeit liegt die CDU in Hessen sieben Prozentpunkte vorn, was das Szenario wahrscheinlich macht. Dennoch ist zu Beginn des Hessenwahlkampfs ein guter Zeitpunkt zurückzublicken und zu schauen, was die Hessen vielleicht erwartet. Oder wie es im Bund weitergeht. Ein Einblick in das schwierige Verhältnis von Nancy Faeser zum eigenen Koalitionsvertrag.

Faeser und die Vorratsdatenspeicherung

Im Koalitionsvertrag steht, dass die Ampelregierung Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten will, „dass Daten rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können“. Dass die bisherige deutsche Regelung durch den Europäischen Gerichtshof zu Fall gebracht werden würde, war damals bereits absehbar und bestätigte sich durch das Urteil im September 2022.

Doch bereits vor dem Urteil trat Faeser mit der Forderung auf, IP-Adressen anlasslos von Allen zu speichern. Und auch noch dem Urteil hielt sie daran fest, dass es eine neue Vorratsdatenspeicherung für die Internetadressen brauche. Damit stellte sie sich gegen die Regierungskollegen aus dem Justizministerium, die eine Quick-Freeze-Lösung als grundrechtsschonende Alternative vorstellten.

„Finden sie es wirklich richtig, dass wir uns als Sicherheitsbehörden wegducken?“, warb sie im März betont emotional für die anlasslose Massenspeicherung. Die Folge ist Stillstand: Während das Innenministerium auf anlassloser Speicherung von IP-Adressen besteht, beharrt das Justizministerium auf dem Gegenteil. Der Koalitionsvertrag ist klar.

Faeser und die Chatkontrolle

Im Koalitionsvertrag steht: „Allgemeine Überwachungspflichten, Maßnahmen zum Scannen privater Kommunikation und eine Identifizierungspflicht lehnen wir ab.“ Ein Gesetzentwurf der EU-Kommission, der Minderjährige vor sexualisierter Gewalt im Netz schützen soll, steht dem diametral entgegen. Denn er fordert, dass Anbieter auf Anordnung private Chats und Daten der Nutzenden scannen sollen, um nach Hinweisen für Missbrauchsmaterial und Kontaktanbahnung von Erwachsenen an Kinder zu suchen.

Der selbst von vielen Kinderschutzorganisationen kritisierte Entwurf führte zu einem langandauernden Streit in der Koalition. Das Innenministerium führt in der EU die Verhandlungen im Rat und wollte sich über die Koalitionsvertragsvereinbarungen hinwegsetzen. Sie überschritt damit sämtliche rote Linien, die FDP-geführte Ministerien zuvor formuliert hatten.

In der anschließenden „Einigung“ entschied man sich schließlich dazu, etwa verschlüsselte oder Audio-Kommunikation von den Scanpflichten auszunehmen. Doch in anderen wesentlichen Punkten setzte sich Faesers Haus durch: beim Scannen unverschlüsselter Inhalte und bei der Altersverifikation.

Faeser und die Hackbacks

Im Koalitionsvertrag steht: „Hackbacks lehnen wir als Mittel der Cyberabwehr grundsätzlich ab.“ Und dafür gibt es gute Gründe. Die digitalen Gegenangriffe sind ineffektiv, gefährlich und können zu Kollateralschäden führen. Im digitalen Raum bleibt Verteidigung die beste Verteidigung.

Faeser will das Wort „Hackback“ nicht benutzen, stattdessen redet sie von „Gegenmaßnahmen bei Cyberangriffen“ oder „aktiver Gefahrenabwehr“. Im Angesicht des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sei man gut beraten, „Fragen unserer Sicherheit nicht ideologisch, sondern realistisch zu betrachten“, sagte sie dem Spiegel.

Dafür will Faeser auch das Grundgesetz ändern und betreibt Wortklauberei. Wenn deutsche Beamte sich in einen Server im Ausland hacken, um ihn lahmzulegen, sei das „kein aktiver Gegenschlag, sondern die Abwehr eines Angriffs.“

Faeser und das Schwachstellenmanagement

Im Koalitionsvertrag steht, der Staat wird „keine Sicherheitslücken ankaufen oder offenhalten, sondern sich in einem Schwachstellenmanagement […] immer um die schnellstmögliche Schließung bemühen“. Das bedeutet: Keine Lücken mehr zurückhalten, weil man sie etwa für Staatstrojaner noch nutzen könnte.

Von dieser konsequenten Haltung ist Faeser weit abgerückt und befindet sich auf Abwägungskurs. Statt konsequenter Schließung, um die IT-Sicherheit aller Menschen zu erhöhen, will Faeser offenbar von Fall zu Fall entscheiden lassen, ob man eine Lücke lieber ausnutzt oder schließt.

Faeser und das Bundesamt für IT-Sicherheit

Im Koalitionsvertrag steht, man wolle das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik „unabhängiger“ aufstellen. Es untersteht dem Innenministerium und genau aus jenem Haus kam ein Gesetz, das in genau die entgegengesetzte Richtung zeigt.

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit war im „Gesetz zur Änderung des Bevölkerungsstatistikgesetzes, des Infektionsschutzgesetzes und personenstands- und dienstrechtlicher Regelungen sowie der Medizinprodukte-Abgabeverordnung“ ein Passus versteckt. Der reiht die zukünftigen Präsident:innen des Bundesamts in eine Reihe mit politischen Beamt:innen ein. Damit können sie leichter gefeuert werden als bisher.

Gerade in Anbetracht der Querelen um die Versetzung des früheren BSI-Chefs Arne Schönbohm ist es ein schwieriges Signal, das BSI weiter abhängig von politischen Gnaden zu machen.

Faeser und der Rest

Die obigen Beispiele sind ausschließlich Themen mit netzpolitischem Bezug. Faeser hat sich auch in anderen Bereichen Kritik ausgesetzt, weil sie die Linie ihres CSU-Vorgängers Horst Seehofer beinahe nahtlos fortführt. Ein Beispiel dafür sind Asylverschärfungen.

Sollte es die SPD bei der hessischen Landtagswahl tatsächlich Erfolg haben, wird unter einer Führung Faesers fraglich, wie viel sich vom derzeit schwarz-grünen Hardlinerkurs im Land ändert. Sollte die SPD nicht die stärkste Partei werden, würde sich eine andere Frage stellen: Kann sich eine Innenministerin auf ihrem Posten halten, die zum einen bei einer Landtagswahl scheitert und zum andern mit ihrer Missachtung des Koalitionsvertrags schon viel Unmut auf sich gezogen hat?

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —     Konstituierende Sitzung des Hessischen Landtages am 18. Januar 2019 in Wiesbaden.

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Putin wurde gestärkt

Erstellt von Redaktion am 4. Juli 2023

Die Wagner-Revolte wurde gefeiert – und falsch interpretiert

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von                :         Seymour Hersh /   

Der inner-russische Aufstand, der nicht stattgefunden hat, stärke die Position Putins. Das sagen Informanten von Geheimdiensten.

upg. Aufgrund seiner Kontakte zu Geheimdiensten schätzt US-Investigativjournalist Seymour Hersh die Revolte des Wagner-Chefs Prigoschin anders ein als grosse Medien. Im Folgenden eine gekürzte Version des Beitrags auf seiner Substack-Webseite. Mit der Darstellung von Seymour Hersh ergänzt Infosperber, was bereits aus grossen Medien zu erfahren war.

Die anhaltende Katastrophe in der Ukraine geriet einige Tage aus den Schlagzeilen, weil diese dominiert waren von der «Revolte» Jewgeni Prigoschins, dem Chef der Söldnergruppe Wagner. Angeblich bedrohte Prigoschin Putins Macht.

Eine Schlagzeile in der «New York Times» lautete: «Revolte wirft brennende Frage auf: Könnte Putin die Macht verlieren?». Und «Washington Post»-Kolumnist David Ignatius meinte: «Putin blickte am Samstag in den Abgrund – und blinzelte.»

[Red. In Brüssel meinte die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock: «Wir sehen massive Risse in der russischen Propaganda. Die Moderatorin von ARD/WDR ergänzte: «Die Schwäche Putins könnte für die Ukraine durchaus eine Chance sein.» In der Schweiz titelte Ulrich Speck in der NZZ: «Die Rebellion deckt Putins Schwäche auf – das wird den Niedergang Russlands auf der internationalen Bühne beschleunigen.»]

Aussenminister Antony Blinken, der vor Wochen stolz verkündete, in der Ukraine keinen Waffenstillstand anzustreben, trat in der CBS-Sendung Face the Nation mit seiner eigenen Version der Realität auf: «Vor sechzehn Monaten dachten die russischen Streitkräfte, sie würden die Ukraine als unabhängiges Land von der Landkarte tilgen […] Jetzt mussten sie Russlands Hauptstadt Moskau gegen Söldner verteidigen, die Putin selbst geschaffen hat […] Das ist eine direkte Herausforderung an Putins Autorität […] Diese zeigt echte Risse.»

Interviewerin Margaret Brennan liess Blinken ohne direkte Gegenfragen reden. Blinken wusste dies – warum wäre er sonst in der Sendung aufgetreten. Er fuhr fort: «In dem Masse, in dem dies [die Revolte Progoschins] eine echte Ablenkung für Putin und die russischen Generäle darstellt, die mit der Gegenoffensive in der Ukraine beschäftigt sein müssen, glaube ich, dass dies den Ukrainern noch mehr Möglichkeiten eröffnet, vor Ort erfolgreich zu sein.»

Der Wagner-Putsch war ein schnell verloschenes Strohfeuer

Hat Blinken an dieser Stelle für Joe Biden gesprochen? Glaubt der Präsident, der das Sagen hat, das ebenfalls?

Heute wissen wir, dass der Aufstand des chronisch labilen Prigoschin innerhalb eines Tages im Sande verlief. Er flüchtete nach Weissrussland, wo ihm keine Strafverfolgung droht. Seine Söldnerarmee wurde in die russische Armee integriert. Es gab weder einen [ernst zu nehmenden] Marsch auf Moskau noch eine nennenswerte Bedrohung für Putins Herrschaft.

[Es wurde nie darüber informiert, wie viele Jeeps oder Panzer bis 200 Kilometer vor Moskau fahren konnten, obwohl dies auf Satellitenbildern ersichtlich sein musste.]

Die Washingtoner Kolumnisten und Korrespondenten für nationale Sicherheit verlassen sich offensichtlich zu stark auf offizielle Hintergrundgespräche mit Beamten des Weissen Hauses und des Aussenministeriums. Angesichts der veröffentlichten Ergebnisse solcher Hintergrundgespräche scheinen diese Beamten nicht in der Lage zu sein, die Realität der letzten Wochen oder das Desaster der Gegenoffensive des ukrainischen Militärs zu erkennen.

Im Folgenden möchte ich einen Blick auf die tatsächlichen Vorgänge werfen, die mir von einer sachkundigen Quelle in US-Geheimdienstkreisen mitgeteilt wurden.

Putin geht gestärkt aus diesem Konflikt hervor

Entscheidend ist, dass sich Putin jetzt in einer viel stärkeren Position befindet. Bereits im Januar 2023 war ein Showdown absehbar zwischen den Generälen, die von Putin unterstützt werden, und Prigoschin, der von Extremisten unterstützt wird. Es ist der alte Konflikt zwischen «besonderen» Kriegskämpfern, den Spezialeinheiten (SF), und einer grossen, langsamen, schwerfälligen und phantasielosen regulären Armee.

Die Armee gewinnt immer, weil sie über die notwendigen Mittel verfügt, die einen Sieg, sei es offensiv oder defensiv, möglich machen. Am wichtigsten ist, dass sie die Logistik kontrollieren.

Die SF sehen sich selbst als wichtigste Offensivkraft. Solange die Gesamtstrategie offensiv ist, toleriert die grosse Armee die Hybris und das öffentliche Schenkelklopfen der SF, weil diese bereit sind, ein hohes Risiko einzugehen und einen hohen Preis zu zahlen.

«Wagner-Mitglieder waren die Speerspitze der ursprünglichen russischen Ukraine-Offensive. Sie waren die ‹kleinen grünen Männchen›. Als sich die Offensive zu einem umfassenden Angriff der regulären Armee ausweitete, unterstützte diese die Wagner-Mitglieder. Eine erfolgreiche Offensive erfordert einen hohen Aufwand an Männern und Ausrüstung.»

Strategieänderung von der Offensive zur Defensive

Doch in der Zwischenzeit änderten die grosse Armee und Putin langsam ihre Strategie von der offensiven Eroberung zur Verteidigung dessen, was sie bereits hatten. Eine erfolgreiche Verteidigung erfordert einen sparsamen Umgang mit den Mitteln. Das hiess für die Wagner-Einheiten, in der folgenden Zeit der Neuausrichtung widerwillig in den Hintergrund zu treten. Prigoschin, kein schüchternes Wesen, wollte darauf seine Streitkräfte verstärken und seinen Sektor stabilisieren.

Prigoschin weigerte sich, auf Verteidigung umzustellen und setzte die Offensive gegen die Stadt Bachmut fort. Dort lag der Knackpunkt. Anstatt eine öffentliche Krise heraufzubeschwören und Prigoschin vor ein Kriegsgericht zu stellen, hielt Moskau einfach die Ressourcen zurück und liess Prigoschin seine Personal- und Feuerkraftreserven aufbrauchen. Prigoschin protestierte öffentlich, doch er war zum Aufgeben verdammt.

Die Medien berichteten nicht darüber, dass Wagner vor drei Monaten von der Bachmut-Front abgezogen und zur Demobilisierung in eine verlassene Kaserne nördlich von Rostow am Don [im Süden Russlands] gebracht wurde. Die schwere Ausrüstung wurde grösstenteils umverteilt. Die Truppe wurde auf etwa 8000 Mann reduziert. Von diesen gingen dann 2000 in Begleitung der örtlichen Polizei nach Rostow [und nahmen die Stadt kurz in Beschlag].

Putin stellte sich voll und ganz hinter die Armee, die es zuliess, dass Prigoschin sich lächerlich machte und nun in der Versenkung verschwindet. Und das alles, ohne militärisch ins Schwitzen zu geraten oder Putin in eine politische Pattsituation mit den Fundamentalisten zu bringen, die glühende Verehrer Prigoschins sind. Das scheint ziemlich schlau zu sein.

Informations-Diskrepanz zwischen den Geheimdienstfachleuten und dem Weissen Haus – und der Presse, die sich als Regierungsorgan versteht

Es besteht eine enorme Diskrepanz zwischen der Einschätzung der Lage durch Fachleute der US-Geheimdienste und dem, was das Weisse Haus und die Washingtoner Presse der Öffentlichkeit vorgaukeln, indem sie die Aussagen von Blinken und seinen Falken-Kohorten unkritisch wiedergeben.

Die aktuellen Statistiken über die Kampfhandlungen, die mir zugetragen wurden, deuten darauf hin, dass die Aussenpolitik der Regierung Biden in der Ukraine gefährdet sein könnte. Sie werfen Fragen über die Beteiligung des NATO-Bündnisses auf, das die ukrainischen Streitkräfte mit Ausbildung und Waffen für die derzeitige Gegenoffensive versorgte. Ich erfuhr, dass das ukrainische Militär in den ersten zwei Wochen der Gegenoffensive nur 44 Quadratmeilen des zuvor von der russischen Armee gehaltenen Gebiets eroberte, einen Grossteil davon auf offenem Gelände. Im Gegensatz dazu kontrolliert Russland 40’000 Quadratmeilen ukrainischen Territoriums. Mir wurde gesagt, dass sich die ukrainischen Streitkräfte in den letzten zehn Tagen keinen nennenswerten Weg durch die russischen Verteidigungsanlagen bahnen konnten. Sie haben nur zwei weitere Quadratmeilen des von Russland besetzten Gebiets zurückerobert. Bei diesem Tempo, so sagte ein informierter Beamter scherzhaft, würde Selenskys Militär 117 Jahre brauchen, um das Land von der russischen Besatzung zu befreien.

Grossoffensive der ukrainischen Streitkräfte erst im Spätsommer?

«Ukrainische Offensive kommt trotz westlichen Waffen nur langsam voran», titelte die NZZ am heutigen 3. Juli. Sie zitiert den österreichischen Generalstabsoffizier Markus Reisner, der Anzeichen dafür sieht, dass sich die Ukrainer zunächst konsolidieren, um im Spätsommer noch einmal eine neue Offensive zu starten.

Mehrere Videos würden den «katastrophalen Verlauf der ukrainischen Angriffe» dokumentieren, schreibt der verteidigungspolitische Redaktor der NZZ in Deutschland, Marco Seliger. Die Ukrainer könnten sich gegen Angriffe aus der Luft zu wenig wehren und hätten nach Angaben der niederländischen Dokumentationsplattform «Oryx» bisher 13 Prozent ihrer Leopard-Kampfpanzer und 22 Prozent der amerikanischen Bradley-Panzer verloren.
Die russische Armee habe ausgedehnte Minenfelder und gestaffelte Verteidigungelinien errichtet. Seliger schildert dramatische Folgen: «Soldaten, teilweise verletzt, verlassen die Panzer, geraten unter Feuer und suchen Deckung in Gebieten ausserhalb der [geräumten] Minengasse. Dort geraten sie in Felder aus Antipersonenminen. Sie sterben qualvoll mit abgerissenen Gliedmassen, während ihre Kameraden kaum helfen können, weil sie sich dazu selbst in das Minenfeld begeben müssten.»

Hoffnung bringe den Ukrainern von den USA versprochene weitere 30 Bradley- sowie 25 Radpanzer vom Typ Stryker. Und Rheinmetall wolle bis Anfang nächsten Jahres im Auftrag der Niederlande und Dänemarks 14 weitere Leopard-2A4 an die Ukraine liefern. Die deutsche Regierung beabsichtige, in den kommenden Monaten bis zu 100 ältere Kampfpanzer von Typ Leopard-1 in die Ukraine zu schicken.

Gibt es ein Aufwachen – im Weissen Haus und in der Presse?

Die Washingtoner Medien scheinen in den letzten Tagen das Ausmass der Katastrophe langsam zu begreifen. Doch es gibt keine öffentlichen Anzeichen dafür, dass Präsident Biden und seine ranghohen Berater im Weissen Haus und die Mitarbeiter des Aussenministeriums die Situation realisieren.

Putin hat nun die fast vollständige Kontrolle über die vier ukrainischen Oblaste Donezk, Cherson, Lubansk und Saporischschja, die er am 30. September 2022, sieben Monate nach Beginn des Krieges, öffentlich annektiert hat. Der nächste Schritt, vorausgesetzt, es geschieht kein Wunder auf dem Schlachtfeld, liegt in Putins Hand. Er könnte einfach stehen bleiben und abwarten, ob die militärische Realität vom Weissen Haus akzeptiert wird und ob ein Waffenstillstand angestrebt und formelle Gespräche über das Ende des Krieges aufgenommen werden.

Im April nächsten Jahres stehen in der Ukraine Präsidentschaftswahlen an. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky könnte sich zurückhalten und diese abwarten – wenn sie denn überhaupt stattfinden. Selensky erklärte, dass es keine Wahlen geben werde, solange das Land unter Kriegsrecht steht.

Bidens politische Probleme im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr sind akut und offensichtlich. Am 20. Juni veröffentlichte die Washington Post einen Artikel auf der Grundlage einer Gallup-Umfrage unter der Überschrift «Biden sollte nicht so unbeliebt sein wie Trump – aber er ist es». In dem Artikel zur Umfrage hiess es, Biden habe «fast universelle Unterstützung innerhalb seiner eigenen Partei, praktisch keine von der Oppositionspartei und schreckliche Zahlen bei den unabhängigen Wählern». Wie frühere demokratische Präsidenten kämpfe Biden damit, «jüngere und weniger engagierte Wähler anzusprechen». Allerdings hatte die Umfrage offenbar keine Fragen zur Aussenpolitik der Regierung gestellt.

Die Demokraten verlieren ihre klassische Anhängerschaft, wenn sie nicht auf die Finanzierung dieses Krieges verzichten

Die drohende Katastrophe in der Ukraine und ihre politischen Auswirkungen sollten ein Weckruf für jene demokratischen Kongressmitglieder sein, die den Präsidenten unterstützen, aber nicht damit einverstanden sind, in der Hoffnung auf ein Wunder viele Milliarden guter Gelder in die Ukraine zu stecken.

Die Unterstützung der Demokraten für den Krieg ist ein weiteres Beispiel für die zunehmende Abkehr der Partei von der Arbeiterklasse. Es sind die Kinder der Arbeiterklasse, die in den Kriegen der jüngsten Vergangenheit kämpften und möglicherweise in jedem künftigen Krieg kämpfen werden. Diese Wählerschicht hat sich in zunehmender Zahl abgewandt, da sich die Demokraten den intellektuellen und wohlhabenden Klassen annähern.

Es wäre wahrscheinlich klug von Joe Biden, offen über den Krieg und seine verschiedenen Probleme für die USA zu sprechen. Er sollte erklären, warum die geschätzten mehr als 150 Milliarden Dollar, die seine Regierung für die Ukraine bisher aufwendete, nicht besser anderweitig hätten ausgegeben werden sollen.

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Übersetzung aus dem Englischen: Erich Becker/upg

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Oben      —        Wladimir Putin und Jewgeni Prigoschin (2010)

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Blast from the Past

Erstellt von Redaktion am 4. Juli 2023

„Party till you die!“: Kein englischer Sommernachtstraum

Die königliche Familie Juni 2013.JPG

Von Karina Urbach

In München findet das Oktoberfest ab 16. September statt, im englischen Cambridge wird die „May Week“ im Juni gefeiert. Dieses Jahr wählten die Studenten des Cambridger Pembroke College das Partymotto „In der Tiefe“. Es gab U-Boot Pizzas, Meeresdekora­tionen mit Taucherhelm, und natürlich wurde Céline Dions „Titanic“-Song „My Heart Will Go On“ gespielt.

Das Problem dabei: Zum Zeitpunkt des Festes lief eine Suchaktion nach der „Titan“, dem Mini-U-Boot, das Tauchfahrten zum Wrack der „Titanic“ anbot. In der „Titan“ saß auch ein ehemaliger Pembroke-Student, der Milliardär Hamish Harding. Seine Cousine sagte der britischen Presse, sie wäre entsetzt darüber, dass ausgerechnet Hardings ehemaliges College diese Party ausgerichtet habe und sie hoffe, man hätte nicht auch noch „We all live in a yellow submarine“ gespielt.

Den richtigen Ton zu finden ist nicht immer einfach. Der junge Oxford-Student Boris Johnson feierte 1985 seinen College-Ball unter dem Motto „Party till you die!“. 35 Jahre später erneuerte er dieses Versprechen. Die Partys, die er in der Downing Street während der Pandemie feierte, brachten ihm einen Aufenthalt auf einer Covid-Intensivstation ein und führten 2022 zu seinem Rücktritt als Premierminister. Im Juni 2023 trat er dann auch noch als Abgeordneter zurück und wurde Kolumnist der Daily Mail.

In seinem ersten Artikel sinnierte er über seine fatale Leidenschaft für Käse. Wie aufmerksame Leser sofort erkannten, handelte es sich um eine recycelte Geschichte. Seine Käse-Cholesterin-Sorgen hatte er bereits 2001, 2004 und 2008 in Artikeln für den Daily Telegraph beschrieben. Aber trotz dieser Käsemanie sollte man sein Potenzial, weiterhin Ärger zu verursachen, nicht unterschätzen:

Jeder Premierminister darf nach seinem Abgang eine „resignation list“ einreichen. Es ist eine Art Dankesliste, mit der man ehemaligen Mitarbeitern und Parteispendern eine besondere Ehrung verschafft: einen Order of the British Empire (OBE); eine Ritterwürde oder einen Sitz im Oberhaus.

Das Haloc-Komitee des House of Lords, muss jedoch die Liste der Vorgeschlagenen überprüfen und gutheißen. Boris Johnson hatte schon in der Vergangenheit Probleme mit Haloc. Seinem Bruder Jo konnte er zwar einen Sitz im Oberhaus verschaffen, aber als er 2020 den russischen Geschäftsmann Evgeny Lebedev zum Lord machen wollte, stellten sich die britischen Nachrichtendienste quer. Sie misstrauten Lebedev, dessen Vater ein ehemaliger KGB-Agent mit Milliardenvermögen ist. Johnson setzte sich am Ende durch.

Die Gunst von Lebedev junior war ihm wichtig, denn der besitzt zwei Zeitungen in Großbritannien: den Evening Standard und Anteile am Independent. Während seiner Zeit als Bürgermeister von London wurde Boris vor allem vom Evening Standard mit freundlichen Artikeln unterstützt.

Boris und Lebedevs transaktionale Beziehung folgte einer langen Tradition: Schon der Labour-Premier Toni Blair hieß reiche Oligarchen in London willkommen, und die gesamte britische Kultur- und Politikelite feierte bis zum Überfall auf die Ukraine gerne mit Lebedev und Co.

Johnsons „resignation list“ forderte keine Ehrungen mehr für russische Freunde. Aber sie überraschte auf andere Weise: Zuerst einmal wurde seine Friseurin Kelly Dodge mit dem OBE, einen Orden für besondere Verdienste um seine Haare, ausgezeichnet. Tatsächlich hat sie damit eine beneidenswerte Marke geschaffen. Selbst Boris-Kritiker Michael Gove bewertet die Ehrung als fair. Kelly habe schließlich „mehr Schnitte gemacht als jeder Minister“.

Umstrittener ist jedoch die Erhebung einer 29-jährigen Boris-Mitarbeiterin in das Oberhaus. Charlotte Owen wird demnächst als jüngstes Mitglied des House of Lords über britische Gesetze debattieren dürfen. Laut Guardian war sie vermutlich nur eine Mutterschaftsvertretung in Downing Street, die jedoch in ihrer kurzen Karriere Boris politisch beraten dürfte.

Weniger Glück als Charlotte hatte die ehemalige Kultusministerin Nadine Dorries. Boris und Dorries waren jahrelang ein Bonnie-und-Clyde-Dreamteam. Und er hatte seiner alten Kampfgefährtin ebenfalls den Einzug ins Oberhaus versprochen. Das Haloc-Komitee lehnte Dorries jedoch ab (insgesamt wurden 8 von 15 Vorgeschlagenen abgelehnt, darunter auch Boris’ Vater, der ebenfalls ein Lord werden sollte).

Quelle         :           TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben     —    Die königliche Familie beobachtet das Vorbeifliegen, Trooping the Colour Juni 2013

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Bundeswehreinsatz in Mali

Erstellt von Redaktion am 3. Juli 2023

Vor Abzug Ausverkauf

Die weißen Eroberer waren auf plötzliche Abzüge immer schlecht vorbereitet !

Ein Debattenbeitrag von Dominic Johnson

Der UN-Einsatz in Mali, der auch größter Auslandseinsatz der Bundeswehr war, ist beendet. Deutschland ist auf dieses plötzliche Aus kaum vorbereitet.

Das war’s. Die UN-Mission in Mali ist Geschichte und damit auch der aktuell größte Auslandseinsatz der Bundeswehr. Am Freitag beschloss der UN-Sicherheitsrat in New York, „das Mandat der Minusma mit Wirkung zum 30. Juni 2023 zu beenden“ und „am 1. Juli unverzüglich mit der Einstellung ihrer Operationen, der Übertragung ihrer Aufgaben sowie dem geordneten und sicheren Abzug ihres Personals zu beginnen“.

Deutschland hatte aber gerade erst das Mali-Bundeswehrmandat bis Ende Mai 2024 verlängert, für einen „geordneten und sicheren Abzug“. Das muss jetzt viel schneller gehen. Der deutsche Mali-Einsatz wurde oft als Antiterroreinsatz dargestellt, aber die Minusma hatte nie ein Antiterrormandat. Als sie am 1. Juli 2013 entstand, war der Kampf gegen islamistische Terrorgruppen einer separaten Eingreiftruppe aus Frankreich vorbehalten, die in den Monaten zuvor Malis Nordhälfte von bewaffneten Islamisten zurückerobert hatte.

Die Minusma bekam ein Stabilisierungsmandat – sie soll die Wiederherstellung der Autorität des malischen Staates auf dem gesamten Staatsgebiet unterstützen und seit 2015 auch die Umsetzung des Friedensabkommens von Algier zwischen Malis Regierung und den Tuareg-Rebellengruppen im Norden überwachen. Den Widerspruch zwischen diesen beiden Dimensionen des UN-Mandats hat die Minusma nie auflösen können, und das ist ihr zum Verhängnis geworden.

Das Friedensabkommen von Algier gewährt dem Norden Malis weitreichende Autonomie. Staatliche Autorität aber bedeutet im malischen Verständnis ein Macht- und Gewaltmonopol der Zentralregierung. Es geht nicht beides auf einmal. Bis heute ist Malis Regierung und Armee dort, wo Tuareg-Rebellen das Sagen haben, nur rudimentär oder gar nicht präsent. Diesen Widerspruch aufzulösen, wäre die Aufgabe Malis gewesen.

Islamisten auf dem Vormarsch

Die zivile Regierung von Präsident Ibrahim Boubacar Keïta, der 2013 erstmals gewählt und 2020 weggeputscht wurde, eierte herum. Ihre Nachfolger, die Militärputschisten unter dem heutigen Machthaber Assimi Goïta, akzeptieren das alles nicht mehr. Sie haben erst Frankreich hinausgeworfen und nun eben auch die UNO. Als Nächstes dürfte das Friedensabkommen von Algier gegenstandslos werden. Aus Sicht der Tuareg-Rebellen bedeutet der Minusma-Abzug das Scheitern des Friedensprozesses.

Derweil ist der Islamische Staat in der Großen Sahara (ISGS) auf dem Vormarsch in Malis Nordosten an der Grenze zu Niger. Zuletzt kämpften die IS-Angreifer in der Gemeinde Gabero nur noch 45 Kilometer flussabwärts vom Bundeswehr­standort Gao – eine relativ kurze Fahrt im Pick-up. Die Militärs in Bamako geben sich zuversichtlich mit 1.400 russischen Wagner-Kämpfern an ihrer Seite und Waffen aus Moskau. Brutale Massaker nimmt man in Kauf.

Wagner hat bereits Frankreichs Militärbasen im Norden Malis übernommen, auch am Flughafen von Gao direkt neben dem deutschen Camp Castor. Insofern ist der Abzug der UNO nicht nur folgerichtig, sondern überfällig, und eigentlich hätte es dafür gar keiner Aufforderung aus Bamako bedürfen sollen. Die deutschen Soldaten in Gao müssten sonst untätig zusehen, falls Malis Armee mit Wagner-Hilfe Tuareg im Norden Malis mas­sakriert – UN-Soldaten sollen laut Mandat zwar die Zivilbevölkerung schützen, aber sie können ihre Gewehre nicht gegen Malis Armee richten.

Viele Beobachter weisen darauf hin, dass die UN-Präsenz in Mali auch ihr Gutes hatte: Die Minusma war ein Garant für halbwegs freie und faire Wahlen 2024; sie bot in Konfliktgebieten einen neutralen und sicheren Raum für lokale Verständigungsprozesse; UN-Flüge stellten faktisch die größte innermalische Fluglinie dar.

Andererseits ähneln solche Argumente denen progressiver Verteidiger des Kolonialismus in den 1950er und 1960er Jahren: Die Afrikaner brauchen uns, ohne uns funktioniert nichts, und wenn wir zu früh gehen, bricht alles zusammen. Afrikaner kennen diese Argumente von früher, und im Minusma-Kontext bedeuten sie auch bloß, Nebeneffekte zum Hauptziel zu erklären und Militärisches und Ziviles zu vermischen.

Vom Drucker bis zum Werkzeugkasten

Es blieb im Bundestag der AfD überlassen, die Bundesregierung zu fragen, was Deutschland eigentlich in Mali jenseits des Militärischen hinterlasse, also „in welcher Gesamthöhe infrastrukturelle Projekte von Deutschland teil- oder vollständig finanziert wurden, wer die Träger der Bauprojekte waren, was der gegenwärtige Stand der Baumaßnahmen ist und welcher Nutzung die infrastrukturellen Maßnahmen künftig zugeführt werden“.

Quelle        :        TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Oben        —       Personeel van de Long Range Reconnaissance Patrol Task Group wordt met verschillende middelen naar Timboektoe gevlogen, onder andere met Duitse NH-90’s die ook op Gao gestationeerd zijn.

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Die progressive Regierung

Erstellt von Redaktion am 3. Juli 2023

Konfliktlinien und ihre Zuspitzung

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von       :        Jonathan Eibisch

Eine umfassende Gesellschaftstransformation. In der letzten Zeit kam es zur Remilitarisierung, zur Verschlimmerung des Asylstatus und Prekarisierung der Lebensverhältnisse. Das geschah unter einer „progressiven“ Regierung, nicht gegen sie, sondern durch sie.

Dennoch zeigt sich zu Beispiel beim Heizungsgesetz, dass die in die Regierungspolitik eingebauten Klimaschutzbestrebungen auf massiven Gegenwind des konservativen Bürgertums stossen, welche die Wahrung von Besitzstandsinteressen setzen – und dazu auch den ärmeren Bevölkerungsgruppen Angst davor machen, dass es ihnen jetzt an die Heizung ginge. Klar, man könnte auch den Verkehr, die Transportwege, die Industrie oder Landwirtschaft nach ökologischen Gesichtspunkten umgestalten. Insofern ist das Ansetzen bei den Privatbürger*innen eine Verlagerung des Problems. Zugleich wäre die Verringerung des Gas-, Strom- und Wärmebedarfs langfristig nicht alleine aus ökologischen, sondern ebenso aus sozialen Gründen ein Gewinn für viele.

Doch in der Bundespolitik wird diese Reformmassnahme zu einem unglaublichen Einschnitt aufgebauscht, obwohl er dem notwendigen Erneuerungsbedarf ja ohnehin nur ansatzweise entspricht. Schuld daran sind diesmal nicht die Partei-Grünen, sondern das Besitzbürgertum, dessen Vertreter*innen sich massiv gegen Reformen stemmen. Doch wenn heute nicht umgesteuert wird bedeutet dies, dass fossile Energieträger über weitere Jahrzehnte aus der Erde gegraben und verheizt werden. Und dies zu einem Zeitpunkt, wo der ganze Kram komplett im Boden bleiben müsste, um noch ein Abmildern der Auswirkungen des Klimawandels zu ermöglichen. Deswegen lässt sich eine lebenswerte Zukunft für alle lässt sich nur durch die Überwindung des Privateigentums und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel realisieren.

Inzwischen greifen in den westeuropäischen Ländern auch US-amerikanische Verhältnisse um sich, was den Kulturkampf hinsichtlich feministischer Anliegen und Geschlechterdiversität angeht. Die Themen sexuelle Selbstbestimmung und Aufklärung, alternative Beziehungskonzepte, Hinterfragung von Gender-Rollen, Beachtung der Existenz und Rechte von Transpersonen usw., welche mit einer zaghaften Liberalisierung und jahrzehntelangem Graswurzelaktivitäten vorangebracht wurden, werden massiv als satanisches und subversives Projekt des Kulturmarxismus von rechten Akteur*innen bekämpft – was nicht zuletzt zu einer Zunahme der direkten Gewalt gegenüber Menschen führt, die von der heteronormativen Zwangsmatrix abweichen.

Monate vor der Unterwerfung der antifaschistischen Szene am dritten Juni in Leipzig, wurde eine systematische Hetzkampagne gegen Antifaschist*innen lanciert, welche die Repression und die mit ihr verbundenen weiteren Eingriffe in Grundrechte vorbereiteten. Das hat es zwar bereits vorher gegeben. Aber in Sachsen, wo die AfD in Umfragen auf 32,5% kommt, während sie im Bund bald bei 20% liegt, zielt das Aufbauschen des legitimen und notwendigen Antifaschismus als Staatsfeind letztendlich auf die vollständige Zerschlagung dieser sozialen Bewegung. Im Idiotenbewusstsein faseln sie dagegen weiter von der Ablehnung der Gewalt „von links und rechts“, von der Bekämpfung jeden Extremismus‘ – während eine im Kern neofaschistische Partei bald die Regierung anführen wird.

Wer hauptsächlich auf die politische Ebene und die Akteur*innen schaut, wird jedoch nie begreifen, was vor sich geht, sondern sich in weiter in politischen Illusionen bewegen. Es gilt zu verstehen, dass wir uns in einer umfassenden Gesellschaftstransformation befinden – und die Systemfrage zu stellen. Die damit verbundenen Entwicklungen sind altbekannt und verschärfen sich lediglich mit der multiplen Krisen, in welcher die bestehende Gesellschaftsform sich befindet:

Die wohlhabenden Ländern ziehen ihre Mauern vor den Flüchtlingsströmen hoch. In ihrem Inneren wird der Anteil prekär und elend lebender Menschen grösser, während die öffentliche Infrastruktur weiter zurückgebaut und privatisiert wird. Die Strassengewalt nimmt zu, um den angestauten Hass an Anders-gelesenen zu entladen und die eigene Verrohung zu kanalisieren. Und dabei brennt die Erde und die Ausbeutung von Natur und Menschen wird fortgesetzt. Sich dieses Szenario vorzustellen ist keine Kunst, sondern lediglich die Verlängerung der gegenwärtigen Entwicklungen. Staatliche Reformen mögen sie teilweise regulieren und für die Privilegierteren einen Ausgleich schaffen. Grundlegende Veränderungen sind durch sie aber keineswegs zu erwarten.

Aus diesen sehr pragmatischen Gründen gilt es sich auf etwas Besseres zu fokussieren als die Abwehr und Abmilderung der Verelendung und Zerstörung. Selbstverständlich ist es eine Frage der Kräfteverhältnisse, ob wir eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform erkämpfen und aufbauen können. Ohne eine solche Orientierung können emanzipatorische Akteur*innen ihre Kräfte aber auch nicht bündeln und ausweiten.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —        Anarquía

Verfasser Saraclaroscuro       /   Qielle   :  Eigene Arbeit       /     Datum      :    10. 09. 2014

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Von DIE LINKE

Erstellt von Redaktion am 3. Juli 2023

Bundesregierung reißt Frist zur Evaluierung des Strukturwandels
in den Kohlerevieren.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von DIE LINKE. im Kreistag Rhein-Erft

LINKE Abgeordnete aus den Revieren veröffentlichen Positionspapier.

Zum 30. Juni 2023 ist es gesetzlich vorgeschrieben, den Strukturwandel in den Kohlerevieren mitFokus auf Wertschöpfung, Arbeitsmarktsituation und das kommunale Steueraufkommen zuevaluieren (Investitionsgesetz Kohleregionen, § 26). Die Federführung liegt beim Bundesministeriumfür Wirtschaft und Energie. Aus diesem Anlass präsentieren die Fraktionen der LINKEN in denKohlerevieren pünktlich zum Stichtag ein gemeinsames Positionspapier. Darin fordern sie mehr Bürgerbeteiligung, schärfere Förderkulissen zugunsten nachhaltiger und tarifgebundenerIndustriearbeits- und -ausbildungsplätze sowie eine dezentrale Energieerzeugung mit Stärkung derkommunalen Familie.

Bereits zum 15. August 2022 hatte die Bundesregierung eine Evaluierungsfrist verstreichen lassen. In§ 54 fordert das Kohleverstromungsbeendigungsgesetz eine Zwischenbilanz zu den Konsequenzendes Kohleausstiegs für die Versorgungssicherheit, die Zahl und installierte Leistung der von Kohle aufGas umgerüsteten Anlagen, die Wärmeversorgung sowie die Strompreise.

Martin Schirdewan, Co-Vorsitzender der Fraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament,erklärt:„Es markiert ein wirtschafts- und sozialpolitisches Versagen der Bundesregierung, dass sie erneut diegesetzlichen Fristen reißt und es offenbar nicht für nötig hält, die Öffentlichkeit rechtzeitig über denStand und die Auswirkungen des Strukturwandels im Hinblick auf die Kommunen, die Wirtschaft unddie Arbeitsplätze zu informieren. Die Verunsicherung wächst und die extreme Rechte kocht daraufihre braune Suppe. Umso dringender ist es, dass der nötige Umbau in den Braunkohlerevieren sozialgerecht gelingt und die Menschen dabei mitbestimmen können – schließlich geht es um ihre Arbeitund ihre Zukunft. Ein gelingender Strukturwandel wäre auch ein starkes Mitteln zur Sicherung unsererDemokratie. Daher ist die Politik hier in der Verantwortung: Da sozialer Zusammenhalt undKlimaschutz für die ganze Gesellschaft wichtig sind, muss der Umbau auch öffentlich organisiertwerden – und jetzt politische Priorität haben.“

Hans Decruppe, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Kreistag Rhein-Erft, fügt hinzu:„Als langjähriger Lokalpolitiker muss ich zum Stand des Strukturwandelprozesses im RheinischenRevier feststellen, dass eine transparente und veränderungswirksame Beteiligung der kommunalenEbene, der Bürgerinnen und Bürger und der Zivilgesellschaft nicht erfahrbar ist. Der Wandel vollziehtsich über den Köpfen der Menschen. Dieser Eindruck wurde inzwischen auch wissenschaftlichbestätigt.Als Gewerkschafter blicke ich natürlich auf soziale Sicherheit und auf die wirtschaftliche Entwicklungunserer Region. Dass die milliardenschwere Projektförderung gute, d.h. tarifgebundene,mitbestimmte und zukunftsfähige Arbeitsplätze insbesondere im Industriebereich schafft, ist zumjetzigen Stichtag spekulativ. Zu widersprüchlich und völlig unkonkret sind die Aussagen der grünenWirtschaftsministerin in Nordrhein-Westfalen. Und selbst der Umstieg auf erneuerbare Energiequellenist viel zu lahm. Dabei benötigt die Region mit ihren energieintensiven Branchen – wie Chemie undAluminium – Energieversorgungssicherheit. Von einer ‚Europäischen Modellregion fürEnergieversorgungs- und Ressourcensicherheit‘, wie es im Gesetz heißt, ist das Rheinische Revierjedenfalls meilenweit entfernt.“

Antonia Mertsching, Sprecherin der Linksfraktion im Sächsischen Landtag für Strukturwandel,Nachhaltigkeit und Umwelt, sagt:„Der Freistaat Sachsen hat es verpasst, eine erfolgreiche Regionalentwicklung anzustoßen undgemeinsam mit den Ländern Sachsen-Anhalt und Brandenburg eine länderübergreifende Strategiefür das Lausitzer und das Mitteldeutsche Revier zu entwickeln. Stattdessen wurde ein Verfahren zurVerteilung der Strukturwandelmittel auf den Weg gebracht, das intransparent, wenigbeteiligungsorientiert und zu wenig auf die Bedürfnisse der kernbetroffenen Gemeinden ausgerichtetist. Ökologische Ziele spielen leider auch überhaupt keine Rolle. Wir fordern daher einen Neustart imStrukturwandel! Nötig sind eine konkrete Strategie, eine gerechtere Verteilung der Mittel, mehrBeteiligung – vor allem von Kindern und Jugendlichen –, sowie bessere Planungs- undPersonalressourcen in den Gemeinden. Sonst wird es nichts mit dem eigenen Anspruch, europäischeModellregion der Transformation zu werden!“

Anke Schwarzenberg, Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Landtag Brandenburg fürStrukturwandel in der Lausitz, ländliche Entwicklung, Regionalplanung und Raumordnung,fügt hinzu:„Wir müssen Vertrauen in Veränderung schaffen, Fachkräfte sichern und die weichenStandortfaktoren künftig stärker fördern, damit der Strukturwandel in der Brandenburger Lausitzgelingt. Die finanziellen Mittel vom Bund sind eine riesige Chance. Es braucht aber mehr Transparenzund Bürgerbeteiligung, damit die Menschen in der Lausitz den Strukturwandel selbst gestalten undnicht über ihre Köpfe hinweg erleben. Das schwächt auch rechtsextreme Strukturen und stärkt dieDemokratie. Dem Fachkräftemangel setzen wir gute Arbeitsbedingungen, Tarifbindung undMitbestimmung entgegen. Hieran sollte die Fördermittelvergabe künftig geknüpft werden.Entscheidend sind zudem die weichen Standortfaktoren wie Schulen, Kitas und eine funktionierendeGesundheitsversorgung. Wir können mit den Fördergeldern eine lebenswerte Lausitz für alleBürgerinnen und Bürger schaffen. Lassen wir sie viel stärker mitreden, mitdiskutieren undmitentscheiden.“

Kerstin Eisenreich, Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Landtag von Sachsen-Anhalt fürStrukturwandel, Agrar-, Energie-, Verbraucherschutzpolitik und ländliche Räume, sagt:„Der Start in die Umsetzung der Gesetze zum Strukturwandel in Sachsen-Anhalt wurde ziemlichverstolpert. Sehr spät wurden auf der Landesebene die Richtlinie erlassen undEntscheidungsstrukturen geschaffen, eine parlamentarische Begleitung fehlt bis heute. FehlendeBeteiligung der betroffenen Beschäftigten und Menschen im Revier vermitteln ihnen das Gefühl, dasserneut Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen werden, der Strukturwandel als bedrohlichempfunden wird und das Vertrauen in den Erfolg des notwendigen Transformationsprozesses geringist. Das muss sich aus unserer Sicht dringend ändern, auch weil die Prozesse weder transparentnoch nachvollziehbar und damit nicht geeignet sind, diese als Vorbild für andereTransformationsprozesse zu nutzen.Als Abgeordnete und Kommunalpolitikerin sehe ich in den Menschen und Kommunen das wichtigstePotenzial für den Strukturwandel. Ihre kreativen Ideen für die künftige Arbeits- und Lebensweltmüssen einfließen können. Das gilt insbesondere für die jungen Menschen, die eine Perspektive fürihre Zukunft in der Region brauchen und dabei selbst mit anpacken wollen. Nutzen wir diesesPotenzial!“

Andreas Schubert, Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag für Wirtschaft,erklärt abschließend:„Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet ist eine Verpflichtung aus demGrundgesetz und begründet somit die Notwendigkeit, den Strukturwandels in den Braunkohlerevierenmit dem Investitionsgesetz Kohleregionen aktiv politisch zu begleiten. Die Fehler aus derNachwendezeit mit tiefgreifenden Strukturbrüchen infolge der Deindustrialisierung ganzer Landstrichein Ostdeutschland haben jahrzehntelang abgehängte Regionen wie Ostthüringen hinterlassen. Dasdarf sich nicht wiederholen. Infrastruktur, zum Beispiel eine gute Bahnanbindung, spielt eine Schlüsselrolle für die Entwicklung neuer Wertschöpfungsketten mit zukunftssicherenIndustriearbeitsplätzen auch für das Altenburger Land, das Teil des mitteldeutschen Reviers ist.Deshalb ist die durchgehende Elektrifizierung der Mitte-Deutschland-Schienenverbindung einSchwerpunktprojekt für Thüringen. In Verbindung mit der Elektrifizierung der Strecke zwischen Zeitzund Gera kann die Anbindung des gesamten Ostthüringer Raums auch an den Fernverkehrverbessert werden.“

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Oben      —    Westlicher Ortseingang aus Richtung Landstraße 277 im Januar 2023

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DIE * WOCHE

Erstellt von Redaktion am 3. Juli 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

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Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Sonneberg – Ein AfD-Mann als Landrat und keiner weiß, was der macht. Frankreich und der pure Horror wobei die Polizei den Jugendlichen Nahel M. erschossen und es gibt Proteste. Die Deutschen liefern ein Heizungsgesetz welchees kaum jemand versteht.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Trotz „Wagner“-Implosion kein Frieden.

Und was wird besser in dieser?

Gern weiterimplodieren.

In Sonneberg wird erstmals ein AfD-Kandidat zum Landrat gewählt. Was hilft jetzt?

Unaufgeregtheit. Die AfD hat Alarm kassiert bis hin zur New York Times; das letzte Mal der Corona-Ausbruch nach einer Karnevalsfeier hatte so geschallert. Beides nicht so lustig. Beruhigend für eine Partei, die sich notorisch medial übergangen sieht. Außerhalb einer harten Nerdszene weiß kein Schwein, was einen guten Landrat von einem schlechten unterscheidet, ob der vaterländische Verwalter jetzt Rassentrennung auf Radwegen einführt oder kurz telefonisch mit Putin diese leidige Ukrainesache klärt. Hilfreich wird also, nüchtern zu gucken, ob der Neue liefert. Was er auf Plakaten versprach, liegt außerhalb seiner Amtsgewalt. Aus dieser sachlichen Perspektive heraus wäre Sonneberg kein Multispreader-Event, sondern ein Wahlkreis, der sich tüchtig vertan haben könnte. Helfen hilft nix, die wollen Autorität.

Der ­Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte bei einem Auftritt in Weimar zum Sieg der AfD: „Das größte Standortrisiko für Ostdeutschland ist die AfD.“ Kämen Sie als Fachkraft noch nach Deutschland?

Der Klassiker „Was sollen denn die anderen denken“ lenkt hilfreich davon ab, es selbst zu tun. Versuchen wir’s trotzdem: Sonneberg zum Beispiel hat unterdurchschnittliche 5 Prozent Arbeitslose, unter Nichtstaatsbürgern jedoch über 11 Prozent. Der Landkreis ist nationaler Rekordhalter im Mindestlohn, nirgends ist der Anteil an Mindestlöhnern höher als hier. Kümmerstaat mal Perspektivlosigkeit gleich Langeweile. Erz-, Glas- und Spielzeugindustrie starben nacheinander weg, hier bräuchte es erst mal Ansiedlung, damit man sich dann drüber ärgern kann, wenn keine Fachkräfte folgen. Genau genommen müsste der FDP-Chef also standortscheue Unternehmer kritisieren. Dann wäre Lindner aber selbst ein Standortrisiko.

In Frankreich erschoss ein Polizist am Dienstagmorgen den 17-Jährigen Nahel M. in Nanterre. Mehrere Nächte in Folge kam es zu Ausschreitungen. Die Polizei, gegen die sich die Krawalle richten, soll die Lage beruhigen. Geht so De­eskalation?

Man mag die Revolution, Barrikaden und „An die Laterne!“ als Frankreichs staatsbegründende Folklore lesen heute – um den Horror der bürgerkriegsähnlichen Bilder einzusortieren. Wenn man damit fertig ist, bleibt Horror. Ein Gesetz von 2017 erlaubt es der Polizei, bei „Befehlsverweigerung“ zu schießen. Das führte zu 13 Toten bei Verkehrskontrollen 2022. Der Todesschütze diesmal ist Afghanistanveteran und ordensgeschmückter Gelbwestenbekämpfer. Die Eskalation hat einen Trumpf – auf sie ist Verlass. Beide Seiten sind drauf verabredet. Deeskalation fängt damit an, dass jemand sie will.

Die Ampel feierte die Einigung zum Heizungsgesetz. Die Sonderregel für über 80-Jährige wurde nun gestrichen. Ist das Altersdiskriminierung?

Die Greisenklausel war ein gut gemeinter Selbstmordanschlag: Klimawandel jetzt mit vermindertem Eintritt für Rentner, Schüler und Kriegsversehrte. Vulgo: Was da vor uns liegt und die Ampel verlangt, ist nur was für starke Gemüter, Leistungsfähige. Deutlicher kann man „Zumutung“ nicht formulieren.

Das Gebäudeenergiegesetz sei ein „Meilenstein für den Klimaschutz“, sagen die Grünen. Wer kann die Novelle nach all dem Streit noch feiern?

Quelle           :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Von der Stasi zu den Nazis?

Erstellt von Redaktion am 2. Juli 2023

„Das waren die 90er Jahre, ja?“

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Aus Wernigerode von Aron Boks

Kurz nach der Wende war Werningerode eine rechtsextreme Hochburg. Unser Autor wurde dort 1997 geboren und wusste lange nichts über diese Zeit. Eine Spurensuche zu den Punks und Nazis von einst.

Als meine Mutter im Frühjahr 2022 ihren 50. Geburtstag feiert, sehen wir uns gemeinsam mit meinem Vater in ihrem Haus in Wernigerode alte Fotos an. Ich entdecke eines, von dem ich zunächst glaube, dass ich darauf zu sehen bin. Doch es ist mein Vater, Anfang der 90er Jahre. Schließlich entwickelt sich daraus ein Gespräch über den 20. Geburtstag meiner Mutter. Es war der 25. April 1992. Ein Tag, an dem eine ganze Horde Neonazis nach einem Rechtsrockkonzert durch die Stadt stürmte, erzählen meine Eltern nebenbei. Meine Mutter feierte währenddessen mit ihren Schul­freund:in­nen etwas abseits der Stadt.

„Ich weiß gar nicht, warum ich nicht bei deiner Party war …“, sagt mein Vater, während er die weiteren Fotos durchsieht.

„Weil ich dich nicht eingeladen habe“, antwortet meine Mutter.

„Das stimmt doch gar nicht.“

„Doch!“

„Neonazis in Wernigerode?“, frage ich, um das wirklich Erstaunliche hier zu klären.

Eigentlich sollte ich nicht überrascht sein. Dass es im Osten Deutschlands haufenweise Rechtsextreme gab und gibt, ist nun wirklich nichts Neues. Gerade in den neunziger Jahren. Genauso wenig verblüffend ist es, dass sich damals überall Linksautonome als politisches Gegengewicht mobilisierten. Aber in Wernigerode? Dieser heute so biederen Fachwerkstadt, die, seit ich denken kann, vor allem von Tou­ris­t:in­nen und Rent­ne­r:in­nen bevölkert ist?

„Aron, früher war hier jeden Tag 1. Mai“, sagt mein Vater aufgeregt und erzählt von rechten Jugendlichen mit Baseballschlägern, von Linken, die diese bekämpften und in einem besetzten Haus lebten – dem Schlachthof, den es heute nicht mehr gibt.

Warum wusste ich so gar nichts davon?

Der Geschichtsunterricht meiner Schulzeit endete mit dem Mauerfall und Bildern von Menschen, die mit Deutschlandfahnen durch DDR-Städte liefen. Danach war Schluss. Kein Wort über Neonazis im wiedervereinigten Deutschland. Ich will mehr über die Rechtsextremen in Wernigerode und dieses gut 30 Jahre zurückliegende Neonazikonzert wissen.

Alles geht auf einen Mann und Veranstalter zurück, der nach dem Konzert häufiger Gast der Stadt sein wird: Thorsten Heise. Ein immer noch aktiver militanter Neonazi, Veranstalter von Rechtsrockkonzerten in Thüringen und Freund von Björn Höcke. Damals ist Heise 23 Jahre alt und einer der Köpfe der 1995 verbotenen rechtsextremen Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP). So erzählt es mir Rechtsextremismusexperte David Begrich.

Über 600 Neonazis aus unterschiedlichen Städten folgen an diesem Tag seiner Einladung. Sie treffen sich im Gasthof Salzbergtal, grölen Songzeilen der Bands Tonstörung („Blut muss fließen knüppeldick“) und Kraftschlag („Scheiß Punks“). Und laufen, angestachelt durch Musik und Alkohol, auf den Schlachthof zu. Sie wollen ihn stürmen. Doch um das besetzte Haus hat sich eine Polizeikette gebildet, die die Nazis abhält.

Dieses Konzert ist nicht irgendein Konzert. Vielmehr ist es der Beginn einer Zeit, in der Wernigerode zu einer Hochburg der FAP wird, wie der Soziologe und Publizist Eberhard Seidel 1995 in „Stinos, Glatzen und Trinker: Jugend auf der Suche nach neuen Normen und Umgangsformen“ schreibt. Allein im Jahr 1992 werden mehr als zehn Anschläge auf Asyl­be­wer­be­r:in­nen im Umkreis der Stadt verübt.

Mein Vater, damals gelegentlich Besucher des besetzten Hauses, versucht Kontakte für mich herzustellen. Er verließ Wernigerode nach dem Abitur im Jahr 1990, wie auch meine Mutter, kehrte jedoch Anfang der 2000er mit der Familie – mit mir – zurück. Er lebt bis heute dort, während ich seit 2016 in Berlin lebe. Erst seit Kurzem erforsche ich, wie so viele Nachwendekinder, welche Rolle der Osten in meinem Leben spielt. Meist beschränkt sich das auf die DDR-Zeit. Von der Zeit danach habe ich kaum eine Vorstellung. Meine Eltern können dazu nichts sagen, sie waren in den Neunzigern nicht vor Ort. Klar, da sind Bücher, die ich gelesen habe, „Wir waren wie Brüder“ von Daniel Schulz oder „Aus unseren Feuern“ von Domenico Müllensiefen. Doch Wernigerode kommt darin nicht vor. Die meisten Zeit­zeu­g:­in­nen aber leben ja noch hier. Ich will mit ihnen sprechen. Wie fühlte es sich an, in diesem komplett umgekrempelten Land erwachsen zu werden? Was hat im Osten vor und während meiner Kindheit stattgefunden? Wie konnte es zu den Gewaltexzessen kommen?

Über die Linksautonomen finde ich recht schnell heraus, wer früher zu den Neonazis der Stadt gehörte. Ich rufe diese an. Es fühlt sich komisch an, bei ehemaligen Neonazis anzurufen. Die meisten seien „selbstverständlich“ auf dem Konzert gewesen, könnten aber nicht darüber reden, sagen sie mir. Nicht einmal anonymisiert.

Irgendwann schickt mir mein Vater eine Nummer aus seiner Kontaktliste: Maik – einer der Urbesetzer des Schlachthofs. Er sei nicht nur bereit zu sprechen, sondern habe darüber hinaus auch Kalle zu sich eingeladen, um mir etwas über die Zeit vor 30 Jahren zu berichten. Der große Vorteil: Kalle und er seien heute gute Bekannte, damals aber sei Kalle bei den Rechten gewesen. Beide heißen in Wirklichkeit anders, sie wollen nicht mit ihrem Namen genannt werden. Auch alle anderen Personen wollen nur mit mir sprechen, wenn sie in dieser Geschichte ano­nym bleiben. Ich willige trotzdem ein. Vieles, was sie mir erzählen, lässt sich durch das Stadtarchiv, durch Zeitungsberichte oder Ausgaben des Antifaschistischen Infoblatts prüfen. Andere Darstellungen bleiben Behauptung – vollständig verifizieren kann ich sie nicht.

An Maiks Haustür hängt heute ein Schild, auf dem eine Persiflage der Antifa-Flagge zu sehen ist. „Prokrastinistische Aktion“, steht darauf. Als ich klingele, öffnet mir ein drahtiger Mann mit langem braunem Haar und Trainingsanzug. Hinter ihm steht eine weitere Person, die sich nicht als Kalle, sondern Anja vorstellt – eine mittelgroße Frau mit blonden Locken. Maik hatte auch sie eingeladen. Vor 30 Jahren war auch sie Stammgast im besetzten Haus. Wer nicht da ist: Kalle. „Er musste absagen, sein Sohn ist krank“, sagt Maik.

Maik arbeitet seit einiger Zeit im Tourismusbereich. Anja ist So­zial­pä­da­go­gin. Beide sind Anfang 50. Es riecht nach Räucherstäbchen, überall im Haus stehen Buddhafiguren. „Meinen Baseballschläger habe ich noch“, erzählt er, als wir über die Kämpfe zwischen Punks und Nazis sprechen.

Wir reden über das Konzert.

„Wir waren gewohnt, dass Nazis in der Stadt waren. Aber so viele auf einem Haufen wie an dem Tag hatten wir noch nicht gesehen.“ – „Ich weiß noch, was für eine scheiß Angst ich damals hatte“, sagt Anja leise.

Als ich ins Behördenarchiv schaue, sehe ich, dass Faschismusbekämpfung schon damals nicht zu den Stärken der Regierung Sachsen-Anhalts gehörte. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage des Landtagsabgeordneten Gerd Schuster von der PDS im September 1992, ob der Regierung erstens klar wäre, dass die FAP gerade dabei wäre, ein echtes neonazistisches Zentrum in Wernigerode aufzubauen, was man zweitens jetzt tun müsste und ob es drittens noch weitere Problemherde dieser Art gäbe, erklärte die Landesregierung zu Punkt eins, nichts zu wissen, verwies zu Punkt zwei auf Punkt eins und erklärte überdies, keine Ahnung von weiteren Neonazizentren zu haben.

Aber als das Konzert im April 1992 stattfindet, hat die Polizei wohl eine Vorahnung. Jedenfalls will sie die Neonazis vom Schlachthof fernhalten. „In dem Moment haben wir uns gut mit den Cops verstanden. ‚Wenn ihr uns schützt, benehmen wir uns natürlich‘, haben wir ihnen gesagt“, erklärt Maik. Und weiter: „Wir haben auch mal als Erste zugeschlagen, klar. Wenn du immer wieder von Faschos angegriffen wirst, dann wirst du irgendwann aggressiv.“

„Krass, dass sich dieses Links-­gegen-rechts überhaupt wieder beruhigt hatte“, sagt Anja.

Aber wie kam es dazu?

Irgendwann wären eben alle älter geworden. Irgendwann hätte es Technopartys im Schlachthof gegeben, irgendwann hätten alle Ecstasy entdeckt, und irgendwann hätten die Neonazis unter diesen Umständen gern mit den Linksautonomen gefeiert.

„Wie bitte?“, frage ich.

„Nur wenn die Rechten friedlich waren, durften sie auch mitfeiern“, sagt Maik.

Bis zu ihrem Verbot 1995 kann die FAP in Wernigerode weiter Fuß fassen. Durch die Partei radikalisieren sich viele Jugendliche. Die Stadt immerhin merkt, dass sie etwas tun muss. Die „Lösung“: Sie gibt den linksautonomen Haus­be­set­ze­r:in­nen feste Wohnungen. Und den Rechtsextremen einen Jugendclub zum Musikmachen und als Freizeittreff: den Harzblick. Vielerorts wird die sogenannte akzeptierende Jugendarbeit praktiziert – dieses Modell war schon für die Sozialarbeit mit Suchtmittelabhängigen anerkannt, in den Neunzigern wird es im Osten auch bei Rechtsextremen angewendet. Manche Kids kommen erst in den Jugendtreffs in Berührung mit der Naziszene.

Auch in München wurde marschiert !

Der Schlachthof fungiert nur noch als linkes Veranstaltungszentrum. 1994 zünden Neonazis das Gebäude an, es brennt nieder. Es ist niemand im Haus, Verletzte gibt es nicht. Die Täter bezeichnen es als Racheakt an den Linken.

Über meinen Vater lerne ich auch Fabian kennen. Fabian lebt bis 1994 in Wernigerode, ehe er zum Studium nach Berlin geht. Wir treffen uns in einer Kneipe in Leipzig, wo Fabian heute lebt. Er trägt ein Jackett, sein Haar ist adrett kurz geschnitten und gegelt. Damals habe er zerfranstes Haar gehabt, Jeansjacke getragen, einen Aufnäher mit durchgestrichenem Hakenkreuz darauf. Am Tag des Konzerts im Salzbergtal ist er 16 Jahre alt. Eigentlich will er an dem Tag ein anderes Konzert – das eines Schulchors – besuchen. „Als die Faschos mich an dem Tag entdeckt haben, habe ich den schnellsten Sprint meines Lebens hingelegt“, sagt er. „Wir waren nur blasse, dünne Gymnasiasten. Ich bin aber irgendwann nur noch mit meiner Schreckschusspistole und einem Butterflymesser aus dem Haus gegangen.“ Am Tag des Konzerts hätten die Nazis ihn überfallen. „Als ich dann Anzeige bei der Polizei gestellt habe, hat mich der Polizist, der die Anzeige aufnahm, angeschaut und fast väterlich zu mir gesagt, dass ich mich doch besser unauffälliger kleiden solle; so sei es doch kein Wunder, dass so etwas passiere.“ Fabian erzählt von der Überforderung der Erwachsenen damals. Die Ausschreitungen „der Jugend“ bekommen sie zwar mit, doch sie können sich kaum in deren Lebenswelten hineinversetzen.

„Insgesamt war das einfach auch die Folge eines gewaltigen Staatsversagens“, sagt er, als wir die Kneipe verlassen.

In der Zeit, als Fabian und ich uns zum ersten Mal treffen, erscheinen kurz nacheinander drei Bücher zu den sogenannten Baseballschlägerjahren, darunter jene von Schulz und Müllensiefen. Schon zwei Jahre zuvor zeigt die Journalistin und Soziologin Katharina Warda in ihrem Essay „Der Ort, aus dem ich komme, heißt Dunkeldeutschland“ auf, wie es war, als Schwarze Person in der ostdeutschen Provinz groß zu werden. Sie wurde 1985 in Wernigerode geboren, sie war früher Punk. Mir erzählt sie, wie sie so gut wie keinen Schutzraum gehabt und sich jeden Tag potenziell in Lebensgefahr gebracht hätte, sobald sie das Haus verlassen hätte. Als Ecstasy angeblich die Baseballschlägerjahre beendet haben soll, lebte sie nicht mehr in Wernigerode. „Die Neonazis können einfach über all das sprechen, weil sie keine großen Konsequenzen zu befürchten haben“, sagt sie mir am Telefon. Und: Wer nicht entschlossen und dezidiert aussteige, sei für sie auch „nicht richtig raus“.

Ende 2019 kursiert der Hashtag #baseballschlägerjahre erstmals im Netz. Zahlreiche Erfahrungsberichte folgen, in denen über rechten Terror im Osten berichtet wird. Für mich bleibt die Gewalt immer noch schwer zu greifen. Ihre Selbstverständlichkeit, ihre Allgegenwart. Wieso manifestierte sich der Hass in kleinen, scheinbar idyllischen Städten wie Wernigerode, wo je­de:r je­de:n kennt? Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, wie ein paar Leute, die ihr ganzes Leben in der gleichen kleinen Stadt verbringen, sich auf einmal dazu entscheiden, jene Menschen, mit denen sie noch ein paar Jahre zuvor die Schulbank gedrückt haben, zu verprügeln.

Hakenkreuzflaggen und Bomberjacke

Sommer 2023, die Recherche zieht sich. Ich rufe Kalle wieder an. Wieder vereinbaren wir ein Treffen. Und wieder sagt er kurzfristig ab. Maik ist nicht erstaunt, als ich ihm davon erzähle. Er schlägt mir jemand anderen vor, mit dem ich mich treffen könne: Sven. Der war damals bei den Faschos, dann regelmäßiger Gast auf Technopartys.

Ich treffe Sven in seinem Haus in Wernigerode, auch Maik ist dabei. Sven ist spindeldürr, trägt ein weißes-T-Shirt, Shorts und Badelatschen. An seinen Wänden hängen Sauerteigrezepte, Sinnsprüche wie: „Alles ist verbunden. Trage die Botschaft weiter“, und wieder stehen Buddhafiguren rum.

Sven ist 13, als er beim Salzbergtal sein erstes „Glatzenkonzert“ besucht. Wie es dann weiterging? „Ziemlich wild“, sagt er, sieht zu Maik. Beide beginnen zu lachen. Sven war immer dabei, wenn es zu Schlägereien zwischen links und rechts in der Stadt kam, aber eher in der zweiten Reihe. Auch habe er keine echte Faschoideologie verfolgt – dass ihm in der DDR nicht alles über den Zweiten Weltkrieg erzählt wurde, dass sein Opa der liebste Mensch war und so weiter, das habe er schon geglaubt. Sven rasiert sich zu dieser Zeit den Kopf, hat Hakenkreuzflaggen und Bomberjacken im Kinderzimmer. Mehr als Provokation, wie er sagt. Mir fällt es schwer, das zu glauben. Aber seinen Nazilifestyle beschreibt Sven ausführlich und genau. Natürlich habe er auch den Hitlergruß gemacht, der habe dazugehört. „Die Polizei hier in Wernigerode war aber von allem überfordert“, sagt Sven. Maik nickt: „Ja, das haben wir alle ausgenutzt. Auch wenn wir uns von unserer Seite so einen politischen Anstrich gaben, ging es da auch um das Adrenalin – das war schon’ne geile Droge“, sagt er. Die beiden lachen. Ich konfrontiere sie mit den rassistischen, gewaltgeilen Texten, die da auf den Konzerten gesungen wurden. „Man ist da irgendwie reingerutscht. Das darfst du nicht so engstirnig sehen. Du hattest hier nur die Wahl, links oder rechts zu sein, wenn du irgendwie anders sein wolltest.“

„Wieso wolltest du anders sein?“

„Na, das will doch jeder, oder nicht?“, sagt er, sieht mich an und beginnt zu grinsen. „Oder willst du so der grobe Durchschnitt sein?“

Sven hatte damals noch ein anderes soziales Umfeld als die Rechts­ex­tre­men. „Zum Glück!“, sagt er heute. Er sei nur bei den „gemäßigteren“ Rechten im Jugendclub Center gewesen.

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Immer wieder beginne ich einen Satz, bringe ihn nicht zu Ende, entschuldige mich für die Fragen, bevor ich sie überhaupt stelle. Dann frage ich ihn, ob er auch Aus­län­de­r:in­nen gejagt habe. Er schüttelt den Kopf. So sei es nur bei den „richtigen Faschos“ zugegangen.

Ich weiß nicht, was die Unterscheidung zwischen „richtigem Fascho“ und „gemäßigt“ überhaupt bedeuten soll. Und vor allem, wieso man als Jugendlicher mit den Neonazis rumhängen wollte, von denen jeder wusste, dass sie herumzogen und Menschen verdroschen, weil sie anders aussahen.

Eine Spiegel-TV-Reportage aus dem Jahr 1993, die über die ständigen Aus­einandersetzungen zwischen Linken und Rechten in Wernigerode berichtet, zeigt einen speziellen Fall. Ein Mann, völlig normal und unauffällig gekleidet, läuft durch die nächtliche Stadt und berichtet davon, wie er von zwei Faschohorden angegriffen wurde. Der Moderator sagt, ein Verbot des Sonderparteitags der FAP durch das Ordnungsamt sei der Grund für die Krawalle gewesen. Ein Video wird eingeblendet: Die Faschos stürmen auf den Typen los, schlagen und treten auf ihn ein, brechen ihm den Schädel. Einfach so.

Einen Tag später klingelt mein Handy. Es ist Kalle. Sven hat ihm von unserem Treffen erzählt. Will er doch reden?

Noch am gleichen Tag fahre ich nach Wernigerode und stehe vor Kalles Wohnung in der Innenstadt. Er wartet vor seiner Tür. Scheiße, denke ich. Da steht dieser Schrank mit Glatze, voll tätowiertem Kopf und einem bulligen Kampfhund. Kalle winkt mich fröhlich heran. „Lass uns vielleicht doch lieber zu mir zum Reden gehen, was?“

Kalle sagt, er sei Oi!-Skin geblieben, das sei ein Lifestyle, und er schäme sich auch nicht dafür. Heute besuche er Hardcore- und eben Oi!-Punk-Konzerte. Unpolitisch, sagt er. Aber wenn jemand „Nazis raus!“ rufe, gehe ihm das auch auf die Nerven. „Aus beiden Richtungen“ möge er keine Phrasen. Wählen gehe er nicht, sei er nie, werde er auch nie, sagt er. Er werde sich nie einem System anpassen. Was ihm wichtig ist zu sagen: Diese ganze Fascho­ideologie liege hinter ihm, er habe sich davon gelöst. Meine Recherchen ergeben, dass Kalle bis in die nuller Jahre noch mit Nazis zu tun hatte, danach aber nicht mehr.

Quelle         :          TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben      —         Menschenmengen auf der Berliner Mauer Ende 1989 nach dem historischen Mauerfall. Im Hintergrund das Brandenburger Tor, Symbol der Wiedervereinigung Deutschlands

Neonazi-Demonstration am 2. April 2005 in München

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Inflation, mehr Arbeitslose

Erstellt von Redaktion am 2. Juli 2023

Hinter der linken Fassade mehr Profit

Das selber Fressen hat den Politiker-innen immer volle Mägen beschert.

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor        :    Uli Gellermann

Pünktlich zu den allgemeinen sozialen Deformationen im Rahmen der Wirtschaftskrise bietet der Staat ein Beruhigungs-Geld in Form einer Rentenerhöhung an. Dass die Rentenerhöhung an die Erhöhung des Beitrags der Pflegeversicherung gekoppelt ist, mindert den Reklame-Effekt erheblich.

Dass die Rentenerhöhung deutlich hinter der Inflationsrate zurückbleibt, sagt sogar das Bundessozialministerium. Dem steht Hubertus Heil vor: Ein sozialdemokratisches Symbol für den Beamtenspeck. Deutlich dicker wurde auch die SPD-Frau Nahles – versorgt mit einem Job bei der Bundesagentur für Arbeit. Sie weiß zu sagen: „Die schwierigeren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen spüren wir nun auch auf dem Arbeitsmarkt“. Sie selbst spürt natürlich gar nichts.

Maden im Speck

Nichts spürt auch Yasmin Fahimi, die Chefin des DGB. Von der hört man zur wachsenden Arbeitslosigkeit gar nichts. Klar, die Sozialdemokratin Fahimi war schon mal Generalsekretärin der SPD, Mitglied des Bundestages und Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Da ist die Rente schon mal sicher. Die Maden im Speck würden sich überfressen fühlen, wenn sie so gut versorgt würden, wie die staatlichen Sozialdemokraten. Fahimi gilt als links. Die ganze SPD gilt als links, die Grünen auch; wann wird die CDU ihre linken Ansprüche anmelden?

Notopfer für die Ukraine

Es sind solche „Linke“, die zur Zeit das Land in die Krise steuern, weil sie sich im Kampf gegen die Russen weigern, deren preiswerte Energie zu kaufen. Zwei bedeutenden Sektoren der Wirtschaft, der Chemie- und der Energie-Industrie, wird die Grundlage beschädigt. Man muß nicht Wirtschaftswissenschaftler sein, um zu wissen, dass ein solcher Crash-Kurs zu Arbeitslosigkeit und Inflation führt. Aber wer in den deutschen Medien sitzt, der darf das nicht wissen, der verkauft diese Sabotage der Ökonomie als Kampf für die Menschenrechte, als Notopfer für die Ukraine.

Wohltätigkeitsorganisation NATO

Spätestens seit dem SPD-Kanzler Schröder, der den Bürgern „Hartz Vier“ als „Reform“ verkauft hat, werden die Medien von einem perversen Neusprech beherrscht. Ein Sprech, der Ursachen verhüllen und soziale Gemeinheiten als Wohltaten verkaufen soll. Mit der Behauptung, die Ukraine sei ein Opfer und die NATO eine Wohltätigkeitsorganisation zur Friedenssicherung, ist ein neuer Höhepunkt erreicht: Die Waffen-Lieferungen in die Ukraine sollen dem Frieden dienen. Davon, dass sie der Waffenindustrie Rekordgewinne bescheren, ist nicht die Rede.

Rüstung gegen Kinder

Dem nächsten SPD Specknacken sprengt der Kehlkopf auch bald Kragen und Schlips !

Von der Inflation und der Arbeitslosigkeit sind die Kinder besonders betroffen: In Deutschland leben rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche „in relativer Einkommensarmut“, erzählt die Bundesfamilienministerin Lisa Paus von den GRÜNEN mit spitzem Mündchen. Zwölf Milliarden Euro will die Bundesregierung vielleicht für eine „Kindergrundsicherung“ ausgeben. Dass 100 Milliarden „Sondervermögen“ für die Bundeswehr eine absolute „Grundsicherung“ für die Kriegsvorbereitung bedeuten und dass die 100 Milliarden, dem wirtschaftlichen Kreislauf entzogen, einen wesentlichen Beitrag zur schäbigen sozialen Lage im Land leisten, das findet im Neusprech einfach nicht statt. Die eleganteste Form der Manipulation ist immer noch das Schweigen.

Idelogische Energiepreise

Immer mehr Firmen ziehen so viel Geld aus Deutschland ab wie noch nie und investieren im Ausland. Das geht aus Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) hervor. Das ist das Resultat einer De-Industrialisierung, die im Wesentlichen ein Ergebnis der ideologisch motivierten Erhöhung der Energiepreise ist. Hinzu kommt eine marode Infrastruktur. Wer mit der Deutschen Bahn fährt, kann ein Lied davon singen. Der Verschleiß der Deutschen Bahn hat ebenfalls ideologische Ursachen: „Privat geht vor Staat“ war der Hauptslogan der sozialdemokratischen Modernisierer, der von CDU, GRÜNEN und FDP bis heute beklatscht wird.

„Profit“ kommt im Neusprech kaum vor

Das Wort „Profit“ kommt im Neusprech kaum vor. Dass von der Rüstung ebenso profitiert wird wie von der Privatisierung, wollen die Medienregisseure nicht wissen lassen. Die immer ärmer werdenden und vom Krieg bedrohten Menschen könnten ja die Ursachen für ihrer prekäre Situation begreifen. Das wäre eine gefährliche Erkenntnis für das Machtgefüge. Aber solange die Legende von „linken“, also sozial und pazifistisch orientierten Parteien geglaubt wird, ist das Land vom Begreifen weit entfernt.

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Oben      —         Bundesminister Hubertus Heil während einer Plenarsitzung des Deutschen Bundestages am 2. Juli 2020 in Berlin.

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Unten       —          Secretary of Defense Lloyd J. Austin III is greeted upon arrival to the Ministry of Defense in Berlin by German Defense Minister Boris Pistorius and Ambassador Amy Gutmann Jan 19, 2023. (DoD photo by U.S. Air Force Tech. Sgt. Jack Sanders)

U.S. Secretary of Defense – 230119-D-XI929-1011

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Ich fühle mich begafft

Erstellt von Redaktion am 2. Juli 2023

Meta legt KI-Systeme offen

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von               :        

So genau wie nie verraten Facebook und Instagram nun, wie und wofür sie unsere Klicks überwachen. Die neue Transparenz von Meta beantwortet unser Autor mit Transparenz über seine Gefühle. Ein Kommentar.

Jetzt lässt sich im Detail nachlesen, was im Prinzip schon lange bekannt ist. Die Meta-Töchter Instagram und Facebook erfassen und verarbeiten so ziemlich alles, was Menschen auf ihren Plattformen machen. Daraus berechnen sie Prognosen über unser Verhalten.

Meta erklärt das auf einer neuen Infoseite, geordnet nach 22 Bereichen wie Facebook-Benachrichtigungen, Facebook-Feed, Instagram-Stories, Instagram-Reels. Für jeden Bereich berechnen Algorithmen ein Bündel aus Prognosen und werten teils dutzende Datenpunkte aus. Passend zum aktuellen KI-Hype spricht Meta von „KI-Systemen“.

Facebook berechnet etwa die Wahrscheinlichkeit, wie lange ich mir ein Foto anschauen werde, ob ich weiterscrolle, like oder kommentiere, ob ich mir weitere Kommentare zu dem Foto durchlese, ob ich mir das Foto später nochmal anschaue, und vieles mehr. Auf dieser Grundlage landen Inhalte in meinem Feed.

Bei vorgeschlagenen Kontakten („Personen, die du kennen könntest“) berechnet Facebook die Wahrscheinlichkeit, ob ich der Person auch wirklich eine Freundschaftsanfrage schicke. Dabei kann Facebook sogar sein Wissen über mir unbekannte Freundesfreund*innen nutzen. Denn Meta bezieht ein, „welcher Prozentsatz deiner Facebook-Freund*innen in irgendeiner Art mit der vorgeschlagenen Person verbunden ist, z. B. als Freund*innen von Freund*innen“. Das heißt: Facebook weiß über mein Umfeld mehr als ich.

Die Resonanz in mir ist Wut

Schon klar, all das sollte heute niemanden mehr überraschen. Wer nicht überwacht werden will, darf solche Dienste nicht nutzen. Ganz einfach. Das war schon vor Jahren bekannt. Aus gutem Grund bin ich längst allen Kontakten bei Instagram und Facebook entfolgt und habe die Apps von meinem Handy verbannt. Mit Genugtuung. Trotzdem ist damit für mich noch nicht alles gesagt.

Mir reicht das nicht, das ganze mit einer Geste der Abgeklärtheit als „no news“ zu deklarieren. Noch vor ein paar Jahren wollten sich Forschende mithilfe von Datenspenden zusammenstückeln, wie genau Facebook uns überwacht und uns Inhalte vorsetzt. Jahrelang haben Politiker*innen um das Digitale-Dienste-Gesetz gerungen, das Plattformen wie Meta mehr Transparenz abtrotzt. Der neue, zunächst freiwillige Blick hinter die Kulissen von Meta lässt sich als Folge von diesem Gesetz interpretieren. Jetzt haben wir die Transparenz, die wir all die Jahre verlangt haben.

Wenn ich darauf achte, welche Resonanz das in mir auslöst, dann bemerke ich Wut. Mich macht bereits wütend, mit welchen Worten Meta-Manager Nick Clegg die neue Infoseite präsentiert. Clegg schreibt von der „Beziehung“ zwischen mir und den Algorithmen. Über diese „Beziehung“ wolle man jetzt „offener“ sprechen. Als wäre Meta ein Kumpel, mit dem es in letzter Zeit etwas schwierig war. Doch jetzt fassen wir uns ein Herz und rücken wieder näher zusammen. Bullshit.

Die wollen meine Aufmerksamkeit ausbeuten

Die Beziehung zwischen Meta und mir ist ein Ausbeutungsverhältnis. Es gibt keine Augenhöhe, sondern ein unüberwindbares Machtgefälle. Der Konzern höhlt meine Privatsphäre aus, um meine Aufmerksamkeit auszubeuten. Meine Aufmerksamkeit wird durch algorithmisch optimierte Inhalte gefesselt und durch Werbung zu Geld gemacht. So ist das. Man kann dabei durchaus Genuss empfinden – das habe ich im Frühjahr am Beispiel von TikTok aufgeschrieben. Es macht mich nur wütend, wenn man das schönredet.

Aber gut, lassen wir uns kurz darauf ein, dass mein Kumpel namens Meta mit mir Beziehungsarbeit machen will. In diesem Fall müsste ich meinem Kumpel sagen: Tut mir leid, das reicht noch lange nicht, damit wir uns annähern. Unsere Beziehung war von Anfang an kaputt.

Jahrelang hat Meta nur vage offengelegt, wie seine Dienste mich überwachen. Dass Meta dazu jetzt mehr verrät, ist nichts wofür man dankbar sein sollte. Es ist das Mindeste, und es kommt zu spät. Selbst heute ist die Transparenz bei genauem Hinsehen nicht ganz aufrichtig. Die langen Listen mit Dutzenden Datenpunkten sind nicht vollständig. Überall steht dabei: „Zu den Signalen, die in diese Prognose einfließen, gehören“. Das heißt, da ist vielleicht noch mehr.

Aufdringlich, übergriffig, grenzverletzend

Ich habe mir ein paar Minuten lang durchgelesen, was Meta über mich auswerten kann, hier am Beispiel von Instagram Stories:

  • Wie viel Zeit du insgesamt damit verbracht hast, dir Stories dieses*dieser Verfasser*in anzusehen
  • Auf wie viele Stories du geantwortet oder diese geteilt hast sowie die Zeit, die du im Durchschnitt damit verbracht hast, dir jede einzelne Story anzusehen
  • Wie viele Stories du dir nicht angesehen hast
  • Die gesamte Anzahl an Stories in der Collection eines*einer Verfasser*in und wie oft du dir Stories dieser Person angesehen hast
  • Wie oft du dir Stories wiederholt angesehen hast, indem du zu ihnen zurückgekehrt bist

Ein häufig vorgebrachtes Argument lautet: Selbst wer nichts zu verbergen hat, sollte sich gegen Datensammelei und Tracking stark machen. Aus Solidarität mit anderen, für die Privatsphäre überlebenswichtig sein kann. Etwa Whistleblower*innen, Dissident*innen, Menschen, die wegen Rassismus oder Queerfeindlichkeit verfolgt werden. Ich finde das Argument überzeugend. Doch sogar ohne dieses Argument merke ich, wie sehr mich diese Datensammelei ganz persönlich ankotzt.

Egal, dass ich nichts zu verbergen habe. Egal, dass Meta das nur für Geld macht. Egal, dass kein Mensch Lust und Zeit hätte, all meine Daten mit eigenen Augen zu sichten. Egal, dass mir schon nichts Schlimmes passiert, wenn ich Facebook und Instagram nutze. Ich finde diese umfassende Dauerbeobachtung extrem aufdringlich, übergriffig und grenzverletzend.

Nein sagen

Was für ein Creep muss man eigentlich sein, um einen Dienst anzubieten, der genau erfasst, bei welchen Uploads ich hängen bleibe, weil sie mich vielleicht berühren, aufregen, erregen oder verängstigen? Das hat einfach niemanden etwas anzugehen.

Um es plastisch zu machen: Wenn ich mir durchlese, was Meta über mich erfasst, dann fühle ich mich begafft, als läge ich nackt auf einem OP-Tisch, frostweißes Scheinwerferlicht auf meinem Körper, und jemand schaut sich stundenlang mit der Lupe meine Pickel an.

Ich finde, das gehört verboten. Facebook und Instagram gehören gelöscht. Online-Kontakt mit Menschen habe ich lieber über Messenger, Ende-zu-Ende-verschlüsselt.

Ich will hier aber auch keinem Vorwürfe machen, der entgegnet: „Sorry, ich fühl’s überhaupt nicht. Ich werde weiter Instagram nutzen“. Alle ziehen ihre Grenzen anders, es gibt Schlimmeres. Mit der eigenen Empörungsenergie muss man auch irgendwie haushalten.

Trotzdem finde ich es wichtig, das mal auszusprechen. Ich lehne das ab, von Meta begafft zu werden. Man muss sich nicht damit abfinden, weil Milliarden Menschen das auch tun. Es ist OK, seine Grenzen so streng zu ziehen, und es ist OK mit Blick auf Facebook und Instagram zu sagen: Nein.

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Die Politik der Inlandsspione

Erstellt von Redaktion am 2. Juli 2023

Kritik am deutschen Verfassungsschutz

Von Till Schmidt

Der Journalist Ronen Steinke nimmt in seinem Buch den Verfassungsschutz ins Visier – vor allem dessen große Macht, im Inland Personen auszuspionieren.

Im Vergleich zu anderen liberalen Demokratien ist der deutsche Verfassungsschutz ein Unikum. Trotz ähnlicher Bedrohungen, wie sie etwa in den USA, Frankreich oder in Österreich vor allem von Rechtsextremen ausgehen. Das FBI, der Inlandsgeheimdienst DGSI oder die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst sind anders konzipiert.

Ronen Steinke hat nun ein neues Buch veröffentlicht, das sich mit den Aufgaben und der Funktionsweise der hiesigen Verfassungsschutzämter beschäftigt. Man könnte auch von einem pointierten Profil sprechen, das der Jurist, Journalist und Buchautor angelegt hat: Auf knapp 200 Seiten geht Steinke mit den gewachsenen Strukturen, dem Selbstverständnis und dem konkreten Agieren der Verfassungsschutzämter ins Gericht – und das mitunter sehr hart.

Steinke schildert anschaulich, wie folgenreich etwa eine Nennung in den Verfassungsschutzberichten für Organisationen und ihnen angehörende Einzelpersonen ist. Ein bekanntes Beispiel aus den letzten Jahren ist der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Anti­faschisten), dem durch eine später wieder rückgängig gemachte Aberkennung seiner Gemeinnützigkeit exis­tenzgefährdende Steuernachzahlungen drohten.

Oder Klimaaktivist:innen, die von manchen Ämtern gar nicht wegen ihrer Protestmethoden, sondern schon wegen politisch relativ gemäßigter Forderungen als „Verfassungsfeinde“ gelten.

An den Grundrechten rütteln

Die Argumentationen, die zu solchen Einschätzungen seitens der Behörden führen, sind häufig alles andere als stichhaltig. Bei genauerem Hinsehen würden die als Beweis für eine Verfassungsfeindlichkeit angeführten Aussagen häufig sogar solide auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Denn wirtschaftspolitisch ist das Grundgesetz eigentlich „ziemlich offen“, schreibt Steinke. Zentral sei vielmehr die politische Diskreditierung von unliebsamen politischen Akteuren.

Zentral sei vielmehr die politische Diskreditierung

Seehofer musste gehen und ließ den Haldenwang allein im Regen stehen ?

Steinke geht es nicht unbedingt darum, politisch Partei zu ergreifen für die von den Behörden ins Visier genommenen Gruppen. Als Verteidiger eines liberalen Rechtsstaates stört er sich vor allem daran, wie stark mitunter an Grundrechten wie Meinungsfreiheit und Pressefreiheit gerüttelt wird sowie linke und rechte Gruppierungen mit Doppelstandards beurteilt werden. Steinke kritisiert die deutschen Verfassungsschutzämter als „Politik-Beobachtungs-Geheimdienst“.

Aspekte wie behördliche NS-Kontinuitäten, die Zeit des „Radikalenerlasses“ oder die Mordserie des NSU behandelt Steinke relativ knapp. Besonders spannend sind die Kapitel zur digitalen Quellen-Überwachung und der Präsenz der Ämter in den sozialen Medien. Hierfür hat sich Steinke auch mit Agenten und ehemaligen Mitarbeitern getroffen. An diesen Stellen liest sich das Buch teils wie eine Reportage.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>       weiterlesen 

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Oben     —     Buildung of the Federal Office for the Protection of the Constitution in Berlin

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Geist aus der Flasche

Erstellt von Redaktion am 1. Juli 2023

Prigoschins Aufstand hat gezeigt,
wie fragil das scheinbar stabile autoritäre System Putins ist.

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Von Sarah Pagong

Prigoschins Aufstand hat gezeigt, wie fragil das scheinbar stabile autoritäre System Putins ist. Eben weil es auf einem ständigen Ausgleichen verschiedener Machtgruppen basiert. Die Elitenkonkurrenz, die das System eigentlich in der Balance hält, hat sich gegen das System gewendet.

Am 24. September 2011 kündigte Wladimir Putin seine erneute Kandidatur für die Präsidentschaft an. Es ist der Beginn einer autoritären Wende in Russland, die das Land in den Folgejahren immer repressiver und immer diktatorischer werden lässt.

Dmitri Medwedjew, der vier Jahre lang das Präsidentenamt bekleidet hatte, trat nicht wieder an. Er galt als Vertreter der liberal orientierten Gruppen in Russlands Elite; jemand, der Russland vermeintlich nach innen modernisieren wollte, nach außen Ausgleich mit den USA suchte und der den aggressiven Einfluss von Russlands Sicherheitsdiensten ausbalancieren konnte. Im September 2011 wurde deutlich, dass er nur ein Instrument des Machtsystems des zurückkehrenden Präsidenten Putin war. Die vermeintliche Alternative war Schall und Rauch.

Dieses Machtsystem basiert auf der Konkurrenz unterschiedlicher Eliten und Interessengruppen. Informelle Netzwerke binden diese Personen an das System: persönliche Beziehungen, die Möglichkeit, finanziell zu profitieren, oder schlicht Komplizenschaft. Jede dieser Gruppen und Personen erfüllt einen Zweck für das System Putins und den russischen Staat. Sie kontrollieren Ressourcen oder Medien, sie mehren Putins persönlichen Reichtum oder mimen eine vermeintliche Opposition oder Alternative. Jewgeni Prigoschin war Teil dieses Systems. Im Unterschied zu Medwedjew jedoch drohte die Konkurrenz zwischen Prigoschin und anderen Teilen der Elite in letzter Zeit das System zu sprengen.

Prigoschin verbrachte zu Sowjetzeiten neun Jahre im Gefängnis. Er war verurteilt worden für Raub und Diebstahl. 1990, in den Zeiten des Umbruchs, kam er frei. In den Wirren der neunziger Jahre verkaufte er Hotdogs und gründete Restaurants. Reich wurde er durch staatliche Cateringaufträge, die ihm den Namen „Putins Koch“ einbrachten.

Er hat diesen Reichtum eingesetzt im Dienste des Systems. Prigoschin finanziert Trollfrabriken in Sankt Petersburg, und er hat die Gruppe Wagner zu dem gemacht, was sie heute ist: einem privaten Militärunternehmen, das russische Interessen in der Ukraine, im Nahen Osten und in Afrika mit immenser Brutalität durchsetzt. Mit engen Verbindungen zur extremen Rechten und guten Kontakten zum russischen Staat agiert die Gruppe Wagner dort, wo Russland offiziell nicht eingreifen kann oder will.

Das Militärunternehmen erfüllt somit eine Funktion für den russischen Staat. Prigoschin hat es dabei nicht versäumt, seine eigene Macht und Bedeutung im russischen System zu steigern und sich neue Geldquellen zu sichern. Die Gruppe Wagner war immer auch ein Instrument der Ressourcenabschöpfung in ihren Zielländern. Der Einsatz für russische Interessen in Ländern wie Mali, Sudan oder Syrien kostet Prigoschin Geld, bringt ihm aber auch neuen Reichtum in Form von Gold oder Silizium.

Die Verbindung zwischen dem Machtsystem und Prigoschin war eine Symbiose, eine informelle Beziehung zu beiderseitigem Vorteil. Putin hat stets darauf geachtet, dass keine der Elitengruppen und -personen zu mächtig wird. Die Stabilität wurde gewahrt durch Konkurrenz zwischen den Eliten: um Ressourcen, Aufmerksamkeit, Informationen. Putin garantiert und symbolisiert dieses System als oberster Schiedsrichter.

Der Streit zwischen Prigoschin und der Führung des Verteidigungsministeriums, vor allem Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow, stellte genau solch eine Rivalität dar. Sie hat sich jedoch unter dem Einfluss von Russlands Krieg gegen die Ukraine radikalisiert. Für Prigoschin und die Gruppe Wagner war der Krieg eine Chance auf mehr Macht und Einfluss. Gleichzeitig hat der Krieg den Bedarf an Ressourcen für dieses Machtstreben – militärische Ausrüstung, Munition, Personal – potenziert. Es reicht nicht mehr für alle. Putin hat diese Radikalisierung lange laufen und Prigoschin mit seinen zunehmend spitzen Kommentaren gewähren lassen. Letztlich hat diese Radikalisierung das System zu sprengen gedroht.

Die Elitenkonkurrenz, die das System eigentlich in der Balance hält, hat sich gegen das System gewendet.

Das Ergebnis ist ein für alle sichtbares Moment der Schwäche und des Kontrollverlusts des russischen Staats. Einmal mehr zeigt sich, dass scheinbar stabile autoritäre Systeme fragil sind. Sie basieren auf einem ständigen Ausgleichen verschiedener Machtgruppen. Diese Balance ist anfällig, da sie auf informellen Arrangements aufbaut und nicht auf allgemein anerkannten und rechtsstaatlich durchgesetzten Regeln. Diese Schwäche hat sich am Wochenende des 23./24. Juni an drei Faktoren gezeigt: einem Verlust der Kontrolle über Information sowie einem über Teile des Territoriums und in mangelndem Strafvermögen.

Der Kreml und Putin verloren am Freitagabend die Kontrolle über die Information und das Narrativ. Prigoschin hat sich über soziale Medien und vor allem Telegram in den letzten Monaten einen eigenen Zugang zur russischen Bevölkerung geschaffen. Er ist nicht abhängig von staatlichen oder staatlich kontrollierten Medien, sondern er spricht die Menschen direkt, unmittelbar und auf authentisch wirkende Weise an. Der russische Staat konnte die Nachrichten über die Kontrolle von Rostow am Don und den anschließenden Vorstoß der Gruppe Wagner Richtung Moskau nicht kontrollieren oder gar leugnen. Putin war in einem Dilemma: Sagt er nichts, überlässt er Prigoschin das Feld. Äußert er sich, verleiht er Prigoschin weitere Reichweite und dessen Handeln Bedeutung. Er musste sich für Letzteres entscheiden, zu deutlich war das Schweigen wahrzunehmen. Die Rede Putins, mit der er am Samstagmorgen schließlich reagierte und die Prigoschin als Verräter brandmarkte, hat den Wagner-Chef in seinen Aussagen noch radikalisiert. Er griff Putin nun persönlich an. Die sich überhitzende Elitenkonkurrenz entwickelte sich von der Stütze des Systems nun endgültig zu dessen größtem Problem.

Das Machtsystem Russlands verlor auch die Kontrolle über Teile seines Territoriums. Die Gruppe Wagner konnte gegen nur begrenzten Widerstand Rostow am Don kontrollieren, einen zentralen Logistikknotenpunkt für den Krieg gegen die Ukraine, und über Woronesch weiter Richtung Moskau vordringen. In den Medien verbreiteten sich statt Bildern einer gezielten und massiven militärischen Antwort seitens des Staats vor allem solche von Baggern, die die Schnellstraße Richtung Moskau aufrissen. Das Ende dieses Aufstands wurde schließlich nicht militärisch herbeigeführt, sondern durch einen vom belarussischen Präsidenten vermittelten Deal. Der Brandmarkung Prigoschins als Verräter folgte nicht etwa eine machtvolle Reaktion, sondern eine Verhandlung, die dem Systemsprenger einen Kompromiss unterbreitete.

Den dritte Kontrollverlust bildet das unmittelbare Ausbleiben einer existenziellen Strafe. Das Machtsystem hat Kontrolle – neben der Belohnung von Gefolgschaft – auch immer über die Bestrafung von Abtrünnigen ausgeübt. Die zahlreichen getöteten, ins Exil getriebenen und in Lagern sitzenden Jour­na­lis­t:in­nen und Oppositionellen sind Zeugen solcher Strafen. Prigoschin jedoch hat genau dieses Schicksal zunächst einmal nicht ereilt. Sein „Marsch auf Moskau“ wurde nicht ultimativ bestraft – auch wenn berechtigte Zweifel bleiben, ob Prigoschin nicht doch noch einen hohen Preis zahlen wird. Die Verhandlung bescherte dem belarussischen Präsidenten Lukaschenko dagegen ein unerwartetes Comeback. Er und Belarus bleiben von Russland abhängig, aber der Aufstand hat ihm nicht nur die Gelegenheit geboten, sich medienwirksam als Vermittler darzustellen, sondern auch als dem russischen Staat und der Sicherheit des Lands verschriebenen Verbündeten, der in der Krise zur Hilfe eilt.

Seit dem letzten Wochenende hat das Machtsystem Risse. Die Idee eines omnipotenten russischen Staats, eines allmächtigen russischen Präsidenten hat auch vorher nicht der Wahrheit entsprochen, aber nun ist die Sache für alle erkennbar, innerhalb und außerhalb Russlands. Putins Politik, seine Handlungen, seine Worte werden nun auf Anzeichen von Schwäche geprüft werden. Anstatt sich auf den Nimbus der Macht verlassen zu können, wird er stetig versuchen müssen, ihn wiederherzustellen.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen  

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Oben       —     Wladimir Putin und Jewgeni Prigoschin (2010)

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Der posthume Demokrat:

Erstellt von Redaktion am 1. Juli 2023

Fritz Bauer, die CDU und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen

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Quelle        :     Berliner Gazette

Von            :     

Vor 55 Jahren, am 1. Juli 1968, starb Fritz Bauer. Wie kein anderer Jurist in der Bundesrepublik hat er als hessischer Generalstaatsanwalt nach dem Krieg die NS-Verbrechen verfolgt. Dafür wurde er von vielen bekämpft und geschmäht – vor allem von der CDU. Ende des letzten Jahres hat Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) ihn posthum mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille geehrt. Fritz Bauer konnte sich dagegen nicht mehr wehren. Der Autor Helmut Ortner blickt zurück.

Jährlich am Verfassungstag des Landes Hessen, dem 1. Dezember, wird im Rahmen eines Festakts die Wilhelm-Leuschner-Medaille verliehen. Wer sie bekommt, darüber entscheidet der Hessische Ministerpräsident. Die Auszeichnung ist nach Wilhelm Leuschner (1890-1944) benannt, dem früheren hessischen Innenminister. Er zählt zu den bekanntesten Persönlichkeiten des in Deutschland organisierten Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Schon in den 1930er-Jahren trug Leuschner maßgeblich dazu bei, den Widerstand zu organisieren. Im Anschluss an das gescheiterte Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde Leuschner zum Tode verurteilt und am 29. September 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Zum seinem 20. Todestag, am 29. September 1964, verlieh der damalige hessische Ministerpräsident Georg August Zinn (SPD) erstmals die nach Wilhelm Leuschner benannte Medaille. Seither wird Jahr für Jahr eine Persönlichkeit ausgezeichnet, „die sich aus dem Geist Wilhelm Leuschners hervorragende Verdienste um die demokratische Gesellschaft und ihre Einrichtungen erworben hat“.

Wer einen Blick auf die lange Geehrten-Liste wirft, findet ehrenwerte Namen aus allen gesellschaftlichen Bereichen, freilich auch einige, deren demokratische Verdienste nicht unumstritten sind. Beispielsweise Roland Koch, ehemals CDU-Ministerpräsident in Hessen, der einst mit einer schäbigen Kampagne gegen junge Ausländer*innen Stimmung im Wahlkampf machte, was ihm zwar wenig nutzte, doch vielen als populistisches Schurkenstück im Gedächtnis blieb. Und war Koch nicht auch Vorsitzender einer christdemokratischen Schwarze-Kassen-Partei, die Millionenzuwendungen – die in Wirklichkeit aus schwarzen Auslandskonten der CDU stammten – als „Vermächtnisse von Juden aus Europa“ umetikettieren wollte? Als die dreiste Legende im Spenden-Sumpf versank, inszenierte sich der CDU-Mann als „brutalstmöglicher Aufklärer“. Eine demokratieverachtende Posse.

Zur Causa Koch hätte Fritz Bauer ganz bestimmt eine Meinung gehabt. Sein Name findet sich seit Ende letzten Jahres ebenfalls auf der Preisträger-Liste. Hessens aktueller Ministerpräsident Boris Rhein hat den ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalt posthum geehrt. Der forsche CDU-Politiker lobte den 1968 verstorbenen Bauer, als einen „Kämpfer für Humanität und Demokratie mit Hingabe, Ausdauer und Leidenschaft für eine freie Gesellschaft“. Eine überfällige Anerkennung – doch mit schalem Beigeschmack. Es war Rheins Partei, die Bauer viele Jahre das Leben schwer gemacht, ihn geschmäht und bekämpft hat.

Als „Ketzer“ geächtet, bekämpft und bedroht

Fritz Bauer, ein Sozialdemokrat jüdischer Herkunft, gehörte zu den wenigen unbelasteten Jurist*innen, die in der jungen Bundesrepublik eine Führungsposition einnahmen und der nichts so hasste wie die gängigen Verteidigungs- und Verharmlosungsformeln der Nazi-Vergangenheit. Bauer war der personifizierte Gegenpart der konservativen Adenauer-Jurist*innen, die nur wenig Neigung zeigten, ehemalige NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen, zumal dort bekanntlich eine besonders starke personelle Kontinuität zur NS-Zeit gegeben war. Die Bereitschaft, in NS-Strafsachen zu ermitteln und zu handeln, ging nahezu gegen null. Damit war Bauer nicht einverstanden. Er erkannte klarsichtig, dass der NS-Staat kein Betriebsunfall der Geschichte war und wies auf die geschichtlich gewachsenen Strukturen und Mentalitäten hin, die den NS-Verbrechen so sehr entgegenkamen und die aufzubrechen mehr erfordern würde als Gerichtsprozesse. Er setzte die Aufhebung der Verjährungsfrist für NS-Morde durch; ohne ihn hätte es 1963 den großen Ausschwitzprozess nicht gegeben.

Damit handelte er sich nicht nur den Zorn konservativer Kreise ein. Bauer wurde gemieden, verunglimpft und bedroht. In der Nachkriegsjustiz galt er vielen als „Ketzer“. In der hessischen CDU, in der Hardliner wie Alfred Dregger und Manfred Kanther jahrzehntelang das politische Weltbild vorgaben, galt Bauer beinahe schon als Staatsfeind. Die Schmähungen steigerten sich noch, nachdem es ihm gegen starke Widerstände gelungen war, die Frankfurter Auschwitzprozesse gegen einstige Bewacher des Vernichtungslagers tatsächlich auf den Weg zu bringen. Die Prozesse erfüllten in ihrer Durchführung und in ihren Ergebnissen ein tieferes Anliegen Bauers:

„Wenn etwas befohlen wird, sei es Gesetz oder Befehl, was rechtswidrig ist, was also im Widerspruch steht mit den Zehn Geboten, dann musst Du ‚Nein‘ sagen! Es bedarf Mut und Courage in jeder Richtung gegenüber dem äußeren Feind. Man hat völlig übersehen, dass die Zivilcourage, der Mut vor dem Feind im eigenen Volk genauso groß, wahrscheinlich größer ist – und nicht weniger verlangt wird. Dass es ehrenhaft ist, dass es Pflicht des Einzelnen ist, auch in seinem eigenen Staat für das Recht zu sorgen. Und deswegen ist das A und O dieser Prozesse zu sagen: Ihr hättet ‚Nein‘ sagen müssen!“

Bauer zwang die Öffentlichkeit in Deutschland zum Hinsehen. Eine Gesellschaft, die sich mühte, das zu vergessen, was sie verschwieg: die Bereitschaft zur Teilnahme an einem System der Barbarei. Aus der Politik gab es keine zwingenden Gesetzesvorgaben. Unter diesem Eindruck zeigte vor allem die Justiz nur wenig Neigung, ehemalige NS-Täter*innen zur Verantwortung zu ziehen. Die Nichtverfolgung von NS-Verbrechen: eine skandalöse, jahrzehntelange Verweigerung von Strafverfolgung, eine konsequente Strafvereitelung im Amt. Bauer wollte sich damit nicht abfinden.

Gegen die Integration der Täter*innen

Geboren 1903 in Stuttgart, war Bauer einer der wenigen Unbelasteten im Justizapparat der BRD. 1930 wird er mit 26 Jahren jüngster Amtsrichter Deutschlands. 1933 kommt er nach der Machtübernahme der Nazis in Haft. 1936 flieht er nach Dänemark, später nach Schweden. Mit Willy Brandt gründet er dort eine Exil-Zeitschrift. 1949 kehrt Bauer zurück, um ein demokratisches Justizwesen mitaufzubauen. Er wird Generalstaatsanwalt in Niedersachsen, 1956 holt ihn Hessens Regierungschef August Zinn in dieser Funktion nach Frankfurt. Hier lässt er von seinen Mitarbeiter*innen über 1000 Zeugen vernehmen und bereitet den Auschwitzprozess gegen die SS-Wachmannschaften vor. Als oberster Staatsanwalt in Hessen hat er das Verfahren bundesweit an sich gezogen – gegen alle Widerstände. Er muss sich mit Richter*innen und Staatsanwält*innen aus der Nazi-Zeit herumschlagen, die nach 1945 weiter im Staatsdienst blieben und oft seine Arbeit sabotieren. „Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich feindliches Ausland“, beschrieb er später einmal seine Lage in einem Fernseh-Interview.

Dass Fritz Bauer schon früh die Rolle eines Außenseiters hat, zeichnet sich bereits im September 1949 ab, als Bundeskanzler Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung sagt, man soll in Deutschland „Vergangenes vergangen sein lassen“ und damit auch eine Amnestie für NS-Täter*innen meint. Adenauers Politik hatte den Aufbau demokratischer Institution und eine Demokratisierung der Gesellschaft durch stillschweigende Integration der ehemaligen Anhänger*innen, Mitläufer*innen und auch der Täter*innen des Nationalsozialismus zum Ziel. Nicht nur im konservativen Juristen-Milieu galt der hessische Generalstaatsanwalt als Störenfried, als eine umstrittene, ja verhasste Figur. Politisch ist Jurist Bauer weiterhin enormen Widerständen ausgesetzt. Vor allem die CDU bringt sich gegen ihn in Stellung.

Im Oktober 1960 hält Fritz Bauer im Rahmen einer vom Landesjugendring Rheinland-Pfalz veranstalteten Tagung einen Vortrag über die „Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“ in dem er sich mit den sozialen Ursachen des Nationalsozialismus beschäftigt. Bauer geht der Frage nach, wie es möglich geworden war, dass Menschen andere Menschen ausgrenzten, verfolgten und ermordeten. Ein Vorschlag des rheinland-pfälzischen Landesjugendrings, den Text Oberstufengymnasien und Berufsschulen als Broschüre zur Verfügung zu stellen, wird vom Kultusministerium des Bundeslandes abgelehnt. Kultusminister Eduard Orth (CDU) verteidigt seine Entscheidung mit der Begründung, Bauers Text produziere „Fehlurteile“ über die deutsche Geschichte. Die Ablehnung wird 1962 auch von einem jungen ehrgeizigen CDU-Abgeordneten begrüßt, der moniert, der zeitliche Abstand vom Nationalsozialismus sei zu gering, um sich darüber ein abschließendes Urteil bilden zu können. Sein Name: Helmut Kohl.

Im hessischen Landtag fordern Abgeordnete der CDU im April 1963 gar Bauers Ablösung als Generalsstaatsanwalt, weil er im Ausland schlecht über Deutschland rede. Einige machen ihn sogar seinen Status als NS-Verfolgter und Emigrant zum Vorwurf, weil er dadurch „befangen und unsachlich“ sei. Eine perfide, abstruse Argumentation.

Späte Würdigung, überfällige Rehabilitierung

Mitte der 1960er Jahre trübt sich Bauers Stimmung immer mehr ein. Wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner Kritik an den alten Nazi-Seilschaften erhält er Schmähbriefe und Morddrohungen.An zwei seiner Freunde schreibt er: „Die Strafanzeigen hageln, alles ist gegen mich verschworen.“ Bauer kämpft einen mühsamen, einsamen Kampf: Gegen das Verdrängen und Vergessen, gegen Ignoranz und Gleichgültigkeit. Neben seinem Engagement für die Aufarbeitung der NS-Zeit ist er einer der bedeutendsten Vorkämpfer für Strafrechts- und Strafvollzugsreformen und Resozialisierung. An den Gebäuden der Landgerichte Braunschweig und Frankfurt wird auf sein Betreiben als Inschrift der Anfang des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ angebracht.

Es dauert länger als ein halbes Jahrhundert, bis die Partei, die ihn einst als Gegner geschmäht und bekämpft hat, im Dezember 2022 als demokratischen Aufklärer würdigt. Eine „Schlüsselfigur der jungen deutschen Demokratie“ nennt CDU-Ministerpräsident Rhein nun Bauer bei der Verleihung auf dem Campus Westend der Frankfurter Goethe-Universität. „Ohne Fritz Bauer wäre unsere Geschichtsaufarbeitung nicht die, die sie heute ist“. Eine späte, eine überfällige Rehabilitierung.

Wir wissen nicht, wie Fritz Bauer auf diese späte Form der Würdigung reagiert hätte. Vielleicht hätte er die Annahme der Medaille verweigert und stattdessen dem Ministerpräsidenten vorgeschlagen, couragierte Menschen der Gegenwart auszuzeichnen, die sich in Hessen etwa bei der Aufklärung des Skandals um den „NSU 2.0“ verdient gemacht und dabei einen hohen Preis gezahlt haben. Es hätte zu ihm gepasst.

Nun also steht sein Name auf der langen Liste der Preisträger und es gibt nicht wenige, die dem CDU-Chef unterstellen, die posthume Auszeichnung Bauers sei ein ganz und gar eigennütziger Coup, sich als überparteilicher Erneuerer und Versöhner zu inszenieren. Im Oktober wird in Hessen gewählt. Freundlichere Stimmen verweisen darauf, die Preisträger-Wahl konterkariere die jahrzehntelange brüchige Erzählung, Bauer sei ein Anti-Demokrat gewesen. Das immerhin verdiene Respekt.

Apropos Preisträger*innen: 2015 bekam die Medaille Heinz Riesenhuber, der unter Helmut Kohl Bundesforschungsminister war und Fritz Bauer einmal persönlich begegnet ist. Die beiden hatten in den 1960er-Jahren einen gemeinsamen TV-Auftritt in der HR-Talkshow „Kellerclub“, wo Bauer mit Studierenden über den Umgang mit NS-Verbrechern diskutierte. Der junge Heinz Riesenhuber, damals in der Jungen Union, hat Bauer entgegengehalten, dass doch zum Teil auch einfach nur brave Bürger*innen auf bestimmte Posten gestellt worden seien und diese ausgefüllt hätten. Das hat Fritz Bauer sprachlos gemacht. Es war genau die rechtfertigende Denkweise, gegen die er Zeit seines Lebens gekämpft hat.

In der Nacht zum 1. Juli 1968 wurde Fritz Bauer tot in der Badewanne seiner Frankfurter Wohnung aufgefunden. Beigesetzt wurde er in Göteborg im Grab seiner Eltern.

Anm.d.Red.: Mehr Information zu Fritz Bauer finden sich hier. Lese-Tipp: Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, Berlin 2013. Film-Tipp: Der Staat gegen Fritz Bauer, Regie Lars Kraume, u.a. mit Burghardt Klaußner, Deutschland 2015.

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Grafikquellen     :

Oben       —     Gedenktafel am letzten Wohnhaus von Fritz Bauer. 2017 in der Feldbergstraße in Frankfurt am Main.

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von Redaktion am 1. Juli 2023

Grübelei über Prigoschin à la chinoise

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Nichts erregt die Gemüter rund um die Welt heute mehr als Jewgeni Prigoschins kurzlebige Rebellion gegen den Kreml. Das gilt auch für China. Scheinbar unaufgeregt gab eine Außenamtssprecherin in Peking zu verstehen, Peking sei für eine schnelle Wiederherstellung der Ordnung in Russland. Kein Wort zu Wladimir Putin, Xi Jinpings gutem Freund. Kein Glückwunsch, dass die unverschämte Rebellion niedergeschlagen wurde. Der klare Subtext: Egal wie, Hauptsache, es stört uns in China nicht.

Daraufhin erregen sich die Gemüter umso buntscheckiger: „Egal wie, geht schon mal gar nicht“, schrieb einer, der mit dem Prinzip in China hochzufrieden ist, schließlich „herrscht bei uns die Doktrin: Immer beherrscht die Partei die Gewehre, niemals umgekehrt. Jetzt seht ihr, was passiert, wenn die Gewehre die Partei beherrschen würden. Wie dumm sind die Russen?“

Und ein anderer schießt zurück: „Wie naiv bist du? Versuch mal, unsere Soldaten nicht zu bezahlen, da wirst du sehen, was daraus wird. Es geht ums Geld. Wie heißt es noch einmal: Mit Geld kannst du nicht alles machen. Ohne kannst du nichts machen. Nichts, du Idiot. Prigoschin will mehr Geld.“

Der Dritte wirkt etwas ausbalancierter: „Wichtig ist aber: Was wird daraus? Wird die Ukraine die Rebellion zu ihrem Nutzen ausschlachten, die Krim zurückholen? Wenn ich Selenski wäre: Ich würde es tun.“ Ihn ermutigt der Vierte: „Na dann, mach unserer Führung den Vorschlag, wir Chinesen sollen versuchen, die Schwäche von Putin auszuschlachten – wie wäre es damit, Wladiwostok zurückzuholen? Das liegt gut 8.000 Kilometer weit weg von Moskau und dürfte Putin wesentlich weniger wehtun als Prigoschin. Der Bursche war schon mal wesentlich näher dran.“

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Ein Fünfter protestiert: „Ach, unsre Schlafmützen da oben. Die haben noch nicht mal bemerkt, dass Putin in der Krise zuerst Nordkorea und Kasachstan angerufen hat, nicht unser Politbüro? Der beste Freund von Putin ist China ja nicht. Der Zar kann sich auf uns nicht verlassen. Und wir sollten uns selbst auch nicht allzu ernst nehmen – der Russen wegen schon mal gar nicht.“ Von allen ist der Sechste der Tollkühnste. Er fragt, was passieren würde, „wenn inmitten eines sagen wir Krieges gegen Taiwan auch bei uns so einer daherkommt und verlangt, den Verteidigungsminister und Generalstabschef einen Kopf kürzer zu machen, quasi so ein Prigoschin à la chinoise?“

Keiner antwortet auf ihn, oder keine Antwort auf ihn, wie auch immer sie aussehen mag, schafft es, im chinesischen Internet zu erscheinen. Nur hörbarer kocht die Gerüchteküche um den angeschlagenen Kremlchef. „Wenn der Großkaiser Putin keinem mehr befehligen kann?“ „Würde der Großkaiser nun doch seinen Verteidigungsminister abservieren?“ Und: „Weiter kommt er in der Ukraine dennoch nicht?“ Hier entsteht der Eindruck, dass es schlecht aussieht für Putin und seinen Krieg. Vielsagend ist, dass kein Kommentar wegen ablehnender Haltung gegenüber Putin zensiert wird, obschon der doch ausdrücklich ein guter Freund von Xi Jinping sei.

Quelle     :          TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Diplomatische Reisegeste

Erstellt von Redaktion am 30. Juni 2023

Lange hatten afrikanische Po­li­ti­ke­r:in­nen die Ukraine als Bauernopfer abgetan.

Ein Debattenbeitrag von Alex Veit

Ein Besuch in Kyjiw weist auf einen Sinneswandel. Der erfolgte nicht ohne Druck. Die USA haben deutlich gemacht, dass sie die Geduld mit der russlandfreundlichen Politik Pretorias verlieren.

Dass die Friedensmission afrikanischer Staatschefs in der Ukraine und in Russland am vergangenen Wochenende viel erreichen würde, hatte kaum jemand erwartet. Und tatsächlich gab es am Ende wenig Konkretes zu berichten außer dem Versprechen aller Seiten, weiter im Gespräch zu bleiben.

Die Friedensreise der Staatschefs war vor allem eine diplomatische Geste: Die Bahnfahrt von Polen nach Kyjiw signalisierte die verspätete afrikanische Anerkennung der ukrainischen Perspektive. Lange hatten hochrangige Po­li­ti­ke­r:in­nen etwa aus Südafrika die Ukraine als bloßes Bauernopfer in einem größeren Konflikt zwischen Russland, China und dem Westen abgetan. Im Februar 2022 verurteilten in der UN-Generalversammlung gerade mal 28 von 55 Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union (AU) den russischen Überfall, während sich eine große Minderheit enthielt oder nicht zur Abstimmung erschien. Einige wenige Staaten lehnten die Resolution sogar ab und stellten sich damit offen an die Seite Russlands. Seit Februar 2022 hatte nur ein einziges afrikanisches Staatsoberhaupt Kiew besucht, aber viele andere sind nach Moskau gereist.

Die diplomatische Reisegeste versammelte nun gleich sieben hochrangige Politiker, um eine neue afrikanische Geschlossenheit zu vermitteln, und vielleicht auch um Wiedergutmachung für frühere Versäumnisse zu leisten. So reisten jetzt sowohl der derzeitige Vorsitzende der Afrikanischen Union (AU) und Präsident der Komoren, Azali Assoumani, und die Staatsoberhäupter und Vertreter von sechs weiteren afrikanischen Staaten nach Kyjiw. Drei dieser Staaten – Südafrika, Republik Kongo und Uganda – haben sich bei den verschiedenen Abstimmungen in der UN-Generalversammlung konsequent enthalten. In Kyjiw und anschließend in St. Petersburg stellte die afrikanische Delegation nun jedoch einen 10-Punkte-Plan vor, in dem sie sich zur internationalen Norm der staatlichen Souveränität bekennt und diese Anerkennung auch von den Kriegsparteien einfordert. Entsprechend unwirsch reagierte Putin, der seinen Gästen ins Wort fiel, auf die Vorschläge.

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Auch sonst hat die russische Seite viel dafür getan, die Besucher zu verprellen. Als diese gerade in Kyjiw angekommen waren, schoss das russische Militär mehrere Raketen auf das Stadtzentrum ab. Die afrikanische Delegation musste in einen Schutzraum flüchten. Während des anschließenden Treffens mit Putin in St. Petersburg stellte dieser klar, dass er das Schwarzmeer-Getreideabkommen im Juli auslaufen lassen will. Das Abkommen regelt die Ausfuhr ukrainischen Weizens. Durch den Wegfall des Abkommens würde die Ernährungssicherheit besonders in Nordafrika weiter eingeschränkt.

Nun ließe sich einwenden, dass eine siebenköpfige Gruppenreise für eine bloße Geste nicht nur einen übertriebenen Aufwand darstellt, sondern dass insbesondere Südafrika nicht aus freien Stücken zu der Einsicht gekommen ist, die eigene Haltung zum Krieg korrigieren zu müssen. Die USA haben in den letzten Wochen deutlich gemacht, dass sie die Geduld mit der russlandfreundlichen Politik Pretorias verlieren: zunächst beschuldigte der US-Botschafter in Südafrika das Land, ein sanktioniertes russisches Schiff in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit Waffen beladen zu haben. Wenig später forderten Kongressabgeordnete, den Ausschluss Südafrikas aus dem lukrativen AGOA-Handelsabkommen zu prüfen, das Südafrika bevorzugten Zugang für seine Exportprodukte auf dem amerikanischen Markt gewährt. Manche fragten, warum Südafrika unter Druck gesetzt, während Indiens Staatschef in Washington besondere Ehre zuteil wird – obgleich die Russland-Politik beider Länder durchaus vergleichbar ist. Die Antwort liegt nahe: Südafrika ist das wirtschaftlich schwächste Glied des BRICS-Staatenbündnisses, zu dem neben Indien auch China, Russland und Brasilien gehören. Der amerikanische Druck wegen der südafrikanischen Russland-Politik zielt letztlich auf den großen Rivalen China und den Zusammenhalt des BRICS-Bündnisses.

Ohnehin steht Südafrika durch seine Gastgeberrolle beim nächsten BRICS-Gipfel Ende August in Johannesburg unter Druck. Die Entscheidung, ob und wie Putin am Gipfel teilnehmen kann, obwohl ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen ihn vorliegt, schiebt Pretoria seit Wochen vor sich her. Dass im afrikanischen 10-Punkte-Plan auch die Rückkehr der durch Russland entführten ukrainischen Kinder zu ihren Familien gefordert wird, stellt eine indirekte Verurteilung dieser Verbrechen Putins und eine Anerkennung der Begründung des Haftbefehls dar.

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben           —       President Joe Biden delivers remarks at the Summit for Democracy Virtual Plenary on Democracy Delivering on Global Challenges, Wednesday, March 29, 2023, in the South Court Auditorium of the Eisenhower Executive Office Building at the White House. (Official White House Photo by Adam Schultz)

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Eine gescheiterte Wahl

Erstellt von Redaktion am 30. Juni 2023

Stürzt Sachsen-Anhalt wegen Datenschutz in eine Regierungskrise?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von           :           

Trotz drei Wahlgängen hat der Magdeburger Landtag schon wieder keinen Landesdatenschutzbeauftragten gewählt. Das Amt ist seit Jahren unbesetzt, offenbar ließen erneut CDU-Abgeordnete den Kandidaten der eigenen Koalition durchfallen. Sollte das Bündnis daran zerbrechen, dürfte sich vor allem die AfD freuen.

Rutscht die Landesregierung in Sachsen-Anhalt ausgerechnet wegen der gescheiterten Wahl eines Datenschutzbeauftragten in eine Regierungskrise? Es sieht danach aus: Der Landtag des Bundeslandes hat heute wieder keinen neuen Landesbeauftragten für Datenschutz gewählt. Als einziger Kandidat stand der Jurist Daniel Neugebauer aus Halle an der Saale zur Wahl. In drei Wahlgängen erhielt er nicht die erforderliche Mehrheit.

Der Wahlkrimi zog sich über mehrere Stunden, immer wieder wurde die Sitzung für Beratungen unterbrochen. Am Ende hat es für Neugebauer, der als Rechtsanwalt in der Kanzlei des FDP-Fraktionsvorsitzenden Andreas Silbersack arbeitet, nicht gereicht. Der promovierte Jurist war von den Regierungsparteien CDU, SPD und FDP zur Wahl vorgeschlagen worden.

CDU-Politiker fordert Neuwahlen des Landtags

Um gewählt zu werden hätte Neugebauer die Stimmen von der Mehrheit der 97 Abgeordneten gebraucht. Mit 52 anwesenden Abgeordneten hätte die Regierungskoalition den Kandidaten eigentlich komfortabel über diese Schwelle heben können. Doch statt der benötigten 49 Stimmen erhielt Neugebauer erst 44, dann 47 und im dritten Wahlgang 48 Stimmen.

Damit ist nicht nur der dritte Versuch innerhalb von fast sechs Jahren gescheitert, einen neuen Landesdatenschutzbeauftragten für Sachsen-Anhalt zu wählen. Das Wahldebakel hat das Zeug zu einer echten Regierungskrise in dem ostdeutschen Bundesland.

Die Wahl erfolgte geheim, doch im Landtag geht das Gerücht um, dass eine Gruppe von CDU-Abgeordneten den Kandidaten durchfallen ließ, der von ihrer eigenen Fraktion ausgesucht worden war. Schon 2018 und 2022 scheiterte die Wahl eines Datenschutzbeauftragten mutmaßlich daran, dass einige CDU-Abgeordnete aus dem Koalitionskompromiss ausscherten.

„Die Koalition hat keine Mehrheit, weil feige Heckenschützen in der Wahlkabine den Kandidaten beschädigen ohne es vorher zu signalisieren“, kommentierte der langgediente CDU-Parlamentarier Wolfang Gürth die Hängepartie auf Twitter. „Neuwahlen wären konsequent“, so der ehemalige Landtagspräsident, wobei er sich nicht auf Neuwahl eines Datenschutzbeauftragen bezogen haben dürfte, sondern auf die des Landtags.

Die Vorsitzende der mitregierenden SPD, Katja Pähle, spricht von „fehlender Geschlossenheit“, die der ganzen Koalition schade. Die oppositionelle Linksfraktion spricht von einer „Regierungskrise“. Nützen dürfte letztere vor allem der AfD, die in Umfragen im Bundesland mit der CDU gleichauf ist.

Mehr als fünf Jahre Hängepartie

Mit dem heutigen Wahldebakel schreibt Sachsen-Anhalt ein weiteres Kapitel einer absurden Hängepartie von gut fünfeinhalb Jahren. Es war Ende 2017, als der damalige Landesdatenschutzbeauftragte Harald von Bose in den Ruhestand gehen wollte. Trotz mehrerer Anläufe war der Magdeburger Landtag 2018 nicht in der Lage, den Posten neu zu besetzen. CDU und SPD hatten dem damaligen Grünen Koalitionspartner die Wahl eines Grünen Kandidaten zugesichert, doch Teile der CDU-Fraktion spielten nicht mit. Zwei Mal fiel der anerkannte Datenschützer Nils Leopold durch, am Ende musste Harald von Bose merklich genervt verlängern.

Ende 2020 schmiss er endgültig hin, sein Stellvertreter Albert Cohaus übernahm die Leitung der Behörde kommissarisch. Eigentlich hatten sich CDU und SPD 2022 mit dem neuen Koalitionspartner FDP darauf verständigt, diesen dann einfach formell in das Amt zu wählen. Von fünf Bewerbern erhielt Cohaus dann zwar die meisten Stimmen, aber in zwei Anläufen wieder nicht genügend. Wieder wurde gemunkelt, dass es an der mangelnden Disziplin der CDU-Fraktion gelegen habe.

In der Folge der Hängepartie änderten die Regierungsparteien schließlich das Besetzungsverfahren. Zunächst wurde die erforderliche Mehrheit für eine Wahl von zwei Dritteln auf eine einfache Mehrheit herabgesetzt. Als auch das nicht half, stellten CDU, SPD und FDP das Wahlverfahren kürzlich ganz um. Statt einem offenen Bewerbungsprozess mit öffentlicher Ausschreibung der Stelle kann nun nur noch gewählt werden, wer von einer Landtagsfraktion vorgeschlagen wird. Zudem wurde die Begrenzung der Amtszeit auf zehn Jahre abgeschafft.

Oberverwaltungsgericht hält Verfahren für transparent

An diesen Änderungen gab es heftige Kritik, nicht nur aus der Opposition, sondern auch von Sachverständigen bei einer Anhörung im Landtag. Sie sehen die Unabhängigkeit des Datenschutzbeauftragten in Gefahr und die Vorgaben an der EU an ein „transparentes Verfahren“ bei der Besetzung verletzt.

Der Jurist Malte Engeler* mischte aus diesem Grund auf den letzten Metern das Wahlverfahren auf. Als klar war, dass die Koalition mit Neugebauer nur einen Kandidaten vorschlagen würde, reichte er am vergangenen Freitag eine Initiativbewerbung für das Amt bei allen Landtagsfraktionen ein.

Unterstützt von der Transparenzorganisation FragDenStaat wollte Engeler erreichen, dass das Verfahren gerichtlich überprüft wird. Ihrer Ansicht nach bräuchte es für eine transparente Besetzung mindestens eine öffentliche Ausschreibung der Stelle, eine öffentliche Anhörung der Bewerber:innen, Transparenz bezüglich der Qualifikationen und die Dokumentation des Auswahlverfahrens.

Wäre es nach Engeler und FragDenStaat gegangen, hätte der Europäische Gerichtshof darüber entschieden, wie die Vorgaben der Datenschutzgrundverordnung auszulegen sind. Engeler wendete sich deshalb am Montag mit einem Eilantrag an das Verwaltungsgericht Magdeburg. Das Gericht hätte die für Mittwoch angesetzte Wahl aussetzen können, lehnte Engelers Antrag jedoch am Dienstag ab. Der Jurist legte daraufhin Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht ein. Als auch dieses Engelers Antrag am heutigen Mittwoch ablehnte, schien der Weg für Neugebauers Wahl frei.

Regierungskrise könnte AfD nützen

„Damit stehen einer Durchführung der Wahl keine rechtlichen Hindernisse mehr entgegen“, leitete Landtagspräsident Gunnar Schellenberger den Tagesordnungspunkt am frühen Mittwochnachmittag ein. Ob er da schon ahnte, dass die Wahl erneut nicht an rechtlichen, sondern politischen Hindernissen scheitern würde?

Stunden später jedenfalls stehen CDU, SPD und FDP vor einem Scherbenhaufen. Insbesondere die CDU-Fraktion muss sich fragen lassen, warum Abgeordnete offenbar wiederholt Koalitionskompromisse kippen. Ministerpräsident Reiner Haseloff ringt seit langem mit einem Teil der Fraktion, der lieber mit der AfD als mit den Mitte-Parteien koalieren würde. Auch er selbst brauchte bei seiner Wahl zum Ministerpräsidenten trotz komfortabler Mehrheit zwei Anläufe.

Die Verkündung der Wahlergebnisse soll Haseloff, selbst Mitglied des Landtages, heute mit versteinerter Miene zur Kenntnis genommen haben. Sollte es tatsächlich zu einem Bruch der Koalition und zu Neuwahlen kommen, kann sich die AfD laut Umfragen sogar Hoffnungen machen, stärkste Fraktion zu werden. Entsprechend reagierte der AfD-Fraktionsvorsitzende bei Twitter auf Detlef Gurths Ruf nach Neuwahlen mit einem Daumen nach oben: „Wir unterstützen diesen Vorschlag.“

Grundsatzfrage bleibt ungeklärt

Auch für den Datenschutz in Sachsen-Anhalt ist die erneute Nichtwahl ein absolutes Debakel. Seit bald sechs Jahren sind CDU und SPD mit wechselnden Koalitionspartnern nicht in der Lage, eine Mehrheit für dieses Amt zu organisieren. Mit Daniel Neugebauer verlässt nun ein dritter Kandidat beschädigt das Wahlverfahren. Es dürfte schwer werden, in Zukunft überhaupt noch qualifizierte Kandidat:innen für das Amt zu finden.

Dabei sind die Aufgaben riesig. Erst kürzlich erschütterte ein Skandal um unberechtigte Datenabrufe durch eine Klinikmitarbeiterin das Bundesland. Eine Anfrage der Linksfraktion zeigte daraufhin, dass kaum kontrolliert wird, wie tausende Staatsbedienstete mit weitreichenden Datenzugriffsmöglichkeiten umgehen. Die Datenschutzbehörde gilt zudem seit Jahren als unterfinanziert. Jahrelang riefen von Bose und Cohaus nach mehr Personal, ohne nennenswerten Erfolg.

Unsicherheit bleibt auch in der Grundsatzfrage, wie ein transparentes Besetzungsverfahren für Datenschutzbeauftragte auszusehen hat. Malte Engeler und FragDenStaat jedenfalls sehen ihre Zweifel am Besetzungsverfahren in Sachsen-Anhalt und vielen anderen Bundesländern alles andere als ausgeräumt. „Die Ablehnung meines Antrags hat das OVG sehr sportlich damit begründet, dass die Europarechtskonformität derart auf der Hand liege, dass sich eine Vorlage an den EuGH erübrige“, sagt Engeler in einer Pressemitteilung.

Diese Argumentation sei nicht nachvollziehbar, so Engeler. „Die juristische Literatur vertritt vielfach, dass ein Ernennungsverfahren, bei dem einzig am Ende einer nicht-öffentlichen Vorauswahl eine Person gewählt wird, mit Artikel 53 der Datenschutz-Grundverordnung unvereinbar ist. Es geht gerade darum, die Unabhängigkeit der gewählten Person dadurch zu sichern, vorherige Einflussnahmen und Absprachen zu verhindern.“

Die Frage der Unabhängigkeit der Datenschutzbehörden bleibt also aktuell. Um so mehr in einem Bundesland, in dem die AfD zur stärksten Kraft werden könnte.  

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Oben           —         Landtag von Sachsen-Anhalt am Domplatz in Magdeburg

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Detonation-Oberhausen

Erstellt von Redaktion am 30. Juni 2023

Vigilia pretium libertatis!

Von: Jimmy Bulanik

Oberhausen – Am 05. Juli 2022 um 03:20 Uhr ereignete sich dem Büro „Die Linke . Liste Oberhausen an der Elsässer Straße 20 eine Detonation. Das Sprengmittel hatte eine Wirkung gehabt das die Fensterscheiben sowohl am dem politischen Büro, als auch bei den unternehmerischen Gesellschaften gegenüber die Scheiben zerstört worden sind. Der persönlich bekannte Mitarbeiter der Ratsfraktion Die Linke, Henning von Stolzenberg sagte in einem Fernsehinterview gegenüber dem Westdeutschen Rundfunk, Aktuelle Stunde das es zuvor immer wieder politisch motivierte Straftaten von Rechts im näheren Umfeld des Büro der Die Linke gekommen ist.

Alle diese Offizialdelikte von Rechts ob nach § 86a StGB, § 130 StGB sind durch Die Linke in Oberhausen gegenüber den Justizbehörden in Nordrhein – Westfalen zur Strafanzeige gebracht worden. Der Weg dafür ist kurz. Zwischen der Elsässer Straße 20 und der Polizeiwache auf dem Friedensplatz 2 – 5 liegen liegen gerade einmal 169 Meter, was mit einem PKW einer Fahrt von nur vierzig Sekunden bedarf.

So mutig ist die Täterschaft. Das erinnert an die Kapitalstraftaten von Rechtsterroristen wie das Oktoberfestattentat am 26. September 1980 in München, der Sprengstoffanschlag am 27. Juli 2000 in Düsseldorf an der S – Bahn Haltestelle Wehrhahn weshalb dadurch ein ungeborenes Leben im Mutterleib gestorben ist, die Sprengstoffanschläge durch das Geflecht an internationalen Netzwerken von Rechtsterroristen durch Blood & Honor, dessen Derivat in Thüringen der Nationalsozialistische Untergrund gewesen ist. Davon ist mit Köln in Köln – Ehrenfeld und Köln – Mülheim zwei Mal das Bundesland Nordrhein – Westfalen betroffen worden.

Wieder tangiert dies politische Verbrechen die öffentliche Sicherheit im Bundesland Nordrhein – Westfalen. Die zuständige Herrin des Verfahrens war und ist die Staatsanwaltschaft in Duisburg. Ohne Ergebnis, das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.

Das Schreiben der Staatsanwaltschaft Duisburg vom 29. Juni 2023, um 09:14 Uhr an meine Person lautet:

Sehr geehrter Bulanik,

vielen Dank für Ihre Anfrage.

Das Ermittlungsverfahren betreffend die Sprengstoffstoffexplosion am Parteibüro „DieLinke“ in Oberhausen wurde nunmehr gemäß § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung eingestellt, da kein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte.

Nach der Durchführung der nachfolgend genannten und umfangreichen Ermittlungen konnten keine weiteren erfolgsversprechenden Ermittlungsansätze erlangt werden:

Die Ermittlungen ergaben, dass an dem Griff an der Eingangstür des Parteibüros ein angebrachter Sprengsatz zur Explosion gebracht wurde. Aufgrund der Wucht der Explosion entstand ein erheblicher Sachschaden an dem Gebäude und den angrenzenden Nebengebäuden. Menschen kamen nicht zu Schaden. Es handelte sich nach Auswertungen des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen um eine Sprengvorrichtung mit Blitzknallsatz. Hinweise auf einen Täter wurden nicht erlangt.

Da Polizeibeamte der in Nähe des Tatorts auf dem Friedensplatz 2-5 gelegenen Polizeiwache Alt-Oberhausen die laustarke Detonation wahrgenommen hatten und im Anschluss aufsteigende Rauchschwaden im Bereich der Elsässer Straße bemerkten, ist unmittelbar nach der Tat eine Nahbereichsfahndung eingeleitet worden, die allerdings erfolglos blieb.

Auf Befragen vermochten weder der Fraktionsvorsitzende der Partei „DieLinke“ in Oberhausen noch ein täglich in dem betroffenen Büro anwesendes Parteimitglied Personen zu benennen, die als Tatverdächtige in Betracht kämen. Nach ihren Bekundungen habe es im Vorfeld des Anschlags weder Drohschreiben noch sonstige Hinweise auf eine solche Tat gegeben. Das Parteibüro sei bislang kein Ziel von Anschlägen oder auch nur Vandalismus gewesen.

Die durchgeführten Anwohnerbefragungen blieben ebenfalls ohne Ergebnis. Durch die Auswertungen der Aufnahmen von diversen Überwachungskameras und anderer Aufzeichnungssysteme im Nahbereich zum Parteibüro konnten keine sachdienlichen Erkenntnisse erlangt werden. Auch ein mittels einer öffentlichen Fahndung ermittelter Zeuge konnte weder sachdienliche Hinweise geben, noch kommt er als möglicher Tatverdächtiger in Betracht.

Die erlangten Verkehrsdaten im Rahmen einer Funkzelle brachten ebenfalls nach polizeilicher Auswertung keine Hinweise, die in einem möglichen Tatzusammenhang zur hiesigen Tat stehen.

Die serologische Untersuchung des am Tatort aufgefundenen Spurenmaterials sowie die daktyloskopische Auswertung der durch das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen ausgewerteten Asservate blieb ebenfalls ohne Ergebnis.

Da keine weiteren Ermittlungsansätze vorlagen, war das Verfahren nach § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung einzustellen.

Für weitere Rückfragen stehen wir Ihnen selbstverständlich gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Marieluise Hepe

Staatsanwältin

Pressesprecherin

Staatsanwaltschaft Duisburg

Koloniestr.72, 47057 Duisburg

Tel.: 0203 9938-810, Fax: 0203 9938-888

E-mail: Marieluise.Hepe@sta-duisburg.nrw.de

Internet: www.sta-duisburg.nrw.de

Hinweis:

Informationen zur Verarbeitung personenbezogener Daten in Rechtssachen finden Sie in dem Informationsblatt zum Datenschutz in Rechtssachen.

Informationen zur Verarbeitung personenbezogener Daten in Angelegenheiten der Justizverwaltung finden Sie in dem Informationsblatt zum Datenschutz.

Es ist evident das Rechtsextremisten, Rechtsterroristen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, innerhalb der Europäischen Union und in Übersee miteinander vernetzt sind. Oftmals sind politische Verbrechen wie Kapitalstraftaten von Rechtsterroristen begangen worden mit nachrichtendienstliche Verbindungspersonen als Mittäterschaft. Das jene welche für dieses politische Verbrechen verantwortlich sind nicht ermittelt worden sind, stellt eine andauernde öffentliche Gefahr dar.

Sie haben bereits die Erfahrung wie es ist solch ein Verbrechen mit einem Sprengsatz zu verüben. Sie könnten sich gestärkt erachten. Darüber hinaus sich enervieren und zu einem späteren Zeitpunkt im Bundesland Nordrhein – Westfalen oder darüber hinaus einen Terroranschlag zu begehen.

Dieses Verbrechen in Oberhausen verjährt erst am 06. Juli 2042. Es bleibt abzuwarten ob zu einem späteren Zeitpunkt die Staatsanwaltschaft Duisburg als Herrin des Verfahrens zu neuen Erkenntnissen gelangen werden wird. Gründe können dafür sein das es unter den politischen Verbrechern zu einem Bruch wegen Geld, Schulden, Alkohol, Drogen, Sexualität, Ausstieg kommt.

Oftmals sind ausländische Sicherheitsorgane leistungsfähiger als die in der Bundesrepublik Deutschland. Doch darauf darf nicht gewartet werden. Die demokratische Zivilgesellschaft darf zu ihrem Schutz proaktiv werden.

Wie das Nutzen des Rechtes auf Versammlung. Das können Demonstrationen sein. Veranstaltungen in den Räumlichkeiten einer Universität oder Volkshochschule zu dem Komplex der Gefahren von Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus. Geschädigte Personen von den politischen Verbrechen wie Kapitalstraftaten durch Rechtsextremisten und Rechtsterroristen können dabei persönlich gesehen und gehört werden.

Der Rechtsextremismus, Rechtsterrorismus ist eine akute, konkrete Gefahr für die natürlichen Personen in ihren Rechtsgütern wie das Recht auf Leben und das Recht auf die körperliche Unversehrtheit, sowie der Demokratie als ganzes

Auch ist es gerechtfertigt seine sakrosankt verbrieften Grundrechte aktiv die Initiative in die eigene Hände zu nehmen. Durch das Schreiben an die kommunale Verwaltung, das Mitglied des Landtages für den eigenen Wahlkreis, an die Obleute des Innenausschusses im Bundestag oder im Landtag, des Mitgliedes des Bundestages für den eigenen Wahlkreis. Wirksam ist es immer in einer Gemeinschaft vorbereitet eine öffentliche Sitzung des Innenausschusses des Landtages zu gehen, um die Obleute vor Ort zu sensibilisieren.

Diese gewählten Personen in den Verfassungsorganen dürfen Anfragen an die jeweilige Regierung stellen. Ob im Landtag oder im Bundestag. Die politischen Verantwortlichen haben sich gegenüber den Menschen in der Gesellschaft als eine wehrhafte Demokratie zu erweisen.

Je aktiver die Menschen im Inland sind, desto mehr wird die Landespolitik, Bundespolitik den Verfolgungsdruck auf die Rechtsextremisten, Rechtsterroristen erhöhen. Was diese dann verstärkt zu spüren bekommen werden.

Die Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit. Diese gilt es zu verteidigen. Bevor es mittels Mord wie an Dr. Walter Lübcke von der Christlichen Demokratischen Union nicht mehr möglich ist.

Vor sämtlichen Wahlen auf der Landesebene, Bundesebene gilt es die demokratischen Parteien auf dieses Wahlkampfthema hinzuweisen. Am Besten via Email. Es ist gratis und demokratisch zugleich.

Auch dringend benötigte Investoren aus demokratisch verfassten Ländern nehmen solche politischen Verbrechen hier zur Kenntnis. Gerade in den digitalisierten Zeiten des Internet. Es gilt die Attraktivität des eigenen Lebensraum hervorzuheben anstelle dies zu schmälern.

Gewiss dürfen alle gegenüber der Politik im Rathaus, Landtag und Bundestag öffentliche Fragen aufgreifen. Gibt es genug personelle Kapazitäten in den Sicherheitsorganen ? Bedarf es eine personelle Aufstockung ? Sind die Beamtinnen und Beamten bei der Polizei, Staatsanwaltschaften, Richterinnen und Richter gut genug geschult ?

Könnte der Austausch von Daten unter den international vernetzten Rechtsextremisten, Rechtsterroristen in der Wirklichkeit optimiert werden ? Sicherheitskooperationen sind das. Auch bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus, Rechtsterrorismus ist die internationale Vernetzung und Kooperation ist die Zusammenarbeit von entscheidender Wirkung.

Das Prinzip der Legalität ist dabei zu bevorzugen. In den Komplexen des innerstaatlichen Handelns muss im Auftrag der Bekämpfung des Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus zusammengehalten werden. Konflikte um die Kompetenzen müssen darin abgebaut werden.

Weil Rechtsextremisten, Rechtsterroristen sich oftmals im Segment der organisierten Kriminalität betätigen sollten insbesondere mit den Mafia Spezialisten aus Italien und den Vereinigten Staaten von Amerika eingebunden werden um von ihnen zu lernen.

Sie erwiesen sich oftmals als leistungsfähig. Über Finanzdelikte kann auch den Rechtsextremisten, Rechtsterroristen Anklagen vor Gericht bevorstehen. Je häufiger Rechtsextremisten, Rechtsterroristen zu langen Straften in Haft verurteilt werden, desto weniger werden die Menschen in der demokratischen Zivilgesellschaft von ihnen geschädigt werden.

Jimmy Bulanik

Nützliche Links im Internet:

Snow – Informer

www.youtube.com/watch?v=TSffz_bl6zo

Talk Talk – Such a shame

www.youtube.com/watch?v=lLdvpFIPReA

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Oben     —   „NRW hat Platz! Refugees welcome!“

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Flimmern + Rauschen

Erstellt von Redaktion am 30. Juni 2023

Bei Boris Johnson gab es wenigstens Freigetränke

Eine Kolumne von Steffen Grimberg

Boris Johnson sitzt nicht mehr im britischen Parlament. Das sind doch mal good News! Es gibt allerdings auch eine schlechte Nachricht. Boris Johnson deliriert jetzt wieder als Journalist. Allerdings nicht mehr beim noblen Stock-im-Arsch Daily Telegraph, sondern als Kolumnist bei der für etwas schlichtere Gemüter gemachten Daily Mail.

Die Little Britain-Version von Donald Trump ist also erst mal weg aus der direkten Politik. Dass die Konservativen im Vereinigten Königreich nun in Sachen Umgang mit Jour­na­lis­t*in­nen vernünftiger werden, braucht aber keineR zu befürchten. Jüngstes Beispiel ist der Parteitag der Tories, der im Oktober in Manchester stattfinden soll. Wer sich dort als Medienmensch zur Berichterstattung akkreditiert, wird wie bei einem drittklassigen Kongress zur Kasse gebeten. Early Bird kostet 137 Pfund (umgerechnet 160 Euro), ab Ende Juli soll das auf wahnwitzige 880 Pfund (1.220 Euro) steigen.

Und dafür gibt’s nicht mal wie bei Boris Lockdown-Partys in Downing Street Booze for free. Die Gebühren werden vielmehr damit begründet, dass sich bei den Konservativen immer gaaaaanz viele Jour­na­lis­t*in­nen anmelden und dann einfach nicht kommen. Und damit die klamme Parteikasse nicht auf diesen immensen Verwaltungskosten sitzen bleibt, kostet’s jetzt Eintritt. „Kann denn nicht jedes Parteimitglied was Selbstgemachtes von zu Hause fürs Buffet mitbringen“, fragt die Mitbewohnerin. Nur die Pressefreiheit, die muss leider draußen bleiben.

Liebe Tories, dann sagt doch gleich, dass ihr keinen Bock auf Jour­na­lis­t*in­nen habt. Vor allem nicht auf solche, die kritisch berichten und harte Fragen stellen. Die anderen könnt ihr ja für lau einladen, die kommen bestimmt gerne und dann ist am Buffet auch nicht so viel Gedränge. Macht die AfD in Deutschland ja genauso.

Deren Parteitage sind Veranstaltungen privaten Charakters mit entsprechendem Hausrecht. Nasen, die nicht passen, dürfen nicht rein. Und was die Büffetfrage betrifft, hat das FDP-Chef Christian Lindner schon vor Jahren auf den Punkt gebracht. Die AfD sei an Sachdebatten gar nicht interessiert, so Lindner 2017. „Das sind die am Büffet, wenn die anderen über Sachfragen sprechen.“

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Am Ort ihres Verbrechens

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2023

Die internationale Gemeinschaft wäre gut beraten, die Prozesse zumindest zu unterstützen.

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Ein Debattenbeitrag von Ibrahim Murad

Die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien strebt Prozesse gegen ausländische IS-Täter an. Die Herkunftsländer haben ihre Pflicht versäumt.

Der vereitelte Anschlag auf die Regenbogenparade in Wien Anfang des Monats erinnert daran, dass der sogenannte Islamische Staat (IS) weiter existiert und unverändert eine ernsthafte Bedrohung darstellt. Seit 2019, als der IS in Syrien besiegt wurde, leben in den Lagern und Gefängnissen Nord- und Ostsyriens mehr als 60.000 Mitglieder und Angehörige des IS, darunter auch knapp 2.000 ausländische Kämpfer.

Die unter dem kurdischen Namen Rojava bekannte Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, kurz AANES, mit einer mehrheitlich kurdischen Bevölkerung, fordert seit Jahren, dass die Herkunftsländer der Kämpfer, darunter Deutschland, ihre Staatsbürger zurückholen und strafrechtlich verfolgen. Doch abgesehen von der Rückführung einiger Frauen und Kinder ist bislang wenig passiert.

Mitte Juni erklärte nun die AANES, die mutmaßlichen IS-Terroristen mit ausländischer Staatsbürgerschaft selbst vor Gericht zu stellen. Jemand muss für Gerechtigkeit und die Gewährleistung von Sicherheit und Frieden sorgen. Das Versäumnis der Herkunftsstaaten, die mutmaßlichen Terroristen selbst strafrechtlich zu verfolgen, hat bereits zu sicherheitspolitischen Problemen geführt. In den Lagern und Gefängnissen kommt es wiederholt zu Aufständen und Ausbruchsversuchen.

Die ersten Prozesse sollen in der symbolisch wichtigen Stadt Kobane stattfinden, wo 2014 in erster Linie kurdische Truppen vor den Augen der Weltöffentlichkeit Widerstand gegen den IS leisteten. Die Verfahren sollen öffentlich, fair und transparent sein. Die AANES hat die betreffenden Herkunftsländer, die Vereinten Nationen, NGOs und die Medien eingeladen, den Prozessen beizuwohnen. Außerdem ist man auch weiterhin für die Einrichtung eines internationalen Tribunals offen.

Eine juristische Aufarbeitung ist zweifellos auch im Interesse der Weltgemeinschaft. Der Terror des IS ist ein globales Problem. Zahlreiche Drahtzieher terroristischer Anschläge sind vermutlich in Nord- und Ostsyrien inhaftiert. Die internationale Gemeinschaft wäre also gut beraten, ihrer Pflicht nachzukommen und die nun angekündigten Prozesse zumindest zu unterstützen.

Die Mitgliedstaaten der EU scheinen indes noch nicht einmal in der Lage zu sein, angemessen darüber zu diskutieren. Vielmehr scheint es, als wolle man das Problem aussitzen. Die USA wiederum forderten zwar die Länder der Welt dazu auf, ihre jeweiligen Staatsbürger zurückzuholen, weigerten sich aber selbst hartnäckig, US-Bürger zu repatriieren. Diese Doppelmoral muss ein Ende haben. Der Status quo ist nicht nur gefährlich. Es geht auch um eine lückenlose Aufklärung von Terroranschlägen in den eigenen Ländern. Und schließlich um Gerechtigkeit: Die Opfer des IS-Terrors warten darauf, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Umgekehrt haben die mutmaßlichen IS-Mitglieder selbst – trotz allem – ein Anrecht auf ein Gerichtsverfahren unter fairen Bedingungen.

Bei ihrer Entscheidung, über Verbrechen auf eigenem Boden zu richten, war für die AANES ein wesentlicher Faktor, dass hier belastbares Beweismaterial und vor allem Zeugen, wie Überlebende der IS-Verbrechen, verfügbar sind. Die Bewohner und Kämpfer der Region haben große Opferbereitschaft im Kampf gegen den IS gezeigt. Es ist nur folgerichtig, dass die Prozesse vor Ort stattfinden. Die AANES wird die Prozesse gemäß eigener Gesetze zum Terrorismus führen, jedoch die geltenden internationalen Menschenrechtsstandards dabei achten. Die Todesstrafe ist, wie in der Verfassung der AANES verankert, untersagt.

Die Prozesse werden große finanzielle, logistische und rechtliche Ressourcen erfordern. Der AANES fehlt es aktuell noch an Kapazitäten, diese Prozesse ohne internationale Unterstützung zu stemmen. Die Mitgliedstaaten der EU sollten der AANES daher im Einklang mit geltendem internationalem Recht die nötige Unterstützung gewähren und mit ihr zusammenarbeiten. Beispielsweise könnte bei der Ausbildung von Richtern und nötigem Gerichtspersonal geholfen werden. Daneben muss angesichts der Gefahren für die Sicherheit aller Prozessbeteiligten gesorgt werden.

Beobachter der Herkunftsstaaten sollten vertreten sein, um bei der Aufklärung zu helfen und die eigenen Justizbehörden auf etwaige spätere Prozesse im Heimatland vorzubereiten. Schließlich muss die internationale Gemeinschaft auch den zuletzt intensivierten Angriffen der Türkei auf Nord- und Ostsyrien Einhalt gebieten, die sich gegen dieses Vorhaben positioniert und dieses gefährdet haben.

Es bleibt die Frage, was passiert, wenn die in den nun beginnenden Prozessen verhängten Strafen verbüßt sind und die Täter nach ihrer Entlassung vor der Frage stehen, wohin. Spätestens dann wird man sich die Frage nach einer Rehabilitierung stellen müssen. Schon jetzt stellen die überfüllten und vernachlässigten Gefängnisse und Lager einen Hotspot der Radikalisierung dar. Die humanitären Bedingungen sind miserabel. Vor allem Frauen und Kinder bleiben ihrem eigenen Schicksal überlassen.

Quelle          :           TAZ-online           >>>>>       weiterlsen

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Grafikquellen          :

Oben        —      Während Rojava 2014 mehr oder minder nur aus den drei Gründungskantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê bestand, wuchs es bis 2017 beträchtlich und nimmt nun den größten Teil Nordsyriens ein. Die Städte al-Hasaka und Qamischli stehen jedoch teilweise unter Kontrolle der syrischen Regierung. Mehrere Militäroperationen der Türkei mit ihren syrischen Verbündeten führten zu Verlusten, wie z. B. Afrin 2018

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Rüstung und Militär

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2023

Eine EU-Armee für das deutsche Europa?

Blutrote Teppiche gibt es nicht für Panzer Verkäufer in der USA

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von              :    Jürgen Wagner
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 398, April 2015, www.graswurzel.net

Rüstungshaushalt, Militär und Rüstungsindustrie.  Die Pläne zum Aufbau einer „Vereinigten Armee von Europa“ reichen zurück bis zum Pleven-Plan der frühen 1950er Jahre.

Seither werden sie in schöner Regelmässigkeit aus der politischen Mottenkiste geholt, zuletzt Anfang März 2015 durch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, dem schnell andere Politiker, besonders aus Deutschland, beisprangen.Dahinter steckt das Kalkül, nur im EU-Verbund liesse sich die militärische – und damit auch die machtpolitische – Schlagkraft der Europäischen Union auf das Niveau ihrer Wirtschaftskraft hieven. Schon vor Jahren fasste der ehemalige belgische Aussenminister Mark Eyskens diese Überlegungen in einem Spruch zusammengefasst, der inzwischen zum geflügelten Wort avanciert ist: „Europa ist ein wirtschaftlicher Riese, ein politischer Zwerg und, was noch schlimmer ist, ein militärischer Wurm, wenn es keine eigenständige Verteidigungsfähigkeit entwickelt.“

Tatsächlich wurde aus genau diesen Gründen mit dem – schrittweisen – Aufbau einer EU-Armee längst begonnen. Die wohl wichtigste Massnahme in diesem Bereich ist das sogenannte Pooling & Sharing (P&S), die gemeinsame Beschaffung und Nutzung von Militärgerät.

Damit droht jedoch der komplette aussen- und sicherheitspolitische Bereich jeglicher nennenswerten parlamentarischen Kontrolle entzogen zu werden. Dies dürfte allerdings sogar eher ein gewünschter Effekt sein – was dem Aufbau einer EU-Armee dagegen aktuell wirklich ernsthaft im Wege steht, sind die unterschiedlichen Interessen zwischen Deutschland und dem überwiegenden Rest der EU-Länder.

Machtpolitischer Mehrwert

Wie gesagt, die Forderung nach einer EU-Armee ist nicht eben originell, teils neu ist allerdings der Begründungszusammenhang (1), in den EU-Kommissionspräsident Juncker seine Initiative stellte: „Eine europäische Armee hat man nicht, um sie sofort einzusetzen. [] Aber eine gemeinsame Armee der Europäer würde Russland den Eindruck vermitteln, dass wir es ernst meinen mit der Verteidigung der Werte der Europäischen Union. [] Eine solche Armee würde uns helfen, eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik zu gestalten und gemeinsam die Verantwortung Europas in der Welt wahrzunehmen. [] Im Übrigen würde eine europäische Armee zu einer intensiven Zusammenarbeit bei der Entwicklung und beim Kauf von militärischem Gerät führen und erhebliche Einsparungen bringen.“

Der Verweis auf Russland soll hier augenscheinlich den nötigen Alarmismus erzeugen, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Viel interessanter ist dagegen Junckers Äusserung, eine solche Armee sei generell von grossem Nutzen, und zwar unabhängig davon, ob sie überhaupt eingesetzt wird. Hier reproduziert der EU-Kommissionschef die innerhalb der Eliten omnipräsente Vorstellung, dass der weltpolitische Einfluss eines Landes eng mit dessen militärischen Schlagkraft zusammenhängt. Mit anderen Worten brachte diesen Gedanken der ehemalige EU-Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering folgendermassen auf den Punkt: „Politische Gestaltungskraft ist in der internationalen Politik aber unveränderlich an militärische Stärke gebunden. [] Die EU sollte sich daher nicht nur in ihrem Wunschdenken und ihrer Rhetorik zu einem Akteur von globaler Relevanz erklären, sondern sie muss auch die Mittel besitzen und danach handeln.“

Folgt man dieser Auffassung, so ist ein Zuwachs an militärischer Macht allein deshalb schon wünschenswert, da er mit der Vergrösserung des eigenen Einflusses einhergeht. Hier setzt Junckers zweites Argument in seinem Plädoyer für eine EU-Armee an: beim Geld. Denn selbstredend sollen die von ihm prognostizierten Einsparungen nicht zu einer Absenkung der Rüstungshaushalte führen, sondern zu Effizienzsteigerungen, also knapp zusammengefasst: Zu mehr Krieg pro Euro!

Ausgangspunkt der diesbezüglichen Überlegungen ist der kleinteilige europäische Rüstungssektor, der sich auf viele Länder und Rüstungsbetriebe verteilt und durch den das ganze Geschäft mit dem Krieg reichlich ineffizient wird. So argumentierte etwa Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel in seiner rüstungspolitischen Grundsatzrede (2) vom 8. Oktober 2014: „Die Verteidigungsindustrie in der EU ist nach wie vor national ausgerichtet und stark fragmentiert. Europa leistet sich den ‚Luxus‘ zahlreicher Programme für gepanzerte Fahrzeuge, den intensiven Wettstreit zwischen drei Kampfflugzeugen und eine starke Konkurrenz z. B. im U-Boot-Bereich. [] Folgen dieser unbefriedigenden Situation sind hohe Kosten und nachteilige Folgen für den internationalen Wettbewerb, aber auch negative Auswirkungen für die Streitkräfte. Die Bundesregierung muss daher nach meiner Meinung verstärkt auf eine europäische Zusammenarbeit bis hin zum Zusammengehen von in einzelnen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen setzen.“

Eine Bündelung des Rüstungssektors in einer EU-Armee (im Fachjargon: Konsolidierung) soll hier Abhilfe schaffen, wie etwa eine Studie des wissenschaftlichen Dienstes des EU-Parlaments namens „Cost of Non-Europe Report“ (3) argumentiert: „73 Prozent der Beschaffungsvorhaben würden bis heute nicht europaweit ausgeschrieben. ‚Zusammenarbeit bleibt die Ausnahme‘, urteilen die Experten. Die daraus entstehenden Mehrkosten sind immens. Laut Bericht belaufen sie sich auf mindestens 26 Milliarden Euro pro Jahr. Maximal könnten sich die verschwendeten Steuergelder sogar auf 130 Milliarden Euro jährlich summieren. Im Jahr 2012 gaben die EU-Staaten rund 190 Milliarden für Rüstung aus.“ (Spiegel Online, 08.12.2013) Auch Junckers Pressesprecher Margaritis Schinas gab an, mit der vom EU-Kommissionschef geforderten Intensivierung der „Zusammenarbeit bei der Entwicklung und beim Kauf von militärischem Gerät“, also mit Pooling & Sharing, könnten Kostensenkungen in dieser Grössenordnung erreicht werden: „Wir haben Studien, die zeigen, dass wir bis zu 100 oder 120 Milliarden Euro pro Jahr einsparen können“ (euraciv.de, 10.03.2015)

Nukleus einer EU-Armee

Auch wenn die Einschnitte in den Rüstungshaushalten bei weitem nicht so dramatisch ausfallen, wie das Gejammer von Politik, Militär und Rüstungsindustrie nahe legt, existiert trotzdem aus oben beschriebenen Gründen ein hohes Interesse an einer Vergrösserung der militärischen Schlagkraft – und P&S soll genau dies bewerkstelligen. So heisst es in einem Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): „Europa verliert die Fähigkeit, jenseits seiner Grenzen militärisch zu handeln. [] Die chronisch unterentwickelten militärischen Fähigkeiten drohen weiter zu verkümmern: als Folge der Finanzkrise schrumpfen die Verteidigungsapparate rasant. [] In den verteidigungspolitischen Kommuniqués von Nato und EU gilt Pooling und Sharing (P&S) derzeit als technokratische Wunderwaffe gegen drohende militärische Handlungsunfähigkeit.“

Die bislang aus 28 Einzelarmeen mit häufig vollkommen unterschiedlicher Ausrüstung modular oder ad-hoc zusammengesetzten EU-Einheiten sollen sukzessive in immer mehr Teilbereichen durch stehende gemeinsame Truppenteile mit gemeinsamen Stäben und einheitlicher Bewaffnung ersetzt werden. Die derart gebündelten Kräfte stellen den Nukleus einer künftigen EU-Armee dar und sollen dann die prognostizierten deutlichen Kostensenkungen in den Bereichen Anschaffung, Betrieb und Wartung militärischen Geräts nach sich ziehen. Das Ganze ergibt dann deutlich mehr Militärmacht als die Summe seiner Teile, so die Argumentation.

Der erste wesentliche Impuls zur Intensivierung von Pooling & Sharing ging von der deutsch-schwedischen Gent-Initiative aus, deren Vorschläge der Europäische Rat am 9. Dezember 2010 billigte. Im Dezember 2011 wurden elf Pilotprojekte vereinbart, die sich etwa auf Bereiche wie Luftbetankung, Satellitenkommunikation, „intelligente“ Munition usw. erstrecken. Um diese Bereiche auszuweiten, wurde am 19. November 2012 ein Verhaltenskodex (Code of Conduct) verabschiedet, dessen Zweck der damalige Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Christian Schmidt, folgendermassen zusammenfasste: „Dieser Verhaltenskodex enthält eine starke politische Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten, die multinationale Kooperation stärker und von Anfang an in ihre nationalen Planungen einzubeziehen und möglichst zur bevorzugten Methode im Bereich der Fähigkeitsentwicklung zu machen.“

Auf dem Rüstungsgipfel im Dezember 2013 wurde dann ein „Policy Framework for Systematic and Long-Term Defence Cooperation“ in Auftrag gegeben, das im November 2014 veröffentlicht wurde. Beim nächsten anstehenden Rüstungsgipfel der Staats- und Regierungschefs im Juni 2015 soll die Intensivierung von Pooling & Sharing erneut weit oben auf der Agenda stehen – u.a. dürfte dabei der wiederholt gemachte Vorschlag debattiert werden, europaweite Beschaffungsprojekt generell von der Mehrwertsteuer zu befreien, um so P&S voranzubringen.

Kriegspolitik im stillen Kämmerlein

Zwar darf bezweifelt werden, dass Pooling & Sharing auch nur ansatzweise zu Einsparungen in Dimensionen führen wird, wie sie die oben genannten Studien nahelegen. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, besteht, wie bereits erwähnt, die Absicht dann ohnehin nicht darin, dies für eine Senkung der Rüstungshaushalte zu nutzen, sondern für die Erhöhung der militärischen Schlagkraft. Allein schon deshalb ist das gesamte Konzept friedenspolitisch bedenklich.

File:Upgraded Leopard 2.jpg

Doch der eigentliche Haken ist die Frage der demokratischen Kontrolle – in einigen EU-Ländern, unter anderem auch hierzulande, verfügen die nationalen Parlamente (noch) über erhebliche Mitspracherechte, insbesondere was die Zustimmung zu Auslandseinsätzen anbelangt. Obwohl ein Szenario, in dem der Bundestag einen von der Regierung beschlossenen Einsatz kippen würde, nur schwer vorstellbar ist, hat der Parlamentsvorbehalt dennoch eine wichtige Funktion: Er zwingt dazu, über den Sinn bzw. Unsinn von Militäreinsätzen öffentlich zu debattieren und ein Mindestmass an Rechenschaft darüber abzulegen.

Genau hier ergibt sich aus der Debatte um eine EU-Armee ein militaristischer Kollaterallnutzen, indem argumentiert wird, es könne nicht angehen, dass der Bundestag – und sei es nur theoretisch – den Einsatz von gemeinsam angeschafftem und/oder genutztem Militärgerät die Zustimmung versagen könnte. Dieser Mangel an „Verlässlichkeit“ sei der wesentliche Stolperstein, weshalb P&S nur langsam vorankomme. Er müsse aus diesem Grund aus dem Weg geräumt werden.

Am lautstärksten fassten diese Überlegungen der inzwischen verstorbene CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Schockenhoff und sein Kollege Roderich Kiesewetter schon 2012 folgendermassen zusammen: „Wichtig ist, dass wir wie unsere Verbündeten auf Kommando-, Logistik-, Aufklärungs- oder Ausbildungseinheiten, die ‚geteilt‘ werden, verlässlich zugreifen können. [] Eine wirkungsvolle GSVP [Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik] wird die militärischen Fähigkeiten der einzelnen Staaten in so starkem Masse zusammenlegen und unter geteilte Führung stellen, dass es nicht möglich sein wird, nationale Vorbehalte als Einzelmeinung durchzusetzen. Deutsche Soldaten könnten damit in einen EU-Einsatz gehen, den die deutsche Regierung und der Deutsche Bundestag allein aus eigener Initiative nicht beschlossen hätten. [] Dieser Souveränitätsverzicht betrifft gerade den Bundestag mit seiner im europäischen Vergleich eher starken Mitspracherolle und müsste sich in einer Reform des Parlamentsvorbehalts bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr niederschlagen. Der Bundestag muss weiterhin das letzte Wort in Form eines Rückrufvorbehalts bei solchen Entscheidungen behalten.“

Mit der Frage, wie sich der Parlamentsvorbehalt am „besten“ aushebeln lässt, beschäftigt sich derzeit eine Kommission unter Leitung des ehemaligen Verteidigungsministers Volker Rühe, die in absehbarer Zeit ihre Vorschläge präsentieren will. Dabei ist zu sagen, dass ein Abbau nationaler Kontrollmöglichkeiten grundsätzlich abzulehnen ist. Dies gilt aber umso mehr dann, wenn gleichzeitig keine Stärkung des EU-Parlaments erfolgt – und genau hiervon ist nirgends in der gesamten Debatte ernsthaft die Rede. Bislang hat das EU-Parlament in der Aussen- und Sicherheitspolitik faktisch nichts zu sagen und es deutet auch nichts darauf hin, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte. Die als Exekutive agierenden EU-Staats- und Regierungschefs – und zwar v.a. die der grossen EU-Länder, allen voran Deutschland – könnten also in absehbarer Zukunft die EU-Militärpolitik im Alleingang weitgehend unbehelligt von nationaler oder europäischer Kontrolle betreiben.

Pleven Redux

Trotz der machtpolitischen Attraktivität von P&S sind viele BefürworterInnen des Konzeptes unzufrieden, mit den eher mauen bisherigen Fortschritten in diesem Bereich. An Deutschland liegt es hier bestimmt nicht: Auch die Juncker-Initiative erfreute sich grosser Unterstützung quer durchs nahezu komplette politische Farbenspektrum. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und auch Kanzlerin Angela Merkel begrüssten den Vorstoss ebenso wie der SPD-Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Hans-Peter Bartels und Aussenminister Frank-Walter Steinmeier. Als eine „hervorragende Idee“ bezeichnete auch der Grünen-Aussenpolitiker Omid Nouripour die jüngste EU-Armee-Initiative, verwies allerdings darauf, dass dem einige „Elefanten“ im Weg stünden, etwa, dass eine EU-Armee unrealistisch sei, „solange es nicht eine europäische Aussenpolitik gibt“.

Ungewollt verweist der heutige Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung Hans-Gert Pöttering auf den eigentlichen Elefanten im Raum: „Die EU kann nur gemeinsam das Gewicht, das sie mit Blick auf ihre Bevölkerung und Wirtschaftskraft besitzt, in die Waagschale werfen. Die Schuldenkrise in einigen EU-Ländern macht noch einmal offenkundig, was längst hätte klar sein müssen: Von einer gemeinsamen Währung profitieren alle, und daher müssen sich auch alle an die Spielregeln, an die vertraglichen Grundlagen der Währungsunion halten. [] In der Finanz- und Wirtschaftspolitik haben die Eurostaaten entscheidende nationale Kompetenzen schon an die supranationale Ebene übertragen. Es ist an der Zeit, dies auch im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu wagen.“

Angesichts solcher Sätze dürften in nahezu allen EU-Hauptstädten die Alarmglocken angehen. Schliesslich hat die Bundesregierung gerade im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise unter Beweis gestellt, dass sie bereit und in der Lage ist, ihren Willen in diesem Bereich auch rabiat gegen andere EU-Länder durchzusetzen. Gepaart mit den teils offen artikulierten Forderungen nach einem „deutschen Europa“ dürfte hier die Ursache liegen, dass sich der Enthusiasmus dafür, auch im Militärbereich „nationale Kompetenzen an die supranationale Ebene zu übertragen“, derzeit in Grenzen hält. So äusserte sich etwa der britische Premier David Cameron zu Junckers Vorschlägen: „Unsere Position ist absolut klar. Für die Verteidigung sind konkrete Staaten und nicht die Europäische Union zuständig.“ Auch Polens Aussenminister Grzegorz Schetyna nannte die Initiative eine „sehr riskante Idee“.

Und selbst aus Frankreich kommen eher zurückhaltende Töne und zwar aus nicht gänzlich anderen Gründen, weshalb die französische Nationalversammlung bereits den Pleven-Plan zum Aufbau einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Jahr 1954 versenkte. Louis Terrenoire, der damalige Generalsekretär der Gaullisten, kritisierte den Plan ein Jahr vor seinem Scheitern folgendermassen: „Acht Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus sind die diplomatischen Bestandteile der germanischen Macht wiederhergestellt. Wenn die europäischen Integrationspläne, vor allem die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, verwirklicht werden sollten, wird künftig über die deutsche Vorherrschaft kein Zweifel mehr möglich sein.“

Jürgen Wagner
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 398, April 2015, www.graswurzel.net

Anmerkungen:

Jürgen Wagner ist Politikwissenschaftler und geschäftsführender Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI, www.imi-online.de) in Tübingen.

(1) www.focus.de/politik/ausland/verteidigung-der-werte-um-russland-in-schach-zu-halten-juncker-fordert-europa-armee_id_4528731.html

(2) www.bmwi.de/DE/Presse/reden,did=661856.html

(3) www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/etudes/join/2013/494466/IPOL-JOIN_ET(2013)494466_EN.pdf

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —   Secretary of Defense Lloyd J. Austin III is greeted upon arrival to the Ministry of Defense in Berlin by German Defense Minister Boris Pistorius and Ambassador Amy Gutmann Jan 19, 2023. (DoD photo by U.S. Air Force Tech. Sgt. Jack Sanders)

Unten        —      Leopard 2 Panzer der neuesten Generation auf dem Gelände der Rheinmetall.

Datum
Quelle Eurosatory_1506–0785
Urheber AMB Brescia

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Der Glaube an die Medien

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2023

So verlor ich den Glauben an die etablierten Medien

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Helmut Scheben /   Wenn Nachrichten sich später als falsch erweisen, sind sie in der Erinnerung oft schon als «historische Wahrheit» eingebrannt.

Während und nach dem Golfkrieg von 1991 war es den Medien in den USA verboten, Bilder von Särgen toter US-Soldaten zu zeigen. Die Massnahme wurde erst im Februar 2009 aufgehoben. Auch das Filmen toter oder verwundeter US-Soldaten war verboten, und das Verbot wurde vor allem im Irak-Krieg mit extremer Härte durchgesetzt, wie Kameraleute berichteten. Als ich einmal im riesigen Archiv des Schweizer Fernsehens solche Aufnahmen suchte, fand ich eine einzige Sequenz, die etwa drei Sekunden dauerte. Ein amerikanischer Soldat versuchte da, aus einem brennenden Panzer zu klettern.

Drei Sekunden von tausenden Videos, die in diesem Krieg gedreht worden waren. Drei Sekunden, die – wie deutlich erkennbar – auf einen Fehler eines Cutters zurückzuführen waren, der ein IN oder OUT falsch gesetzt hatte, sodass Material sichtbar wurde, welches eigentlich der Zensur hätte anheimfallen sollen.

Szenen einer Niederlage werden seit Vietnam nicht mehr gezeigt. Also gibt es keine Niederlagen mehr, denn die auf zweieinhalb Minuten komprimierten TV-News sind es, die in unseren Köpfen Geschichte schreiben

In seinem Buch «Liberty and the News» konstatierte 1920 der US-amerikanische Journalist und Medientheoretiker Walter Lippmann:

«Die Zeitungsspalten sind öffentliche Informationsträger. Wenn diejenigen, die sie kontrollieren, sich das Recht herausnehmen, zu bestimmen, was zu welchem Zweck berichtet werden soll, dann kommt der demokratische Prozess zum Erliegen.»

(Lippmann S.24) 

Ich hätte mir noch vor ein paar Jahren nicht vorstellen können, dass mein morgendlicher Gang zum Briefkasten, um die Zeitungen zu holen, begleitet sei von einem leisen Kontrapunkt aus Widerwillen und Langeweile. Ich habe gern zum Morgenkaffee Papier in der Hand, statt auf einen Bildschirm zu schauen. Die Lektüre nimmt indessen von Jahr zu Jahr weniger Zeit in Anspruch. Das liegt zum einen daran, dass viele Themen mich nicht mehr interessieren, zum Beispiel die ewige Seifenoper britischer Royals, die täglich obligatorischen LGBTQ-Probleme, die Me-Too-Befindlichkeit von Groupies bei Rockkonzerten oder parlamentarische Untersuchungen, die herausfinden sollen, warum im Finanzkasino Banken an die Wand fahren.

Die wirklichen Probleme der meisten Menschen, der Krieg in der Ukraine, der eskalierende Konflikt zwischen USA und China, also Vorgänge, die das Leben von Millionen Steuerzahlenden derzeit verändern und künftige Generationen belasten (Aufrüstung, Inflation, Energiepolitik, Sanktionspolitik, Asylwesen etc.) werden aber in unseren führenden Medien mit einem derart reduzierten Blickwinkel dargestellt, dass es mich fassungslos macht. Die Realitätsverweigerung erfolgt mit einer an Tollwut grenzenden Selbstverständlichkeit.

Von 100 Artikeln gibt es keine 5 aus der Sicht der anderen Kriegspartei

Ich habe mir die Mühe gemacht, als Beispiel den Zürcher Tages-Anzeiger, den ich abonniert habe, auf Einseitigkeit zu prüfen. Vom Angriff Russlands im Februar 2022 bis zum Jahresende 2022 habe ich rund einhundert Artikel angeschaut, die direkt vom Ukraine-Krieg handeln.  Beim hundertsten Bericht war ich erschöpft von immer dem Gleichen. Fast alle schildern das Leid und das Heldentum der Westukraine in dem russischen Angriffskrieg und – in schrillen Farben – die Verbrechen Russlands.

Kenner von Waffensystemen und Geostrategie repetieren unaufhörlich, warum Russland besiegt werden muss, und die Investigativen kennen kaum mehr anderes als die Jagd nach irgendeinem Russen oder einer Russin, denen man noch das Vermögen enteignen könnte.

Auf hundert Artikel habe ich keine fünf gefunden, die informierten, was auf der anderen Seite der Front passiert. Das Leid der pro-russischen Ukrainer unter den Raketenangriffen und dem Artilleriefeuer der pro-westlichen Ukrainer ist keiner Erwähnung wert. Die Menschen hinter der Frontlinie scheinen für unsere grossen Medien nicht zu existieren. Berichtet wird ausschliesslich mit der Optik der NATO, also mit der Optik einer Rüstungs-Lobby, die weltweit als Brecheisen der Ordnungsmacht USA funktioniert.

Die Einseitigkeit der Berichte entspringt der Einseitigkeit der Quellen. Neben dem unausweichlichen britischen Geheimdienst (ob 007 mitarbeitet, bleibt bisher im Dunkel) sind die täglichen Quellen unserer «Benachrichtigung»:  Präsident Selensky und seine Entourage in Kiew sowie seine Freunde in Brüssel, London, Washington und die zugehörigen Experten und NATO-Denkfabriken. Die Russen erscheinen hauptsächlich als Verbrecher, die ihre Verbrechen leugnen.

Und wenn ein Damm bricht, der russische Verteidigungsstellungen und ein von Russland besetztes Gebiet weitgehend überschwemmt, dann finden alle deutschen Talkshows, aber auch das Schweizer Radiomagazin «Echo der Zeit», unverzüglich Experten, die wissen, dass es die Russen waren, die den Damm zerstörten. Wie es auch die Russen sind, die sich selbst in dem Atomkraftwerk beschiessen, welches sie besetzt halten. «Tis the times‘ plague, when madmen lead the blind«, heisst es bei Shakespeare im King Lear.

In den Jahren vor dem russischen Angriff registrierten die OECD-Beobachter täglich Detonationen der Artillerie, im Februar 2022 schliesslich hunderte Explosionen pro Tag. Weit mehr als zehntausend Tote haben die Kämpfe in der Ostukraine zwischen 2014 und 2022 gefordert. Dieser Krieg hat also nicht im Februar 2022 begonnen.

Haben unsere Zeitungen darüber berichtet? Sie haben es weitgehend unter den Teppich gekehrt. Sie sehen nur, was sie schon wissen. Das heisst: Sie wissen immer schon, was sie sehen werden. Also das, was ich jeden Morgen in den Zeitungen lesen kann. Und somit das, was ich nicht mehr lesen muss, weil ich schon weiss, was es ist, bevor ich die Zeitung aufschlage.

«Lasst euch nicht von den eigenen täuschen»

Im Herbst 1983 demonstrierten mehr als eine Million Menschen überall in der Bundesrepublik Deutschland gegen die Stationierung von Atombomben. Auch in mehreren Ländern, die Mitglieder der NATO waren, widersetzte sich eine Mehrheit der Menschen der weiteren atomaren Aufrüstung, denn es war klar, dass das vielbeschworene «Gleichgewicht des Schreckens» durch die britischen und französischen A-Bomben längst garantiert war. Bei der Debatte im Bundestag sagte Oppositionsführer Willy Brandt, seine Partei, die SPD, werde mit Protestbriefen zugeschüttet:

«Das sind Deutsche West und Deutsche Ost, das sind Europäer und Amerikaner, das sind Mütter und Väter, Grossmütter und Grossväter, Arbeiter und Unternehmer, Künstler und Soldaten, Hausfrauen, Rentner, und es sind Naturwissenschafter und Ingenieure aller akademischen Grade. Ich frage mich, wem es guttut, wenn das Engagement und der versammelte Sachverstand dieser Mitbürgerinnen und Mitbürger mit der ganzen Arroganz der Macht in den Abfall geräumt wird.»

Die FDP-CDU-Mehrheit des deutschen Parlamentes wählte für Volkes Stimme den Abfallkübel und beschloss die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen. Diese wurden zwar im Rahmen eines Abrüstungsabkommens abgeschafft, gleichwohl lagern im Fliegerhorst Büchel in der Eifel heute US-amerikanische Atomsprengköpfe. Deutsche Luftwaffenpiloten trainieren deren Einsatz im Rahmen der sogenannten «nuklearen Teilhabe». Es ist kein militärisches Geheimnis, dass Russland stets das Hauptangriffsziel war und nach wie vor ist.

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Im selben Jahr 1983 erscheint Christa Wolfs Buch «Kassandra», ein Text über eine Seherin, die vor ihrem Tod über den Untergang ihrer Heimat Troja nachdenkt:

«Wann der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg? Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da? Da stünde unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den eigenen täuschen.»

Ich habe mich von den eigenen täuschen lassen, aber es hat lange gedauert, bis ich dessen gewahr wurde. Die «Süddeutsche», die «Frankfurter Rundschau», die «Neue Zürcher», der «Spiegel» und andere Blätter, das waren meine Leitmedien, als ich Journalismus lernte.

Die grossen Medien, sowohl die gebührenfinanzierten wie die der privaten Konzerne, haben in allen Kriegen, die ich beobachten konnte, krachend versagt. Ihre Aufgabe wäre gewesen, das Handeln der Regierungen in Frage zu stellen, aber sie haben sich in vielen Fällen als Lautsprecher der Regierungs-Propaganda und als Kriegstreiber in ungerechtfertigten und sinnlosen Kriegen erwiesen.

Die Balkankriege öffneten die Büchse der Pandora

Meine erste grosse Berufskrise kam, wenn ich mich recht erinnere, während der Balkankriege. Ich fand nachts keinen Schlaf mehr, als ich merkte, dass da das Blaue vom Himmel herunter gelogen wurde. Tuzla war damals mein Schlüsselerlebnis. Die Stadt in Bosnien war 1993 als Schutzzone definiert worden. Blauhelme waren dort stationiert. Die bosnisch-moslemische Bevölkerung sollte vor serbischen Angriffen geschützt werden. Die serbische Artillerie schoss aber gleichwohl auf die Stadt. Diese Angriffe waren Monate lang tägliche Meldung in den Radionachrichten. Die westlichen Medien flossen über vor Empörung über den Beschuss der «Safe Area».

Ich fiel aus den Wolken, als mir 1995 Blauhelm-Soldaten sagten: «Die Serben schiessen zwar manchmal da rein, aber die Artillerie in Tuzla schiesst auch jede Nacht raus auf die umliegenden serbischen Dörfer.»

Tuzla wurde bei Nacht und Nebel von den USA mit Waffen versorgt. Es gab dort militärische Sperrgebiete, wo UN-Einheiten der Zutritt verwehrt wurde. Dieselbe Regierung in Washington, die nach aussen hin die Rolle des «honest broker» spielte, um ein Ende des Krieges zu erreichen, organisierte im Geheimen sogenannte «black flights», um das bosniakische Militär aufzurüsten.

Als ein norwegischer Blauhelm-Offizier dies 1995 bemerkte und publik machte, bekam er den Befehl zu schweigen und wurde strafversetzt. Der britische Sender ITN/Channel 4 hatte einen Beitrag über die Sache gedreht, den ich für ein Magazin des SRG-Programms Schweiz 4 übernahm.

Meine Versuche, Schweizer Medien auf die Enthüllungen aufmerksam zu machen, stiessen auf Indifferenz. In Bosnien wie auch im Kosovo bestimmte die NATO, was man wissen durfte und was nicht. Carla Del Ponte, Chefanklägerin in Den Haag, beklagte sich später, dass sie mit ihrer Bitte um Einsicht in die Geheim-Operationen der NATO gegen eine Wand lief.

Erst viel später erfuhr ich, dass führende PR-Agenturen der USA damals die Presse mit Schauergeschichten über serbische Konzentrationslager und Holocaust-Pläne fütterten, welche ein gigantischer Medienapparat in Sekundenschnelle um die Welt jagte. Die Politikwissenschafter Jörg Becker und Mira Beham haben in ihrer Studie «Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod» in US-Archiven weit über hundert solcher PR-Verträge nachgewiesen. Der Auftrag hiess, die Serben als Täter und die andern als Opfer darzustellen. James Harff, Chef der PR-Agentur Ruder Finn, beschrieb seinen Job folgendermassen:

«Unser Handwerk besteht darin, Nachrichten auszustreuen, sie so schnell wie möglich in Umlauf zu bringen (…) Die Schnelligkeit ist entscheidend. Denn wir wissen genau, dass die erste Nachricht von Bedeutung ist. Ein Dementi hat keine Wirkung mehr.»

Mira Beham: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. 1996. S.172 ff.

PR-Agenturen liefern die Argumente für Krieg und Tod

Harff zeigte gegenüber Jacques Merlino, einem stellvertretenden Chefredaktor von France 2, einen gewissen Berufsstolz, wenn er in aller Offenheit beschrieb, wie seine Agentur «mit einem grossartigen Bluff» ihren Auftrag erledigte, indem sie drei mächtige jüdische Lobby-Organisationen der USA dazu brachte, in Inseraten in der «New York Times» vor einem drohenden Holocaust auf dem Balkan zu warnen.

«Mit einem Schachzug konnten wir die Sache vereinfachen und sie darstellen als Geschichte von den guten und den bösen Jungs (…) Und wir haben gewonnen, denn wir haben das richtige Ziel ausgewählt, das jüdische Publikum (targeting Jewish audience). Sofort stellte sich eine bemerkbare Veränderung des Sprachgebrauchs in den Medien ein, begleitet von der Verwendung solcher Begriffe, die eine starke emotionale Aufladung hatten, wie etwa ethnische Säuberung, Konzentrationslager und so weiter, und all das evoziert einen Vergleich mit Nazi-Deutschland, Gaskammern und Auschwitz. Die emotionale Aufladung war so mächtig, dass niemand wagte, dem zu widersprechen.»

Der deutsche Aussenminister Joschka Fischer tourte folgerichtig mit der Parole «Nie wieder Auschwitz» durch Europa und sein Verteidigungsminister Scharping brachte unters Volk, man wisse, dass die Serben «mit den abgeschnittenen Köpfen ihrer Feinde Fussball spielen.» Ein Foto, das als Beweis der serbischen Gräuel und als Argument für den NATO-Angriffskrieg um die Welt ging, zeigte einen entsetzlich abgemagerten Mann mit nacktem Oberkörper hinter Stacheldraht. Es erinnerte an die Fotos von deutschen Vernichtungslagern 1945. Die Aufnahme war – wie später nachgewiesen wurde – eine Fälschung. Das fragliche Flüchtlingszentrum Trnopolje war damals weder durch einen Stacheldrahtzaun abgesperrt noch gab es dort halb verhungerte Menschen.

Nichts hat sich geändert. Der Krieg generiert die ewig gleichen Propagandamittel. Ein in der Ukraine lebender «Schriftsteller aus Ostdeutschland» namens Christoph Brumme schrieb 2022 in der «NZZ am Sonntag» ein regelmässiges «Tagebuch», in dem er unter anderem vorhersagte, die Russen würden in der Ukraine Konzentrationslager einrichten und Putin sei ein zweiter Hitler. Er sei vermutlich schwer krank und werde mit einer Atombombe seinen Suizid inszenieren. Und dergleichen mehr.

Schon im Golfkrieg von 1991 war die Kategorie der «eingebetteten Journalisten» entstanden, und es gibt wohl kaum einen Begriff, der besser umschreibt, wie dieser Beruf zu einer Art Prostitution verkommen kann. Der US-Journalist John R. MacArthur hat in seiner Studie «Second Front: Censorship and propaganda in the 1991 Gulf War» (auf Deutsch bei dtv «Die Schlacht der Lügen») gezeigt, wie die Medien an der Leine geführt und wie die Öffentlichkeit getäuscht wurde.

Die Symbiose der grossen Medien und ihrer Regierungen wurde nach dem Anschlag von 9/11 vollends zur Selbstverständlichkeit. Dieser wurde als Angriff einer feindlichen Macht definiert und in dieser Logik erst Afghanistan, dann der Irak angegriffen. Weltweit wurde ein «Krieg gegen den Terror» begonnen, und da man einmal am Aufräumen war, wurden «by the way» auch in Libyen und Syrien «unterdrückte Völker befreit». Die Resultate sind in all diesen Ländern zu besichtigen.

Der renommierte Wissenschaftsjournalist und Friedensaktivist Norman Cousins hatte der ideologischen Mission der Supermacht USA schon 1987 einen Namen gegeben: «The Pathology of Power».

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Autor Helmut Scheben

Helmut Scheben (*1947 in Koblenz, Deutschland) studierte Romanistik in Mainz, Bonn, Salamanca und Lima. 1980 promovierte er zum Doktor phil. an der Universität Bonn. Von 1980 bis 1985 war er als Presseagentur-Reporter und Korrespondent für Printmedien in Mexiko und Zentralamerika tätig. Ab 1986 war er Redaktor der Wochenzeitung (WoZ) in Zürich, von 1993 bis 2012 Redaktor und Reporter im Schweizer Fernsehen SRF, davon 16 Jahre in der Tagesschau.

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Eine erfundene Vergewaltigungs-Story in Libyen 

Mir ist unverständlich, wie Journalisten, die so oft von Regierungen belogen wurden, weiterhin die politischen Vorgaben von oben weiterverbreiten, als wären es die Tafeln der Zehn Gebote. Im Juni 2011 sagte US-Aussenministerin Hillary Clinton vor laufenden Kameras, sie habe jetzt den Beweis, dass der libysche Herrscher Muammar al-Gaddafi «systematische Vergewaltigung» als Strategie einsetze. Zu diesem Zeitpunkt herrschte Bürgerkrieg in Libyen. Die libysche Armee versuchte, einen Aufstand niederzuschlagen, der im Sog des sogenannten «arabischen Frühlings» seit Februar 2011 eskalierte. Die USA und ihre NATO-Verbündeten bombardierten seit März 2011 das Land, um – so die offizielle Argumentation – dem von Gaddafi unterdrückten libyschen Volk zu helfen und «eine Flugverbotszone durchzusetzen».

Als lebender Beweis für den Vorwurf der Vergewaltigungen galt eine Libyerin namens Eman-al Obeidi. Die Frau hatte sich am 26. März 2011 Zugang zum Luxus-Hotel Rixos Al Nasr in Tripolis verschafft. Hotelpersonal und Security-Leute versuchten zu verhindern, dass sie Kontakt mit den Journalisten aufnahm, die dort beim Frühstück sassen. Die Frau schrie, sie sei drei Tage zuvor von Milizionären Gaddafis an einem Checkpoint entführt und vergewaltigt worden.

Der libysche Regierungssprecher Musa Ibrahim erklärte später, man habe Frau Obeidi zunächst für alkoholisiert und psychisch gestört gehalten. Dann habe man festgestellt, dass ihre Angaben glaubwürdig seien. Der Fall sei in den Händen der Justiz. Es handele sich um gewöhnliche Kriminalität und nicht um ein politisches Verbrechen.

Frau Obeidi wurde von CNN und zahlreichen anderen Medien interviewt. Sie figurierte als Beweis für die Verruchtheit des libyschen Staatsoberhauptes Gaddafi. Dabei schien den grossen Medien kaum erwähnenswert, dass libysche Ärzte die Frau betreut hatten, die Vergewaltigung bestätigt hatten und die libysche Polizei kurz darauf Tatverdächtige festgenommen hatte.

In einem Büro von Amnesty International in Zürich fragte ich 2011, was an den Vorwürfen dran sei. Ich erhielt die Auskunft, Amnesty habe mehrere Monate lang in Libyen ermittelt und keine Bestätigung für den Vorwurf der Massenvergewaltigung gefunden. Auch der Sprecher der libyschen Organisation «Human Rights Solidarity Libya», die den Aufständischen nahestand, sagte mir am Telefon: «Wir haben keine Beweise. Der einzige konkrete Fall ist der von Frau Obeidi.»

Der Mist war indessen gefahren und die Story erfuhr eine geradezu rasende Proliferation in praktisch sämtlichen westlichen Medien. Meine Google-Suche am Sonntag, 20. Juli 2011, zeigte 21 Millionen Ergebnisse. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, Luis Moreno Ocampo, lieferte ein vorzügliches Schmiermittel für den Medien-Apparat mit der Bemerkung, er habe tatsächlich «Informationen» über Massenvergewaltigungen. Auf die Frage eines Journalisten, was er von Berichten halte, Gaddafi lasse Viagra importieren, damit seine Soldaten vergewaltigen könnten, entgegnete der Chefankläger nicht etwa: «Lassen Sie mich mit solchem Blödsinn in Ruhe». Er sagte stattdessen den perfiden Satz, man sammle noch Beweise: «Yes, we are still collecting evidence.»

Das Phantasie-Gebilde wucherte wochenlang weiter. Die Schweizer Zeitung «Le Matin» trieb das kreative Story-Telling bis zu der Foto-Abbildung eines King Size Bettes samt Lampe und Nachttisch: angeblich ein Raum in einem unterirdischen Bunker, wo dem Blatt zufolge Gaddafi seine weiblichen Opfer missbrauchte. Ich habe in dieser Zeit keinen Journalisten getroffen, der sagte, er schäme sich dafür, dass er durch seine Berufswahl zu dieser Branche gehöre.

«Atrocity Management» ist so alt wie der Krieg selbst.

Die Verteufelung des Feindes ist ein bewährtes Instrument, welches so alt ist wie der Krieg selbst.

Der Historiker Gerhard Paul hat in seinem Standardwerk «Bilder des Krieges, Krieg der Bilder» anhand von über 200 Abbildungen dargestellt, wie die modernen Bildmedien den Krieg als Ikonographie in der kollektiven Erinnerung einbrannten. Dabei geht laut Gerhard Paul die Wirklichkeit in gleichem Mass verloren wie die Bilder perfektioniert und standardisiert werden.

Medienwirksam sind stets Verbrechen an Kindern. Das geht von der kuwaitischen «Pflegerin Najirah», die vor einem Menschenrechtskomitee des US-Kongresses sagte, sie habe gesehen, wie irakische Soldaten Brutkasten-Babies die Schläuche herausrissen, was sich später als eine Erfindung der PR-Agentur Hill & Knowlton erwies, bis zur Menschenrechtsbeauftragen Denissowa in Kiew, die im Juni 2022 ihren Job verlor, weil klar geworden war, dass sie Lügen verbreitet hatte. Darunter die Behauptung, sie habe Beweise, dass russische Soldaten Kleinkinder vergewaltigten.

Die Darstellung des Feindes als bestialisches Ungeheuer scheint unvermeidbares Stereotyp der Kriegspropaganda. Im Ersten Weltkrieg war die Story, deutsche Soldaten hätten einer belgischen Frau ihr Baby entrissen, diesem die Hände abgehackt und selbige dann verspeist, ein Dauerbrenner in der französischen und britischen Presse.

Wenn der Feind ein Ungeheuer ist, welches das Böse an sich verkörpert, sind Kriege leichter zu rechtfertigen. Ich habe in mehr als vierzig Jahren journalistischer Arbeit feststellen müssen, dass die grossen Medien solche Propaganda-Erzählungen meist unkritisch verbreiten und erst sehr spät oder nie bereit sind, ihre Fehler einzugestehen. Die «New York Times», die bei ihren Leserinnen und Lesern für die Falschinformation rund um den Irak-Krieg um Vergebung bat, ist der einzige mir bekannte Fall.

In 19 Arbeitsjahren beim Schweizer Fernsehen SRF ist mir kein Fall bekannt geworden, in dem eine Sendung sich für falsche Nachrichten entschuldigt hätte. Mit Ausnahme der Sendung Meteo, wenn die Wetterprognose falsch war.

2011 machte ich Amnesty International Schweiz darauf aufmerksam, dass es keine Fernsehbilder von den Zerstörungen der NATO-Luftangriffe in Libyen gab. Die Fernsehstudios der libyschen Regierung waren in der ersten Angriffswelle in Schutt und Asche gelegt worden. Die NATO-Kommandozentrale in Neapel konnte dadurch verhindern, dass emotionale Bilder von Opfern, die aus den Trümmern gezogen wurden, auf westlichen TV-Kanälen zu sehen waren. Das Problem war den grossen Medien nicht aufgefallen, oder sie haben es ignoriert.

Der Amnesty-Sprecher erwiderte mir damals, diese Einseitigkeit der Darstellung mache ihnen ebenfalls grosse Sorgen. Als ich abends mit dem Cutter am Schnittplatz den Beitrag für die Tagesschau fertiggestellt hatte, sagte der Tages-Chef bei der Abnahme, dieser Satz des Amnesty-Sprechers müsse raus aus dem Beitrag. Auf meine Frage nach der Begründung hiess es:  «Sonst könnten die Zuschauer ja denken, Gaddafi sei gar nicht so bös und am Ende noch im Recht.»

Eine neue Epoche der Zensur ist angebrochen

Die Konzernmedien und die gebührenfinanzierten Anstalten dominieren den Nachrichtenmarkt. Sie behaupten alle von sich, sie seien die Vierte Gewalt, die den Mächtigen auf die Finger schaue, und dadurch werde Demokratie erst ermöglicht. Meine Erfahrung ist: Sie sind viel mehr Gläubige in einer Art von Religionsgemeinschaft, die sich als Achse des Guten sieht. Wer ihre Weltsicht nicht teilen will, der wird totgeschwiegen, diffamiert oder schlicht verboten.

In diesem Sinne arbeiten die Regierungen und ihre zugewandten Medien effizient. Die 27 Länder der Europäischen Union haben die russischen Nachrichtensender RT und Sputnik verboten. Wer sie verbreitet oder empfängt, zahlt in Österreich sogar bis zu 50’000 Euro Strafe. So einfach glaubt man, die Meinungs-Einfalt durchsetzen zu können. Protest oder Kritik aus den grossen Redaktionen der Vierten Gewalt? Null.

Während in russischen Talkshows und in den russischen Social Media mit erstaunlicher Härte immer wieder kontrovers über diesen Krieg diskutiert wird, versuchen westliche Medien uns mit obsessiver Emsigkeit einzutrichtern, dass in Russland jeder eingesperrt wird, der etwas gegen diesen Krieg sagt. «Zehn Jahre Gefängnis fürs Denken» titelt die Neue Zürcher Zeitung (6. Juni 2023).

In Kiew sind oppositionelle Medien schlicht verboten. Muss man darüber berichten? Offensichtlich nicht. Das wird dann beiläufig, quasi als abschweifender Schlenker, in acht Wörtern abgehandelt: «Seit Kriegsbeginn zeigen die ukrainischen Sender ein Gemeinschaftsprogramm» (Zürcher Tagesanzeiger, 28. Juli 2022). Gemeinschaftsprogramm? Das tönt schon fast wie gemeinnützige Arbeit.

Das Verschweigen hat System. Nirgends wird das so sichtbar wie in dem Stillschweigen, welches unsere führenden Medien über die um sich greifende Zensur der Social Media bewahren. Wenige Wochen nachdem die EU die russischen Sender verboten hatte, kündigte Google an, weltweit alle mit Russland verbundenen Medien zu blockieren. Wie so oft bei Big Tech kam der Druck angeblich von der eigenen Belegschaft: «Mitarbeiter von Google hatten YouTube gedrängt, zusätzliche Strafmassnahmen gegen russische Kanäle zu ergreifen.»

Millionen von Beiträgen verschwinden von der Plattform. Der Investigativ-Journalist Glenn Greenwald, der an den Enthüllungen von Edward Snowden beteiligt war, hat auf diese extreme Zensurkampagne und die Dollarmilliarden hingewiesen, die dabei eine Rolle spielen:

«Es ist wenig überraschend, dass die Monopole des Silikon Valley ihre Zensurmacht in voller Übereinstimmung mit den aussenpolitischen Interessen der US-Regierung ausüben. Viele der wichtigsten Tech-Monopole – wie Google und Amazon – bemühen sich routinemässig um äusserst lukrative Verträge mit dem US-Sicherheitsapparat, einschliesslich der CIA und der NSA, und erhalten diese auch. Ihre Top-Manager unterhalten enge Beziehungen zu Spitzenvertretern der Demokratischen Partei. Und die Demokraten im Kongress haben wiederholt Führungskräfte aus der Tech-Branche vor ihre verschiedenen Ausschüsse zitiert , um ihnen mit rechtlichen und regulatorischen Repressalien zu drohen, falls sie die Zensur nicht stärker an die politischen Ziele und Interessen der Partei anpassen.»

Wer die Twitter Files liest, der weiss, wie das System funktioniert. Eine diskrete Intervention des FBI kann bewirken, dass führende Medien politisch heikle Themen solange auf Eis legen, bis die «Gefahr», in dem Fall eine Wahlniederlage des Kandidaten Joe Biden, gebannt ist.

Was mich damals schockierte und auch heute fassungslos macht, ist das Kesseltreiben, das von einer Medienmeute reflexartig in Gang gesetzt wird, wenn einige wenige es wagen, gegen den Strom zu schwimmen und die veröffentlichte Meinung in Frage zu stellen. Die Politologin Mira Beham hatte mir gesagt, sie habe in der «Süddeutschen Zeitung» Schreibverbot bekommen, weil sie zu argumentieren wagte, in den Balkankonflikten komme man nicht weiter mit dem Täter-Opfer-Schema, die Sache sei komplexer. Heutzutage verliert ein renommierter Journalist wie Patrick Baab seinen Lehrauftrag an der Universität Kiel, wenn er es wagt, aus dem Donbass «von der falschen Seite der Front» zu berichten.

Orwells dystopische Vision des «Newspeak» und der «Wahrheitsministerien» ist auf dem besten Weg, Realität zu werden. Wir erleben in dieser Hinsicht tatsächlich eine Zeitenwende, wenn auch der deutsche Kanzler etwas anderes meinte, als er den Begriff gebrauchte.

Das Wort Lügenpresse trifft die Sache nicht

Der Medien-Wissenschafter Uwe Krüger hat dokumentiert, dass die meisten Alphatiere der etablierten Medien Mitglieder in NATO- und US-affinen Institutionen sind. Natürlich gibt es den Faktor Zwang und Anpassung, etwa die bekannte Tatsache, dass im Axel Springer Verlag («Bild», «Die Welt») jeder Mitarbeiter den Statuten zustimmen muss, die die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität mit den USA einfordern.

Gleichwohl sollte man vorsichtig sein mit dem Schmähwort «Lügenpresse». Die Sache ist unendlich komplizierter. Da ist zum einen, was die News-Gefässe angeht, ein System, das auf Verkürzung und überhöhten Drehzahlen beruht. Der Philosoph Paul Virilio sprach von einer «Industrie des Vergessens», die mit neuen Nachrichten unaufhörlich zuschüttet, was eben noch gemeldet wurde. Ein Nachrichten-Apparat, der stark zerkleinerte Bruchstücke von Ereignissen produziert, kann keine Zusammenhänge und Hintergründe liefern, selbst wenn wohlgesinnte Journalistinnen und Journalisten dies wollten.

Und sie wollen es. Ich habe in meinem ganzen Leben kaum Medienleute getroffen, die fälschen oder unredlich berichten wollten. Die Leute lügen nicht, sondern sie sind meist überzeugt von dem, was sie sagen und schreiben. Sie sind in ihrer ganzen Lebensgeschichte, in ihrer Ausbildung und in ihren sozialen Kontakten geprägt und eingebunden in der Weltsicht ihrer Umgebung.

Da ist dieser «riesige Brocken Wahrheit», den der israelische Historiker Shlomo Sand «implantiertes Gedächtnis» nannte: 

«Wir alle werden in ein Universum von Diskursfeldern hineingeboren, das die ideologischen Machtkämpfe früherer Generationen geformt haben. Noch ehe sich der Geschichtswissenschaftler das Rüstzeug zu einer kritischen Hinterfragung aneignen kann, formen all die Geschichts-, Politik- und Bibelstunden in der Schule, die Nationalfeiertage, Gedenktage, öffentlichen Zeremonien, Strassennamen, Mahnmale, Fernsehserien und sonstige Erinnerungssphären seine Vorstellungswelt. In seinem Kopf liegt ein riesiger Brocken ‹Wahrheit›, den er nicht einfach umgehen kann.» 

Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. S. 40

Das Problem einer Branche, die unter dem Namen Journalismus der täglichen Wahrheitsfindung dienen soll, ist jedem Zauberkünstler und Taschenspieler geläufig: Wahrnehmung wird nicht von tatsächlichen Ereignissen bestimmt, sondern von Erwartungshaltungen. Von einem riesigen Brocken «Wahrheit».

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Dieser Beitrag erschien am 13. Juni auf GlobalBridge.

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Frankreich tut weh

Erstellt von Redaktion am 29. Juni 2023

Polizist tötet Jugendlichen in Nanterre

Aus Paris von Rudolf Balmer

Im Pariser Vorort Nanterre hat ein Polizist einen Jugendlichen erschossen – schon wieder. Dieses Mal meldet sich auch Fußballstar Kylian Mbappé zu Wort.

Im Pariser Vorort Nanterre hat am Dienstagvormittag ein Verkehrs­polizist einen Jugendlichen im Verlauf einer Kontrolle mit seiner Dienstwaffe tödlich verletzt. Der 17-Jährige am Lenkrad eines Pkw habe versucht, sich einer polizeilichen Überprüfung seiner Papiere zu entziehen, und damit die beiden Beamten in Gefahr gebracht. Darum habe der Polizist zu seiner Verteidigung „in angemessener Weise“ reagiert, lautete dazu die erste offizielle Version. Suggeriert wurde damit, dass der Polizist zu seiner eigenen Verteidigung geschossen habe oder schießen musste.

Auf Druck der Polizeiverbände wurde 2016 der Waffeneinsatz gelockert. In der Folge haben die tödlichen Zwischenfälle sprunghaft zugenommen

Doch die Zweifel an dieser Notwehrthese sind erheblich: Im Internet war wenig später ein Video der Kontrolle zu sehen. Darauf ist deutlich zu erkennen, wie einer der Polizisten neben dem gestoppten gelben Mercedes den Fahrer mit seiner Pistole bedroht. Trotz des Verkehrslärms ist zu hören, wie einer der beiden Beamten unter anderem schreit: „Du bekommst eine Kugel in den Kopf!“ Daraufhin setzt sich das Fahrzeug im Schritttempo in Bewegung, und der verhängnisvolle Schuss fällt, der Wagen rollt noch ein paar Meter weiter, bis er an ein Verkehrsschild prallt. Der in der Herzgegend verletzte Jugendliche starb wenige Minuten später nach vergeblichen Wiederbelebungsbemühungen der Sanitäter einer Ambulanz.

Während Politiker des rechtspopulistischen Rassemblement national und der konservativen Partei Les Républicains sogleich das Vorgehen der Polizei in Nanterre verteidigten und deren Recht auf eine besondere Unschuldsvermutung in ihrem gefährlichen Kampf gegen Verbrecher unterstreichen, kommt von links scharfe Kritik an einer längst notorischen Polizeigewalt und dem laxen Umgang mit ihr von vorgesetzten Stellen und der Justiz.

Auf Druck der Polizeiverbände wurde 2016 der Waffeneinsatz gelockert. In der Folge haben die tödlichen Zwischenfälle sprunghaft zugenommen. Allein im Jahr 2022 sind 13 Personen von Polizisten getötet worden, weil sie sich angeblich der Kontrolle und einer eventuellen Festnahme entziehen wollten. Nur gegen fünf Beamte wurden Ermittlungen eingeleitet.

„Diese Situation ist unerträglich.“

Da sich diese Tragödien vor allem in konfliktreichen Außenquartieren ereignen und die Todesopfer meistens Jugendliche mit Migrationshintergrund sind, ist in Anspielung an den emblematischen Fall George Floyd von einer „Amerikanisierung der französischen Polizei“ die Rede. Der Fußballstar Kylian Mbappé, der sich früher schon zum Thema Polizeigewalt geäußert hatte, erklärte auf Twitter: „Mein Frankreich tut mir weh, diese Situation ist unerträglich.“

Ausnahmsweise hat sich diesmal nun selbst Innenminister Gérald Darmanin, der sich sonst immer hinter seine Polizisten stellt, entsetzt geäußert: Die Bilder auf dem fraglichen Video seien „extrem schockierend“ und könnten „eine solche Reaktion (des Polizeibeamten) keinesfalls rechtfertigen“, sagte er vor Abgeordneten der Nationalversammlung.

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Das eingehegte Denken

Erstellt von Redaktion am 28. Juni 2023

Die Entwicklung der Grünen

Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Eine globale Ethik der Gerechtigkeit hat bei den Grünen keine Heimat mehr. Notwendig ist eine politisch-philosophische Gegenkultur.

Was ist Gewalt – und für wen? Was ist Sicherheit – und vor wem? Antworten darauf sind für ein emanzipatorisches Denken essenziell. Und an den Antworten scheiden sich Weltentwürfe.

Es gibt Gründe, darüber gerade in diesen Tagen zu schreiben. Denn mir ist, als befände ich mich in einem sich ständig verkleinernden Raum. Die Wände rücken auf mich zu. Ich weiß, ich bin falsch in diesem Raum, es ist ein falscher Ort, aber ich scheine dort hineinzugehören, so sieht das Script es vor. Ich bin unentrinnbar Teil eines sich verengenden, verhärtenden, aufrüstenden Europas, und meine Hilflosigkeit schützt nicht davor, mitschuldig zu werden. Denn für das Kind in einem Grenzgefängnis ist mein Widerwille bedeutungslos.

„Nicht in meinem Namen!“, zu rufen, hätte nur Berechtigung, wenn es eine geistige, eine politisch-philosophische Gegenkultur gäbe, die sich der aufgezwungenen Versicherheitlichung unseres Lebens widersetzt. Doch scheint das Gespür für die ethische Unerträglichkeit bestimmter Verhältnisse verloren gegangen zu sein und damit die Voraussetzung, über diese Verhältnisse hinaus zu denken.

Die Entwicklung, welche die Grünen genommen haben (und lange zuvor die Sozialdemokratie), hat zur Folge, dass radikal fortschrittliche Politik in essentiellen Fragen keine organisierte Stimme mehr hat. Kompromissloser Schutz von Menschenrechten, eine universalistische Ethik der Gerechtigkeit und die Überzeugung: „Eine andere Welt ist möglich“, haben bei den Grünen keine Heimat mehr.

Wo bleibt die Rebellion auf der Straße?

Dieser Zustand verlangt nach einer ungebärdigen außerparlamentarischen Opposition, gerade zu den Anliegen einer globalen Ethik, wozu Klimaschutz ebenso wie der Schutz Geflüchteter gehören. Das grüne Führungspersonal scheint gar nicht mehr zu begreifen, dass es andere Auffassungen dessen gibt, was politisch ist, etwa bei der Letzten Generation: Stören wollen, provozieren, irritieren, den kapitalistischen Lebensalltag unterbrechen.

Dabei lehrt alle Erfahrung, wie der politische Betrieb von außen her zu beeinflussen ist; der Aufstieg der Grünen wäre anders gar nicht vorstellbar. Heute sind sie indes eine Kraft der Disziplinierung, der Einhegung geworden, der Betäubung und Verbravung des Denkens. Während sich andere verzweifelt ans Pflaster kleben, sind die Grünen mit den herrschenden Verhältnissen verleimt. In der Ampelregierung hat sich diese politische Degeneration in ungeahnter Weise beschleunigt.

Gerade zu einer Zeit, wo radikales Andersdenken und -handeln so nötig ist, wird Radikalität nun bekämpft, diffamiert, inhaftiert. Jüngst sprachen territoriale Demonstrationsverbote in mehreren Städten trotz ganz verschiedener Anlässe eine gemeinsame Sprache: Ganze Gruppen der Bevölkerung werden pauschal der Neigung zu Gewalttätigkeit bezichtigt, weswegen ihre Grundrechte außer Kraft gesetzt werden können.

Die Präventivhaft, die mittlerweile gegen Klimaschützer angewandt wird, damit sie sich einem geplanten Protest gar nicht erst nähern können, ist die kleine Schwester der präventiven Internierung von Asyl­be­wer­be­r:in­nen an den EU-Grenzen. Die Politik der Versicherheitlichung setzt Grundrechte außer Kraft, die Allgemeinheit nimmt daran keinen Anstoß, und bestimmte Medien hetzen zuverlässig gegen jene, denen die Rechte genommen werden.

Die Grünen stehen auf der falschen Seite

Der Polizeikessel jüngst in Leipzig erinnerte mich an den ersten bundesdeutschen Kessel dieser Art; Hamburg 1986. Danach protestierten 50.000 Menschen gegen die Polizeigewalt; ein Gericht erklärte den Kessel später für rechtswidrig. 37 Jahre ist das her. Die Grünen waren damals ein verlässliches Element in einem Milieu, das einen Begriff von Solidarität, Bürgerrechten und Widerstand hatte. Heute stehen sie häufig eher auf der anderen Seite.

Wie sich die Definitionen von Gewalt und Sicherheit sukzessive verschieben, das markiert durchaus den Geländegewinn rechter Gesellschaftskonzepte – und wenn sie nun gegendert daherkommt, ändert das nicht ihren Charakter. Während die Angriffe gegen Geflüchteten-Unterkünfte steigen, denkt sich die Bundesinnenministerin ein Verbot von Küchenmessern in Bussen und Bahnen aus, mit „stichpunktartigen Kon­trol­len“ – mit anderen Worten: Racial Profiling. Die „Messermänner“ von Alice Weidel sind in der Sozialdemokratie angekommen, so wie Seehofers Grenzgefängnisse nun grün angestrichen Wirklichkeit werden.

Quelle        :        TAZ-online           >>>>>       weiterlesen

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Oben           —      Powstaje zapora na granicy polsko-białoruskiej. Dzisiaj już wszyscy na Zachodzie widzą, że my, chroniąc granicę polsko-białoruską, chronimy wschodnią flankę NATO – powiedział premier Mateusz Morawiecki w środę (16 lutego br.) podczas konferencji prasowej przy granicy z Białorusią. W konferencji wziął również udział wiceminister Maciej Wąsik oraz gen. dyw. SG Tomasz Praga – komendant główny Straży Granicznej.

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Revoltierende Soldaten

Erstellt von Redaktion am 28. Juni 2023

PUTINS BRÖCKELNDE HEIMATFRONT

Von Alexeï Sakhine und Lisa Smirnova

Was die Drohnen über dem Kreml bedeuten, weiß man nicht. Für den Hausherrn bedrohlicher ist die Stimmung im Land. Während die Siegeszuversicht sinkt, wächst das Misstrauen gegenüber den Eliten und die Kritik am System Putin, die jedoch aus unterschiedlichen Richtungen kommt und nicht unbedingt friedliebend ist.

Auf den ersten Blick scheint das russische Staatsschiff dem Sturm standzuhalten, den der Kreml mit dem Überfall auf den ukrainischen Nachbarn ausgelöst hat. Mehr als ein Jahr nach Kriegsausbruch befindet sich die russische Wirtschaft zwar in der Rezession, aber das Minus von 2,1 Prozent für das BIP 2022 bedeutet noch keinen Zusammenbruch. Und glaubt man den Umfragen auch staatsunabhängiger Meinungsforschungsinstitute, ist eine Mehrheit der Bevölkerung weiterhin für eine Fortsetzung der „Spezialoperation“.1

Allerdings werden die Risse in der russischen Gesellschaft stetig tiefer. Und erstaunlicherweise sind sich Menschen sehr unterschiedlicher politischer Orientierung in einem Punkt zunehmend einig: Unabhängig von ihrer Einstellung zum Krieg misstrauen immer mehr Russinnen und Russen den „Eliten“. Dieses Phänomen war bereits vor Februar 2022 zu beobachten, nun nimmt es an Bedeutung weiter zu.

In einem Klima der Angst, das sich laufend verstärkt, ist es sehr schwierig, der Gesellschaft den Puls zu fühlen. Angesichts dessen mag ein Blick auf die methodischen Anmerkungen der unabhängigen Meinungsforschungsinstitute zu ihren Ergebnissen hilfreich sein. Was sagt uns zum Beispiel der starke Rückgang der Antwortquoten? Laut einem Institut für Marketingstudien und Meinungsumfragen namens „Rus­sian Field“ antworten aktuell nur noch 5,9 bis 9,3 Prozent der Befragten auf alle die „militärische Spezialoperation“ betreffenden Fragen. Das entspricht nur einem Drittel bis einem Viertel der vor Kriegsausbruch üblichen Quote.2

Bei einer im Februar 2023 durchgeführten Umfrage bat Russian Fields die Teilnehmenden, sich entweder für Maßnahmen zur Verstärkung der Offensive oder für Frieden auszusprechen. Nur 27 Prozent der Befragten unterstützten eine Eskalation der Kämpfe, während sich 34 Prozent Schritte in Richtung Frieden wünscht

Zwischen Ultranationalisten und Kriegsmüden

Dabei kann man deutlich drei Gruppen unterscheiden: Die „Kriegspartei“, der 25 bis 37 Prozent der Befragten zuzurechnen sind, befürwortet die Verfolgung Protestierender, verurteilt Deserteure und ist bereit, Einschränkungen in der Sozialpolitik zugunsten militärischer Ziele in Kauf zu nehmen. In dieser Personengruppe sind ältere Bürgerinnen und Bürger sowie Menschen mit höherem Einkommen überproportional vertreten.

Zur „Friedenspartei“ am anderen Ende des Spektrums zählen 10 bis 36 Prozent der Befragten, bei denen es sich vor allem um junge Russinnen und Russen sowie sehr arme Personen handelt. Zwischen diesen beiden Extremen befinden sich diejenigen, die eigenen Angaben zufolge zu keiner klaren Meinung kommen oder die widersprüchliche Antworten geben. Viele Menschen aus dieser dritten Gruppe lehnen zwar eine militärische Eskalation ab, vertrauen aber der offiziellen Position der Behörden.

Die Kriegspartei nutzt die sozialen Netzwerke als Sprachrohr – darunter die Plattformen von Gruppen, die man als „Ultranationalisten“ bezeichnen könnte. Sie kann sich derzeit noch uneingeschränkt äußern, löst aber bei der politischen Führung eine gewisse Beunruhigung aus. So erklärte im Februar der Duma-Abgeordnete Oleg Matwei­tschew von der Präsidentenpartei Einiges Russland: „Einen liberalen Maidan müssen wir nicht fürchten, denn die Liberalen sind alle geflohen.“ Die einzige Gefahr für den Staat sei „ein ultra­na­tio­na­lis­ti­scher, leicht links eingefärbter Maidan und entsprechende Debatten über die Korruption.“4

Seit Beginn der Invasion füttern sogenannte Kriegsberichterstatter – Anhänger der extremen Rechten mit militärischen oder paramilitärischen Befugnissen – die sozialen Netzwerke mit Nachrichten über die militärischen Operationen. Der Bekannteste unter ihnen ist Igor Strelkow, ein früherer FSB-Geheimdienstoffizier mit monarchistischen Überzeugungen. 2014 eroberte er an der Spitze einer Einheit russischer Freiwilliger die Stadt Slawiansk im ukrainischen Donbass. Zwar hat Moskau die Separatisten militärisch unterstützt, aber ihre Anführer sind aufgrund ihrer Unberechenbarkeit und ihres Fanatismus auch dem Kreml nicht geheuer.5 Strelkow musste deswegen den Donbass verlassen. Heute beklagt er auf seinem Telegram-Kanal, dass der Kreml den ukrainischen Feind nicht hart genug bekämpft. Telegram nutzen fast 1 Mil­lion Menschen. Nach den militärischen Rückschlägen im Herbst 2022 prangerten Strelkow und andere radikale Na­tio­na­lis­ten die Fehler des Putin-Regimes an. Sie kritisierten die schlechte Organisation des militärischen Nachschubs, die Schwäche der Rüstungsindustrie, die Inkompetenz und Bestechlichkeit der Generäle und eine mediokre Führungselite, die im Luxus schwelge, während das Vaterland in Gefahr sei. Und sie mutmaßen, ein Teil von Putins Entourage wolle sich heimlich mit dem Westen aussöhnen, selbst wenn das die Kapitulation bedeuten sollte.

„Wenn sie Russland in diesem Krieg aufgeben, können wir ihren lieben Partnern aus dem Westen wahrscheinlich nichts anhaben“, schrieb Strelkow am 3. Februar 2023. „Aber wir werden alles tun, um sie selbst dann zu kriegen.“ Er bezweifelt, dass die Regierung den Krieg gewinnen wird. Noch weiter geht Maxim Kalaschnikow, ein Verbündeter Strelkows und Stalin-Bewunderer: „Es wird unvermeidlich zu einer großen Umwälzung kommen. Die da oben wissen das und machen sich Sorgen. Unser Ziel ist es, diese Umwälzung dann in einen nationalen, patriotischen Sieg umzumünzen.“6

Der Zorn der nicht zum eigentlichen Herrschaftssystem gehörenden Patrioten hat mittlerweile auch die loya­len Anhänger des Kriegslagers erfasst, was den Kreml enorm beunruhigt. Der Chef der Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, dessen Privatmiliz in der Ukraine kämpft und der mit den Generälen der Armee rivalisiert, spricht offen über Probleme wie soziale Ungleichheit, Korruption und Unfähigkeit innerhalb der Militärhierarchie.

Doch Prigoschins öffentlicher Aktivismus hat das Präsidialamt verärgert, das ihm mittlerweile den Zugang zu den russischen Gefängnissen verwehrt, wo er unter den Häftlingen Freiwillige für die Front rekrutiert hatte. Der neue Generalstabschef Waleri Gerassimow reduzierte außerdem den Munitionsnachschub für die Gruppe Wagner. Doch Prigoschin revanchierte sich rasch: Er wies seine Kämpfer an, Videos nach Strelkow-Art zu drehen, in denen der Militärführung und den Beamten Verrat vorgeworfen wird. In einem dieser Clips steht ein Söldner vor mehreren Leichen und sagt: „Hört auf mit dem Unfug. Lasst uns kämpfen, lasst uns unser Vaterland verteidigen.“7

Die Wut auf das Regime hat auch die Soldaten und Offiziere in den Schützengräben erfasst. Im Rahmen der Ende September 2022 verkündeten Mobilisierung wurden nach offiziellen Angaben 320 000, nach unabhängigen Schätzungen 500 000 Soldaten eingezogen.8 Die Zahl dürfte sich angesichts der im April 2023 von der Duma verabschiedeten Vorschriften noch erhöhen: Diese sehen eine elektronische Einberufung, ein Ausreiseverbot für Einberufene sowie das Einfrieren des Im­mo­bi­lien­ver­mö­gens von Exilrussen vor.

Die Mobilisierung hat vor allem die ärmsten Regionen getroffen – insbesondere die Kleinstädte und Dörfer rückständiger Provinzen, also die traditionellen Wahlhochburgen Putins. Die Behörden beriefen zunächst Reserveoffiziere und Reservisten mit militärischer Spezialausbildung ein: Männer mittleren Alters mit niedrigem oder mittlerem Einkommen aus Regionen fern von Moskau. Sie zählen mehrheitlich zu den „Neutralisten“, also jener gesellschaftlichen Gruppe, die den Krieg nicht aus militaristischer Überzeugung, sondern aus Loyalität unterstützt. Sie tragen mittlerweile die Hauptlast der Kampfeinsätze.

Quelle          :       LE MONDE diplomatique          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —         Владимир Путин на заседании Государственной Думы был утвержден Председателем Правительства Российской Федерации

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Nach Grün + SPD rot = Tot

Erstellt von Redaktion am 28. Juni 2023

Ein neuer Kompromiss in der europäischen Flüchtlingspolitik bahnt sich an

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Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Gruppen gegen Kapital und Nation

Grüne, Sozis und Rechtsradikale raufen sich zusammen

In einem älteren Text haben wir mal anlässlich des sogenannten Flüchtlingssommer 2015 aufgeschrieben, worum es wesentlich in der Flüchtlingspolitik geht.1 Die deutsche Flüchtlingspolitik ist auf EU-Ebene im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geregelt. Innerhalb der EU geraten aber die verschiedenen nationalen Standpunkte ständig aneinander, so dass das aktuell geltende Dublin-Verfahren praktisch nicht klappt. In unserem Text von 2015 wird erklärt, welche Standpunkte innerhalb der EU hier aneinander geraten. Der Text sei an dieser Stelle nochmal empfohlen, weil dort ausgeführt wird, was hier nur angerissen werden soll.

Lange Zeit hat sich in der EU-Asylpolitik nichts wesentlich geändert, doch derzeit arbeiten die EU-Staaten mit neuer Energie an einem neuen Kompromiss, der das alte Dublin-Verfahren im Februar 2024 ablösen soll. Dass ein Kompromiss überhaupt möglich scheint, hat schlicht mit dem Ukraine-Krieg zu tun. Seit Beginn des Krieges haben die EU-Staaten viele Flüchtlinge aufgenommen (allen voran Polen, dessen rechte Regierung lange Zeit schlicht keine Flüchtlinge aufnehmen wollte). Ukrainische Frauen, Kinder und alte Menschen sind willkommen und werden unbürokratisch in die Gesellschaften aufgenommen. Die Flüchtlinge aus der Ukraine erwartet eine echte staatliche Willkommenskultur und eine Grundversorgung ohne die sonst üblichen Schikanen. Das hat auch schon manche Flüchtlingsaktivist*in zur Verzweiflung gebracht: Warum geht hier umstandslos die staatliche Hilfe, während Flüchtlinge ohne ukrainischen Pass zugleich weiter schikaniert werden?

Der Grund ist einfach der, dass die ukrainischen Flüchtlinge einen klaren Nutzen für die EU-Staaten haben:

Über die Waffenhilfen an die Ukraine und über die Sanktionen führen die EU-Staaten (indirekt) Krieg gegen Russland. Das Interesse Russland ins moralische Abseits zu stellen, Russland als Verbrecherstaat darzustellen, hat daher absolute Priorität. Die Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge ist das Material für die Kritik der EU-Staaten an Russland: Das ist ein Staat, der in dieser Welt keinen Respekt verdient. Im Vergleich dazu merkt man, dass z.B. die Kritik des Assad-Regimes oder die Lage in Afghanistan nicht mehr die Hauptinteressen der EU-Staaten sind. Diesem sich veränderten staatlichen Interesse folgend sind syrische und afghanische Flüchtlinge zunehmend nicht mehr gewollt.

Zusätzlich gilt der Zusammenhang von ukrainischen Flüchtlingen mit dem gewollten Verlauf des Krieges: Wenn man sich z.B. die Bundestagsdebatte im März 2022 anschaut, dann kann man da durchweg bemerken, wie die Waffenhilfe für die Ukraine und die Hilfe für die ukrainischen Flüchtlinge in einem Atemzug benannt werden.2 Und das hat folgenden Grund: Ihre Umsorgung soll den ukrainischen wehrfähigen Männern und Frauen Kraft geben, ihr Leben im Krieg hinzugeben. Diesen Einsatz beschrieb die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen kürzlich so: „Die Ukrainer sind bereit, für die europäische Perspektive zu sterben“. Diese europäische Perspektive sieht derzeit so aus: In einen direkten Krieg mit Russland wollen die EU-Staaten nicht eintreten. Aber sie wollen Russland schwächen, indem man die Ukraine gerade mit so viel Waffen ausstattet, dass die Truppen dort Russland aufhalten und es somit in einen langen Abnutzungskrieg reinziehen. So will die EU, dass der Krieg verläuft und da ist es förderlich, wenn die kämpfenden Soldat*innen in der Ukraine sich ohne Rücksicht um den Verbleib der eigenen Familie und Verwandtschaft in den Kampf und Tod werfen können.3

Freilich: Die Unterstützung der ukrainischen Flüchtlinge kostet eine Menge und das wird dauerhaft so bleiben, zumindest solange die EU zusammen mit den USA den Krieg so gestalten wollen. In diesem Lichte fallen dann den EU-Staaten die weiteren Flüchtlinge, die gewohnheitsgemäß über die Balkan-Route und das Mittelmeer ankommen und sich überwiegend vorbei an bestehenden EU-Regeln, über die EU-Staaten verteilen, umso lästiger auf. Jetzt, da das Hauptinteresse auf die ukrainischen Flüchtlinge gerichtet ist und Flüchtlinge aus anderen Ländern weniger als nützliches politisches Mittel, sondern vor allem als Last auffallen, sind zumindest einige relevante EU-Staaten bereit, doch nochmal aufeinander zu zugehen.

Konkret heißt das Aufeinanderzugehen in der EU-Asypolitik:

Bislang konnten und wollten sich Italien und Griechenland nicht auf die Hot-Spot-Lösung verlassen. Die dort registrierten Flüchtlinge sollten in andere EU-Staaten weitergereicht werden, aber nur wenn die anderen Staaten freiwillig mitmachten. Das haben viele Staaten gar nicht gemacht. Selbst Deutschland, das diesen Mechanismus eingebracht hat, machte nur sehr zögerlich mit. Insofern haben Italien und Griechenland die Flüchtlinge einfach ohne Registrierung durchreisen lassen, zum Ärger von z.B. Österreich oder Deutschland. Jetzt sollen die Hot-Spots zu „Aufnahmeeinrichtungen“ werden. Über den Charakter dieser Anstalten wird kein Hehl gemacht. Die FAZ spricht von „haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen“, die taz von „Internierungslagern“. Hier sollen all diejenigen Flüchtlinge landen, die – wie es so schön heißt – keine „Bleibeperspektive“ haben, weil die EU-Staaten ihnen die schlicht nicht geben wollen. „Das betrifft Menschen aus Ländern, bei denen die durchschnittliche Anerkennungsrate der Asylanträge in der EU unter 20 Prozent liegt oder die aus sogenannten sicheren Herkunftsländern stammen. Die 20-Prozent-Quote greift etwa bei Ägypten, Bangladesch oder Nigeria. Als sichere Herkunftsländer dürften etwa Marokko, Tunesien oder Algerien eingestuft werden.“ (taz, 09.06.2023) Mit ihnen soll ein Schnellverfahren durchgezogen werden, dass 12 Wochen dauern soll. Ist dann das Urteil negativ, dann sollen sie abgeschoben werden und dafür bis zu 6 Monate im „Gefängnis“ bleiben. Die EU-Staaten legen freilich Wert darauf, dass dies kein echter Freiheitsentzug sei, denn schließlich könnten die Menschen jederzeit freiwillig ausreisen – nur nicht in die EU.

Die Abschiebung ist nicht immer einfach, weil dabei irgendwelche Länder zustimmen müssen, in die „zurückgeschickt“ wird. Der Clou des neuen Kompromisses ist hier: 1. Die Aufnahmezentren sollen quasi extraterritorial sein, d.h. nicht echtes EU-Land. Die Flüchtlinge sind somit offiziell gar nicht „eingereist“ und das soll bei der Abschiebung einige bürokratische Hürden nehmen. 2. Das Land, in das abgeschoben wird, braucht nicht mehr dasjenige der Staatsbürgerschaft des Flüchtlings sein. Es reicht eine „Verbindung“ des Staates zum Flüchtling diese darf jetzt auch einfach irgendein „Transitland“ sein, das Flüchtlinge durchquert haben. Und was alles eine „Verbindung“ ist, das darf jedes EU-Land selber interpretieren und auslegen. So macht die EU dann z.B. Italien mit seiner rechtsradikalen Regierung zur Entscheidungsinstanz in Sachen Abschiebung. Die rechtsradikale Regierung liebäugelt derzeit mit Tunesien und die EU unterstützt Italien dabei, einen Deal mit dem Land hinzubekommen.4

Diejenigen Flüchtlinge, die wider erwarten doch Asyl bekommen sollten, sollen in die anderen EU-Staaten verteilt werden, wobei sich ein Staat hier auch mit einer Kopfprämie von 22.000€ freikaufen können soll. Daran könnte der neue Kompromiss noch scheitern, weil Polen und Ungarn das ablehnen. Sie wollen keine Flüchtlinge, die zuvor woanders angekommen sind, basta. Sie wollen vor allem aber nicht die ihre Souveränität in der Entscheidung, wer in ihren Ländern Aufenthaltsrechte bekommt, an die EU abgeben. Spekuliert wird darüber, dass die anderen EU-Staaten sie noch ins Boot holen könnten, wenn die finanziellen Beiträge für Frontex hier mit den Kopfprämien verrechnet werden könnten.

In dem neuen EU-Kompromiss zur Flüchtlingspolitik sind weitere eklige Details enthalten, die hier nicht weiter besprochen werden sollen. Es bleibt vorerst festzuhalten, dass die EU-Staaten folgendes wollen und/oder in Kauf nehmen:

1. An einer Weltordnung, in der die Kapitale abgehängte Staaten als Rohstofflieferanten benutzen können, hält die EU fest. Ob mit oder ohne IWF werden ganze Staaten und Regionen auf ihre Funktion als Rohstofflieferanten für den kapitalistischen Westen festgelegt. Die Überlegenheit der Kapitale aus den kapitalistischen Zentren sorgt dafür, dass sich in den abgehängten Staaten keine aufblühende kapitalistische Produktion mit umfangreichen Arbeitsplätzen durchsetzt. Für die Staatsführung eines „Rohstofflandes“ ist ihre Bevölkerung – im Unterschied zu erfolgreichen kapitalistischen Staaten – dann keine brauchbare Ressource, die man in rentable Arbeit führen will, sondern weitgehend überflüssig. Sie steht im Weg, weil große Landesteile für die kapitalistischen Rohstoff-Unternehmen gebraucht werden (wozu zukünftig auch die geplanten Solarparks gehören). Der Staat ist in einem „Rohstoffland“ im Großen und Ganzen die einzige gute Einkommensquelle und so finden sich immer wieder Leute, die abgehängte Bevölkerungsteile mobilisieren, um sich an die Macht zu putschen. Daraus resultierende Bürgerkriege (siehe aktuell Sudan) oder abweichende Regierungsprogramme werden vom Westen als Ordnungsprobleme gesehen und die „Verantwortung für die Welt“ wird dann mit Kriegen oder Unterstützung von Bürgerkriegen wahrgenommen. Die meisten Leute, die aus diesen Zuständen fliehen, sollen aus der EU draußen gehalten oder durch zu erwartende miese Behandlungen abgeschreckt werden. Ausgewählte Flüchtlinge sollen Asyl bekommen. Und damit verschafft sich Deutschland (bzw. alle EU-Staaten) die moralischen Titel „Verantwortung, Pflicht und Recht“, um mit denen – und so schließt sich der Kreis – in der Welt Einfluss zu nehmen.

2. Die in der Staatenkonkurrenz abgehängten Staaten in Nord-Afrika sollen für die EU-Staaten die Flüchtlinge verwalten. Dafür bekommen sie neue Finanzzuschüsse. Dass die Staaten einigermaßen autoritär organisiert sind, geht dabei für die EU in Ordnung, weil damit immerhin der Staat funktioniert, der mit seiner Gewalt seinen Dienst für die EU erledigen kann.

3. Das Mittelmeer bleibt ein Massengrab, das anhaltend mit neuen ertrunkenen Flüchtlingen angereichert wird.

4. Damit der Krieg in der Ukraine so weiterlaufen kann, wie bislang, müssen Flüchtlinge mit ukrainischer Staatsbürgerschaft umstandslos versorgt werden.

Darauf können sich pi mal Daumen viele EU-Staaten einigen und insbesondere die verantwortlichen Grünen und Sozialdemokrat*innen in Deutschland mit der rechtsradikalen Regierung in Italien.

An dieser Stelle ein Liedtipp – Pisse, Scheiß DDR:

Scheiß DDR

Ach was für ein schönes Land
Alle war’n im Widerstand
Videorekorder und Bananen
Stand geschrieben auf den Fahnen
’89 war’s vorbei
Ach was wart ihr alle frei
Alle auf zum Flüchtlingsheim
Jeder haut ’nen Molli rein

Scheiß BRD

Videorekorder und Bananen
Und japanische Sportwagen
Soldaten in Berlin nicht mehr
Heute rund um’s Mittelmeer

Scheiß Europa

1Was „Merkels kurzer Sommer der Menschlichkeit“ über die deutsche Realität aussagt https://gegen-kapital-und-nation.org/was-merkels-kurzer-sommer-der-menschlichkeit-%C3%BCber-die-deutsche-realit%C3%A4t-aussagt/

2Siehe https://dserver.bundestag.de/btp/20/20020.pdf, S. 1404ff.

3Zum Krieg siehe die Themenseite der Gruppen gegen Kapital und Nation.

4Dänemark und Österreich plädieren dafür es UK gleich zu tun: Flüchtlinge werden sofort in irgendeinen Dritt-Welt-Staat verfrachtet und dort wird dann das Asylverfahren durchgeführt (sogenanntes „Ruanda-Modell“). Soweit ist es jetzt noch nicht gekommen – hier würde keine Verbindung bestehen.

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Oben      —   Hannelore Kraft (l.) und Sylvia Löhrmann (r.) bei der Unterzeichnung des rot-grünen Koalitionsvertrags im Juni 2012

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L – A armselige Skyline

Erstellt von Redaktion am 28. Juni 2023

In Los Angeles leben etwa 50.000 Menschen auf der Straße.

Downtown L.A.

Aus Los Angeles von Johannes Streek

Die demokratische Bürgermeisterin Karen Bass will das ändern. Wie das nachhaltig gelingen kann, ist unter sozialen Trägern jedoch umstritten. Ein Ortsbesuch in einer der ärmsten Gegenden der USA. An einem lauen Morgen im Juni ist es noch ruhig auf der San Pedro Street in Los Angeles. An einer Ecke frühstücken ein paar Leute aus Styroporbehältern, etwas weiter fegt jemand den Bürgersteig. Andere sitzen sind in Decken gehüllt am Straßenrand, ihnen ist die Kühle der vorherigen Nacht noch anzusehen.

„Skid Row“ heißt dieser Abschnitt der Stadt, der um einem mittlerweile stillgelegten Bahnhof entstanden ist. Rund 5.000 Menschen leben hier auf der Straße, in Autos oder Zelten. Andere wohnen vorübergehend in den Räumlichkeiten der hier ansässigen sozialen Einrichtungen. Diese gibt es zum Teil schon seit über 100 Jahren, so lange ist die Skid Row von Los Angeles schon ein Wohnort für all jene, die sonst kein Zuhause haben. Und die so schnell auch keins finden werden.

Der Name Skid Row bezeichnet ein Gebiet von 50 Wohnblocks inmitten der Innenstadt von Los Angeles. Es ist ein Ort, der wohl wie kein anderer zeigt, was Armut in den USA bedeutet. Seit Jahrzehnten ist das Stadtbild des Industrieviertels geprägt von Menschen, die auf der Straße leben, während im Hintergrund moderne Hochhäuser in der kalifornischen Sonne schimmern. Die Gegend ist eine Ansammlung trauriger Superlative. Laut einer im Jahr 2020 veröffentlichten Studie sind die drei gefährlichsten Nachbarschaften der USA auf der Skid Row zu finden. Krankheiten grassieren durch den mangelnden Zugang zu Wasser. Im Jahr 2017 brach in der Gegend eine Hepatitis-Epidemie aus, die auch in andere Stadtteile überschwappte. Eine längere Dürrezeit hatte zu einer Anhäufung von menschlichen Fäkalien auf den Bürgersteigen geführt, der lang erwartete Regen spülte sie in die Kanalisation. 2.201 Wohnungslose sind allein im Jahr 2021 in Los Angeles gestorben, fast jedes vierte Mordopfer ist eine Person ohne festen Wohnsitz.

Entgegen ihres anarchischen Rufes ist es auf der Skid Row weder besonders laut noch sehr viel schmutziger als in anderen Abschnitten der Innenstadt. Neben den vielen Wohnungslosen, die auf der Straße unterwegs sind, trifft man hier auch auf Streetworker verschiedener Organisationen, die Essen verteilen oder rudimentäre Gesundheitsversorgung anbieten und so staatliche Versorgungslücken schließen. Während viele in der Autostadt Los Angeles fast alle Wege mit ihrem Fahrzeug zurücklegen, sind auf der Skid Row die meisten Menschen zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs. Zwischen den gut befestigten Zelten, die vielerorts mit blauen Bauplanen verstärkt sind, schneiden sich Leute gegenseitig die Haare, lesen oder sitzen auf Klappstühlen und unterhalten sich. „Guten Morgen, wie geht’s?“ werden Besucher gefragt, die sich auf dem Bürgersteig einen Weg zwischen den Zelten bahnen.

Auch Brittany Robbins gehört zu den Menschen, die in und um die Skid Row ohne festen Wohnsitz leben. Die junge Frau mit dem strahlenden Lächeln sitzt auf einem kleinen Plastikhocker an einem Imbiss und erzählt von ihrem Alltag. „Ich wohne gleich da hinten im Weingart,“ sagt sie. Das ist eine der großen Herbergen, die Wohnungslosen auf der Skid Row Übergangszimmer, Essen und Duschen zur Verfügung stellen. „Ich mag es da, die Angestellten sind nett.“ Robbins erzählt ein wenig aus ihrem Leben, ihrer Zeit beim amerikanischen Militär, und, dass sie bereits in 49 der 51 Bundesstaaten war. Für den Stress der Streetworker und Stadtangestellten, mit denen sie zu tun hat, zeigt sie Verständnis. „Ich habe selber soziale Arbeit studiert, ich kenne also beide Seiten ein bisschen.“ Vom Elend der Skid Row ist Robbins nichts anzusehen, sie trägt saubere Kleidung und scheint unbeirrt vom Treiben um sie herum.

Gefragt, ob sie sich Sorgen um ihre Sicherheit auf der Skid Row mache, schüttelt sie energisch den Kopf. „Ich vertraue auf meinen Menschenverstand,“ sagt sie. „Wenn ich mich in einer Situation unwohl fühle, dann versuche ich einfach auf mein Bauchgefühl zu hören.“ Für Robbins ist zudem der christliche Glaube ein wichtiger Anker. „Ich glaube, ich werde durch Gott beschützt,“ sagt sie. „Mein Leben gehört mir sowieso nicht, und das gibt mir Kraft und nimmt mir ein wenig von der Angst.“ Bevor sie nach Los Angeles kam, war Robbins länger in Austin, Texas. Die Einrichtung, in der sie dort gelebt hat, habe ihr überhaupt nicht gefallen. Während ihrer Zeit hat sie mehrere Schießereien sowie einen Mord miterlebt, direkt vor ihrem Fenster. Durch ein Fernstudium bei der christilch-konservativen Liberty University macht Robbins nun ihren Master, größtenteils über ihr Handy und den Computerraum der nahegelegenen Stadtbücherei. „Ich versuche gerade, mit dem Wohnungsamt zusammenzuarbeiten, um hoffentlich eine längerfristige Lösung zu finden“, sagt sie lächelnd. Sie könnte sich vorstellen, später einmal ins Ausland zu gehen, um dort Englisch zu unterrichten, aber das sei alles noch nicht entschieden.

In Kalifornien, dem wirtschaftlich stärksten Bundesstaat der USA, ist die Wohnungslosigkeit besonders hoch. Rund 115.000 Menschen haben hier keine feste Bleibe, fast jeder dritte Mensch ohne Wohnsitz lebt in dem großen Staat am Pazifik. Das hängt auch mit den immensen Lebenskosten zusammen, eine Einraumwohnung in Los Angeles kostet rund 2.000 US Dollar Miete im Monat. Eine, die sich diesem schwierigen Thema annehmen will, ist Karen Bass. Sie wurde im letzten November zur Bürgermeisterin von Los Angeles gewählt. Mit dem Versprechen, durch umfangreiche Investitionen die grassierende Wohnungslosigkeit in der Stadt zu bekämpfen, hat sie Wahlkampf gemacht. 1,3 Milliarden Dollar sollen in den nächsten Jahren fließen, um temporären und festen Wohnraum zu schaffen. Kürzlich hat Bass bekanntgegeben, dass rund 14.000 Menschen seit ihrem Amtsantritt ein Zuhause finden konnten. Mindestens 50.000 bleiben damit im Bezirk Los Angeles noch auf der Straße.

Ein wesentlicher Dreh- und Angelpunkt in der Skid Row ist die Midnight Mission (dt. „Mitternachts-Mission“) auf der San Pedro Street. Georgia Berkovich leitet die Öffentlichkeitsarbeit der sozialen Einrichtung. Gerade führt sie zu einer Wandtafel, an der die Geschichte der Midnight Mission erzählt wird. 1914 begann der Geschäftsmann Tom Liddecoat mit nächtlichen Essensausgaben. Sie waren für die damals noch vorwiegend männlichen und weißen Menschen gedacht, die mittellos in der Innenstadt von L.A. landeten. „Vor dem Essen mussten sie sich aber zunächst seine Predigten anhören“, sagt Berkovich über den Gründer. „Der Name entstand, weil es oft schon Mitternacht war, bis sie endlich essen durften.“ Auf der Wandtafel sind Fotos von Männern in Anzügen und Hüten zu sehen, die über ihr Essen gebeugt sind. In den 30er Jahren wurde die Organisation hinter der Midnight Mission säkular und versorgte tausende Menschen durch die Brachzeiten der großen Wirtschaftskrise. Während Berkovich erzählt, führt sie auf den kleinen Vorhof der Einrichtung und erklärt, warum dieser eigentlich zu jeder Tageszeit voll ist. „Bis vor Kurzem hatte die Midnight Mission hier die einzigen Toi­letten, die 24 Stunden am Tag verfügbar waren,“ sagt sie und schüttelt dabei ungläubig den Kopf. „Eine Toilette für 5.000 Menschen.“ Zudem verfügt der Vorhof über große Ventilatoren, die an heißen Sommertagen für etwas Abkühlung sorgen. Für kalte Nächte gibt es Heizstrahler, an denen sich die Menschen aufwärmen können. „Die Leute wollen nicht glauben, dass es in Kalifornien Kältetote gibt, aber das passiert hier regelmäßig“, sagt Berkovich. Allein im Jahr 2022 starben in Los Angeles 14 Menschen an den Folgen von Kälte.

Hinter den schmucklosen Betonmauern des Gebäudes verbirgt sich die Infrastruktur einer Kleinstadt. Berkovich führt durch die vielen Etagen, in einen Musikraum, zu einer Bücherei und einem kleinen Friseursalon. Im Erdgeschoss findet gerade die Essensausgabe für all jene statt, die derzeit in der Midnight Mission leben und an einem der Rehabilitationsprogramme teilnehmen. „Jede Stadt in den USA hat eine eigene Skid Row,“ sagt die Mitarbeiterin, während hinterher Menschen in die Kantine strömen, um sich Salat, Kartoffeln und Fleisch auf ihre Tabletts geben zu lassen. Für sie ist das Ende der Obdachlosigkeit in Los Angeles das endgültige Ziel ihrer Einrichtung. „Wir versuchen uns seit dem Jahr 1914 die eigene Existenzgrundlage zu nehmen,“ sagt Berkovich über den Kampf gegen Wohnungslosigkeit, „aber ehrlich gesagt wird es immer schlimmer.“

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Kein braunes Wunder

Erstellt von Redaktion am 27. Juni 2023

Dort, wo die AfD normalisiert ist, feiert sie Erfolge:

Ein Debattenbeitrag von Gareth Joswig

AfD gewinnt Landratswahl in Sonneberg. Der Sieg der Landratswahl in Sonneberg sollte insbesondere der Union zu denken geben. Es sollte der Union zu denken geben, dass sie in Umfragen nicht von den Problemen der Ampel-Koalition profitiert.

Es ist ein Fiasko mit Ansage: Die extrem rechte AfD hat im thüringischen Sonneberg erstmals eine Landratswahl gewonnen. Die AfD in Thüringen ist mit ihrem Anführer Björn Höcke die Speerspitze der völkischen Strömung in der Partei. Sie verfolgt eine neofaschistische Agenda, hetzt gegen Minderheiten, verstößt damit gegen grundsätzliche Demokratieprinzipien, verharmlost den historischen Nationalsozialismus und will den völkisch-autoritären Umbau des Staates.

Die Wäh­le­r*in­nen aus dem 56.000-Einwohner-Landkreis Sonneberg in Thüringen haben bei der Stichwahl für den Landrat trotzdem und zu einem großen Teil sicher auch genau deswegen für den AfD-Kandidaten Robert Sesselmann gestimmt. Die Wahlbeteiligung lag bei 58,2 Prozent, Sesselmann kam auf 52,8 Prozent der Stimmen.

Es ist ein Landkreis, in dem die AfD weitgehend normalisiert ist und in dem auch der CDU-Kandidat Jürgen Köpper mit knallhart-populistischen Parolen gegen die Bundesregierung in Berlin in den Wahlkampf gezogen ist. Die CDU hat hier 2021 für den Bundestag den rechten Schwurbler Hans-Georg Maaßen aufgestellt und im Kreistag ist es normal, mit der AfD zusammenzuarbeiten. Die Brandmauer ist in Sonneberg nicht erst diesen Sonntag gefallen.

Vollumfänglich ausschlachten

Für die AfD ist die gewonnene Wahl ein lang ersehnter Meilenstein auf dem Weg zur Normalisierung. Obwohl es nur eine Landratswahl ist, werden die Rechten Sonneberg nun vollumfänglich ausschlachten, um sich vor der Landtagswahl 2024 in Stellung zu bringen: Die Parteispitze spricht vom „blauen Wunder“, das nur der Anfang sei und einer „Wende“ – absurde DDR-Vergleiche intendiert.

Tatsächlich wäre es dann auch eher ein „braunes Wunder“, denn kaum irgendwo ist die AfD so offen rechtsextrem wie in Thüringen. Dass sie ausgerechnet hier diesen in erster Linie symbolischen Erfolg einfährt, spricht dafür, wie weit in einigen Teilen insbesondere Ostdeutschlands die rechte Hegemonie – nicht nur durch die AfD – bereits etabliert ist.

Aber auch wenn sich die Wahl in Sonneberg nicht verallgemeinern lässt: Begünstigt wurde sie durch die Krise der Ampel und einen nach rechts kippenden öffentlichen Diskurs sowie multiple Krisen der Gegenwart: Eine im Geldbeutel spürbare Wirtschaftskrise und hohe Inflation infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine, keine gleichmäßige Verteilung der Krisenlast und zu wenig soziale Gegenmaßnahmen, ein Heizungsgesetz ohne soziale Abfederung und vermeintliche Christdemokrat*innen, die Stimmung mit rechtem Kulturkampf und plumpen Rassismus machen.

Trifft diese toxische Mischung dann noch auf vorhandene rassistische und systemfeindliche Einstellungsmuster, sorgt das für einen Aufschwung der AfD, wie er hier zu beobachten ist.

Insbesondere die CDU sollte aus der Gesamtlage endlich Lehren ziehen. Wenn schon nicht aus intrinsischen humanistischen oder gar christlichen Motiven, dann doch bitte zumindest aus strategischen: Die CDU gefährdet mit ihrem Larifari-Abgrenzungskurs und der Anbiederung an AfD-Positionen nicht weniger als die Demokratie und erweitert die Grenzen des Sagbaren.

Begünstigt wurde sie durch die Krise der Ampel und einen nach rechts kippenden öffentlichen Diskurs sowie multiple Krisen der Gegenwart

Es sollte der Union zu denken geben, dass sie in Umfragen nicht von den Problemen der Ampel-Koalition profitiert. Der aktuelle Rechtsdrall der Union stärkt allein die AfD. Die Christdemokraten sollten rigoros umlenken, mit dem rechten Kulturkampf aufhören, sich auf Sachthemen und vernünftige demokratische Oppositionspolitik konzentrieren – und nicht den Diskurs verrohen.

Eines sollte man nicht tun angesichts von Sonneberg: resignieren. Sonneberg sollte Anlass für kritische Selbstreflektion sein und eine Stärkung inhaltlich unterscheidbarer und vernünftiger Positionen nach sich ziehen. Die Parteien sollten ohne populistische Entgleisungen um reale Alternativen streiten.

Denn die AfD hat nichts außer Fundamentalopposition zu bieten, sie schürt Abstiegsängste, gibt auf soziale Verteilungsfragen nur rassistische Antworten und vergiftet den demokratischen Diskurs. Bundesregierung und demokratische Opposition sind gefordert, gerade in der Krise auf tatsächlich soziale Verwerfung geeignete und vernünftige Antworten finden.

Quelle       :         TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen     :

Oben           —     View of the AfD rally in Mödlareuth, including Björn Höcke and Robert Sesselmann.

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»Festung Europa«

Erstellt von Redaktion am 27. Juni 2023

Oder: Was die Mauern mit uns machen

Von Volker M. HeinsFrank Wolff

Erneut ist in Europa und speziell in Deutschland eine Debatte um die Kontrolle von Migration durch den Ausbau befestigter Grenzen entbrannt. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner drängt auf den „physischen Schutz der Außengrenze“ per Zaun.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser will gar ein „Momentum“ erkannt haben, um mögliche Asylansprüche nur noch an den Außengrenzen einer immer stärker abgeschotteten Europäischen Union zu prüfen. Was dabei in aller Regel übersehen wird: Schleichend und unauffällig beschädigen die neuen Mauern um Europa die demokratische Gesellschaft. Sie schaffen eine Situation, in der die liberale Demokratie ihre eigenen Regeln bricht. Und sie gewöhnen die Bevölkerung an Bilder notleidender, verletzter oder toter Migranten an Europas Grenzen – Grenzen, die angeblich dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger dieses Kontinents dienen.

Einige dieser Bilder sind längst ikonisch geworden und haben sich in unserem Gedächtnis festgesetzt: Das Bild des dreijährigen Alan Kurdi, leblos am Strand an der türkischen Mittelmeerküste. Das Bild zweier Golfer, deren Partie von einem Dutzend Flüchtlinge gestört wird, die jenen haushohen Zaun überwinden wollen, der nicht nur den Golfplatz rahmt, sondern der auch die spanische Exklave Melilla von Marokko trennt. Oder vielleicht auch jenes Bild von der polnisch-belarussischen Grenze, auf dem linksseitig des frisch errichteten Grenzzauns Dutzende Flüchtlinge zu sehen sind, die in der Kälte eng beieinander im Feuerrauch hocken, während rechts vom Nato-Zaun Grenzschützer in einem schweren Humvee-Geländewagen auf dem freigeräumten Kontrollweg patrouillieren.

Solche Schlüsselbilder erzählen wortlos ihre Geschichte. Eine Geschichte über extreme globale Ungleichheit, über Not und Verzweiflung und über das Antlitz der europäischen Abschottung. Diese Geschichte wiederholt sich vor dem Hintergrund wechselnder Landschaften, in Wäldern, auf freien Grünflächen, an Stränden oder auf dem offenen Meer.

Auch als im Herbst 2021 Gruppen von Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien, dem Jemen, Ägypten, dem Irak und dem Iran versuchten, über die Grenze von Belarus nach Polen in den Schengen-Raum zu gelangen, schlug ihnen massive Gewalt entgegen. Polnische Grenzbeamte trieben die Flüchtlinge – darunter auch Schwangere und Kinder – zurück über die Grenze nach Belarus. Hunde wurden auf sie gehetzt, Schlagstöcke flogen. Auf Twitter warfen die Verantwortlichen mit militärischen Begriffen um sich: „Angriff“, „Verteidigung“, „Vorstoß“, „Kampf“. Das Militär rückte an, Helfer wurden inhaftiert, Medienvertreter abgewehrt. Neue Gesetze wurden erlassen, Zäune errichtet. Gelder flossen. Unterdessen starben Menschen an Unterkühlung oder an Krankheiten. 28 Tote wurden im Zeitraum zwischen August 2021 und November 2022 an der Grenze zwischen Polen und Belarus bestätigt.[1] Die Europäische Union hielt sich mit rechtsstaatlichen Bedenken zurück und stellte Millionen an Hilfsgeldern bereit, sogar die Nato versprach ihren Beistand. Europa erklärte Menschen explizit zu Waffen in einem „hybriden Krieg“. Im öffentlichen Diskurs kollidierte eine militarisierte politische Sprache des Selbstschutzes mit den Bildern von Tod, Elend und roher Gewalt gegen unbewaffnete Zivilisten. Viele Menschen in Polen und im weiteren Europa reagierten mit Entsetzen und dem Ruf nach Wahrung der Menschenwürde, des internationalen Rechts und der europäischen Werte. Doch welche Seite steht für Europa?

Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, postete auf Twitter ein Foto von sich mit uniformierten polnischen Grenzschützern vor dem fünfeinhalb Meter hohen Stahlzaun an der Grenze zwischen Belarus und Polen mit dem Kommentar: „Unsere europäischen Werte zeigen sich auch daran, wie wir an unseren Grenzen agieren.“[2] Die Mehrdeutigkeit ihrer Worte vor dem Hintergrund eines Fotos, auf dem kein einziger Flüchtling zu sehen war, schien ihr dabei nicht bewusst zu sein.

Andere Politiker ließen dagegen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Sie zeigten sich offensiv gleichgültig gegenüber dem Elend der Geflüchteten und forderten andere dazu auf, ebenfalls gleichgültig zu sein. Wir dürften der Wirkung von Bildern notleidender Menschen an den Grenzen Europas „nicht nachgeben“, sagte der damalige sozialdemokratische deutsche Außenminister Heiko Maas im „Tagesthemen“-Interview im November 2021. Wir müssten sie „aushalten“, forderte der konservative sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer im selben Monat.[3] Diese Aussagen bezogen sich auf das Leiden an der europäischen Außengrenze, richteten sich aber allein nach innen, an die Bevölkerung in Deutschland. Zudem waren die Formulierungen ungenau. Gemeint war nicht, dass wir irgendwelche Bilder leidender Menschen aushalten sollten, sondern Bilder von Menschen, zu deren Leid wir selbst durch die Abschottung Europas beigetragen haben. So wie Maas und Kretschmer rechtfertigten viele Politiker in Europa die Gewalt polnischer Grenzschützer gegen Migranten und forderten den Bau einer Mauer an der Ostgrenze Polens, die inzwischen tatsächlich fertiggestellt wurde. Die Appelle an Härte und Unnachgiebigkeit sollten Machthaber jenseits der Grenze ebenso beeindrucken wie künftige Flüchtlinge. In erster Linie wird mit ihnen aber die eigene Gesellschaft hinter den zu errichtenden Mauern adressiert. Innerhalb weniger Tage und angesichts einiger Tausend Migranten wurde die ominöse rhetorische Figur der begrenzten „Aufnahmebereitschaft“ beschworen, begleitet von dem Ruf nach weiteren Maßnahmen zur Abschottung Europas gegenüber den anderen, die keine Europäer sind. Solche beispielhaften Nahaufnahmen illustrieren, wie die gewaltsame Abwehr unerwünschter Migranten auf die Gesellschaft einwirkt, die ebenfalls auf Abwehr umschwenken soll. Dass die Gewalt an den Grenzen den Abgewehrten tausendfach Leid zufügt, berichten viele kritische Beobachter und Journalisten. Die erwähnte Episode zeigt darüber hinaus aber, dass wir auch darauf schauen müssen, was auf unserer Seite der Grenze passiert. Stellvertretend für viele andere Politiker und Kommentatoren forderten Maas und Kretschmer nichts weniger als eine Gesellschaft, für die Tod und Elend an den Grenzen kein Grund zur Aufregung sein sollen.

Die Utopie Europas – als einer unberührten Insel

Oft wird so getan, als schützten Mauern eine Gesellschaft, die unberührt bliebe von den Grenzen, die sie umgeben. Das war die Vorstellung von Thomas Morus, dem Autor des Romans „Utopia“. Die erste Amtshandlung des Gründers seines fiktiven Reichs besteht darin, zwischen Utopia und dem Rest der Welt einen tiefen Graben ausheben zu lassen, der vom Meer geflutet wird, sodass das Land zur Insel wird und für „Ausländer“ nur noch schwer zugänglich ist.[4] Aber dieses Bild ist irreführend. In Wirklichkeit verkümmert die Gesellschaft, jedenfalls die demokratische Gesellschaft, wenn sie sich radikal nach außen abgrenzt. Mauern machen etwas mit denen, die sich hinter ihnen verschanzen und ängstlich auf die Welt jenseits der Grenzen blicken. Wer hinter Mauern lebt, lebt zunehmend von ihnen bestimmt. Eine Gesellschaft verändert sich, wenn sie durch gewalttätige, willkürliche und rassistische Grenzregimes von der Außenwelt getrennt und zugleich mit ihr verbunden ist.

Die Mördertruppe der Frotex gehört nicht in freie Länder

„Wir“, die Einheimischen, bleiben nicht unberührt von der Gewalt, die in unserem Namen „anderen“ an der europäischen Außengrenze zugefügt wird. Die westlichen Gesellschaften wandeln sich und nehmen selbst Schaden durch die gewaltsame Abwehr von Migranten. Die Gewalt gegen Menschen jenseits der Grenze wirkt auch auf die Menschen diesseits der Grenze. Diesseits der Grenze müssen Menschen ausgebildet und Apparate aufgebaut werden, die zur Ausübung von Gewalt an der Grenze bereit und fähig sind. Die rasant wachsenden Budgets für diese Apparate bedürfen – ob direkt beschlossen oder als Teil größerer Haushaltsposten – der parlamentarischen Zustimmung. In der Hoffnung, ihre Effizienz zu erhöhen, werden Grenzschutzakteure einer allzu strikten, unabhängigen Kontrolle entzogen. Dafür bedarf es diesseits der Grenze einer Öffentlichkeit, die entweder nichts über die Grenzgewalt und ihre Folgen für unschuldige Zivilisten erfährt oder die wegschaut, die Gewalt akzeptiert oder sie sogar aktiv begrüßt und unterstützt. Dies wiederum erfordert es, die kollektiven Affekte zu formen und der Bevölkerung einzureden, dass sie allen Grund hat, sich vor Migranten zu fürchten. All dies hat Folgen für den Rechtsstaat, die Medienberichterstattung und politische Mobilisierungen – Folgen, die in ihrer Summe eine Gefahr für die offene Gesellschaft darstellen.

Damit soll nicht gesagt werden, dass diese Gefährdung immer intendiert ist. Die Vordenker und Planer der neuen Mauern gegen unerwünschte Migration mögen vielmehr darauf setzen, dass die Gewalt an den Grenzen verbleibt und nicht in die zu schützende Gesellschaft diffundiert. Die Vorstellung wird gestützt durch das altbekannte literarisch-philosophische Motiv der „schmutzigen Hände“, also der Vorstellung, dass man gelegentlich illegale oder unmoralische Maßnahmen ergreifen müsse, um höhere moralische Ziele wie den Schutz der freien Gesellschaft zu gewährleisten. Dieses Motiv übersieht jedoch die mögliche „moralische Korrumpierung“[5] des Kerns der Gesellschaft durch die Gewalt an ihren Rändern oder, in einer anderen Theoriesprache, die „Spillover-Effekte“, durch die Handlungen oder Ideen von einem gesellschaftlichen Bereich auf andere Bereiche übergreifen.[6]

In der politischen Theorie wird häufig argumentiert, dass stabile liberale Demokratien auf eine umfassende Migrationskontrolle und „geschlossene Grenzen“ angewiesen seien.[7] Tatsächlich aber ist das Gegenteil der Fall, die liberale Demokratie wird durch die restriktiven Grenzregimes der Gegenwart beschädigt. Letztlich ist die Demokratie, wie als Erster der französische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Henri Bergson bereits vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb, die einzige politische Ordnung, die darauf angelegt ist, die Bedingungen einer nach innen und außen geschlossenen, abgeschotteten Gesellschaft zu überwinden.[8] Sie verträgt sich daher nicht mit geschlossenen Grenzen.

Hinzu kommt, dass die Grenzen nicht für alle gleichermaßen geschlossen und die Mauern nicht für alle gleich hoch und undurchlässig sind. Flüchtlinge aus der Ukraine wurden in Deutschland, Polen oder Litauen seit dem Frühjahr 2022 ausdrücklich und offiziell willkommen geheißen. Selbstverständlich zu Recht. Irritierend war allerdings, dass die Aufnahmebereitschaft bei jenen Flüchtlingen aus der Ukraine an ihre Grenzen stieß, die aus Afrika oder Asien stammten, aber in der Ukraine arbeiteten oder studierten.[9] Und ebenso irritierend waren viele implizit vergleichende Kommentare aus Politik und Medien. Den Ukrainern, bemerkte eine hochrangige deutsche Amtsperson, „muss nicht erklärt werden, wie eine Waschmaschine funktioniert, oder dass auf dem Zimmerboden nicht gekocht werden darf“.[10] Anders als den Barbaren, die 2015 ins Land drängten, so der leicht zu entziffernde Subtext.

Generell lässt sich festhalten, dass die Fluchtgründe weißer Flüchtlinge aus der Ukraine wesentlich weniger hinterfragt wurden als zum Beispiel die syrischer Flüchtlinge vor und nach 2015, obwohl oft sogar die Truppen desselben Landes, nämlich Russlands, die Herkunftsstädte der Geflohenen in Schutt und Asche bombten.[11] Auf diese Unterschiede angesprochen, die die Betroffenen vom Grenzübertritt bis zu Registrierung und Aufnahme zu spüren bekommen, entgegnete der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis schlicht, die Ukrainer seien eben „die echten Flüchtlinge“.[12]

Solche Stimmen ignorieren, dass einige europäische Gesellschaften auch dann sehr wohl in der Lage sind, mit hohen Zahlen von Migranten konstruktiv umzugehen, wenn sich die Zuwanderung ungeplant vollzieht. Außerdem erinnern sie uns daran, dass wir über Rassismus sprechen müssen.

Die Grenzregimes der Gegenwart sind ohne den Begriff des Rassismus nicht zu verstehen. Aber der Rassismus an den Grenzen verharrt nicht dort, sondern speist sich aus einer entsprechenden Gesellschaft und wandert von den befestigten Grenzen gestärkt in die Gesellschaft zurück. Die Gewalt an der Grenze greift nach innen aus und korrumpiert die Gesellschaft, indem sie zum einen die Institutionen des Rechtsstaats und der Demokratie beschädigt und zum anderen eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral fördert durch die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und Rechtsbrüche.[13] Die gewaltsame Migrationsabwehr ist nicht zu haben ohne eine Enthemmung der Machtausübung an den Grenzen. Das „tödliche Gift hemmungsloser Macht“ beschädigt aber nicht nur seine Opfer, sondern auch die Täter und ihre Gesellschaft, wie bereits Frederick Douglass, der große Vorkämpfer für die Abschaffung der Sklaverei in den USA, schrieb.[14]

In Europa entfalten sich die Konflikte um Migration und Grenzregimes vor dem Hintergrund des europäischen Einigungsprozesses. Dieser Prozess führt einst verfeindete Staaten zusammen, setzt aber gleichzeitig mächtige Zentrifugalkräfte frei, die den Trend zur Abschottung Europas durch Ansätze einer nationalistischen Abschottung der Mitgliedsstaaten noch überbieten. Die offene Frage lautet also, wie die werdende europäische Gesellschaft aussehen wird. Wie offen wird diese Gesellschaft sein? Wie mächtig werden die neuen Mauern um Europa herum in unseren Köpfen werden? Und welche Bedeutung werden die „Würde des Menschen“ und die Menschenrechte haben, die dem europäischen Projekt zugrunde liegen?[15]

Die neue Militanz Europas

Quelle          :          Blätter-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben           —       Powstaje zapora na granicy polsko-białoruskiej. Dzisiaj już wszyscy na Zachodzie widzą, że my, chroniąc granicę polsko-białoruską, chronimy wschodnią flankę NATO – powiedział premier Mateusz Morawiecki w środę (16 lutego br.) podczas konferencji prasowej przy granicy z Białorusią. W konferencji wziął również udział wiceminister Maciej Wąsik oraz gen. dyw. SG Tomasz Praga – komendant główny Straży Granicznej.

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Fluggastdatenrasterung :

Erstellt von Redaktion am 27. Juni 2023

KI-Modelle zur Terrorismusabwehr ungeeignet

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von           :         

In einer kürzlich veröffentlichten wissenschaftlichen Forschung kritisiert Jura-Professor Douwe Korff den Einsatz von KI-Modellen zur Terrorismusabwehr im Rahmen der EU-Richtlinie zur Verarbeitung von Fluggastdaten. Mindestens 500.000 Personen würden demnach jedes Jahr zu Unrecht verdächtigt.

Die EU-Richtlinie zu Fluggastdatensätzen (PNR-Richtlinie) verpflichtet die EU-Mitgliedsstaaten seit 2016 dazu, europaweit Daten über Fluggäste zu erheben und untereinander auszutauschen. Ein EuGH-Urteil im Jahr 2022 beschränkte diese Massenüberwachung bei Flugreisen und legte auch ein Diskriminierungsverbot fest. Die PNR-Richtlinie blieb jedoch bestehen.

Die PNR-Daten sollen vor allem sogenannte terroristische Gefährder identifizieren – unter anderem mit Hilfe sogenannter Künstlicher Intelligenz (KI). Mehrere europäische Länder (pdf) – darunter auch Deutschland – setzen KI bereits für die Strafverfolgung und die Vorhersage von Verbrechen ein.

Ebendies kritisiert Douwe Korff, Jura-Professor an der London Metropolitan University und Anwalt für Menschenrechte, in seiner kürzlich veröffentlichten wissenschaftlichen Forschung. Er zählt drei grundlegende Probleme auf, die all jenen algorithmischen Verfahren gemein sind, die dem Profiling von potenziellen Gefährder:innen dienen.

500.000 potenzielle Terrorist:innen

Als Erstes benennt er einen statistischen Fehlschluss, den sogenannten Prävalenzfehler. Dieser Fehler beschreibt, dass vermeintlich zuverlässige statistische Modelle dazu neigen, besonders unwahrscheinliche Ereignisse disproportional häufig vorherzusagen.

Selbst wenn beispielsweise ein KI-Modell Terrorist:innen in 99,9 Prozent der Fälle frühzeitig erkennen könnte, würde das Modell viele Unschuldige gleichermaßen verdächtigen, da die absolute Häufigkeit von Terrorist:innen in der Bevölkerung außerordentlich gering ist. Dieses Problem ist weitgehend unabhängig vom Anwendungsfall und beschreibt eine grundlegende Eigenschaft statistischer Verfahren.

Die Auswertung der Fluggastdaten in der EU würde nach Einschätzung des Wissenschaftlers – selbst bei dieser unrealistisch hohen Trefferquote – jedes Jahr etwa 500.000 Personen fälschlicherweise als potenzielle Terrorist:innen kennzeichnen. Bei einer plausibleren Trefferquote geriete eine noch höhere Zahl Unschuldiger ins Visier der Ermittler:innen. Bereits in der Vergangenheit hatte Korff die EU-Kommission auf diesen Umstand hingewiesen, allerdings sei die Warnung folgenlos geblieben.

Software erbt unsere Verzerrungen

Darüber hinaus neigt Profiling-Software dazu, gesellschaftliche Vorurteile zu replizieren und zu verstärken. Ein solcher Bias (Verzerrung) sei allerdings laut EU-Kommission bei der Analyse von Fluggastdaten ausgeschlossen, da Eigenschaften wie Ethnie oder politische Einstellung ignoriert würden. Diese zu verwenden sei gesetzlich auch verboten.

Korff widerspricht und weist erstens darauf hin, dass die entsprechende Richtlinie es den Mitgliedsstaaten erlaube, auch umfangreiche Datenbanken anderer Behörden in die Analyse einzubeziehen. Diese enthielten durchaus auch sensible personenbezogene Daten.

Zweitens wiesen auch Datensätze ohne sensible personenbezogene Daten starke Verzerrungen auf, die dann die statistische Auswertung beeinflussen würden, so Korff. Besonders marginalisierte Gruppen müssten damit rechnen, disproportional häufig und ohne nachvollziehbare Gründe verdächtigt zu werden.

Software ist intransparent

Denn, so kritisiert Korff schließlich, Behörden könnten selbst die Details solcher Software nicht einsehen. Aus diesem Grund seien sie außerstande, die Ergebnisse der Datenanalyse zu hinterfragen. Ihre Verdachtsfälle könnten sie damit auch nur unzureichend begründen. Aus diesem Grund bezeichnet Korff die Profiling-Algorithmen aus wissenschaftlicher Sicht als fragwürdig und für den polizeilichen Gebrauch als ungeeignet.

Korffs Kritik richtet sich in dem wissenschaftlichen Artikel insbesondere gegen die PNR-Richtlinie der EU-Kommission. Sie sei jedoch auf alle KI-basierten Profiling-Verfahren anwendbar, etwa bei der Chatkontrolle.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —         Frankfurt Airport, Germany

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Wunder und Alltag

Erstellt von Redaktion am 27. Juni 2023

Indigene Bevölkerung in Kolumbien

Aus Bogata von Katharina Wojczenko

Vier Kinder überleben 40 Tage im Dschungel. Der Vorfall zeigt, wie wertvoll das Wissen Indigener ist – und wie ignorant der Staat.

40 Tage nach Absturz ihrer Propellermaschine über dem Amazonas hatte der Suchtrupp die vier indigenen Geschwister im Dschungel gefunden: Lesly (13), Soleiny (9), Tien (5) und Baby Cristin (1). Ausgehungert, abgemagert, dehydriert und zerstochen, aber ohne schwere Verletzungen. „Eine Freude für das ganze Land!“, schrieb Präsident Gustavo Petro auf Twitter. „Wunder, Wunder, Wunder, Wunder!“, jubelte die Luftwaffe. Es war der 9. Juni.

Drei Wochen zuvor war die abgestürzte Propellermaschine samt der drei erwachsenen Passagiere gefunden worden: der Pilot, ein indigener Anführer und die Mutter der Kinder, Magdalena Mucutuy Valencia, waren alle tot. „Das Wunder von Kolumbien“ war in der ganzen Welt eine Sensation. Ausländische Reporterteams standen tagelang vor den Toren des Militärkrankenhauses in Bogotá, wo die Kinder seitdem aufgepäppelt werden. Mitglieder der Familie erzählten ihre Sicht, ebenso der Kommandant der Operation, die indigenen Retter. Aber was bleibt nun von dem „Wunder“?

Kolumbien, weit entfernt vom Frieden, sehnt sich nach guten Nachrichten. Die Regierung des linken Präsidenten Gustavo Petro sowieso. Die steckt mitten in ihrer größten Krise: Abhörskandal, Verdacht auf illegale Wahlspenden, Reformblockade und auch noch ein toter Polizist, der hatte aussagen wollen.

Petro hatte sich Wochen zuvor mit der Falschmeldung blamiert, die Kinder seien gefunden worden. Das war alles plötzlich nebensächlich. Das ganze Land freute sich, über alle Gräben hinweg. Wohl auch deshalb haben Massenmedien und Armee immer wieder eine Nebenfigur in den Mittelpunkt gestellt: einen Rettungshund namens Wilson, der bei der Suche im Dschungel verloren ging – und zum Nationalhelden wurde. „Wir lassen keinen Kameraden zurück“, wiederholt die Armee und sucht mit Soldaten und einer Horde läufiger Hündinnen nach dem Schäferhund.

„Sie sind die Helden“

Dabei gäbe es nach der Rettung der Kinder in Kolumbien wichtigere Themen zu besprechen. Der Vorfall hat die Fähigkeiten und das Wissen der Indigenen ins Rampenlicht gerückt. Diese waren bisher am unteren Ende der Aufmerksamkeitsskala – und ganz oben bei den Opfern, egal ob im Krieg oder bei staatlicher Vernachlässigung. Doch waren es die Indigenen, die das Flugzeug mit den toten Erwachsenen fanden – und die lebendigen Kinder. Präsident Petro hat betont, dass der gemeinsame Einsatz von Armee und indigener Garde der Schlüssel zum Erfolg war.

Der Kommandant Pedro Sánchez, der die Militäroperation leitete, sagte über die Indigenen: „Sie sind die Helden.“ Henry Guerrero, einer der acht Indigenen, die bis zuletzt nach den Kindern suchten, sagte bei der Pressekonferenz der Nationale Organisation der indigenen kolumbianischen Amazonas-Völker (Opiac): „Die Armee weiß nicht, wie sie im Dschungel überlebt.“

Am 1. Mai war die Propellermaschine im Urwalddorf Araracuara gestartet mit Ziel San José del Guaviare. Nach allem, was bekannt ist, sollte die Familie von dort mit einem Flugzeug nach Bogotá fliegen. In der Region ist die bewaffnete Farc-Dissidenz aktiv. Der Vater der beiden jüngsten Kinder, Manuel Ranoque, sagte, dass er von der Farc-Front Carolina Ramírez bedroht wurde und deshalb nach Bogotá fliehen musste. Er habe mit der Familie in der Hauptstadt ein neues Leben beginnen wollen.

Doch die Propellermaschine stürzte im tiefsten Dschungel ab. Die Operation von rund 120 Spezialkräften der Armee und rund 80 Mitgliedern der indigenen Garde war einzigartig. Die Armee ist bei vielen Indigenen berüchtigt, weil sie diese im bewaffneten Konflikt im Stich ließ oder ermordete. Für die Suche hatten mehrere Amazonas-Völker und sogar Indigene Gemeinschaften aus der Pazifik-Region Cauca Hilfe geschickt.

Der mächtige Dschungel

Die Armee hatte Helikopter, Satellitenbilder, Wärmebilder, Lautsprecherdurchsagen. Am Ende brachte das alles nichts, zu dicht das Blätterdach, zu stark der Regen, zu mächtig der Wald. „Wir haben eure Technologie übertrumpft“, sagt Henry Guerrero. „Auch wir können für unser Land etwas tun.“ Wir, ihr – das zeigt, dass zwischen dem Kolumbien der Indigenen, der Regierung im fernen Bogotá und einem Großteil der Bevölkerung eine Kluft existiert.

Helden brauchen Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Die größte Herausforderung bei der Rettung der Kinder war la selva, der Urwald. Der Dschungel gilt für viele in Kolumbien als gefährlich, voller gefährlicher Tiere, als Versteck für Guerillas und Verbrecher. Zudem sitzt die Kolonialzeit tief: Das Terrain muss abgeholzt sein und sauber, um es kontrollieren, bewirtschaften, besitzen zu können. Für die Indigenen ist der Wald die Mutter, die Madre Selva. Die mächtige Mutter, der man mit Respekt begegnet, die ihre Kinder aber auch ernährt, in der Geister leben, die sie beschützen. Dass die Kinder am Leben waren, war für indigene Ex­per­t:in­nen deshalb kein „Wunder“. Lesly, die Älteste, hatte schließlich gelernt, wie der Wald für sie sorgt.

Irgendwann habe er, der Katholik, wie die Indigenen den Wald um Erlaubnis gebeten, ihn betreten zu dürfen, hat Kommandant Sánchez dem Fernsehpublikum erzählt. Wenn man die Berichterstattung verfolgt, muss man auch denken: Vielleicht trägt dieser Vorfall in Kolumbien auch zu einem besseren Verständnis des bedrohten Urwalds und seiner Be­woh­ne­r:in­nen bei. Zu mehr Respekt.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   esta imagen demuestra la creatividad y el aprendizaje trasmitido de nuestros mayores

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Unten        —        En cercanías de la cierra nevada del cocuy se encuentra el parque de los frailejones rodeado por formaciones rocosas y regados por agua proveniente del glacial

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Guatemala: Failed State

Erstellt von Redaktion am 26. Juni 2023

Am 25. Juni wurde in Guatemala gewählt.

Guatemala City

Menschenrechte – davon hat auch in Europa kaum jemand etwas von gehört.

Ein Debattenbeitrag von Knut Henkel

Doch das Land wird von einer korrupten Elite kontrolliert. Daran sind die USA und die EU nicht unbeteiligt. Die letzte unabhängige Bastion der Demokratie war die Ombudsstelle für Menschenrechte.

Ganze 40 Jahre Haft für den Gründer und ehemaligen Direktor der kritischen Tageszeitung elPeriódico hat Guatemalas Staatsanwaltschaft am 30. Mai gefordert. Geldwäsche, Korruption und Erpressung werden dem 66-jährigen José Rubén Zamora vorgeworfen – belastbare Beweise: Fehlanzeige.

Der Fall ist der jüngste in einer langen Kette von Strafprozessen, die dazu dienen, diejenigen hinter Gitter zu bringen oder außer Landes zu drängen, die für ein anderes Guatemala stehen. José Rubén Zamora ist ohne jeden Zweifel so einer. Der hagere Mann mit dem zurückgekämmten Haar hat sich sein ganzes Leben lang für ein kritisches Mediensystem in Guatemala engagiert. Nun droht ihm, für Jahre weggesperrt zu werden – wie so vielen anderen auch.

Guatemala, das größte Land Mittelamerikas, dass hierzulande vielen für guten Kaffee, die Rui­nen der Maya-Hochkultur und wenigen für den überaus blutigen Bürgerkrieg (1960–1996) bekannt ist, schmiert ab. In gerade acht Jahren ist das Land, das im September 2015 noch als Hoffnung für einen „mittelamerikanischen Frühling“ galt, zu einem autoritären Regime mutiert. Die Präsidentschaftswahlen vom Sonntag, 25. Juni, sind dafür das beste Beispiel, denn erstmals wurde ganz offen manipuliert: nicht an der Urne und während der Stimmauszählung, sondern schon davor.

Indigene Kandidatin vorab ausgeschlossen

Schon vor der Wahl spielten sich zwei Gerichte, das Oberste Wahlgericht und das Verfassungsgericht, die Bälle zu: Drei Kandidat:innen, darunter die aussichtsreiche indigene Kandidatin Thelma Cabrera, waren von beiden Gerichten unter dubio­sen Begründungen von den Wahlen ausgeschlossen worden. Mit Edmond Mulet wartete am Ende ein vierter Kandidat auf sein endgültiges Urteil von der höchsten juristischen Instanz des Landes. Vieles deutete darauf hin, dass auch der ehemalige UN-Diplomat seine politischen Ambitionen beerdigen muss.

Thelma Cabrera.

Alles andere wäre eine Überraschung, denn viele der 17 Millionen Gua­te­mal­te­k:in­nen wissen, dass Richter und Richterinnen in Schlüsselpositionen in Guatemala mittlerweile handverlesen sind. Dafür sorgt ein intransparentes Nominierungssystem, das schon vor Jahren hätte reformiert werden sollen. Nun befindet es sich in den Händen einer korrupten und überaus mächtigen Allianz: des Pakts der Korrupten.

So wird das Bündnis aus Militärs, einflussreichen Unternehmerfamilien, korrupten Politikern und der organisierten Kriminalität genannt, das sich ab 2015 langsam reorganisierte und peu à peu die Institutionen übernahm. Die Justiz war zwischen 2007 und 2015 zu einem immer unbequemeren und unkalkulierbaren Faktor geworden.

Das hatte seinen Grund, denn seit dem Dezember 2006 war die UN-Kommission ­gegen Straflosigkeit in Guatemala (Cicig) im Einsatz und sorgte dafür, dass sich die Strukturen im Justizsektor spürbar änderten. Richter:innen, die die Hand aufhielten, wurden vor die Tür gesetzt, neue Gerichtshöfe eingerichtet. All das sorgte 2015 für eine demokratische Zäsur: den unfreiwilligen Rücktritt von Präsident Otto Pérez Molina.

Der ehemalige General des militärischen Geheimdiensts verlor, nachdem die Ermittlungsbehörden ordnerweise Beweise für Korruption ins Parlament gekarrt hatten, am 1. September 2015 seine Immunität. Am nächsten Tag trat er zurück, und 150.000 Menschen ­feierten vor dem Nationalpalast die für Guatemala vollkommen ungewohnte Sternstunde der Demo­kratie. Selbst Experten wie der Menschenrechtsanwalt Edgar Pérez witterten Morgenluft und sahen ein Land auf der Kippe: zwischen Demokratie und dem Rückfall in autoritäre Strukturen.

Zwei Jahre später, im Sommer 2017, sorgte Präsident Jimmy Morales für eine Zäsur: er attackierte die international hochgelobte UN-Kommission Cicig. Zentraler Grund für die Attacken aus dem Präsidentenpalast war die Tatsache, dass die Cicig nicht nur gegen einen Sohn und den Bruder des Präsidenten, sondern auch gegen Morales selbst wegen illegaler Wahlkampffinanzierung er­mittelte.

An den Parallelstrukturen gescheitert

Das war zu viel für den korrupten Präsidenten, der für eine mit ehemaligen Militärs durchsetze national-konservative Partei ange­treten war. Erst erklärte er den damaligen Direktor der Cicig, den kolumbianischen Richter und heutigen kolumbianischen Verteidigungsminister Iván Velásquez, zur unerwünschten Person und entzog dann der Cicig im September 2019 ihr Mandat.

Quelle         :        TAZ-online         >>>>>          weiterlesen

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Oben      —      Guatemala City

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PRIGOZHIN via PUTIN

Erstellt von Redaktion am 26. Juni 2023

PRIGOZHINS MEUTEREI GEGEN MOSKAU

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Von der Washington Post angekündigt

Es war ausgerechnet die Washington Post (s.Link), die im Mai behauptete, dass der Inhaber des Söldnerunternehmens, das unter dem Namen „Wagner-Gruppe“ bekannt ist, der aktuellen ukrainischen Regierung strategische Unterlagen der russischen Armee angeboten haben soll. In einem Krieg der Oligarchen – der Chef der Wagner-Gruppe Yevgeny Prigozhin gehört auch zu dieser einflußreichen Gruppe in Russland – spielt Geld nicht nur eine Rolle für den Waffenkauf, sondern auch für die jeweilige Loyalität. Es ist denkbar, dass die Ukraine-Oligarchen Prigozhin einfach genug für den Seitenwechsel geboten haben: Seine Truppe marschiert jetzt gegen Russland.

Kapitalisten kennen kein Vaterland

Schwer vorstellbar ist, dass die russische Regierung die Information ignoriert hat. Doch offenkundig war sie vor der Ankündigung der Washington Post einer Meuterei gegen die russische Militärführung nicht informiert genug, um rechtzeitig vorbeugende Maßnahmen zu treffen. Dieser Mangel wiegt um so schwerer, als Prigozhin seit seinen Sankt Petersburger Tagen in der Umgebung von Wladimir Putin verortet wurde: Er erhielt eine Reihe von Staatsaufträgen, unter anderem lieferte er Essen an die Russische Armee. Die Meuterei Prigozhins bestätigt die marxistische Erkenntnis, dass Kapitalisten kein Vaterland kennen, ihre Heimat ist der Profit. Die Meuterei, da darf man sicher sein, war nicht billig.

Ukraine als Aufmarschgebiet gegen Russland

Bisher gelang es Wladimir Putin, den Ukraine-Krieg unter der Flagge der Nation zu führen. Tatsächlich soll der Krieg die nationalen Interessen sichern. Denn solange es den USA und ihrer NATO gelingt, die Ukraine als Aufmarschgebiet gegen Russland zu formieren, solange ist die internationale Position Russlands erheblich geschwächt. Diese Schwäche würde sich auf Dauer auch auf die russischen Handelsbedingungen auswirken, von der Verteidigungsfähigkeit des Landes ganz zu schweigen.

Vorbereitung eines Putsches gegen die russische Regierung

Prigozhins Meuterei muß als Vorbereitung eines Putsches gegen die russische Regierung gewertet werden. Die erfahrenen britischen Imperialisten lassen Prigoschins Meuterei durch ihr Verteidigungsministerium als „die größte Herausforderung für den russischen Staat in jüngster Zeit“ einschätzen. Wladimir Putin selbst bestätigt diese Wertung, wenn er sagt, der Aufstand sei „genau die Art von Schlag gewesen, der Russland 1917 zugefügt wurde, als das Land den Ersten Weltkrieg führte, aber der Sieg wurde ihm genommen. Intrigen, Streitereien, Politik hinter dem Rücken der Armee und des Volkes führten zum größten Schock: der Zerstörung der Armee und dem Zusammenbruch des Staates, dem Verlust riesiger Gebiete. Am Ende – die Tragödie des Bürgerkriegs.“

Niederlage Russlands wäre ein schwerer Schlag für freie Nationen

In den nächsten Tagen und Wochen wird sich das Schicksal Russlands entscheiden. Und mit ihm die Frage, ob Europa komplett unter die Stiefel der USA gerät. Falls die Russen den Kampf gegen die USA nicht gewinnen würden, kann das auch die Chinesen nicht unberührt lassen: Ein Sieg der USA würde das internationale Kräfteverhältnis zugunsten der westlichen Kräfte verschieben. Für die Handlungsspielräume aller Nationen, die ihre Selbstständigkeit, ihre Freiheit und Unabhängigkeit schätzen, wäre eine Niederlage Russlands ein schwerer Schlag.

https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/05/14/prigozhin-wagner-ukraine-leaked-documents/

Urheberrecht

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Grafikquelle :

Oben      —       Prime Minister Vladimir Putin looked over the factory’s production chain and was shown new vending machines that accept cards. The factory’s director, Yevgeny Prigozhin, remarked that they are produced by companies that previously manufactured slot machines. „They have been retrofitted,“ Prime Minister Putin said. „It’s very good and useful.“ He asked Leningrad Region Governor Valery Serdyukov whether the parents of school students are satisfied with the meals. The governor replied that it took some time for them to get used to the new meal system but all issues have been resolved and the students are satisfied. Mr Prigozhin said that his factory does not use frozen food products or preservatives. The cost of an adult meal produced by Concord is 32 roubles.

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Irgendwas mit Internet:

Erstellt von Redaktion am 26. Juni 2023

Der Schlüssel für Open Source in den Verwaltungen ist das Vergaberecht

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Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Kolumne von 

Ein Grund für zu wenig Open-Source in der Verwaltung ist das Vergaberecht. Es muss auch eine politische Entscheidung sein, welche digitalen Infrastrukturen man betreibt und nutzt.

Wir haben 2023 und die meisten von uns haben, abgesehen von ELSTER, in der Regel noch nie eine funktionierende digitale Behördenanwendung in freier Wildbahn gesehen. Dabei sollte längst alles digitalisiert sein und zwar schon seit Jahrzehnten. Aber das ist nicht das Thema meiner Kolumne und Lilith Wittmann hat auf der vergangenen re:publica schon viel zu diesem Aspekt gesagt.

Mir geht es um den Einsatz von Open-Source-Software in der Verwaltung, einem Thema, das mich schon länger beschäftigt als es dieses Blog mit der passenden Domain gibt. Denn schon am Anfang dieses Jahrtausends gab es eine Debatte darüber, dass der Einsatz von Open-Source-Software bei der Digitalisierung der Verwaltungen viele Chancen biete. Das Bundesinnenministerium hatte dazu sogar einmal ein Referat eingerichtet.

Diskutiert wurde vor allem über den Umstieg bei den Betriebssystemen und Office-Programmen, um unabhängiger von Microsoft zu werden. Das Unternehmen dominierte damals den Markt wie kein anderes und verdiente gut durch die Abhängigkeit und damit verbundene Lizenzgebühren für die Nutzung ihrer Software von der Stange. Vom Unternehmen angeworbene ehemalige CDU-Politiker machten Lobbying für Microsoft gegen Linux und sorgten für viele Jahre dafür, dass sich unter der Merkel-geführten Bundesregierung nichts änderte.

Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag umsetzen

Die Ampel-Koalition überraschte mit einem ambitionierten Koalitionsvertrag, der zumindest kurzfristig etwas Hoffnung gab. Diese ist mittlerweile bei den meisten Beobachter:innen weitgehend verschwunden, aber noch immer finden sich spannende Versprechungen im Koalitionsvertrag, die man mal mit Leben füllen könnte, wie z.B.

„Für öffentliche IT-Projekte schreiben wir offene Standards fest. Entwicklungsaufträge werden in der Regel als Open Source beauftragt, die entsprechende Software wird grundsätzlich öffentlich gemacht.“

Das war und ist eine Forderung, die bereits 25 Jahre alt ist und immer wieder aus der Open-Source-Welt und der digitalen Zivilgesellschaft in die Politik reingebracht wurde. „Public Money, Public Code“ heißt die passende Kampagne der Free Software Foundation Europe dazu, hinter der alle stehen. In Kurzform heißt das einfach: Öffentlich-finanzierte Software, also durch Steuergeld finanzierte Software sollte möglichst allen wieder zur Verfügung stehen. Und das als Default und nicht als mögliche Option.

Bisher ist es anders herum und nur in Einzelfällen war es hochmotivierten Menschen manchmal möglich, viele Widerstände zu umgehen. Dabei lagen die Vorteile von Open-Source-Software schon lange auf der Hand: Der Aufbau von Ökosystemen wird erleichtert, Verwaltungen auf allen Ebenen können sich zusammenschließen, gemeinsame Infrastrukturen betreiben und Weiterentwicklungen finanzieren. Daraus ergibt sich auch eine Herstellerunabhängigkeit – oder auf Neudeutsch ganz viel „digitale Souveränität“.

Public Money, Public Code

Eine der größten Hürden war und ist das Vergaberecht. Gegner von Open-Source-Software bezogen sich immer darauf, dass man ja niemand benachteiligen dürfe, der keine Open-Source-Software nutzt und verkauft. Und damit wurde immer das Steuerungselement boykottiert, denn es ist einfach eine politische Frage, auf welcher Basis die eigenen digitalen Infrastrukturen funktionieren sollen!

Die Diskussion über eine Reform des Vergaberechts ist alt und geht weit zurück hinter der Münchener Linux-Entscheidung. In den Nuller-Jahren gab es dazu auch Anhörungen im Bundestag, aber die Microsoft-nahe CDU/CSU verhinderte jede Reform.

Die Folgen kennen wir: Massive Lock-In-Effekte und Abhängigkeiten von Microsoft, das die Lizenzkosten immer weiter anhebt. Es gibt in den Verwaltungen kaum Personal, dass auch mal in anderen IT-Infrastrukturen außerhalb der Windows-Welt denken und klicken kann. Das zusammen ist ein Teufelskreis.

Aber Microsoft ist auch nur ein Nutznießer, wenn auch der mit Abstand absolut Größte. Im vergangenen Sommer veranschaulichten Ulf Buermeyer und Philip Banse in ihrem Podcast Lage der Nation, wie es um Teile unserer eGovernment-Infrastruktur steht: „Keine weiteren Fragen“. Sie besuchten im Rahmen eines Roadtrips für zwei Podcast-Folgen Verwaltungen und ließen sich zeigen, wie die Software vor Ort funktioniert und welche Abläufe damit abgebildet werden.

Eines der Hauptprobleme: Softwareunternehmen verkaufen geschlossene Lösungen für ein Problem und haben bisher kein Interesse, dass ihre Software durch Offene Standards mit anderen Lösungen kommuniziert. Die Folgen sind Ausdrucken und Einscannen zwischen Fachanwendungen. Das klingt wie Realsatire, beschreibt aber den Status Quo in Deutschland in Sachen eGovernment im Jahre 2023.

Man ist nicht mal auf den Gedanken gekommen, die Hersteller solcher Fachanwendungen zu offenen Standards zu verpflichten, was das mindesteste hätte sein müssen!

Das Vergaberecht richtig reformieren

Das muss sind endlich ändern. Die CDU/CSU ist gerade nicht mehr in der Bundesregierung, die Debatte ist wieder eröffnet und das Wirtschaftsministerium arbeitet gerade an einer Reform des Vergaberechts. Im vergangenen Monat zeichnete die Open Source Business Alliance in einem in Auftrag gegebenen Gutachten verschiedene Optionen auf, wo der Gesetzgeber an welchen Stellschrauben drehen könnte. Einige Bundesländer wie Thüringen und Schleswig-Holstein sind da schon weiter und haben das schon längst geregelt.

Der grüne Bundestagsabgeordnete Maik Außendorf beauftragte den wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, in einem Gutachten aufzuarbeiten, wie diese Frage, die ja auch eine europarechtliche Frage ist, in unseren EU-Partnerstaaten gelöst wird. Das Ergebnis gibt Hoffnung, es gibt sehr viele Möglichkeiten, der Tenor ist: Man muss es nur wollen und dann machen.

Was klar ist: Es gibt nicht die einzelne große Schraube, aber der Status Quo muss nicht bleiben. Was fehlt ist erst mal der politische Wille auf allen Ebenen, das Versprechen des Koalitionsvertrages und vieler anderer aktueller Papiere zur Verwaltungsmodernisierung auch umzusetzen. Und Open-Source-Software und Offene Standards überall dort zu bevorzugen, wo es geht. Vielleicht wird es dann auch mal was mit der Digitalisierung der Verwaltung – wenn man parallel den Kompetenzaufbau innerhalb der Behörden nicht vergisst.

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DIE * WOCHE

Erstellt von Redaktion am 26. Juni 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

U-Boot, Inflation, Yacht-feindliche Orcas: Meeresbiologen vermuten Rache. In den Freibädern gehts wieder rund. Musk will sich mit Zuckerberg kloppen. Und Arme bekommen ein „Stellt euch mal nicht so an“.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Helene Fischer hat Nasenbluten.

Und was wird besser in dieser?

Erste singende KI.

In den Freibädern gibt es mal wieder Schlägereien. Sorgt Claudia Pechstein dort bald für Recht und Ordnung?

Die heißen Tage könnten den polizeilichen Wasserwerfern einen enormen Popularitätsschub bringen. Einfach mal in die schwitzende Masse halten. Vielleicht wäre Schwimmmeister nicht nur ein tolles Wort mit drei M hintereinander, sondern auch eine weitere Option für die Sportförderung: In deutschen Olympiateams arbeiten formal zwei Drittel der Teilnehmenden bei Bundeswehr und Bundespolizei. Wenn der Staat auch die Bademeister noch rekrutiert, bekommen sie eine imponierende Uniform, Übung an der Waffe und im Freibad weht ein Hauch von CDU-Parteitag. Das schreckt ab.

Australien kündigt an, stärker gegen Hassreden auf Twitter vorzugehen. Mehr oder weniger gleichzeitig wollen dessen Besitzer Elon Musk und Meta-CEO Mark Zuckerberg sich zu einem Käfigkampf treffen. Wie lange noch, bis Musk k. o. geht?

„Über­durch­schnitt­lich intelligent, Gruppenwesen und aus Daffke mal was kaputtmachen – hallo Geschwister“

Zerrissene Visitenkarte: Unter Burschenschaftern die Forderung zur scharfen Mensur. In Deutschland dürften die beiden Hochleistungsflegel einander legal blaue Häkchen ins Gesicht metzgern, in Österreich mit einigem Stolz in die Narbe ein Pferdehaar einnähen lassen: Das gibt eine stattliche Wulst. Es sind also noch schöne Stei­gerungen möglich, bis endlich ein demokratisch legitimiertes und kuratiertes Netzwerk entsteht.

Die gefühlte Inflation in Deutschland liegt laut einer Studie des Kreditversicherers Allianz Trade bei 18 Prozent, die tatsächliche bei 6 Prozent. Fühlt sich Ihre Realität eher nach 6 oder 18 an?

Wenn ich das Zwingende und das Häufige – Steuern, Energie, Lebensmittel – bezahlt habe, ist noch ein kleiner, schmelzender Puffer übrig. Wer dagegen dann schon blank ist, empfindet die Inflation höher als wer dann noch reichlich hat. Paradox: Wer viel Geld hat, dem macht viel Geldentwertung wenig. Die allgemeine Inflationsrate ist ein Mittelwert, der finanziell Schwächeren ein herzliches „Stellt euch mal nicht so an“ vorhält. Aus Sicht derer, die sich nicht so anstellen müssen.

Die Orcas spielen vor der spanischen Küste „Schiffe versenken“. Rächt sich jetzt die Tierwelt an uns Menschen?

Meeresbiologen vermuten tatsächlich Rache einer notorischen Gruppe von Schwertwalen, die schon mehrere Boote und dort jeweils das Ruder angegriffen haben. Die Anführerin der Gruppe könnte ein Junges an einem Ruder verloren haben, wird spekuliert. Andere führen Beispiele an, dass Orcas gern spielen – mit Algen, Quallen oder eben mal einem Boot. Überdurchschnittlich intelligent, Gruppenwesen und aus Daffke mal was kaputtmachen – hallo Geschwister.

Deutschland ist im Gleichstellungsranking des Weltwirtschaftsforums von Platz 10 auf Platz 6 vorgerückt. Können wir uns darauf ausruhen?

Wenn wir die Klimakatastrophe lindern und überleben können, winkt deutschen Frauen in weiteren 67 Jahren eine ausgewogene Balance zwischen den Geschlechtern. Vielleicht erklärt das, warum es männerdominierte Parteien mit der Klimapolitik nicht so eilig haben: Lieber versaften als in der Weibertyrannei vegetieren. Deutschlands Verbesserung bezieht sich aus Politik, Bildung und Gesundheitswesen. Das kaschiert Rückschritte in der Wirtschaft. Also der Equal Pay Gap und der Mangel an Frauen in Führungspositionen. Da wir bei den „generations“ eh gerade bei „Z“ angekommen sind, mag man zuversichtlich schauen auf die „Generation Merkels Enkelinnen“.

Die Passagiere des U-Bootes „Titan“ sind wohl tot. Ein Tauchroboter habe Trümmerteile gefunden. Was bedeutet das für die Zukunft des Risikotourismus?

Quelle         :        TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

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Wasserstoff aus Chile

Erstellt von Redaktion am 25. Juni 2023

Schiefes Geschäft mit Wasserstoff aus Chile

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Aus Chile von Sophia Boddenberg

Deutschland will für die Energiewende grünen Wasserstoff aus dem windreichen Chile importieren. Das Land könnte dadurch eigene Umweltprobleme bekommen.

n der Heimat von Alejandro Núñez, der Insel Feuerland im chilenischen Patagonien, weht ein eisiger Wind. Er hat die knorrigen Bäume der Insel schräg zur Seite verbogen. Und er soll der deutschen Wirtschaft dabei helfen, klimaneutral zu werden. Der 45-jährige Tierarzt Alejandro Núñez ist stolz auf seine Heimat. „Ich wünsche mir, dass auch meine Kinder und Enkel noch diese unberührte Natur bewundern können“, sagt er und blickt auf einen See, die Laguna de los Cisnes. Núñez hat sich dafür eingesetzt, dass sie zum Naturschutzgebiet erklärt wurde.

Der südlichste Zipfel des amerikanischen Kontinents, nicht weit von der Antarktis entfernt, wird auch „das Ende der Welt“ genannt. Gletscher und Fjorde zeichnen die Landschaft, in der Königspinguine und Guanakos zu Hause sind. Auch hier macht sich der Klimawandel bemerkbar. Die Temperaturen steigen, es schneit und regnet weniger. Núñez hat die Organisation Ciudadanos y Clima („Bürger und Klima“) gegründet, um gegen den Klimawandel zu kämpfen. Er ist für eine Energiewende. Aber er macht sich Sorgen, dass seine Heimat den Preis für die Energiewende des Globalen Nordens zahlen muss. Obwohl dieser die Klima-krise überhaupt erst verursacht hat.

In der Región de Magallanes, die den chilenischen Teil der Insel Feuerland umfasst – ein anderer Teil gehört zu Argentinien – soll bald grüner Wasserstoff produziert und in die Welt exportiert werden. Tausende von Windrädern, Industrieanlagen, neue Straßen und Häfen sollen in den nächsten Jahren gebaut werden. Wasserstoff ist ein Gas; wenn er mit erneuerbaren Energien hergestellt wird, spricht man von „grünem Wasserstoff“.

Da der Transport in Gasform teuer und die Wege zu den Importländern lang sind, sollen zunächst Folgeprodukte wie Methanol, synthetische Kraftstoffe und Ammoniak exportiert werden, für die es bereits Schiffe und Tanks gibt. In der Nähe von Punta Arenas betreibt das kanadische Unternehmen Methanex eine Methanolanlage und einen Hafen.

Die Hoffnung der deutschen Energiewende

Grüner Wasserstoff soll eine wichtige Rolle in der deutschen Energiewende spielen, weil er vielfältig einsetzbar ist: zum Beispiel als Ersatz von fossilem Gas oder als synthetischer Kraftstoff in Industrie und Verkehr. „Wenn wir nicht 5 oder 10 Prozent der Landesfläche mit Windkraftanlagen vollstellen wollen – das halte ich für absurd – brauchen wir Wasserstoffimporte“, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck im Februar 2022.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, kündigte auf ihrer Südamerikareise im Juni einen Fonds von 225 Millionen Euro an, um Wasserstoffprojekte zu fördern. Bis 2030 will die Europäische Union 10 Millionen Tonnen grünen Wasserstoff jährlich importieren. Mit Chile habe sich die EU darauf geeinigt, „an einer strategischen Partnerschaft für nachhaltige Rohstoffe“ zu arbeiten, sagte von der Leyen auf der Pressekonferenz in Santiago.

Nach Einschätzung des Bundeswirtschaftsministeriums müsste Deutschland etwa 70 Prozent seines Bedarfs an grünem Wasserstoff importieren. Der grüne Wasserstoff könnte zum einen als Basis für die Herstellung von synthetischen Kraftstoffen und Ammoniak eingesetzt werden, beispielsweise in der Stahlherstellung und Chemieindustrie, heißt es in der Nationalen Wasserstoffstrategie. Zum anderen könnte er als Energiespeicher dienen, er lässt sich nämlich wieder in Strom zurückverwandeln.

Derzeit ist die Herstellung von grünem Wasserstoff teuer und energieaufwändig. Deshalb fördert das Bundeswirtschaftsministerium Pilotprojekte in möglichen Partnerländern, die aufzeigen sollen, „ob und wie grüner Wasserstoff und dessen Folgeprodukte dort nachhaltig und wettbewerbsfähig produziert und vermarktet werden können“, heißt es weiter in der Nationalen Wasserstoffstrategie. Der internationale Handel mit Wasserstoff sei „ein bedeutender industrie- und geopolitischer Faktor“. Gefördert werden Projekte in Ländern wie Brasilien, Marokko, Ägypten oder auch in Chile.

Das Land sei ein „Paradies für erneuerbare Energien“, sagt Reiner Schröer, Leiter des Programms für Erneuerbare Energien der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in seinem Büro in einem gläsernen Hochhaus in Santiago de Chile. Das liege zum einen an der „Verfügbarkeit von Flächen“ und zum anderen am starken Wind in Patagonien und der hohen Sonneneinstrahlung in der Atacama-Wüste.

Einer Analyse der GIZ und des chilenischen Energieministeriums zufolge habe Chile das Potenzial, 70-mal so viel Strom aus erneuerbaren Quellen zu erzeugen, wie es für den Eigenbedarf braucht. Das schmale Land in Südamerika könnte demnach die Hälfte des Bedarfs an grünem Wasserstoff von einem Industrieland wie Deutschland abdecken. Chile sei außerdem ein „Experimentierfeld“, das deutschen Unternehmen erlaube, „Technologien zu testen“, so Schröer.

Auch Chile hat eine Nationale Wasserstoffstrategie. Sie sieht vor, dass das Land bis 2030 das wichtigste Produktions- und Exportland von grünem Wasserstoff weltweit werden und diesen zum niedrigsten Preis von 1,50 US-Dollar pro Kilo Wasserstoff anbieten soll. Momentan liegt der Preis zwischen 10 und 15 US-Dollar pro Kilo.

Ein Problem ist bisher noch der lange Transportweg. Einer Studie der GIZ zufolge sind die Produktionskosten von grünem Wasserstoff in Chile aber so niedrig, dass der Transport nur einen Bruchteil der Kosten ausmachen würde. Aber die Schiffe, die den grünen Wasserstoff oder seine Folgeprodukte transportieren sollen, werden derzeit noch mit Schweröl betankt. „Das ist das größte Problem zurzeit, nachhaltige Lösungen für den Schiffstransport zu finden“, sagt Schröer von der GIZ.

Die GIZ berät das chilenische Energieministerium im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums. Mehr als 60 Projekte für die Produktion von grünem Wasserstoff sind in Chile geplant, die vor 2030 in Betrieb gehen sollen.

Ein Rettungsanker für deutsche Sportwagen

Zurück in Patagonien. Rund 30 Kilometer nördlich von Punta Arenas läuft Rodrigo Delmastro über eine Baustelle. Ein eisiger Wind pfeift, Bagger dröhnen und graben Erde aus. Das Zementfundament für das erste Windrad ist bereits gegossen. Es ist die Baustelle eines der Pilotprojekte, die das Bundeswirtschaftsministerium fördert. 8,23 Millionen Euro haben Siemens Energy und Porsche für das Projekt Haru Oni erhalten. Es ist die weltweit erste kommerzielle Anlage zur Herstellung von E-Fuels. Beteiligt sind auch der US-Ölkonzern ExxonMobil, der italienische Energieversorger Enel sowie die chilenischen Unternehmen ENAP und Gasco.

Hier vermisst er gerade die Welt mit seinen Hammelpfoten

Rodrigo Delmastro ist Geschäftsführer des chilenischen Unternehmens Highly Innovative Fuels (HIF), Partner von Porsche und Siemens Energy und verantwortlich für die Projektentwicklung. „In den nächsten zehn Jahren wollen wir hier 14 Millionen Tonnen CO2 aus der Atmosphäre filtern“, sagt er mit vor Stolz glänzenden Augen. Dafür soll das Verfahren „Direct Air Capture“ angewandt werden – eine Technologie, die sich noch im Entwicklungsstadium befindet. Das Ziel des Pilotprojektes sei es, „die verschiedenen Technologien im Produktionsprozess zu integrieren und davon zu lernen.“ Es sei „ein Experiment“.

Während der Pilotphase soll die Anlage 130.000 Liter E-Fuels pro Jahr produzieren, bis 2026 dann bis zu 550 Millionen Liter im Jahr. Die E-Fuels sollen im Motorsport und in Seriensportwagen eingesetzt werden. So will das Unternehmen unter anderem den berühmten Rennwagen Porsche 911 und seinen röhrenden Motorsound retten.

„Wir werden einen Kraftstoff produzieren, der in konventionellen Autos verbraucht werden kann. So muss die Technik des Autos nicht zu einem Elektroauto umgewandelt werden“, sagt Delmastro.

In Deutschland setzt sich vor allem die FDP für den Einsatz von E-Fuels in Verbrennungsmotoren ein. Bundesfinanzminister Christian Lindner von der FDP steht in engem Kontakt mit Porsche-Chef Oliver Blume. Das Verbrenner-Aus in der EU wurde mit einer Ausnahme beschlossen – mit E-Fuels betriebene Neuwagen mit Verbrennungsmotoren dürfen auch nach 2035 zugelassen werden. Und Lindner will für diese Fahrzeuge Steuererleichterungen durchsetzen.

Porsche ist Mitglied der E-Fuel-Alliance, einem Industrieverband von 130 Automobil- und Mineralölunternehmen. Diese haben ein besonderes Interesse an E-Fuels, weil sie den Verbrennungsmotor länger am Leben erhalten und über das bestehende Tankstellennetz vertrieben werden können.

Die Anlage Haru Oni in Punta Arenas hat Lindner schon mehrfach als Vorzeigeprojekt gelobt. Im Dezember 2022 nahm sie ihren Betrieb auf. Angetrieben mit Windstrom spaltet ein sogenannter Elektrolyseur Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff. Der Wasserstoff wird in Verbindung mit aus der Luft gefiltertem CO2 in Methanol und schließlich in E-Fuels verwandelt, strombasierte Kraftstoffe. E-Fuels gelten als „klimaneu­trale Kraftstoffe“, weil beim Verbrennen genau so viel Kohlenstoffdioxid entsteht, wie vorher bei der Herstellung aus der Atmosphäre gefiltert wurde. Was diese Klimabilanz aber nicht berücksichtigt, sind die Emissionen, die der Transport in Tankern verursacht, und die Umweltfolgen bei der Herstellung.

Auswirkungen auf die Umwelt

Auch Alejandro Núñez hat vom Projekt Haru Oni gehört. In der Pilotphase läuft die Anlage mit nur einem Windrad. Langfristig sollen aber große Windparks mit bis zu 1.000 Windrädern entstehen, auch auf der Insel Feuerland, wo Núñez lebt. Er macht sich unter anderem Sorgen um die Vögel, die in den vielen Windrädern sterben könnten. „Ich bin für saubere Energie, aber nicht, wenn dafür die Umwelt zerstört wird“, sagt er.

Außerdem sorgen ihn die Abfälle, die bei der Produktion der E-Fuels entstehen könnten. Chile leidet unter einer schweren Dürre, auch in Patagonien ist das Grundwasser knapp. Für die Elektrolyse wird aber Wasser benötigt. Deshalb wollen die Unternehmen für das Projekt Haru Oni eine Meerwasserentsalzungsanlage bauen. Doch die Anlage produziert nicht nur Wasser, sondern auch ein Abfallprodukt: konzentrierte Salzlake.

In Chile gibt es bereits Meerwasserentsalzungsanlagen, vor allem für den Bergbau im Norden des Landes. Sie leiten die Abfälle ins Meer zurück. Der erhöhte Salzgehalt des Wassers könnte Auswirkungen auf das marine Ökosystem haben, die noch nicht erforscht sind.

Quelle        :         TAZ-online          >>>>>     weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —         Wasserstofffabrik von Praxair, USA

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Unten         —       Christian Lindner, Mitglied des Deutschen Bundestages, während einer Plenarsitzung am 11. April 2019 in Berlin.

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Die Letzte Generation

Erstellt von Redaktion am 25. Juni 2023

„Schluss mit der Präventivhaft“

Von    : Herta Däubler-Gmelin als Gastbeitrag

Herta Däubler-Gmelins Expertise ist gefragt: als Vorsitzende der Berliner Kommission „Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen“ ebenso wie zur Kriminalisierung der Letzten Generation. Die Ex-Bundesjustizministerin (SPD) in einem Exklusiv-Beitrag für Kontext.

Die Aktionen der Letzten Generation spalten die Öffentlichkeit. Viele von uns unterstützen ihre Ziele mit gutem Grund: Wir wissen längst, dass nur noch wenig Zeit bleibt, um die Klimakrise nicht vollends zur Klimakatastrophe zu machen. Wir alle sehen auch, dass die Verantwortlichen in Regierungen und Parlamenten die notwendigen Veränderungen zu zögerlich vorantreiben können, weil der Einfluss der Lobby zu stark und die Trägheit vieler Bürgerinnen und Bürger zu groß ist. Viele lassen sich auch allzu gern von populistischen Beschwichtigern einlullen, obwohl wir jeden Tag mehr erleben, dass jedes weitere Verschieben der längst bekannten überfälligen Entscheidungen doppelt kostet und sich rächen wird.

Also: Alle müssen mehr tun, wir müssen unsere gewohnte Lebensweise verändern. Und zwar bald. Darauf muss immer wieder aufmerksam gemacht werden. Durch bessere politische Kommunikation – das ist eine wichtige Aufgabe nicht nur für Politiker:innen und Parteien, sondern auch für Journalisten, die sich heute viel zu viel darauf begrenzen, genüsslich den Streit und die Konflikte in der Regierung zu beschreiben.

Demonstrationen und Aktionen der Zivilgesellschaft gehören dazu. Die gibt es glücklicherweise, und sie sind, ebenso wie Kritik, nicht nur erlaubt, sondern geradezu Bürgerpflicht. Sie können Öffentlichkeit und Druck erzeugen und auf diese Weise mithelfen, die längst als erforderlich erkannten Änderungen gerade noch rechtzeitig genug umzusetzen.

Mehr Kreativität und Hirn

Das muss gelingen. Die Nachdenklichen unter den jungen Leuten wissen, was alle spüren: Heute wird über ihre Zukunft entschieden. Meine Enkelinnen und Enkel und weitere Generationen müssen die Chance bekommen, auch künftig selbstbestimmt in einer Gemeinschaft mit Freiheit, Schutz und Solidarität leben zu können. Das fordern sie in vielen Demonstrationen und Aktionen, von denen die meisten beeindruckend kreativ sind und bemerkenswert wenig über die Stränge schlagen.

Nicht so manche Aktivitäten der Letzten Generation: Deren Aktionen des zivilen Ungehorsams verletzen häufig Vorschriften, auch Gesetze. Das ist ein Problem, ohne Zweifel; in jedem Einzelfall müssen Ziel und Mittel in rechtsstaatlicher Balance stehen. Ihre Klebeaktionen beispielsweise sind ein Grenzfall. Sie nerven nicht nur die für die Trägheit politisch Verantwortlichen, sondern auch viele „normale“ Bürger, die sich ungern behelligen lassen, obwohl auch sie aufgerüttelt werden müssen: Wer, wie ich, im E-Auto in Berlin (nicht in Tübingen, da hat sich OB Palmer vernünftigerweise mit den Aktivisten auseinandergesetzt) mehr als eine Stunde in einem Kleber-Stau stand, hat für den Zorn vieler Aufgestauter durchaus Verständnis. Allerdings bleibt die Frage unbeantwortet, ob die Empörten, die bei solchen Gelegenheiten am liebsten in die Reporter-Mikrofone beißen würden, sich in den heute normalen verkehrsbedingten Staus vergleichbar echauffieren.

Ich finde auch die Farb- oder Kartoffelbreiattacken auf berühmte Museumsbilder und manches andere schlicht blöd und wünsche mir mehr Kreativität und Hirn, um durch bessere Demonstrationsformen die notwendige Klimapolitik im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu halten und nicht durch die Aufregung über zweifelhafte Methoden abzulenken. Die Forderung der Letzten Generation nach „Bürgerräten“ halte ich für politisch falsch und für eher naiv. Zwar sehe ich, dass damit die Zuständigkeit der verfassungsgemäß gewählten Parlamente keineswegs verdrängt werden soll. Ich sehe jedoch nicht, warum und wie Bürgerräte eine weniger träge oder weniger durch Lobbyisten beeinflusste Klimapolitik durchsetzen könnten. Vorgeschaltete Beratungen von Bürgerräten würden die Willensbildung nur weiter verlängern. Tempo 30 in Ortschaften und Tempo 100 im Übrigen wäre konsequenter und wirksamer.

Söder sollte besser Bäume umarmen

Söder – Holz zu Holz und Hirn zu Hirn

Kritik ist also nicht nur an der Trägheit der Regierenden und unserer Gesellschaft geboten; ich halte auch die Auseinandersetzung über manche Aktivitäten der Letzten Generation für völlig berechtigt!

Aber ist es deshalb vertretbar oder gar richtig, diese Gruppe als „Terroristen“, „Ökoterroristen“ oder Kriminelle abzustempeln, wie das von besonders prägnanten Lautsprechern der politischen Rechten mittlerweile geschieht? Und ist es zulässig, Mitglieder dieser Gruppe durch Polizei und Justiz entsprechend strafrechtlich zu verfolgen? Klare Antwort: nein, ganz sicher nicht.

Quelle       :          KONTEXT-Wochenzeung-online        >>>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     — Mehr Infos: www.mehr-demokratie.de/erfahrungsbericht-karlsruhe.html

2.) von Oben      —     Der Aufstand der Letzten Generation blockiert Straße am Hauptbahnhof, stehend Lina Eichler, Berlin, 28.01.22

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Unten       —

Letzte Generation Löwenbräukeller Munich Dachauer Strasse 2023-06-12

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Die Lobby der Rüstung

Erstellt von Redaktion am 25. Juni 2023

Wer den Krieg anheizt und von ihm profitiert

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Matthew Hoh /   

Wie der militärisch-industrielle Komplex Politik und Medien beeinflusst – Die Kosten und Risiken des Kriegs werden verdrängt.

upg. Keine westliche Provokation rechtfertigt den brutalen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Trotzdem stellt sich die Frage, ob das unermessliche Elend und die flächendeckenden Verwüstungen hätten vermieden werden können.
In einem ersten Teil erinnerte Matthew Hoh an Warnungen schon vor Jahren. In diesem zweiten Teil geht es darum, wer vom Krieg profitiert, wer auf westlicher Seite die Information beeinflusst, welche Kosten und Risiken der Krieg verursacht und wie es um einen Frieden steht.
Neue Märkte für den militärisch-industriellen Komplex

Hinter dem diplomatischen Fehlverhalten und dem damit einhergehenden Grössenwahn (siehe 1. Teil) steht der militärisch-industrielle Komplex der USA (hier und hier und hier).

Vor mehr als 60 Jahren hatte Präsident Dwight Eisenhower in seiner Abschiedsrede vor «dem Potenzial für den verhängnisvollen Aufstieg einer fehlgeleiteten Macht» gewarnt. Er beschrieb damit den immer grösser werdenden Einfluss, wenn nicht gar die Kontrolle der Politik des militärisch-industriellen Komplexes.

Am Ende des Kalten Krieges befand sich der militärisch-industrielle Komplex in einer existenziellen Krise. Ohne einen Gegner wie die Sowjetunion wäre es schwierig gewesen, die massiven Rüstungsausgaben der USA zu rechtfertigen. Die NATO-Erweiterung eröffnete neue Märkte. Die osteuropäischen und baltischen Länder, die der NATO beitraten, mussten ihre Streitkräfte aufrüsten und ihre Bestände aus der Sowjetzeit durch westliche Waffen, Munition, Maschinen, Hardware und Software ersetzen, die mit den Armeen der NATO kompatibel waren. Ganze Armeen, Seestreitkräfte und Luftstreitkräfte mussten neu aufgestellt werden. Die NATO-Erweiterung war ein Geldsegen für eine Waffenindustrie, die ursprünglich die Not als Frucht des Endes des Kalten Krieges sah.

Von 1996 bis 1998 gaben die US-Rüstungsunternehmen 51 Millionen Dollar (heute 94 Millionen Dollar) für Lobbyarbeit im Kongress aus. Weitere Millionen wurden für Wahlkampfspenden ausgegeben. Als die Waffenindustrie das Versprechen der osteuropäischen Märkte erkannte, war es vorbei mit dem Wunsch, die Schwerter zu Pflugscharen zu schlagen.

In einem zirkulären und sich gegenseitig verstärkenden Kreislauf stellt der Kongress dem Pentagon Geld zur Verfügung. Das Pentagon finanziert die Rüstungsindustrie, die wiederum Think Tanks und Lobbyisten finanziert, um den Kongress zu weiteren Ausgaben für das Pentagon zu bewegen. Wahlkampfspenden der Waffenindustrie begleiten diese Lobbyarbeit. Das Pentagon, die CIA, der Nationale Sicherheitsrat, das Aussenministerium und andere Glieder des nationalen Sicherheitsstaates finanzieren direkt die Denkfabriken und sorgen dafür, dass jede Politik, die gefördert wird, die Politik ist, welche die staatlichen Institutionen selbst wollen.

Präsenz in Medien, ohne Interessenkonflikte offenzulegen

Nicht nur der Kongress steht unter dem Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes. Die gleichen Rüstungsunternehmen, die Kongressabgeordnete bestechen und Think Tanks finanzieren, beschäftigen oft direkt oder indirekt die Experten, die in Cable News zu sehen sind und denen in Medienberichten viel Platz eingeräumt wird.

Selten wird dieser Interessenkonflikt von den amerikanischen Medien erkannt. So treten in den Medien Männer und Frauen auf, die ihre Gehaltsschecks Lockheed, Raytheon oder General Dynamics verdanken, und plädieren für mehr Krieg und mehr Waffen. Diese Kommentatoren und Experten geben nur selten zu, dass ihre Wohltäter immens von der Politik für mehr Krieg und mehr Waffen profitieren.

Drehscheibe zwischen Rüstungsindustrie und Regierung

Die Korruption reicht bis in die Exekutive hinein, da der militärisch-industrielle Komplex viele Verwaltungsbeamte beschäftigt. Ausserhalb der Regierung wechseln republikanische und demokratische Beamte vom Pentagon, der CIA und dem Aussenministerium zu Rüstungsunternehmen, Denkfabriken und Beratungsfirmen.

Wenn ihre Partei das Weisse Haus zurückerobert, kehren sie in die Regierung zurück. Dafür, dass sie ihre Rotationskartei mitbringen, erhalten sie üppige Gehälter und Vergünstigungen. In ähnlicher Weise gehen US-Generäle und Admiräle, die aus dem Pentagon ausscheiden, direkt zu Rüstungsunternehmen.

Diese Drehtür erreicht die höchste Ebene. Bevor sie Verteidigungsminister, Aussenminister und Direktor des Nationalen Nachrichtendienstes wurden, waren Lloyd Austin, Antony Blinken und Avril Haines für den militärisch-industriellen Komplex tätig. Im Fall von Minister Blinken gründete er eine Firma, WestExec Advisors, die sich dem Handel und der Vermittlung von Einfluss für Waffenverträge widmete.

Interessen auch der Öl- und Gasindustrie nicht ausblenden

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg gibt es eine breitere Ebene der kommerziellen Gier, die nicht abgetan oder ignoriert werden kann. Die USA versorgen die Welt mit fossilen Brennstoffen und Waffen. Die US-Exporte von Erdölprodukten und Waffen übersteigen inzwischen die Exporte von landwirtschaftlichen und industriellen Erzeugnissen.

Der Wettbewerb um den europäischen Brennstoffmarkt, insbesondere um Flüssigerdgas, war in den letzten zehn Jahren ein Hauptanliegen sowohl der demokratischen als auch der republikanischen Regierungen. Die Beseitigung Russlands als wichtigster Energielieferant für Europa und die Begrenzung der weltweiten Ausfuhren fossiler Brennstoffe aus Russland haben amerikanischen Öl- und Gasunternehmen grosse Gewinne gebracht. Neben umfassenderen kommerziellen Handelsinteressen sind die schieren Geldbeträge, die das amerikanische Geschäft mit fossilen Brennstoffen einbringt, nicht zu vernachlässigen.

Die Kosten des Krieges

Hunderttausende sind wohl bei den Kämpfen getötet und verwundet worden. Die nachhaltigen psychologischen Schäden sowohl bei den Kämpfern als auch bei der Zivilbevölkerung könnten noch grösser sein. Millionen von Menschen wurden obdachlos und leben nun als Flüchtlinge.

Die Umweltschäden sind unabsehbar, und die wirtschaftlichen Zerstörungen beschränken sich nicht nur auf das Kriegsgebiet, sondern haben sich auf die ganze Welt ausgeweitet, die Inflation angeheizt, die Energieversorgung destabilisiert und die Ernährungssicherheit beeinträchtigt. Der Anstieg der Energie- und Lebensmittelkosten führte zweifellos zu einer Vielzahl von Todesfällen weit über die geografischen Grenzen des Krieges hinaus.

Der Krieg wird sich wahrscheinlich zu einer langwierigen Pattsituation mit sinnlosem Töten und Zerstörung entwickeln. Am Schlimmsten wäre es, wenn der Krieg eskaliert – vielleicht unkontrolliert zu einem Weltkrieg und möglicherweise zu einem Atomkonflikt. Egal, was die verrückten Realisten in Washington, London, Brüssel, Kiew und Moskau sagen mögen, ein Atomkrieg ist nicht kontrollierbar und schon gar nicht zu gewinnen. Selbst ein begrenzter Atomkrieg, bei dem vielleicht jede Seite zehn Prozent ihrer Arsenale abfeuert, wird zu einem nuklearen Winter führen, in dem wir zusehen müssen, wie unsere Kinder verhungern. Alle unsere Bemühungen sollten darauf gerichtet sein, eine solche Apokalypse zu vermeiden.

Das Potenzial für Frieden

Die beiden Teile dieser Analyse sollten darlegen, wie Russland die bewussten Provokationen der USA und der NATO wahrnimmt. Russland ist eine Nation, deren derzeitige geopolitische Ängste von der Erinnerung an die Invasionen durch Karl XII., Napoleon, den Earl of Aberdeen, den Kaiser und Hitler geprägt sind.

Karikatur der Lobby im House of Commons (Vanity Fair, ca. 1886)

US-Truppen gehörten zu den alliierten Invasionstruppen, die im russischen Bürgerkrieg nach dem Ersten Weltkrieg erfolglos gegen die siegreiche Seite intervenierten. Historische Zusammenhänge zu kennen, den Feind zu verstehen und strategisches Einfühlungsvermögen für den Gegner zu haben, ist weder hinterlistig noch schwach, sondern klug und weise. Dies wird uns auf allen Ebenen des US-Militärs beigebracht.

Es ist auch nicht unpatriotisch oder unaufrichtig, sich gegen die Fortsetzung dieses Krieges auszusprechen und sich zu weigern, Partei zu ergreifen.

Präsident Bidens Versprechen, die Ukraine «so lange wie nötig» zu unterstützen, darf kein Freibrief für die Verfolgung unklarer oder unerreichbarer Ziele sein. Eine solche Politik könnte sich als ebenso katastrophal erweisen wie die Entscheidung von Präsident Putin im letzten Jahr, seine kriminelle Invasion und Besetzung zu starten.

Es ist moralisch nicht vertretbar, die Strategie zu unterstützen, Russland bis zum letzten Ukrainer zu bekämpfen. Und es ist auch nicht moralisch zu schweigen, wenn die USA Strategien und Politiken verfolgen, welche die erklärten Ziele nicht erreichen können. Dieses sinnlose Streben nach einer Niederlage Russlands im Geiste einer Art von imperialem Sieg aus dem 19. Jahrhundert ist unerreichbar.

Nur ein sinnvolles und echtes Bekenntnis zur Diplomatie mit dem Ziel eines sofortigen Waffenstillstandes sowie Verhandlungen ohne disqualifizierende oder prohibitive Vorbedingungen werden diesen Krieg und das damit verbundene Leid beenden, Europa Stabilität bringen und das Risiko eines nuklearen Krieg ausschliessen.

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Dieser Beitrag erschien am 6. Juni in Substack und in Scheerpost am 9. Juni. Übersetzt und leicht gekürzt von Infosperber, auch mit Unterstützung von Deepl.

Autor Matthew Hoh

Hoh ist seit 2010 Senior Fellow am Center for International Policy in Washington. Im Jahr 2009 trat er aus Protest gegen die Entwicklung des Krieges in Afghanistan von seinem dortigen Posten zurück. Zuvor beteiligte sich Matthew an der Besetzung des Irak, zunächst 2004/5 in der Provinz Salah ad Din mit einem Team des Aussenministeriums für Wiederaufbau und Regierungsführung und dann 2006/7 in der Provinz Anbar als Kompaniechef des Marine Corps. Wenn er nicht im Einsatz war, beschäftigte sich Hoh bis 2008 im Pentagon und im US-Aussenministerium mit den US-Einsätzen in Afghanistan und in Irak.
2022 kandidierte Hoh als Aussenseiter der Green Party für einen Senatssitz in Washington, erhielt aber nur 1 Prozent der Stimmen.

Am 16. Mai 2023 veröffentlichte er als stellvertretender Direktor des Eisenhower Media Network in der NYT einen ganzseitigen offenen Brief unter dem Titel «The U.S. Should Be a Force for Peace in the World». Unterzeichnet hatten ihn 14 ehemalige US-Sicherheitsbeamte, darunter der US-Botschafter in Moskau unter Ronald Reagan. Sie forderten in der Ukraine eine diplomatische Lösung «bevor es zu einer nuklearen Konfrontation kommt». Kurz vorher hatte die Biden-Regierung jegliche Verhandlungen abgelehnt. Zuerst müsse die Gegenoffensive der Ukraine erfolgreich sein.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Oben      —     Karikatur von 1891 zur Lobbyarbeit für Gesetzesentwürfe (engl. bill) bei einem US-amerikanischen Abgeordneten

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KOLUMNE Cash & Crash

Erstellt von Redaktion am 25. Juni 2023

Nur Rationierung ist gerecht

Von Ulrike Herrmann

Wassermangel im Dürresommer. Angeblich leben wir in einer Marktwirtschaft. Doch wenn wichtige Güter knapp werden, hilft die nicht weiter. Dann muss rationiert werden.

Wer bekommt wie viel Wasser? Und wofür? Wie lange darf man noch den Rasen sprengen oder Pools füllen? Solche Fragen werden auch in Deutschland relevanter. In den vergangenen Wochen hat es kaum geregnet, ein Ende der Dürre ist nicht abzusehen. Vor allem im Osten Deutschlands sind die Dürrekarten tiefrot eingefärbt.

Es steht ein Wort im Raum, das eigentlich nur aus Kriegszeiten bekannt ist, wenn alles knapp wird: Rationierung. Ganz selbstverständlich arbeitet die Berliner Umweltsenatorin schon an einem Notfallplan, und auch die BürgerInnen staunen nicht, dass Wasser demnächst staatlich zugeteilt werden könnte.

Diese allgemeine Erwartung an den Staat, dass er die Regie übernehmen soll, ist jedoch längst nicht so naheliegend, wie die meisten BürgerInnen offenbar intuitiv annehmen. Denn angeblich leben wir in einer „Marktwirtschaft“. Zumindest FDP und Union sind davon fest überzeugt. In einer „Marktwirtschaft“ würde jedoch der Preis regeln­, wer wie viel Wasser bekommt. Marktwirtschaft wäre: Wenn Wasser knapp ist, wird es eben teuer. Der Effekt wäre, dass die Reichen weiter ihre Pools füllen und Golfplätze bewässern lassen, weil sie sich die erhöhten Wasserpreise mühelos leisten können. Dafür würde es dann in den armen Quartieren nicht mehr für eine Wassertoilette reichen.

Doch offenbar sind die Deutschen keine Marktwirtschaftler, wenn wichtige Güter wie Wasser knapp werden. Dann soll nicht mehr der Preis regieren – sondern die Gerechtigkeit. Jede soll mehr oder minder das Gleiche bekommen. Wenn die Reichen dann auf Pools und Golf verzichten müssen, haben sie eben Pech gehabt.

Das hat einen sehr rationalen Kern: Deutschland ist eine Demokratie, geht also davon aus, dass alle Menschen gleich sind und daher jeder eine Stimme hat. Dieser fundamentale Gleichheitsgedanke wird auch ökonomisch zentral, wenn es darum geht, wichtige Güter zu verteilen, sobald sie knapp werden.

File:Ulrike Herrmann W71 01.jpg

Nun ist Wasser ein Extrembeispiel, weil Menschen nicht lange überleben können, wenn sie nicht regelmäßig trinken. Da liegt es nahe, auf Rationierung zu setzen, damit alle versorgt sind. Spannend wird es bei Gütern, die nicht unentbehrlich sind. Werden auch sie irgendwann rationiert? Da ist zum Beispiel das Fliegen, ein Lieblingshobby der Deutschen. Schon jetzt ist klar, dass es der Luftfahrt in den nächsten Jahrzehnten nicht gelingen wird, klimaneutral zu werden. Klimaneutralität ist nur möglich, wenn man aufs Fliegen verzichtet. Software-Milliardär Bill Gates weiß auch schon, wie er dieses Problem gern lösen würde: Kerosin muss eben sehr teuer werden. Dann könnte er weiterhin mit seinen Privatjets fliegen, während der große Rest finanziell überfordert wäre und am Boden bleiben muss.

Quelle        :       TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben      —     Left: „Um, gee… how many people came up trying to pass off little scribbled notes saying, „I.O.U. $3.00. Sincerely, Jon Doe?!“ Well, at least I thought it was funny.

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Eine bittere Kiwi Ernte

Erstellt von Redaktion am 24. Juni 2023

Die pontinische Ebene gehört zu den fruchtbarsten Gegenden Italiens. 

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Von  :    CHARLOTTE AAGAARD   —   KUSUM ARORA  —  FRANCESCA CICCULLI   —   STEFANIA PRANDI

Hier werden Kiwis angebaut, die in ganz Europa gegessen werden. Auf den Feldern arbeiten viele Inder. Oft unter unwürdigen Bedingungen, gefan­gen in einem System aus Schulden und Angst.

Sie kamen am Morgen kurz vor Sonnenaufgang. Der abgelegene Bauernhof außerhalb von Borgo Sabotino, einer 2.000-Einwohnergemeinde südlich von Rom, lag noch in der Dunkelheit. Es war der 17. März 2017. Ein Datum, das Balbir Singh nie vergessen wird.

In der Dunkelheit tauchten zwölf bewaffnete Männer auf. „Ich hatte wirklich Angst“, erzählt Balbir Singh. „Der Hofbesitzer rief mir zu, ich solle weglaufen. Aber das tat ich nicht.“ Und darüber ist er heute froh.

Die Männer in Zivil zeigten ihm ihre Ausweise. Es waren italienische Polizisten. Sie baten Balbir Singh mitzukommen. „Meine Kleidung war schmutzig. Ich hatte tiefe Wunden an Händen und Füßen, meine Nägel bluteten. Aber es war ein großer Tag“, sagt Balbir Singh. „Kurz vor unserer Abfahrt sah ich, dass die Polizisten den Bauern und seine Frau verhaftet hatten.“

Sechs Jahre Ausbeutung mit Gewalt, Drohungen, ausbleibender Bezahlung, Hunger und Entbehrungen hatten für Balbir Singh, einen ehemaligen Englischlehrer und langjährigen Landarbeiter aus der indischen Region Punjab, damit ein Ende. „Sechs Jahre in der Hölle“, nennt er die Zeit heute.

Sie endete, als er über einen indischen Landsmann Kontakt zu dem italienischen Soziologen und Menschenrechtsaktivisten Marco Omizzolo bekam. Omizzolo lehrt Sozialanthropologie an der Universität La Sapienza in Rom. Er setzt sich seit Jahren für die Rechte indischer Landarbeiter in Italien ein, dokumentiert Missstände und bringt sie zur Anzeige. 2016 organisierte er den ersten größeren Streik indischer Arbeiter in Italien mit. Wegen seines Engagements erhält er oft anonyme Drohungen, sein Auto wurde mehrmals beschädigt. Seit Jahren steht Omizzolo unter Polizeischutz, aus Sicherheitsgründen wohnt er selbst heute nicht mehr in der Region.

Omizzolo sorgte dafür, dass Balbir Singh über seinen indischen Bekannten ein Handy bekam, mit dem er ihm die Zustände auf dem Bauernhof über mehrere Wochen immer wieder schildern konnte. Mit den Informationen ging Omizzolo schließlich zur Polizei.

„Ich habe jeden Tag 12 bis 13 Stunden gearbeitet, sieben Tage die Woche“, erzählt Balbir Singh im Gespräch. „Obwohl ich nie einen freien Tag hatte, wurde mein Lohn immer weiter gekürzt. Am Ende gab es mehrere Monate, in denen ich überhaupt kein Geld mehr bekam.“ Er habe sich aus Geldmangel lange Zeit von altem Brot ernähren müssen und Essen aus Resten gekocht, die die Familie weggeworfen hatte. Er wohnte in einem alten Wohnwagen ohne Strom oder Heizung. Wenn er duschen wollte, erzählt er, habe er das im Stall tun müssen, nachdem alle anderen auf dem Hof bereits zu Bett gegangen waren oder bevor sie morgens aufstanden.

Es mag ein extremer Fall sein, was Balbir Singh erlebte, aber seine Geschichte zeigt, wie verletzlich indische Landarbeiter sind, wenn sie auf der Suche nach Arbeit nach Italien kommen – ohne Geld, ohne Sprachkenntnisse, oft mit hohen Schulden bei zwielichtigen Vermittlern und mit der ständigen Angst, ihre Aufenthaltserlaubnis wieder zu verlieren. Balbir Singh ist einer der wenigen, der sich wehrte und seinen ehemaligen Chef vor Gericht brachte.

Er ist der erste Migrant, dem in Italien eine Aufenthaltserlaubnis „aus Gründen der Gerechtigkeit“ erteilt wurde. Diese soll sicherstellen, dass er auf jeden Fall bis zum Ende des Gerichtsprozesses im Land bleiben kann. Ein rechtskräftiges Urteil steht in seinem Fall noch aus. Bei Prozessen mit Berufung kann es mehrere Jahre dauern, bis eine Entscheidung durch alle Instanzen gegangen ist.

In den vergangenen dreißig Jahren sind viele Inder auf der Suche nach Arbeit in die Agro Pontino, die pontinische Ebene, einem Gebiet südöstlich von Rom, gekommen. Offiziell gibt es in der Region Latina, in der die pontinische Ebene liegt, heute 9.500 indische Arbeiter. Nimmt man diejenigen dazu, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, die in benachbarten Regionen leben oder die noch nicht in der Statistik auftauchen, weil sie erst sehr kurz im Land sind, könnte die Zahl bei 30.000 liegen, schätzt Marco Omizzolo.

Auf den Straßen der Region sieht man oft indische Arbeiter mit bunten Turbanen, die mit ihren Fahrrädern von einem Feld zum nächsten fahren. Die meisten von ihnen sind als Arbeiter im Obst- und Gemüsesektor beschäftigt. Die Gegend ist eine der fruchtbarsten Italiens. Zu den beliebtesten Exportprodukten der pontinischen Ebene gehören Kiwis, die in Supermärkten in ganz Europa zu finden sind, auch in Deutschland.

Bei unseren Fahrten durch die Dörfer hören wir viele Geschichten über Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch. Aber nur wenige Betroffene trauen sich, offen zu sprechen, vor allem gegenüber Fremden und Journalisten sind sie zurückhaltend.

Durch zahlreiche anonymisierte Gespräche mit Arbeitern sowie Interviews mit Gewerkschaftern und Wissenschaftlern entsteht aber ein Bild: Die grünen Felder der pontinischen Ebene sind eine Landschaft, die geprägt ist von irregulären Verträgen und unzureichenden Löhnen.

Ein Opfer dieser Ausbeutung war Joban Singh. Sein Fall sorgte für Schlagzeilen. Er nahm sich im Juni 2020 das Leben. Wie viele indische Arbeiter war Joban Singh Opfer von Menschenhandel geworden. Er geriet in die Fänge eines kriminellen Netzes von Reise- und Arbeitsvermittlern, Mittelsmännern, Gemeindevorstehern und korrupten Beamten. Er soll 10.000 Euro Schulden aufgenommen haben, um nach Italien zu gelangen. Weil er – nach Aussage mehrerer Bekannter – nur schwarz beschäftigt wurde, sollen ihm immer wieder Teile seines Lohns vorenthalten worden sein.

Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Es gibt immer wieder Suizide. Erst im Oktober 2022 haben sich zwei indische Arbeiter, die noch nicht einmal 25 Jahre alt waren, auf den Bauernhöfen der Region das Leben genommen, wie Lokalzeitungen berichteten.

Um nach Italien zu gelangen, zahlen indische Arbeiter umgerechnet bis zu 15.000 Euro an indische Vermittler. Dafür müssen sie sich bei Bekannten und Verwandten Geld leihen oder – falls sie das besitzen – Land, Kühe und Familienschmuck verkaufen. Die meisten stammen aus dem indischen Bundesstaat Punjab. Der Monatslohn für Menschen, die körperlich arbeiten, liegt dort zwischen 80 und 120 Euro. Deshalb ist Italien, wo ein indischer Arbeiter im Durchschnitt 863 Euro pro Monat verdient, für viele attraktiv – trotz der Ausbeutung, trotz der hohen Schulden.

In den Sikh-Tempeln in den Städten Velletri, Cisterna und Pontinia trifft sich die indische Gemeinde sonntags. Das Wort „Schulden“ wird bei unseren Gesprächen, obwohl es sehr viele hier betrifft, nur verschämt geflüstert. Viele Tempel wurden in alten Lagerhallen eingerichtet, die später renoviert und zu Gotteshäusern umfunktioniert wurden. Der Tempel in Velletri zum Beispiel besteht aus einem einzigen großen Raum mit rosafarbenen Wänden, einem mit Teppichen bedeckten Boden und buntem Papier, das an der Decke hängt. Der Altar im hinteren Teil des Raumes ähnelt einem Himmelbett. Von dort aus liest der Gottesdiener – der Granthi – aus dem heiligen Buch.

Im Tempel werden tagsüber Mahlzeiten für die Gläubigen und Bedürftige zubereitet. Die Menschen essen gemeinsam auf dem Boden eines großen Raums. Junge Leute verteilen Essen und Trinken. Ein Arbeiter erzählt, er habe zwei Jahre lang im Tempel gelebt, weil er weder Miete, Essen noch Strom bezahlen konnte. Mittlerweile habe er eine eigene Unterkunft. In den zwanzig Jahren, die er in Italien verbracht hat, habe er aber Hunderte Menschen kennengelernt, die in der gleichen Situation waren wie er.

Sikh-Arbeiter werden auf den Feldern und Bauernhöfen der pontinischen Ebene oft durch die Strategie der „grauen Arbeit“ ausgebeutet. Dabei werde der Lohn in zwei Teile gesplittet – ein Teil gehe in die Lohntüte, der andere Teil werde schwarz in bar ausgezahlt, erklärt Marco Omizzolo. Die Landwirte würden so weniger Sozialbeiträge und Steuern zahlen.

Eine andere Methode der Ausbeutung ist das sogenannte Jo-Jo-Gehalt. „Manche Chefs überweisen den Lohn auf das Bankkonto der Arbeiter, zwingen sie aber dann, zu einem Geldautomaten zu gehen, 200 bis 300 Euro abzuheben und sie an den Arbeitgeber zurückzuzahlen“, sagt Omizzolo.

Außerdem gibt es Arbeiter, die gezwungen werden, sieben Tage in der Woche 10 bis 11 Stunden am Tag auf den Feldern zu arbeiten. Teils ohne Zugang zu richtigen Toiletten und ohne regelmäßige Pausen. Vorgeschriebene Schutzausrüstung wie Handschuhe und Masken für den Schutz vor Pestiziden fehlten oft, sagt Omizzolo.

Immer wieder gibt es Berichte über Fälle von physischer und psychischer Gewalt. Wer protestiert oder rebelliert, riskiert eine sofortige Entlassung und Vergeltungsmaßnahmen. Einige Sikh-Arbeiter wurden auf dem Weg zu den Feldern von Autos angefahren, andere ausgeraubt oder verprügelt.

Zu der Angst vor Gewalt tritt oft noch der Albtraum der Illegalität hinzu: Ohne einen regulären Arbeitsvertrag ist es nicht möglich, eine Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, um legal in Italien zu leben. Deshalb würden so viele Arbeiter die Ausbeutung über so viele Jahre akzeptieren, sagt der Generalsekretär des nationalen Gewerkschaftsbunds CGIL, Giovanni Gioia.

Nur langsam hätten sich in den vergangenen Jahren auch ein paar Dinge verbessert, sagen Omizzolo und Gewerkschaftsvertreter. Es gab zaghafte Ansätze eines Teils der indischen Arbeiter, mehr Rechte einzufordern. Beim ersten Streik der Sikh-Arbeiter 2016 gingen Tausende in der Provinz Latina auf die Straße, der Streik führte zu einer Erhöhung der Stundenlöhne von ursprünglich 2,50 auf jetzt 6 Euro pro Stunde.

Zudem wurden Organisationen wie „Tempi Moderni“ gegründet, die den Arbeitern kostenlosen rechtlichen und medizinischen Beistand anbieten. Auch ist in der Region Latina die Zahl der Prozesse gegen Unternehmer gestiegen, die der „caporalato“-Kriminalität, der Vermittlung und Beschäftigung von Schwarzarbeitern, angeklagt sind – auch wenn es noch wenige Urteile in dem Bereich gibt.

Die Agrarunternehmer fänden auch neue Wege, um das Ausbeutungssystem am Laufen zu halten, sagt Marco Omizzolo. Sie schalteten etwa Anwälte ein, die ihnen helfen würden, Gesetze und Arbeitsschutz zu umgehen. Und die Arbeiter haben weiterhin Angst, die Ausbeutung anzuprangern.

Auch Balbir Singh war zunächst zurückhaltend, mit uns zu sprechen. Das erste Mal trafen wir ihn im Sommer 2022 in einer Unterkunft, in der er damals mit drei indischen Landsleuten lebte. Er arbeitete nun auf Kiwifeldern. Wir trafen ihn in der Mittagspause, als ein kleiner Ventilator versuchte, die Luft zu kühlen, aber die schwüle Julihitze durch das offene Fenster hereinströmte. Er zeigte uns einen Korb mit kleinen unreifen Kiwis, die er am selben Morgen gepflückt hatte.

Zwischen Juli und Dezember sind die indischen Arbeiter in der pontinischen Ebene hauptsächlich mit Kiwis beschäftigt, die wegen ihrer rentablen Produktion auch als „grünes Gold“ bezeichnet werden. Italien produziert 320.000 Tonnen Kiwis pro Jahr und exportiert sie in fünfzig Länder. Das Land ist der größte europäische Kiwiproduzent und der drittgrößte weltweit, nach China und Neuseeland. Ein Markt, der insgesamt über 400 Millionen Euro wert ist.

Balbir Singh nahm drei Kiwis in die Hand und erklärte uns, wie man die Pflanze reinigt und worin der Unterschied zwischen den Kiwisorten besteht – grün, gelb und rot. Aber als wir ihn fragten, wie er und seine Kollegen jetzt auf den Plantagen, auf denen sie arbeiteten, behandelt werden, schaute er weg und gab nur vage Antworten.

Queller           :        TAZ-online         >>>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Der Süden der Pontischen Ebene bei Terracina (Parco Nazionale del Circeo)

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Down with the Crown

Erstellt von Redaktion am 24. Juni 2023

Graham Smith: Abolish the Monarchy

File:Coronation of Charles III and Camilla - King's Procession (02).jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von       :        Jonathan Eibisch

Ein besserer Verkaufs-Coup hätte Graham Smith für sein erst im Juni erscheinendes Buch Abolish the Monarchy nicht gelingen können.

Der Autor und Initiator einer Kampagne gegen das englische Könighaus wurde beim Protest gegen die Krönung von König Charles verhaftet.

Gewürdigt werde sollte so viel Raffinesse schon, zumal damit einer nach wie vor recht kleinen Protestbewegung gegen die Relikte vormoderner Herrschaft, Beachtung gezollt wird.

Schade allerdings, dass hier vor allem liberale Republikaner die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Viel schöner wäre es doch, wären in der ersten Reihe des Protestes gegen das Könighaus auch ausgewiesene Anarchist*innen. Andererseits haben diese weit weniger Ressourcen zur Selbstinszenierung und widmen sich wohl auch weit basaleren Auswüchsen der Herrschaftsordnung, als der lächerlichen Inszenierung einer vermeintlich guten, traditionell abgesicherten und weisen Führungsriege.

Schade, denn sonst hätte man statt Protest mit Schildern und den Rufen „Not my king“, lieber ein Parallelspektakel aufführen können: Im wahrsten Sinne, Karneval. Allernort wählen die Bewohner*innen jährlich den einfältigste Trottel ihrer Gemeinschaft, dem zugleich die Bauernschläune innewohnt, zum Dorfkönig. Der Ort der souveränen Macht wird entleert und entehrt, wenn das simpelste und närrischste Menschlein auf den Thron gehoben wird und bei Bedarf wieder ausgewechselt werden kann. – Das wäre doch mal eine nette Protestform gewesen, mit der über das Symbolische hinaus vielleicht sogar etwas Chaos hätte gestiftet werden können…

Die Argumentation des Geldes wegen verstehe ich nicht wirklich: Ob die Krönungszeremonie am 06. Mai 100 oder 25 Millionen Pfund gekostet haben soll, welche die steuerzahlenden Bürger*innen aufbringen, während der Hochadel ja ohnehin genug Geld zur Verfügung hat – wen interessiert es? Beziehungsweise, wen wundert es? Wenn es sich um einen echten König handelt, stellt sich doch gar nicht die Frage, ob die Kosten für die Produktion seines imaginären Status als Personifikation eines abstrakten Herrschaftsgefüges vom Volk getragen werden. Der König schöpft Souveränität aus sich selbst heraus, sowie der Adel seinen sozialen Status ja nicht begründen muss, sondern sich auf diesen als unhinterfragbaren Selbstzweck berufen kann. Der König schöpft seine Souveränität aus sich selbst heraus, so wie das Volk seine Souveränität daraus schöpft, den König zu enthaupten.

Und wenn ich hier „König“ sagen, meine ich heruntergebrochen eine, neben neuen dazugekommenen Dynastien, einflussreiche Kaste von privilegierten Reichen. Es wäre längst an der Zeit gewesen, diesen Humbug ihrer alberne Selbstinszenierung in den letzten Jahrzehnten abzuschaffen. Wenn nicht genug verlorene Seelen ihrem romantisch-verkitschtem Affekt folgen und ihrem herangezüchteten Idiotenbewusstsein nachgeben würden. Lieber wollen diese erleben, Teil einer verklärtem Geschichte zu sein, als die Anstrengung aufwenden, ihre Geschichten selbst zu schreiben. Das Volk ist ein jämmerlicher Haufen, dessen Phantasie in Schlaraffenländer abschweift, aber sich kaum vorstellen kann, dass es sich seine Regeln einfach selbst geben könnte. Häufig wollen die Leute ihren König wie ihr Bier, ihren Fussball, ihre Unterhaltung und ihre Kümmerer – ob Pfarrer, Sozialarbeiter, Yogalehrer, Friseur oder Psycho- oder Physiotherapeuten.

Graham Smith: Abolish the Monarchy. Transworld Digital 2023. 261 Seiten. ca. SFr. 12.00.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —        Charles und Camilla während der Krönungszeremonie am 6. Mai 2023.

Author Katie Chan        /       Source    : Own work        /         Date       :      6 May 2023,

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Klimaproduktion Bewegung

Erstellt von Redaktion am 24. Juni 2023

Die Überschneidungen von nomadischem Land und nomadischer Arbeit im Zeitalter des Sesshaftwerdens

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Quelle        :     Berliner Gazette

Von          :       · 20.06.2023

Das Schicksal nomadischer Kulturen offenbart den Geist des (Staats-)Kapitalismus besonders deutlich: Die erzwungene Eingliederung der Nomaden in soziale Strukturen, die die Sesshaftigkeit privilegieren, ist eng mit der Enteignung von Land und Arbeit verbunden. Der zerstörerische Charakter dieses Systems zeigt sich in der Verarmung der ehemaligen Nomaden sowie dem Erosion ihrer Werte und Praktiken, die andere, nachhaltige Formen der Arbeit und der Klimaproduktion ermöglichen würden, wie die Künstlerin und Forscherin Shuree Sarantuya in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe „Allied Grounds“ argumentiert und dabei auf die Kämpfe nomadischer Völker in China, Russland und der Mongolei eingeht.

Die Fabel „Drei kleine Schweinchen“ erzählt die Geschichte von drei Schweinen und einem großen bösen Wolf, der ihre Häuser angreift. Der Wolf zerstört die Häuser der ersten beiden Schweine, die aus Stroh und Stöcken gebaut sind, aber er kann das Haus des dritten Schweins, das aus Ziegeln besteht, nicht zerstören. Die Ideologie, die der Fabel zugrunde liegt, ist glasklar: Sie unterstützt die Standardisierung von Konzepten wie Obdachlosigkeit und entwertet die nomadische Logik, der zufolge Nomaden niemals obdachlos sein können, weil ihr Zuhause immer mit ihnen reist. Darüber hinaus bemäntelt die Ideologie der Fabel das rassische Kapitalozän, das durch die Ausbeutung von Arbeit und Natur als Werkzeuge der Assimilierung die Umwandlung von Weideland in unhaltbare Lebensräume und Industrien ermöglicht hat. So arbeiten Ex-Nomad*innen in großem Umfang in arbeitsintensiven Sektoren wie der mineralgewinnenden Industrie, dem Anbau/Pflanzung und militärischen Diensten, weil sie sich dadurch finanzielle Unabhängigkeit und Integration in eine sesshafte Gesellschaft versprechen.

Dies ist der toxische Rahmen, in dem sich die Kämpfe von noch Nicht-Sesshaften, ethnischen Minderheiten und indigenen Gemeinschaften abspielen. Die letzten nomadischen Völker Süd-, Zentral- und Nordasiens leben heute in Jurten, Tipis oder Holzhütten und nutzen moderne Technologien, um Komfort und Modernität zu erreichen. Diese Techno-Nomaden können mobil und autonom sein, mit ununterbrochenen Verbindungen zur menschlichen und nichtmenschlichen Welt. Die nomadische Landmobilität basiert auf einer geschickten Wahrnehmung der Ökosphäre und ihrer Ressourcen. So gründen nomadische Völker ihre Ehrfurcht (vor bewohnbarem Land) auf ihr Wissen um die Kommunikation zwischen den Arten und eine indigene Wahrnehmung der tiefen Zeit.

Das Nebeneinander von nomadischen und sesshaften Gesellschaften konnte durch die herrschende Klasse instrumentalisiert werden: Erfolgreich konnten immer wieder Ängste vor der „Unmoderne“ geschürt und Assimilationspolitik, Monokulturwirtschaft, Umweltrassismus und neokoloniale Probleme gefördert werden. Wenn wir uns mit den Konflikten der letzten nomadischen oder ehemals nomadischen Völker Chinas, der Mongolei und Russlands befassen, müssen wir ihre komplexe Geschichte der Sesshaftwerdung und Kolonisierung durch kommunistische und sozialistische Bewegungen im letzten Jahrhundert verstehen.

Landverlust und kulturelle Assimilierung in der Inneren Mongolei

Die Innere Mongolei, eine 1947 vom kommunistischen Regime Chinas eingerichtete autonome Region, blickt auf eine lange Geschichte von Konflikten zwischen nomadischen Hirten und sesshaften Bäuer*innen zurück. In diesem Konflikt ist die Enteignung und Einfriedung von Land eng mit kultureller Assimilation verbunden, wie nach der Besatzung durch Japan im Zweiten Weltkrieg deutlich wurde, als die Region zu einem Testgebiet für die Integration von Han-Chinesen und Mongolen wurde.

Die Innere Mongolei ist nicht nur für ihre Viehzucht bekannt, sondern auch für ihre riesigen Kohlevorkommen. Im Jahr 2011 führte die Ausweitung einer Kohlemine auf Weideland zu Protesten und Demonstrationen der Hirten in Bayannuur. Die Frustration und die Angst, ihr Land zu verlieren, motivierten auch 2020 Proteste, als die chinesische Regierung plante, das Weideland in Bairin Left Banner in ein Naturschutzprojekt umzuwandeln.

Später im selben Jahr wurde im Rahmen der „Zweisprachigen Erziehung der zweiten Generation“ der Mongolischunterricht an den Schulen der Inneren Mongolei verboten. Nach Angaben des südmongolischen Menschenrechtsinformationszentrums wird das Verbot im September dieses Jahres in Kraft treten; es verbietet den Lehrer*innen auch die Teilnahme an und die Organisation von Unterricht. Die systematische Assimilierung nomadischer, indigener und ethnischer Minderheiten durch die Auslöschung von Ökosystem und Kultur, vor allem von Sprache und Religion, findet nicht nur in der Inneren Mongolei statt, sondern auch in Gemeinschaften wie den Uiguren (und anderen muslimischen Gemeinschaften) und den Tibetern.

Die Bodendegradation in der Inneren Mongolei ist in erster Linie auf den übermäßigen Ressourcenverbrauch zurückzuführen, der durch immer exzessivere Produktionszyklen verursacht wurde, begleitet von Bevölkerungszuwachs und der Abkehr von der nomadischen Viehwirtschaft. Andererseits hat die Innere Mongolei laut der Bewertung der Landdegradation zwischen 2000 und 2020 eine Netto-Landdegradation von Null erreicht. Untersuchungen über die Auswirkungen des vom Wind verwehten Staubs zeigen, dass die Innere Mongolei über ein Ökosystem verfügt, das die Ausbreitung von Staub verhindert und als ökologische Barriere gegen die Bodendegradation wirkt.

Derweil haben Überkultivierung, Bergbau und Industrialisierung die nomadischen Völker in eine Wettbewerbswirtschaft gedrängt, in der der niedrigste Preis das Rennen macht. Die traditionell abgelegenen Minderheitengruppen sind heute in städtischen Gebieten konzentriert, wo sie aufgrund von Umweltrassismus und erzwungener Integration eine Monowirtschaft betreiben.

Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in der postkolonialen Mongolei

Nach dem Ende der Kolonisierung durch die Qing-Dynastie im Jahr 1911 kam die Äußere Mongolei bis zur demokratischen Revolution von 1990 unter sowjetische Kontrolle. Diese friedliche Revolution führte dazu, dass die Mongolei ein Mehrparteiensystem einführte, das die Beteiligung mehrerer politischer Parteien an der Regierung des Landes ermöglichte.

Das unerbittliche Streben nach Akkumulation durch die Oberschicht und die Mächtigen hat jedoch zu einer korrupten Wirtschaft und zur Ausbeutung derjenigen aus der Arbeiter*innenklasse geführt, die von Lohn zu Lohn oder von Schulden zu Schulden leben. Die Produktion von Raum bringt diese Ungleichheiten zum Ausdruck und verschärft sie noch: Während die ländlichen Gebiete außerhalb der Hauptstadt immer noch unterentwickelt sind, abgesehen von einigen wenigen Shangri-La-artigen Gemeinden, die sich um die Rohstoffsektoren herum ansiedeln, ist die Hauptstadt selbst eine neoliberale Mischung aus Jurtensiedlungen und hyperurbanen Gebieten, die einem „umgedrehten Topf“ ähnelt (ein mongolisches Sprichwort, das bedeutet, dass man in der Hölle unter einem riesigen Topf festsitzt).

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Im Dezember 2023 kam es in Ulaanbaatar (Mongolei) zu Protesten gegen die so genannte „Kohlemafia“, die 380.000 Tonnen Kohle für den Export nach China gestohlen hatte. Die Menschen brachten ihre Frustration mit gewalttätigen Ausbrüchen, friedlichen Demonstrationen und Sitzstreiks bei minus 25-30 Grad zum Ausdruck. Sie kritisierten die Staatsbeamt*innen und gaben ihnen die Schuld an der gestohlenen Zukunft der Mongolei.

Während die Menschen in der Mongolei geduldig auf die Verfolgung der Kohlediebe warten, stellt sich eine dringende Frage: Wen machen wir für die Nutzung unethischer fossiler Brennstoffe zur Energieversorgung der größten Umweltverschmutzer*innen der Welt verantwortlich? Im Rahmen des Engagements der Mongolei für die Ziele der nachhaltigen Entwicklung der Vereinten Nationen will das Land bis 2030 eine Milliarde Bäume in von Wüstenbildung betroffenen Regionen pflanzen. Dank der Spende der Unternehmen des Bergbaukonglomerats im Süden der Mongolei sind die Menschen gespannt auf die neuen Beschäftigungsmöglichkeiten, die das Milliarden-Baum-Projekt mit sich bringen wird.

Einige Gemeinschaften, die sich an den Rhythmus ihrer Umgebung angepasst haben, sehen sich jedoch mit den unbotmäßigen Anforderungen des rassischen Kapitalismus und dem Fehlen einer nachhaltigen Infrastruktur konfrontiert. Auf der Suche nach Stabilität und einem sicheren Einkommen sehen sich viele Ex-Nomad*innen mit der harten Realität der Armut oder sogar einer Rückkehr in die Zeiten der Kolonialherrschaft konfrontiert. Nomadisches Wissen und Traditionen werden als unvereinbar mit einem System angesehen, das Arbeit und Ressourcen in unhaltbarem Maße ausbeutet. Der Zusammenprall zwischen nomadischer Existenz und den Erfordernissen des rassischen Kapitalismus wirft Fragen nach der Vereinbarkeit verschiedener Lebensweisen und der Dringlichkeit des Widerstands gegen ein einzigartiges Arbeits- und Produktivitätsmodell auf.

Koloniales Erbe und Umweltkämpfe in Nordasien

Russlands Kolonisierung Nordasiens nahm im 19. und 20. Jahrhundert ihre endgültige Form an. Nomadische Stämme, die von Jagd, Viehzucht und Fischfang lebten, konnten nun mit Hilfe der Transsibirischen Eisenbahn ihren Übergang zu einer sesshaften Lebensweise durch Bergbau, Metallurgie, Maschinenbau, Holzfällerei und Landwirtschaft finanzieren. Es wurden Institutionen geschaffen, um die lokale Kultur, den Glauben und die Heilpraktiken auszurotten. Gleichzeitig schuf die russische Regierung Schutzgebiete für die indigenen Völker. Die nicht nachhaltigen Methoden der Klimaproduktion führen jedoch zu Umweltkatastrophen, die alle Ökosysteme rund um Nordasien und die arktischen Regionen betreffen.

Die teilweise militärische Mobilisierung der russischen Bevölkerung im Jahr 2022 erforderte hohe Einberufungsquoten in den Reihen ethnischer Minderheiten wie den türkischen, mongolischen, paläo-sibirischen und muslimischen Gemeinschaften. Die autonomen Regionen Russlands setzen sich aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammen, darunter nomadische (halbnomadische) und indigene Völker. In diesen Regionen und Krais gibt es sesshafte Siedlungen, die ein Überbleibsel der sowjetischen Moderne sind. In Gebieten wie Dagestan, Jakutien und Burjatien hat die Kombination aus Kriminalisierung von Kriegsgegnern und wirtschaftlicher Instabilität dazu geführt, dass die meisten Männer vor der Wahl stehen, entweder zu fliehen oder sich dem Militär anzuschließen, um an den laufenden Kriegsanstrengungen teilzunehmen. Diese einheimischen Männer Russlands und ihre Arbeitskraft werden im Zusammenhang mit dem Kriegsdienst geschätzt oder sogar als möglicher Sündenbock benutzt, wenn ein Kriegsverbrechen zu verantworten ist. Die heutigen rassistischen Regierungen und Institutionen, die rassifizierte und oft marginalisierte Gruppen in Kriegen einsetzen, erinnern uns nicht zuletzt daran, dass während des Ersten (und später des Zweiten) Weltkriegs Afroamerikaner im Militär dienten, um als Musterbürger in die Gesellschaft integriert zu werden.

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Es liegt auf der Hand, dass diese Art des Bevölkerungsmanagements auch eng mit der Enteignung und Einhegung von Land verbunden ist – und Russlands aktueller Angriffskrieg erinnert nur allzu deutlich an den Wert, den Land (hier als „Territorium“ valorisiert) seit der Wirtschafts-, Finanz- und Nahrungsmittelkrise von 2007 erlangt hat. Die Quintessenz ist, dass das heutige Wirtschaftswachstum eine homogene Zivilisation begünstigt, die einen immensen Wert auf Arbeitskräfte legt, die bereit sind, sich und/oder ihr Land zu opfern.

Wert aller Wesen, Dinge und Entitäten

Staatliche Rohstoffkonzerne üben einen großen Einfluss auf die so genannten ländlichen Gebiete Nordasiens aus. Eine Verwaltung, die den Wert von unbebautem Land missachtet, hat die Anhäufung von Macht auf Kosten ethnischer Minderheiten, nomadischer Gruppen und indigener Arbeiter*innen durchgesetzt und damit deren Rechte untergraben und ihre Lebensweise bedroht. Untersuchungen am Bolshoe-Toko-See haben ergeben, dass die Spuren der industriellen Tätigkeit selbst in den entlegensten Gebieten Russlands zu finden sind. Die durch kapitalistische Aktivitäten verursachte Umweltzerstörung beeinträchtigt die lokalen Gemeinschaften, die biologische Vielfalt und die langfristige Nachhaltigkeit des Landes. Ohne einheimische Praktiken der Rekultivierung und des ethischen Konsums werden die biotischen und abiotischen Wechselwirkungen irreparabel gestört, sowohl in der menschlichen Zeit als auch in der Zeit der Globalisierung.

Das Streben nach Wirtschaftswachstum, das oft auf Kosten von Randgruppen und der Umwelt geht, ist ein zentrales Politkum, das die zerstörerischen Folgen der Globalisierung und die Erosion kultureller Identitäten aufzeigt, die immer mit alternativen Arbeitsmodellen und dem Umgang mit der Umwelt verbunden sind. Dieser Prozess der Zerstörung und Erosion wird als unvermeidlich dargestellt, auch aufgrund imaginärer äußerer Bedrohungen. Die Geschichte „Die drei kleinen Schweinchen“ ist ein Beispiel für diese Tendenz. Der aggressive Wolf ist das Tier, das eine Gefahr von außen darstellt, nicht von innen. Und wir sollen das instinktive Bedürfnis verspüren, uns vor diesem räuberischen Außenseiter zu schützen, was den Wunsch widerspiegelt, Sicherheit und Schutz in unserem Zuhause zu finden. Aber leben heutzutage nicht sogar Vögel in ihren Vogelhäusern, weil sie ihr Territorium verloren haben und die Städte immer weiter wachsen?

In ehemaligen Nomadenländern und -gemeinschaften betonen kritische politische Stimmen, wie wichtig es ist, alternative Modelle zu begrüßen, die indigenes Wissen, ökologische Nachhaltigkeit, ethisches Ressourcenmanagement und gesellige Arbeitsweisen in den Vordergrund stellen. Indem wir indigene Praktiken der gegenseitigen Fürsorge, der Symbiose und der Regeneration zusammenführen, können wir eine „gaianische“ Ethik der nachhaltigen Arbeit fördern: eine, die die Verbundenheit verschiedener Welten anerkennt und wertschätzt. Um dies zu erreichen, müssen wir transnationale Allianzen bilden, die das vorherrschende Paradigma der Moderne in Frage stellen und die Folgen einer fremdenfeindlichen Politik angehen, die viele Gemeinschaften in eine Grenzsituation gebracht hat. Im unerbittlichen Streben nach Hypermodernität ist es wichtig, innezuhalten und die Integration indigener Perspektiven zu berücksichtigen. Aus einer solchen Haltung heraus können wir uns bemühen, eine neue Beziehung zu unserem Planeten zu entwickeln, indem wir den Wert aller Wesen, Dinge und Entitäten anerkennen und lernen wertzuschätzen. Dies ist eine Aufgabe, die wir alle bewältigen müssen. Denn, wenn wir im Zuge dessen unsere Rolle als Arbeiter*innen neu bewerten, ebnet dies den Weg für eine nachhaltige Klimaproduktion.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist ein Beitrag zur Textreihe „Allied Grounds“ der Berliner Gazette; die deutsche Version finden Sie hier. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen „Allied Grounds“-Website. Schauen Sie mal rein: https://allied-grounds.berlinergazette.de

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Kolumne-Fernsicht-Uganda

Erstellt von Redaktion am 24. Juni 2023

Zwei Gegner für Uganda: USA und Dschihadisten

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Von Joachim Buwembo

Seit Uganda 2007 eine afrikanische Militärintervention in Somalia anführte, die somalische Staatlichkeit wiederherstellte und die islamistischen al-Shabaab aus Mogadischu und anderen Landesteilen vertrieb, ist es zur Zielscheibe von Dschihadisten weltweit geworden.

Diese sehen in Uganda einen Statthalter der USA am Horn von Afrika. 2010 töteten Shabaab-Selbstmord­attentäter fast 100 Menschen, die in Ugandas Hauptstadt Kampala das Fußball-WM-Finale verfolgten. Das Bestreben, Uganda und seinen Präsidenten Yoweri Museveni zu bestrafen, hat nie nachgelassen.

Sechzehn Jahre sind eine lange Zeit. Heute sind die Beziehungen zwischen Uganda und den USA angespannt wegen des neuen ugandischen Gesetzes, das gleichgeschlechtliche Beziehungen kriminalisiert. Die USA haben gedroht, ihre Uganda-Hilfen in Höhe von einer Milliarde US-Dollar im Jahr – die Hälfte davon fließt in die Behandlung der 1,2 Millionen HIV-Kranken in Uganda – auszusetzen. Präsident Joe Biden hat sich persönlich zu Wort gemeldet, das US-Außenministerium hat eine Reisewarnung ausgesprochen, und US-Aktivistengruppen warnen vor Tourismus in Uganda und sagen, das Land sei nicht sicher.

Zugleich haben die Dschihadisten tödliche Schläge gegen Uganda ausgeführt. Sie überranten 120 Kilometer südlich von Mogadischu eine ugandische Armeebasis und behaupteten, 137 Soldaten getötet und viele andere gefangen genommen zu haben; Uganda spricht von 54 Toten. Noch schockierender war vor einer Woche der Angriff auf ein Internat im Westen Ugandas nahe der kongolesischen Grenze, wo die dschihadistische Gruppe ADF (Allied Democratic Forces) seit drei Jahrzehnten Ugandas Regierung bekämpft. 42 Teenager wurden bei lebendigem Leibe verbrannt und etwa 20 weitere verschleppt, vermutlich zum Zwangsdienst bei der ADF in Kongos Wäldern.

Der Angriff erfolgte genau 25 Jahre nach einem ADF-Angriff auf eine technische Hochschule im Westen Ugandas, bei dem rund 80 Teenager verbrannten. Die ADF hat bereits im vorletzten Jahr in Kampala Bomben hochgehen lassen.

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Waren nicht die Religionen schon immer der Anlass für die meisten Kriege Welt – weit?

Islamistische Dschihadisten bekämpfen Museveni seit dem ersten Tag seiner Machtergreifung 1986. Damals hatte er sich die Solidarität mit den schwarzen Nationalisten in Südsudan, die für die Befreiung Südsudans von der islamisch-fundamentalistischen Regierung in Sudans Hauptstadt Khartum kämpften, auf die Fahnen geschrieben. Ugandas militärische Unterstützung war entscheidend für den Erfolg der Unabhängigkeitskämpfer Südsudans. Khartum unterstützte im Gegenzug mehr als zwei Jahrzehnte lang die christlich-fundamentalistische LRA (Lord’s Resistance Army) von Joseph Kony in Norduganda und die islamisch-fundamentalistische ADF im Ostkongo.

Quelle       :        TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Auszeit vom realen Horror

Erstellt von Redaktion am 23. Juni 2023

Bevor das nächste Kind tot daliegt

Ein Debattenbeitrag von Shoko Bethke

Eine Studie stellt eine leicht wachsende Nachrichtenmüdigkeit fest. Doch es gibt Möglichkeiten, auf schlechte Nachrichten konstruktiv zu reagieren.

Das Bild des zweijährigen Alan Kurdi kehrt ins Gedächtnis zurück. Sein lebloser Körper am Strand, bekleidet mit einem roten T-Shirt, einer blauen Hose, an den Füßen dunkle Turnschuhe. Er liegt auf dem Bauch, seine Arme dicht am Körper, an das Gesicht klatschen wiederkehrende Wellen. Das Foto des toten syrischen Kindes am türkischen Strand war im September 2015 ein Weckruf für viele, für die der Krieg in Syrien wie ein Ereignis aus weiter Ferne wirkte. Die Bilder sorgten für Entsetzen und offene Münder – und für einen kurzen Augenblick für Empathie in der Politik und das Bedürfnis, den Geflüchteten doch noch irgendwie zu helfen.

Empörung ist kräfteraubend, aber wichtig, bevor das nächste Kind leblos am Strand liegt

Wenn Bootsunglücke wie jene in Griechenland oder vor den Kanaren zunehmen, wird es bald den nächsten Alan Kurdi geben. Am vergangenen Mittwoch sank ein Fischkutter mit vermutlich über 700 Menschen an Bord; sie wollten von Libyen nach Italien fahren. Zehn bis fünfzehn Minuten verblieb den Schutzsuchenden, ehe das Boot komplett unterging. Die griechische Küstenwache rettete 104 Menschen aus dem Wasser, 78 Tote wurden geborgen. Zwei Tage später stellte die Küstenwache die Suche nach weiteren Leichen ein.Unter den Passagieren sollen auch Menschen ohne jegliche Schwimmkenntnisse gewesen sein.

An diesem Mittwoch dann wieder: Vor der spanischen Inselgruppe kamen 39 Menschen ums Leben, die Küstenwache bestätigte den Tod eines Säuglings.

So eine Überfahrt macht niemand freiwillig. Wie gewaltig muss ihre Notlage gewesen sein, wie bedrohlich die Lage für ihre Familie, dort, wo sie zuvor gelebt hatten? Und wann begreift Europa das eigentlich?

Jeder zehnte Erwachsene meidet Nachrichten

Am vergangenen Mittwoch wurde auch der „Digital News Report 2023“ des Reuters-Institut für Journalismus-Studien in Oxford veröffentlicht. Ergebnis der Studie: In Deutschland meidet jeder zehnte internetnutzende Erwachsene Nachrichten. Die Befragung wurde im Januar dieses Jahres durchgeführt, doch da auch im Jahr 2022 jede zehnte Person aktiv Nachrichten aus dem Weg ging, dürfte sich die Zahl im halben Jahr nicht besonders verändert haben.

Insgesamt versuchen 65 Prozent der Deutschen mindestens gelegentlich Nachrichten auszuweichen. Fast ein Drittel geht gezielt bestimmten Themen aus dem Weg, am häufigsten werden Nachrichten zum Krieg in der Ukraine gemieden. Während im vergangenen Jahr noch 57 Prozent der Deutschen äußerst oder sehr an Nachrichten interessiert waren, sind es dieses Jahr nur noch 52 Prozent.

Das Bedürfnis, sich eine Auszeit von schrecklichen Meldungen nehmen zu wollen, ist nachvollziehbar. Denn zusammen mit Bildern des überfüllten Bootes kehren auch Ohnmachtsgefühle und Hilfslosigkeit zurück.

Ukraine, MeToo, Klimawandel und Rechtsruck

Dabei ist die Nachrichtenlage ohnehin schon schwer verdaulich: Der Krieg in der Ukraine ist seit fast anderthalb Jahren ein Dauerereignis, außerdem entflammt hierzulande eine neue #MeToo-Debatte. Was neue Gesetze zur Bekämpfung des Klimawandels angeht, tritt die Ampel praktisch auf der Stelle, und die AfD bekommt in neusten Umfragen mit 19 Prozent mehr Stimmen als die Partei des Bundeskanzlers. Außerdem ragt der Rechtsruck über nationale Grenzen hinaus und führte zur Einigung der EU, die Grenzen vor Geflüchteten zu „schützen“.

Unter anderem deshalb fühlen sich Politik und ihre Entscheidungen wie Beschlüsse aus der Ferne an, auf die man als Einzelperson keinen Einfluss nehmen kann. Für die Psyche kann es also gesund sein, sich eine Auszeit von Nachrichten zu nehmen, sei es, das Handy wegzulegen oder den Fernseher auszuschalten. Neu­ro­wis­sen­schaft­le­r:in­nen erklären, dass der permanente Konsum schlechter Nachrichten einen dauerhaften Stresszustand im Gehirn und Körper verursachen kann. Daraus resultierende Folgen können Gereiztheit, Schlafstörungen und in schlimmen Fällen auch Depressionen sein.

Deshalb ist es sinnvoll, sich gezielt eine Auszeit zu nehmen. Statt nach der Zeitung zu greifen, lieber einen Roman oder ein Kochbuch schnappen. Einen neuen Sport ausprobieren, vielleicht mal länger schlafen und allgemein auf die Bedürfnisse des Körpers hören.

Nachrichtenentzug darf kein Dauerzustand sein

Doch so wichtig Rückzug und Ablenkung auch sind, muss man sich bewusst machen, dass dies kein Dauerzustand sein kann. Die Weltlage vollständig auszublenden bringt die Toten nicht zurück, im Gegenteil. Denn wenn überhaupt jemand an der Lage etwas verändern kann, dann ein medialer und gesellschaftlicher Aufschrei – siehe die Debatte um Till Lindemann.

Quelle        :         TAZ-online         >>>>>         weiterlsen

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Oben         —         Graffiti-Kopie des Fotos der angeschwemmten Leiche von Alan Kurdi. Ein Werk der Künstler Justus „Cor“ Becker und Oguz Sen an der Osthafenmole in Frankfurt am Main, Titel „Europa tot – Der Tod und das Geld“

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Chatkontrolle :

Erstellt von Redaktion am 23. Juni 2023

Was du jetzt dagegen tun kannst

File:Chatkontrolle Chatcontrol Berlin Innenministerium 2022-06-08 01.jpg

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von       :     

Die Kritik an der sogenannten Chatkontrolle reißt nicht ab, doch die Befürworter:innen bleiben stur. Einige Menschen lassen sich davon nicht entmutigen. Wir wollten von ihnen wissen: Wie können sich Interessierte politisch engagieren, um das Überwachungsgesetz zu stoppen?

Eigentlich will die EU-Kommission mit einem Gesetzesvorschlag aus dem letzten Jahr sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Netz bekämpfen. Doch auf der einen Seite zweifeln Expert:innen die Wirksamkeit des Vorschlags an, zum anderen schätzen sie die Pläne als grundrechtswidrig ein. Ein Teil des Vorschlags ist die sogenannte Chatkontrolle: Anbieter von Kommunikations- oder Hostingdiensten sollen auf Anordnung auch die privaten Daten ihrer Nutzenden nach Hinweisen auf mögliches Missbrauchsmaterial oder Grooming scannen. So nennt man es, wenn Erwachsene mit sexuellem Interesse Kontakt an Minderjährige anbahnen.

Seit mehr als einem Jahr bricht die Kritik an den Plänen der EU-Kommission nicht ab, doch die Befürworter:innen bleiben stur. Das ist für Gegner:innen frustrierend. Lässt sich der Kommissionsvorschlag überhaupt noch verändern oder sogar verhindern – und was können Menschen tun, die sich irgendwie engagieren wollen? Wir haben Aktivist:innen gefragt und konkrete Handlungswege aufgeschrieben.

Herausfinden, wo gerade verhandelt wird

Tom Jennissen engagiert sich beim Bündnis „Chatkontrolle stoppen“ und dem Verein Digitale Gesellschaft – und er ist optimistisch. „Wir haben auf jeden Fall noch die Möglichkeit, die Pläne zur Chatkontrolle zu verhindern“, schreibt er auf Anfrage von netzpolitik.org. „Dazu müssen wir jetzt den Druck erhöhen, denn die Zeit bis Ende September wird entscheidend sein.“

Bis Ende September werden die wichtigen Gremien im EU-Parlament ihre Positionen zum Kommissionsentwurf verhandeln. Dort beschäftigt sich federführend der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) mit dem Gesetzentwurf. Außerdem ist der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) relevant. Er hat eine beratende Rolle und will noch vor der parlamentarischen Sommerpause im August seine Position beschließen. LIBE plant, Ende September über die Änderungsanträge aus dem Ausschuss abzustimmen.

Auch Elina Eickstädt engagiert sich bei „Chatkontrolle stoppen“ und ist Sprecherin des Chaos Computer Clubs (CCC). Sie empfiehlt: „Vor der Abstimmung wäre es also sehr gut, nochmal dediziert IMCO-Mitglieder anzuschreiben, besonders die von der Fraktion Renew.“ Renew Europe ist eine Fraktion im EU-Parlament, in der unter anderem Abgeordnete der FDP vertreten sind. Während sich deutsche Renew-Abgeordnete wie Moritz Körner gegen die Chatkontrolle einsetzen, sehe das bei den Kolleg:innen aus anderen Mitgliedstaaten anders aus.

Europa-Abgeordnete identifizieren

Ein erster Entwurf für eine IMCO-Stellungnahme des maltesischen Sozialdemokraten Alex Agius Saliba aus dem Februar adressierte bereits viele kritische Punkte zur Chatkontrolle. Er wandte sich gegen die Schwächung verschlüsselter Kommunikation, gegen Alterskontrollen und gegen die Erkennung von Grooming.

Eickstädt schlägt vor: „Man kann deutlich machen, dass einem Bericht nicht zugestimmt werden darf, der nicht den Schutz von verschlüsselter Kommunikation gewährleistet und Aufdeckungsanordnungen in ihrer aktuellen Form unterstützt. Diese müssen immer gezielt und spezifisch sein.“ Sie gibt zu Bedenken: „Wenn der gute Report von Saliba in der Abstimmung scheitert, geht es wieder zum Kommissionstext zurück.“ Es könnte also helfen, die Abgeordneten auf diese oder andere kritische Punkte hinzuweisen.

Im LIBE-Ausschuss sehe es ähnlich aus, auch hier gehören viele Renew-Abgeordneten zu den Wackelkandidat:innen. Außerdem enttäuschte der erste Berichtsentwurf des konservativen Berichterstatters Javier Zarzalejos die Kritiker:innen. Da bis zur geplanten LIBE-Abstimmung am 21. September noch etwas Zeit ist, schlägt Eickstädt vor, sich zunächst auf die Berichterstatter:innen zu konzentrieren.

Für jeden Ausschuss gibt es eine:n Berichterstatter:in, diese Person leitet den Prozess bis zu einer finalen Ausschussposition. Von den anderen Fraktionen gibt es sogenannte Schattenberichterstatter:innen, die jeweils für ihre Fraktionen versuchen, Kompromisse auszuhandeln.

Europa-Abgeordnete kontaktieren

Alle Mitglieder der jeweiligen Ausschüsse sind auf den jeweiligen Ausschussseiten mit Angabe ihrer Fraktion gelistet. Ihre E-Mail-Adressen, Telefon- und Faxnummern erscheinen bei einem Klick auf ihr Foto in der Übersichtsseite.

Einen guten Überblick bietet auch die Seite Parltrack. Hier lassen sich auch leicht die Berichterstatter:innen und Schattenberichterstatter:innen der einzelnen Fraktionen herausfinden.

Falls man Abgeordnete per Telefon kontaktieren will, wird man meist bei ihren Mitarbeitenden landen. Sie sind aber auch gute Gesprächspartner:innen, weil sie die Positionen der Abgeordneten mit vorbereiten. Es ist gut, sich vorher ein paar Punkte zu notieren, die einem besonders wichtig sind. Ein Kontakt per E-Mail ist natürlich auch möglich. Anregungen für eine solche E-Mail gibt das Team von „Chatkontrolle stoppen!“.

Bundestagsabgeordnete ansprechen

Neben der EU spielt auch Deutschland eine wichtige Rolle. „Die deutsche Politik darf sich nicht wegducken“, schreibt Jennissen. „Die Bundesregierung hat sich immer noch nicht durchringen können, ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag als Position für die fast schon beendeten Verhandlungen im Rat festzulegen – das Scannen privater Kommunikation abzulehnen.“ Fast ein Jahr hatte die Bundesregierung über ihre Position zur Chatkontrolle gestritten. Nun lehnt sie zwar das Scannen verschlüsselter Nachrichten ab, bei unverschlüsselten Daten jedoch nicht.

Jennissen kritisiert, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) „weit davon entfernt“ sei, „die Chatkontrolle aktiv abzulehnen oder auch nur die Minimalposition der Bundesregierung zur Ablehnung von Client-Side-Scanning offensiv zu vertreten.“

Dass Faeser selbst zu einer solchen Ablehnung zu bewegen ist, bezweifelt Jennissen. Doch der Bundestag könne noch etwas tun: „Durch eine Erklärung gemäß Artikel 23 Grundgesetz kann er die Bundesregierung auffordern, die Chatkontrolle abzulehnen und diese Position auch aktiv in Brüssel zu vertreten.“

Schon im Dezember hatten FDP und Grüne im Bundestag einen Entwurf für eine solche Stellungnahme erstellt, doch besonders die Innenpolitiker:innen der SPD blockieren das Vorhaben. Die Position scheint sehr festgefahren. Dennoch gehört der Austausch mit Wähler:innen zum Alltag von Bundestagsabgeordneten. Eine Übersicht von Innenpolitiker:innen der SPD-Bundestagsfraktion gibt es auf der Seite zur Arbeitgruppe Inneres.

Mit ausreichend Druck aus dem Bundestag könnte Deutschland seine Position im Rat ändern. „Damit würde eine Sperrminorität im Rat in greifbare Nähe rücken“, schreibt Jennissen. Sperrminorität heißt: Eine Minderheit kann einen Vorschlag im Rat blockieren. Sie lässt sich etwa mit vier Staaten erreichen, die gemeinsam 35 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Mitgliedsländer, die Chatkontrolle kritisch sehen, sind Österreich und die Niederlande. Würden diese gemeinsam mit Deutschland gegen den Entwurf stimmen, bräuchte es nur noch ein weiteres Land.

Protest auf die Straße bringen

Neben der Möglichkeit, Abgeordnete zum Handeln aufzufordern, lässt sich auch noch anders für Aufmerksamkeit sorgen. „Solange es keine klare, ablehnende Position der Bundesregierung gibt, die sich auch in den Verhandlungen niederschlägt, müssen wir den Protest weiter auf die Straße tragen“, schreibt Jennissen. „Öffentliche Proteste und Demos – gerade auch außerhalb Berlins – können den Ampelparteien deutlich machen, dass es keine gute Idee ist, mit dem offenen Bruch eines Versprechens in die Europawahl im nächsten Jahr zu starten.“

Interessierte können dich dabei bestehenden Protesten anschließen oder auch selbst etwas auf die Beine stellen. Beim Organisieren der ersten eigenen Demo oder Kundgebung können vor allem 12 Tipps helfen. „Ohne öffentlichen Druck ist weder von den Abgeordneten noch der Regierung etwas zu erwarten“, schreibt Jennissen.

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Attribution: C.Suthorn / cc-by-sa-4.0 / commons.wikimedia.org

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Auslaufmodell-Greenwash

Erstellt von Redaktion am 23. Juni 2023

Die WM in Katar war nur ein Beispiel unter vielen.

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :    Patrik Berlinger /   

Viele Firmen behaupten, klimaneutral zu sein. Statt eigene Emissionen zu reduzieren, setzen sie oft auf Kompensationen im Ausland.

(Red.) Der Autor dieses Gastbeitrags ist verantwortlich für die politische Kommunikation bei Helvetas, einer Organisation der Entwicklungszusammenarbeit. Infosperber publiziert eine aktualisierte Version seines Artikels, der im entwicklungspolitischen Newsletter von Helvetas erschienen ist.  

Vor vier Jahren gab der Bundesrat bekannt, dass die Schweiz ab 2050 «unter dem Strich» keine Treibhausgasemissionen mehr ausstossen soll. Das Volk hat dieses Ziel mit dem deutlichen Ja zum Klimaschutz-Gesetz bestätigt und erste Massnahmen für die Reduktion der Emissionen beschlossen: innovative Unternehmen und Branchen stärken, Gebäude sanieren und Elektroöfen und Ölheizungen ersetzen. Wie die Schweiz allerdings gesamthaft und in allen Sektoren bis zur Mitte des Jahrhunderts auf Netto-Null kommen soll, bleibt Gegenstand politischer Debatten.

Wichtige Anhaltspunkte liefert die «Langfristige Klimastrategie der Schweiz» aus dem Jahr 2021. Die Strategie geht in die richtige Richtung und ist ambitioniert. Und doch reicht es nicht. Denn die Strategie sieht vor, dass für Netto-Null lediglich die Emissionen innerhalb der Schweizer Landesgrenzen berücksichtigt werden. Dies, obwohl bekannt ist, dass zwei Drittel der schweizerischen Emissionen im Ausland entstehen.

Zum anderen sollen CO2-Minderungen in anderen Ländern zugekauft werden. So fördert die Schweiz im Rahmen bilateraler Abkommen Klimaschutz-Projekte in ärmeren Ländern wie Ghana, Peru oder Dominica – und rechnet die erzielten Treibhausgas-Reduktionen dem eigenen nationalen Emissionsreduktionsziel an.

Immer mehr Firmen sind angeblich «klimaneutral» 

Diesen «buchhalterischen Trick», CO2-Emissionen via Klimaschutz in ärmeren Ländern zu kompensieren, wendet die Privatwirtschaft seit Jahren an. Die Versprechen, «klimaneutral» zu wirtschaften, haben allerdings immer absurdere Züge angenommen.

Jüngst behauptete die in Genf ansässige MKS PAMP, die eine Edelmetallraffinerie betreibt, den ersten «klimaneutralen Goldbarren» zu verkaufen. Obschon offensichtlich ist, dass der Abbau des Rohstoffs immense Umweltschäden anrichtet und viel CO2 freisetzt. Gemäss dem Unternehmen ist «klimaneutral» dennoch möglich – dank CO2-Kompensationen im Ausland.

Auch Fliegen geht heute ohne «Flugscham»: Bei der Schweizer Fluggesellschaft Swiss kann der Kunde bei der Reisebuchung für ein paar Franken seinen Flug «ausgleichen» – mittels Nutzung nachhaltiger Treibstoffe (Sustainable Aviation Fuel, SAF) und einem Beitrag an Klimaschutzprojekte. Als kleines Plus gewährt die Swiss dazu «extra Statusmeilen» sowie «flexible Umbuchungsmöglichkeiten». Die SAF-Technologie steckt allerdings in den Anfängen. Das synthetische Kerosin ist erst in sehr geringer Menge verfügbar und teuer. Weltweit liegt der Einsatz von SAF im Promille-Bereich.

Im Dezember behauptete Katar, erstmalig eine «klimaneutrale WM» durchzuführen. Selbstverständlich ist dies unsinnig. Laut Katar und der FIFA wurde zwar von der Bauphase bis zum Abbau des gesamten Wettbewerbs mehr CO2 in die Luft geblasen als jemals zuvor in der Geschichte der WM. Die Organisatoren beteuerten aber, dass sie sämtliche Emissionen durch die Finanzierung ökologisch nachhaltiger Projekte «in der ganzen Welt kompensieren» würden. Bereits im November reichten die Klima-Allianz sowie Verbände aus mehreren europäischen Ländern Beschwerde gegen die FIFA ein. In ihrem Urteil vom 6. Juni unterstützte die schweizerische Lauterkeitskommission die Beschwerdeträger und befand die FIFA wegen Greenwashing für schuldig.

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Schliesslich verkündete St. Moritz diesen Winter stolz, das erste «klimaneutrale Skigebiet» der Schweiz zu sein. Pisten- und Dienstfahrzeuge würden mit CO2-neutralem Diesel fahren. Gebäude und Restaurants würden mit CO2-neutralem Heizöl beheizt. Ein offensichtlicher Fall von Greenwashing, denn die alternativ eingesetzten Treib- und Brennstoffe sparen gerade mal 5 – 8,5 Prozent CO2 ein. Der Rest wird über Klimaschutz-Projekte in Indonesien und Peru «kompensiert». Durch das Schützen der Wälder soll zusätzliches CO2 reduziert werden. Allerdings ist dies laut einem ETH-Forscher und Greenpeace fragwürdig und umstritten.

Probleme mit Ausland-Kompensationen 

Die «Zeit», der «Guardian» und «SourceMaterial» (ein non-profit Zusammenschluss von Journalist:innen) konnte Anfang Jahr nach einer neunmonatigen Recherche zeigen, dass Waldschutz-Projekte in vielen Fällen weniger CO2 binden als versprochen: Hinter mehr als 90 Prozent der CO2-Zertifikate, die Verra (der weltweit führende Zertifizierer von Emissionsgutschriften) auf Projekten zum Schutz von Regenwäldern ausgegeben hatte, standen keine realen Emissionsminderungen. Mit anderen Worten: Millionen von Emissionszertifikate, die es nie hätte geben dürfen, gelangten auf den freien Markt. Firmen wie Gucci, BHP, Shell, Chevron, Disney, Samsung, easyJet oder Leon verliessen sich auf die Regenwald-Zertifikate und polierten damit die CO2-Bilanz ihrer Unternehmen auf.

Inzwischen hat die EU naturbasierte Kompensationen aus dem CO2-Emissionshandel ausgeschlossen. Das hat zwei Gründe: Zum einen muss ein Projekt tatsächlich «zusätzlich» CO2 mindern. Nur wenn ein Waldgebiet ohne ein Schutzprojekt tatsächlich gerodet würde, verhindert ein Schutzprojekt die Emissionen von CO2. Ist das Waldgebiet aber ohnehin geschützt, weil es z.B. in einem staatlichen Naturpark liegt, wird durch ein weiteres Schutzprojekt kaum zusätzliches CO2 eingespart. Anderseits kann nie ausgeschlossen werden, dass der geschützte Wald nicht in zehn oder zwanzig Jahren doch gerodet wird oder einem Brand zum Opfer fällt, wodurch das CO2 dann doch freigesetzt wird.

Selbstverständlich muss die Staatengemeinschaft weiterhin alles dafür tun, um die Regenwälder zu schützen und die weltweite Abholzungsrate zu reduzieren. Ohne dies ist die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens aus dem Jahr 2015 und des 1,5 Grad-Ziels nicht zu machen. Ob freiwillige CO2-Kompensationsprojekte das richtige Instrument sind, ist allerdings mehr als fraglich.

Seit die EU und einige europäische Länder im freiwilligen Emissionshandel mehr Transparenz fordern, bewegt sich nun auch in der Schweiz etwas. Dienstleister wie Climate Partner Switzerland oder MyClimate, die Unternehmen dabei helfen, ihre CO2-Emissionen zu senken, verzichten seit Ende Jahr auf das Label «klimaneutral» und stellen klar, dass die von ihnen unterstützten Projekte lediglich «nachhaltig wirken».

Unternehmen müssen selbst nachhaltigen Wandel vorantreiben 

Zu lange haben es sich viele Firmen einfach gemacht und über billige Zertifikate in CO2-Kompensationsprojekte investiert, anstatt sich auf die Reduktion von Treibhausgasen in ihrem Geschäftsgebaren zu konzentrieren und Geschäftsmodelle zu entwickeln, die auf einen raschen Ausstieg aus den fossilen Energien abzielen.

Unternehmen müssen ihre Klimastrategien überdenken und in erster Linie ihre eigenen betriebsinternen Emissionen und diejenigen entlang ihrer internationalen Wertschöpfungskette reduzieren.

Firmen dürfen darüber hinaus Klimaschutzprojekte im Ausland finanzieren – ja, sie sind dazu sogar eingeladen. Allerdings dürfen sie damit ihre eigene Emissionsbilanz nicht buchhalterisch aufhübschen und ihr Business dadurch besser darstellen als es in Tat und Wahrheit ist.

Konkret wäre es im Fall des Wintersports zum Beispiel zielführender, die Gebäude energetisch zu sanieren und mit Erdwärmepumpen auszustatten, PV-Anlagen zu installieren und den Fahrzeugpark zu elektrifizieren, nachhaltiges Essen in Restaurants anzubieten und Foodwaste zu reduzieren, und die Feriengäste dazu zu bringen, mit dem Zug anzureisen. Der schädliche Luxus-Privatjet-Verkehr ins Oberengadin müsste stark besteuert werden. Das Geld könnte in Klimaschutz in der Schweiz und in ärmeren Ländern investiert werden. «Greenwashing» hingegen können wir uns nicht mehr länger leisten.

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Oben      —     Al Bayt Stadium, Al Khor, Qatar

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Kolumne-Wir retten die Welt

Erstellt von Redaktion am 23. Juni 2023

Climate change is coming home

Datei:120613 Doppelleben Artwork.pdf

Eine Kolumne von Bernhard Pötter

Ich hänge an unserem alten Opel Zafira. Von der Zweifamilienkutsche mit viel Geschichte und noch mehr Beulen komme ich nicht los. Auch wenn ich die Kiste immer wieder abschaffen wollte, die Verbindung ist sehr schwer zu lösen.

Besonders in diesen Tagen: Da stand die Karre so lange unter den Linden in der Nachbarschaft, dass sie nun völlig verklebt ist. Man kriegt die Tür kaum auf. Danach bekommt man die Hand nicht mehr vom Türgriff weg. Und als unsere Carsharing-Freunde den Zafira durch die Waschstraße fahren wollten, wurden sie wieder weggeschickt: „Kein Wasser da!“

Ich war erschüttert. Es gibt kein Wasser mehr, um Autos zu waschen? Ist denn gar nichts mehr heilig? Könnte man nicht dem Kindergarten gegenüber das Trinkwasser abdrehen? Offenbar erreicht dieser Klimawandel, von dem alle reden, die Menschen, die ihm nie etwas getan haben. Dabei versuchen unsere Regierenden doch seit Jahrzehnten alles, um die klebrigen, hitzigen Fragen von ihren WählerInnen fernzuhalten: „Wir haben das im Griff“, heißt es. „Irgendwer erfindet sicher ein billiges Mittel dagegen. Nichts muss sich ändern, keiner wird was merken.“

Nun aber das: Kein Wasser mehr, um die Greens der Golfplätze grün zu halten. Bier wird teurer, weil Getreide bewässert werden muss. In Frankreich fällt der Atomstrom aus, weil die Flüsse kein Kühlwasser mehr liefern. Bei Stark­regen saufen U-Bahn-Schächte und Autobahntunnel ab. Profi-Fußballer machen Trinkpausen während der Partie. Unsere Zweitwohnungen am Mittelmeer sinken im Wert, weil sie keine Klima(!)anlage haben und es schwieriger wird, den Pool zu füllen. Und wenn die Klimakleber mal verhindert sind, klebt das Wetter selbst die Privatjets auf der aufgeweichten Rollbahn fest.

Bisher wurden nur Öko-Radikalinskis und Grüne abgestraft, wenn sie uns mit diesem Thema zu sehr auf den Wecker gingen. Wer uns das Heizen mit Klimakillern vermiesen will, wird medial und von WählerInnen abgewatscht. Wer Alternativen zur herrschenden Verantwortungslosigkeit fordert, wird als Terrorist behandelt. Aber plötzlich gilt das Ver­ursacherprinzip? Climate change is coming home und bringt die Hitze und das Chaos nicht mehr nur zu den Armen und Schwachen. Sondern auch dahin zurück, wo die Probleme herkommen: auf das Sonnendeck der globalen Arche Noah, in die Luxus-Spas der Spaßgesellschaft.

Quelle       :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —  Plakat „Doppelleben – Der Film“

Verfasser DWolfsperger      /      Quelle    :   Eigene Arbeit      /      Datum    :    1. August 2012

Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.

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Ein Loblied 300 Jahre später

Erstellt von Redaktion am 22. Juni 2023

Mehr als die „unsichtbaren Hände“

Kirkcaldy, Fife, Scotland – In direkter Nähe zum Geburshaus von Adam Smith, welches im Jahre 1834 abgerissen wurde.

Ein Debattenbeitrag von Konstantin Peveling

Zum 300. Geburtstag von Adam Smith. – Der Geburtstag des Moralphilosophen wurde in der linken Szene distanziert zur Kenntnis genommen. Dabei ist es Zeit, ihn zu umarmen.

In der vergangenen Woche wäre Adam Smith 300 Jahre alt geworden. Während die einen fröhlich auf den schottischen Moralphilosophen anstießen, nahm man dies in der linken Szene höchstens distanziert zur Kenntnis. Zu groß ist die Abneigung gegenüber dem vermeintlichen Verfechter eines „von unsichtbarer Hand“ gelenkten, ungebändigten Marktes. Dabei wäre es eine gute Gelegenheit gewesen, ihn aus der Umklammerung von Fehlinterpretationen und Klischees zu befreien, ihm mit frischem Blick zu begegnen.

Liest man Smith als Ganzes, lernt man einen großen Menschenfreund kennen

Smiths 1759 erschienene „Theory of Moral Sentiments“ und 1776 veröffentlichte „Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ wurden schnell zum Hit und in viele Sprachen übersetzt. Mit dem Erfolg kam leider auch der Missbrauch seines Werkes: Öko­no­m:in­nen und Po­li­ti­ke­r:in­nen beriefen sich immer selektiver auf sein Denken und verzerrten damit die Wahrnehmung dessen.

Das berühmte Bild von der „unsichtbaren Hand“ ist ein trauriges Beispiel dafür. In der damaligen Zeit war es einfach nur eine geläufige Metapher, die Smith selbst nicht mit eigenem Gehalt aufgeladen hat und die auch keine zentrale Rolle in seinem Werk spielt; verwendete er die Wortdoppelung insgesamt nur dreimal. Als später die Metapher nicht mehr geläufig war, stürzten sich Öko­no­m:in­nen aller Lager auf sie und arbeiteten sich an ihr ab. Man glaubte, daraus ableiten zu können, dass egoistisches Verhalten auf dem Markt immer zu einer Steigerung des Gemeinwohls führe und Smith jeden Eingriff zu unterbinden befahl. Der Schotte verkam zum Posterboy der Anhänger von Egoismus und Minimalstaat.

Davon abgesehen, dass Smith so was nie behauptet hat, versperren solche Bilder den Blick auf ihn. Liest man Smith als Ganzes und nicht nur ein paar kurze Textauszüge, lernt man einen großen Menschenfreund kennen, der in Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit die tragenden Werte der Gesellschaft sah. So ist er auch nicht Gründer der Volkswirtschaftslehre, sondern Moralphilosoph. Noch viel wichtiger: Er dachte ganzheitlich über Wirtschaft, Moral und Politik nach und sah sie als unzertrennlich an.

Adam Smith und die Nächstenliebe

Smith war tiefgehend damit beschäftigt, die Prozesse zu verstehen, durch die Menschen ihre moralischen Urteile bilden. Laut ihm tragen Menschen sowohl die Eigenschaft zur Eigenliebe als auch zur Nächstenliebe in sich. Die Fähigkeit, Mitgefühl für die Emotionen und Perspektiven anderer Menschen zu empfinden, nannte er „Sympathy“ – Sympathie.

Durch sie würden moralische Urteile gebildet und würde moralisches Verhalten entwickelt, was altruistisches Verhalten und die Förderung des Gemeinwohls hervorbringe. Er unterstreicht auch die Bedeutung sozialer Bindungen und gesellschaftlichen Miteinanders. Gleichzeitig sei Sympathie nicht bedingungslos. Sie könne durch Faktoren wie persönliche Vorurteile, Voreingenommenheit und begrenzte Wahrnehmung beeinflusst werden.

Smith entwickelte ein Modell, das auf einem gesellschaftlichen Prozess basiert, mit dem Ziel, Eigen- und Nächstenliebe in ein Gleichgewicht zu bringen. Beide seien für ein gesellschaftliches Miteinander wichtig, solange sie nicht außer Kontrolle geraten. Das Wissen darüber, wann die Eigenliebe in selbstsüchtigen und gemeinwohlschädlichen Egoismus umschlage, komme nicht aus dem Nichts. Es sei auch nicht angeboren, sondern entwickele sich durch die Sympathie, die Reaktionen anderer Menschen und eine aufgeklärte Selbstreflexion.

Sollten wir die Toten nicht dort belassen wo sie begraben wurden ? Was werden wohl die späternen Generationen mit den heutigen politischen Versagern machen? Verheizen ??

Ein solch interaktiver, austarierender Prozess benötigt individuelle Freiheit und Unabhängigkeit. Als liberaler Denker der Aufklärung trat Smith vehement für diese ein, kämpfte gegen die Obrigkeit und für die Abschaffung ihrer Privilegien, etwa die der Zünfte. Zudem dachte er egalitär, heißt: In seinem Denken sind alle Menschen und Staaten gleich. So war er sowohl gegen die Sklaverei als auch antikolonial; eine Position, die in der Zeit nicht überall mehrheitsfähig war.

Was Linke heute von seinem Denken lernen können

Als An­hän­ge­r:in linker Ideen muss man Smith nicht verehren. Allerdings ist es vielleicht an der Zeit, die eigene Abneigung zu überwinden und ihn stattdessen freundschaftlich zu umarmen. Zum einen sind viele seiner Ideen linken Positionen nicht vollkommen fremd, zum anderen kann man viel von ihm lernen. Genau wie zur Zeit der schottischen Aufklärung geht es heute im Angesicht der Klimakrise um die Frage: Reform oder Revolution?

Vielen ging es auch damals nicht schnell genug und sie forderten einen revolutionären Umsturz des Systems – Smith gehörte nicht dazu. Nicht, weil er nostalgisch an Dingen festhalten wollte, im Gegenteil. Ihm ging es darum, institutionelles Wissen nicht zu verlieren. Eine Revolution würde nicht nur ein System plattmachen, sondern alles Gelernte gleich mit. Der schrittweise, reformerische Ansatz von Adam Smith hingegen öffnet die Tür für entdeckerfreudige Lern- und Experimentierprozesse. Ideen umsetzen, Fehler machen, korrigieren. In etlichen Reformen sammeln wir Wissen und verändern die Gesellschaft wie ein Mosaik, in dem die Steine getauscht werden.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     2009 photograph of a 19th-century building near the house where philosopher, economist and author Adam Smith lived, 1767-1776. 220 High Street, Kirkcaldy, Fife, Scotland. At this location, Smith wrote „The Wealth of Nations“, according to a plaque on the pictured building. The original house was torn down in 1834.

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Die Wutbürger-Republik

Erstellt von Redaktion am 22. Juni 2023

Oder: Alle spielen für die AfD

von Albrecht von Lucke

SPD 18, AfD 18: Als Anfang Juni die Prozentzahlen des jüngsten ARD-Deutschlandtrends publik wurden, war der Aufschrei gewaltig. Und tatsächlich muss es aufhorchen lassen, wenn die Kanzlerpartei, die soeben ihren 160. Geburtstag gefeiert hat, gleichauf liegt mit einer rechten Truppe, die vor gerade einmal zehn Jahren gegründet und seither immer radikaler, ja sogar in Teilen extremistisch geworden ist. Im politischen Berlin ist seither ein bemerkenswertes Schauspiel zu beobachten: Regierung und Opposition schieben sich im Wechselspiel den Schwarzen Peter zu – und tun damit faktisch alles, um der AfD zu neuen Höchstwerten zu verhelfen.

Was die Regierung betrifft, liegt ihre Verantwortung auf der Hand. Populisten und Antidemokraten wachsen nur unter zwei Voraussetzungen: erstens einer realen Krisenlage und zweitens einer demokratischen Regierung, die zur Lösung der Probleme offensichtlich nicht in der Lage ist. Beide Voraussetzungen sind derzeit im Übermaß erfüllt. Wir erleben Krisen in einer Häufung, wie sie die Bundesrepublik bisher noch nicht kannte: einen Krieg in der Ukraine, die sich verschärfende Klimakrise, daneben massive Inflation und schließlich von steigenden Migrationszahlen überforderte Kommunen, ein klassischer Wachstumstreiber aller Rechtspopulisten, der auch durch die avisierte Verschärfung des Asylrechts auf europäischer Ebene keineswegs beseitigt werden wird.

Diese Polykrise trifft auf eine Regierung, die nicht geschlossen, sondern hoch zerstritten auftritt und angesichts eines lange abgetauchten Bundeskanzlers über keine klare Führung verfügt, obwohl gerade das von tendenziell autoritären Charakteren, die den wesentlichen Teil der AfD-Wählerschaft ausmachen, erwartet wird. Insofern ist die Krise der Regierung ein echtes Wachstumsprogramm für ihre Gegner.

Das allerdings erklärt noch nicht, warum nicht primär CDU und CSU als die klassische Opposition von der Schwäche der Ampel profitieren. Zur Erinnerung: Die „Alternative für Deutschland“ wurde 2013 gegründet als eine Anti-Partei gegen die scheinbar endlose Merkel-Ära. Es war vor allem die faktische Alternativlosigkeit der Merkel-Union auf konservativer Seite, die damals für den Aufstieg der AfD sorgte. Der Scheitelpunkt schien vor exakt fünf Jahren erreicht, als die AfD angesichts blockierter Konservativer – auf dem Höhepunkt des Streits zwischen Seehofer/Söder-CSU und Merkel-CDU in der Fluchtfrage – schon einmal 18 Prozent erreichen konnte.

Insofern gibt es einen entscheidenden Unterschied zur Lage von 2018: Damals gab es keine konservative Alternative in der Opposition, war die AfD tatsächlich alternativlos als rechts-konservativer Protest gegen die Regierung. Daher wäre es nun die originäre Aufgabe der Union, auch nach ihrem Selbstverständnis, einen Teil der AfD-Sympathisanten wieder in das klassische, bürgerlich-konservativ Lager zu integrieren, wie es der Union in der gesamten Geschichte der alten Bundesrepublik geglückt war.

Doch davon kann aktuell keine Rede sein. Das alte Prinzip der kommunizierenden Röhren – verliert die SPD, dann gewinnt die Union – ist offensichtlich außer Kraft gesetzt. Die Repräsentationslücke auf der rechten Seite des Parteienspektrums, die sich in der Merkel-Ära aufgetan hat, wird derzeit eher größer als kleiner. Denn während die AfD wächst, stagniert die Merz-Union. Die knapp 30 Prozent, die sie in Umfragen erzielt, sind angesichts der desaströsen Lage der Regierung ein ausgesprochen schwaches Ergebnis. Die Union scheint weiter denn je davon entfernt, die Wählerschaft der AfD „zu halbieren“, wie es Friedrich Merz vor wenigen Jahren versprochen hatte. Und seine denkbar schwachen persönlichen Umfragewerte sind dabei auch nicht hilfreich. Bisher hat speziell der CDU-Chef kein Rezept gegen die AfD gefunden. Umso mehr nimmt die Unruhe in der Union zu, was wiederum zu erheblichen Fehlern führt, die sich als regelrechte Wachstumsspritzen für die AfD erweisen.

Insbesondere Merz‘ Satz „Mit jeder gegenderten Nachrichtensendung gehen ein paar hundert Stimmen mehr zur AfD“ lässt die Rechtspopulisten jubilieren und zugleich alle anderen massiv am strategischen Vermögen des CDU-Chefs zweifeln. Eine bessere Wahlempfehlung für die AfD – im Sinne einer selffulfillig prophecy – kann es kaum geben, bezeichnet Merz damit doch implizit die AfD als den originären Gegenpart der doch auch von seinen eigenen Strategen so stark angeprangerten angeblichen „Wokeness“-Dominanz im Lande.[1]

Nicht weniger fatal: Wenn Merz von einem dem normalen Leben der Menschen abgehobenen „Justemilieu“ der Berliner Regierungsparteien spricht, ist das eine Steilvorlage für die AfD, die mit Genuss darauf hinweist, dass die Union ja ihrerseits in zahllosen Bundesländern gemeinsam mit den Grünen regiert – und dies nach der letzten Bundestagswahl ja auch landesweit tun wollte. Insofern steckt in der Fundamentalkritik des politischen Gegners stets auch die Kritik der eigenen Politik. Zugleich bestärkt es das Kernargument der Rechtspopulisten, wonach wir es mit einer Krise des gesamten Partei-Establishments zu tun hätten. Und für diese stehen letztlich alle etablierten Parteien, die Ampel-Grünen sowieso, aber auch die im Osten an Regierungen beteiligte Linkspartei.

File:Keine AFD V1.svg

Die einzigen, die grundsätzlich dagegen sein können, sind die AfD und – möglicherweise in naher Zukunft – eine ebenfalls populistisch agierende Wagenknecht-Partei. Anders als die Regierungsparteien profitieren sie davon, dass sie für kein Versagen haftbar gemacht werden können. Getreu der Devise: Nur wer nichts macht, macht keine Fehler.

Jargon der Demokratie-Verachtung

Parallel zur Ratlosigkeit der anderen Parteien artikuliert sich daher ein neues Selbstbewusstsein der Rechtspopulisten. Denn sie, wie auch ihre Anhänger, haben längst begriffen: AfD wirkt, so oder so. Die Partei muss gar nicht regieren, denn sie bestimmt auch so den angstgetriebenen Kurs der anderen.

Zudem muss man der Partei konzedieren, dass sie aus ihrer Krise der letzten Jahre gelernt hat. Seit dem Abgang von Jörg Meuthen gibt sie sich, zumindest in der Öffentlichkeit, nicht mehr zerstritten. Und obwohl sie heute radikaler ist als je zuvor, tritt Björn Höcke als der heimliche Parteiführer kaum in Erscheinung, sondern lässt die beiden schwachen Parteivorsitzenden Tino Chrupalla und Alice Weidel agieren. Selbst die enorm hohen Umfragewerte werden bewusst nicht triumphalistisch kommentiert, um auf diese Weise zu verhindern, dass extreme Meinungen besonders augenfällig werden und sich dadurch die Öffentlichkeit gegen die Partei richten könnte. Die Strategie ist klar: Man hält sich selbst zurück und lässt stattdessen lieber andere für die AfD agieren. Und diese tun ihr leider allzu gerne den Gefallen. Denn längst hat sich auch in den angeblich bürgerlichen Parteien ein Jargon der Regierungs-, ja sogar der Demokratie-Verachtung etabliert, der das eigentliche Kernargument jedes Populisten bekräftigt, wonach nur er „Volkes Meinung“ gegen „die da oben“ vertritt, es sich also letztlich um eine Form autoritärer Herrschaft oder gar Diktatur der politischen Klasse handelt. Wenn etwa Thüringens CDU-Chef Mario Voigt das geplante Heizungsgesetz als „Energie-Stasi“ anprangert, relativiert er nicht „nur“ die DDR-Diktatur, sondern er bedient exakt die Narrative der AfD – und macht damit die Partei wählbar und gesellschaftsfähig.

Quelle        :        Blätter-online         >>>>>     weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —   Pressekonferenz der AfD-Bundestagsfraktion, am 11. April 2019 in Berlin.

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Unten     —     Keine Alternative für Deutschland. Aufkleber gegen die Partei Alternative für Deutschland, in SVG Format.

Source Own work
Author Weeping Angel

This file is made available under the Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication.

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Eure Yachten unser Hitze

Erstellt von Redaktion am 22. Juni 2023

Holstein: Protest im Yachthafen Neustadt

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :  pm

Auf den Yachten werden Banner entrollt, auf denen unter anderem zu lesen ist “Euer Luxus = unsere Ernteausfälle” und “Für wen machen Sie Politik, Kanzler Scholz?”

Unterstützer:innen der Letzten Generation protestieren heute morgen im ancora Marina Yachthafen in Neustadt an der Ostsee gegen den zerstörerischen Lebensstil der Superreichen und dem planlosen Zusehen der Bundesregierung dabei. Dafür begaben sie sich an Bord von zwei Yachten, färbten das Wasser mit Hilfe von Uranin giftgrün ein und besprühten die Yachten mittels präparierter Feuerlöscher orange an. Im Anschluss hängten sie Banner auf. Während des Protestes tragen sie Schwimmwesten.

Theodor Schnarr erläutert als ein Sprecher der Letzten Generation, an wen sich die Protestaktion richtet: „Unsere Fragen richten sich an Kanzler Scholz: Was nützen den Reichen und ihren Kindern und Enkelkindern ihre Luxusyachten, wenn sich die Meere in eine stinkende giftgrüne Brühe verwandelt haben? Was nützen ihnen ihre klimatisierten Villen und Bunker in Neuseeland, wenn sie dort in einer Art freiwilligen Verbannung leben? Olaf Scholz, handeln Sie und sorgen Sie mit einer mutigen Politik dafür, dass ein Gesellschaftsrat einberufen wird, der Sie bei der mutigen Entscheidung die Exzess-Emissionen der Reichen zu stoppen unterstützt.“

Die giftgrüne Färbung des Hafenbeckens warnt, dass unsere Meere zu kippen drohen. Wenn die Meere aufgrund der globalen Erwärmung sich weiter erwärmen, versauern sie und vermehrtes Algenwachstum wird das Wasser giftgrün färben. Hierdurch verlieren sie ihre Fähigkeit, CO2 aufzunehmen. Dies ist eine äusserst bedrohliche Veränderung, die todbringende Konsequenzen für das Leben auf der Erde hat. [1] Das bei der heutigen Protestaktion im Hafenbecken eingesetzte Färbemittel Uranin ist eine für Menschen, Tiere und Pflanzen unbedenkliche Substanz. [2]

Der ancora Marina Yachthafen ist mit 1440 Liegeplätzen der grösste private Yachthafen an der Ostsee. Eine Superyacht verursacht mehr CO2 als 600 durchschnittliche Bürger:innen Deutschlands. [3] Des Weiteren zahlt der Handwerker, der seinen Transporter tankt, darauf eine CO² Steuer, Besitzer:innen einer Superyacht nicht.[4]

„Während in Deutschland über die Rationierung von Wasser diskutiert wird und erste Kommunen den Wasserverbrauch ihrer Bürger:innen einschränken mussten [5], während in Indien bereits heute Menschen zu dutzenden Menschen an extrem hohen Temperaturen sterben [6] und auch bei uns mit tausenden Hitzetoten zu rechnen ist [7], geht die Party der Reichen weiter. Wir fragen uns, für wen machen sie eigentlich Politik, Herr Scholz?” erklärt Regina Stephan, warum sie sich an der Protestaktion beteiligt. Sie studiert Medizin und ist nebenbei auf einer Intensivstation tätig.

Weiter sagt sie: „Während die Stadtviertel von Ärmeren und der Mittelschicht überhitzen, können sich die Superreichen in ihre klimatisierten Villen und Yachten schützen. Es könnten so viele Menschenleben gerettet werden, wenn die Regierung jetzt endlich handelt.”

Die Klimaschutzbemühungen der Bundesregierung sind völlig ungenügend und sozial ungerecht. Im Gesellschaftsrat können wir eine gerechte Lösung finden, die für die grosse Mehrheit der Bevölkerung gut ist. Parlament und Regierung sollen anschliessend über die vom Gesellschaftsrat erarbeiteten Massnahmen abstimmen. [7]

Fussnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/klimawandel-ozeankonferenz-warnt-vor-versauerung-der-meere-100.html

[2] www.sigmaaldrich.com/DE/de/sds/sigma/46960

[3] theconversation.com/private-planes-mansions-and-superyachts-what-gives-billionaires-like-musk-and-abramovich-such-a-massive-carbon-footprint-152514

[4] www.tagesschau.de/investigativ/ndr/jachten-treibhausgase-klima-101.html

[5] www.agrarheute.com/management/recht/wassermangel-deutschland-wasser-rationierung-fuer-buerger-bauern-608061

[6] www.sueddeutsche.de/politik/indien-hitze-klimaveraenderung-tote-1.5947316

[7] www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/lauterbach-hitzeschutzplan-100.html

[8] letztegeneration.org/gesellschaftsrat/

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —   blicke auf die schiffe

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von Redaktion am 22. Juni 2023

„Krieg und Frieden“
Einreiseverbot in Georgien: Franz Kafka lässt grüßen

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Aus Jerewan Filipp Dzyadko

Nur noch zwei Schritte, dann wäre ich zu Hause, bei meiner Familie. Doch der Grenzer sagt: „Ihnen wird die Einreise verweigert.“ Ohne Angabe von Gründen. Herzlich willkommen, nicht zu Hause, sondern in der Welt von Franz Kafka.

Georgien ist eines der Hauptziele russischer Migranten. Nach dem 24. Februar 2022 kamen überstürzt Zehntausende, die Putins Krieg nicht unterstützen. Auch ich habe mit meiner Familie ein Jahr lang in Georgien gelebt. Und erlebte dann für 24 Stunden so etwas wie der Protagonist im Spielberg-Film „Terminal“, gespielt von Tom Hanks. Als Bürger einer osteuropäischen Diktatur ist dieser gezwungen, auf einem Flughafen zu leben. Er wird dort als „unerwünschtes Element“ bezeichnet.

Ich kam von einer Dienstreise aus Berlin zurück. Bei der Passkontrolle in Tbilissi hieß es, es gäbe einen „Systemfehler“. Das Foto aus meinem Pass wurde irgendwem per WhatsApp geschickt. 23 Stunden verbrachte ich daraufhin in einer Arrestzelle, um dann zu hören: „Einreise verweigert“. Immer öfter können Menschen aus Russland nicht mehr nach Georgien einreisen. Vielleicht möchte das Land nicht als Hort von Putin-Gegnern gelten. Vielleicht liegen dort Listen des russischen Geheimdienstes aus. Oder die Regierung der Kaukasusrepublik weiß schlicht nicht, wie sie mit der neuen Realität umgehen soll.

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Mir wurde gleich am Flughafen vorgeschlagen, ich solle mir doch ein Flugticket „irgendwohin“ kaufen. Ich kaufte dann eins ins benachbarte Armenien, um in der Nähe meiner Familie zu sein, die in Georgien blieb. Und ich dachte: Wo sollen wir jetzt eigentlich neu anfangen? Meine Frau, meine Tochter, die das Schuljahr in ihrer georgischen Schule beenden muss.

Warum ich nicht einreisen durfte? Jemand meinte, es sei vielleicht wegen meines Romans „Radio Martyn“. Darin geht es um einen oppositionellen Piratensender und die Giganten, die Putins Welt und seine Propaganda zerstören. Eine andere Vermutung: Vor zehn Jahren war ich aktiv im „Koordinierungsrat der Opposition“. Oder: Weil mein Bruder Chefredakteur des oppositionellen russischen TV-Senders Doshd ist. Was immer auch die Erklärung sein mag, meine Einstellung zu Georgien ändert das nicht: Ich werde das Land weiter lieben. Denn ein Staat und die Menschen, die darin lieben, sind zwei unterschiedliche Dinge.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>     weiterlesen

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Oben     —      Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Die Linken Hasenfüße

Erstellt von Redaktion am 21. Juni 2023

Regierungen sind nicht in Stein gemeißelt

Ein Schlagloch von Robert Misik

Progressive Regierungen sollen auf die Meinungen der Mehrheit Rücksicht nehmen, heißt es. Doch die sind nicht in Stein gemeißelt. Wer nur darauf aus ist, in der Bubble der Überzeugten eine Heldin zu sein, tut niemandem einen Gefallen.

Häufig kursieren in den sozialen Medien lustige Memes von der Art: „Viele Zitate im Internet sind erfunden (Julius Cäsar)“. Gut, das ist deutlich erkennbar erfunden, obwohl auch darauf manche Leute reinfallen. Längst tut man sowieso gut daran, allen Zitaten zu misstrauen. Ehrlicherweise muss man aber auch einräumen, dass es nicht das Internet gebraucht hat, um Falschzitate zu verbreiten. Manchmal hilft das Internet sogar, verfestigtes Falschwissen zu untergraben.

Eines meiner Lieblingszitate des großen Ökonomen John Maynard Keynes ist seit vielen Jahren: „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und was machen Sie?“ Leider beging ich unlängst den Fehler, die Quelle zu googeln, was in der schockierenden Entdeckung mündete, dass auch das ein Falschzitat ist und nicht von Keynes ist. Sehr verdient um die Enttarnung von Falschzitaten hat sich der Wiener Literaturwissenschaftler und Karl-Kraus-Forscher Gerald Krieghofer gemacht. So fand er für ein kursierendes Zitat des legendären sozialistischen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky die Ursprungsquelle in einer Ausgabe der Salzburger Nachrichten vom Mai 1976. Der sagte: „Solange ich da bin, wird rechts regiert.“

Kreisky, der eine stark selbstironische Seite hatte, meinte damit: Man dürfe die Leute nicht mit gesellschaftlicher Progressivität, radikalen Plänen und wilder Rhetorik überfordern. Lieber solle man ein gemäßigter Sozialist sein, der dafür Mehrheiten hinter sich versammeln kann, als ein radikaler Sozialist, der wirkungslos bleibt, weil er keine Wahlen gewinnen kann. Damit hat er radikale ökonomische Forderungen seiner linken Parteifreunde gemeint (wie weitgehende Reichensteuern und Verstaatlichungen), aber auch gesellschaftspolitische Modernisierungen wie die Frauen­eman­zi­pation. Kreisky hat beispielsweise die Fristenlösung für den Schwangerschaftsabbruch eingeführt, aber im Grunde musste er von den kämpferischen Frauen in seiner Partei dazu gezwungen werden. Diese und andere progressive Gesetze hatten am Ende viel Unterstützung hinter sich, aber Kreisky hätte damit nicht gerechnet.

Ein bisschen Hasenfuß war er schon. Übrigens nicht viel anders als der legendäre Anführer der italienischen Eurokommunisten, Enrico Berlinguer. Der gewann eine Volksabstimmung über die Fristenlösung, die er eigentlich nicht wollte, weil er sicher war, diese niemals gewinnen zu können. Und das ist nur ein Beispiel einer einstmals sehr umkämpften gesellschaftspolitischen Reform. Man kann hier die vielen anderen Thematiken – Diversität einer Zuwanderergesellschaft, moderne Staatsbürgerschaftsgesetze, LGBTIQ-Rechte – dazu denken. Linke Regierungskunst heißt ja, den Königsweg zwischen ambitionierter Radikalität und beruhigender Mäßigung zu finden, und dieser Königsweg ist leider nicht auf Landkarten verzeichnet. Wenn Robert Habeck anmerkt, wie unlängst beim Kölner Philosophie-Festival, dass Ideen untauglicher Schrott sind, wenn sie so radikal seien, dass sie politisch nichts nützen, dann ist das wie ein moderner Nachklang des Kreisky-Aperçus. Der Realist will seine Ansichten so formulieren, dass sie an die vorherrschenden Meinungen in einer Gesellschaft zumindest anschlussfähig sind.

Völlige Zustimmung, nur gibt es eine kleine Kompliziertheit: „vorherrschende Meinungen“ oder Konventionen sind keine unveränderbaren Konstanten. Je furchtsamer man ist, umso weniger wird man sie vielleicht in eine progressive Richtung verändern. Auch bei Sozialdemokraten gab es in den vergangenen Jahrzehnten starke Stimmen, die drängten, man müsse sich an einen konservativen Zeitgeist anpassen, um stärker zu werden, was aber oft nur dazu geführt hat, dass die Sozialdemokratie schwächer und der rechte Zeitgeist stärker wurde.

Gern wird heute auch angeführt, dass die Progressiven die Wäh­le­r:in­nen mit sozialpolitischen und ökonomischen Themen gewinnen können, sie aber mit zu viel gesellschaftspolitischem Klimbim oder der Thematisierung von Trans-Toiletten abschrecken würden. Oft unterschätzt man jedoch die potenzielle Fortschrittlichkeit einer Gesellschaft, weil man kein präzises Bild vom wirklichen Meinungstohuwabohu der Leute hat. Und außerdem haben wir jetzt schon ein paar Jahre lang die Erfahrung gemacht: Wenn Linke in „die Mitte“ rücken, dann führt das nur dazu, dass sich diese „Mitte“ nach rechts verschiebt.

Quelle          :         TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Oben      — Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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Kein Lust auf Nachrichten?

Erstellt von Redaktion am 21. Juni 2023

Medienkonzerne schlagen laut Alarm

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 Bundesvorsitzender des Deutscvhen Jounalistenverbandes ist seit 2015 der Journalist Frank Überall,

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Der „Reuters Institute Digital News Report“ ist eine hochmögende Einrichtung der Medienkonzerne. Seine Analyse ist weniger Teil der allgemeinen Dauermanipulation, sondern dient eher der nüchterneren Selbsteinschätzung zur Verbesserung der täglichen Bearbeitung des Massen-Bewusstseins. Insofern ist der Report von seltener Ehrlichkeit geprägt. Zwar legt auch diese Arbeit ihre Fragen nicht offen – nur wer die Fragen kennt, kann das Ziel der Befragung genau erkennen – aber weil der Report ein Arbeitsinstrument ist, ist in ihm die Lage der Medien in Deutschland deutlich zu begreifen: Das Vertrauen der Medien-Nutzer in ihre Medienkost ist weiter gesunken. Jeder Zehnte versucht sogar, den Nachrichtenkonsum aktiv zu vermeiden. Noch schlimmer ist dieser Satz des Reports für die Selbsterkenntnis der Manipulationsapparate: „Die Bedeutung Video-getriebener sozialer Netzwerke als Informationsquelle nimmt unterdessen weiter zu“.

Kein Vertrauen in Nachrichten

Nur noch 52 Prozent der erwachsenen Internetnutzer in Deutschland geben an, sehr an Nachrichten interessiert zu sein. Im Vorjahr waren es noch 57 Prozent. Die Frage nach dem WARUM der Nachrichten-Müdigkeit wird von jenem Teil der Studie der öffentlich zugänglich ist nicht beantwortet. Und doch findet sich ein klarer Hinweis in der Arbeit: „Mur 43 Prozent sind der Ansicht, man könne dem Großteil der Nachrichten in der Regel vertrauen. Das sind sieben Prozentpunkte weniger und gleichzeitig der niedrigste Wert, seitdem die Frage 2015 erstmals gestellt wurde“. Nur wer dem Wahrheitsgehalt der Nachrichten vertraut, kann auf Dauer ein Interesse an den Nachrichten haben. Dieses Interesse aber ist die Basis der Steuerungsmöglichkeit des Massen-Bewusstseins.

Alternative Medien ausgeblendet

Während die vorliegende Reuters-Studie die Wirkung der traditionellen Medien relativ kritisch reflektiert, werden die alternativen Medien ausgeblendet. Dass Informationsplattformen wie die „Nachdenkseiten“ oder „apolut“ die wesentlichen Voraussetzungen für die wachsende Distanz zu den üblichen Medien geschaffen haben, will die Reuters-Studie nicht erwähnen und verlegt sich so selbst den Weg zur Erkenntnis der eigenen Lage. Im Handbuch für Ausbildung und Praxis im Hörfunk des Springer-Verlags wird die Nachricht so definiert: „Die Nachricht ist eine direkte, auf das Wesentliche konzentrierte und möglichst objektive Mitteilung über ein neues Ereignis, das für die Öffentlichkeit wichtig und/oder interessant ist. „Neutral, nüchtern, parteilos“, wie das Synonym-Lexikon den Begriff „objektiv“ übersetzt, ist die Mehrheit der Nachrichten nicht.

Keine Rede von Objektivität

Spätestens während der Zeit des Corona-Regimes, als die deutschen Medien Gegenstimmen zum Kurs der Regierung komplett ausblendeten oder diffamierten, kann von Objektivität keine Rede mehr sein. Seit Beginn des Ukrainekriegs wurde diese Gleichschaltung der Mehrheits-Medien fortgesetzt. Von einer offenen, demokratischen Berichterstattung konnte und kann nicht mehr die Rede sein. So muß das das „gesunkene Vertrauen der Medien-Nutzer“ als verständliche Reaktion gewertet werden. Allerdings betreibt die Reuters-Untersuchung keine Ursachen-Forschung. Von den Gründen für das gesunkene Interesse an den Nachrichten ist nicht die Rede. Im Ergebnis dieses offensichtlichen Analyse-Mangels ist eine Änderung der Lage nicht zu erwarten. Man kann und muß sogar unterstellen, dass diese Verweigerung einer Ursachenforschung den Kurs der deutschen Medien eher weiter betoniert.

Gleichtakt von Mehrheitsmedien, Regierung und „YouTube“

An keiner Stelle schreibt die Reuters-Studie über die Löschungen bei „YouTube“. Obwohl die „Bedeutung Video-getriebener sozialer Netzwerke als Informationsquelle“ bei Reuters hervorgehoben wurde, findet die gezielte Zensur bei „YouTube“ nirgends eine Erwähnung. Aber gelöscht wurden genau jene Informationen, die dem Einheitskurs der Medien widersprachen. Zwar fehlt bisher jeder Beweis einer organisierten Zusammenarbeit zwischen Regierung und „YouTube“, aber dieser verschwiegene und verschweigende Gleichtakt von Mehrheitsmedien, Regierung und „YouTube“ kann kein Zufall sein. Gar keine Erwähnung findet die russisch inspirierte Plattform „RT Deutsch“. Die Plattform wird als Feindsender behandelt, so als sei Deutschland bereits offiziell in den Ukraine-Krieg verwickelt. Den Fall „RT Deutsch“ einfach nicht zu erwähnen, ist eine Verweigerung, die Wirklichkeit wahrzunehmen, die vor allem bei einer Medienanalyse mehr als befremdlich ist. Diese Weigerung ist geradezu eine stillschweigende Anerkennung der zentralen Steuerung von Zensur und stellt der Reuters-Studie ein erbärmliches Zeugnis aus.

Kampagne für Medienfreiheit?

Für die alternativen Medien ist die Lage nach der Reuters-Studie eindeutig: Sie wären die Rettung für den verbliebenen Rest von Presse- und Meinungsfreiheit. Wenn sie denn die zunehmend unzufriedeneren Medienkunden erreichen würden. Dem steht ihr mangelnder Bekanntheitsgrad im Wege: Selbst kritische Medienkonsumenten wissen häufig nicht, dass es Alternativen gibt und wo man sie erreichen kann. Es ist an der Zeit für eine gemeinsame Kraftanstrengung aller alternativer Medien, um deren Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Es ist an der Zeit für eine Kampagne für Medienfreiheit, die sich nicht im Appell erschöpft.

Die Original Reuters-Studie:
https://leibniz-hbi.de/de/publikationen/reuters-institute-digital-news-report-2022-ergebnisse-fuer-deutschland

Urheberrecht

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Oben      —     Frank Überall bei einer Diskussion in Köln-Mülheim (2008)

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Balken & Torten:

Erstellt von Redaktion am 21. Juni 2023

So schlecht argumentiert das BKA für die Vorratsdatenspeicherung

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Frage an Radio Eriwan: „Warum nehmen Politiker-innen einen solchen Job an, wenn sie eine so große Angst um ihre Sicherheit haben?“ Aus reiner Gier – einmal im Blick der Öffentlichkeit zu stehen ? Oder geht es ums Geld?

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von       :         

Das Bundeskriminalamt macht mal wieder Stimmung für die Vorratsdatenspeicherung. Das geht aus Folien einer Präsentation hervor, die wir veröffentlichen. Sie enthält Ungereimtheiten und verschleiert Zusammenhänge.

Das Bundeskriminalamt (BKA) kämpft seit Jahren für die Vorratsdatenspeicherung. Die Begründung wechselt von Terrorismus über Organisierte Kriminalität zu (seit einiger Zeit) Kindesmissbrauch.

Bei einem Fachgespräch im Familienausschuss des Bundestages am Mittwoch wird BKA-Vizepräsidentin Martina Link eine Präsentation mit dem Titel „Bedeutung der IP-Adresse in der Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen“ halten. Die Polizeibehörde wirbt damit wieder für die derzeit rechtswidrige Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen. Wir haben uns die Folien, die wir an dieser Stelle veröffentlichen (PDF), angeschaut und haben irreführende Aussagen gefunden. Nicht zum ersten Mal.

In der ersten inhaltlichen Folie wird skizziert, wie sich die Fallzahlen bei verschiedenen Straftaten entwickeln. Hier vermischt das BKA Straftaten, die Kinder unmittelbar betreffen – etwa Tötungsdelikte und Missbrauchsfälle – und Straftaten, die mit einer Verbreitung von Inhalten im Internet zu tun haben. Aber nur für manche dieser Straftaten ist eine IP-Adresse relevant.

Aufhellung Dunkelfeld unterschlagen

Eine Grafik sticht besonders hervor. Sie betrifft den Zeitraum zwischen 2016 und 2022 und beschreibt Verdachtsfälle von „Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung kinderpornographischer Schriften § 184b StGB“. Hierzu gebe es eine Steigerung von 640 Prozent. Diese Zahl braucht eine genaue Einordnung. Ansonsten entsteht der Eindruck, dass hier ein Kriminalitätsfeld mit unglaublicher Geschwindigkeit wachse. Folgende Einordnungen fehlen auf der Folie:

Die vom NCMEC veröffentlichten Zahlen werden oftmals falsch wiedergegeben oder in einen falschen Kontext gesetzt, wie unsere Analyse aus dem vergangenen Jahr gezeigt hat. Das heißt: Auch eine höhere Anzahl von Meldungen des NCMEC an das BKA muss nicht bedeuten, dass es wirklich mehr Straftaten gibt.

Erfolgreich ohne Vorratsdatenspeicherung

In der vierten Folie wird präsentiert, mit welchen Fahndungsmethoden das BKA in Folge einer NCMEC-Meldung Erfolg hat. Demnach machen IP-Adressen – auch ohne Vorratsdatenspeicherung – 41 Prozent der erfolgreichen Ermittlungen aus, es folgen Telefonnummern mit 28 Prozent und E-Mail-Adressen mit 6 Prozent. 25 Prozent aller NCMEC-Meldungen führen demnach nicht zu einem Ermittlungserfolg. Die Erfolgsquote nach einer NCMEC-Meldung liegt nach der präsentierten Statistik also bei 75 Prozent. Damit liegt diese Quote um knapp 20 Prozentpunkte höher als der Durchschnitt aller Straftaten: Laut Polizeilicher Kriminalstatistik werden allgemein nämlich 57,3 Prozent aller Fälle aufgeklärt.

In der fünften Folie werden die Erfolgsquoten anderer Fahndungsansätze wie Telefonnummern und E-Mail-Adressen näher untersucht. Sie kommen demnach zum Einsatz, wenn der Ansatz per IP-Adresse nicht funktioniert. Telefonnummern können zum Beispiel bei der Verbreitung von Materialien über Messenger wie WhatsApp oder Signal als Fahndungsmerkmal dienen. Spannend ist hier die niedrige Erfolgsquote von nur 49 Prozent. Immerhin lässt sich über die Telefonnummer per Bestandsdatenabfrage herausfinden, auf welchen Namen der Telefonvertrag läuft. Diese Ermittlungsmethode ist aber nur knapp erfolgreicher als die über eine IP-Adresse, die nach dem Ende der Vorratsdatenspeicherung oftmals nur sieben Tage lang gespeichert wird.

Längere Speicherung bringt nur geringe Vorteile

Die sechste Folie lässt sich ohne weiteren Kontext nicht mit Sicherheit deuten. Eine Tabelle listet das „Alter“ einer IP-Adresse in Tagen auf und ordnet diesem Alter einen Ermittlungserfolg in Prozent zu.

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Wir interpretieren das so, dass mit dem „Alter“ der IP-Adresse die Speicherdauer der Adresse beim Provider gemeint ist. In diesem Fall würde die Folie zeigen: Auch wenn Provider die Daten nach sieben Tagen löschen, wären ihre Ermittlungen in mehr als drei Vierteln der Fälle erfolgreich. Eine Verdoppelung der Speicherfrist auf 14 Tage brächte gerade 8 Prozentpunkte mehr Fahndungserfolg. Eine weitere Erhöhung der Speicherfrist auf 26 Tage brächte dann noch einmal 6 Prozentpunkte. Das zeigt: Die längere, grundrechtlich bedenkliche Vorratsdatenspeicherung würde nur minimale höhere Erfolgsquoten erzielen.

Das ist schon lange bekannt; auch eine wissenschaftliche Studie belegt, dass der Wegfall der Vorratsdatenspeicherung nicht zu nennenswert schlechteren Ermittlungserfolgen führt. Einschränkungen für die Polizei, ob nun durch Verschlüsselung oder durch fehlende IP-Adressen, haben bislang immer dazu geführt, dass die Polizei auf alternative Ermittlungsmethoden zurückgegriffen hat und damit auch erfolgreich war. Hinzu kommt, dass die Polizei aufgrund der Digitalisierung auf eine noch nie dagewesene Fülle von Daten zurückgreifen kann.

In der Ampel gibt es weiterhin Streit um die Vorratsdatenspeicherung. Während das Justizministerium von Marco Buschmann (FDP) die Vorratsdatenspeicherung ablehnt und stattdessen schon einen Entwurf für das Quick-Freeze-Verfahren vorgelegt hat, will Innenministerin Nancy Feaser (SPD) eine neue Vorratsdatenspeicherung und an das Äußerste gehen, was das Urteil des Europäischen Gerichtshofes zulässt.

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Grafikquellen     :

Oben           —   Bundeskanzlerin Merkel mit Personenschützern des BKA

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Vom Nildelta in den Tod

Erstellt von Redaktion am 21. Juni 2023

Bootsunglück im Mittelmeer

Aus Kairo von Karim El-Gawhary

Viele der auf dem letzte Woche verunglückten Boot kamen aus Ägypten. Im Nildelta beginnt eine der Routen eines perfiden Schmugglersystems.

Der Untergang des Schiffes voller Migranten vorige Woche im Mittelmeer ist eine griechische Tragödie. Doch es ist auch ein ägyptisches Drama. 43 der 104 Überlebenden sind Ägypter, enthüllte die ägyptische Migrationsministerin Soha Gindi am Montag. Neun der Überlebenden, die wegen Verdachts der Schlepperei festgenommen und dem Haftrichter vorgeführt wurden, sind ebenfalls Ägypter. Auch unter den restlichen Menschen an Bord – insgesamt waren es Schätzungen zufolge rund 750 – soll sich eine hohe Zahl an Ägyptern befunden haben. Sie wurden entweder bereits tot geborgen oder gelten als vermisst.

Inwieweit die neun verhafteten Ägypter als Schlepper gearbeitet haben, ist jetzt eine Frage für die griechische Justiz. Vor dem Haftrichter erklärten die Männer ihre Unschuld. „Mein Mandant sagt, er sei auch nur ein Opfer und habe eine erhebliche Summe für eine Reise von Ägypten nach Italien gezahlt“, erklärte Dimitris Drakopoulos, ein Pflichtverteidiger eines Angeklagten. Er sei von sich aus ins Meer gesprungen, um Wasserflaschen zu holen, die ein Frachter zuvor abgeworfen hatte, nachdem auf dem Migrantenschiff das Wasser ausgegangen sei.

Wenn es sich bei den Verhafteten tatsächlich um Schlepper handelt, dann wohl nur um die ganz kleinen Fische. Es ist üblich, dass die Organisatoren der Schiffe günstigere Preise machen, wenn man an Bord Handlangerdienste leistet. Laut der unabhängigen ägyptischen Nachrichtenplattform Mada Masr berichteten Angehörige zweier der Festgenommenen, dass diese erst vor wenigen Wochen Ägypten verlassen hätten, um nach Europa zu reisen.

Die Hinterleute sitzen woanders. Einer der Namen, die im Zusammenhang mit der Tragödie genannt werden, ist der des Libyers Muhammad Abu Sultan, genannt „Kaiser des Meeres“, der auch der Besitzer des gesunkenen Boots sein soll. Mit seinen Brüdern Salem Abu Sultan, auch genannt „der Führer“, und Ali Abu Sultan unterhält er einen Schmugglerring in Tobruk, schreibt die ägyptische Nachrichtenseite Veto. In der ostlibyschen Stadt war das Boot gestartet.

Tausende Euro für eine Überfahrt

Doch das gesamte System der Schmuggler lässt sich nicht an einigen Namen festmachen, die auf lokaler Ebene zu Schmugglergrößen geworden sind. Es ist ein riesiger Schmugglerring, der sich aus dem Inneren Afrikas über Ägypten, Libyen und Tunesien bis nach Europa zieht. Von einem „gigantischen Spinnennetz“ spricht Gamal Gohar, der für die überregionale arabische Tageszeitung Asharq al-Awsat als Investigativreporter in Sachen Migration und Libyen arbeitet. „Das ist wie ein Markt mit Angebot und Nachfrage, und die Nachfrage wächst immer mehr.“

Die Menschen würden von einer Schlepperbande an die nächste übergeben, bis sie ihr Ziel erreicht haben. „Das ist wie ein Bewässerungssystem im Nildelta. Eine Pumpe transportiert das Wasser in einen Kanal und von dort wird es über andere Pumpen in weiter entfernte Kanäle geleitet“, beschreibt Gohar das System gegenüber der taz.

Im Nildelta in Ägypten befindet sich auch einer der Anfangspunkte des Systems. In den ärmlichen Dörfern sprechen sich die Namen der Ansprechpartner der Schlepper herum, auch über sozialen Medien. Sie fungieren unter falschem Namen, meist als „Hagg soundso“. Hagg ist im Arabischen die Anrede für einen ehemaligen Pilger nach Mekka, eine perfekte anonyme Anrede.

Auf den Weg machen sich vor allem junge Männer, aber auch Kinder und Minderjährige. Er kenne viele 13- oder 14-Jährige, die die Reise angetreten haben, oftmals mit einem älteren Bruder, sagt der ägyptische Investigativjournalist. Armut sei fast immer das Hauptmotiv.

Laut Weltbank leben zwei von drei Ägyptern unter der Armutsgrenze oder drohen in diese abzustürzen. Im ländlichen Nildelta sind die Zahlen noch höher. Die Inflationsrate im Vergleich zum Vorjahr liegt offiziell bei 33 Prozent, bei Nahrungsmitteln ist die Preissteigerung zum Teil noch höher. Das ägyptische Pfund hat seit März letzten Jahres die Hälfte seines Wertes verloren. Viele Familien stehen mit dem Rücken zur Wand. Oft erscheint die Fahrt übers Mittelmeer trotz aller Risiken als einzige Perspektive.

Der Preis für die Überfahrt nach Europa ist Verhandlungssache. Bis zu umgerechnet 4.500 Euro werden bezahlt. Viele Familien können sich das nur leisten, wenn sie ihr Vieh verkaufen oder sich massiv verschulden. „Sie versuchen, alles, was sie besitzen, zu Geld zu machen, um eines ihrer Kinder nach Europa zu schicken“, sagt Gohar.

Drogen für die Kinder

Kommt man ins Geschäft, liegt das erste Ziel hinter der libyschen Grenze. Dort werden die Menschen an eine andere Bande übergeben und in entlegenen Häusern „zwischengelagert“, wie es im Schmugglerjargon heiße, erzählt Gohar. Jetzt kommt es darauf an, in wessen Hände sie geraten sind. Handelt es sich um einen „ehrlichen Schlepper“, werden die Menschen nachts auf zehn- bis zwölfstündige Fußmärsche durch die Wüste geschickt.

Die nächtlichen Wanderungen wiederholen sich, bis die Gruppe ihr Ziel erreicht hat. Kindern wird dabei oft Tramadol verabreicht, ein Opioid, das eigentlich ein starkes Schmerzmittel ist. In Ägypten ist Tramadol zu einem Suchtproblem geworden, weil es oft bei schweren Arbeiten eingesetzt wird, etwa in Marmor-Steinbrüchen. Manchmal haben die Wanderungen durch die Wüste Westlibyen zum Ziel. In letzter Zeit geht es oft aber nur bis ins ostlibysche Tobruk, von wo die Gruppen dann nach Europa ablegen. Bei der Ankunft in Europa wird die zweite Hälfte des vereinbarten Geldes bezahlt.

Handelt es sich jedoch um eine Schlepperbande, die auf anderem Wege zu schnellem Geld kommen möchte, dann endet die Reise in Libyen in einem der Zwischenlager. Besonders verwundbar sind die Kinder. Die werden an andere Banden verkauft und enden als Feldarbeiter, Bettler oder in der Prostitution in Libyen. „Die Liste der in Libyen vermissten Kinder und Minderjährigen im ägyptischen Außenministerium ist lang“, sagt Gohar. Von so manchen hörten die Angehörigen nie wieder etwas, entweder weil sie in Libyen als Zwangsarbeiter eingesetzt würden oder weil sie im Mittelmeer ertrunken seien.

Quelle        :         TAZ-online        >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Afrika, Nildelta und Landenge von Sues (3 Punkte=Ruine, Dreieck=Pyramide)

Title
Lange-Diercke – Sächsischer Schulatlas       /   Publisher    :      Georg Westermann (Braunschweig)
Carl Adlers Buchhandlung (Dresden)

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Unten     —     Tubruk

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Ein Unsozialer Ausstieg?

Erstellt von Redaktion am 20. Juni 2023

 Unter den Preisen werden in erster Linie die Ärmeren leiden

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In unmittelbarer Nähe von Atommüll-Lagerstädten sind sicher noch Wohnungen frei

Ein Debattenbeitrag vin Leon Holly

Das Ende der AKW-Nutzung verschärft die sozialen Verwerfungen der Energiewende. Die kleine Stromverbraucherin subventionierte industrielle Windparkbetreiber und gut betuchte Eigenheimbesitzer.

Mitte April war es also vorbei. In Deutschland gingen auch die letzten drei Kernkraftwerke vom Netz. Vor allem im Lichte der Klimakrise erschien die Reihenfolge der deutschen Energiewende – erst aus der Atomkraft raus, dann aus der Kohle, und dann irgendwann auch aus dem Gas – mit der Zeit immer merkwürdiger. Statt mit der Kohle anzufangen, entledigte man sich zunächst einer fast CO2-freien Energiequelle.

Neben dem Weltklima leidet aber auch das oft beschworene soziale Klima unter dem Atomausstieg. Der Plan, das Stromnetz von fossiler und atomarer Grundlastversorgung auf 100 Prozent Erneuerbare umzustellen, bringt nämlich gewaltige Kosten mit sich bringt, unter denen besonders die Ärmsten ächzen.

Zwar können Fotovoltaik und vor allem Windkraft im Alltag recht billig Strom gewinnen. Doch die Gesamtkosten für die Transformation des Energiesystems sind gewaltig. So wollen die Treiber der Energiewende in den kommenden Jahrzehnten eine riesige Infrastruktur aus Kurzzeit- und Langzeitspeichern aus dem Boden stampfen, die bei Bedarf für die wetterabhängigen Erneuerbaren einspringen können. Darüber hinaus muss Deutschland auch das Stromnetz aus- und umbauen, neue Versorgungsleitungen legen und zur Harmonisierung der vielen dezentralen Energiequellen die Digitalisierung voranbringen. Schon heute sehen sich die Netzbetreiber häufig gezwungen, mit teuren „Redispatches“ (Anpassungen) einzugreifen, um Stromproduktion und -nachfrage im Gleichgewicht zu halten.

Alle diese Maßnahmen vergrößern die Rechnung für die Energiewende. Man könnte diese Kosten abmildern, würde man statt der Totaltransformation die Atomkraft als CO2-armen Grundlastsockel für Wind und Sonne beibehalten oder sie gar weiter ausbauen, wie es andere Länder planen. Schon 2021 zog der Bundesrechnungshof bittere Bilanz: Die Energiewende „droht Privathaushalte und Unternehmen finanziell zu überfordern“; die Kosten des Netzumbaus „treiben den Strompreis absehbar weiter in die Höhe“. Dazu kommt der Preis der CO2-Zertifikate, der in den kommenden Jahren weiter steigen und die noch fest verankerte fossile Grundlastproduktion mit Kohle und Gas verteuern wird.

Am Ende zahlen die Verbraucherinnen. Erst vor Kurzem hat die Bundesregierung die EEG-Umlage gestrichen, mit der alle Stromkunden jahrelang den Ausbau von Solar- und Windkraft bezuschussten. Auch die kleine Stromverbraucherin subventionierte darüber großindustrielle Windparkbetreiber und gut betuchte Eigenheimbesitzer, die Solarzellen auf ihre Dächer pflasterten – eine Umverteilung von unten nach oben. Nach über zwanzig Jahren Energiewende und Subventionen in Höhe von Hunderten Milliarden Euro hat Deutschland nicht nur das fossillastigste Netz Westeuropas, sondern auch mit die höchsten Strompreise auf dem Kontinent. Teuer an der Kernenergie wiederum ist vor allem der Bau von AKWs. Im Alltagsbetrieb produzieren sie hingegen effektiv und damit auch günstig Strom, wie Zahlen der Internationalen Energieagentur zeigen – Endlagerungs- und Rückbaukosten eingeschlossen. Besonders eine Laufzeitverlängerung bestehender Meiler hätte also ein Gegenmittel für steigenden Strompreise sein können.

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Die Politik hat mittlerweile erkannt, dass der Abbau gesicherter Leistung zum Problem werden könnte – und setzt deshalb bei der Nachfrage an. Das Umweltbundesamt bezeichnet „die Reduktion des Energieverbrauches“ als „eine der größten Herausforderungen der Energiewende“. Um das Stromsparen zu erleichtern, sollen alle Anbieter variable Stromtarife anbieten: Der Preis wird dann stündlich schwanken, abhängig davon, ob die Sonne gerade scheint oder der Wind weht.

Bis 2032 will die Bundesregierung zudem digitale Strommessgeräte in jedes Haus bringen. Auf den sogenannten Smart Metern können Kunden in Echtzeit erkennen, wie hoch der Strompreis ist und ihr Verhalten daran anpassen. „Demand Management“ nennt die Regierung das. Was nach neoliberalem Sprech klingt, atmet auch ebenjenen Geist: Sind die Strompreise in der Dunkelflaute gerade hoch, werden sich Menschen mit geringem Einkommen wohl zweimal überlegen, ob sie sich den Tarif leisten können. Sie werden einfach aus dem „dynamischen“ Markt gedrängt – oder müssen entsprechend Geld berappen.

In Großbritannien will die Regierung Smart-Meter-Nutzern nun sogar Geld für eingesparten Strom bezahlen. Kritiker warnen zu Recht: Arme Menschen, die bereits nicht viel Energie nutzen, könnten ihren Basisverbrauch noch weiter einschränken, um am Ende des Monats etwas mehr Geld auf dem Konto zu haben. Die gesicherte Leistung aus AKWs könnte solche Angebots- und Preisschwankungen abschwächen. Der Kurs der Bundesregierung droht indes auch hierzulande, den Armen eine neue Art der Austeritätspolitik aufzuerlegen: Sobald die Gesellschaft zum Sparen aufgerufen wird, spüren es die Armen als Erste.

Quelle         :       TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Vessels used for keeping the used radioactive waste. OAP stands for w:Office of Atoms for Peace. OAEP stands for w:Office of Atomic Energy for Peace.

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Linke wohin des Weges?

Erstellt von Redaktion am 20. Juni 2023

Beitrag zur Wagenknechts – Neue Partei 

Von Wolfgang Gerecht, 19. 06.2023

Von den Super-Politik-Expert-innen ist noch kein konstruktiver Beitrag zur Stärkung der darniederliegenden Partei (Nicht nur im Saarland) zu lesen.

Frau Wißler und Herr Schirdewan könnten, Stand heute, lediglich ein Mitglieder-Rückgang auf ca. 50.000 vermelden. So jedenfalls war es im TAZ-Interview (23.04.23) mit dem (noch) parlamentarischen Geschäftsführer, Korte, unwidersprochen benannt worden. BdZ ließ verlauten, dass die von ihm ermittelten Zahlen sich auf etwa 52.600 belaufen würden.

Wer auch immer näher an der „Wahrheit“ liegt, Frau Wißler hat vor kurzer Zeit trotzig verkündete, es seien schon wieder – nach dem verkündeten Wagenknecht-Aus – die ersten Neueintritte zu vermelden. Wieviele es sein sollen, hat sie vorsorglich noch für sich behalten.

DIE „LINKE“ im Saarland, so wurde im KLH geraunt, soll jetzt gerade noch etwa 1.350 Mitglieder zählen, wobei die Altersstruktur der Mitgliedschaft Sorge bereitet.

Statt dem ausführlichen und sehr zahlreichen Gemecker über das Ehepaar Lafontaine-Wagenknecht, wäre es „zielführender“ wenn die selbsternannten „echten“ LINKEN im DL-Saarland den geschäftsführenden LAVO mit Frau Spaniol an der Spitze und ihren weiblichen Mitstreiter Innen, Neumann, Ensch-Engel, Geißinger und den Herren Mannschatz, Bierth und Neumann tatkräftig vor Ort zu unterstützen, um die Zeit bis zur bevorstehenden Kommunalwahl im Jahr 2024 konstruktiv für ein gutes Ergebnis zu nutzen.

Selbstredend würden die „echten“ LINKEN dadurch auch ein zufriedenstellendes Wahlergebnis bei den gleichzeitig stattfindenden Europawahlen schaffen können. Vielleicht sogar in Konkurrenz zu einer – wenn es sie bis dahin gibt – Wagenknecht-Partei.

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Politik, News, Bundesparteitag Die Linke: die neu gewählten Parteivorsitzenden Martin Schirdewan und Janine Wissler

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Süd- und Mittelamerika:

Erstellt von Redaktion am 20. Juni 2023

 Was in vielen unserer Medien unterging

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :     Romeo Rey /   

Linke Reformpolitik hat in vielen Ländern keine Chance, weil sich konservativ dominierte Parlamente mit aller Kraft dagegenstemmen.

In mehreren Ländern Lateinamerikas, wo linksgerichtete Kandidaten in letzter Zeit die Präsidentschaftswahlen gewonnen haben, erweisen sich konservative Mehrheiten in den Parlamenten wie erwartet als entscheidende Bremsklötze. Gesetzes- und Verfassungsprojekte, die auf strukturelle Reformen hinauslaufen sollten, prallen an einer Wand des Widerstands ab. Allerdings kann man auch nicht übersehen, dass die Anhänger des Wandels mangels politischer Erfahrung und innerer Geschlossenheit oft jedes Fingerspitzengefühl vermissen lassen.

Ein typischer Fall für dieses Scheitern ist Chile, das Ende 2021 den kaum 35-jährigen ehemaligen Studentenführer Gabriel Boric zum Präsidenten der Republik wählte, eine linke Mehrheit im Kongress jedoch klar verfehlte. Jener Urnengang schien zu bestätigen, dass das politische Spektrum in diesem Andenstaat in drei ähnlich grosse Drittel zerfällt, wobei die mittlere Fraktion normalerweise eher nach rechts als nach links tendiert. Dieser Trend verstärkte sich gerade noch mal beim Plebiszit über eine neue Staatsverfassung und erst recht bei der kürzlich erfolgten Wahl eines nur noch 51 Personen zählenden Verfassungsrats, in dem nun Konservative und Ultrarechte fast nach Belieben schalten und walten können. Diesen in dem Ausmass von niemandem erwarteten Umschwung kommentiert die britische Tageszeitung «The Guardian» mit Projektionen auf andere Teile des Subkontinents.

Eine Analyse in «Nueva Sociedad» befasst sich mit dem Umstand, dass die Teilnahme an diesen Urnengängen – entgegen früherer Regelungen – obligatorisch war, was offenbar zu starken Verwerfungen zwischen den Blöcken führte. Fatal war auch, dass sich die Linken nicht als Einheit präsentierten, sondern den Eindruck von Zerwürfnis in manchen zentralen Punkten hinterliessen. In naher Zukunft wird die konservative Mehrheit im Verfassungsrat in eben diesen heiklen Fragen (privates oder staatliches Übergewicht in der Alters- und Krankenversicherung sowie im Schul- und Hochschulwesen) Farbe bekennen müssen. Mit simplen Status-quo-Lösungen dürfte sich die Mehrheit des chilenischen Volkes kaum abfinden wollen. Auch für neuere Probleme dürfte es keine Patentformeln geben, z. B. für die Stagnation in der Wirtschaft, das Auflodern der Inflation, die illegale Einwanderung im Norden des Landes, den andauernden Konflikt mit den indigenen Mapuches im Süden und die zunehmende Gewalttätigkeit im Zusammenhang mit dem Rauschgifthandel.

Ein ähnliches Panorama offenbart sich den regierenden Linken in Kolumbien. Präsident Gustavo Petro sah sich kaum ein Jahr nach der Amtsübernahme veranlasst, eine gründliche Umbildung seines Kabinetts vorzunehmen. Sieben der achtzehn Minister mussten den Hut nehmen. Praktisch bei allen Entscheiden muss der Staatschef sorgfältig abwägen, wie er die sehr heterogene Truppe seines Pacto Histórico zusammenhalten kann, während er gleichzeitig in den Reihen der seit zwei Jahrhunderten (mit)regierenden Liberalen und Konservativen die nötigen Stimmen zusammenkratzen muss, um seine wichtigsten Projekte durch das ihm mehrheitlich feindlich gesinnte Parlament hindurchzuschleusen.

Eigentlich sollte die Regierungspolitik in erster Linie darauf hinauslaufen, die Lebensbedingungen für die ärmere Hälfte Kolumbiens substanziell zu verbessern. Doch die bürgerliche Opposition verzögert mit allen Mitteln, Tricks und Vorwänden alle Bemühungen um die versprochene Landreform. Auch die Umsetzung der Friedensabkommen mit verschiedenen Guerillas kommt kaum vom Fleck, berichtet die Online-Zeitung amerika21. Die linken Ultras drohen die Geduld zu verlieren, und auf der Gegenseite lauert im Hintergrund Expräsident Álvaro Uribe, der schon immer «gewusst hat», dass die Verhandlungen mit den Aufständischen nie zu einem für ihn und seine Anhängerschaft akzeptablen Ergebnis kommen würden.

Und wie sieht es aus in Brasilien? Kommt der wiedergewählte Lula da Silva in seinem dritten Mandat mit seinen ähnlich lautenden Plänen in Fahrt? Dass der altverdiente Mann der brasilianischen Arbeiterbewegung – wie seine an die Schalthebel der Regierungsgeschäfte gekommenen Kolleginnen und Kollegen in diesem Erdteil – leisten und liefern möchte, steht ausser Zweifel. Doch auch im südamerikanischen Riesenstaat zählen über kurz oder lang nur die konkreten Ergebnisse. Die Lobbys der reichsten Fazendeiros, der Rohstoffkonzerne, der Bau- und Möbelholzindustrie, der Goldgräber, Viehzüchter und jene der modernen Bergbauindustrie sind landesweit bestens organisiert. Ihre Tentakel reichen in alle legislativen, exekutiven und juristischen Bereiche hinein. Gegen eine solche Übermacht hat auch das formale Oberhaupt eines der grössten Staaten der Welt nicht viel zu bestellen, wie ein Bericht in der NZZ deutlich macht. Vor allem dann nicht, wenn manche Interessenkonflikte tief in die eigene Anhängerschaft hineinreichen.

Etwas anders gelagert sind die Probleme, mit denen sich die Regierung von Nicolás Maduro herumschlägt. Zum einen mochte er einen Punkt für sich verbuchen, als die Meldung in Caracas eintraf, dass sein bis anhin wichtigster Rivale Juan Guaidó schliesslich die Segel streichen musste und sich in die USA abgesetzt hat. Guaidó hatte vor ein paar Jahren erreicht, dass ihn rund 60 Staaten (vor allem der Alten Welt sowie einige konservativ regierte in Lateinamerika) als «legitimen Präsidenten» von Venezuela anerkannten. Rückblickend ist nun festzustellen, dass solche Illusionen kaum mehr als eine peinliche Schaumschlägerei waren.

Zum andern muss Maduro nun zuschauen, wie Washington Venezuelas einst rentabelstes Unternehmen im Ausland ausschlachtet und den Meistbietenden zum Kauf anbietet. Wörtlich aus der Depesche von amerika21: «Mit drei Raffinerien und einem Netz von mehr als 4000 Tankstellen in den USA hat Citgo im vergangenen Jahr einen Gewinn von 2,8 Milliarden US-Dollar erzielt und könnte mit 13 Milliarden Dollar bewertet werden. Caracas hat jedoch seit 2019 keine Einnahmen mehr erhalten, nachdem Washington die Selbstausrufung Guaidós zum ‹Interimspräsidenten› anerkannt und die Leitung von Citgo an einen Ad-hoc-Vorstand der Opposition übergeben hatte.» Lateinamerika wird die Abwicklung dieses Falles aufmerksam verfolgen, um eigene Schlüsse über die Sicherheit von fremdem Eigentum in den USA zu ziehen.

Auf der Kippe scheint das Schaukelspiel zwischen links und rechts in Ecuador zu stehen. Dort hat der konservative Staatschef Guillermo Lasso denselben Schritt unternommen wie sein damaliger linksgerichteter Amtskollege Pedro Castillo im benachbarten Peru. Beide wollten den gordischen Knoten zwischen ihrer Regierung und der Opposition mit der Schliessung des Parlaments und nachfolgenden Neuwahlen lösen, was man im Äquatorstaat hochoffiziell als muerte cruzada (gleichzeitiger Tod) bezeichnet. Dem Amtsinhaber in Quito könnte laut amerika21 dieses Manöver gelingen, während der Schuss in Lima nach hinten losging. Als möglicher Profiteur in dieser verzwickten Situation lauert Ecuadors früherer Präsident Rafael Correa.

In Argentinien, wo man sich auf allgemeine Wahlen im Oktober vorbereitet, ist mittlerweile ein neuer wertgrösster Geldschein in Umlauf gesetzt wurden. Er lautet auf 2000 Pesos, zum offiziellen Wechselkurs beträgt sein Wert derzeit umgerechnet knapp 8 Franken / Euro / US-Dollar, zum parallelen oder «schwarzen» Kurs gar nur die Hälfte davon. Bis zum Jahresende rechnet man in Buenos Aires mit einer Inflationsrate von 140 Prozent. Das Karussell der Anwärter auf die Nachfolge des diffus populistischen Präsidenten Alberto Fernández dreht sich schwindelerregend, und viele fragen sich, was für einen Reiz es haben könne, sich um ein derart giftiges Erbe zu streiten.

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Oben      —   Citgo-Tankstelle in Belleville (Wisconsin)

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 20. Juni 2023

Parteienfamilien und andere Inseln

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Durch die Woche mit Nina Apin

Unsere Autorin redet mit fremden, einsamen Menschen. Tage danach beklagt sich ein italienischer Freund auch über Einsamkeit – wegen Berlusconi.

Haben Sie auch nicht gemerkt, oder? Dass gerade die Aktions­woche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“ zu Ende ging, meine ich. Sie fand ohne große Öffentlichkeit, von Montag bis Freitag statt, um für das Problem zu sensibilisieren, das laut Bundesfamilienministerium besonders häufig junge Erwachsene und sehr alte Menschen, meist Frauen, betrifft: einen empfundenen Mangel an sozialen Beziehungen zu anderen Menschen.

Von der Website der Aktionswoche geriet ich auf eine Mitmachseite, auf der man einen „Ort der Gemeinsamkeit“ eintragen konnte, um sich einsamen Menschen als Gegenüber zur Verfügung zu stellen. Kurz dachte ich an unseren Küchentisch, der wie geschaffen ist für ausufernde Gespräche und ebenso ausufernde Mahlzeiten – der eben aber auch ein Ort des familiären Chaos ist. Ein Flyer zur Aktionswoche zeigt einen älteren Mann allein beim Essen: „Einsamkeit sitzt mit am Tisch“, so der Slogan.

Ich versuchte mir unseren Küchentisch verwaist vorzustellen, ohne das ganze Gerümpel und das laute Durcheinanderreden drum herum – es gelang mir nicht. Interessant, wie gut Verdrängung funktioniert. Dabei hatte ich mich doch erst letzte Woche mit Kind eins auf Klassenfahrt, Kind zwei und dem Mann ständig auf Achse durchaus mal einsam gefühlt – allerdings nur sehr punktuell, weil es mich eben traurig macht, alleine zu essen.

Echte Einsamkeit aber ist fies, sie macht gleichzeitig mürbe und bedürftig; das merke ich, wenn ich den verwitweten Onkel am Telefon habe oder der alleinstehenden älteren Frau aus der Straße begegne, die nach einem freundlichen „Wie geht’s?“ gar nicht mehr aufhört zu reden.

Klagen über Einsamkeit

Der Mitarbeiter meiner Friseurin hat unlängst gekündigt – er war, so erzählte sie, genervt von den älteren Herrschaften, für die das Waschen, Schneiden, Legen, Föhnen der Höhepunkt ihrer Woche ist. Friseursalons sind auch Orte gegen Einsamkeit, allerdings nur für diejenigen, die es sich leisten können, sie regelmäßig aufzusuchen.

Wer es sich nicht leisten kann, sich temporär auf Inseln der (wenn auch kommerziellen) menschlichen Interaktion zu flüchten, verwelkt in der eigenen Wohnung und lauert auf Kontaktaufnahmen von außen – und sei es nur der Paketbote, der eine Sendung für den Nachbarn dalassen will.

Am Dienstag klagte auch mein ita­lie­ni­scher Freund überraschend über Einsamkeit. Erst war ich etwas besorgt, schließlich entstand unser Kontakt während des ersten Coronalockdowns, als wir, deprimiert und so­zia­ler Kontakte außerhalb der eigenen vier Wände bedürftig, uns regelmäßig digital zu unterhalten anfingen.

Einsam dürfte der Cavaliere nicht gewesen sein

Job verloren? Freundin weg? – Nein, präzisierte er, es sei politische Einsamkeit, die ihn plage. Nicht nur er, ganz Italien fühle sich wie verwaist, nachdem der ewige „Cavaliere“ das Zeitliche gesegnet hatte: „Mein ganzes Leben lang war Silvio Berlusconi immer da“, barmte er. – Ganz Italien in Trauer und Einsamkeit?

Nun ja. Ich erinnerte ihn dezent an das Buch in seinem Rücken, das er mir bei anderer Gelegenheit einmal gezeigt hatte. „L’odore dei soldi“ (Der Geruch des Geldes), das den zweifelhaften Quellen von Berlusconis immensem Reichtum nachspürt, fand 2001 mehr als 300.000 LeserInnen in Italien. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass es Berlusconi nur dank seiner engen Kontakte zur sizilianischen Mafia gelungen sei, seine Firma Fininvest aufzubauen.

Quelle         :         TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben        —     Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Er wird bleiben

Erstellt von Redaktion am 19. Juni 2023

Berlusconi war längst eine Randfigur, die Medien ihm gegenüber milde geworden.

Ein Debattenbeutrag von Francesca Polistina

Sein Tod wird keine breitere kritische Distanzierung zur Folge haben. Es ist beängstigend und pathetisch zugleich, dass nun von einem außergewöhnlichen Leben die Rede ist.

Die italienischen Medien neigen oft zur Übertreibung, doch nach Silvio Berlusconis Tod am 12. Juni schienen manche von ihnen jedes Maß verloren zu haben. Ganze 20, sogar 30 Seiten widmeten die wichtigsten Zeitungen dem Ereignis. Dass der Tod aufgrund des hohen Alters und der Krankheit erwartet worden war und die Redaktionen Zeit hatten, sich vorzubereiten, half in Sachen Knappheit nicht. Doch abgesehen von der Berichterstattung zu der Trauerfeier im Mailänder Dom, die bis ins kleinste, unnötige Detail erzählt wurde, gab es in den vielen Beiträgen wenig Neues zu lesen.

Berlusconi ist seit zehn Jahren keine zentrale politische Figur mehr, obwohl seine Partei für die Bildung der Meloni-Regierung entscheidend war und immer noch ist. In den vergangenen Jahrzehnten ist über ihn fast alles gesagt worden. Ja, es bleibt noch einiges Wichtige zu klären, seine Verstrickung in verbrecherische Strukturen wie die Mafia zum Beispiel, es ist aber fraglich, ob das je passieren wird. Über Berlusconi als Unternehmer und Medienmogul, als Freund der Neofaschisten, als moralisch verwerflicher Politiker, als erster Populist seiner Art und Inspirationsquelle für alle Trumps der Welt wurden allerdings genügend Zeilen geschrieben. Wohlgemerkt: ohne dass das je zu einer eindeutigen Zuordnung seiner politischen Figur geführt hat. Denn obwohl die ausländische Presse meistens eine klare Meinung zu Berlusconi hat: in Italien gibt es die schlicht nicht. Von seinen Anfängen in der Politik 1993/1994 bis zu seinem Tod hat Berlusconi die öffentliche Meinung in Italien immer gespalten. Viele hassen ihn, viele andere verehren ihn.

Was wird also bleiben? Die Frage bezüglich seiner Partei Forza Italia wird sich in den nächsten Monaten klären. Berlusconi hat sich nie um einen politischen Nachfolger gekümmert, er ist immer der Chef – besser: die Partei selbst – gewesen. Die Forza Italia ist nun kopflos, eine Auflösung nach 30 Jahren nicht ausgeschlossen. Sollte das tatsächlich passieren, könnten die jetzigen Parteimitglieder zu Giorgia Meloni oder eventuell zu Matteo Salvini wechseln. Der Terzo Polo (dritter Pol), eine politische Gruppe aus der Mitte um Carlo Calenda und Matteo Renzi, könnte zwar manche Berlusconi-Anhänger anlocken, doch angesichts der schlechten Wahlergebnisse hat er gerade eine geringe Anziehungskraft. Schlüsselfigur innerhalb der Forza Italia ist der Koordinator und ehemalige Präsident des Europaparlaments Antonio Tajani, aber auch Berlusconis Lebensgefährtin und seine Kinder werden das Sagen haben.

Doch sollte auch Berlusconis Partei verschwinden: der „Berlusconismus“, wie man das von ihm initiierte politische und soziale System nennt, ist inzwischen vom Land absorbiert worden – und er wird bleiben. Berlusconi hat so lange regiert wie kein anderer Ministerpräsident seit der Gründung der italienischen Republik, dennoch hat sich sein Versprechen einer „liberalen Revolution“ keineswegs bewahrheitet. Die Bilanz seiner vier Kabinette ist miserabel – keine signifikanten Reformen, schlechte Gesetze wie das Migrationsgesetz, eine schlechtere wirtschaftliche Lage für das Land. Dennoch sind sich Befürworter wie seine Kritiker einig: Dieser Mann hat die italienische Politik und das Land selbst tief verändert.

Berlusconi hat jedes Tabu gebrochen. Er hat die Partei Alleanza Nazionale, die aus dem neofaschistischen Movimento Sociale Italiano hervorging, in die Regierung geholt und somit einen Präzedenzfall für das heutige Meloni-Kabinett geschaffen. Er hat mit politisch unkorrekten Äußerungen gehetzt und systematisch Lügen propagiert – manchmal war es zu absurd, um wahr zu sein, aber es funktionierte. Er hat das private Fernsehen nach Italien gebracht und es ausgenutzt, um mit den Wählerinnen und Wählern direkt zu kommunizieren, lange bevor die Sozialen Netzwerke kamen. Er hat die Justiz diskreditiert, Gesetze zu seinen Gunsten bewilligt und Sexparties mit Minderjährigen organisiert. Er hat Straftaten wie illegales Bauen und Steuerhinterziehung toleriert, ja gar gefördert. Er hat gegen die Institutionen selbst gewettert und sich über jede Art von Bürgersinn lustig gemacht. Er hat sich mit Kriminellen umgeben. Gewiss, bestimmte Tendenzen existierten in der italienischen Politik bereits früher. Doch Berlusconi hat sie beschleunigt und ins Extreme getrieben. Dass nun in Italien eine rechtsextreme Koalition regiert und die öffentliche Meinung anfällig ist für Populismen jeder Couleur, hat durchaus mit ihm zu tun.

Es ist also legitim, sich zu fragen: Was wird man über ihn in den Geschichtsbüchern lesen? Berlusconi hinterlässt eine Spaltung innerhalb der ohnehin schon gespaltenen Bevölkerung – und wer glaubt, mit der Zeit würde er klarer einzuschätzen sein, der irrt: Selbst der Faschismuserfinder Benito Mussolini wird noch von einem erheblichen Teil der Italiener als „guter Diktator“ gesehen, eine allgemein geteilte Interpretation zu ihm sucht man vergebens. Die Hoffnung, die Menschen würden sich künftig von Berlusconi distanzieren, ist also naiv.

Quelle        :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —         All eight members of the G-8 at their summit in Italy in July 2009. From left to right: Prime Minister of Japan Taro Aso, Prime Minister of Canada Stephen Harper, President of the United States Barack Obama, President of France Nicolas Sarkozy, Prime Minister of Italy Silvio Berlusconi, President of Russisa Dmitry Medvedev, Chancellor of Germany Angela Merkel, Prime Minister of the United Kingdom Gordon Brown, Prime Minister of Sweden Fredrik Reinfeldt, and President of the European Commision José Manuel Barroso.

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Von EU und Staatstrojanern

Erstellt von Redaktion am 19. Juni 2023

Blankoscheck für Geheimdienst-Überwachung der Presse

Logo

Logo von: Komitee zum Schutz von Journalisten 

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von           :    , Harald Schumannon

Ein geplantes Medienfreiheitsgesetz der EU sollte Journalist:innen vor Überwachung schützen. Doch Europas Regierungen planen eine Blankoausnahme für „nationale Sicherheit“, die den Vorschlag praktisch aushöhlen würde.

Kein Journalist darf wegen seiner Arbeit bespitzelt werden. Mit diesem klaren Satz begründete EU-Kommissarin Věra Jourová im vergangenen Herbst ihren Vorschlag für ein Gesetz, das die Pressefreiheit in allen EU-Staaten stärken soll.

Die EU-Kommission reagierte damit auf Enthüllungen über das Ausspähen von Journalist:innen, NGOs und Oppositionspolitiker:innen in mehreren EU-Staaten. In Ungarn ließ die Regierung von Viktor Orban Handys von Reportern hacken, die über Korruptionsvorwürfe berichteten. In Griechenland spionierte die Regierung Journalist:innen aus, die Finanzskandale enthüllten. In Spanien ging es gegen Journalist:innen im Umfeld der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Die Liste lässt sich fortsetzen. Expert:innen warnen, die sich ausbreitende Überwachung von Journalisten sei eine Bedrohung für die Pressefreiheit.

Das Mittel der Wahl bei den Überwachungsaktionen: Staatstrojaner. Berüchtigt ist insbesondere Pegasus, ein Trojaner der israelischen Firma NSO Group, der Handys praktisch unbemerkt infiltrieren kann. Dadurch kann selbst verschlüsselte Kommunikation über Dienste wie WhatsApp oder Signal ausgelesen werden. Journalist:innen, die mit Pegasus oder anderen Trojanern gehackt wurden, müssen die Preisgabe ihrer Quellen fürchten.

Um solchen Übergriffen einen Riegel vorzuschieben, verbietet der Gesetzesvorschlag der Kommission ausdrücklich den Einsatz von Staatstrojanern gegen Journalist:innen. Das Europäische Medienfreiheitsgesetz sollte außerdem jede Form von Überwachung oder Repressalien untersagen, mit denen die Offenlegung journalistischer Quellen erzwungen werden soll.

Doch die EU-Staaten arbeiten hinter verschlossenen Türen an einem Gegenvorschlag, der diese Vorschläge der Kommission praktisch wirkungslos macht. Das ist das Ergebnis einer gemeinsamen Recherche von netzpolitik.org mit dem Rechercheteam Investigate Europe.

Frankreich drängte auf Blankoausnahme

Der Rat der EU-Staaten will die Schutzbestimmungen für Journalist:innen durch eine generelle Ausnahme für die „nationale Sicherheit“ aushebeln. Das geht aus einem Textentwurf der schwedischen Ratspräsidentschaft vom 7. Juni hervor, den wir durch eine Informationsfreiheitsanfrage erhielten und im Volltext veröffentlichen. Der Rat geht damit über frühere Vorschläge zur Verwässerung des Textes hinaus, über die wir zuvor berichteten.

Schon der ursprüngliche Vorschlag der Kommission sah vor, dass der Staatstrojaner-Einsatz „im Einzelfall“ aus Gründen der nationalen Sicherheit gerechtfertigt sein soll. Aus dem Einzelfall soll nun eine Blanko-Erlaubnis werden, die nicht nur das Trojaner-Verbot aufweicht, sondern auch das generelle Verbot der Überwachung von Journalist:innen zur Ermittlung ihrer Quellen aushebelt. Außerdem schwächt die Ausnahme das Recht, eine Beschwerde bei einer unabhängige Behörde einzureichen, wie es der ursprüngliche Vorschlag vorgesehen hätte.

Diese Blanko-Ausnahme für „nationale Sicherheit“ in Artikel 4 des Gesetzesentwurfs hat Frankreich durchgesetzt. Unterstützung erhielt die Regierung in Paris dafür auch von Deutschland. Das geht aus einem vertraulichen Drahtbericht der deutschen Ständigen Vertretung in Brüssel hervor, den wir ebenfalls im Volltext veröffentlichen. Den Vorschlag unterstützte demnach außerdem Griechenland, wo die Regierung ihre Überwachungsaktionen gegen Journalist:innen mit Verweis auf die „nationale Sicherheit“ rechtfertigte.

Um den Schutz von Medienschaffenden gibt es nicht nur in der EU Streit. In Deutschland gibt es Verfassungsbeschwerden, weil Journalist:innen und ihre Quellen nicht ausreichend vor Überwachung durch den Bundesnachrichtendienst geschützt seien. Eine davon richtet sich auch explizit gegen Staatstrojanereinsatz, insbesondere weil es für Betroffene besonders schwer ist, sich gerichtlich gegen die heimliche Ausspähung zu wehren.

„Nationale Sicherheit als Vorwand“

Der griechische Journalist Thanasis Koukakis, der mit dem Trojaner Predator gehackt wurde, zeigte sich auf Nachfrage empört über die geplante Verwässerung des EU-Gesetzes. „Mein Fall zeigt deutlich, wie einfach die nationale Sicherheit als Vorwand für Drohungen gegen Journalist:innen und ihre Quellen benutzt werden kann.“ Die französische Journalistin Rosa Moussaoui, die Opfer von Pegasus wurde, kritisierte die Haltung Frankreichs. Eine allgemeine Ausnahme für nationale Sicherheit passe „perfekt zur Politik“ der französischen Regierung, sich nicht um den Quellenschutz zu kümmern.

Ein Sprecher der zuständigen grünen Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, erklärt auf Anfrage, es sei „in keiner Weise“ das Ziel der Bundesregierung, „die Ausspähung von Journalisten zu legalisieren“. Die Ausnahmeregelung zur nationalen Sicherheit im Ratsentwurf soll lediglich sicherstellen, „dass die im Vertrag der Arbeitsweise der Europäischen Union bestimmten Kompetenzen der Mitgliedstaaten im Bereich der nationalen Sicherheit unberührt bleiben.“

Dem hält allerdings der Europäische Journalistenverband entgegen, dass die Blankoausnahme keine Schutzmaßnahmen zur Sicherung von Grundrechten enthalte. Dadurch ignoriere der Rat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der klargestellt habe, dass die nationale Sicherheit die EU-Staaten nicht von ihrer Verpflichtung zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit befreie. Durch die Ausnahme werde das geplante Medienfreiheitsgesetz in eine „leere Hülle verwandelt“. Auch Tom Gibson vom Committee to Protect Journalists warnt, der Rat erteile dadurch „willkürlicher Überwachung durch Länder mit geschwächter Rechtsstaatlichkeit“ seinen Sanktus.

Heftige Kritik gibt an den Plänen der EU-Staaten gibt es aus dem EU-Parlament. Die niederländische Abgeordnete Sophie in ‚t Veld aus der liberalen Fraktion Renew nennt den Ratsvorschlag eine „Katastrophe“. Die SPD-Politikerin Katarina Barley betont, „pauschale Ausnahmen ohne weitere Vorkehrungen gehen gar nicht“.

Der Bedenken zum Trotz planen die EU-Staaten einen Beschluss noch im Juni. Kommt kein entschiedener Widerstand aus dem EU-Parlament, das bislang noch keine eigene Position festgelegt hat, dann könnte das Medienfreiheitsgesetz die Blankoausnahme für Überwachungsmaßnahmen zur „nationalen Sicherheit“ festschreiben. Die Absicht von Kommissarin Jourová, Journalist:innen in ihrer Arbeit vor Überwachung zu schützen, bliebe damit ein frommer Wunsch.

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Oben           —       Logo     –      Komitee zum Schutz von Journalisten – https://cpj.org/

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Unten         —       Plastische Darstellung des Bundestrojaners vom Chaos Computer Club im Profil. Originalbeschreibung: im Chaos Computer Club Berlin: the Federal Troian Horse

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Die Welt – Finanzkrise

Erstellt von Redaktion am 19. Juni 2023

Die Schuldenkrise wird multipolar

Zunächst gibt es zwischen den 17 betrachteten Staaten bis etwa 1995 noch deutliche Renditeunterschiede, die Bandbreite verringert sich aber zunehmend; um 2000 sind die Renditen fast auf gleicher Höhe, nachdem anschließend einige weitere Staaten aufgenommen werden wird das Spektrum 2002 zunächst wieder etwas weiter, bis schließlich auch diese um das Jahr 2006 in einem ca. 2,5-Prozenzpunkte-Spektrum zwischen 2,5 und 5 Prozent liegen. Ein erstes Auffächern lässt sich nach 2008 zur Finanzkrise feststellen, ab Ende 2009 (Beginn Eurokrise) werden die Differentiale immer größer, wobei insbesondere Griechenland nach oben ausbricht (Spitzenwert knapp unter 30 Prozent); der deutsche Wert unterliegt seit 2008/9 einem Abwärtstrend.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Immer mehr Länder in Lateinamerika, Afrika und Asien sind überschuldet oder stehen sogar vor dem Bankrott. Von dieser Krise ist als Kreditgeber auch China betroffen, das Notkredite vergeben muss, um eigene Banken vor Zahlungsausfällen zu schützen.

Die Zinserhöhungen der westlichen Notenbanken, mit denen diese die hartnäckige Inflation bekämpfen wollen – in den USA liegt der Leitzins mittlerweile bei fünf bis 5,25 Prozent, im Euro-Raum bei 3,75 Prozent –, haben in den USA bereits zum Kollaps von drei Regionalbanken geführt und dämpfen das Wirtschaftswachstum beiderseits des Atlantik. Doch sind diese Turbulenzen nichts im Vergleich zu den Erschütterungen, denen viele wirtschaftlich schwächere Länder ausgesetzt sind. Weil es immer teurer wird, neue Kredite aufzunehmen, fällt es diesen immer schwerer, ihre zumeist in US-Dollar laufenden Auslandsschulden zu bedienen.

Insbesondere in Afrika, Asien, Lateinamerika und dem Nahen Osten finden sich immer mehr Länder in einer klassischen Schuldenfalle wieder, bei der konjunkturelle Stagnation, Rezession und steigende Kreditkosten in eine fatale Wechselwirkung treten. Die Situa­tion wird bereits mit dem »Volcker-Schock« von 1979 verglichen, als der damalige Präsidentder der US-Notenbank, Paul Volcker, die Leitzinsen in den USA auf zeitweise über 20 Prozent anhob, um die langjährige Stagflation zu bekämpfen, was besonders in Ländern in Südamerika und Afrika eine Schuldenkrise auslöste.

Mitte April meldete die Financial Times unter Berufung auf eine Studie der NGO Debt Justice, dass der Auslandsschuldendienst einer Gruppe von 91 der ärmsten Länder der Welt in diesem Jahr durchschnittlich 16 Prozent ihrer staatlichen Einnahmen verschlingen werde, wobei dieser Wert im kommenden Jahr auf 17 Prozent ansteigen dürfte. Zuletzt wurde ein ähnlich hoher Wert 1998 erreicht. Am stärksten betroffen ist demnach Sri Lanka, dessen Schuldendienst in diesem Jahr rund 75 Prozent der prognostizierten Einnahmen entspricht, weswegen die Financial Times erwartet, dass der Inselstaat in diesem Jahr »den Zahlungen nicht nachkommen« werde.

Sambia, das wie Sri Lanka schon im vergangenen Jahr einen Staatsbankrott durchstehen musste, ist ebenfalls akut gefährdet. Ähnlich schlimm sehe es in Pakistan aus, wo in diesem Jahr 47 Prozent der Regierungseinnahmen zur Bedienung von Auslandskrediten aufgewendet werden müssten. Die Folgen für die Bevölkerung sind in diesen und vielen anderen Ländern bereits jetzt dramatisch: Regierungen können beispielsweise Gehälter nicht mehr zahlen oder Importe von Energieträgern oder Nahrungsmitteln nicht finanzieren, der Wertverfall ihrer Währungen verschärft Inflation, Armut und Hunger.

Doch nicht nur die ärmsten Länder sind bedroht. In Argentinien beispielsweise, wo die Zentralbank Geld druckt, um das Haushaltsdefizit zu finanzieren, beträgt die Inflation inzwischen 109 Prozent und droht, in eine destruk­tive Hyperinflation überzugehen. Wie viele andere Krisenstaaten hat Argentinien ein Notprogramm mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) abgeschlossen, das Kredite in Höhe von 44 Milliarden US-Dollar im Gegenzug für Austeritätsmaßnahmen vorsieht. Mitte Mai forderte der argentinische Präsident Alberto Fernández angesichts einer dürrebedingten Missernte beim wichtigsten Exportgut Weizen Neuverhandlungen mit dem IWF. Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner nannte das Abkommen gar »skandalös« und einen »Betrug«.

Eine besondere Rolle spielt in der derzeitigen Schuldenkrise China, das in den vergangenen Jahren zu einem der größten weltweiten Kreditgeber aufgestiegen ist. Allein im Rahmen des weltweiten Entwicklungsprogramms der Belt and Road Initiative, auch bekannt als »Neue Seidenstraße«, wurden bis Ende 2021 Kredite und Transaktionen im Umfang von mindestens 838 Milliarden US-Dollar getätigt, um damit zumeist Infrastruktur- und andere Großprojekte in Afrika, Asien und Lateinamerika zu finanzieren. Den Großteil der Kredite vergaben chinesische Banken. China wollte damit die Grundlage für eine künftige wirtschaftliche Hegemonie legen.

Doch inzwischen – nach der Covid-19-Pandemie und der russischen Invasion der Ukraine, dem globalen Inflationsschub und einer Verlangsamung des Wachstums in China selbst – sind chinesische Banken zurückhaltender bei der Vergabe von Krediten in ärmeren Ländern. Einer Studie der Rhodium Group zufolge sind bereits 2021 rund 16 Prozent der aus China im Ausland vergebenen Kredite mit einem Wert von etwa 118 Milliarden US-Dollar vom Zahlungsausfall bedroht gewesen und hätten nachverhandelt werden müssen.

Nur ein Jahr später hat sich die chinesische Auslandsschuldenkrise laut ­einer Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) bereits stark ausgeweitet. Demnach sollen 2022 schon 60 Prozent der Kredite ausfallgefährdet gewesen sein, so dass Peking an 22 Schuldnerländer 128 Notkredite im Umfang von 240 Milliarden US-Dollar vergeben musste. Hierbei wird den Schuldnerstaaten zumeist nur ein Aufschub gewährt, indem neue Darlehen zur Tilgung fälliger Zahlungen vergeben werden, was eine »Verlängerung von Laufzeiten oder Zahlungszielen« ermögliche; ein Erlass von Schulden finde »nur äußerst selten statt«, so das IfW.

Die meisten dieser Refinanzierungskredite vergab die chinesische Zentralbank, die damit effektiv jene chinesischen Banken rettet, die die Kredite ursprünglich vergeben haben. Die Autoren der IfW-Studie vergleichen das derzeitige Vorgehen Chinas deshalb mit der Vergabe von sogenannten Rettungskrediten an Griechenland und andere südeuropäische Länder während der Euro-Krise, bei der es ebenfalls um die Rettung von Banken ging, denen Zahlungsausfälle drohten.

Krisen- und Überbrückungskredite fließen vor allem an »Länder mit mittlerem Einkommen«, da auf diese 80 Prozent des chinesischen Auslandskreditvolumens entfallen und sie damit »große Bilanzrisiken für chinesische Banken« darstellten, so das IfW. Länder mit niedrigem Einkommen hingegen erhielten kaum Krisenkredite, da deren Staatspleiten den chinesischen Bankensektor kaum gefährden könnten. Die Verzinsung der chinesischen Krisenkredite soll außerdem durchschnittlich fünf Prozent betragen; beim IWF sind zwei Prozent üblich. Zu den Schuldnerstaaten, die mit Krisenkrediten versorgt wurden, zählen Länder wie Sri Lanka, Pakistan, Argentinien, Ägypten, die Türkei und Venezuela.

Das IfW merkte zudem an, dass bei einem Großteil der Rettungskredite die Modalitäten und der Umfang der Kreditprogramme nicht öffentlich zugänglich sind. Dadurch werde insgesamt »die internationale Finanzarchitektur multipolarer, weniger institutionalisiert und weniger transparent«. Diese Intransparenz betreffe auch zuvor von chinesischen Banken vergebene Kredite. Die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) zitierte kürzlich in einem ausführlichen Bericht über die Schuldenkrise Ergebnisse einer Untersuchung der Forschungsgruppe Aid Data, die allein bis 2021 chinesische Kredite in Höhe von mindestens 385 Milliarden US-Dollar in 88 Ländern registriert hatte, die »versteckt oder unzureichend dokumentiert« gewesen seien.

Picture of a Greek demonstration in May 2011

100.000 Menschen protestieren in Athen gegen die Sparmaßnahmen ihrer Regierung, 29. Mai 2011

Viele der ärmsten Länder in Afrika oder Asien griffen auf dem Höhepunkt der globalen Liquiditätsblase zwischen 2010 und 2020 gerne auf die chinesischen Gelder zu, um damit Infrastruktur- und Prestigeprojekte zu finanzieren, die sich im gegenwärtigen Krisenschub immer öfter in Investitionsruinen verwandeln. Für diese Länder stellt die Geheimhaltung nun ein ernsthaftes Problem dar, denn im Fall einer Zahlungsunfähigkeit müssen sich die internationalen Gläubiger des betroffenen Lands darüber verständigen, wer in welchem Ausmaß Kredite stundet oder auf Rückzahlungen verzichtet. Westliche Kreditgeber und Institutionen wie der IWF oder die Weltbank verweigern derzeit jedoch in vielen Fällen Notfallprogramme, da die Modali­täten der chinesischen Kreditprogramme unklar seien und sie sich mit China nicht einigen könnten. Einige arme Staaten befänden sich deshalb in einem »Schwebezustand«, schreibt AP, da China nicht bereit sei, Verluste hinzunehmen, während der IWF sich weigere, niedrig verzinste Kredite zu ­gewähren, wenn damit nur chinesische Schulden abgezahlt würden.

Belastet werden die Verhandlungen der Kreditgeber zusätzlich von der sich verschärfenden weltpolitischen Konkurrenz zwischen den westlichen Staaten und China. Die zunehmende Fragmentierung der Weltwirtschaft erschwere es, »Staatsschuldenkrisen zu lösen, besonders, wenn es unter den entscheidenden staatlichen Kreditgebern geopolitische Spaltungen gibt«, warnte die Direktorin des IWF, Kristalina Georgiewa, im Januar.

Die westlichen Staaten hoffen unterdessen, die chinesische Auslandsschuldenkrise nutzen zu können, um den Einfluss, den sich China durch seine Kreditvergabe in vielen Weltregionen aufgebaut hat, wieder zurückzudrängen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte im Mai, für die G7-Staaten und ihre Partner gebe es jetzt eine »günstige Gelegenheit«, nachdem »viele Länder im Globalen Süden schlechte Erfahrungen mit China« gemacht hätten und sich in »Schuldenkrisen« wiederfänden, während Russland nur »Söldner und Waffen« im Angebot habe. Der Westen könne, wenn er schnell agiere, Partnerschaften mit diesen Ländern eingehen, die von beiderseitigem Nutzen wären. Unternehmen und Banken könnten an der Ausarbeitung »umfassender Pakete« beteiligt werden, die auch Teile der Produktionsketten in Entwicklungsländer verlagern würden. Die EU wolle »nicht nur die Extraktion der Rohstoffe, sondern auch deren lokale Weiterverarbeitung und Veredelung« fördern. Von der Leyen spekuliert damit auf ein schlechtes Gedächtnis ihrer potentiellen »Partner« im Globalen Süden, die bereits seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts leidvolle Erfahrungen mit westlichen Kreditprogrammen sammeln konnten.

Erstveröffentlicht unter:  https://jungle.world/artikel/2023/22/die-schuldenkrise-wird-multipolar

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Oben       —       Abb. 4| Zinskonvergenz und -divergenz: Renditen 10-jähriger Staatsanleihen von Mitgliedern der Eurozone, 1993–2017 (EZB)

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DIE * WOCHE

Erstellt von Redaktion am 19. Juni 2023

Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Die-Woche.png?uselang=de

Kolumne von Friedrich Küppersbusch

Kirchentag,  Beim RBB wird die neue Intendantin gekürt. Fußball-WM:Trumpgerechte Straftaten. Gegen Donald Trump wird Anklage erhoben. Er gibt sich aber kämpferisch für die US-Präsidentschaftswahl.

taz: Herr Küppersbusch, was war schlecht vergangene Woche?

Friedrich Küppersbusch: Grüne beugen sich dem „Asyl-Kompromiss“.

Und was wird besser in dieser?

Aufgeben heißt jetzt Kompromiss.

Thomas de Maizière forderte auf dem evangelischen Kirchentag von der Generation Z eine göttliche Arbeitswoche à la ‚6 Tage arbeiten, 1 Tag ruhen‘. Wären wir da nicht besser alle katholisch geblieben?

Teile eines de Maizières können immer noch das Publikum verunsichern. Wenn es nicht zu Frommen seiner Work-Live-Balance vorher nach Hause gegangen ist: Die Hälfte der Kirchentagsteilnehmenden war laut Evangelischer Kirche in Deutschland (EKD) unter dreißig. Als AltersInsasse und mentaler Zellennachbar de Maizières möchte ich meinen Millenial-Kindern dazu gratulieren, den Onkel Exminister richtig böse gemacht zu haben. Hie selbstbestimmter Umgang mit Lebenszeit – dort öhmt protestantische Askese aus hugenottischem Offiziersgeschlecht. Well done, Kinder. Wir waren die Generation „Ihr sollt es einmal besser haben“. Ihr seid die Generation „Euer Besser kotzt uns an.“ Bestraft den ungläubigen Thomas! Werdet glücklich!

Donald Trump plädierte im Geheimaktenprozess auf nicht schuldig. Wie beeinflusst der Prozess seine Chancen auf die US-Präsidentschaft.

Das Foto eines Hooligans, der mit Mutti bei Streuselkuchen „Bares für Rares“ guckt, wäre dem schädlicher, als es Trump schadete, wenn er einfach nur weitertrumpt. Anklage wegen Wirtschaftsverbrechen in New York, in Georgia geht’s um Wahlfälschung, dann dräut der Prozess um Schweigegeld an eine Dienstleisterin, 5 Millionen wegen sexuellen Übergriffs musste er schon bezahlen. Allesamt trumpgerechte Straftaten. Er ist der rechte Mann für Leute, die ihr eigenes Elend für eine Lüge des Universums halten. Und da muss er lang.

ARD und ZDF kaufen der Fifa nun doch die TV-Rechte für die Fußball-WM der Frauen ab. Ist der Deal Geldmacherei unter dem Deckmantel der Emanzipation?

Bei der EM 2022 sahen in Deutschland 17,9 Millionen Menschen das Finale England – Deutschland. 64,8 Prozent Marktanteil. Eine eindrucksvolle Manifestation des Grundrechts, die letzten 10 Minuten der Verlängerung an der Eckfahne würdelos dummzudaddeln. Es war ein Tort, doch ich sah es gern, um mir vor der WM der Schande in Katar den Tank vollzumachen und das 220-Millionen-Euro-Debakel der Jungs nicht zu gucken. Deshalb erscheint der „mittlere einstellige Millionenbetrag“, den ARD und ZDF jetzt zahlen, vergleichsweise lächerlich. Auf den zweiten Blick fragt sich, welcher Betrag lächerlicher ist.

Bild ruft zur Massenpanik, weil ein Gesetz aus dem Hause Cem Özdemir angeblich Werbung für Milchprodukte in die Nachtstunden verschieben soll. Kommt nach dem Heizhammer jetzt der Milchmurks?

Die Zuckerhüte von der FDP werden die Kanten des Entwurfs rundschlecken. Dahinter bleibt ein Mysterium: Die TV-Sender haben längst resigniert, unter 30 erreichen sie keine Zuschauenden mehr. Zugleich lobbyieren sie massiv, um Kinderwerbung zu erhalten. Kurz: Die Werbung wandte sich längst an Erwachsene, oder die Sender haben die Werbekunden schon länger reingelegt. Kinder-Überraschung.

Beim RBB ging es vor der In­ten­dan­t:in­nen­wahl am Freitag hoch her. Wie kann der Sender zur Ruhe kommen?

Positiv gesehen: Der RBB ist so pleite – er kann sich keine Gebührensalbe mehr auf allerhand schwärende Wunden schmieren und noch ein paar IntendantInnen verjuxen. Die herkömmlichen Produktionsweisen sind infrage gestellt. Künftig wird es öfters Amateurqualität geben. Die Gremien gehen da seit Jahren voran.

Die Nationale Sicherheitsstrategie wird als abstraktes Dokument mit vagen Wünschen wahrgenommen. Finden Sie auch Konkretes in dem Papier?

Quelle        :        TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Linke vor der Spaltung

Erstellt von Redaktion am 18. Juni 2023

Krise bei der Linkspartei

Von Pascal Beucker und Anna Lehmann

Lange hat die Linke gebraucht, um mit Wagenknecht zu brechen. Deren Anhänger werben für die Abspaltung, die anderen rücken zusammen.

Wenigstens ihren Zweckoptimismus hat die Linke noch nicht verloren. „Unser Plan 2025: Comeback einer starken LINKEN“, ist das Strategiepapier überschrieben, das der Bundesvorstand der zerzausten Partei auf seiner letzten Sitzung beschlossen hat. Der erste Satz: „Die LINKE wird dringend gebraucht.“ Der letzte Satz: „Wir ziehen souverän wieder in den Bundestag ein.“ Klingt eigentlich ganz einfach. Allerdings stehen zwischen dem ersten und dem letzten Satz mehr als 9.000 Zeichen – und ein übergroßer Berg an Problemen, die in einem Namen kulminieren: Sahra Wagenknecht.

Die Linke hat lange gebraucht, um zu begreifen, dass es keinen gemeinsamen Weg mit der chronisch quertreibenden Bundestagsabgeordneten und ihren Anhänger:in­nen mehr gibt. Einen letzten Versuch, zu retten, was längst nicht mehr zu retten ist, haben die Parteivorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan am 25. Mai gestartet.

Da trafen sie sich zu einem vertraulichen Gespräch mit Wagenknecht. Bei dem Treffen, an dem auch die beiden Bundestagsfraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch und Amira Mohamed Ali teilnahmen, stellten sie Wagenknecht ein Ultimatum, zeitnah und öffentlich von Plänen zur Gründung eines konkurrierenden Parteiprojektes Abstand zu nehmen und entsprechende Vorbereitungen umgehend einzustellen.

Nachdem Wagenknecht dazu nicht bereit war, beschloss der Parteivorstand am 10. Juni einstimmig: „Die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht.“ Und nicht nur das. Auch alle, die sich am Projekt einer konkurrierenden Partei beteiligten, sollten ihre Mandate zurückgeben.

Heftig empört

Umgehend meldeten sich sechs Bundestagsabgeordnete zu Wort, die dem Wagenknecht-Lager zugerechnet werden, unter anderem Sevim Dagdelen und Klaus Ernst. Niemand bestritt die Vorwürfe des Vorstands in Bezug auf die Pläne zur Gründung eines Konkurrenzprojekts und dass Ressourcen aus für die Linkspartei gewonnenen Mandaten für den Aufbau genutzt werden. Und niemand distanzierte sich von den Spaltungsaktivitäten.

Aber allesamt empörten sie sich heftig darüber, dass der Linken-Vorstand solch eindeutig parteischädigendes Treiben nicht mehr länger hinnehmen will. Mit dem Parteivorstandsbeschluss werde „der Kurs der Parteiführung in Richtung einer bedeutungslosen Sekte noch verschärft“, twitterte Dağdelen.

Die Co-Fraktionsvorsitzende Mohamed Ali schrieb, sie halte den Beschluss „für einen großen Fehler und einer Partei unwürdig, die sich Solidarität und Pluralität auf die Fahnen schreibt“. Damit stellte sie sich gegen Dietmar Bartsch, der am Dienstag überraschend der Parteiführung beipflichtete. „Ich will in großer Klarheit deutlich machen, dass ich es auch als völlig inakzeptabel ansehe, wenn man den Versuch unternimmt, eine neue Partei zu gründen, oder Gespräche führt, eine neue Partei ins Leben zu rufen“, sagte er. Bisher war die Fraktionsspitze stets bemüht, Einigkeit zu vermitteln. Jetzt zeigt der Konflikt, wie blank die Nerven liegen.

Wagenknechts Partei

Selbst Gregor Gysi, der sich lange um Sahra Wagenknecht als Fraktionsmitglied bemühte, geht mittlerweile auf Distanz zu ihr: „Wenn sie eine neue Partei gründet, dann muss sie ihr Mandat niederlegen“, erklärte der frühere Partei- und Fraktionschef am Freitag. „Alles andere wäre unmoralischer Mandatsklau“.

Die Frage, ob Wagenknecht ein Konkurrenzprojekt zur Linken gründet, ist längst keine politische mehr, sondern nur noch eine technische. Und daran lässt die 53-Jährige inzwischen auch selbst keinen Zweifel. Eine Partei, „die dann auch erfolgreich sein soll“, ließe sich „nicht mal eben so“ gründen, bekundete sie am Dienstag in einem Interview mit dem WDR. Viele würden jedoch derzeit versuchen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen.

„Wenn die Voraussetzungen einer neuen Partei nicht geschaffen werden, dann werde ich mich nach Ende dieser Legislatur ins Privatleben zurückziehen“, sagte sie. „Aber ich müsste damit den Anspruch aufgeben, politisch noch etwas zu verändern, und ich würde mir schon wünschen, ich könnte noch etwas verändern.“

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Das war der ertse Versuch

Bis spätestens Ende des Jahres will sie sich entscheiden, ob sie den Sprung wagen will. Ein denkbares Szenario ist der Bruch im Oktober nach der Landtagswahl in Hessen, bei der die Links­partei wohl ihre letzte parlamentarische Vertretung in einem westdeutschen Flächenland verlieren wird.

Abspaltungszentrum in Sachsen

Möglich ist auch eine Abspaltung im zeitlichen Umfeld des für Mitte November geplanten Bundesparteitags. Um ein konkurrierendes Wahlbündnis für die Europawahl im Juni 2024 zu schmieden, wäre allerdings auch eine Trennung bis Anfang nächsten Jahres ausreichend.

Für den Bundestagsfraktionschef Bartsch hat die Bewahrung des Fraktionsstatus, der schon beim Abgang von drei Abgeordneten verlustig gehen würde, oberste Priorität. Gleichzeitig ist er alarmiert, denn selbst aus seinem eigenen Landesverband in Mecklenburg-Vorpommern gibt es eindeutige ­Signale, dass es so nicht weitergehen kann. Denn die Abspaltungs­tendenzen sind unübersehbar. Der Spiegel schreibt sogar, es gebe „Screenshots von Mails und SMS aus mehreren ostdeutschen Landesverbänden“, die belegen würden, dass Kom­mu­nal­po­li­ti­ke­r:in­nen direkt von Wagenknechts engerem Kreis ­angesprochen wurden, ob sie am Konkurrenzprojekt teilnehmen wollten.

Ein Zentrum der Spaltungsaktivitäten ist Sachsen, in den 1990ern und den Nullerjahren eine Hochburg der damaligen PDS. Im größten ostdeutschen Landesverband versucht die Ex-Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann, offensiv Mitglieder aus der Linken für das geplante Konkurrenzprojekt zu gewinnen.

Als die Landesvorsitzenden Susanne Schaper und Stefan Hartmann Wind davon bekamen, schrieben sie Zimmermann einen Brief, baten sie um Stellungnahme und warnten: „Wenn Du Dich weiterhin an der Neugründung einer Partei beteiligen willst, legen wir Dir nahe, unsere Partei zu verlassen.“

Selbst Gregor Gysi geht nun auf Distanz zu Sahra Wagenknecht

Direkt antwortete Zimmermann den Ab­sen­de­r:in­nen nicht. Die Reaktion der 62-jährigen Gewerkschafterin konnten sie stattdessen am Mittwoch in der Chemnitzer Freien Presse lesen. In dem Interview bestritt Zimmermann die Abwerbeversuche keineswegs, vielmehr freute sie sich über den Zuspruch: „Da verkennt die Partei die Lage, wie viele mitgehen werden“, sagte sie. Ansonsten könne sie keine Details nennen, sondern nur sagen, „dass wir vom Wagenknecht-Flügel uns in einem konstruktiven Klärungsprozess befinden“. Alles hänge von Wagenknecht ab. „Ohne sie würde eine Neugründung kaum Sinn machen“, so Zimmermann. „Wir müssen schnell handeln können, sobald die Entscheidung steht.“

Eine solche Wagenknecht-Partei, die sich gesellschafts- und migrationspolitisch rechts und sozialpolitisch links verortet, würde zuvorderst auf Stimmen aus dem Nicht­wäh­le­r:in­nen­spek­trum und auch derzeitiger AfD-­Wäh­le­r:in­nen setzen, wäre aber für die schwer kriselnde Linke gleichwohl existenzbedrohend.

Landesvorstand beriet über Gegenstrategie

Qielle        :          TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

Hier eine Analyse zum Thema vom 15. Junis  2023

Ein Debattenbeitrag von Thorsten Holzhauser

Nationalisten und „Linkskonservative“ – ein Blick ins europäische Ausland gibt eine Ahnung vom Programm einer möglichen neuen Wagenknecht-Partei.

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Oben       —       26.06.2019 Für eine soziale Politik Leipzig Der bisher heißeste Tag im Jahr mit Temperaturen um die achtunddreißig Grad Celsius konnte an die 1000 Leipziger*innen nicht davon abhalten, sich auf dem Marktplatz zu versammeln. Die Kundgebung bei der Sahra Wagenknecht zu den Standpunkten sozialer Politik der Bundestagsfraktion Die Linke sprach, wurde musikalisch von der Gruppe Karussell begleitet, welche in Leipzig ein Heimspiel hatten.

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Der Westen wie der Osten

Erstellt von Redaktion am 18. Juni 2023

Der westliche Doppelstandard rechtfertigt Russlands Krieg nicht

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von      :     Andreas Zumach / 

In Leserspalten wird die Abspaltung des Kosovo zitiert, um die Abspaltung der Krim und des Donbas zu rechtfertigen.

Im Kosovo habe es im Gegensatz zum Donbas nicht einmal eine Volksabstimmung gegeben, wird gesagt. Das ist richtig. Doch einige Darstellungen und Schlussfolgerungen sind falsch.

Der Gewaltkonflikt, der seit 2014 im Donbas stattfindet, ist ein Bürgerkrieg zwischen den ukrainischen Regierungstruppen und russisch-stämmigen Milizen und Sezessionisten. Russland unterstützt sie mit Waffen, Munition und Söldnern.

Die Beobachterberichte der OSZE belegen, dass bis zur russischen Invasion beide Seiten etwa gleich stark beteiligt waren an kriegerischer Gewalt, Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht sowie am Nichteinhalten beziehungsweise Nichtumsetzen der Abkommen Minsk 1+2. Auch die Zahl der Opfer war laut OSZE auf beiden Seiten etwa gleich hoch.

Es wird immer wieder kolportiert, der Internationale Gerichtshof in den Haag (IGH) habe im Jahr 2010 «die Unabhängigkeit Kosovos bestätigt». Zwar stellten dies viele westliche Medien und Regierungen damals so dar. Doch der IGH hatte sich überhaupt nicht zum völkerrechtlichen Status des Kosovo geäussert, sondern lediglich auf Bitten der UNO-Generalversammlung in einem Rechtsgutachten, das völkerrechtlich nicht verbindlich ist, festgestellt, dass «die einseitige Unabhängigkeitserklärung durch die Provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung des Kosovo» nicht gegen das Völkerrecht und gegen die Resolution 1244 des UNO-Sicherheitsrates verstosse (Siehe LTO: «Was der IGH wirklich entschied»).

Der IGH hat es unterlassen zu entscheiden, wie weit das in der UNO-Charta enthaltene Recht auf Selbstbestimmung der Völker geht und unter welchen Bedingungen ein Recht auf Sezession besteht.

Es bleibt deshalb im Fall Kosovo offen, ob es sich völkerrechtlich um einen unabhängigen Staat handelt. Eine einseitige, gegen nationales Recht verstossende Unabhängigkeitserklärung wie im Kosovo oder auf der Krim oder im Donbas hat laut diesem Gutachten nur eine innerstaatliche Bedeutung, aber vorerst keine völkerrechtliche Wirkung.

Lediglich 108 der 193 UNO-Mitglieder haben eine Eigenstaatlichkeit des Kosovo anerkannt. Auch vier EU-Staaten, nämlich Spanien, Griechenland Zypern und Malta haben das bis heute nicht gemacht.

Anders als es die NATO-Staaten dem Kosovo zubilligten, lehnen sie ein Selbstbestimmungsrecht der russischsprachigen Minderheit in der Ukraine ab und entsprechend auch ein Recht auf eine Sezession.

Einmischung von Drittstaaten in Sezessionsbestrebungen

Für Drittstaaten, die sich in den Prozess einer Sezession einmischen, sieht es völkerrechtlich wie folgt aus.

Im Fall von Kosovo verstiessen Nato-Staaten gegen das Völkerrecht, als sie Serbien ohne Beschluss des UN-Sicherheitsrats bombardierten. Über 12’000 Menschen kamen dabei ums Leben. Wirtschaftliche Sanktionen und andere Massnahmen gegen die völkerrechtswidrig handelnden Nato-Staaten wären legitim gewesen. Doch kein Land hat solche Massnahmen ergriffen.

Zwischen den Fällen NATO/Serbien/Kosovo ab 1998 und Russland/Ukraine/Donbass ab 2014 kommen eine Reihe spezifischer Unterschiede hinzu, die einer Analogie entgegenstehen.

Russland hatte und hat keine Schutzverantwortung für die russischstämmigen oder -sprachigen Bevölkerungen im Donbas, auf der Krim oder sonstwo in der Ukraine. Deshalb verstösst Russland gegen das Völkerrecht sowohl mit dem seit Februar 2022 geführten Angriffskrieg gegen die Ukraine als auch mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 und mit der Unterstützung der russischstämmigen Milizen und Sezessionisten im Donbas.

Richtig ist, dass der seit Februar 2022 geführte russische Krieg gegen die Ukraine kein Präzedenzfall war für die Anwendung militärischer Gewalt in Europa nach 1990 sowie für die gewaltsame Veränderung von Grenzen – wie von westlichen Medien und PolitikerInnen fast unisono behauptet. Der Präzedenzfall war vielmehr der NATO-Luftkrieg gegen Serbien im Jahr 1998 und die Abspaltung des Kosovo.

Der doppelte Standard des Westens ist keine Rechtfertigung für Russland

Autoren auf Infosperber haben über die Kritik an diesem NATO-Luftkrieg gegen Serbien sowie an anderen völkerrechtswidrigen Kriegen und Kriegsverbrechen westlicher Staaten wie etwa in Irak oder Afghanistan immer wieder informiert – ebenso wie über die Kritik an der Selektivität und den doppelten Standards, mit denen westliche Regierungen die seit 1945/48 universell gültigen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen anwenden (siehe weiterführende Informationen).

Doch alle notwendige Information und Kritik zu den Völkerrechtsverstössen und Kriegsverbrechen westlicher Staaten darf nicht dazu führen, die Verstösse und Verbrechen Russlands oder anderer Länder zu relativieren, zu verharmlosen, zu rechtfertigen oder gar zu leugnen. Wer das tut, ist mitverantwortlich für die Schwächung der universellen Normen.

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Oben      —     Straßenszene in Belgrad (1999)

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Unten     —        Picture: <a href=“http://stephan-roehl.de/“ rel=“nofollow“>Stephan Röhl</a>

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Ozeanien-vs-Eurasien

Erstellt von Redaktion am 18. Juni 2023

Ozeanien-Eurasien-USA-und-China-im-Konflikt-um-Taiwan

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Angesichts bröckelnder Wirtschaftsmacht geht Washington in der Auseinandersetzung mit China zu einer Strategie bloßer militärischer Dominanz über

Es ist gut möglich, dass rückblickend der Krieg um die Ukraine als erster Akt eines globalen Großkrieges, als bloßes Vorspiel für die in Taiwan drohende militärische Auseinandersetzung zwischen den USA und China angesehen werden wird. Die Spannungen in der Straße von Taiwan scheinen zu einem prekären Dauerzustand zu werden, während der Blutzoll des russischen Angriffskrieges inzwischen in die Hunderttausende geht.

Beide Konflikte können tatsächlich auch als Momente eines globalen Hegemoniekampfes begriffen werden, der zwischen den fragilen Bündnissystemen der absteigenden USA und dem aufstrebenden China geführt wird. Auf der geopolitischen Ebene ließe sich von einem Kampf des von China angeführten Eurasiens gegen das Ozeanien der Vereinigten Staaten sprechen. Washington verfolgt eine Eindämmungsstrategie gegenüber der chinesisch-russischen Allianz, bei der über den Pazifik und Atlantik hinausgreifende Bündnissysteme eine zentrale Rolle spielen. Und Taiwan ist im pazifischen Raum ein essenzieller Baustein dieser Containment-Strategie, bei der Washington bemüht ist, auch Südkorea, Japan, die Philippinen, Vietnam und Australien einzubinden.

Mit dieser Eindämmungsstrategie werden mehrere Ziele verfolgt: Zum einen soll die ungehinderte Formierung der rasch wachsenden chinesischen Militärmacht verhindert werden. Die globale Interventionsfähigkeit bildete die militärische Grundlage der Hegemonie der USA in den Dekaden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Peking forciert derzeit ein gigantisches, rasch voranschreitendes Flottenrüstungsprogramm, um die US-Marine zu überflügeln. Bis 2024 soll die Zahl chinesischer Kampfschiffe von 340 auf rund 400 ansteigen, während die US-Navy nur über knapp 300 Schiffe verfügt. Die Effektivität dieser chinesischen Marinemacht würde aber von US-Stützpunkten unterminiert, die Washington am liebsten in allen Nachbarstaaten Chinas errichten würde, die den Machtzuwachs Pekings mit Unbehagen beobachten.

Andererseits geht es bei diesem Containment auch darum, angesichts der sich zuspitzenden sozioökologischen Krise die ungehinderte Extraktion von Rohstoffen und Energieträgern in der Peripherie des Weltsystems durch Peking zu verunmöglichen. Die militärische Absicherung der Schifffahrtswege ist für China unmöglich, solange Washington Bündnispartner vor der chinesischen Küste hat.

Eskalationsdynamik im Spätkapitalismus

Wo verlaufen die Grenzen Ozeaniens und Eurasiens? Diese geopolitische Frage, die in der Ukraine militärisch ausgefochten wird, stellt sich auch in Taiwan, das Peking als Teil Chinas betrachtet. Der Taiwan-Konflikt ist folglich innerhalb Chinas besonders stark national und ideologisch aufgeladen, während eine überwältigende Mehrheit der Bewohner*innen Taiwans für die Beibehaltung des Status quo oder gar die Unabhängigkeit plädiert. Der Hegemoniekampf zwischen den USA und China ist aber auch ein Kampf um die technologische Dominanz. Washington bemüht sich mit immer weitergehenden Sanktionen, den verbliebenen technologischen Vorsprung gegenüber der Volksrepublik aufrechtzuerhalten. Und Taiwan ist ein wichtiger Standort für IT und Hightech-Produktion. Die wichtigsten Fabrikationsstätten für Computerprozessoren und Chips befinden sich auf der Pazifikinsel. Washington will den Zugriff Pekings auf diese Fertigkeiten verhindern.

Die sich im Pazifik entfaltende Eskalationsdynamik bleibt aber unverständlich, wenn die zunehmenden sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisentendenzen im spätkapitalistischen Weltsystem ausgeblendet bleiben. Es sind die systemischen Krisenprozesse, die sich immer deutlicher abzeichnenden inneren und äußeren Schranken des Kapitals, die die Staaten in die Konfrontation treiben. Auch der Angriff Russlands auf die Ukraine, der einem Akt nackten Wahnsinns gleicht, bleibt unverständlich, wenn die Aufstände in Belarus und Kasachstan kurz zuvor unberücksichtigt bleiben.

Auf globaler Ebene befinden sich die USA in einer ähnlich schwierigen Lage wie Russland in seinem abgetakelten und sozial zerrütteten postsowjetischen Hinterhof. Das jüngste »Bankenbeben« in den Vereinigten Staaten, das durch den Wertverfall von eigentlich als sicher geltenden US-Staatsanleihen ausgelöst wurde, ist Ausdruck der systemischen Sackgasse, in der die um den Dollar als Weltleitwährung zentrierte neoliberale Globalisierung steckt: Dem an seiner Produktivität erstickenden Weltsystem fehlt ein neuer industrieller Leitsektor, in dem massenhaft Lohnarbeit verwertet werden könnte, es läuft auf Pump. Die globale Verschuldung steigt schneller an als die Weltwirtschaftsleistung.

Dieser globale Verschuldungsprozess vollzog sich vermittels immer größerer Spekulationsblasen in der Finanzsphäre, wobei die Globalisierung zur Ausbildung von Defizitkreisläufen führte. Wirtschaftsstandorte mit Exportüberschüssen führten ihre Waren in Defizitländer aus, die immer größere Schuldenberge anhäuften. Die USA und China waren in diesem Prozess eng miteinander verstrickt. Im großen pazifischen Defizitkreislauf konnte China gigantische Exportüberschüsse gegenüber den USA erzielen, um diese sogleich in amerikanische Staatsanleihen zu investieren. Von China wurden über den Pazifik gigantische Warenmengen in die USA befördert, während in die Gegenrichtung US-»Finanzmarktwaren« (zumeist besagte Staatsanleihen) flossen, die China zu einem der größten Gläubiger der USA machten. (Ein ähnliches »Ungleichgewicht« zwischen dem deutschen Zentrum und der südlichen Peripherie prägte auch die Eurozone bis zum Ausbruch der Eurokrise.)

Mit dem Ende des Nachkriegsbooms, der Finanzialisierung und der Durchsetzung des Neoliberalismus wandelte sich somit die ökonomische Grundlage des westlichen Hegemonialsystems, das zuvor von der fordistischen Expansion getragen worden war: Die sich immer weiter verschuldenden USA wurden zum »Schwarzen Loch« des Weltsystems, das die Überschussproduktion exportorientierter Staaten wie China und der BRD aufnahm – um den Preis voranschreitender Deindustrialisierung und Verschuldung im eigenen Land. Ohne den US-Dollar wäre dies nicht möglich gewesen. Der Greenback als Weltleitwährung verschaffte Washington die Option, sich im Wertmaß aller Warendinge zu verschulden, um etwa seine Militärmaschinerie zu finanzieren. Wenn hingegen ein Erdo?an die Geldpresse anwirft, dann wächst einfach die Inflation.

Bürgerliche Krisenpolitik in der Falle

Diese auf Pump laufende globale Finanzblasenökonomie wurde in den letzten Jahrzehnten immer krisenanfälliger. Die Krisenschübe fielen immer heftiger aus, die Aufwendungen der Politik zur Stabilisierung des Systems wurden immer größer, die Abstände zwischen den Krisenschüben immer kürzer. Mit der einsetzenden Inflationsphase scheint die neoliberale Epoche der Krisenverzögerung am Ende zu sein.

Die bürgerliche Krisenpolitik befindet sich in einer Falle: Sie müsste die Zinsen anheben, um die Inflation zu bekämpfen, während sie zugleich die Zinsen senken müsste, um den aufgeblähten Finanzsektor vor dem Kollaps und die gigantischen Schuldenberge vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Die USA sind im Rahmen der kollabierenden Finanzblasenökonomie und der besagten Defizitkreisläufe nicht mehr in der Lage, als »Schwarzes Loch« der Weltwirtschaft zu fungieren, womit das ökonomische Fundament der US-Hegemonie untergraben wird. Mit den zunehmenden Absetzbewegungen vom US-Dollar in der Semiperipherie des Weltsystems, wo etliche Staaten zu bilateralen Zahlungssystemen mit China übergehen, scheint die Zeit des Greenback als Weltleitwährung abzulaufen, was die Vereinigten Staaten zu einem riesigen, militärisch hochgerüsteten Schuldenstaat degradieren würde.

Die einzige Option, die Washington noch bleibt, um das erodierende Bündnissystem des »Westens« aufrechtzuerhalten, ist die der militärischen Dominanz. Das eigentliche Rückgrat der Vormachtstellung der USA wie auch der Stellung des Dollar als Weltleitwährung bildet der US-Militärapparat. Deswegen ist Washington bereit, dem chinesischen Expansionsstreben mit einer Konfrontationsstrategie zu begegnen – solange die militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten noch besteht.

Erstveröffentlicht unter : https://www.akweb.de/ausgaben/693/ozeanien-vs-eurasien-usa-und-china-im-konflikt-um-taiwan/

Tomasz Konicz

Dist Autor und Journalist. Von ihm erschien zuletzt das Buch »Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört«. Mehr Texte und Spendenmöglichkeiten (Patreon) auf konicz.info.

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Oben       —       The World War II Pacific Theater as it appeared in August, 1942.

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von Redaktion am 18. Juni 2023

Nach dem Canceln das Comeback

Rote Flagge II.svg

Kolumne von Fatma Aydemir

Kevin Spacey im „Zeit-Magazin“. Wenn sie prominent sind, werden mutmaßliche MeToo-Täter schnell rehabilitiert. Das zeigt nicht nur ein aktuelles Interview mit Kevin Spacey.

Könnte nächsten Monat vielleicht schon das große Comeback-Interview mit Till Lindemann im Zeit-Magazin kommen? Schlagzeile: „Ich dachte, sie wollten es auch … Vielleicht hätte ich sie zuerst wecken sollen.“ Eine Journalistin könnte mit dem Popstar Gassi gehen, einen Kaffee to go in der Hand. Abends ginge man in eine verranzte Kneipe, in der jeder „den Till“ kennt und schätzt.

Von dem Buzz profitieren, den Skandale bringen

Natürlich würde man im Interview nicht über die Vorwürfe sexualisierter Gewalt sprechen, die eine ganze Reihe junger Frauen gegen Lindemann erheben. Man würde behaupten, das liege daran, dass das juristische Verfahren noch läuft, in Wahrheit ginge es darum, dass der Sänger nicht eingeschnappt ist und das Exklusivinterview kurzerhand abbricht, welches online natürlich auf Englisch übersetzt und bitte von allen internationalen Medien zitiert würde.

Lindemann dürfte sicher erzählen, wie schwer die Zeit war, nachdem sein Label bekannt gab, weniger Werbung für seine Platte zu machen, und eine Handvoll Leute sich tatsächlich mit Transpis vor dem ausverkauften Sta­dion­kon­zert trafen, um gegen den Rammstein-Auftritt zu protestieren. Erschütternd. Diese Cancel Culture zerstört doch jeden.

Das ist natürlich alles ausgedacht und rein hypothetisch, ich denke, die meisten Leser_innen verstehen den Zweck eines Konjunktivs. Es sei trotzdem noch mal erwähnt für poten­ziell mitlesende, übereifrige Anwaltskanzleien. Aber nur weil etwas ausgedacht ist, bedeutet das nicht, dass alles daran Humbug ist. Nachdem das Zeit-Magazin im vergangenen Monat ein so unkritisches Interview mit Quentin Tarantino druckte, als sei es 1996, legte das Lifestyleheft diese Woche nach, mit einem exklusiven Interview mit US-Schauspieler Kevin Spacey.

Kevin Spacey, May 2013.jpg

Genau, der Kevin Spacey, dem von mehreren Männern sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigung vorgeworfen werden. In zwei Prozessen wurde er freigesprochen, der dritte steht noch an, in London. Kann man machen, Spacey kurz vor dem wichtigen Prozess auf ein Käffchen zu treffen und das Cover dafür freizuräumen. Aber mit welchem Motiv? „Vielleicht hofft er, dass ein europäisches Medium wie das Zeit-Magazin weniger scharf über ihn berichtet, als es ein amerikanisches Medium tun würde“, mutmaßt der Text jedenfalls über das Motiv des Schauspielers, um dann genau das zu machen: Kuscheln – und zwar mit Ansage.

Am Ende haben alle was davon

Wie schnell mutmaßliche Täter von diesem Kaliber rehabilitiert werden können, zeigt diese Woche auch ein Auftritt von Filmstar Ezra Miller bei einer Filmpremiere in Hollywood. Miller wurde von mehreren Frauen Körperverletzung und Belästigung vorgeworfen. Außerdem steht Miller im Verdacht, eine Art Kult zu unterhalten und vorrangig junge Fans unter Drogen zu setzen.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten      —    Kevin Spacey on the set of House of Cards during Maryland Gov. Martin O’Malley’s visit in 2013.

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Die Illusion der Kontrolle

Erstellt von Redaktion am 17. Juni 2023

Die Grünen bezahlen für ihr Ja einen Preis

Bündnis 90 - Die Grünen Logo.svg

Von:      Stefan Reinecke

Der EU-Asylkompromiss führt nicht zu wesentlich weniger Migration, er vermehrt nur das Unglück an den Außengrenzen. Der Kompromiss befeuert die Vorstellung, dass man Migration lenken, berechnen, unterdrücken und einer Kontrolle unterwerfen kann.

Der Mann ließ im Bundestag kein gutes Haar an dem Asylkompromiss. „Anstatt das Asylrecht zu bewahren, soll es nun so weit eingeschränkt werden, dass das einer Abschaffung gleichkommt“, sagte der Bündnisgrüne. Man errichte „Mauern aus Gesetzen und Abkommen“, um sich die Geflüchteten vom Leib zu halten und sie schnell in Drittstaaten zu entsorgen. Wer aus einem Nachbarland kam, hatte kein Recht auf Asyl mehr. Das war ungefähr so, als wenn Irland beschließen würde, dass nur, wer zu Fuß kommt, Asyl beantragen darf.

Diese Szene spielte sich 1993 ab. Konrad Weiß, Abgeordneter von Bündnis 90, redete vergeblich der SPD ins Gewissen. Das Grundgesetz wurde mit SPD-Stimmen geändert.

Der Asylkompromiss vor 30 Jahren und der EU-Asylkompromiss 2023 ähneln sich im manchem. Das Ziel ist: Migranten abschrecken. Dafür werden die Rechte von Asylbewerbern beschnitten, ohne das Asylrecht komplett zu streichen. Auch der Schmierstoff dieser Operation ist ähnlich: Es ist die Konstruktion der sogenannten sicheren Drittstaaten. Ein syrischer Flüchtling, der aus der Türkei in die EU kommt, kann künftig wieder zurückgeschickt werden – auch wenn er in der EU Anrecht auf Asyl hat. Ob und wie oft das passieren wird, ist offen. Aber es ist möglich. Auch die Asylzentren, Kernstück der EU-Reform, folgen einem Vorbild, das 1993 in Deutschland erfunden wurde. Flüchtlinge, die per Flugzeug kommen, landen seitdem nicht in Deutschland, sondern in einer Art Transitraum, in dem die „Fiktion der Nichteinreise“, so der juristische Ausdruck, gilt. Auch in den geplanten EU-Asylzentren finden sich Geflüchtete in einem fiktiven Europa wieder.

Bekannte Argumente, gemischte Gefühle. Das Ganze wirkt wie ein Remake. Nur die Grünen spielen diesmal nicht die tapfere Opposition, sondern die Rolle der SPD. Halb fallen sie, halb zieht es sie hin. Am Ende werden sie wohl, nach ausreichend öffentlich dargebotener Zerknirschung, dem stählernen Gebot der Realpolitik folgen.

Auch wenn die Rhetorik 2023 nicht so aggressiv und fremdenfeindlich klingt wie 1993, tauchen in dem Diskurs ähnlich suggestive Bilder auf. In Talkshows und Bundestagsdebatten werden – mehr oder weniger verklausuliert – drei Erzählungen bedient. Alle drei haben die gleiche Botschaft: Wir müssen uns schützen. Das erste Bild: „Nur ganz wenige Migranten sind Verfolgte. Das Gros sind Wirtschaftsflüchtlinge.“

So ist es nicht – jedenfalls derzeit. Im Jahr 2022 bekamen fast drei Viertel aller Asylsuchenden Schutz und wurden als Verfolgte anerkannt. Nur in 28 Prozent der Fälle wurde der Asylantrag als unbegründet abgelehnt. Trotzdem werden Flüchtlinge generell als Schwindler verdächtigt.

Das zweite Bild: „Die illegalen MigrantInnen kommen nach Deutschland – und arbeiten dann nicht.“ Auch das stimmt so nicht. Es ist kompliziert, die Daten etwas schütter. Aber: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland ist aus demografischen Gründen günstig. Auch Ungelernte werden verzweifelt gesucht. So gehen Experten davon aus, dass trotz Hürden wie der Sprache rund 55 Prozent jener Migranten arbeiten, die 2015/16 nach Deutschland kamen. Tendenz steigend. Die Integration in den Arbeitsmarkt ist aufwendig und kostspielig. Aber Leute, die hier sind, auszubilden ist effektiver, als Arbeitskräfte in der Ferne zu umwerben, die dann lieber nach Kanada gehen. Das Bild vom Flüchtling, der es sich in der sozialen Hängematte bequem macht, ist jedenfalls falsch.

Wer Menschen ausschliesst – sperrt sich selber ein !

Drittens: „Wir müssen an der Grenze durchgreifen und die illegalen Migranten (böse, weil Wirtschaftsflüchtlinge) von den verfolgten Asylsuchenden (nehmen wir auf, weil wir gute Menschen sind) trennen.“ Dieses Bild ist vielleicht das wirksamste. Und abgründigste. Es legt nahe, dass die Politik an der Grenze für Ordnung sorgen kann, wenn sie es nur will. Hart, aber fair. Repressiv, aber gerecht. Man muss nur entschlossen das richtige Anreiz- oder vielmehr Abschreckungssystem etablieren – schon lässt sich globale Migration steuern, und das Problem ist wenn nicht gelöst, so doch entscheidend gemildert. Dieses Bild ist so fatal, weil es eingängig und schwer zu widerlegen ist. Migration ist ein vielschichtiger, komplexer, verwirrender, sich wandelnder Prozess. Gerade deshalb ist es attraktiv, an einfache, gerade Lösungen zu glauben, die man sich nur trauen muss.

Diesem Geist entspricht der EU-Asylkompromiss mit den geplanten haftähnlichen Lagern und verkürzten Verfahren. Er befeuert die Vorstellung, dass man Migration lenken, berechnen, unterdrücken und einer weitgehenden Kontrolle unterwerfen kann.

Doch das wird nicht so sein – und das ist der Unterschied zwischen 1993 und 2023. Deutschland gelang es damals auch mittels Drittstaaten, Zahlen radikal zu senken: von fast einer halben Million im Jahr 1992 auf 19.000 im Jahr 2007. Die Bundesrepublik machte sich einen schlanken Fuß auf Kosten geduldiger Nachbarn. Als 2011 auf Lampedusa Tausende Flüchtlinge ankamen, erklärte CSU-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich in einer bemerkenswerten Mixtur aus Dummheit und Arroganz, das sei Italiens Problem. Das kam 2015/16 als Bumerang zurück.

Die Lage in der EU ist 2023 anders. Denn die dienstbaren Drittstaaten, die Flüchtlinge abwehren, existieren so nicht. Die EU hat zwar moralisch abgründige Deals mit Autokraten in Afrika geschlossen, die rosafarben „Mobilitätspartnerschaften“ getauft wurden. Entwicklungshilfe und Handelsvergünstigungen für Länder wie Ägypten, Marokko und Niger wurden an die Bedingung gekoppelt, Migrantenrouten zu unterbrechen. Die EU hat kreativ ein komplexes Netz entworfen, um zweifelhafte Regime mit Geld dazu zu bringen, Abgeschobene wieder zurückzunehmen.

Staatsgrenzen zeichnen sich nicht mehr, wie der Staatstheoretiker Thomas Hobbes einst schrieb, dadurch aus, dass sie „bewaffnet sind und auf die anliegenden Nachbarn gerichtete Kanonen haben“. Grenzen im globalen Kapitalismus sind flexible, oft nach vorne verlagerte Systeme, mit denen sich die reichen Zentren die Zuwanderung aus den armen Peripherien vom Leib zu halten versuchen. Der Soziologe Steffen Mau hat diese Grenzen mit ausgefeilten Überwachungssystemen und diffusen Rechtsräumen griffig als „Sortiermaschinen“ beschrieben. Sie haben etwas Ausuferndes. Im Vergleich mögen die Grenzen der Ära der klassischen Nationalstaaten mit ihren Schlagbäumen wenn nicht harmlos, so doch verlässlich und übersichtlich erscheinen.

Lesbos refugeecamp - panoramio (2).jpg

Doch so beängstigend diese Sortiermaschinen mitunter wirken – sie sind prekär, anfällig, fragil. Die EU ist auf die politischen Kalküle autokratischer Regime angewiesen. Die EU verfügt nicht über die imperiale Macht, den (nord)afrikanischen Staaten den eigenen Willen zu diktieren. Einzelne europäische Länder haben mehr als 300 Rücknahmeabkommen mit Staaten geschlossen, um Migranten wieder loszuwerden – mit durchwachsenem Erfolg. Fast 80 Prozent der Abschiebebefehle wurden 2021 in der EU nicht umgesetzt. Auch der gerade heftig umworbene tunesische Staatschef hat wenig Neigung, als Europas gekaufter Grenzpolizist zu gelten.

Die Sortiermaschinen funktionieren manchmal, mal stottern sie, mal fallen sie aus, dann laufen sie wieder auf Hochtouren. Migration ist nur bedingt regulierbar. Sogar die repressive Grenze zwischen Mexiko und den USA, an der Trump brutal Tausende Kinder von ihren Eltern trennte, funktioniert – aus US-Sicht – nur wie ein mehr oder weniger guter Filter. Auch unter Joe Biden werden Millionen festgenommen, abgewiesen, abgeschoben. Trotzdem leben in den USA mehr als elf Millionen sogenannte illegale Migranten.

In einem hoch vernetzten, weltumspannenden Markt mit extremem Wohlstandsgefälle, in dem Kapital und Waren, Informationen und Datenströme so frei und schnell wie nie zuvor fließen, ist es ein Kinderglaube, dass man Flüchtlinge nach Belieben stoppen und in brauchbare und lästige aufteilen kann. Im globalen Dorf weiß man auch in Ecuador und Nigeria, welche Migrationsrouten gerade funktionieren.

Die Idee, man werde mit dem EU-Kompromiss nun „die Zahlen in den Griff kriegen“, so CSU-Mann Manfred Weber, hat etwas Einfältiges. Denn wer in Westafrika viel Geld investiert, den Tod in der Sahara und das Ertrinken im Mittelmeer riskiert, sich Schlepperbanden anvertraut, Kriminelle und Frontex einkalkuliert, der wird sich kaum davon abschrecken lassen, dass die EU beschleunigte Verfahren einführt. Dieser Asylkompromiss führt nicht zu wesentlich weniger Migration. Er vermehrt nur das Unglück an den Außengrenzen.

Quelle          :            TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Der Fall Lübcke:

Erstellt von Redaktion am 17. Juni 2023

Koalitionsraison vor Aufklärung

Von      :      Michael Lacher

Vor bald vier Jahren, am 1. Juni 2019, wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke getötet – es war der erste rechtsradikal motivierte Mord an einem Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik. Am 23. Februar 2023 beendete nun, mit der 38. Sitzung im Hessischen Landtag, der „Lübcke-Untersuchungsausschuss“ (UNA 20/1) seine Auseinandersetzung mit einem möglichen Behördenversagen im Vorfeld des Mordes.

Zum rechtlichen Hintergrund: Im Januar 2021 wurde der Mörder, der Neonazi Stephan Ernst, vom Oberlandesgericht Frankfurt zu lebenslanger Haft verurteilt und aufgrund der Schwere der Schuld mit einer Sicherheitsverwahrung belegt. Eine Revision des Urteils durch den BGH wurde im August 2022 abgewiesen. Ziel der von der Familie Lübckes betriebenen Revision war es, den Kumpanen von Ernst, Markus H., in einem neuen Verfahren der Mittäterschaft zu überführen. Dieser war in der Hauptverhandlung von der Beihilfe zum Mord an Lübcke freigesprochen worden, was auch der Generalbundesanwalt, vertreten durch den Oberstaatsanwalt Dieter Killmer, irritiert zur Kenntnis genommen haben dürfte. Denn noch in der Hauptverhandlung hatte er überzeugend einen großen historisch-politischen Bogen zu den rechtsradikalen Morden der Weimarer Republik, namentlich an Walter Rathenau, gezogen und zumindest eine psychische Beihilfe von Markus H. begründet.

Nun also das Ende des Untersuchungsausschusses, der die Selbstgerechtigkeit und das Desinteresse der schwarz-grünen Koalitionäre offenbarte. Faktisch gab der Ministerpräsident des Landes Hessen, Boris Rhein, in der vorletzten, 37. Sitzung das Ergebnis vor: „Der Mord an Walter Lübcke hätte nicht verhindert werden können.“ Dem pflichteten in der letzten Sitzung die geladenen Zeugen bei: erst Innenminister Peter Beuth, der sein Amt schon zur Tatzeit innehatte, und dann auch der damalige Ministerpräsident Volker Bouffier: „Der Mord war nicht vorhersehbar.“

Widerspruchslose Grüne

Von Seiten des grünen Koalitionspartners gab es zu alledem keinen Widerspruch. Überhaupt bildete sich im Laufe der Ausschussarbeit die klassische Konstellation ab: hier die blockierenden Regierungsparteien CDU und Grüne, dort die ja keineswegs homogene demokratische Opposition aus SPD, FDP und Linke, die bemüht war, die behördlichen Defizite aufzudecken und die politisch Verantwortlichen zu benennen.

Dabei waren zu Beginn der Arbeit durchaus noch gemeinsame Anstrengungen der jeweiligen Partei-Obleute zu spüren.[1] In ziemlicher Kleinarbeit mühten sie sich mit Hilfe von 48 Zeugen, gemeinsam Licht in das Wirrwarr behördlicher Arbeitsweisen zu bringen. Doch mit fortschreitender Ausschussarbeit und insbesondere dem nahenden Landtagswahlkampf fielen die Koalitionäre vor allem durch ausgesprochen gebremste Fragestellungen auf.

Vor der 18. Sitzung, im Dezember 2021, kam es sogar zu einem handfesten politischen Eklat.[2] In einer geheimen Sitzung einigten sich CDU, Grüne und AfD mit ihrer Zweidrittelmehrheit auf die vom Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) geforderte nichtöffentliche Vernehmung einer LfV-Mitarbeiterin. Durch diesen Tabubruch wurde – gewissermaßen im Hinterzimmer – eine Koalition mit der AfD geschmiedet, um die Opposition auszuhebeln. Immerhin entschuldigten sich die Grünen im Anschluss für ihr Abstimmverhalten – anders als die CDU, die stattdessen bei Zeugenbefragungen der Linken regelmäßig durch ihren pöbelnden Abgeordneten J. Michael Müller auffiel.

Kam es dagegen einmal zu übergreifenden Fragen, etwa nach den Zusammenhängen der regionalen rechtsradikalen Szene mit der AfD, wurden diese vom Vorsitzenden Christian Heinz (CDU) regelmäßig nicht zugelassen. Kurzum: War die Ausschussarbeit demnach völlig umsonst, da behördliches Versagen nicht nachgewiesen werden konnte?

Nein, ganz im Gegenteil: Der Ausschuss brachte eine Reihe struktureller und individueller Defizite der Sicherheitsbehörden zutage, die im Fall von Stephan Ernst ein Versagen der Behörden offenlegten. So wurde die sog. P-Akte von Ernst im Jahre 2015 nach fünf Jahren „ohne Auffälligkeit“ gesperrt, war also nicht mehr in Bearbeitung des LfV, weil er als „abgekühlt“ galt. Dabei hätte angesichts der rechtsradikalen Vita von Ernst die Akte nach formaler Betrachtung noch bis zu 15 Jahren offengehalten werden können, was jedoch aufgrund eines Löschmoratoriums und damit eines Staus von über 1400 Akten und des folgenden Personalmangels nicht geschah. Dabei wurde auch die Aktennotiz „brandgefährlich“ des damaligen LfV-Präsidenten Alexander Eisvogel aus dem Jahr 2009 ignoriert. Somit konnte der Ausschuss durchaus ein systemisches Versagen in Form personenbezogener Fehlentscheidungen herausarbeiten, was die Vermutung von Christoph Lübcke stützt, dass der Mord an seinem Vater hätte verhindert werden können,[3] – und was zugleich die grundsätzliche Frage aufwirft, ob das LfV überhaupt reformierbar ist oder, wie einige kritische Stimmen fordern, einfach abgeschafft gehört.

Eine verpasste historische Chance

Für Letzteres gibt es durchaus gute Argumente: Denn obwohl sich sämtliche LfV-Präsidenten in ihren Zeugenvernehmungen als konsequente Verfolger des Rechtsextremismus rühmten und zudem als beständige „Aufräumer“ nach der jeweiligen Behördenübernahme, reihte sich faktisch eine personelle Fehlleistung an die andere. Zwar wuchs das LfV nach der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2014 von 256 auf 400 Personen im Jahr 2022 an, bei gleichzeitiger Verdopplung des Etats (laut Aussage von Bouffier). Doch offenbar nutzte es nichts, den „Sauhaufen“ – so wortwörtlich der Abgeordnete Stefan Müller, FDP – auf Vordermann zu bringen, weil weder die Informationsübermittlung, etwa zwischen den jeweiligen Landesämtern und dem Staatsschutz, funktionierte noch die Qualifikation der Mitarbeiter:innen den Anforderungen einer qualifizierten Tätigkeit entsprach. Zum Teil wurde nach Aussagen von Bouffier Personal aus dem einfachen Dienst, etwa der Post rekrutiert – darunter der höchst dubiose Andreas Temme, der beim NSU-Mord in Kassel zur Tatzeit am Tatort war. In erster Linie kamen für die Sachbearbeitung aber Beamt:innen aus dem mittleren Polizeidienst zum Einsatz. Offensichtlich waren diese nicht selten damit überfordert, sich einen politischen Überblick über die rechtsextreme Szene, ihre Strukturen, Symbole und ihr Rekrutierungsfeld zu verschaffen und vor allem das politische Übergangsfeld zur AfD zu verstehen.

Bild Dr. Walter Lübcke.jpg

Auf diese Weise blieben im Untersuchungsausschuss die gesellschaftlichen Bezüge und Hintergründe des deutschen Rechtsradikalismus weitgehend unbeleuchtet. Vor allem die möglichen Verbindungen des Mörders von Walter Lübcke und seines Helfers und möglichen Anstifters zu den örtlichen AfD-Organisationen wurden kaum oder gar nicht behandelt. Dabei gibt es Hinweise darauf, dass die mit Unterstützung der AfD durchgeführten KAGIDA-Veranstaltungen (dem Kasseler Ableger der Dresdner PEGIDA) auch von den beiden Neonazis besucht wurden. Auch die Bezüge der Kasseler Neonazi-Szene zu den NSU-Mördern wurden trotz personeller Überschneidungen – zur Erinnerung: die NSU-Zeugin Corinna G. war auch in Kassel aktiv – nicht systematisch hergestellt, nachdem ein Zeuge des Bundesamtes für Verfassungsschutz diese verneint hatte.

Auf diese Weise – und hier liegt das große Versäumnis dieses Ausschusses, ja die vertane historische Chance – blieben die großen Zusammenhänge zu den rechtsradikalen Netzwerken und ihrem Wirken völlig unterbelichtet. Faktisch wurde auf dem Altar der Koalitionsraison, dem kurzsichtigen Interesse von CDU und Grünen an einem guten Abschneiden bei der kommenden Landtagswahl, der Schutz der Demokratie geopfert.

Dieser hätte es verlangt, dass die gefährliche Verbindung von Rechtsextremismus in der Gesellschaft und Gleichgültigkeit bis hin zu klammheimlicher Freude und expliziter Zustimmung in den Behörden aufgedeckt wird. Denn dafür ist die Lage in Hessen regelrecht exemplarisch.

Nachdem der NSU mit Halit Yozgat 2006 in Kassel seinen wohl letzten Mord begangen hatte, ermittelte die Hessische Polizei monatelang lediglich im privaten migrantischen Bekannten-, Freundes- und Verwandtenkreis des Opfers. 2018 flogen dann gleich 47 rechtsradikale Chat-Gruppen mit 136 Frankfurter Polizeibeamten auf, die rassistische Texte, Nazisymbole und Videos geteilt hatten. Dennoch stellte das Landgericht soeben, im März 2023, die strafrechtliche Verfolgung der beteiligten Polizisten ein. Das Gleiche gilt für die Verfolgung von Mitgliedern des mittlerweile aufgelösten Frankfurter Spezialeinsatzkommandos, die über Jahre untereinander Beiträge mit volksverhetzenden Inhalten beziehungsweise Nazi-Symbole geteilt hatten.

Quelle          :         Blätter-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben        —   Rosenmontag in Düsseldorf. Een door Jacques Tilly ontworpen wagen met als thema hoe haatspraak tot geweld leidt.

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Recherche: Kölner IL-Outing

Erstellt von Redaktion am 17. Juni 2023

Fragen an K3 und an das verkündete Ende der Recherche

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von     :      K4 Recherche

Wir sind Menschen aus verschiedenen Städten, mit guten Kontakten zu Menschen in Köln, die Zugriff auf einige der Informationen haben, die auch K3 für ihre Untersuchung genutzt hat.

Lange Zeit standen wir der Arbeit von K3 sehr wohlwollend gegenüber. Umso mehr, weil die IL ein Nichtverhalten an den Tag legt, das uns ebenso wütend macht wie K3! Zudem haben wir eine grundsätzliche Kritik an Inhalt und Praxis dieser „postautonomen“ Organisation.In letzter Zeit kommen uns aber auch Zweifel an der Vorgehensweise von K3. Von aussen betrachtet scheint es uns, als ob K3 nun genauso mit Tricks, Halb- und Unwahrheiten zu arbeiten beginnt, wie wir es von Anfang an bei der IL erlebt haben.Anders als K3 halten wir das Schreiben des Anwalts von X., datiert auf den 28.4.2023, für höchst bedeutsam. Hierbei werden wir uns zunächst auf vier Aspekte beschränken:

  • Was ist mit der Sprachnachricht, die „Täterwissen“ offenbart?
  • Doch keine gefälschte Mail mit den zwei Fotos?
  • Doch keine Unkenntnis über korrekte Namensschreibung?
  • Wie viele Personen wussten etwas?

Zu 1. Der Anwalt von X. weist darauf hin, dass C. in einer Sprachnachricht vom 3.1.2022 „Täterwissen“ offenbart habe. Nach den uns vorliegenden Informationen wird die Echtheit dieser von C. an X. übermittelten Sprachnachricht von keiner Seite in Frage gestellt. Der Anwalt von X. führt aus:

K4 Recherche

Nach den bisherigen Darstellungen soll es im Oktober 2021 auf einem Treffen der IL eine Warnung vor C. gegeben haben. Dabei sollen mehrere Namen von FLINTA genannt worden seien. Ein Name war demnach der von X., die weiteren Namen sind nach unserem Kenntnisstand nirgends jemals erwähnt worden.

Wenn C. in der Sprachnachricht jedoch Namen nennt, stellt sich für uns die Frage, woher er diese kennt, wenn die bisherige Darstellung von K3, dass die gesamte Geschichte eine Konstruktion von X. oder der IL sei, korrekt wäre.

Sollte die Darstellung des Anwalts von X. aber der Wahrheit entsprechen, so müsste K3 einräumen, dass Teile der C. belastenden Darstellungen zutreffend sein könnten.

Während wir bislang davon ausgingen, dass C. zu unrecht beschuldigt sein könnte, erschüttert dieser Umstand, der vom Anwalt als „Täterwissen“ eingeordnet wird, unsere Annahme. Hier sehen wir unbedingt Aufklärungsbedarf.

Zu 2) K3 hat in ihren Veröffentlichungen nahegelegt, dass die Mail von JH an X vom 14.01.2022 nicht existieren würde oder manipuliert sei oder keine Fotos als Anhang gehabt habe. Hierzu müssen wir selbstkritisch feststellen, dass diese Position, die wir bisher geglaubt haben, nach dem Schreiben des Anwalts von X, dem der Ausdruck einer Mail mit korrektem Header beigefügt wurde, nicht mehr aufrecht zu erhalten ist.

K4 Recherche

Zu 3)

Wir gingen nach den Veröffentlichungen von K3 bislang davon aus, dass X. keine Kenntnis von der korrekten Schreibweise des Namens von C. habe und ebenso wie JH die falsche Schreibweise mit Q. benutzt. K3 hatte seinerzeit geschrieben:

K4 Recherche

Nun kann der Anwalt von X. jedoch nachweisen, dass X. die korrekte Schreibweise sehr wohl in Kommunikationen benutzte.

K4 Recherche

Die bisherige Darstellung von K3 lässt sich deshalb nicht aufrechterhalten

Zu 4)

Ausweislich des Schreibens des Anwaltes von X., das sich auf beigefügte Kommunikation zwischen X. und C. stützt, wird deutlich, dass C. unterschiedliche Versionen darüber verbreitet, ob er überhaupt mit anderen Menschen über seinen Sex mit X. gesprochen hat bzw. mit wie vielen Menschen:

K4 Recherche

Für uns bleibt die Frage offen, wer im Vorfeld und im Nachgang des Treffens zwischen X. und C. welche konkreten intimen Informationen von C. erhalten hat und an wen diese Informationen weitergegeben wurden. Hinzu kommt, dass der Anwalt von X. geltend macht, dass JH in diesem Zusammenhang Prognosen über das zukünftige Verhalten von C. macht, die sich seiner Ansicht nach bewahrheitet hätten:

K4 Recherche

Wir fragen uns, ob K3 genügend Anstrengungen unternommen hat, um auszuschliessen, dass JH eine der von C. selbst informierten Personen ist.

Alles in allem sind wir verunsichert. Gewissheiten, die wir nach dem Schweigen der IL und den Veröffentlichungen von K3 hatten, existieren nicht mehr. Wir sehen auf ALLEN Seiten den Versuch, selbstkritische Fragen bezüglich diverser Behauptungen, Indizien und Fakten zu vermeiden.

Wir haben hier nur einige wenige Punkte herausgestellt und wir erheben auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir sind keine Ermittlungsgruppe und in einigen Punkten fehlt uns schlicht die technische Expertise, um qualifizierte Aussagen treffen zu können. Wir halten jedoch anders als K3 die Recherche und die Bewertung derselben nicht für abgeschlossen.

Nachtrag 13. Juni:

Wir sind in den letzten Tagen von verschiedenen Personen und Gruppen angesprochen worden, ob wir an einer Zusammenarbeit interessiert sind. Dafür reicht unser Vertrauen nicht aus und wir sind auch keine klassische Ermittlungsgruppe. Aber wir haben den Anspruch an IL und K3, dass sie ihre Arbeit gründlich und transparent machen. Wir haben einige Punkte genannt, werden jetzt abwarten und uns zu gegebener Zeit wieder melden.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Oben        —   I took this photo in March 2003

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Kolumne FERNSICHT Israel

Erstellt von Redaktion am 17. Juni 2023

Verhängnisvoller Bruderkuss unter Erzfeinden

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Von Hagan Dagan

Im Nahen Osten wird es nicht langweilig. Während sich die Augen der Welt auf das Drama in der Ukraine richten, verändert sich zwischen dem Mittelmeer und dem Persischen Golf die geopolitische Landkarte.

Iran entwickelt sich Schritt für Schritt zur Atommacht. Aktuell sieht es nicht so aus, als würde das noch jemand verhindern können. Die zweifellos beeindruckenden Operationen des Mossad konnten die iranische Kernentwicklung allenfalls verzögern. Ähnlich auch die Kontrollen der Internationalen Atomenergie-Organisation.

ExpertInnen gehen davon aus, dass Iran in erschreckend kurzer Zeit in der Lage sein wird, eine Atombombe herzustellen. Die USA und Europa streben nach einer Wiederaufnahme der Atomvereinbarungen, und offenbar gibt es an dieser Front einen deutlichen Fortschritt. Wobei Staatsoberhaupt Ajatollah Ali Chamenei jüngst bekanntgab, dass selbst eine Wiederaufnahme der Verhandlungen Iran nicht daran hindern werde, das Atomforschungsprogramm fortzusetzen. Teheran könnte so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: das Ende der wirtschaftlichen Sanktionen und trotzdem Fortschritte auf dem Weg zur Atombombe.

Überraschend kommt das jüngste Kooperationsabkommen zwischen Teheran und Riad. Saudi-Arabien und Iran sind erbitterte Feinde, die um die Vorherrschaft und Einfluss im Nahen Osten ringen. Der Krieg im Jemen – in dem Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi gegen die schiitischen Huthi-Rebellen stützten, die praktisch als ein verlängerter Arm Teherans fungieren – gehört dazu. Saudi-Arabien verhedderte sich in dem Krieg, der Riad Milliarden Dollar kostete und der schwere Schäden unter anderem an der Ölinfrastruktur hinterließ, ohne dass es gelang, die verhältnismäßig überschaubaren gegnerischen Truppen zu schlagen. Ein klares Schwächezeichen. Das andauernde Blutvergießen, gepaart mit der kalten Schulter, die die USA – eigentlich ein Verbündeter – Riad zeigten, brachte den energischen Regierungschef, Kronprinz Mohammed bin ­Salman, zu einer dramatischen Kehrtwende: Er reichte dem Erzfeind die Hand zum Frieden. Inzwischen flirtet bin Salman auch mit den Chinesen. Mit Verpflichtungen zu tra­di­tio­nel­len Bündnissen nimmt es der Kronprinz offensichtlich nicht so genau.

Was den Iran betrifft, so mögen dem Kooperationsabkommen ein langfristiges Kalkül zugrunde liegen oder politische Intrigen. Vermutlich aber war es reiner Pragmatismus. Iran agiert hier nicht aus Verstocktheit und Eifersucht, sondern als ein Land, das Chancen ergreift. Die internationalen Sanktionen haben der Wirtschaft Irans schweren Schaden zugefügt, dazu kommen die inländischen Proteste. Die Annäherung an Saudi-Arabien und in der Folge vielleicht an weitere Golfstaaten stärkt das Land und führt zu mehr Stabilität. Und sie ist eine sicherere Karte, als sich im Krieg gegen die Ukraine an der Seite Russlands zu positionieren.

Quelle         :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Am autoritären Kipppunkt

Erstellt von Redaktion am 16. Juni 2023

Antidemokratische Tendenzen sind auf dem Vormarsch

The Gaza Ghetto

Ein Denattenbeitrag von DANIEL MULLIS und  MAXIMILIAN PICHL und  VANESSA E. THOMPSON

In Deutschland werden autoritäre Ereignisse mehr und die politischen Räume enger. „Law and Order“-Politik hat Hochkonjunktur. Wir müssen jetzt handeln.

Wir machen uns Sorgen. Gesellschaftlich steht viel auf dem Spiel. In Deutschland ähnelt die Situation immer mehr der, die wir seit einiger Zeit in Ungarn, den USA, Indien oder Italien beobachten: autoritäre Kipppunkte werden überschritten. In der Klimaforschung ist ein Kipppunkt ein Moment, an dem – laut Weltklimarat – „eine kritische Grenze“ erreicht wird, „jenseits derer sich ein System umorganisiert“, neue Prozesse sich verfestigen, negative Dynamiken sich beschleunigen. Dies lässt sich auf gesellschaftliche Kipppunkte übertragen. Kipppunkte entstehen nicht zufällig, sie sind das Ergebnis länger zurückliegender destruktiver Prozesse. Im Gegensatz zum Klima sind gesellschaftliche Prozesse nie unumkehrbar. Allerdings sind etablierte Diskurse, Strukturen und Normen oft nicht rückgängig zu machen. Sind autoritäre Kipppunkte überschritten, wird der Boden brüchig, auf dem plurale und demokratische Gesellschaften stehen.

Die autoritären Ereignisse überschlagen sich in einer derart rasanten Geschwindigkeit, dass es kaum möglich ist, Schritt zu halten; stets geht es darum, europäische Privilegien, imperiale Lebensweisen und etablierte Machtstrukturen zu erhalten. Antidemokratische Tendenzen sind auf dem Vormarsch. Die AfD erreicht in Umfragen Spitzenwerte. Und die Ampelregierung hat den gravierendsten Asylrechtsverschärfungen der letzten 30 Jahre zugestimmt. Dabei werden Menschen an den EU-Grenzen seit Jahren systematisch entrechtet und brutal zurückgewiesen.

Rassismus hat in Deutschland Tradition und tödliche Folgen. Jahrelang mordete der NSU ungehindert. Der Rechtsterror von Hanau mit neun Toten steht in dieser Kontinuität. Untersuchungen zeigen, dass Opfer von Polizeigewalt kaum Chancen haben, die Tä­te­r*in­nen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Schwarze Menschen, Mi­gran­t*in­nen und People of Color, besonders arme und geflüchtete Personen sind einer mitunter tödlichen und nur unzureichend aufgearbeiteten Polizeipraxis ausgesetzt, wie zuletzt Mouhamed Dramé in Dortmund.

Dabei werden die politischen Räume enger. Wie in Lützerath bei der Räumung des Klimaprotestes. Verschärft tritt der autoritäre Umgang mit der Letzten Generation zutage. Die Bewegung wird als terroristisch diffamiert und kriminalisiert. Auch die Reaktion des Staates in Leipzig Anfang Juni nach dem Urteil im sogenannten Antifa-Ost-Komplex hat eine neue Dimension erreicht: Der große Polizeikessel und die stadtweiten Versammlungsverbote sind ein Angriff auf die Demokratie. „Law and Order“-Politik hat Hochkonjunktur. Dabei verliert der Staat das rechtsstaatliche Maß. Ein Beispiel sind die selbstverständlicher angewandten Schmerzgriffe der Polizei, die in der Rechtswissenschaft zum Teil als Verstoß gegen das Folterverbot diskutiert werden. Die Zahl der „Einzelfälle“ rechter Netzwerke in Polizei und Bundeswehr ist kaum noch zu überblicken. Kritik an diesen Zuständen führt nicht zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Staatsapparaten und ihren Funktionen im neoliberalen und zunehmend autoritären Kapitalismus, sondern wird diszipliniert und kriminalisiert. Rechtsaußen wird der Kulturkampf gegen feministische Errungenschaften und LGBTIQ+ geschürt. In der Opposition machen sich die Unionsparteien diese Rhetorik zu eigen. Während die extreme Rechte in vielen ostdeutschen Bundesländern faktisch an die Macht strebt, Grundrechte und Schutz Schwarzer Menschen, von Mi­gran­t*in­nen und People of Color, von Jüdinnen und Juden sowie Linken real bedroht sind, wird von bürgerlicher Seite eine „Cancel Culture“ und ein „Wokeism“ als „größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit“ bezeichnet. So CDU-Vorsitzender Friedrich Merz.

Tribute to White Power

Nicht nur hier im Land, nein auch in der EU ziehen Idioten erneut ihre Kreise.

Die Ereignisse sind für sich genommen beängstigend, aber nicht neu. Unsere Sorge vor einem autoritären Kipppunkt wächst jedoch. Denn diese Ereignisse beeinflussen und beschleunigen sich wechselseitig. Das Ganze findet in einer Zeit allgemein erhöhter Unsicherheit statt. Die ökologische Transformation sozial und demokratisch zu gestalten, ist eine enorme Herausforderung. Hinzu kommt der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Zusammen mit der vorhandenen Unzufriedenheit über politische Sprachlosigkeit, Armutsrisiken, Wohnungsnot oder mangelhafte soziale Infrastruktur ergibt sich ein explosives Gefüge. Mit der AfD ist eine Partei in der Lage, diese Stimmungen bundespolitisch aufzufangen. Deutlich treten die Grenzen der neoliberalen Politik und des liberalen Humanismus der vergangenen Jahrzehnte zutage, die keineswegs Antworten auf die soziale Frage, die Klimakatastrophe und globale Fluchtbewegungen liefern. So werden zunehmend im demokratischen Spektrum autoritäre Mechanismen übernommen. Die Rechte wird jedoch nur dann zurückgedrängt, wenn ihre Diskurse geächtet, ihre Ideologie ausgeschlossen und ihre Räume verengt werden. Sie nachzuahmen, ihren Forderungen nachzukommen, stärkt sie, macht ihre Erklärungen plausibel.

Quelle         :           TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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US – Geheimdienste:

Erstellt von Redaktion am 16. Juni 2023

Lizenz zur weltweiten Überwachung läuft aus

 

Quelle          :        Netzpolitik ORG.

Von        :       

Der US-Kongress verhandelt derzeit, wie US-Geheimdienste weltweit Menschen überwachen und Daten auswerten dürfen. Trotz Reformen stehen missbräuchliche Abfragen auf der Tagesordnung. Die EU-Kommission will den transatlantischen Datentransfer wohl trotzdem weiter zulassen.

Es ist ein Abschnitt im US-Recht, der laufend Kopfzerbrechen bereitet – kürzlich dem US-Konzern Meta, der ein milliardenhohes Bußgeld bezahlen und den transatlantischen Datentransfer einstellen muss. Section 702 des Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA) heißt die Passage, sie regelt die praktisch schrankenlose Überwachung von Menschen außerhalb der USA. Nicht zuletzt der Whistleblower Edward Snowden hatte vor einem Jahrzehnt das Ausmaß der technisierten Massenüberwachung offengelegt, mit bis heute andauernden Konsequenzen.

Doch laufen mit Ende des Jahres die Befugnisse für die US-Behörden aus. Schon seit Monaten ringt der US-Kongress darum, wie es mit dem umstrittenen Gesetz weitergehen soll. Im Zentrum der Debatte stehen freilich nicht die Sorgen europäischer Datenschützer:innen, das zeigte einmal mehr die Anhörung im Rechtsausschuss des US-Senats am Mittwoch.

Dort warben hochrangige US-Beamte, unter anderem der stellvertretende NSA-Chef George Barnes, für eine Verlängerung der Überwachungserlaubnis. Vor allem Cyberangriffe aus dem Ausland – und nicht mehr Bombenanschläge – habe das geheime Anzapfen von Datenströmen in den letzten Jahren vereitelt oder aufgeklärt, heißt es. „So wichtig die 702-Berechtigung heute schon ist, sie wird in den nächsten fünf Jahren nur noch wichtiger, da ausländische Cyberangriffe immer raffinierter und häufiger werden“, sagte der stellvertretende FBI-Chef Paul Abbate.

Massenhafter Missbrauch

Dass besagte Section 702 verlängert wird, steht kaum außer Frage. Offen bleibt aber vorerst, unter welchen Vorzeichen. Er werde dem nur zustimmen, wenn es bedeutsame Reformen gebe, sagte der Ausschussvorsitzende Dick Durbin. Insbesondere brauche es bessere Schutzmaßnahmen, um US-Bürger:innen vor illegaler Überwachung zu schützen sowie eine bessere Aufsicht durch den Kongress und Gerichte, so der Demokrat aus Illinois.

An sich erlaubt Section 702 nicht, US-Bürger:innen oder Menschen innerhalb der US-Grenzen zu überwachen. Dennoch kommt es ständig zu missbräuchlichen Abfragen der Datenbank. So hatte jüngst ein Gerichtsdokument enthüllt, dass massenhaft Daten illegal abgefragt wurden, etwa von Black-Lives-Matter-Demonstrant:innen, Spender:innen politischer Kandidat:innen oder auch Protestierender, die am Sturm des Kapitolgebäudes teilgenommen hatten.

Allein im Jahr 2022 habe das FBI über 200.000 unberechtigte Anfragen abgesetzt, um an Informationen über US-Bürger:innen zu gelangen, lässt sich dem jüngsten Bericht der zuständigen Aufsichtsbehörde entnehmen. Zwar beteuert das FBI, seine internen Prozesse inzwischen geändert zu haben. Aber nicht nur dem Demokraten Durbin reicht das nicht, auch manche Republikaner:innen drängen auf tiefgreifende Reformen.

NGOs fordern harte Reformen

Konkrete Vorschläge kommen aus der Zivilgesellschaft, darunter einem breiten Bündnis von Grundrechteorganisationen, etwa der American Civil Liberties Union, der Electronic Frontier Foundation und Wikimedia. Unweigerlich würden die globalen Spionagetätigkeiten unter Section 702 auch viele Daten von US-Bürger:innen aufsaugen, wie die NGOs darlegen.

Die Reformen aus dem Jahr 2018, als das Überwachungspaket zuletzt verlängert wurde, seien jedoch weitgehend erfolglos geblieben und müssten künftig deutlich härter ausfallen. Dabei gewonnene Daten müssten möglichst minimiert werden, zudem dürfe die Kommunikation von US-Bürger:innen nur mit einem Durchsuchungsbefehl abgefragt werden. Außerdem müsse es bessere Möglichkeiten geben, sich vor Gerichten zu wehren.

Auch sollen sich US-Behörden nicht mehr an Gesetzen vorbei bei Datenbrokern bedienen, um massenhaft Daten zu horten. Die Praxis, aus Smartphone-Apps oder sonstigem Online-Verhalten gewonnene Daten in staatliche Überwachungssysteme einfließen zu lassen, hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Dies würde eine „einzigartige Gefahr für die Privatsphäre“ darstellen und müsste klar begrenzt sowie reguliert werden, fordert das Bündnis.

Mit Blick auf die EU müssten aber auch die Auswirkungen auf Wirtschaft und Privatsphäre bedacht werden, die mit ausufernder Überwachung einhergehen, schreiben die NGOs. Bereits zwei Mal hat der Europäische Gerichtshof die Rechtsgrundlage für den Datentransfer aus der EU in die USA gekippt. Dem noch nicht final abgesegneten Nachfolger des Rechtsrahmens, der das Datenschutzniveau in den USA erneut für angemessen erklärt, dürfte das gleiche Schicksal drohen, erwarten Beobachter:innen. Und es drängt sich die Frage auf: Wenn die USA nicht einmal die Grundrechte ihrer eigenen Bürger:innen schützen können, wie soll ihnen das bei EU-Bürger:innen gelingen?

Lizenz: Die von uns verfassten Inhalte stehen, soweit nicht anders vermerkt, unter der Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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Oben           —       Illinois Senator Dick Durbin Youth Climate Strike Chicago Illinois 5-3-19_0472

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