Flegel der Gert
gegen Alzheimer in der Politik – Gert Flegelskamp in seiern un-nachahmlichen Art
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NachDenkSeiten
Die Nachdenkseiten – Veröffentlichungen von Albrecht Müller und Wolfgang Lieb – der Weg zu einer Gegenöffentlichkeit
Der Bundesgerichtshof entscheidet im Cum-Ex-Streit für die Pressefreiheit. Die „SZ“ darf aus Tagebüchern des Bankiers Christian Olearius zitieren.
Die Süddeutsche Zeitung (SZ) durfte aus den beschlagnahmten Tagebüchern des Hamburger Bankiers Christian Olearius zitieren. Ein SZ-Artikel, der Kanzler Olaf Scholz (SPD) in Bedrängnis brachte, darf nun wieder online veröffentlicht werden. Das entschied an diesem Dienstag der Bundesgerichtshof.
Schon seit Jahren steht der Verdacht im Raum, dass Olaf Scholz, damals Erster Bürgermeister Hamburgs, sich für die Hamburger Skandalbank Warburg eingesetzt hat.
Die Privatbank, die sich in großem Stil an den strafbaren Cum-Ex-Steuermanipulationen beteiligte, versuchte 2016 zu verhindern, dass sie 47 Millionen Euro an den Fiskus zurückzahlen muss.
Bank-Miteigentümer Christian Olearius bemühte sich deshalb um die Unterstützung von Hamburger SPD-Politikern. Drei Tage nach einem Gespräch mit Scholz verzichtete die Hamburger Steuerbehörde auf die Rückzahlung. War das Zufall?
Tagebücher seien keine „amtlichen Dokumente“
Der Hamburger Senat bestritt 2019 zunächst, dass es überhaupt Gespräche zwischen Scholz und Olearius gab. Doch der SZ wurden Auszüge aus den Tagebüchern von Olearius zugespielt, die 2018 von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt worden waren. Daraus ergab sich, dass es in dieser Sache mindestens fünf Gespräche von Scholz und Olearius gab. Der entsprechende SZ-Artikel erschien am 4. September 2020.
Gegen diesen Artikel ging Olearius vor. Die beschlagnahmten Tagebücher seien „amtliche Dokumente eines Strafverfahrens“. Gemäß Paragraf 353d Strafgesetzbuch dürfe daraus nicht zitiert werden, bis sie im Strafprozess verlesen wurden. Mit dieser Argumentation hatte Olearius beim Landgericht Hamburg und Oberlandesgericht Hamburg Erfolg. Paragraf 353d sei ein „Schutzgesetz“ und gebe Olearius einen zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch gegen die SZ. Die Zeitung hätte deshalb den Großteil der Zitate löschen müssen und nahm dann den Artikel ganz von ihrer Webseite.
Doch beim Bundesgerichtshof (BGH) obsiegte nun die SZ in vollem Umfang. Die beschlagnahmten Tagebücher seien keine „amtlichen Dokumente“, erklärte der Vorsitzende Richter Stephan Seiters, „private Aufzeichnungen werden auch durch die Beschlagnahme nicht zu amtlichen Dokumenten“. Außerdem sei Paragraf 353d kein zivilrechtliches Schutzgesetz, so der BGH-Richter.
Der XX. Parteitag der KP Chinas hat die Verfassung der Partei geändert und so die Wiederwahl von Xi Jinping zum Generalsekretär für weitere fünf Jahre ermöglicht. Somit wird er auch im März 2023 wieder Präsident der VRC werden.
Damit hat der Parteitag die Basis für eine Kontinuität in der Politik Chinas gelegt, die besonders in den letzten zehn Jahren große Fortschritte und mehr Eigenständigkeit gebracht hat. Auch ohne Vorlage eines Regierungsprogrammes sind die Äusserungen von Xi zu seiner Politik bemerkenswert. Hauptziel für ihn sind die Wahrung des Weltfriedens, die Demokratisierung der internationalen Beziehungen, die Ablehnung jeder Form von Hegemonie und Machtpolitik sowie eine gemeinsame Zukunft der Welt. Er will eine selbstbewusste Außenpolitik nach den Prinzipien der friedlichen Koexistenz zum gegenseitigen Vorteil und ohne Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten.
Diese öffentlichen Aussagen passen nun gar nicht zu den eher hinterfotzigen bis falschen Äußerungen deutscher Politiker und Medien, die Vorgänge in China nur durch ihre verkratzte Lupe von Vorurteilen und westlichen Wunschvorstellungen sehen wollen. In nur 40 Jahren und besonders unter Xi ist China zu einem selbstbewussten und gemeinwohlorientierten Staat geworden. Und kein ja aber! Auch die Demokratie ist in der chinesischen Verfassung verankert und eine sehr differenzierte Variante der westlichen Demokratievorstellungen. Auch in Sachen Taiwan verspricht Xi Kontinuität seit der Flucht der Kuomintang auf die chinesische Insel Formosa/Taiwan 1949. „Taiwan ist ein unabtrennbarer Teil des chinesischen Territoriums“, also ein Teil von China und kein eigenständiger Staat. Seit 1949 ist die VRC bestrebt, Taiwan in ein Gesamtchina aufzunehmen. Bezeichnenderweise wird in asiatischen Ländern nicht von einem demokratischen, sonder von einem selbstverwalteten Taiwan gesprochen. Die chinesische Einstellung zu Taiwan wurde auch von der UN sanktioniert.
Die taumelte bis torkelnde Berichterstattung westlicher Politiker und Leitmedien zeigt deutlich, dass die vom Westen immer wieder hochgelobten Werte in China keinen Wert an sich haben. Während sich der Westen durch den Handel die privaten Taschen geil mit Geld füllt, betreibt China den Handel auch zur Förderung des Gemeinwohls. Noch nie und nirgendwo auf der Welt haben sich in nur 40 Jahren die Lebensbedingungen für so viele Menschen so positiv gewandelt wie durch den von China praktizierten Handel.
Das haben die westlichen Werteprediger von Anfang an nicht verstanden und diskreditieren diesen beispielhaften Fortschritt heute als Ergebnis authoritärer und repressiver Staatsführung. Wer China nicht versteht und immer nur verdreht, wird der von Xi konsequent fortgesetzten Politik nie gewachsen sein. Xi setzt auf Kooperation und Koexistenz, auf Frieden und beiderseitigen Vorteil. Nach gehöriger Lehrzeit will Xi jetzt eine hochqualitative sozialistische Marktwirtschaft. Das alles sind Vorstellungen, die gerade uns Deutschen nicht fremd sein sollten: Xi hat offenbar die Maxime vom Wandel durch Annäherung von Willy Brandt besser verstanden als so mancher Politiker hier. Dabei ist ihm sehr bewusst, dass das auch mit Schwierigkeiten verbunden sein wird. Mit seiner Wiederwahl zeigt er auch, dass er, sich den kommenden Herausforderungen zu stellen, bereit ist.
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Oben — Präsident Alberto Fernández traf sich mit Xi Jinping in der Großen Halle des Volkes und sie einigten sich darauf, Argentinien in den Gürtel und die Seidenstraße aufzunehmen.
Nicht nur in Polen und Ungarn, auch in Spanien wird die Justiz politisch manipuliert. Doch hier ist nicht die Regierung, sondern die Opposition das Problem.
Geht es um Justiz in Europa, schauen alle nach Ungarn und Polen. Dort werden immer mehr demokratische Prinzipien eingeschränkt. Doch es gibt ein weiteres Problemland: Spanien. Die dortige Justiz ist mittlerweile auch ins Blickfeld des Justizkommissars der Europäischen Union, Didier Reynders, gerückt.
Reynders kritisierte auf einem Besuch in Madrid Ende September die völlige Blockade der in der Verfassung vorgesehenen Erneuerung wichtiger Instanzen, darunter die Ernennung von Mitgliedern des Consejo General del Poder Judicial, des Obersten Justizrats (CGPJ) – so etwas wie die Regierung der Richter – und des Verfassungsgerichts durch das spanische Parlament. Seit nunmehr vier Jahren werden diese Institutionen nicht erneuert. Am Montag trat der Präsident des CGPJ, Carlos Lesmes, aus Protest gegen die Situation zurück. Spaniens Justiz steckt in einer nie dagewesenen Krise.
Anders als in Polen und Ungarn ist die Blockade der Justiz nicht der regierenden Linkskoalition aus Sozialisten und Linksalternativen zuzuschreiben, sondern der rechten Opposition der Partido Popular (PP). Sie weigert sich, mit der Regierung eine Neubesetzung auszuhandeln. Die erforderliche Drei-Fünftel-Mehrheit im Parlament kommt so nicht zustande. Die alten Richter bleiben, und das, obwohl diese immer wieder ihre Ablösung fordern. Der Grund, zumindest der offizielle: Die PP möchte verhindern, dass auch der kleinere Koalitionspartner, die linksalternative Unidas Podemos, ihre Vorschläge machen kann. Diese Partei sei undemokratisch, behauptet die PP, und bricht damit selbst seit nunmehr vier Jahren die Verfassung.
Die Konservativen leben gut mit dieser Blockade. Gegen die PP, die bereits einmal als „korrupte Partei“ verurteilt wurde, laufen zahlreiche weitere Verfahren wegen illegaler Parteienfinanzierung und persönlicher Bereicherung. Viele der Tatbestände datieren aus der Zeit, als José María Aznar und dessen Nachfolger an der Spitze der PP, Mariano Rajoy, Spanien regierten. Je höher in der Justizhierarchie, desto mehr PP-treue Richter. Die Konservativen wollen diese Vormachtstellung durch eine Erneuerung des CGJP nicht verlieren.
Wo so viel für die Sicherheit anwesender Personen aufgeboten werden muss, spricht dieses gerade nicht für deren Beliebtheit !
Noch immer werden vor allem von den obersten Instanzen Ermittlungen gegen PP-Politiker eingestellt oder milde Urteile gesprochen. Nur ein Beispiel: Bis heute ist für Richter:innen bis hinauf zum Obersten Gerichtshof nicht geklärt, wer denn nun bei einer Auflistung von Schwarzgeldzahlungen des mittlerweile inhaftierten PP-Kassenwarts an PP-Politiker mit dem Eintrag „M. Rajoy“ gemeint sein mag. Dass dabei die Justiz – einer der wichtigsten Pfeiler einer Demokratie – längst den Ruf hat, parteipolitisch und nicht unabhängig zu sein, stört Spaniens Rechte nicht.
Der wohl nur zufällig namensverwandte Mariano Rajoy, der vor vier Jahren per Misstrauensvotum durch den Sozialisten Pedro Sánchez als Ministerpräsident abgelöst wurde, nutzte die Justiz, wo immer er konnte, um seine Politik zu machen. So ließ er nach dem Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien vor fünf Jahren weit über eintausend Unabhängigkeitsbefürworter:innen gerichtlich verfolgen. Ein Großteil der Minister der katalanischen Regierung musste wegen Aufstandes vor Gericht und wurde zu Haftstrafen von bis zu 13 Jahren verurteilt. Etwas, das so in anderen EU-Ländern nicht hätte geschehen können. Sowohl Belgien als auch Schottland und Deutschland weigerten sich Mitangeklagte auszuweisen, die sich rechtzeitig in Exil begeben hatten. Darunter der einstige katalanische Regierungschef Carles Puigdemont, der heute in Brüssel lebt und Abgeordneter im EU-Parlament ist.
Eben das beschäftigt sich mit einem anderen Skandal aus jenen Jahren. Die Handys von mindestens 65 Unabhängigkeitspolitiker:innen und -aktivist:innen wurden mittels der Spionagesoftware Pegasus ausspioniert. Bei mindestens 18 hatte der Geheimdienst – der offiziell gar nicht über die israelische Spyware Pegasus verfügt, so das Verteidigungsministerium – eine richterliche Genehmigung. Während das Europaparlament den Fall zusammen mit anderen Fällen aus Ungarn und Polen untersucht, geschieht in Spanien nichts.
Interview von Gernot Knödler mit – Norbert Hackbusch- der ist 67 Jahre alt, Dokumentationsjournalist und Obmann der Linken im Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft zum Cum-Ex‑Steuerraub. Abgeordneter über Scholz und Cum-Ex. Der Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Hackbusch glaubt dem Kanzler seine Erinnerungslücken im Cum-Ex-Skandal nicht. Nun muss Scholz vor den Ausschuss.
taz: Herr Hackbusch, wo liegt das Problem, wenn der Inhaber eines bedeutenden, alteingesessenen Kreditinstituts, Christian Olearius, den Hamburger Bürgermeister, Olaf Scholz (SPD), um ein Gespräch bittet?
Norbert Hackbusch: Problematisch ist nicht, dass Scholz Olearius empfangen hat, sondern, dass er ihn innerhalb weniger Wochen ein zweites Mal getroffen hat.
Warum war das zweite Treffen problematisch?
Weil der Bürgermeister beim zweiten Mal genau wusste, dass es um eine Steuerangelegenheit gehen wird – in diesem Fall im Zusammenhang mit möglicher Steuerhinterziehung durch Cum-Ex-Aktiengeschäfte. Dabei hat er als Bürgermeister mit Steuerangelegenheiten nichts zu tun.
Schlimmer noch: Scholz nimmt ein Argumentationspapier der Bank an, das er an Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD) weiterreichen lässt, obwohl es im Finanzamt schon vorliegt. Das bringt ihn in den Verdacht, er habe das Steuerverfahren politisch beeinflussen wollen.
Der Bürgermeister argumentiert, er habe das Schreiben auf dem Dienstweg weitergereicht, also den Finanzsenator als die zuständige Stelle – so wie der Finanzsenator sagte, ich habe mich informieren lassen aber keinen Einfluss genommen auf die Entscheidung meiner Behörde.
Das ist völlig unglaubwürdig, denn Tschentscher ist nicht der Dienstweg. Der Bürgermeister muss achtgeben, dass er eben nicht in den Ruch einer Unterstützung kommt, denn einzelne Steuersachen sind allein eine Entscheidung des Finanzamtes.
Was hätte Scholz tun müssen?
Er hätte schauen müssen, was es mit Cum-Ex-Geschäften an sich auf sich hat. Stattdessen unterhält er sich mit dem Chef der Bank darüber, was der will.
Wäre es dann nicht geradezu angeraten gewesen, sich an den Finanzsenator und dessen Behörde zu wenden?
Bei Scholz hätten mit dem Wissen um die bundesweit bekannt gewordenen Cum-Ex-Fälle die Alarmglocken läuten müssen. Er hätte sich fragen müssen: Was ist eigentlich generell mit Cum-Ex-Fällen in Hamburg? Wie haben wir damit eigentlich gearbeitet? Diese Initiative sehen wir von ihm nicht. Wir sehen nur die Initiative im Zusammenhang mit dem konkreten Fall Warburg und die Befürchtung, dass es der Bank schlecht gehen könnte.
Was ihm nicht unbedingt zum Negativen gereichen würde.
Natürlich muss man sich damit auseinandersetzen. Aber man darf einem Bankräuber auch nicht das Geld lassen, nur damit er nicht verarmt. Es gibt viel, was man tun kann, wenn ein Unternehmen in Schwierigkeiten kommt – aber nicht, ein Auge zuzudrücken im Zusammenhang mit einem Bankraub.
Was verspricht sich der Hamburger Ausschuss davon, ihn am Freitag ein zweites Mal einzuladen?
Herr Scholz muss noch mal kommen, weil die SPD durchgesetzt hat, dass er schon im April gehört wurde, mit gehörigem Abstand zur Bundestagswahl. Unser Verfahrenskompromiss war, dass er am Ende, wenn wir den ganzen Fall aufgearbeitet haben, noch mal aussagen muss. Allerdings stehen wir doch noch nicht am Ende des Ausschusses, weil wir den Untersuchungsauftrag ausweiten werden.
In welche Richtung?
Auch die inzwischen umfirmierte HSH Nordbank hat als damalige Bank mit Landesbeteiligung Cum-Ex-Geschäfte betrieben und daraus 126 Millionen Euro aus eigener Initiative zurückgezahlt. Tschentscher behauptet, das sei vorbildlich aufgeklärt worden und die Bank habe zudem Bußgelder bezahlt. Das Zweite ist falsch.
Seit 2009 mussten sich Banken sogenannte Berufsträgerbescheinigungen ausstellen lassen, die Steuerraub mit Cum-Ex-Geschäften verhindern sollten. Wir wissen, dass das nicht funktioniert hat. Die HSH Nordbank konnte aber in 29 Fällen nicht einmal solche Bescheinigungen vorlegen. In der Finanzbehörde gab es eine Ermittlungsgruppe, die das aufklären sollte. Es ist erstaunlich, dass die nicht mehr herausgefunden hat als das, was die Bank freiwillig gemeldet hat.
Die Hamburger Senatskanzlei hatte die Frage, ob sich der Bürgermeister mit den Warburg-Bankiers getroffen habe, zuerst verneint. Wusste Scholz das? Wusste es die Senatskanzlei nicht besser?
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Das Hamburger Bankhaus Warburg, ein verbrecherisches Hütchenspiel – und was das mit Kanzler Olaf Scholz und SPD-Politiker Johannes Kahrs zu tun hat.
Weil in einem Schließfach des Hamburger SPD-Granden Johannes Kahrs 214.800 Euro gefunden wurden, rückt der Cum-Ex-Skandal der dortigen Warburg-Bank wieder in den Blickpunkt. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
1.) Was sind Cum-ex-Geschäfte überhaupt?
Es handelt sich um einen systematischen Steuerbetrug. Die Cum-ex-Geschäfte waren ein organisierter Raubzug. Die Banken ließen sich mit Tricks und Leerverkäufen rund um den Dividendenstichtag vom Staat Steuern erstatten, die nie gezahlt worden waren. Das Ganze funktionierte wie eine Art Hütchenspiel, bei dem die Finanzbehörden am Ende nicht mehr durchblicken konnten, wem wann welche Aktien gehört hatten. Den deutschen Staat hat das rund 10 Milliarden Euro gekostet. Cum-ex war kein Steuervermeidungstrick am Rand des Illegalen, sondern gezielter Diebstahl. Die traditionsreiche Hamburger Warburg-Bank hat sich an diesem kriminellen Betrug beteiligt – wie viele andere Banken auch.
2.) Welche Rolle hat Olaf Scholz dabei gespielt?
Das ist die entscheidende Frage. Scholz hat 2016 und 2017 als Erster Bürgermeister in Hamburg Christian Olearius, Miteigentümer der Warburg-Bank, dreimal in seinem Amtszimmer empfangen. Damals sollte die Warburg-Bank 47 Millionen Euro aus den Cum-ex-Raubzügen aus dem Jahr 2009 zurückzahlen. Diese Rückforderung wäre Ende 2016 verjährt gewesen. Laut seinen eigenen Tagebüchern schilderte Olearius Scholz die miese wirtschaftliche Lage der Bank. Scholz habe zwar nichts versprochen, schreibt Olearius, doch er habe das Gefühl, „dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen“.
Scholz empfiehlt dem Banker am 9. November, die rechtliche Begründung der Bank, warum sie meint, die 47 Millionen nicht zurückzahlen zu müssen, an den damaligen Finanzsenator Peter Tschentscher zu schicken. Das passiert auch, obwohl die Finanzbehörde diese Begründung längst hat. Kurz darauf bestätigt sich Olearius frohe Erwartung, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht. Die Hamburger Finanzbehörde entscheidet: Die Bank braucht die 47 Millionen nicht zurückzuzahlen.
3.) Warum trifft die Finanzbehörde diese Entscheidung, die offenkundig falsch war?
Es gab 2016 in der Finanzbehörde lange Debatten um diese 47 Millionen. Manche waren für die Rückforderung des Geldes, weil es sich um einen Cum-ex-Betrug handele. Auch die Sachgebietsleiterin Daniela P. sieht das so – ändert aber plötzlich ihre Meinung. Am Ende ist die Finanzbehörde der Ansicht, die schwer nachvollziehbaren Cum-ex-Geschäfte der Bank aus dem Jahr 2009 nicht beweisen zu können. Ein Argument ist: Wenn die Bank wegen der Zahlung der 47 Millionen in finanzielle Schwierigkeiten komme, müsse die Stadt am Ende dafür haften. So stellt es Tschentscher im Hamburger Cum-ex-Untersuchungsausschuss dar.
4.) Was hat Olaf Scholz damit zu tun?
Er sagt: nichts. Die Finanzbehörde habe unabhängig entschieden. Er habe keinen Einfluss auf die Rückzahlung genommen. Am Donnerstag hat er versichert: „Sie können sich darauf verlassen, dass ich nicht zu den Leuten zähle, die so was machen.“
Wer möchte auf Politiker wetten? Der Clan-Chor steht schon bereit: „Und dann will es Keiner gewesen sein, denn Niemand hat es gesehen.“
5.) Ist das glaubwürdig?
Auffällig ist die zeitliche Nähe zwischen Olearius’ Termin bei Scholz im November 2016 – und der Entscheidung der Finanzbehörde, die Sache auf sich beruhen zu lassen, ein paar Wochen später. Scholz’ Engagement bei der Aufklärung dieser Affäre übersichtlich zu nennen, ist eine Untertreibung. Zuerst behauptete die Senatskanzlei, Scholz habe sich nie mit Olearius getroffen. Das war, wie die Tagebücher zeigten, unwahr. Im Untersuchungsausschuss konnte sich Scholz im Mai 2021 an nichts mehr erinnern. Um diese Erinnerungslücken plausibel zu finden, muss man sehr sozialdemokratisch sein. Scholz ist bekannt für sein gutes Gedächtnis. Und es ging ja um viel Geld und eine bekannte Hamburger Bank in Schwierigkeiten. Daher rührt der Verdacht: Der Kanzler verschweigt etwas.
6.) Hat Scholz sich womöglich bereichert? Geht es um Korruption?
Nein. Es geht nicht um Bestechung. Politik und Wirtschaft sind in Hamburg traditionell eng verflochten. Der Verdacht lautet, dass Scholz mit Rücksicht auf die Bank und Arbeitsplätze, die in Gefahr geraten könnten, der Finanzbehörde sanft nahegelegt hat, auf die Rückforderung zu verzichten.
7.) Hat die Warburg-Bank das geklaute Geld wieder rausgerückt?
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Datei:2018.04.22 SPD Bundesparteitag 2018 Wiesbaden-6716.jpg
Erstellt: Aufgenommen am 22. April 2018, 15:17:41 Uhr (laut Exif-Daten)
Dieser Mann in seiner menschlichen Natürlichkeit hat weitaus mehr für diese Land geleistet – als alle politischen-Versager der Nachkriegszeit zusammen!
Von : Jan Feddersen
Uwe Seeler war Hamburger, uneitler Herrscher über die Fußballherzen des Landes – und einer der besten Kicker sowieso. Erinnerung an einen ganz Großen.
Donnerstag am späten Nachmittag wurde die Nachricht bekannt, und vermutlich begannen in den gleichen Sekunden, wo auch immer in Deutschland, kleine archäologische Expeditionen in den persönlichen Bildarchiven: Uwe. Uns Uwe. Uwe Seeler. Anekdoten begannen zu kursieren. Eine geht so: Da sagt ein Mädchen von acht Jahren, Anke, auf dem Schulhof im Hamburger (damals noch) Arbeiterquartier Schanzenviertel – es waren die späten sechziger Jahre –, sie werde nach Harksheide fahren, ein Autogramm von Uwe Seeler holen. Die anderen Kinder lachten: Höhö, was die redet, Angeberin! Aber sie fuhr auf dem Fahrrad los, 22 Kilometer weit.
Tags darauf sagte sie, tja, sie habe geklingelt am Haus von Uwe Seeler, und eine freundliche Frau habe aufgemacht, sich den Autogrammwunsch angehört, habe gesagt, „komm mal rein, min Deern“, habe sie ins Wohnzimmer geführt, wo Uwe Seeler zufällig auch saß und dann auf eine Karte mit seinem Bild seine Unterschrift setzte. Garantiert selig, ja, beseelt, wird sie die Strecke zurückgefahren sein. Wusste sie es doch!
Das war er, das war das Paar Uwe und Ilka Seeler: nahbar, ohne Allüren, kein Bling-Bling, kein „wie feine Leute tun“, Bodyguards, hohe Grundstückshecken, kein „wenn Schiet wat ward“, wie es im Norddeutschen so heißt, also wenn aus Scheiße was wird, das Arbeiterkind in der Hautevolée ankommt. Auf – für heutige Wahrnehmungsverhältnisse der Promis auch im Sport – beängstigende Weise ist dieser Mann, besser: hat dieses Paar ungeeignet sein wollen für die Zeichen des sogenannten Aufstiegs.
„Uns Uwe“ wurde er genannt. Und war immer ein Volxheld, so Pop wie Elvis Presley in Bremerhaven 1958 (und nicht mehr in Graceland). Uwe Seeler, ein Idol? Ein Wort, ohne dass sich einem bei diesem Wort borstig Zweifel einstellen. Ob er denn gar keine Fehler gemacht habe, wurde er mal gefragt. Tja, antwortete er, vielleicht hätte es den Swimmingpool nicht gebraucht – ungenutzt meist, langweilend. Stattdessen: zunächst ein Käfer als Auto, Urlaub in Dänemark.
Der Mythos Uwe Seelers lebte von diesem biografisch beglaubigten Fundament: Vater Erwin Seeler Hafenarbeiter, Fußballer, Arbeitersportbewegung im proletarischen Stadtteil Rothenburgsort, Mutter Anny Hausfrau, Umzug nach Eppendorf und zum Hamburger SV, den Walter Jens, Rhetorikprofessor in Tübingen, selbst Hamburger, mal als „Klassenverrat“ geißelte. 1936 Uwes Geburt.
Lehre, Fußball, HSV, aber nicht Inter-Mailand
Mit seinem Bruder Dieter wurde er das, was damals üblich war: Straßenfußballer. Ausbildung zum Speditionskaufmann, seit 1946 beim Hamburger SV, bis zum Karriereende Anfang der Siebziger nie ein anderer Verein, Mit 16 erste Einsätze bei den Erwachsenen, immer als Stürmer, Torjäger, Knipser, Antreiber, auf dem Platz dirigierend, das heißt, anmeckernd, mal auch gröber, aber nach Aussage vieler Mannschaftskollegen nie böse oder giftig, auch auf dem Platz „ruhig, kameradschaftlich und offen“, wie eine Klassenlehrerin ihn mal beschrieb. Mal hinfallen auf Asche, Rasenplätze gab es ja kaum, aufgeschrammte Knie – kein Jammern bitte, so war es damals üblich. Die Härte jener Jahre, kein Thema, Zähne zusammenbeißen und weiter.
Und dann die Geschichte mit Inter-Mailand, deren Trainer Helenio Herrera Uwe Seeler nach dessen erster WM 1958 in Schweden unbedingt nach Italien holen wollte, mit wirklich sehr viel Geld. Mehr als eine Million Deutsche Mark plus einiger „Nebengeräusche“. Die Verhandlungen sollen über drei Tage gelaufen sein – am Ende sagte Uwe Seeler ab: Er wollte lieber nicht gehen. Stattdessen wurde er Norddeutschland-Generalvertreter von Adidas, der Fußballschuhfirma aus dem Fränkischen – nicht als Grüßaugust, sondern konkret im Mercedes umherfahrend wie ein Handelsvertreter.
GERHARD KRUG, TEAMKAMERAD :
Alle Leidenschaft auf den Punkt gebracht, über zwei Halbzeiten, und viel Training vorher und nachher
Das Geld sei ihm zwar wichtig, aber die Summe nicht entscheidend gewesen. Mehr als ein Steak könne er nicht essen, mehr als ein Haus nicht bewohnen. Vermutlich aber war es eine Taktlosigkeit, an welcher der Handel scheiterte. Die italienische Delegation an der Alster im Hotel Atlantic hatte Uwe Seelers Frau Ilka nicht miteingeladen. Ob sie präberlusconiesk dachten, Frauen seien ohnehin nur Bunga-Bunga? Das sei ein Fehler gewesen, sagte sie neulich in einer NDR-Doku, die hätten sie nicht auf der Rechnung gehabt, nicht mal höflicherweise eingeladen.
Ilka Seeler aber war immer die Frau mit ihm. Sie war immer an seiner Seite, immer. Eine große Liebe, im Übrigen gegen den Rat von Uwe Seelers Mutter, die über die ehemalige Handballerin urteilte, „die kann ja nicht mal Wasser kochen“, worauf es womöglich beiden auch nicht wirklich angekommen ist.
Kleiner Wohlstand in Harksheide
Gerhard Krug, der als HSV-Spieler dabei war, als Uwe Seeler 1960 seine einzige deutsche Meisterschaft errang und später Journalist unter anderem bei der Welt war, erklärte die Ernsthaftigkeit von Uwe Seelers Spiel mal so: „Wir trainierten viermal in der Woche. Uwe Seeler trainierte da schon mehr, spielte ja auch international. Er nahm das schon sehr viel ernster. Wir hatten so ein bisschen Lust am Kicken, fanden das eigentlich ganz witzig, wollten aber alle Lehrer werden.“
Das war der Unterschied: Fußball war für Uwe Seeler so gut wie alles. Krug mit Blick auf die Vita seines Mannschaftskameraden: „Uwe Seeler steht für den vorsichtigen Aufstieg. Alle Leidenschaft auf den Punkt gebracht, über zwei Halbzeiten, und viel Training vorher und nachher, immer besser werden.“ Aber er habe immer „vorsichtig bleiben wollen, Stück für Stück, nie alles auf einmal“. So wie das Haus der Seelers in Harksheide (heute Norderstedt) am HSV-Trainingsgelände auch langsam wuchs, nie die eigenen Verhältnisse überstrahlend.
Neuorganisation des Gesundheitssystems. Ich habe mir die Demo am Samstag „Gegen Impfpflicht“ in Hamburg angeguckt: die Polizei sprach von 16.000 Menschen, also waren es in etwa 20.000.
Demoroute: Treffpunkt Kunsthalle, Lombardsbrücke, Musikhalle, zum Gänsemarkt runter, Jungfernstieg, zurück zum Hauptbahnhof. Als die Demospitze vom Jungfernstieg abbog, sah man die Polizei auf der Lombardsbrücke den Demozug abschliessen.
Rechte habe ich keine gesehen, weder im Outfit noch an Parolen noch an Plakaten oder Transparenten. Es waren „ganz normale Leute“, sehr viele Frauen, auch Pflegekräfte als Block, junge Leute, ältere Leute, Familien, total gemischt.
Keine Szene. Ich kannte niemanden.
Souveräne Demoleitung. Auf die Massen 3 Lautsprecherwagen. Musikgeschmack leider etwas gruftig, aber wohl den Demonstrierenden entsprechend.
Auffällig wenig Plakate und Transparente, Flugblätter gar keine. Ich konnte keine „politische“ Grundierung erkennen, nur den Bezug zum Grundgesetz. Parteipolitisch war nix zu identifizieren.
Auch den Sprecher im 1.Wagen, dem ich folgte und lauschte, konnte ich nicht politisch einordnen. Es ging von der stets freundlichen Ansprache an die Polizei: wir danken Euch für den Einsatz, der es uns ermöglicht, hier zu demonstrieren, bis zur Forderung nach Rücktritt von Bürgermeister Tschentscher. Auch die Denunzierung als „Rechte“ und „Schwurbler“ wurde zurückgewiesen, namentlich die Kritik der Partei Die Linke (Hosemann) und der taz. Das aber berechtigt: denn eins ist ziemlich klar: da in Hamburg demonstrieren keine Rechten und Schwurbler. Das ist eine ganz andere soziale Strömung.
Interessanterweise demonstrieren hier anscheinend Leute, die keine Gesellschaftskritik im Gepäck haben. Sie werden Impfgegner sein, Waldorf-Schüler-innen, Verteidiger des Rechts auf den eigenen Körper, homöopathische Ärzte und Patienten, alternative Mediziner und solche, die alternative Medizin nutzen und Menschen, denen der immer weiter verengte Diskurs der politische Klasse gegen den Strich geht, deren Existenz auf dem Spiel steht, wenn die Impfpflicht kommt. Die sich jetzt schon jeden Tag testen lassen müssen, dann aber gar nicht mehr arbeiten können
„Die Rote Linie sind wir, Olaf“ war eine der Parolen.
Eine Frau hatte einen grossen gelben Stern auf dem Mantel mit dem Wort „ungeimpft“, das werde, erfuhr ich aus der Presse, strafrechtlich verfolgt. Wenige Menschen trugen keine Maske, sie wurden zunächst alle durch kleine Polizeitrupps aufgesucht und mussten ihren Ausweis und Attest zeigen. Aber so gut wie alle Demonstrierenden trugen Maske und hielten Abstand.
Würde sich eine Regierung an das geschriebene halten hörte sie mit ihrer Hetze auf!
Das Verschweigen der Impfschäden (es gibt bei dieser Impfung nach weltweiten Studien erheblich mehr gravierende Schäden als bei jeder anderen bisherigen Impfung, bis hin zu Todesfällen), das manipulative Jonglieren mit den Zahlen (immer noch werden die Inzidenzzahlen als Angsterzeuger eingesetzt, obwohl schon lange klar ist, dass die Inzidenzzahlen nur ein sehr schwaches Grundrauschen darstellen, und dass die eigentlich wichtige Zahl diejenige der schweren Erkrankungen / Hospitalisierungen ist), war Thema der 3 oder 4 Ansprachen auf der Demoroute, ebenso:
der Abbau von 4.000 Intensivbetten seit Ausbruch des Corona-Virus wie die unveränderte schlechte Bezahlung der Pflegekräfte und der Mangel an politischem Willen, ihre Arbeitssituation zu verbessern.
Der Bezug zu den täglichen Hungertoten weltweit, zu der 300 %igen Steigerung von Suizidversuchen bei Kindern hier, zur den galoppierenden Milliardengewinnen der Pandemie-Gewinner und den Existenzvernichtungen andererseits, eine Neuorganisation des Gesundheitssystems.
Die politische Forderung war ein Runder Tisch und die Diskussion der Situation auf Augenhöhe, eine basisdemokratische Minimalforderung, der man sich ja nur anschliessen kann.
Der Bezug auf Hamburg war stark, die Forderung nach Abtreten der politischen herrschenden Klasse, die diese teilweise strengsten Massnahmen Deutschlands durchdrückt, offen ausgesprochen.
Am Rand der Demo standen einmal 5 Antifas mit einem Transparent: Kein Bündnis mit Rechts. Sie wurden von der Polizei geschützt, aber die Massen gingen sowieso einfach an ihnen vorbei.
Und aus dem Gängeviertel stürzten sich ebenfalls etwa 5 Antifas, um sich der Demo, die genau hier vorbeikam, mit dem strassenbreiten Transparent „Zero Covid“ entgegenzustellen. Die Demonstrierenden gingen aussen am Transpi vorbei, die Polizei musste die Antifas abräumen, sie liessen sich wegtragen. Das war schon extrem verpeilt. Auch als Antifa muss man akzeptieren, dass 20.000 Menschen für ihre Meinung auf die Strasse gehen.
Ich habe das Gefühl, dass es bei den Demonstrierenden einen diffusen Einspruch gibt, von dem die Leute eigentlich nur wissen, dass die Impfpflicht nun echt die rote Linie ist. Und in diesem diffusen Einspruch sind sie ohne gesellschaftliche Kritik bzw. nur mit einem wachsenden Ungehagen ausgestattet. Wie gut wäre es, dieses Unbehagen in Richtung weitergehender Forderungen, einer breiteren gesellschaftlichen Kritik zu forcieren.
Wenn die Gelbwesten in Frankreich als Aufstand von Provinzlern an Kreisverkehren gegen die Erhöhung von Benzinpreisen begannen und sehr schnell, durch die Beteiligung (keineswegs Führung) von Menschen mit verschiedenen politischen Erfahrungshintergründen derartig radikalisiert werden konnten, wie es ja nun mal geschah, dann sollte man sich in den hiesigen Kreisen mit politischen Erfahrungen wirklich fragen, wieso diese Bewegung des Einspruchs als rechts und verschwurbelt bezeichnet/gebrandet wird. Das Label „rechts“ auf diese Menschen bedeutet in jedem Fall eine Denunzierung. Es bedeutet, sie zu isolieren.
Dass, zumindest in Hamburg, der Populismus und die Ressentiments noch nicht vorherrschend sind unter diesen Leuten, bedeutet für mich eine gewisse Reife. Vielleicht ist es eine persönliche Reife dieser Menschen, die sich mit dem Gesundheitsbegriff auseinandergesetzt haben. Das müsste man mehr in Erfahrung bringen. Auf jeden Fall ist es eine politisch gewordene Stimme, die man nicht denunzieren sollte.
Ich denke, man sollte den Gedanken an eine Art Bündnis mit kritischen Geistern aus dieser Strömung, die basisdemokratischen Formaten aufgeschlossen sind, erwägen. Oder zumindest sollte man das, was da passiert, mit offenem Interesse beobachten! Ist meine Meinung.
Grafikquellen :
Oben — Die Würde des Menschen ist unantastbar – Ulm, 2020
In Hamburg ist jetzt alles dicht für Ungeimpfte, nur noch Lebensmittelläden und Apotheken stehen ihnen offen.
Überall Einlass nur noch für Geimpfte und Genesene: 2G. Zu kontrollieren mit Impfnachweis plus Personalausweis. Frontstadt Hamburg, SPD-Grünen-Regierung ganz vorn im Kampf.Keine Kultur, kein Lokal (nicht mal draussen, nicht mal to go), keine Bibliothek, keine Ausstellung, kein Laden (ausser Lebensmitteln). Test für jede Bus- oder Bahnfahrt – für die Ungeimpften.“Wir werden sie austrocknen, die Luft muss ganz dünn werden, die müssen´s so richtig spüren, dass es nur eine Lösung gibt.”
Und das, während die Lösung bereits offenbar keine Lösung ist. Die Impfung gibt Schutz für maximal sechs Monate, danach muss aufgefrischt werden. Die Geimpften können sich infizieren wie die Ungeimpften, sie übertragen das Virus ebenfalls. Die Hospitalisierungsrate unter den Geimpften ist inzwischen in etwa gleich wie die der Ungeimpften.
50 % der aktuellen Inzidenzen sind Kinder bis 14 Jahre, die sich regelmässig in der Schule testen müssen, und die die Krankenhäuser nicht belasten/werden.
4.000 Intensivbetten wurden seit Ausbruch der Corona-Krise in Deutschland wegen Personalmangel geschlossen. Etwas mehr als 4.000 Covid-Patienten liegen zurzeit deutschlandweit auf Intensivstationen, in etwa so viel, wie Betten abgebaut wurden. Gäbe es diese Betten noch, gäbe es kein „Hospitalisierungsproblem“. Abgesehen davon nehmen die Covid-Patienten nur einen kleinen Teil der Intensivbettenkapazität ein.
Die Lohnerhöhung des Verdi-Abschlusses für Pflegekräfte liegt unterhalb der Inflationsrate, Verbesserungen der Arbeitssituation werden nicht ermöglicht. Dafür die Impfpflicht. Vorneweg für Pflegekräfte! Kontrolle, Zwang. Die Dankbarkeit für ihre Kompetenzen verflacht sich im Klatschen auf den Balkonen. Hat jemand die Streiks im Krankenhaussektor unterstützt, als sie in der niedrigen Infektionskurve im Spätsommer durchgeführt wurden? Wurde das medial gefördert? Wurde da von Gerechtigkeit gesprochen? Von Dringlichkeit? Nein, aber sie können ja kündigen (wenn sie nicht in persönlichen Zwängen stecken), die heldinnenhaften Pflegekräfte, und das haben auch viele getan.
Warum gibt es, gerade gegenüber den Arbeitenden im medizinischen und Pflegebereich, so wenig Respekt vor ihrer Berufserfahrung, die sie, ganz individuell, für ihre persönliche Entscheidung qualifiziert, ob sie diese Impfung für sich persönlich als sinnvoll erachten oder nicht?
Warum spricht niemand von den Impfschäden? Nicht nur von den „Impfdurchbrüchen“, also den Infektionen und Hospitalisierungen trotz Impfung, sondern von den schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden nach Impfungen weltweit. Jede Impfung ist ein Abwägen: Was wiegt für mich, in meiner Situation, schwerer, eine mögliche Infektion oder ein möglicher Impfschaden. Warum darf das nicht öffentlich diskutiert werden?
Warum diese Ausgrenzung, dieser absurde Diskurs, diese heissgelaufene Rechthaberei? Dieser enggeführte Tunnelblick?
Warum ist seit Beginn der Pandemie alles auf den staatlich lizensierten Diskurs und nicht auf einen Austausch verschiedener Erfahrungen und Kenntnisse ausgerichtet? Es gibt weltweit Studien, die die Covid-Krankheiten mit unterschiedlichen Einschätzungen begleiten, auch in Deutschland.
Die Weihnachtsmärkte sind mit Maschendraht eingezäunt. Am Eingang Security, Zugang mit Impfnachweis und Lichtbilddokument. Drinnen die Menschen, die sich frei fühlen. Und sicher! Sie stehen da enggedrängt mit ihren sechs Monate alten Impfpässen ohne Masken. Genauso sitzen sie in den Lokalen beieinander. Endlich frei, endlich unter sich, endlich keine Impfverweigerer mehr anwesend. Sie stecken die Köpfe zusammen, für sie gilt keine Abstandsregel.
Es gibt drinnen und draussen. Draussen um Europa herum sind die Zäune aus Nato-Draht vier Meter hoch. Drinnen wollen wir uns sicher fühlen. Es muss alles geregelt vor sich gehen, nach Gesetz und Ordnung, so der politisch-mediale Diskurs. Staatliche Ordnung. Und drinnen Sicherheit.
Die neuen TGV-Bahnhöfe in Frankreich sind Hochsicherheitszonen. Eingezäunt mit Maschendraht, rundum überwacht. Nicht mehr im Stadtzentrum, draussen im Nirgendwo. Man kommt da mit dem Taxi hin, mit dem Auto, selten einmal mit einem Shuttlebus oder Zug, Zugang zu Fuss nur als Extremsport. Aber sie erfüllen die Sicherheitsmassnahmen des staatlichen Anti-Terror-Kampfes.
Das Virus lacht, es ist noch beweglicher als die Terroristen. Noch unsichtbarer.
Warum erwägt niemand das mögliche Scheitern der allein auf diese Impfungen ausgerichteten Strategie? Ist es nicht eine allgemeine Weisheit, seit Jahrtausenden gewachsen, dass es nie nur eine Lösung gibt? Dass Wissenschaft Streit ist? Nicht Einstimmigkeit?
Um mir hier Paul Feyerabend an die Seite zu stellen: „Wissenschaften sind nicht Bedingungen der Rationalität, der Freiheit, sie sind nicht Voraussetzungen der Erziehung, sie sind Waren. Die Wissenschaftler selbst aber sind Verkäufer dieser Waren, sie sind nicht Richter über wahr und falsch. Sie sind bezahlte Diener der Gesellschaft, sie werden angestellt, um gewisse beschränkte Aufgaben zu lösen, und zwar unter Aufsicht der Bürger, die allein über die Natur der Aufgaben und die Art ihrer Ausführung entscheiden.“
Nein, wir haben einen Schuldigen, machen wir es uns einfach: Der Schuldige ist der Impfverweigerer, übrigens jedweden Geschlechts und leider ohne jede Vernunft oder ethisches Verhalten. Die Impfverweigerer in ihrer geringen Zahl stören eigentlich nicht so sehr die Eindämmung der Inzidenzzahlen, ihr gefährlichster Einfluss ist die Zersetzung des Diskurses.
Die Impfung für die jüngsten Impflinge, Kinder ab 5 Jahren, wurde von Biontech in der gewohnten überstürzten, nicht wissenschaftlichen Pragmatik des Notstands an 2.000 Kindern getestet. Also: sie ist sicher. Natürlich. 2.000 Kinder in vielleicht zwei Monaten als Probanden! Sicher! Was bedeutet diese genetische Impfung für das Immunsystem der Kinder? Was ist mit all den Kindern, die jetzt schon mit schweren Atemwegserkrankungen in die Kliniken kommen, weil ihr Immunsystem durch das Maskentragen und das viele zu-Hause-bleiben nicht mehr trainiert wurde? Abgesehen von ihren Depressionen und körperlichen Defekten aus Bewegungsmangel.
Und was wird mit den Älteren, die genauso leben? Was wird aus dem durch ständige mRNA-Impfungen manipulierten Immunsystem? Wie wird es mit anderen Krankheiten fertig? Müssen wir nun gegen alles geimpft werden? Gegen alle Viren, Mutationen, Krebserreger etc.? Die Forschungen dazu laufen ja bereits.
Warum stehen solche Fragestellungen nicht ganz vorn?
„Am Ende des Winters werden alle Menschen entweder geimpft, genesen oder gestorben sein.“ So schallt es aus Bayern zu uns in den Norden. Das sind so die Vorstellungen des politischen Führungspersonals. Man darf vielleicht staunen, dass das so durchgeht? Dass, öffentlich, kaum jemand widerspricht?
Nein, die mediale Öffentlichkeit ist ganz d´accord. Natürlich. Es geht um den Erhalt der Impfstrategie. Wenn jetzt den Geimpften etwas auferlegt würde, würde man ja die ganze Strategie in Frage stellen. Die Geimpften haben sich geopfert, sie sind solidarisch, sie sind der staatlich vermittelten Vernunft gefolgt, der Wissenschaft, und nun müssen sie belohnt werden. Es muss Gerechtigkeit für die Geimpften geben. Deshalb nun die Impfpflicht für alle.
Niemand soll mehr stören. Die Störenfriede wurden lange genug denunziert und rechtsaussen auf der politischen Skala verortet, und sie zeigten sich nicht einsichtig. Darum ist jetzt Schluss mit freiwillig. Und wenn dann alle halbe Jahr geimpft werden muss, muss das die Gesellschaft eben gemeinsam hinkriegen. Und wenn es dann immer noch nicht reicht, werden wir für alle gemeinsam etwas finden. Um es hier auch einmal auszusprechen: Nicht wir werden es finden, sondern die Pharmaindustrie wird es für uns finden und Gehilfe Staat wird es uns vermitteln.
An der Spitze der neu installierten Pandemiekommission steht ein General. Darf man in irgendeiner Weise beunruhigt sein? Dass die rot-grün-gelbe Koalition das so einfach macht? Die Armee ins Boot holt? Für die Lage im Inneren der Gesellschaft? Weil die Armee so effektiv ist? Und darf man äussern, dass es einen beunruhigt, dass es keine mediale Infragestellung dafür gibt?
Natürlich: die Helden der Armee transportieren mit der Luftwaffe schwerkranke Patienten aus den überlasteten Krankenhäusern des Südens (Deutschlands, nicht des globalen Südens) zu uns in den Norden, wo die Hospitalisierungsrate aktuell bei 1,5 liegt. Im letzten Jahr lag sie zu Spitzenzeiten bei 15. Wir sind also bei 10 % der Hospitalisierungsrate gegenüber der Spitze des letzten Jahres. Aber natürlich, es fehlen die 4.000 Betten. Und 35.000 Pflegekräfte fehlen übrigens auch. Aber dazu ein anderes Mal. Erstmal die Impfpflicht durchsetzen. Und später dann werden wir die 35.000 Pflegekräfte nicht mehr brauchen. Wir werden sie durch Roboter ersetzen.
Eine meiner Freundinnen hat einen Essstand auf dem Markt bei mir in der Nachbarschaft. Da sitzen die Leute unterm Zelt, im Freien, und essen in fluider Gemeinschaft das gebratene Gemüse oder eine Merguez. Sassen. Das ist nun nicht mehr. Sie hätte es einzäunen und jeden Einzelnen kontrollieren müssen. Das will sie aber nicht. Nun stehen da zwei Schilder mit der Bekanntmachung, dass sie Einzäunung und Kontrolle ablehnt. Sie lebt von ihrem Stand, sie hat einen halben Tag lang geweint, dass es nicht mehr geht. Nun ist das Zelt mit dem flüchtigen Beieinander weg. Es bleibt etwas leer da, immerhin kein Zaun.
Ich esse meine Suppe bei Irina aus Rumänien, einer sehr hübschen jungen Frau, wie ich neulich entdeckte, als sie ihre Maske abnahm. Sie hat in diesem Sommer einen Eisladen bei mir um die Ecke eröffnet. Ich habe mir schon immer einen Eisladen gewünscht und blieb ihr treu, auch als der November aufzog. Irgendwann klebte ein selbstformulierter Zettel an der Scheibe: „Bei mir sind alle willkommen, unabhängig von ihrer Herkunft, Geschlecht, Religion und Impfstatus.“
Das kam bei mir so aus dem Bauch, sagte sie, als ich sie darauf ansprach. Man kann bei ihr draussen und drinnen sitzen. Jetzt ist es wirklich hart draussen, so setze ich mich rein. Sie lässt mich sitzen. Kontrolliert nicht. Ich sagte ihr freiwillig, dass ich gültige Papiere habe, aber sie winkt ab. Sie kennt mich ja und weiss, wie ich heisse: Hanna.
Die 55. (!!) Hamburger Rechtsverordnung zum Schutz vor dem Corona-Virus vom 26. November 2021 heisst: Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in der Freien und Hansestadt Hamburg (Hamburgische SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung – HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO) (gültig vom 29. November bis 15. Dezember 2021)
26. November 2021: 55. Verordnung zur Änderung der Hamburgischen SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung vom 26. November 2021 (PDF) Sie umfasst, als nicht-amtliches PDF, ca. 30 Seiten, und das sind nur die Änderungen gegenüber der 54. Verordnung vom 19.November 2021, die bereits amtlich als Gesetz- und Verordnungsblatt vorliegt.
Einen Grossteil der Seiten nimmt das perfekte Durchgendern der Begriffe ein:
„die Inanspruchnahme des Angebots ist vorbehaltlich des Absatzes 2 nur solchen Kundinnen und Kunden, Nutzerinnen und Nutzern, Besucherinnen und Besuchern, Veranstaltungsteilnehmerinnen und Veranstaltungsteilnehmern oder Gästen gestattet, die einen Coronavirus-Impfnachweis nach §2 Absatz 5, einen Genesenennachweis nach § 2 Absatz 6, jeweils in Verbindung mit einem amtlichen Lichtbildausweis vorgelegt haben, oder die einen amtlichen Lichtbildausweis vorgelegt haben, aus dem die Nichtvollendung des 18. Lebensjahres folgt … “ Und: „die Betriebsinhaberin oder der Betriebsinhaber, die Betreiberin oder der Betreiber, die Veranstalterin oder der Veranstalter oder die Dienstleistungserbringerin oder der Dienstleistungserbringer hat durch eine wirksame Zugangskontrolle zu gewährleisten, dass die Vorgaben nach den Nummern 1 bis 3 und nach Absatz 2 eingehalten werden; hierbei ist die Erfüllung der Vorgaben personenbezogen zu prüfen … “
Danke an dieser Stelle an die Gleichstellungsbeauftragt:innen, dass alles so korrekt zweigeschlechtlich aufgeführt wird.
Es folgen in allen Einzelheiten alle Einschränkungen, bussgeldbewehrten und polizeilich zu kontrollierenden Verbote und Massnahmen, und wie der bürokratische Geist jede mögliche Laxheit in Öffentlichkeit und Privatheit unter Kontrolle zwingen will. Besonders interessant für Hamburg, ehemals weltweit bekannt als Stadt der Vergnügungsviertel, des Welthafens, der lockeren Sitten: eine sehr lange Liste der Strassen, Plätze und Parks in ganz Hamburg, von welcher Hausnummer bis zu welcher, von welcher Strassenseite zu welcher, von welcher Stunde bis zu welcher an welchen Tagen Alkoholverbot (Verkauf, Verzehr und mit sich führen offener Flaschen) herrscht, also Prohibition.
Natürlich gelten diese genauen Massregelungen nur für draussen, drinnen, hinter der Glasscheibe der Restaurants, herrschen andere Regeln, und unter der 2G-Kontrolle herrschten gar keine mehr. Dieser Status stand für Freiheit und Sicherheit gleichzeitig. Jetzt wird allerdings doch auch die Freiheit unter 2G möglicherweise eingeschränkt werden müssen, weil das Medikament ja nicht hält, was es auch gar nicht versprach: nämlich ein steriler Impfstoff zu sein.
Wer will hier jammern? die Geimpften? die Ungeimpften? Jammern gilt nicht. Innere Emigration vielleicht, egal ob geimpft oder ungeimpft. Innere Emigration derjenigen, die sich dem Diskurs verweigern, die so nicht leben wollen, eingezäunt und kontrolliert, von der Angst bestimmt und mit der aufgeschobenen/aufgegebenen (?) Lust am freien Sprechen, an der Poesie der Weite, am Archipelischen, am Eigensinn.
Können wir über die gesellschaftlichen Entwicklungen der forcierten Digitalisierung und Kontrolle, des Ausschlusses an den Grenzen jedweder Art, noch frei diskutieren? Werden wir durch den Impfstreit davon abgehalten? Ist das der eigentliche Sinn der Kampagne? Dass wir nicht mehr frei miteinander sprechen, dass wir uns nicht mehr trauen, sondern nur irgendwo durchwollen, wo es dann angeblich Sicherheit gibt? Die es sowieso nicht gibt, ausser im freien sozialen Miteinander, in einer respektvollen Kommunikation, in der Solidarität von Freundschaften und Nachbarschaften.
Wollen wir uns weiterhin den Impfstatus zurufen (schon geboostert!!), wenn wir uns „trocken“ umarmen, oder wollen wir weiterhin rumhampeln, um auszudrücken, dass uns eine freundschaftliche Umarmung zu wenig sicher ist? Wollen wir weiter „soziale Distanzierung“ betreiben? Die Öffentlichkeit meiden, Gesundheitsvorsorge, Arbeit und Bildung privatisieren, standardisieren, digitalisieren?
Und die fundamentalen Änderungen der Gesellschaft, die gerade vorgehen, aus dem Blick verlieren? Aus Angst, die Sicherheit aufs Spiel zu setzen?
Ich kann nur meine abgrundtiefe Distanz zu diesem Diskurs, diesem Staat und seinen Verteidigerinnen jeden Geschlechts bekräftigen. Lasst uns den „Bund des Vielfältigen“ gründen, im Sinne der Entwicklung eines eigenständigen und selbstständigen Individuums, das sich freiwillig in solidarischen Gemeinschaften zusammenschliesst, wie es der Anarchist Gustav Landauer vor mehr als 100 Jahren formulierte, bevor er nach der Niederschlagung der deutschen Revolution von Faschisten im Staatsdienst ermordet wurde.
Grafikquellen :
Oben — Weihnachtsmarkt
Eigene Arbeit (IPTC Unique Object Name: CS-jylidjvjyli)
Olaf Scholz und andere Secondhand-Modelle: Unsere Kolumnistin war Bier trinken mit dem künftigen Kanzler Scholz und einem Labrador.
Die Minderjährige, die zu meiner Infektionsgemeinschaft gehört, findet mich verhaltenskonservativ. Warum nicht mal bei einem unbekannten, aber sehr coolen Vintage-Onlineshop in London Klamotten bestellen? Ist total vertrauenswürdig, sie kennt ihn nämlich von Instagram! Wieso Müsli zum Frühstück verzehren, wenn man auch Eis essen kann?
Und was soll bitte das immer gleiche Nein auf die Frage, ob sie ein Katzenbaby haben darf? Schließlich macht eine mehr doch keinen großen Unterschied, wenn man ohnehin schon zwei Katzen und einen Hund hat.
Sehr uncool im Übrigen auch, dass ich und meine EC-Karte nur widerwillig mit der Minderjährigen durch Secondhand-Läden streifen, wo neuerdings altmodische Klamotten völlig überteuert ebenfalls als Vintage veräußert werden. Immerhin: Die Wiederverwendung von Kleidungsstücken, die nur einen Schritt von weißen Tennissocken in Sandalen entfernt sind, ist wenigstens nachhaltig.
Diese Art der Nachhaltigkeit wird derzeit auch in der Politik gepflegt. Denn eigentlich war Olaf Scholz schon aussortiert und im hinteren Teil des Kleiderschranks verschwunden. Doch als die SPD mal wieder das Problem hatte, nichts zum Anziehen zu finden, wurde er hervorgekramt, frisch aufgebügelt und dem Wahlvolk als Vintage angeboten. Und siehe da: ein Verkaufsschlager!
Bierchen mit Olaf
Das erinnert mich an meine erste längere Begegnung mit ihm. Olaf, wie er damals von tazler*innen genannt werden wollte, war SPD-Chef in Hamburg-Altona und wollte mal ein Bierchen trinken gehen. Es ergab sich, dass ich und meine liebste Kollegin vor dieser Verabredung einen Hund besuchten, der als Scheidungstier dringend ein neues Zuhause brauchte.
Hm! Ich Kanzler wie mach ich das denn bloß? Wer füttert mich denn ?
Als wir aufbrachen, hatte ich eine Leine mit einem liebesbedürftigen und verfressenen Labrador namens Paula in der Hand. Wir überlegten kurz, ob wir Olaf absagen oder wenigstens über die Hundebegleitung informieren sollten, befanden aber, dass er ja nur ein kleines Licht der mächtigen Hamburger SPD sei und dankbar zu sein hatte, den Abend mit uns verbringen zu dürfen.
Nun, es stellte sich heraus, dass Olaf sich in Paulas Anwesenheit ungefähr so wohl fühlte wie Merkel bei Putin. Er wollte sie trotz guten Zuredens weder streicheln noch unter seinem Stuhl Krümel wegschlecken lassen.
Die Hamburger SPD in den 1990ern muss man sich als eine CSU des Nordens vorstellen. Olaf gehörte quasi zu den jungen Wilden (!), die sich Rot-Grün wünschten. Während er darlegte, wie gut die Milieus von SPD und Grünen zusammenpassten, rückte er kaum merklich immer weiter vom Tisch ab, bis er sich schließlich fast an die Wand presste.
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Bislang galten Beleidigungen im Internet als »Verwünschungen«. Andy Grote hat neue Maßstäbe gesetzt: »Pimmelgate« rechtfertigt offenbar Hausdurchsuchungen. Darauf sollten sich auch andere Hate-Speech-Opfer berufen.
Ich muss gestehen, dass ich bis vor Kurzem nicht wusste, wer Andy Grote ist. Heute weiß ich immer noch sehr wenig über ihn: dass er SPD-Politiker ist, aktuell Innen- und Sportsenator von Hamburg. Dass er mit einer Party zu Ehren von sich selber gegen Coronaregeln verstoßen hat, als er im Juni 2020 als Innensenator wieder berufen wurde. Und dass er dann ein Jahr später über feiernde Leute in der Schanze getwittert hat, dass es ignorant und dämlich sei, in der Pandemie zu feiern.
Und vor allem: dass er wegen dieses Tweets Opfer eines perfiden Hassverbrechens geworden ist, denn jemand hat ihn in den Kommentaren einen »Pimmel« genannt. Das geht natürlich nicht. Und seitdem hat er den Kampf gegen Hasskriminalität auf ein neues Level gehoben. Und dafür gebührt ihm unser aller Dank!
Die Welt hätte von der ganzen Sache vielleicht gar nichts erfahren, wenn nicht eines Septembermorgens ein Tweet aufgetaucht wäre, in dem es hieß: »Heute morgen um 6.00 gab es eine Hausdurchsuchung. 6 Beamt*innen in der Wohnung. Gesucht wurde das Gerät, mit dem ›du bist so 1 Pimmel‹ unter einen Tweet von Andy Grote geschrieben wurde. Sie wissen, dass zwei kleine Kinder in diesem Haushalt leben. Guten Morgen, Deutschland.«
Seit diesem Tweet ist viel passiert, denn der Kampf gegen Hatespeech ist oft komplizierter, als man denkt. Nicht nur war die Polizei, wie die »taz« berichtete, in der falschen Wohnung, nämlich bei der Ex-Freundin des Pimmeltweet-Verfassers, oder, wie man wohl sagen muss: des Täters. Der Täter wiederum war zuvor schon bei der Polizei gewesen und hatte auch zugegeben, den Tweet verfasst zu haben. Aber Rechtsstaat ist Rechtsstaat, das wird auch dieser Frechdachs noch lernen. Und wer weiß, vielleicht sitzen schon erste Redaktionen an der Aufarbeitung des Falls als True-Crime-Podcast.
Der Polizeieinsatz wurde als unverhältnismäßig kritisiert, es wurde von Amtsmissbrauch gesprochen und von einem Streisand-Effekt: Seit der Pimmelcausa steht unter jedem Tweet von Grote in den Kommentaren was mit »Pimmel«. Leute schreiben »der Oberpimmel pimmelt rum« oder fragen »Ist es OK, wenn ich meinen Pimmel Andy nenne?« Und dann tauchten in Hamburg auch noch Sticker mit den Worten »Andy, Du bist so 1 Pimmel« auf, wahrscheinlich hatte die jemand im Darknet bestellt. Die Polizei musste ausrücken, um die Sticker zu entfernen, zur »Gefahrenabwehr« und Beweissicherung, der Staatsschutz ermittelt gegen unbekannt. Derweil ist in Andy Grotes Wikipedia-Eintrag der Absatz »Umstrittene Hausdurchsuchung wegen Beleidigung« länger als der Absatz über seine Tätigkeit als Senator. Das »Pimmelgate« hat es sogar in die »Washington Post« geschafft.
War es das wert? Na klar! Was heute ein Sticker ist, könnte schon morgen ein Plakat sein, und was heute ein »Pimmel« ist, könnte schon morgen ein »Arsch mit Ohren« sein oder gar ein »Fang mich doch, du Eierloch«. Tatsächlich berichtete die »Mopo«, bei einem St. Pauli-Spiel sei ein Plakat mit der Aufschrift »Pillemann Grote Arsch« gesichtet worden.
Andy Grote selbst – oder, wie man auch sagen könnte: der Geschädigte – hatte dem NDR zum Vorgehen der Polizei gesagt: »Wenn wir wollen, dass solche Taten, Hass- und Beleidigungstaten im Netz, konsequent verfolgt werden, dann gehören dazu ganz regelmäßig auch Durchsuchungen.« Das war bisher nicht so. Die Anwältin Christina Clemm twitterte, sie habe schon oft Strafanzeigen wegen digitaler Gewalt erstattet, auch wegen Bedrohungen: »Aber Hausdurchsuchungen habe ich deshalb noch nie erlebt.« – Ja, aber das war VOR dem Pimmel!
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Demokratischen Populismus gibt es nicht. Die CDU sollte sich ganz schnell vom österreichischen „Vorbild“ Sebastian Kurz verabschieden.
Manche Leute haben Pech beim Denken. Christoph Ploß, der Hamburger CDU-Vorsitzende, pries gerade erst in der ARD den österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz und seine ÖVP als leuchtendes Vorbild für die Union an. Richtung „rohe Bürgerlichkeit“ habe es zu gehen. Keine glückliche Fügung für Ploß, dass Kurz’ Herrschaft nun wie ein Kartenhaus zusammenbricht. Die nächsten Tage wird er kaum mehr überstehen.
Mittwoch wurden wir mit der Schlagzeile vom Frühstück hochgeschreckt, dass gerade Hausdurchsuchungen im Kanzleramt und in der ÖVP-Zentrale stattfänden. Klar, wir Ösistaner*innen heben bei solchen Nachrichten gerade noch die Augenbrauen. Ein Gewöhnungseffekt lässt sich nicht leugnen.
Mittlerweile ist Sebastian Kurz in einigen unterschiedlichen – aber miteinander verbundenen – Verfahren als Beschuldigter geführt, die Delikte, deretwegen gegen ihn ermittelt wird, reichen von falscher Zeugenaussage vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss nun auch über Beihilfe zur Bestechlichkeit bis zur Untreue. Für die „Zerstörung der ÖVP“ braucht es bei uns keinen Rezo, das erledigt schon Sebastian Kurz selbst. Der hat auch die Haare schön. Anfang September wurde Kurz viele Stunden lang von einem Richter einvernommen, in diesem Verfahren wird mit einem baldigen Strafbefehl, also einer Anklage gerechnet.
Seit Wochen trommelt die Volkspartei, früher zumindest als rechtstreue Staatspartei bekannt, gegen die Justiz. Ganz im Stile von Silvio Berlusconi oder Donald Trump werden Staatsanwälte als Angehörige „roter Netzwerke“ diskreditiert, in weiser Voraussicht oder weniger weiser Vorinformiertheit wurde schon am Tag vor der jüngsten Hausdurchsuchung eine Pressekonferenz des zuständigen Parteiapparatschiks abgehalten, um die „linken Zellen“ in der Justiz aufzudecken. Hat nicht viel gefehlt und er hätte „Zecken“ gesagt.
Sehen wir nicht genau das, was Politiker uns immer zeigen wollen –
einen dichten Haarwusch mit wenig darunter ? Haare sind Wasserpflanzen !
Die Ermittlungsbehörden sollen nicht nur diskreditiert werden, sondern die unabhängige Justiz soll aus der symbolischen Position des neutralen Wächters in die Position der „Opposition“ umgruppiert werden. Auf diese Weise werden etwa aus Durchsuchungsbeschlüssen oder gar Gerichtsurteilen „Meinungen“.
Die staatsanwaltlichen Recherchen zeichnen ein buntes Großpanorama mafiösen Politikmachens. Es geht um Freunderlwirtschaft, Posten gegen Spenden, geschobene Bestellungen für staatsnahe Spitzenämter, illegale Parteienfinanzierung, die Veruntreuung öffentlicher Gelder bis hin zum Kauf gewogener Berichterstattung durch die endemische „Inseratenkorruption“ (für Inseratengeld gibt’s mediale Lobhudelei) und neuerdings sogar um frisierte Umfragen, die mit Ministeriumsgeld bezahlt worden sein sollen.
Polizeigesetze, Versammlungs- und Pressefreiheit, Staatstrojaner. Die öffentliche Meinung in Deutschland ist sich weitgehend einig, dass es in dieser Welt indiskutabel repressive und autoritäre „Regime“ gibt: Nordkorea und China zählen mit Sicherheit dazu, auch Putins Russland und die Mullahs im Iran.
Und wenn man auch nicht so sehr viel weiss über diese Länder, ist man sich sicher: In diesen Ländern wird die Meinungs-und Pressefreiheit mit Füssen getreten, es herrschen Zensur und allgegenwärtige staatliche Überwachung, Proteste und Demonstrationen, so es sie überhaupt gibt, werden niedergeschlagen, Teilnehmer und Aktivisten mit übelsten Polizeistaat-Methoden behandelt.Warum ist das so? Die gängige Antwort lautet: Die dort regierenden Politiker haben keinen Respekt vor den Menschenrechten. Sie setzen den Machterhalt ihrer „Regime“, ob über Schein-Wahlen legitimiert oder nicht, über alles. Die deutsche Öffentlichkeit, ob Bürger oder Journalisten, verachten solche Staatswesen deshalb unisono.
Diese Verachtung begründet man damit, dass es „bei uns“ ganz anders zugeht. Hier in Deutschland sind Meinungs- und Pressefreiheit grundgesetzlich garantiert. Unsere Verfassung erlaubt Versammlungen und Demonstrationen. Als Lehre aus dem „Bösen“ des Nazi-Staats werden hohe rechtliche Ansprüche angelegt, wenn staatliche Exekutiv-Organe in diese Rechte eingreifen wollen. Geheime Dienste, die „natürlich“ auch das liberale Deutschland unterhält, um nach eigener Darstellung all diese Freiheiten gegen Gefahren von aussen und innen zu schützen, stehen unter der Kontrolle des Parlaments und machen ihre Resultate teilweise sogar öffentlich, in einem jährlichen „Verfassungsschutzbericht“ etwa. So ungefähr sieht das populäre Bild von der heutigen Staatenwelt aus.
Seltsames im Land der Guten und Freien
Schaut man – als in diesem Sinne politisch gebildeter Bürger oder von Sowi-Lehrern mit dem eigenen Staatswesen vertraut gemachte Schülerin – auf einige Ereignisse und Gesetzesvorhaben der letzten Zeit, müsste man eigentlich ins Grübeln geraten:
Der Chefredakteur einer angesehenen Online-Zeitung wird von Nato- und EU-Ausschüssen der Desinformation bezichtigt.
Die einzige linke Tageszeitung Deutschlands soll laut Bundesregierung finanziell in die Enge getrieben werden.
Der deutsche Verfassungsschutz darf die Kommunikation seiner Bürger in den Messenger-Diensten mittels Staatstrojaner mitlesen.
Das Demonstrationsrecht im grössten deutschen Bundesland soll massiv verschärft werden.
Eine Demonstration gegen dieses Vorhaben wurde von der Polizei gewaltsam attackiert.
Da vermutlich nicht alle diese Nachrichten allgemein bekannt sind, hier zunächst die etwas ausführlichere Version – mit den entsprechenden links.
In einer Studie der Nato, die auch die EU veröffentlicht hat, wird der Tatbestand der „Informationswäsche in Deutschland“ untersucht. Darunter fassen die Autoren journalistische Positionen, die Zweifel an (aussen)politischen Informationen bzw. Begründungen äussern. Untersucht werden die Themen COVID-19, EU-Sanktionen gegen Russland, Nord Stream 2 sowie die Vergiftung von Alexei Nawalny. Als Resultat wird der Tatbestand der „Desinformation“ festgehalten, als einer der „Hauptakteure“ wird neben Sputnik und RT Deutsch Florian Rötzer von Telepolis genannt. Rötzer hat im Fall Nawalny übrigens das getan, was guter Journalismus kann: Er lieferte gute Recherchen und fragte hartnäckig nach, z.B. hier.In Grossbritannien ist zu sehen, was passieren kann, wenn ein Journalist Regierungsinteressen in die Quere kommt: Craig Murray, früher britischer Diplomat und inzwischen Journalist, der beharrlich den Assange-Fall begleitet, ist unter Vorwänden zu acht Monaten Gefängnis verurteilt worden. Seine Berichterstattung wird die Fortsetzung dieses Verfahrens nicht mehr stören.
Anfang Mai 21 stellt sich die Bundesregierung nach einer Anfrage der Linkspartei explizit hinter die inzwischen gut fünfzehn Jahre andauernde Beobachtung einer linken Tageszeitung durch den Verfassungsschutz. Die dezidiert marxistische Position inklusive „Klassenbegriff“, Mobilisierung für linke Konferenzen und Demonstrationen sowie eine nicht genügende Distanzierung von Gewalt bei Befreiungsbewegungen der 3. Welt werden als Gründe angeführt; finanzielle Schädigung für die Tageszeitung als explizit gewollte Folgen genannt.
Am 25.6.21 wird dem Verfassungsschutz per Gesetz erlaubt, auf die sogenannten Messenger-Dienste zuzugreifen und verschlüsselte Kommunikation der Bürger mitzulesen.
Noch vor der Sommerpause 21 will die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen ein neues Versammlungsgesetz verabschieden. Es erlaubt die (verdeckte) Überwachung und Aufzeichnung von Demonstrationen durch Drohnen und Hubschrauber; es verlangt (mehr) Daten über Anmelder und Ordner; es verbietet – ausser der sogenannten „Vermummung“, mit der Protestierende einer Identifizierung vorbeugen wollen – einheitliche Kleidung, mit der ein inhaltliches Anliegen, aber auch „Militanz“ ausgedrückt wird. Gerade will Bayern mit einem neuen Artikel im Polizeiaufgabengesetz nachziehen, das eine anlasslose Personenüberprüfung bereits vor dem Zutritt zu Veranstaltungen bzw. Demonstrationen gestattet.
Eine Demonstration gegen diese Pläne (Düsseldorf, 26.6.) wird von einem „massiven Polizeieinsatz“ „begleitet“, der den Geist des neuen Gesetzes vorweg nimmt. Die mediale Aufregung angesichts des behördlichen Einsatzes von „Reizgas und Einsatzmehrzweckstock“ (Presseerklärung der Polizei), stundenlanger Einkesselung von Hunderten Leuten, Abbruchs der Demonstration und vielen Verletzten (Video) gilt einem DPA-Fotografen, der zwischen die Fronten geraten war. Die Kommentare der Leser einer Düsseldorfer Zeitung bewegen sich zu einem nicht geringen Teil zwischen „der Fotograf wollte wieder mal nur die Polizeigewalt ablichten“ bis hin zu „geschieht der Antifa (wahlweise: den Kommunisten, den Chaoten, den Linken) sowieso Recht“…
Zusammengefasst: Nach aussen – Richtung China, Belarus, Russland oder andere übliche Verdächtige – laute Anklagen gegen mangelnde Presse- und Demonstrationsfreiheit. Im Innern ständig zunehmende Repression: geheimdienstliche Schikanen gegen eine linke Tageszeitung und einen unbequemen Journalisten; ein neues Polizei- und Versammlungsrecht, das deutlich auf Abschreckung, Unterordnung und Kriminalisierung von Demonstrationen zielt; eine Polizei, die das schon mal durchexerziert, und Bürger, die dabei applaudieren – ohne dass all das das Bild von der freiheitlichen Gesellschaft irgendwie ankratzen könnte. Man kann jetzt natürlich abwinken – nach dem Motto: Was geht’s mich an? Oder sagen: In China und Nordkorea ist es sicher noch schlimmer. Das mag sein. Obwohl zumindest auffallen könnte, dass man dieses Argument in seiner ganzen Abstraktheit durchhalten kann, ohne das Geringste über Presse, Öffentlichkeit, Staat und Polizei hier wie dort zu wissen.
Man kann natürlich auch voll dafür sein, dass die Linken, die ewigen Nörgler und die Antifa was „in die Fresse“ kriegen, weil man der Auffassung ist, dass damit alles besser wird in diesem schönen Land. Man kann sich genau umgekehrt in der trüben Meinung bestätigt sehen, dass Deutschland im Kern eben doch ein faschistisches Land ist, das jetzt wieder seinen wahren Charakter enthüllt. Oder – und das ist die Alternative, die ich hier vorschlage – man kann sich der Frage widmen, wie das alles zusammen gehört: Die Verankerung von Meinungs-,Presse- und Demonstrationsfreiheit im Grundgesetz, das Selbstbewusstsein von der Güte der deutschen Demokratie im Wettstreit der Staaten – und die oben zitierte Realität. Wen das interessiert, der sollte weiter lesen.
Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit
Die Gesellschaft, in der wir leben, beruht wesentlich darauf, dass ihre Mitglieder in wirtschaftlicher Konkurrenz zueinander versuchen, ihr „Glück zu schmieden“, also den für sie grösstmöglichen Vorteil zu erlangen. Dabei brauchen sie sich einerseits: der Verkäufer den Kunden, der Mieter den Vermieter, der Unternehmer die Arbeitskräfte. Andererseits stehen sie mit ihren Interessen gegeneinander: Was zu zahlen ist und was dafür geliefert werden muss, ist und bleibt notwendigerweise strittig. Selbst wenn in Kauf-, Miet- oder Arbeitsverträgen zu einem bestimmten Zeitpunkt darüber Einigkeit erzielt wird, versuchen alle Seiten, mit ihrer eigenen Willenserklärung so kreativ umzugehen, dass im Vollzug dann doch der Vertragspartner schlechter und man selbst besser fährt – Rechtsanwälte und Zivilgerichte leben von diesem Dauerstreit.
Was hat das mit unserem Thema zu tun? Viel! Es macht deutlich, warum in dieser Gesellschaft kaum zu erwarten ist, dass sich ihre Mitglieder in irgendetwas einig sind oder werden. Schon die simple Beschreibung eines x-beliebigen Gegenstandes wird verschieden ausfallen, je nachdem, wer mit welchem Interesse auf ihn schaut. Wie laut wird wohl die Wohnung neben der Eisenbahn in den Ohren eines potenziellen Mieters klingen – und wie leise in denen des Vermieters, der die Bude anpreisen will? Wie gut sieht der angebotene Gebrauchtwagen aus, wie sehr ist den Auskünften von Handwerkern zu trauen, wie wirtschaftsverträglich erscheint eine Lohnforderung? Eine „Objektivität“ kann es unter diesen Bedingungen nicht geben. Das liegt nicht daran, dass es so schwer wäre, sie tatsächlich zu ermitteln, sondern daran, dass es in dieser Art Streit gar nicht um so etwas wie die Wahrheit der Sache geht. Auf das jeweilige „Objekt“ richten sich unterschiedliche bis gegensätzliche Interessen, die die „Meinung“ über es notwendig subjektiv ausfallen lassen – je nach „Perspektive“ eben, wie jeder weiss.
Insofern gehört der freie Streit der Meinungen zu einer Gesellschaft konkurrierender Interessen essentiell dazu. Er findet seine Fortsetzung in einer pluralistischen Presse, die über das Weltgeschehen berichtet und dieses kommentiert. Das Handeln der Regierenden, der Zustand der Wirtschaft, die aussenpolitische Lage – sie sehen je nach Standpunkt der jeweiligen Redaktion sehr verschieden aus; je nachdem eben, ob aus christlicher, wirtschaftsliberaler oder arbeiterbewegter Sicht geschrieben wird.
Die durchgesetzte „Mainstream-Presse“ sorgt sich tagtäglich vor allem um den Erfolg der Nation, für die sie berichtet. Deshalb enthalten ihre Artikel – entgegen der journalistischen Selbstdarstellung von „erst Information, dann Kommentar“ – bereits in der Darstellung der angeblich „puren Fakten“ einen eindeutigen Bezug auf die nationalen Anliegen: Sie berichten selektiv, haben klare Freund-Feind-Kriterien und ordnen damit die wirtschaftlichen Erfolge, staatlichen Gewaltakte und Kollateralschäden der Weltordnung zuverlässig zu. In ihren Kommentarspalten sind sie dann notorisch kritisch – gegenüber dem unbefriedigenden Durchsetzungsvermögen der Regierung wie den Erfolgen der Nation auf allen denkbaren Feldern, von den Schlagern über den Sport bis hin zum Kriegseinsatz.
Das alles kann man vom Standpunkt des Bedürfnisses, Bescheid wissen zu wollen über den Lauf der Welt, eher ungünstig finden; die Mitglieder dieser Gesellschaft finden es aber im Normalfall völlig selbstverständlich, ja geradezu natürlich (wie soll es anders gehen?), dass Aussagen nicht objektiv, sondern interessegeleitet sind. Gewohnheitsmässig vermuten sie deshalb umgekehrt auch hinter jeder noch so nüchtern daherkommenden Sachaussage ein verborgenes Interesse und fragen, worauf ein Argument eigentlich „hinauslaufen“ soll, was der Sprechende also „eigentlich“ im Sinn hat mit seinem Gerede.
Die Garantie von Meinungs- und Pressefreiheit im Grundgesetz trägt dem Konstruktionsprinzip einer Konkurrenz-Gesellschaft Rechnung: Die freien und vor dem Recht gleichen Eigentümer, die nach ihrem Vorteil streben sollen, sind sich in nichts einig; sie formulieren ihre unterschiedlichen bis gegensätzlichen Anschauungen und Interessen in der Form von Meinungen und sie streiten in Form von Parteien – auch das ist ihnen erlaubt – um die jeweils aktuelle Fassung des „allgemeinen Wohls“, das durch die Regierung umgesetzt werden soll.
Für den Fall, dass Bürger mit politischen Entscheidungen nicht einverstanden sind, dürfen sie das öffentlich zum Ausdruck bringen. Die Verankerung des Demonstrationsrechts in der Verfassung zeigt, dass der demokratische Staat damit rechnet, dass sein Regierungshandeln permanent Unzufriedenheit erzeugt – kein Wunder angesichts der gegensätzlichen Interessen in seinem Volk. Im Umgang mit dieser Unzufriedenheit ist er so liberal, demonstrativen Protest gegen seine Entscheidungen grundsätzlich zuzulassen.
Dass Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit grundgesetzlich zugestanden werden, heisst allerdings auch, dass n u r das erlaubt ist. Jeder Bürger, jede Bürgerin kann sich zu allen Tatbeständen dieser Welt denken, was er bzw. sie will. Zeitungen dürfen Unfug aller Art drucken und Demonstranten dürfen für oder gegen alles Mögliche protestieren.
Ein Recht auf praktische Umsetzung haben sie damit nicht. „Allen gesellschaftlichen Ansprüchen und Interessen wird ein ganz formelles ,verbales‘ Daseinsrecht zuerkannt und ihnen zugleich als Preis dafür die Anerkennung ihrer Unverbindlichkeit abverlangt, die den tatsächlich statt¬ findenden Interessenabgleich, die Herstellung gesellschaftlicher Verbind-lichkeit, einer Macht ausserhalb des Reiches der Privatinteressen überlässt: nämlich der höchsten Gewalt, die in diesem System alle Lizenzen vergibt. Anders ausgedrückt: Wenn alle divergierenden Meinungen gleichermassen gelten sollen, dann gilt keine. Dann gilt eben das, was vom staatlichen Ge¬waltmonopol erlaubt und geboten wird.” (Albert Krölls, Das Grundgesetz – ein Grund zum Feiern? Eine Streitschrift gegen den Verfassungspatriotismus. Hamburg 2009, S. 180)
Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit
Gerade indem also Meinungs-, Presse und Demonstrationsfreiheit per Verfassung anerkannt werden, werden alle Gedanken, alle Kritik und alle daraus entspringenden Willensbekundungen zu praktischer Ohnmacht verurteilt. Zudem werden auch diesen Freiheiten, kaum dass sie in Kraft gesetzt sind, rote Linien gezogen. Historisch gab und gibt es von Staats wegen mit jedem neuen Kommunikationsmittel ein Bedürfnis nach Aufsicht, Sortieren und Zensur – ob das der Buchdruck war, die ersten Zeitungen, der Rundfunk und das Fernsehen oder die heutigen „sozialen Medien“. Die neue Technik soll von den Bürgern genutzt werden können – was der demokratische Staat im Unterschied zu seinen vorbürgerlichen Kollegen explizit anerkennt. Gleichzeitig aber soll das zum Funktionieren dieser Gesellschaft beitragen und sie nicht etwa in Frage stellen.
Artikel 18 Grundgesetz legt fest: „Wer die Freiheit der Meinungsäusserung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmass werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“Nicht jede Meinung, jede Presseäusserung, jede Versammlung geniesst also den Schutz der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes, sondern nur diejenigen, die keine prinzipielle Gegnerschaft gegen diese Ordnung formulieren und es damit auch noch ernst meinen („Kampf“). Wer seine Freiheit so versteht, „missbraucht“ per definitionem seine Rechte – und verliert sie.
Daran zeigt sich ein weiterer Pferdefuss der im Grundgesetz ausgesprochenen Freiheit zum Meinen, zum Schreiben und zum Demonstrieren: Mit der Erlaubnis dazu ist zugleich eine Instanz installiert, die darüber wacht und entscheidet, was erlaubt und was verboten ist. Wenn Unzufriedenheit zur Äusserung von Kritik führt, darf diese nicht zu weit gehen; „das System“ in Frage zu stellen und dafür zu mobilisieren, wirft aus der Warte der staatlichen Aufsicht die Frage auf, ob das nicht weniger Gebrauch als Missbrauch der gewährten Freiheit ist.
Kritik soll konstruktiv sein – sie soll sich, schon beim Formulieren der Beschwerde fragen, wie es denn besser gehen könnte und sich damit einbringen in den öffentlichen Diskurs. Alles andere ist auch in dieser Sphäre schnell an der Kippe zum Problemfall, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird und mit diversen Verboten belegt werden kann: Berufsverbot, Parteienverbot, Einschränkung der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit usw. usf.
Das Bedürfnis nach permanenter Verschärfung ist notwendig
Es gibt also keineswegs nur in China oder Nordkorea, sondern mitten in der freiheitlichsten Demokratie ein elementares staatliches Bedürfnis, die Meinungsbildung der Bürger im Auge zu behalten und rechtzeitig festzustellen, ob Ge- oder Missbrauch der erlaubten Freiheiten vorliegt – was naturgemäss eine nicht leicht zu beantwortende Frage bzw. „Einschätzung“ darstellt. Konkreter formuliert: Das Bespitzeln von Bürgern, von Journalisten sowie Protestierenden aller Couleur und das Ausforschen ihrer weltanschaulichen Gesinnung und politischen Loyalität gehört zur freiheitlich-demokratischen Ordnung dazu und stellt keinen Widerspruch zu ihr dar – wie möglicherweise Leute denken, die zuviel Stasi-Filme gesehen haben (interessant übrigens, dass es davon erheblich mehr gibt als Filme über die Überwachungsmethoden der Nazis).
Kein Wunder also, dass die Bundesrepublik sich 1950, kaum war das Grundgesetz verabschiedet, an den Aufbau eines solchen Dienstes machte – übrigens auf Vorschlag ihrer demokratischen Besatzungsmächte hin. Kein Wunder auch, dass sie dabei auf in der „Sache“ erfahrene Nazis zurückgegriffen hat – schliesslich ging es sofort wieder gegen den alten wie neuen Feind: den „Bolschewismus“ im eigenen Land, der aller faschistischen Verfolgung zum Trotz noch nicht ganz ausgerottet war.
Für die entsprechenden Behörden, die mit dieser Aufgabe betraut werden, ist die verlangte Unterscheidung nicht ganz einfach; aus ihrer Sicht stellt sich die Welt ziemlich unübersichtlich dar. Überall scheint es potentiellen Missbrauch zu geben – neben den notorisch verdächtigen Linken, Autonomen, Verfolgten des Naziregimes, Antifas usw. inzwischen eine ganze Menge an Rechten, Identitären, Reichsbürgern, Preppern und Querdenkern; dazu Islamisten usw. usf. Man könnte fast sagen: Je weniger es eine grosse, geeinte Opposition gibt (wie die frühere Arbeiterbewegung), je schwerer haben es die Dienste, all das mitzukriegen und fachkundig zu sortieren, was sie interessiert und was sie verdächtig finden. Die akribische Arbeit des deutschen Verfassungsschutzes, der noch kleinste Gruppierungen beobachtet und gewissenhaft auflistet, sollte in dieser Hinsicht vielleicht auch einmal gewürdigt werden.
Da zudem dauernd neue Kommunikationsmittel erfunden werden, hinken die Möglichkeiten und Befugnisse der politischen Polizei immer mal wieder hinterher – wie ab und an bedauernd mitgeteilt wird. Das ist ein unschöner Zustand, der deshalb permanente Anpassungsleistungen, sprich: Verschärfungen erforderlich macht.
Dass sich beispielsweise eine linke Tageszeitung halten und ihre Auflage sogar steigern kann, ist eigentlich nicht vorgesehen. 20.000 Abos für ein linkes Blatt – das ist offenbar zuviel für die deutsche Demokratie. Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz soll Abonnenten, Autoren und Geschäftspartner abschrecken, der „jungen Welt“ schlechtere Konditionen bescheren und sie so schädigen. Die vorgetragenen Rechtfertigungen dafür sind hanebüchen (kommt die FAZ unter Beobachtung, weil sie dogmatisch wirtschaftsliberal ist und keinen Marxisten zu Wort kommen lässt? Weil sie in Konferenzen für die „Zukunft Europas“ mobilisiert? Weil sich Jasper von Altenbockum nicht genügend von den Gewalttaten der deutschen Armee distanziert?)
Dass es mit den Online-Plattformen ein paar neue Medien geschafft haben, journalistische Produkte neben den etablierten Verlagen anzubieten und, weil kostenlos, nicht wenige Leser haben, ist eine weitere Neuerscheinung, die selbstverständlich kontrolliert werden muss. Auch hier sammeln sich vielleicht Autoren jenseits des Mainstreams und können glatt ein paar Gedanken und Fragen äussern, die nicht dem üblichen Standpunkt entspringen, sich um den Erfolg des deutschen Staatswesens Sorgen zu machen. So war es natürlich nicht gemeint mit der Meinungs- und Pressefreiheit – das ist „Desinformation“. (Liebe Leser, ist Ihnen eigentlich klar, wie offen damit der Zweck benannt wird, dem die nicht! zensierte! freie! Presse zu dienen hat? Journalismus, der den Verlautbarungen der deutschen bzw. Nato-Politik mit dummen Rückfragen kommt und ihre diplomatischen Konstrukte stört, wird mit regelrechten Kriegs-Terminologien belegt.) Konsequenz: Die russischen Medien in Deutschland werden madig gemacht, indem man sie als „vom Kreml finanziert“ ausweist, Online-Zeitungen und ihre Redakteure unter Beobachtung gestellt und damit eingeschüchtert.
Privatmenschen, darunter auch die Feinde der Freiheit, kommunizieren verschlüsselt, um das Mitlesen ihrer Botschaften und Verabredungen zu erschweren; da muss sich ein effektiver und moderner Staatsschutz selbstverständlich den Zugriff auf die gesamte angeblich private Kommunikation der Bürger gestatten lassen – Postgeheimnis hin oder her.
Und Demonstrationen stören zunehmend einfach nur noch. Zwar ist es nicht mehr viel und zunehmend hilfloser Protest. Aber gerade deswegen: Warum soll man als gewählter Politiker eigentlich noch hinnehmen, dass die so wichtigen und vor allem sowieso „alternativlosen“ Staatsgeschäfte von naiv-idealistischen und hartnäckig-opferbereiten Jugendlichen behindert werden? Mit dem Vorgehen gegen die angeblich so unerträglich gewaltsamen G-20-Demonstranten von Hamburg hat man sich den Vorwand verschafft, Landes-Polizei-Gesetze und nun auch Landes-Versammlungs-Gesetze zu verschärfen. Die Wahrnehmung des Demonstrations-Rechts, das „wir“ gegen China und die anderen „autoritären“ jederzeit selbstzufrieden hochhalten, soll in der deutschen Heimat zu einem echten kleinen Harakiri-Erlebnis für jeden gemacht werden, der das glaubt.
Kein Fall für Streit
Halten wir das bisherige Resultat fest: Die staatlichen Ansprüche an das reibungslose und störungsfreie Funktionieren der Sphäre von Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit sind in der liberalsten Demokratie, die Deutschland je hatte, ziemlich hoch – um nicht zu sagen: totalitär. Man könnte fast meinen, es solle bewiesen werden, dass eine fortgeschrittene Demokratie ihre politische Stabilität effektiver gewährleisten kann als jede Diktatur.
Gut, ein wenig profitiert die deutsche Republik sicher immer noch von dem disziplinierenden Effekt zweier Weltkriege und eines faschistischen Drittes Reichs, das die oppositionelle Arbeiterbewegung ziemlich komplett eliminiert hat. Aber daraus haben „wir“ ja auch „gelernt“ und operieren heute deutlich eleganter als damals: All die schönen, im Grundgesetz garantierten Freiheiten werden gar nicht angetastet. Ganz im Gegenteil: Um diese Freiheiten zu verteidigen, muss die „innere Sicherheit“ mit all ihren Behörden, Spitzeln und Methoden dauernd stärker bewacht werden – die „Feinde“ schlafen schliesslich nicht.Und so können „wir“ den Chinesen (wahlweise Russen, Weissrussen, Iranern, und überhaupt jedem, wo es nötig ist) zum Glück auch immer wieder ganz ungeniert mit dem grossen Freiheitsbanner kommen, wenn die sich mit ihren inneren (von „uns“ protegierten und finanzierten) Feinden herumschlagen.
Mit dem Widerspruch, Freiheiten anderswo lauthals einzuklagen und gleichzeitig im Innern immer mehr einzuschränken, kommt die deutsche Öffentlichkeit, Mainstream-Redaktionen wie Publikum, bemerkenswert gut klar. Mit grosser Anteilnahme verfolgt man das Schicksal drangsalierter Journalisten oder Aktivisten im hintersten Erdenwinkel – und schert sich nicht die Bohne darum, wenn in Hamburg oder Düsseldorf Demonstranten fertig gemacht werden. Man engagiert sich für tapfere Frauen im Iran und ist begeistert von unbeugsamen Künstlern in China; von der Einschüchterung kritischer Journalisten oder finanziellen Attacken auf linke Zeitungen bzw. antifaschistischen Verbänden im schönen Deutschland will man nichts wissen oder legt die entsprechenden Meldungen ungerührt beiseite. Solcherart Schizophrenie ist nur durch einen sehr gesunden Patriotismus zu erklären. Hier, bei „uns“, ist es allemal besser als im Rest der Welt. Fakten über dort und hier können das nicht in Frage stellen. Und für eine grössere Aufregung um „unsere Werte“ ist in dieser Frage einfach kein Platz in der freien, unzensierten Öffentlichkeit unserer schönen Demokratie.
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Ein geplantes Terminal für Erdgas zieht die Aktivist*innen von Ende Gelände nach Norddeutschland. Zudem wollen sie mit einem Mythos aufräumen.
Nach sechs Jahren regelmäßigen Protests im rheinischen Braunkohlerevier haben sich die Klimaaktivist*innen von Ende Gelände ein neues Ziel gesucht: Liquefied Natural Gas (LNG). Ab Freitag wollen sie im schleswig-holsteinischen Brunsbüttel den Bau eines geplanten Terminals blockieren, an dem zukünftig Erdgas in flüssiger Form angeliefert, regasifiziert und verladen werden soll. Gleichzeitig plant Ende Gelände, mit einer zweiten Massenaktion in Hamburg auf die globale Dimension der Klimakrise und das Fortbestehen kolonialer Ausbeutung in den Ländern des globalen Südens durch europäische Konzerne aufmerksam machen.
„Die Klimakrise und neokoloniale Ausbeutung gehen Hand in Hand“, sagt die Ende-Gelände-Sprecherin Elia Nejem. Das zeige sich am dem geplanten LNG-Terminal besonders, weil ein großer Teil des dort zukünftig angelieferten Erdgases aus Regionen kommen soll, in denen es durch unkonventionelles Fracking gewonnen wird, wie etwa den USA oder Argentinien. Beim in Deutschland verbotenen unkonventionellen Fracking wird ein Gemisch aus Wasser, Sand und Chemikalien in Schiefer-, Ton-, Mergel- oder Kohleflözgestein gepresst, sodass Risse entstehen und Öl und Gas gehoben werden können.
In Deutschland erlaubt ist derzeit nur konventionelles Fracking, bei dem im tiefer liegenden Sandstein gebohrt wird, also weiter weg von der Oberfläche und den Grundwasserreservoirs. Die 2017 erlassene Frackingregelung endet jedoch in diesem Jahr, der Bundestag muss das Verbot dann neu prüfen. Für die Aktivist*innen ist das ein Anlass, das Thema vor der Bundestagswahl auf die Agenda zu setzen. Auch beim konventionellen, in Deutschland erlaubten Fracking ist der Wasserverbrauch enorm, betroffene Regionen leiden zudem oft unter Erdbeben und erhöhten Krebserkrankungsraten.
Die Planungen für das erste deutsche LNG-Terminal laufen seit Jahren. Im Gespräch waren mehrere Standorte, darunter neben Brunsbüttel auch Wilhelmshaven und Stade. In Wilhelmshaven liegt das Projekt mittlerweile auf Eis.
Das Problem mit dem Methan
Die Landesregierungen in Hannover (SPD und CDU) und Kiel (CDU, Grüne, FDP) haben die Projekte jeweils in ihrem Koalitionsvertrag verankert. In Schleswig-Holstein sprach sich ein Parteitag der Grünen jedoch dagegen aus. Befürworter*innen versprechen sich von der „Brückentechnologie“ einen geringeren Ausstoß von Kohlenstoffdioxid sowie weniger Schwefel, Feinstaub und Stickoxide als bei konventionellen Treibstoffen. Später könne das Terminal für Wasserstoff genutzt werden, so die Kalkulation.
„LNG ist die größte Klimalüge unserer Zeit“, sagt der argentinische Aktivist Esteban Servat, der sich bei Ende Gelände engagiert. Die durch Erdgas verursachten Emissionen seien ähnlich hoch wie die von Kohle, zudem zerstöre der deutsche Öl- und Gaskonzern Wintershall in seiner Heimatregion Mendoza im Westen Argentiniens durch Fracking die Natur und sei verantwortlich für Vertreibungen, Krankheiten und Menschenrechtsverletzungen.
„Durch den Bau von LNG-Importterminals wie in Brunsbüttel unterstützt die Bundesregierung diese Ausbeutung und fördert im Ausland das, was zu Hause verboten ist.“ Die Heuchelei und der Klimakolonialismus müssten beendet werden, sagt er. Die Aktivist*innen weisen auch darauf hin, dass das bei der Förderung, dem Transport und Verbrauch von Erdgas freigesetzte Methan ein schädlicheres Treibhausgas ist als CO2.
Klimakrise und Rassismus hängen für Aktivistin Elia Nejem zusammen. Deshalb will sie bei Ende Gelände einen migrantischen Protest starten
taz: Frau Nejem, zeitgleich zu einer Blockade von Ende Gelände am Flüssiggasterminal in Brunsbüttel rufen Sie auch zu einer „Anti-Kolonialen Attacke“ in Hamburg auf. Was kann man sich denn darunter vorstellen?
Elia Nejem: Das wird auch eine Aktion des zivilen Ungehorsams für Klimagerechtigkeit. Und sie wird vor allem von Menschen of Colour getragen. Blockaden wird es geben, aber zum genauen Konzept und Ort kann ich noch nichts sagen.
Weiße Aktivist:innen sind „auch eingeladen“, sollen sich aber nicht in den Vordergrund drängen. Haben Sie da böse Mails bekommen?
Nein, zumindest habe ich davon nichts mitbekommen. Es gab in der Klimagerechtigkeitsbewegung in der letzten Zeit viel Kritik an der nicht vorhandenen Rassismus-Reflektion. Ich denke, dass sich Menschen vermehrt damit auseinandergesetzt haben, dass wir solche Räume brauchen.
Schwarze Menschen und People of Colour haben vor ein paar Jahren extra das Kollektiv Black Earth gegründet, um so einen eigenen Raum zu haben. Warum ist die Klimabewegung in Deutschland so weiß?
Ein Grund dafür, dass Menschen of Colour sich in weißen Räumen häufig unwohl fühlen, ist auf jeden Fall die rassistische Dynamik. Wenn man ständig gefragt wird, wo man herkommt oder gleich auf Englisch angesprochen wird, bekommt man das Gefühl, dass man da nicht hingehört.
Also liegt es am Verhalten der weißen Klimaaktivist:innen?
Ja, aber nicht nur. Ein weiterer Grund ist strukturelle Ungleichheit. Aktivismus ist für weiße Menschen tendenziell einfacher. Sie haben eher Zugang zu Bildung und Studium. Sie müssen sich seltener damit rumschlagen, wie sie nun Geld verdienen, weil Reichtum sich eben eher in weißen Familien sammelt. Und dann muss man auch sagen: Speziell Aktionen zivilen Ungehorsams sind für Menschen of Colour riskanter. Wir leben in einer Gesellschaft, die rassistisch geprägt ist, mit einem Polizeiapparat, der auch rassistisch geprägt ist.
Sie sind ja selbst als Person of Colour zur Klimabewegung gestoßen, wie haben Sie das erlebt?
Unmittelbar nach der Kundgebung „Black Lives Still Matter“ an der Balduintreppe (Hafenstraße) am Samstag, 10. April, ist es zu einem gewalttätigen Polizeiübergriff auf zwei Schwarze Jugendliche (15 und 16 Jahre) auf der Reeperbahn gekommen. Anlass war eine polizeikritische Rede, die der 15-Jährige auf der Kundgebung gehalten hatte. Sie wurden von der Besatzung von mindestens zwei Mannschaftswagen umringt, bedrängt und geschlagen. Der 16-Jährige musste anschließend im Krankenhaus behandelt werden. Die beiden Betroffenen schildern den Vorfall in einem Video auf der Facebook-Seite der Black Community Hamburg:
https://fb.watch/4Su7jyBBUa/
Seebrücke-Aktivist Niklas Pietzcker wurde Zeuge des Polizeieinsatzes. Er kam dazu, nachdem dem 16-Jährigen bereits gewaltsam sein Mobiltelefon entrissen worden war. Seine Beobachtungen schildert er so: „Die Polizei umringte den 16-jährigen zu Zehnt in voller Einsatzmontur, ging dabei überzogen gereizt und aggressiv vor. Das Vorgehen nahm keinerlei Rücksicht auf das Alter der Jugendlichen und ignorierte die Tatsache, dass es bei der BLM-Demo genau um diese Formen rassistischer Polizeigewalt ging. Diese Ausübung der Machtdemonstration ist ein offenkundiger und repressiver Einschüchterungsversuch, der mit dem Vorgehen einer demokratischen Polizei nichts zu tun hat.“
Bereits nach den großen Black Lives Matter Protesten am 06.06.2020 war es in Hamburg zu einer fragwürdigen Massenfestnahme nicht-weißer Jugendlicher gekommen.
„Das sind keine Einzelfälle. Die Polizei Hamburg ist in Sachen rassistischer Übergriffe und gezielter Einschüchterung nicht-weißer Jugendlicher Wiederholungstäter. Wir verlangen die sofortige Suspendierung der Verantwortlichen vom aktiven Polizeidienst und eine unabhängige Untersuchung. Den zahllosen Berichten von Betroffenen über Racial Profiling, anlasslose Kontrollen und aggressives Vorgehen der Polizei muss endlich Beachtung und Glauben geschenkt werden,“ sagt Christoph Kleine von der Seebrücke Hamburg.
Besonders erschreckend sei, dass es sich bei der gewaltsamen Kontrolle vom vergangenen Samstag offenkundig um die Reaktion auf den polizeikritischen Redebeitrag des betroffenen 15-Jährigen handelte.
„Einen Redner nach einer Kundgebung zu überfallen und einzuschüchtern, ist die Praxis eines Polizeistaats und absolut inakzeptabel. Die Polizei Hamburg hat ein riesiges Problem mit Rassismus, Gewalt und Kritikfähigkeit. Die Verantwortung dafür tragen letztlich die Polizeiführung und Innensenator Andy Grote. Wir fordern personelle Konsequenzen an der Spitze,“ so Kleine abschließend.
Die SEEBRÜCKE HAMBURG setzt sich für die zivile Seenotrettung, für sichere Fluchtwege und für die dauerhafte Aufnahme von geflüchteten Menschen in Hamburg ein.
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Jetzt beginnt auch in Hamburg das Hornberger Schießen unter Krähen?
Von Marco Carini
In Hamburg nimmt der Untersuchungsausschuss um die in CumEx-Geschäfte verstrickte Warburg-Bank und den ihr gewährten Steuererlass von 47 Millionen Euro seine Arbeit auf. Im Fokus der Opposition: SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz.
Die Jagd hat begonnen. 2021 soll das Jahr des im November konstituierten Untersuchungsausschusses der Hamburgischen Bürgerschaft zu den Cum-Ex-Geschäften der Warburg-Bank und deren Verbindungen zum Hamburger Senat werden.
Im Fadenkreuz der Opposition, die den Ausschuss eingerichtet hat, steht neben Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) vor allem Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Ihn während des Bundestagswahlkampfs zu beschädigen, ist das inoffizielle Hauptziel von CDU, der Linken und der FDP-Abgeordneten Anna Treuenfels von Frowein, die den Ausschuss ins Leben gerufen haben.
Offizielle Aufgabe des Ausschusses, der am 12. März seine inhaltliche Arbeit aufnehmen soll, ist die „Klärung der Frage, warum der Hamburger Senat und die Hamburger Steuerverwaltung bereit waren, Steuern in Millionenhöhe mit Blick auf CumEx-Geschäfte verjähren zu lassen und inwieweit es dabei zur Einflussnahme zugunsten der steuerpflichtigen Bank und zum Nachteil der Hamburgerinnen und Hamburger kam“.
Die Causa Warburg beginnt Anfang 2016, als die Staatsanwaltschaft die Geschäftsräume der Bankzentrale durchsuchen lässt, aufgrund des Verdachts der schweren Steuerhinterziehung. Kurz darauf informieren die Ermittler und das Bundesfinanzministerium die damals von Tschentscher geleitete Finanzbehörde darüber, dass sich Warburg durch sogenannte Cum-Ex-Geschäfte rechtswidrig um 47 Millionen Euro bereichert hatte – eine Forderung, die Ende 2016 zu verjähren droht.
Doch die Finanzbehörde bleibt untätig und verzichtet – nach monatelanger interner Prüfung – auf die Rückforderung der Millionen, angeblich weil sie das Risiko eines Rechtsstreits fürchtet. Eine weitere Tranche über 43 Millionen Euro wird später erst nach Anordnung des Bundesfinanzministeriums eingefordert.
Der Hintergrund des Vorwurfs, Scholz habe sich zugunsten der Bank verwendet, sind zwei Treffen des damaligen Bürgermeisters mit dem Warburg-Miteigentümer Christian Olearius – gegen den zu diesem Zeitpunkt bereits Ermittlungen wegen des Verdachts der schweren Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit Cum-Ex-Geschäften laufen – im Herbst 2016.
Während Tagebücher im politischen Geschäft meist eine eher untergeordnete Rolle spielen, ist es hier anders. Das Treffen, in dem Olearius Scholz informiert haben will, dass eine Rückzahlung der 47 Millionen Euro die Bank existentiell gefährde, wird erst durch die Einträge von Olearius in sein später beschlagnahmtes Tagebuch publik. Es findet am 26. Oktober 2016 statt, drei Wochen vor der Entscheidung der Finanzbehörde, auf die Millionenforderung dann doch zu verzichten. Scholz fordert Olearius – nach dessen Notizen – auf, die existenzielle Gefährdung Warburgs der Finanzbehörde mitzuteilen.
Scholz konnte sich an diese Treffen lange nicht entsinnen. Er dementiert zunächst, Olearius getroffen zu haben. Später räumte er die beiden Treffen im Herbst 2016 ein, an die er aber keine Erinnerung mehr habe. Außer der einen: „Ich habe gemacht, was in solchen Fällen immer empfehlenswert ist: Ich habe ihn an den Dienstweg verwiesen.“ So sagte es Scholz vor dem Finanzausschuss des Bundestags und zuletzt auch vor Millionenpublikum bei Markus Lanz. Er selber habe somit keinen Einfluss auf die spätere Entscheidung des Finanzamtes genommen, die 47 Millionen Euro nicht einzufordern. „Nur weil einer zu mir kommt, mache ich doch nicht gleich, was der will.“
Aus Scholz engstem Umfeld heißt es dazu: „Aus der Perspektive von Scholz waren diese Treffen vermutlich überhaupt nicht wichtig, da er sich nur die Darstellung von Warburg angehört und nicht in das Verfahren eingegriffen hat. Er hat sich dazu von der Verwaltung keine Vorbereitungsunterlagen kommen lassen, kennt – wegen des Steuergeheimnisses – die Akten und den Sachverhalt nicht und hat auf die nötige und übliche strikte Brandmauer geachtet.“
Die Politik lässt bei der Energiewende Bürgern und Unternehmen wenig Spielraum. Die skandinavischen Länder machen da vieles besser.
Das Kohlekraftwerk Moorburg ist zum Sinnbild einer abenteuerlichen Energiepolitik geworden. Es ist eines der jüngsten und modernsten in Deutschland, soll aber im Zuge des Kohleausstiegs als eines der ersten abgeschaltet werden. Klingt bizarr, ist bizarr.
Dahinter steckt die Liebe der Bundesregierung zu Ausschreibungen; diese, zu abgekarteten Konditionen lanciert, verleihen ihr das Gefühl von Stärke und Gestaltungsmacht. Also wird nun alles Mögliche ausgeschrieben: der Neubau von Windkraft und Photovoltaik, von Biomasse und Kraft-Wärme-Kopplung. Und eben auch die Stilllegung von Kohlekraftwerken.
Wer in diesem Ausschreibungsregime bereit ist, sein Kraftwerk für die geringste Prämie aufzugeben, bekommt den Zuschlag. Das suggeriert zwar einen Markt, hat mit effizientem Klimaschutz aber nichts zu tun. Und so läuft nun manche alte Möhre weiter, die weniger effizient arbeitet als das abgeschossene Kraftwerk Moorburg.
Vernünftig ist anders. Man hätte entweder für Kraftwerke den CO2-Preis erhöhen müssen, Schritt für Schritt. So wären die dreckigsten Meiler zuerst aus dem Markt gegangen. Oder man hätte Ordnungsrecht in Form des Emissionsschutzgesetzes bemüht (so wie in den Achtzigern beim Schwefelausstoß). Man hätte Grenzwerte definiert, wie viel CO2 pro Kilowattstunde emittiert werden darf. Das Limit hätte man über die Jahre verschärft – und auch so hätten die ineffizientesten Kraftwerke zuerst die Segel gestrichen. Aber das Ergebnis wäre dann weniger steuerbar gewesen – und das ist der Politik zuwider.
Der Drang Berlins, bis ins Detail zu steuern, durchzieht heute die gesamte Stromwirtschaft
Nach demselben Muster verweigert die Bundespolitik sich an vielen Stellen konsistenten Lösungen, in steter Angst vor einer Eigendynamik seitens der Wirtschaft. Ein Beispiel ist die verquere Organisation des Stromhandels. Die Politik tut so, als könne man Strom in beliebiger Menge von jedem Erzeuger zu jedem Verbraucher bringen. Ob es ausreichend Leitungen gibt, ist in dieser naiven Stromwelt ohne Belang – daher gibt es an der Strombörse nur einen Einheitspreis für ganz Deutschland.
Nun ist freilich die Physik unbestechlich, daher müssen die Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) diese Fehlsteuerung korrigieren. Dieser regulatorische Eingriff heißt dann Redispatch, ist teuer und immer wieder anspruchsvoll. Dass die ÜNB trotzdem nicht über das System mosern, ist auch klar: Je mehr es aus dem Ruder läuft, umso mehr steigt der Druck, weitere Hochspannungsleitungen zu bauen. Und jede Leitung, über regulierte Netzentgelte bezahlt, bringt den ÜNB Geld. Daher gibt es außer ein paar Thinktanks nur wenige, die die einheitliche Preiszone in Frage stellen.
Andere Länder machen es klüger. Selbst das kleine Dänemark kennt zwei Gebotszonen, Norwegen hat fünf, Schweden vier. Dann werden Kraftwerke in Regionen, in denen Strom oft knapp ist, von allein attraktiver. Und wo es häufig Überschuss gibt, werden alte Kraftwerke bevorzugt abgeschaltet. Doch die deutsche Politik fürchtet solche Marktentscheidungen. Sie hat lieber einen Einheitspreis, um dann – wie derzeit bei den Braunkohlekraftwerken – selbst die Abschalt-Reihenfolge definieren zu können.
Der Drang Berlins, bis ins Detail zu steuern, durchzieht heute die gesamte Stromwirtschaft. Zum Beispiel auch beim Mieterstrom. Wie es einfach geht, beweist die Solarwärme: Vermieter können diese auf dem Dach gewinnen und unkompliziert an Mieter abgeben. Mit Solarstrom ginge das technisch ebenso. Aber hier schuf man komplizierte Regeln – allein um Solarstromerzeuger an kurzer Leine zu halten.
Wer von den heutig, politischen Protzen würde nicht gern mit ihm um die Wette kotzen?
Von Alexander Diehl
Das Bismarck-Denkmal ragt über dem Hamburger Hafen in den Himmel. Derzeit wird es saniert – umso lauter erklingt die Kritik am umstrittenen Kanzler.
Im Winter ist es halb so schlimm. Wenn es spät hell wird, früh dunkel, und dazwischen der norddeutsche Himmel auch nur Schattierungen von Grau durchspielt, dann lässt sich der Hamburger Granit-Bismarck beinahe übersehen. Und das will etwas heißen: Rund 34 Meter hoch, inklusive Sockel, ist dieses Denkmal für den preußischen Politiker Otto von Bismarck (1815–1898) nicht nur weit und breit, sondern gleich weltweit das größte seiner Art. Aus 100 Blöcken Schwarzwälder Granits errichtet, nach Plänen des Architekten Emil Schaudt und des Bildhauers Hugo Lederer.
Seit 1906, da war Bismarck seit acht Jahren tot, ragt seine steinerne Repräsentation auf dem Hang über dem Hamburger Hafen empor, in einem Ausläufer der einst von Napoleons Truppen geschleiften Festungsanlagen. Er drehe der Stadt den Allerwertesten zu, so bekommen es Ortsunkundige manchmal erzählt, und dass das eine Art subversiver Distanzierung bedeute: Mit Preußen hätten sie es in Hamburg ja nie sonderlich gehabt. Ob er je ein Wahrzeichen war, darüber gehen die Meinungen auseinander, ebenso darüber, wie groß 1906 unter den Hamburger:innen die Begeisterung wirklich tobte.
„Das Denkmal ist eine Kreation Hamburger Kolonialkaufleute“
„Das Denkmal ist eine Kreation oder ein Fantasma der Hamburger Kolonialkaufleute“, sagt Hannimari Jokinen, Künstlerin, seit vielen Jahren engagiert in der Aufarbeitung von Hamburgs Verstrickungen in den Kolonialismus, und heute Teil der Initiative Decolonize Bismarck. Errichtet worden sei es „als Dank für die Kolonien und die Berliner Finanzspritzen für die Hafenerweiterung“ –, für preußisches Geld konnten sie sich an der Elbe also durchaus erwärmen.
Seinen rekordverdächtigen Dimensionen zum Trotz: „Den Bismarck habe ich immer so aus dem Augenwinkel wahrgenommen“, auch das sagt Jokinen, „schmuddelig und voller Graffiti.“ In der Tat waren das Denkmal und die kleine Grünanlage, in der es steht, ziemlich lange das, was in Leser:innenbriefen an Lokalzeitungen gerne ein „Schandfleck“ genannt wird, wegen der vielen Graffiti und der Drogenkonsumenten, die sich manchmal hierher zurückziehen.
Aber dass der Koloss wirklich schlechte Presse hatte, weil sich im Fackelschein nationalistische Burschenschaftler hier trafen – auch ein paar örtliche Sozialdemokraten übrigens –, das ist Jahre her. Manchmal ließen die Verantwortlichen ihn vom umgebenden Grün aus dem Blick wuchern, dann wieder nahm man Geld in die Hand und ließ die Büsche stutzen.
Der seit 1960 denkmalgeschützte Granit-Ritter könnte aber gut und gerne heute eine Art Dornröschenschlaf halten, den träumenden Blick die Elbe hinab gerichtet, in Richtung der Weltmeere, die der Stadt so viel von ihrem Reichtum bescherten. Wären da nicht diese Bauarbeiten – und gäbe es nicht auch hierzulande längst die Black-Lives-Matter-Bewegung.
Geht das noch: So einen zu ehren?
Insbesondere, was seine Haltung zur wilhelminischen Kolonialpolitik angeht, wandelt sich das Bismarck-Bild derzeit. Es werden diejenigen weniger, die daran festhalten, den Mann habe man zu deutschem Engagement in Afrika geradezu zwingen müssen. Geht das also noch: So einen zu ehren, derart prominent? Darüber ist in der Stadt eine Diskussion in Gang gekommen, nicht zum allerersten Mal, aber umso engagierter in einem Jahr, da anderswo die Statuen von Sklavenhändlern in Hafenbecken versenkt werden oder sogar Blut fließt im Kulturkampf um die richtige Erinnerung an den US-Bürgerkrieg.
Wie tief ist das Hafenwasser ?
„Bismarck stoppen!“ war Ende Juni in Hamburg eine Kundgebung überschrieben, ausgerichtet von den Initiativen Intervention Bismarckdenkmal und Decolonize Bismarck. Die Forderung bezieht sich dabei auf die laufenden Sanierungsarbeiten an dem Denkmal, bezahlt von der öffentlichen Hand: Mindestens seit 2003 ist bekannt, dass der steinerne Eiserne Kanzler sich gefährlich gen Osten neigt, Wasser eindringt ins Fundament. „Um 2013 herum ging dann die Diskussion um eine Restaurierung des Denkmals los“, erinnert sich Jokinen. „Schon da hieß es, es würde Millionen Euro kosten, und ich habe eine erste Kritik daran online gestellt. Und gefragt: Was soll da eigentlich restauriert werden?“
Im ausgehenden Jahr nun wurde der Bismarck tatsächlich eingerüstet, von Moos, Kalk und Vogelkot gereinigt und ausgebessert. Knapp neun Millionen Euro sollen die Arbeiten am Denkmal selbst kosten, zu großen Teilen bezahlt vom Bund. Noch einmal mehr als sechs Millionen gibt die Stadt aus: für die Aufhübschung des umgebenden Elbpark-Areals. Vorgesehen ist zudem eine kommentierende Ausstellung im Sockelgeschoss.
Sammel- und Massenunterkünfte zur Unterbringung von geflüchteten Menschen sind weder sicher noch menschenwürdig. Das zeigt der Corona-Ausbruch mit 70 Betroffenen (Stand 27.10.2020) in der Zentralen Erstaufnahmestelle (ZEA) in Rahlstedt einmal mehr.
„Die 70 Infektionen waren zum größten Teil vermeidbar. Sie gehen nicht auf das Verhalten der Bewohner*innen zurück, sondern die Umstände ihrer Zwangsunterbringung,“ sagt Lea Reikowski von der SEEBRÜCKE HAMBURG.
„Mit jedem Tag, den die ZEA Rahlstedt weiter betrieben wird, nimmt die Hansestadt Hamburg eine Gesundheitsgefährdung durch COVID-19 bewusst in Kauf! Dieses Lager, das nur beschönigend Unterkunft genannt wird, muss endlich geschlossen werden. Die Bewohner*innen müssen in Wohnungen und kleinen Einheiten untergebracht werden,“ so Reikowski weiter.
In der ZEA Rahlstedt müssen Hunderte Menschen auf engstem Raum zusammenleben. Sie nutzen gemeinsame Sanitäranlagen und sind auf Essensversorgung angewiesen, es gibt kaum Privatsphäre – eine menschenunwürdige und belastende Situation. Seit Langem fordern verschiedene Gruppen einschließlich der SEEBRÜCKE HAMBURG die Schließung der ZEA Rahlstedt und die dezentrale Unterbringung der Menschen. Corona verleiht dieser Forderung noch einmal zusätzliche Dringlichkeit: Durch fehlende Möglichkeiten für Abstände, Kontaktbegrenzungen und Isolation werden schnell Sammel- und Massenunterkünfte schnell zu Infektions-Hotspots.
Christoph Kleine von der SEEBRÜCKE HAMBURG weist darauf hin, dass eine dezentrale Unterbringung auch spontan möglich ist:
„Durch den Teil-Lockdown sind die Hotels wieder leer. Hier wäre sofort eine provisorische, sichere Unterbringung möglich. Ziel muss aber bleiben, das Menschenrecht auf eine geeignete Wohnung endlich für alle Einwohner*innen Hamburgs zu gewährleisten.“
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Grafikquellen : Demonstration am 7. Juli 2018 in Berlin
Die Demonstration „Seebrücke“ des „Seebrücke“ Bündnisses forderte am 7. Juli 2018 über 10 Tausend Menschen in Berlin und an anderen Orten in Deutschland die ungehinderte Seenotrettung auf dem Mittelmeer. Grund dafür war das Festsetzen mehrerer Schiffe, die Flüchtenden in Seenot auf dem Mittelmeer halfen unter dem Vorwurf als Schlepper tätig zu sein.
Zu zehntausende sind in der Bundesrepublik Deutschland Menschen aus sämtlichen Segmenten der Gesellschaft am 25.09.2020 im Zuge des internationalen Klima Streik mit Fridays For Future auf die Straßen gegangen. Ich selber befand mich in Hamburg. Dort gab es drei Punkte des Startes.
Das Ziel war der Michel. Insgesamt waren in Hamburg 16.000 Menschen auf der Klima Streik Demonstration. Somit war Hamburg mit 16.000 Menschen die größte Klima Streik Demonstration an dem Tag in der Bundesrepublik Deutschland.
Auf der Demonstration gab es eine Stimmung welche sich ausgezeichnet hat durch Charisma und positiver Stimmung. Vielfältig gute Gespräche wurden geführt. Das Thema der Ausbau der erneuerbaren Energie.
Der öffentliche Verkehr muss verbessert werden. Gerade der Nahverkehr ist ein im Alltag meist genutzter Verkehr. In einer Vergleichbarkeit zum Fernverkehr.
Sehr viel mehr junge Menschen aus der außerparlamentarischen Opposition wie bsp. Friday For Future, Black Lives müssen in allen Bundesländern zu Mitgliederinnen und Mitglieder des nächsten Deutschen Bundestages werden um zeitnah ihre Ziele in der Wirklichkeit zu bewerkstelligen
Anzumerken ist das auf der Demonstration des internationalen Klima Streik alle diszipliniert gewesen sind. Es gab Markierungen auf dem Boden. Abstände wurden eingehalten.
Dies ohne das es zu Einwände gekommen ist. Während der konstruktiven, pluralistischen Informationen kam eine junge Frau zu mir. Sie teilte mir mit das von der Fridays For Future Bewegung in Kiel der 19 jährige Jakob Blasel über die Partei Bündnis 90 / Die Grünen für den Bundestag kandidieren werden wird.
Dies wurde von allen Seiten als fortschrittlich bewertet. Davon muss es mehr geben. Auch von der Bewegung Black Lives Matter.
Bei den Gesprächen unter den Menschen auf dem Klima Streik wurde sich geeinigt. Das die außerparlamentarischen Opposition sich den sozialer Themen annehmen werden. Die Bewegungen werden quantitativ wachsen und sich inhaltlich weiter entwickeln.
Die sozialen Themen sind die Zukunft für die Bewegungen der außerparlamentarischen Opposition auf globaler Ebene
Darauf dürfen sich Parteien im Bundestag einstellen. Jetzt liegt es an den Parteien den jungen Menschen der Bewegungen der außerparlamentarischen Opposition gute Plätze für ihre Kandidaturen einzuräumen. Welche Partei, Parteien sich dem öffnet hat gute Chancen für die Zukunft.
Auf der Demonstration internationaler Klima Streik in Hamburg am Michel wurde die Vorstellung eines Kevin Kühnert als künftiger Bundesministers eines starken Ressort als progressiv bewertet. Es wird sich von den anwesenden der Fridays For Future Bewegung gewünscht das auch Menschen der Bewegungen der außerparlamentarischen Opposition künftig im Bundestag in verantwortungsvolle Posten kommen werden. Mit dem Ziel die Zukunft besser zu gestalten.
Nun liegt es an den Menschen der Bewegungen der außerparlamentarischen Opposition konsequent und nachhaltig die öffentliche Räume in Anspruch zu nehmen. Eigene Themen zu setzen. Mittels digital und analog eigene Öffentlichkeit herzustellen.
Die Vorfreude besteht darin das die jungen Menschen sehr politisiert sind. Andere Menschen ebenfalls im lebensbejahenden, sozialen Sinne in Bewegung zu setzen. Zu einer Erhöhung der Wahlbeteiligung beitragen.
Gewiss ist das Jahr 2021 mit all seinen Landtagswahlen, Bundeswahl im fortschrittlichen Sinne nicht langweilig werden wird. In bereits einem halben Jahr finden die kommenden Landtagswahlen statt. Dabei geht es um die Sitze im Bundesrat. Gleichwohl in etwa einem Jahr wird die Bundestagswahl stattfinden.
Für die Politik, Parlamente der Bundesländer und dem Bundestag ist das eine kurze Zeitspanne.
Erklärung von Hamburger Genossinnen und Genossen im Vorfeld unseres Landes- und unseres Bundesparteitages
1. Wir erleben gegenwärtig, wie das kapitalistische System an seine inneren Grenzen stößt. Dieses System ist nicht dazu in der Lage, für die Mehrheit der Menschen auch nur grundlegende Lebensbedingungen zu gewährleisten. Soziale Absicherung, Wohnen, Gesundheitsversorgung, Bildung, Ernährung, sind auch für viele Menschen in den entwickelten Industrieländern nicht mehr garantiert. Aber auch die Grundlagen des Lebens – Umwelt und Klima – werden zerstört. Das kapitalistische System ist nicht nur selbst in der Krise, es führt zu einer elementaren Bedrohung für das Überleben von Millionen von Menschen.
2. Dazu gehört die schwere Wirtschaftskrise, die lange vor Corona ihren Ausgangspunkt nahm. Erneut werden zahlreiche Menschen in Existenznöte und in die Erwerbslosigkeit gedrängt. Die Corona-Pandemie verschärft diese Wirtschaftskrise, ist aber nicht ihre Ursache. Die von den Bundes- und Landesregierungen veranlassten Konjunktur- und Infrastrukturprogramme sind zwar riesig, aber vollkommen einseitig auf eine Subventionierung und Unterstützung des großen Kapitals gerichtet. Dazu kommt eine strukturelle Krise der Kapitalverwertung, auf die die Herrschenden seit vielen Jahren mit neoliberaler Politik reagieren. Die enorme Konzentration des Reichtums in den Händen weniger führt zu einem Verlust von profitablen Verwertungsmöglichkeiten. Deshalb privatisieren sie öffentliches Eigentum, um auch dieses der Logik des Profits zu unterwerfen.
3. Mit dem von der NATO ausgegebenen Ziel, die Rüstungsausgaben auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen und damit auf 80 Milliarden Euro pro Jahr zu steigern, unterstützt die deutsche Regierung die Vormachtstellung und die Absicherung der Märkte und Ressourcen für das Kapital. In der Friedensfrage darf es für uns kein Wanken geben! Nicht nur, dass diese gigantischen Rüstungsausgaben uns allen schaden, die Signale stehen zugleich auf Sturm! Die Gefahr eines bewaffneten Konflikts oder eines großen Krieges ist heute so groß wie lange nicht mehr. Die USA und ihre Verbündeten schüren Konflikte mit Russland und vor allem mit China, die sie als Konkurrenten für ihre eigene Weltherrschaft sehen. Als Linke können wir unter keinen Umständen diesen Konfrontations- und Kriegskurs direkt oder indirekt befördern. Wir sagen Nein zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr und zu Waffenexporten. Die LINKE kann keine Manöver an den Grenzen Russlands oder in anderen Konfliktherden sowie keine Waffenlieferungen über den Hamburger Hafen dulden. Die in unserem Parteiprogramm festgehaltene Forderung nach Auflösung der NATO und ihrer Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands, das Abrüstung als zentrales Ziel hat, ist heute so aktuell wie 2011.
Als LINKE stehen wir für Frieden. Kompromisslos.
4. Es reicht nicht mehr aus, innerhalb dieses Systems nur über Veränderungen der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums nachzudenken, Missstände anzuprangern und zu dieser und zu jener Frage parlamentarische Initiativen zu starten. Linke Politik muss heute umso mehr verdeutlichen, dass der Kapitalismus selbst das Problem ist. Denn dieses profitgetriebene System kann die sozialen und andere grundlegende Bedürfnisse der Mehrheit der Menschen nicht mehr sichern. Es muss überwunden werden.
5. Es gibt bereits Felder der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, in denen diese Perspektive aufgetan wird. Nicht nur in Berlin, auch in Hamburg taucht die Forderung nach einer Enteignung der großen Immobilienfirmen auf. Die Umweltbewegung fordert „System Change, not Climate Change“. Immer mehr Menschen wehren sich gegen die Privatisierung öffentlichen Eigentums oder fordern dessen Rekommunalisierung. Doch in vielen Auseinandersetzungen spielen die Eigentumsverhältnisse noch eine untergeordnete Rolle. Wir sind Teil großer Bewegungen um Menschenrechte, Demokratiefragen, Rechtsentwicklung, gegen Rassismus. Diese Bewegungen sind wichtig und müssen unsere Unterstützung haben! Doch die Skandalisierung dieser Erscheinungen muss bei uns mit dem Ziel verbunden sein, diese Unmenschlichkeit grundlegend zu überwinden.
6. Die nicht nur zyklische, sondern auch strukturelle Wirtschaftskrise wird zu großen sozialen Verwerfungen führen, aber auch zu gewaltigen Klassenkämpfen. Von oben haben diese bereits begonnen. Soziale Fragen stehen deshalb – neben unserem Engagement für den Frieden – an erster Stelle unseres politischen Handelns. Aber auch hier kommt es darauf an, dass wir die Entwicklungen nicht nur kommentieren, mediale Statements abgeben oder uns auf parlamentarische Initiativen beschränken. Wir müssen uns vor allem außerparlamentarisch einmischen und selbst stärker zum Akteur sozialer und politischer Klassenkämpfe werden.
Der Offensive des Kapitals müssen wir eine soziale Offensive von unten entgegensetzen. Darin muss der Schwerpunkt aller Aktivitäten liegen. In der Partei. In den Fraktionen. Unsere Organisationsstrukturen und die Verteilung finanzieller Ressourcen müssen entsprechend angepasst werden.
7. Das ist nicht nur eine Frage einzelner Kampagnen, mit denen wir auf Ungerechtigkeiten in der Rente, in der Pflege, auf den Mangel an bezahlbaren Wohnraum oder ähnliches hinweisen. Wir müssen darüber hinaus viele Fragen neu beantworten: Wie arbeiten wir in Gewerkschaften? Wie unterstützen wir Kolleg*innen bei ihren betrieblichen Kämpfen? Wie arbeiten wir, damit sich arbeitende Menschen und sozial Deklassierte bei uns besser einbringen können? Wie initiieren wir selbst soziale Proteste? Wie stellen wir die Eigentumsfrage konkret? Wie verbinden wir die Auseinandersetzungen in den Bezirksversammlungen, in der Bürgerschaft, in unseren Stadtteilgruppen mit unseren grundlegenden politischen Zielen? Und wie entwickeln wir die dazu notwendige politische Bildung, die uns überall in der Partei fehlt?
8. Klar: Eine Partei wie DIE LINKE muss auch unter den gegenwärtigen Bedingungen für konkrete Verbesserungen streiten. Klar ist uns ebenfalls, dass sich der Kapitalismus nicht auf Knopfdruck abschaffen lässt. Für die Rettung lebenswichtiger Ökosysteme und die Vermeidung großer Kriege müssen wir im Hier und Jetzt streiten! Doch reale Fortschritte – auch innerhalb dieser kapitalistischen Gesellschaft – lassen sich nur erkämpfen, wenn wir diese Kämpfe mit unserer Perspektive einer besseren, einer sozialistischen Welt verbinden. Wie uns dies besser gelingen kann, das muss Gegenstand ernsthafter strategischer Beratungen werden, die wir für die LINKE, aber auch darüber hinaus, anschieben müssen.
9. Wir müssen unsere Forderungen zuspitzen. Wir akzeptieren keine Auslandseinsätze der Bundeswehr. Wir fordern Abrüstung statt Aufrüstung. Wir kämpfen für einen sozial-ökologischen Umbau dieser Gesellschaft. Dafür müssen in einem ersten Schritt die Automobilindustrie und die Energiekonzerne unter öffentliche Kontrolle gestellt werden. Wir wollen die Vermögenskonzentration und Einkommensspaltung aufheben. Wir kämpfen für eine Rekommunalisierung aller Bereiche der Daseinsvorsorge sowie für Sanktionsfreiheit und eine Mindestsicherung, die diesen Namen verdient. Ein Mietendeckel wäre begrüßenswert, aber das reicht uns nicht. Wir fordern Miethöchstgrenzen und eine vollständige Regulierung des Wohnungsmarktes sowie die Überführung von immer mehr Wohnraum in öffentliches Eigentum. Öffentlicher Grund und Boden darf nicht mehr privatisiert werden. Wir kämpfen für einen massiven Ausbau des Gesundheitswesens, aus dem die Profitorientierung beseitigt wird. Wir kämpfen für massive öffentliche Investitionen im öffentlichen Nahverkehr, in Bildung und Wohnungsbau.
Um diese und andere Schritte durchzusetzen, müssen die Reichen zur Kasse gebeten werden. Aber höhere Vermögenssteuern reichen dafür nicht. Wir müssen vor allem für eine Verbesserung der Kampfbedingungen der Arbeiterklasse streiten: durch erweiterte Streik- und Tarifrechte, durch eine Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge, durch höhere Löhne und ein Ankurbeln der Binnennachfrage, durch eine vollständige Regulierung der Arbeitsmärkte. Wir kämpfen für einen Mindestlohn, der diesen Namen verdient. Wir kämpfen für massive Arbeitszeitverkürzungen und eine vollständige Regulierung der Arbeitsmärkte. Werk- und Leihverträge gehören sofort abgeschafft.
10. Wir sind Antifaschisten. Aber Antifaschismus ist mehr als nur gegen Nazis zu sein. Antifaschismus bedeutet, dem Erstarken neofaschistischer und rassistischer Kräfte die gesellschaftliche Grundlage zu entziehen. Die etablierten Parteien, die den Konzernen alles überlassen, haben die Unzufriedenheit und das Misstrauen erhöht, wie auch Abstiegsängste, soziale Ungleichheit und die Verrohung der Gesellschaft dadurch zugenommen haben. Neoliberale Politik bereitet so den Nährboden, auf dem Rassismus und andere Ideologien der Diskriminierung gedeihen können. Für uns gilt: Keinen Fußbreit den Rassisten und Faschisten! Rassismus und Diskriminierung können wir aber nur überwinden, wenn wir ihre gesellschaftlichen Ursachen beseitigen. Wenn wir knebelnde Freihandelsverträge, in denen die Gewinne privatisiert, die Verluste aber sozialisiert werden, bekämpfen. Wenn wir Ausbeutung, auch neokoloniale Ausbeutung, die dazu führt, dass immer mehr Menschen flüchten müssen, wenn wir die soziale Spaltung auch hierzulande überwinden. Wenn wir Kriege und Wirtschaftskriege verhindern. Wir fordern das Verbot aller neofaschistischen Organisationen. Wir fordern die vollständige Wiederherstellung des Asylrechts. Wir fordern gleiche Rechte für alle Menschen, die hier leben. Genauso wie wir uns gegen die geschlechtliche Diskriminierung oder gegen die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen wehren. Dies kann uns aber nur gelingen, wenn wir diese Kämpfe als soziale Kämpfe, als einen Teil unserer gemeinsamen Kämpfe gegen das Kapital begreifen.
11. Der Neoliberalismus ist gescheitert. Die politischen und ökonomischen Eliten wollen es nur nicht wahrhaben. Wir können seinen Abgang beschleunigen! Gegen den Neoliberalismus braucht es eine Phalanx. Es braucht nicht nur eine soziale Idee, ein Parteiprogramm, nicht nur den einen oder anderen Antrag im Parlament, sondern eine soziale Offensive gemeinsam mit allen Menschen guten Willens.
12. Statt auf rot-rot-grün und eine Regierungsbeteiligung im neoliberalen System zu hoffen, sollten wir gesellschaftliche Bündnisse schließen. Halten wir dazu fest: Alle Experimente in den letzten 30 Jahren in Europa in bürgerliche Regierungen einzutreten sind am Ende restlos gescheitert. Nirgendwo konnte auf diese Weise neoliberale Politik ausgebremst werden. Doch darum geht’s ja auch: Entweder Kämpfe auf der Straße und in den Betrieben organisieren und als Opposition, als Widerstandskraft bemerkt werden oder unglaubwürdig das Programm verlieren und untergehen.
Viele Menschen fordern inzwischen mehr öffentliche Verantwortung, mehr bezahlbaren Wohnraum, das Schleifen der Schuldenbremse, ein Ende der Privatisierungspolitik, von Bundeswehreinsätzen im Ausland sowie der Steigerung des Rüstungsetats. Viele Menschen sind gegen die Austrocknung der Sozialsysteme. Sie lehnen es ab, dass Milliarden in die Taschen großer Konzerne gehen, die dann Arbeitsplätze abbauen, während sie ihre Aktionäre mit saftigen Dividenden versorgen.
Für diese Ziele gibt es gesellschaftliche Mehrheiten, auch wenn wir sie in den Parlamenten noch nicht haben. Diese Mehrheiten müssen über soziale Proteste, Volksinitiativen, Demonstrationen und Streiks mobilisiert werden. Allein von der Entfaltung solcher Kämpfe hängt es ab, ob die gesellschaftliche Entwicklung nach rechts oder nach links gehen wird. Um besser einzugreifen, müssen wir uns dafür zu einer lebendigen Mitglieder- und Programmpartei fortentwickeln. Lasst uns dieses Land verändern! Beginnen wir damit in Hamburg. Beginnen wir damit in unserer eigenen Partei!
Hamburg, 17.09.2020
Erstunterzeichnende: Nilüfer Aydin (BV Mitte), Alexander Benthin (BV Mitte), Gunhild Berdal (BV Mitte, AG FIP, AG Studierendenpolitik, KPF), Hildegard Blum (Mitglied des Sprecherrates der Stadtteilgruppe HH-Langenhorn, Mitglied des Bezirksvorstandes HH-Nord, Delegierte zum Landesparteitag), Naomi Bruhn (BV Altona), Martin Dolzer, Kristian Glaser (BV Mitte), Holger Griebner, Andreas Grünwald (Stadtteilgruppe Wilhelmsburg), Klaus Hagen (BV Altona, Stadtteilgruppe Bahrenfeld), Bernd Hartz (Stadtteilgruppe Eppendorf/Hoheluft-Ost), Franziska Hildebrandt (BV Mitte, DieLinke.SDS Uni Hamburg), Nicola Hofediener (BV Mitte, Bezirksorganisation Billstedt, aktive Sozialbegleiterin bei neoliberaler Behördenwillkür), Helli Laab, Heinz-Dieter Lechte (BV Altona, Bildungsbeauftragter, Redakteur ALiNa, Teamer Marxismus-Grundlagenkurs), Ulrik Ludwig (KPF-CZ), Florian Muhl (BV Harburg, Vertreter des Jugendverbands im Landesvorstand 2018-20), Jürgen Olschok (BV Mitte), Ralf Peters, Bosse Daniel Reimann (BV Altona), Hartmut Ring (BV Hamburg Nord, für den Hamburger Landesverband im Bundesausschuss), Tilman Rosenau (BV Mitte), Maureen Schwalke (Landesparteitagsdelegierte, Ersatzdelegierte Bundesparteitag, Mitglied in mehreren Ausschüssen und Beteiligungsgremien), Lena Schweder (BV Altona), Roland Wiegmann (MdBV Eimsbüttel), Ronald Wilken (BO-Wilhelmsburg/Veddel), Mehmet Yildiz (MdHB)
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Grafikquellen :
Oben — Parteitag der Linkspartei in Bonn. 2. Tagung des 6. Parteitages der Partei DIE LINKE, 22. und 23. Februar 2019, Bonn.…
Der Altenpfleger John H. ist grundlos ins Visier von Hamburger Zivilfahndern geraten. Die Folgen der Verletzungen begleiten ihn bis heute.
An der Ampel bleibt John H. stehen. „Genau hier ist es passiert“, sagt er. John H. schaut weg. Das Stück groben Asphalts gegenüber der Bushaltestelle Veilchenweg weckt Erinnerungen. Es fällt ihm schwer, über das zu sprechen, was er am 18. April erlebt hat.
John H. war auf seinem E-Bike unterwegs, wie jeden Tag. Mitten in Hamburg, im Stadtteil Eimsbüttel. Dort lebt er, dort arbeitet er als Altenpfleger bei einem Pflegedienst. Mit 15 Jahren ist John H. aus Ghana nach Deutschland gekommen. Seitdem ist Hamburg sein Zuhause. Täglich besucht der 31-Jährige bis zu 25 Patient*innen und legt dabei mehr als 30 Kilometer mit dem Rad zurück. Er bringt ihnen Medikamente und schaut, wie es ihnen geht. Während der Coronapandemie muss er sich vorsehen, dass er keine Infektionen weiterträgt, auch wenn er für jeden Einzelnen nur wenig Zeit hat. „Es ist ein schönes Gefühl, Menschen helfen zu können“, sagt John H. Er spricht leise. „Ich hab viel Geduld – und die braucht man in diesem Job.“
Am 18. April 2020 besucht er etwa zehn Patienten. Dabei fällt ihm auf, dass ihm ein Mann mit roter Baseballkappe hinterherradelt. Doch er denkt sich nichts dabei. Gegen 16 Uhr fährt er zu einem Diabetespatienten. Er spritzt dem älteren Mann Insulin. Nach ein paar Minuten muss er weiter. John H. steigt wieder aufs Rad. Nach 300 Metern reißen ihn drei Männer vom Rad, stürzen sich auf ihn und fixieren ihn am Boden. Einer von ihnen ist der mit der roten Kappe. Sie greifen in seine Hosentaschen. „Ich dachte, die wollen mich ausrauben“, sagt John H. Sie biegen ihm die Arme auf den Rücken, legen ihm Handschellen an. Erst als Passanten vorbeilaufen, sagt einer der Männer: „Alles gut, wir sind von der Polizei.“ Es sind Zivilfahnder.
„Ich dachte, die wollen mich ausrauben. Ich habe gar nicht verstanden, was mir da passiert ist“ — John H. über die Zivilfahnder der Polizei
Sie fragen John H., was er gerade tut, und verlangen seinen Ausweis. John H. erklärt, dass er für einen Pflegedienst arbeitet, und zeigt ihnen, wo sie in seiner Tasche Arbeitspläne finden. Daraufhin nehmen die Beamten ihm die Handschellen ab und sagen ihm, dass sie ihn für einen Drogenkurier gehalten hätten. Sie hätten einen „Tipp“ bekommen. John H. habe sich auffällig verhalten, sagen sie. Schließlich entschuldigen sich die Polizisten bei ihm. Einer fragt noch: „Wir sind doch jetzt cool miteinander, oder?“
John H. steht unter Schock. Er nickt. Sie gehen, John H. bleibt zurück. Sein E-Bike lässt sich nicht mehr fahren, der Ständer ist abgebrochen. Das Handydisplay ist gesprungen, es bleibt schwarz. Seine Uhr funktioniert auch nicht mehr. Seine Kleidung ist verdreckt. Sein Ellenbogen aufgeschürft. Und im Fuß hat er Schmerzen.
Nach zwei Wochen macht John H. den Vorfall öffentlich
Erst zwei Wochen danach hat John H. den Vorfall in einem langen Text auf Instagram gepostet, weiße Lettern auf schwarzem Grund. Er wollte zeigen, „wie Schwarze Menschen hier in Deutschland“ behandelt werden. Aber er brauchte Zeit dafür. „Ich habe in dem Moment gar nicht verstanden, was mir da passiert ist“, erinnert sich John H. „Ich wollte einfach nur weg.“
Er hatte damals, am 18. April 2020, sein Rad nach Hause geschoben und sich umgezogen. „Alles war voller Staub und Dreck“, erzählt John H. Dann ging er zum Pflegedienst. Dort sprachen die drei Zivilpolizisten gerade mit seinem Chef. „Ich wollte die nicht noch mal sehen“, sagt John H. Sie wollten seine Angaben überprüfen. Und sie entschuldigten sich auch bei John H.s Chef. „Sie schilderten ihm, dass das alles nur ein Missverständnis war“, sagt John H. Sein Chef unterstützte ihn und begleitete ihn auf die Polizeiwache in der Sedanstraße, um sich zu beschweren. Der Polizeibeamte, der dort John H.s Angaben aufnahm, rief die Zivilfahnder an. Die versicherten, dass alles bereits geklärt sei. „Es ist alles cool“, sagte der eine erneut.
John H.s Schwester hat ihn ermutigt, das Erlebnis zu veröffentlichen und sich Hilfe zu suchen. Sein Posting haben inzwischen Tausende gelesen und geteilt. In der Kommentarspalte häufen sich Solidaritätsbekundungen. Ähnliche Erfahrungen werden ausgetauscht. Viele werfen der Polizei Rassismus vor.
Die Hamburger Polizei veröffentlicht daraufhin auf ihrem Instagram-Account eine Antwort auf John H.s Posting – unter den „Highlights“. Sie liest sich wie eine Rechtfertigung. John H.s Verhalten sei „typisch für den Handel mit Drogen gewesen“, heißt es da, weil er mehrere Häuser für kurze Zeit betreten habe. Betäubungsmittelhändler zeigten erfahrungsgemäß ein „ausgeprägtes Fluchtverhalten“. Deshalb hätten die Fahnder zugegriffen. Man habe sich für die „Unannehmlichkeiten des dynamischen Einschreitens“ entschuldigt.
Die Anwältin erstattet Anzeige
John H.s Anwältin Petra Dervishaj hat Anzeige erstattet, wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung im Amt. Zusätzlich, sagt sie, habe sie Anzeige erstattet, da die Zivilfahnder mitten in der Coronapandemie weder Masken noch Handschuhe getragen hätten. Die Polizisten hätten ihrem verwirrten Mandanten zum Abschied sogar die Hände geschüttelt.
Mit der öffentlichen Entschuldigung habe die Polizei ihre Schuld eingestanden, meint Dervishaj. In der Regel erstatte die Polizei in solchen Fällen Strafanzeige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, das sei aber bislang nicht geschehen. Es gehe daher bei der Anzeige nicht mehr um die Frage, ob der Vorfall passiert ist, sondern wie er strafrechtlich zu bewerten ist. Ihre Erfahrung zeige, dass die Strafverfolgungsbehörden wenig Interesse hätten, Fälle von Polizeigewalt und strukturellem Rassismus öffentlich zu verhandeln.
Den entstandenen Sachschaden hat die Polizei bereits ersetzt. 309,99 Euro hat John H. für sein Handy bekommen, 134,95 Euro für seine Uhr. Für die Reparatur des E-Bikes hat die Polizei nochmal rund 300 Euro an den Pflegedienst gezahlt. Die Leiterin des zuständigen Polizeikommissariats 17 hat John H.s Chef bei einem Besuch mitgeteilt, dass die drei verantwortlichen Zivilpolizisten suspendiert worden seien. Auf Anfrage der taz sagte ein Polizeisprecher dagegen, „erst nach Abschluss der geführten strafrechtlichen Ermittlungen“ werde über „etwaige disziplinarische Folgen“ entschieden.
Gegen die Gewalt der drei Polizisten kann John H. juristisch vorgehen. Aber er fühlt sich auch rassistisch diskriminiert. Er glaubt: Es hat ihn getroffen, weil er Schwarz ist. „Das, was John passiert ist, ist ein Paradebeispiel für Racial Profiling“, sagt die Anwältin Dervishaj. Damit ist gemeint, dass Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder angenommenen ethnischen Herkunft ins Visier der Polizei geraten.
Für das Dezernat Interne Ermittlungen, das die Ermittlungen gegen die Zivilpolizisten führt, spielt das keine Rolle. Die Dienststelle verweist darauf, dass Motivforschung lediglich „Gegenstand kriminalpolizeilicher Ermittlungen“ sei. Dabei sind gerade die Beweggründe für das Eingreifen der Zivilfahnder entscheidend: Hätten sie mit ähnlicher Härte zugegriffen, wenn es sich um eine weiße Kollegin von John H. gehandelt hätte? Hätten sie – oder hätte der angebliche „Tippgeber“ – einen solchen Verdacht dann überhaupt geschöpft?
Wir sind viele. So viele, die denken und die Erfahrung machen, dass dieses System am Ende ist. Aber unsere Stimmen sind verstreut, unsere Aufrufe verhallen ungehört, unsere Aktionen laufen ins Leere.
Das geht so weit, dass wir uns manchmal kaum noch etwas zutrauen, überwältigt sind von Ohnmachtsgefühlen. Zwar hat die Zersplitterung durchaus auch ihr Gutes, denn sie ist unvereinbar mit Zentralisierung oder der Einschwörung auf einen Kurs. Dennoch: Wir müssen zusammenkommen. Und das ganz sicher jetzt, da eine wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Krise dabei ist, ohne Umschweife ihre Gewalt zu entfesseln: brutal und in ungeahntem Ausmass.
Wenn wir tatsächlich „im Krieg sind“ [so Macron angesichts von COVID19 am 16.03.2020], dann in einem gesellschaftlichen. Bereits jetzt wird erbarmungslos angegriffen: in Form des erpresserischen Drucks auf die Beschäftigten, der Infragestellung von Freiheiten und Rechten, der Lügen und der Gewalt seitens des Staates, der Einschüchterungen, der Polizeigewalt, insbesondere in den Vorstädten, der allgegenwärtigen Überwachung, der Herablassung seitens der Eliten, der rassistischen Diskriminierung, der übelsten Verächtlichmachung der Armen, der Angreifbarsten, derer, die im Land Zuflucht gesucht haben.
Es ist höchste Zeit, die Stigmatisierungen denen ins Gesicht zu schleudern, die sie zu verantworten haben. Für einen immer grösseren Teil der Bevölkerung sind die Bedingungen des Wohnens, der Gesundheitsversorgung, der Ernährung, manchmal schlicht der Grundversorgung katastrophal. Wenn etwas „extrem“ ist, dann sind es die atemberaubenden Ungleichheiten, die sich durch die Krise noch weiter zugespitzt haben. Wenn etwas „extrem“ ist, dann ist es ist genau diese Gewalt. In diesem System wird unser Leben immer weniger wert sein als ihre Profite.
Und wir scheuen uns nicht mehr, die Realität dessen deutlich zu benennen, was auf unseren Gesellschaften lastet. In den vergangenen Jahrzehnten war „Kapitalismus“ ein Tabubegriff geworden, alternativlose Allgegenwart, so selbstverständlich wie die Luft, die man atmet – eine Luft, die ihrerseits zunehmend infiziert ist. Inzwischen kommen wir nicht mehr umhin, das Kapitalocän als eine Ära zu begreifen, zerstörerisch und tödlich, eine Ära, die mit mörderischer Gewalt die Erde und alles Lebendige zu überwältigen droht. Die Herausforderung besteht nicht mehr nur darin, einen Neoliberalismus zu bekämpfen, um zu einem „akzeptableren“, „grünen“, „sozial verträglichen“ oder „reformierten“ Kapitalismus zurückzukehren. Der entfesselte Kapitalismus lässt sich nicht bändigen, reparieren oder verbessern.
Er gleicht einem Vampir oder einem schwarzen Loch, ist in der Lage, alles einzusaugen. Er hat keine Moral, kennt nichts als den puren Egoismus. Er kennt kein anderes Prinzip als das des Profits. Diese alles verschlingende Logik ist zynisch und mörderisch wie jeder ungebremste Produktivismus. Sich zusammenzuschliessen bedeutet, auf diese Logik kollektiv zu antworten, durch unsere Zahl dieser Antwort Gewicht zu geben und dem Kapitalismus entgegenzutreten, ohne dabei auch nur entfernt daran zu denken, dass es mit ihm einen Kompromiss geben könnte.
Doch wir sind nicht nur und nicht vor allem „gegen“. Zwar haben wir keinen Schlüssel in der Hand, der eine eindeutige Perspektive eröffnen würde, aber wir werden ständig mehr, die nicht nur nachdenken und Theorien entwickeln sondern auch Praktiken glaubwürdiger und greifbarer Alternativen für ein menschliches Leben. Dass wir sie miteinander verknüpfen, ist entscheidend. Was diese Erfahrungen und Hoffnungen bereits jetzt verbindet, ist eine Vision von den Allgemeingütern, den „commons“, die nicht auf Besitz gegründet ist, sondern auf den Gebrauch, die soziale Gerechtigkeit und die Allen gleichermassen zukommende Würde. Die „commons“ sind Ressourcen und Güter, kollektive Aktivitäten und Lebensformen. Sie ermöglichen uns, ein gutes Leben nach grundlegend veränderten Kriterien anzustreben: nicht mehr der Markt, sondern das Teilen, nicht mehr die Konkurrenz, sondern die Solidarität, nicht mehr der Wettstreit, sondern das Gemeinsame – darum geht es.
Diese Ansätze sind tragfähig. Sie öffnen den Blick auf eine andere Welt, die frei ist von der Jagd nach Profit, der lohnend verausgabten Zeit, den Warenbeziehungen. Es ist notwendiger denn je und bedeutsam, diese Ideen und Erfahrungen zu teilen, zu diskutieren und zu verbreiten.
Wir wissen aber auch, dass das nicht reichen wird: Wir sind uns bewusst, dass die Macht des Kapitals es niemals zulassen wird, dass wir uns friedlich als kollektive Kraft organisieren, die ihm grundsätzlich entgegensteht. Wir wissen, dass die Konfrontation unausweichlich ist. Umso wichtiger also, dass wir uns organisieren, Verbindungen und Solidarität untereinander schaffen, auf der lokalen wie der internationalen Ebene, und aus der Selbstorganisierung und der Autonomie unserer Aktionen ein aktives Prinzip machen, eine geduldige und hartnäckige Sammlung der Kräfte.
Das bedeutet, alle Formen echter Demokratie auszuweiten: die Brigaden der Solidarität, wie sie sich in den Vorstädten vervielfältigt haben, Versammlungen, Kooperativen, Aktions- und Entscheidungskomitees an unseren Arbeitsplätzen und in anderen Lebenszusammenhängen, Zones à Défendre (ZAD), freie Gemeinschaften, kritische Zusammenschlüsse, Initiativen zur Vergemeinschaftung von Produktionsmitteln, Diensten und Gütern … Heute rufen diejenigen, die im Bereich von Gesundheit und Pflege arbeiten, zu einer breiten Bewegung auf.
Diese Perspektive ist ebenso vielversprechend wie grundlegend: Diejenigen, die tag-täglich für andere sorgen, sind geradezu berufen, zusammen mit den Zusammenschlüssen der Endverbraucher*innen und den Kranken und ohne die Manager*innen und selbsterklärten Expert*innen die Erfordernisse der öffentlichen Gesundheitsversorgung festzustellen. Und dieser Gedanke ist in allen gesellschaftlichen Bereichen anwendbar. Wir sind legitimiert und in der Lage, über unser Leben selber zu befinden – zu entscheiden, was wir brauchen: die Selbstverwaltung als Form, unsere Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. Und die Verbindung (fédération) als Gegenmacht.
Wir verklären die Vergangenheit keineswegs. Aber wir erinnern uns daran, wer „die Federierten“ waren, diejenigen, die in der Commune von Paris tatsächlich das Leben verändern, ihm Sinn und Kraft verleihen wollten. Ihre Bewegungen, ihre Kulturen, ihre Überzeugungen waren durchaus unterschiedlich: unter ihnen gab es Republikaner*innen, Marxist*innen, Libertäre und manchmal all das in einer Person. Aber was sie einte, das war derselbe Mut und die gemeinsame Überzeugung vom „Gemeinwohl“.
Wie sie, so haben auch wir unterschiedliche Auffassungen. Aber genau wie sie können wir diese Unterschiede angesichts der Dringlichkeit und der Dramatik hintanstellen, wir brauchen nicht zurückzufallen in unendliche Spaltungen, sondern können uns als Commune zusammentun.
Eine gemeinsame Plattform für Ausarbeitungen, Initiativen und Aktionen würde unseren Aktivitäten mehr Nachdruck verleihen. Informelle Koordinierung oder strukturiertes Vorgehen? Es ist an uns, das zu entscheiden. Angesichts des alles durchdringenden herrschenden Diskurses müssen wir uns zusammentun, wenn nicht um ihn zum Schweigen zu bringen, so doch um ihm wirksam etwas entgegenzusetzen.
Wir müssen zusammenkommen, um eine konkrete Alternative umzusetzen, die Hoffnung begründet.
Sobald wir die ersten Kräfte versammelt haben, organisieren wir ein Treffen, dessen Modalitäten wir natürlich gemeinsam entscheiden.
Zur Unterzeichnung des Appells: appelsefederer@riseup.net
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Oben — Demonstration während des G20 Gipfels in Hamburg. / Leonhard Lenz (PD)
Dass es so schlimm kommen würde, hatte keiner geahnt. Oder doch? Jochen Faiz ist ein ruhiger, zurückhaltender Mann mit Brille, Hemd und immer gleich gebundenem Schal um den Hals. Seine kleine Reinigung mit dem raketenroten Schriftzug „Comet – Textilreinigung“ wirkt wie aus der Zeit gefallen und reiht sich doch ungewollt stilsicher in die bunten Geschäfte des Hamburger Szenekiezes Ottensen ein. Jochen Faiz kam vor über dreißig Jahren aus Bangladesch hierher, hat sich vom Angestellten zum Inhaber der kleinen Wäscherei hochgearbeitet.
30 Jahre lang lief das Geschäft gut bei ihm, der eigentlich kurz vor der Rente steht. Die Menschen schätzen ihn. Hinter der Ladentheke hängen, sorgfältig von Folien umhüllt, Hunderte von bunten Kleiderstücken, die ruckelnd hin- und herfahren. Alte Damen bringen schwere Gardinen zu ihm, Theater feine Kostüme oder Anwohner zerknitterte Hemden. Faiz kann alles reinigen, zum Saubermannpreis. Viele seiner Kunden kommen wieder, immer wieder.
Bis Faiz im September 2019 das erste Schild aufstellen musste: Wer seine Wäsche mit dem Auto anliefere, könne das nur noch zwischen 8 und 11 Uhr am Morgen tun, teilte er höflich mit. Ein halbes Jahr später, Anfang Februar 2020, dann ein neuer Text, wieder freundlich, dafür in dreifacher Ausführung. Ein Schild hüfthoch im Schaufenster, eines an der Preisliste, eines neben der Kasse. Darauf der immer gleiche Satz, den niemand übersehen soll: „Wir waren nicht an der Klage beteiligt.“ – Das Wort „nicht“ ist fett gedruckt und zwei Mal unterstrichen, raketen-rot.
Es hätte alles so schön sein können. So schön wie an jenem Samstag im September 2019, als grüner Rollrasen über das Kopfsteinpflaster der Ottenser Hauptstraße gerollt wurde. Als mitten auf der Straße Tischtennisplatten standen, wo sich bis zum Vortag noch Fahrräder zwischen Autos gedrängt hatten. Als Anwohner auf dem Rasen Yoga machten, wo sonst Autos fuhren, und Beete angelegt wurden, wo sich normalerweise dicht an dicht Parkplätze reihten. Kein ruhendes Blech mehr, sprach die Bürgerschaftsabgeordnete der Grünen, Eva Botzenhard, fröhlich in eine Kamera. Keine nervigen Autos mehr, freute sich eine junge Frau mit Schaufel in der Hand.
Hamburg-Ottensen wurde an jenem Septembertag autofrei auf Probe – für 12 Stunden jeden Tag, zwischen 11 Uhr am Morgen und 11 Uhr am Abend in vier zusammenhängenden Straßenzügen. Zwar durften keine Autos mehr an den Straßenrändern parken; Taxen, Anwohnern mit eigenem Stellplatz und solchen mit einem Schwerbehindertenausweis aber war die Durchfahrt gestattet. Ausnahmen erhielten auch die Zulieferer der drei Apotheken und der Transporter der Blumenverkäuferin.
Sechs Monate lang, bis Februar 2020, wollte der Bezirk hier die Verkehrswende proben. Dafür wurde eine Internetseite in Senfgelb und Pink aufgesetzt, passende Holzbänke und Schilder aufgestellt, die Straße bemalt. Alles formvollendet im Corporate Design. Begleitet von Wissenschaftlern und Fragebögen. Das perfekte Projekt in einem perfekten Stadtteil. Wo kann die Verkehrswende funktionieren, wenn nicht hier?
44 Prozent für die Grünen
Bei der Wahl der Bezirksversammlung im Mai 2019 stimmten 43,9 Prozent für die Grünen; weniger als ein Drittel der Anwohner besitzt ein Auto. Die meisten sind eh schon mit dem Rad unterwegs. Und so waren an jenem Septembertag alle Anwesenden ganz beseelt vom autofreien Ottensen: Die Anwohner, die Autos am liebsten gleich aus der ganzen Stadt verbannt hätten, und die Politiker, die mächtig stolz waren auf ihr Vorzeigeprojekt, das rekordverdächtig schnell Wirklichkeit wurde. Die Grüne Eva Botzenhard ließ sich bei der Eröffnung zu tollkühneren Träumen hinreißen: Das Projekt sei erst der Anfang, sagte sie. Der Anfang von etwas ganz Großem. „Autofreie Städte“, nickte sie. „Auf den Weg haben wir uns längst gemacht.“ Doch das Projekt wird scheitern. Schon bevor es an den Start geht, haben sich zwei Lager gebildet.
Im August 2019, kurz vor Beginn der autoarmen Zeit, trafen sich die Gegner zum ersten Mal in der alten Druckerei in Ottensen. Sie sind viele – und von Anfang an gut organisiert. So fütterten sie hernach nicht nur die sozialen Netzwerke, sondern gekonnt auch bundesweit die Medien. Die Gegner sind keine „Autonarren“ und werden nie müde, das zu betonen. Denn in Wirklichkeit wollen auch sie gerne weniger Autos vor ihrer Tür. Nur eben nicht so. Das Verkehrsprojekt sei: zu radikal, zu unausgewogen, zu chaotisch. Warum wurde das Parken nicht zuerst nur Anwohnern erlaubt? Welche Lösung gibt es für Rentner? Welche für die Gewerbetreibenden, die Angst vor Umsatzeinbußen haben? Die Gegner haben viele Fragen, und die Politik zu wenig Antworten.
Da ist die Rentnerin Gisela Alberti: schlecht zu Fuß. Sie hat, wie es im Projekt vorgesehen ist, ihr Auto schon seit Jahren in einem Parkhaus eingemietet. Bekommt jetzt aber keine Ausnahmegenehmigung, um mal kurz, wie sonst, vorfahren zu können. Da ist Jochen Faiz von der Reinigung, der vorrechnet, ein Fünftel seiner Kunden komme mit dem Auto, 20 Prozent des Umsatzes. Da sind die Apotheken, deren Zulieferer noch keine Ausnahmegenehmigung bekommen haben. Die Blumenhändlerin, die Fahrschule, der Copyshop. Jeden drückte das Verkehrsprojekt woanders. Die Wirklichkeit ist komplexer als die Politik. Und so schwankte an jenem Abend die Stimmung bei den Gegnern zwischen gereizt und ratlos, blieb aber stets kämpferisch. Man wolle sich Hilfe von Anwälten holen.
Zwischen den Sätzen symphonischer Werke wird gehustet, geräuspert und geknarzt – es ist ein Grauen. Warum das so ist und wie es sich ändern kann.
Chts, grrrts, ähem, schntz, hmhmähmm. Schwer zu verschriftlichen dieses Ge… – chrrr, äh-hä-hä-hämmm, hüstel. Entschuldigung, ich habe Sie gerade nicht verstanden! Also, nochmal: Schwer zu verschriftlichen, dieses Geräuspere, dieses Gehuste, diese gutturalen Laute.
Wer sie in aller Klarheit und Vielfalt hören will, der muss in einen Konzertsaal gehen, in die Berliner Philharmonie, den Gasteig in München, die Stadthalle in Wuppertal, was man halt so in der Nähe hat; das Gerotze und Gesprotze ist jetzt, in der eher kalten Jahreszeit, wenn die Menschen beschwert sind durch allerhand Erkältungsmalaisen, am stärksten zu vernehmen. Vorhanden ist es aber immer, und zwar immer genau dann, wenn die Musik schweigt, weil die Dramaturgie einer Symphonie eine Pause vorsieht zwischen den Sätzen.
Geigen sind verstummt, Flöten, Oboen, Hörner haben vorübergehend ausgehaucht, Kontrabässe ruhen, Pauken harren aus, der Dirigent sammelt sich, es ist Spannung im Saal, man will nach dem zweiten Satz von Mahlers 6., der so düster ausklingt, wissen, wie es weitergeht, atemlos sitzt man da, die Pause ist einkalkuliert, wenige Sekunden nur, aber das Publikum durchbricht die Spannung, hält nicht die Luft an, sondern schnieft, räuspert, rauscht und knarzt. Krchhhh, wrrrg, ö-hö-ö-hö, grrtz.
Es wallt in den Satzpausen etwas auf, wie ein Befreiungsschlag. Das Orchester wird daran gehindert, das wieder aufzunehmen, was kurz vorher noch war, es weiterzuführen, zu modulieren. Aus der Stille etwas Neues entstehen zu lassen. Und jedes Mal wieder denkt man sich: Warum muss das so sein, warum dieses Getöse, Gepruste, wo einfach nur Stille sein müsste?
Was man während der Musik mühsam unterdrückt, muss raus, das ist der gängige Deutungsversuch, aber er kratzt doch sehr an der Oberfläche. Denn dafür ist das Gewürge und Geschnäuze zu laut und zu kräftig, fast wie ein eigenständiger Beitrag. Das Kontrastprogramm zu dem, was vorher war.
Konzertsaalbetreiber befördern diese Interludien noch, indem sie – wie etwa, gut gemeint, in der Berliner Philharmonie – eine Sprecherstimme zu Beginn der abendlichen Symphoniekonzerte einblenden, die sonor, aber eindringlich darum bittet, „das Husten, soweit wie möglich, zu vermeiden“.
Da wird man also regelrecht unter Druck gesetzt, ein Räuspern, ein kleines Husterchen, ein Niesen zu unterdrücken, es staut sich dann erst recht etwas an. Sie legen, wie in der Elbphilharmonie, Bonbons im Foyer aus, die knisternd ausgepackt werden müssen, was allein schon stört, die in ihrer schieren Anwesenheit aber – viel schlimmer – vor dem Konzert darauf hinweisen, dass Husten etwas ganz und gar Unmögliches ist an diesem Ort zu dieser Stunde.
Ich! Darf! Jetzt! Hier! Auf! Keinen! Fall! Husten! Und in der Pause zwischen den Sätzen so: Krchhhts, chhhatz, ehemm, chhhtss.
Dabei gibt es in so gut wie fast allen Musikstücken, die an solchen Abenden gespielt werden, Stellen, an denen man ganz wunderbar abhusten könnte, sich räuspern oder auch schnäuzen. Wenn der Pauker loslegt, die Hörner schmettern oder die Kontrabässe brodeln, wenn dieser ganze große Apparat in Bewegung gerät, dann kann man sich die Freiheit nehmen, dem Druck im Rachen nachzugeben, niemanden wird es stören, wenn man es nicht zu offensichtlich macht.
Dass man es aber so heimlich meint nur tun zu können oder in den Satzpausen – dann aber richtig, weil man es quasi unter Zwang bis dahin unterdrückt hat und dann muss es aber auch so richtig raus, quasi schon auf Vorrat bis zur nächsten Pause –, dass eine Kollegin sich noch heute dafür schämt, dass sie einmal während eines Konzerts einen Hustenanfall bekam, all das ist Beweis dafür, dass etwas grundsätzlich falsch läuft in Konzertsälen, in der Rezeption von live gespielter klassischer Musik.
Dieser Text ist zuerst auf der Homepage vom Autor http://winfriedwolf.de/ erschienen.
Für die aufgeklärte Öffentlichkeit erscheint vieles bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg in einem milderen Licht. Der Aufstieg der AfD gestoppt. Der Rechtskurs der FDP-Führung abgestraft. Die Lehren aus Thüringen und Hanau gezogen. Die Verdopplung der Grünen-Stimmen als Ausdruck dafür, dass die Klimafrage ernst genommen wird. Ganz wichtig: Die SPD „kann noch Wahlen gewinnen“.
Fast alle diese Grundaussagen, die in den Mainstream-Medien zu hören und lesen waren, treffen nicht zu.
Die AfD hat im Vergleich zur Bürgerschaftswahl 2015 nur beim Stimmenanteil leichte Einbußen hinnehmen müssen (von 6,1 auf 5,3%). Sie konnte die absolute Stimmenzahl von 214.000 Stimmen fast exakt halten (minus 237 Stimmen – wobei die Wählerinnen und Wähler bei der Bürgerschaft mehrere Stimmen hatten). Das heißt: Trotz des skandalösen Vorführens des Parlamentarismus in Thüringen, trotz Höckes offen rechtsextremen Auftritten, trotz der Bagatellisierung des rechten Terrors in Hanau durch AfD-Prominente – diese rechtsextreme Partei konnte in der aufgeklärten und reichen Hansestadt ihre Position faktisch 1:1 verteidigen.
FDP: Ja, die Liberalen haben absolut deutlich und vor allem bei den Anteilen massiv verloren (von7,4 auf 4,96% bzw. von 262.157 auf 201.162 Stimmen). Das war eine Antwort und Klatsche auf das Lavieren von FDP-Chef Lindner in der Thüringen-Affäre, wobei das FDP-Nordlicht Kubicki dem Kurzzeit FDP-MP in Thüringen ja sogar gratuliert hatte. Der ernste Hintergrund: Die Liberalen stehen auch heute unter spezifischen Bedingungen als Steigbügelhalter für die Rechtsextremen bereit. Siehe Theodor Heuss, der als liberaler Reichstagsabgeordneter am 23. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, nach der Niederlage des Faschismus die Verurteilung der Nazi-Führer in Nürnberg und die Entnazifizierung abgelehnt hatte und dann 1949 zum ersten Bundespräsident gewählt wurde.
Der Aufstieg der Grünen ist tatsächlich bemerkenswert. Allerdings wiederholt sich hier ein Prozess, wie wir ihn seit neun Jahren in Baden-Württemberg und seit sechs Jahren ähnlich in Hessen erleben: Die Grünen haben sich zur neuen bürgerlich-liberalen Partei entwickelt. Sie fördern vor Ort in den Regierungen ohne mit der Wimper zu zucken extrem zerstörerische, neoliberale Projekte: in Stuttgart Stuttgart21, in Frankfurt/M. den Ausbau des Airports, in Berlin die Privatisierung der S-Bahn. Der Aufstieg der Grünen verläuft weitgehend parallel mit dem Niedergang der CDU und mit der fortgesetzten Auszehrung der SPD. Dies hat rein gar nichts zu tun mit „das Klimathema ernst nehmen“. Das glatte Gegenteil ist der Fall: Indem die Grüne Partei in grün-schwarzen (BaWü), schwarz-grünen (Hessen und Schleswig-Holstein), rot-rot-grünen (Berlin), rot-schwarz-grünen (Brandenburg) usw. Landesregierungen als Regierungspartei agiert, wird dort das Klimathema entsorgt. Mehr als ein Jahrzehnt stand der Widerstand gegen die Elbvertiefung in der Hansestadt im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung – lange Zeit mit Unterstützung der Grünen. Seit die Grünen in Hamburg mitregieren, erstmals in einem schwarz-grünen Senat 2008, ist dieser Widerstand massiv geschwächt, zumal zunehmend auch die Umweltverbände in das Machtgefüge und in die Pöstchen-Maschinerie integriert werden konnten. Die Elbvertiefung mit der Hafenerweiterung muss jedoch die zerstörerische Globalisierung beschleunigen; sie wird – zusammen mit dem Anstieg des Meeresspiegels – die Deichsicherheit in Niedersachsen unterspülen. Was die Kreuzfahrtschiffe in Venedig sind, werden die 20.000 TEU-Container-Schiffe in Hamburg werden.
Die SPD als Sieger? Das entspricht in keiner Weise den Fakten. Die SPD verlor nicht nur 6,4 Prozentpunkte – und sank von einem Stimmenanteil von 45,6 Prozent 2015 auf nunmehr 39,2 Prozent. Sie verlor trotz erheblich höherer Wahlbeteiligung sogar absolut Stimmen (von 1.611.274 2015 auf 1.591.098). Etwas überspitzt könnte man auch sagen, dass das 2020er SPD-Ergebnis das „fünftschlechteste in der Geschichte der Hamburger SPD“ gewesen sei, dass es nur 1997, 2001, 2004 und 2008 schlechtere SPD-Wahlergebnisse in der Hansestadt gab. Auf alle Fälle ist es falsch, der SPD den Wahlsieger-Lorbeerkranz zu überreichen.
Falsch ist meines Erachtens auch, davon zu sprechen, die SPD hätte sich deshalb so gut geschlagen, weil sie ihr neues, eher „linkes“ Spitzen-Duo im Wahlkampf in der Hansestadt nicht eingesetzt, ja weil die SPD-Spitze in Hamburg sich jeglichen Auftritt des Duos an der Elbe verbeten hätte. Tatsache ist, dass die SPD in Hamburg mit dem Bündnis mit den Grünen einen Kurs fährt, wie ihn Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans für die Bundessebene zumindest verbal vertreten – und wie er just von Olaf Scholz in Berlin, der für das Bündnis mit CDU/CSU steht, eher nicht vertreten wird.
Interessant könnten noch die Koalitionsgespräche werden. Natürlich spricht viel für eine Fortsetzung von Rot-Grün. Doch SPD-Chef Tschentscher wird sich die Option eines Zusammengehens mit der CDU (die als Koalitions-Junior ja auch deutlich weniger Senatoren-Sitze beanspruchen würde als die Grünen) solange offen halten, bis die Grünen in Sachfragen neue Bücklinge vor der Macht gemacht haben: Weiterer Ausbau des Hamburger Hafens, Bau der A26 Ost, der Hafenautobahn, keine Einschränkungen beim neuen Kohlekraftwerk Moorburg. Dass sie als „Gegenleistung“ ein jährliches Paket mit neuen Fahrradwegen geschenkt bekommen, ist dann tatsächlich geschenkt.
Von Hamburg zurück nach Thüringen und auf die Ebene der Bundespolitik
Die Hamburg-Wahl war so anders nicht. Sie ist lediglich ein Mosaikstein in einer bundesrepublikanischen Gesellschaft, die sich parteipolitisch und im politischen Klima dramatisch nach rechts entwickelt.
Die Grünen als Regierungspartei sind absolut kompatibel mit allen Anforderungen, die das Kapital aktuell stellt. Sie treiben die zerstörerische Globalisierung mit voran (Stichwort: Elbvertiefung). Sie ziehen nicht die Konsequenzen aus der drohenden Klimakatastrophe und beschleunigen nicht den dringend notwendigen Ausstieg aus der Kohleverstromung (Stichworte: neues Kohlekraftwerk Moorburg in Hamburg; das Ja zum fortgesetzten Braunkohleabbau in Brandenburg unter Rot-Schwarz-Grün mit einem grünen Umweltminister). Sie leisten keinen erkennbaren Beitrag zur Verkehrswende (Stichworte: A26, Elektroauto-Hype; Aufgabe der Alt-Idee für ein Tram-Revival in der Hansestadt; kein Widerstand gegen die Verlegung des Bahnhofs Altona nach Diebsteich und stumme Unterstützung für das Schmierenstück, das es eine Woche vor der Wahl gab, als der VCD Nord seine Klage gegen dieses extrem den Schienenverkehr in Hamburg schädigende Vorhaben zurückzog). Sie stimmen Gesetzen zu, die die Polizei zur Bürgerkriegsmacht aufrüstet und ermächtigt. Und sie stimmen der militärischen Begleitung der deutschen Außenpolitik durch Auslandseinsätze der Bundeswehr zu bzw. sie forcieren eine solche Ausrichtung, insbesondere dort, wo sie sich gegen Russland richtet.
Gleichzeitig konnte die AfD bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg ihre Stellung in der Bürgerschaft – ohne Zweifel mit einigem Glück – halten. Sie konnte damit das Thüringen-Desaster verarbeiten und den Hanau-Schock wegstecken. Nach der unglaublichen Provokation, die sich diese Partei in Thüringen leistete, dem feingesponnenen Netz, mit dem sie dort FDP und zumindest Teile der Landes-CDU umgarnt hat und nach dem demokratischen, massenhaften Widerstand gegen die Wahl eines 5-Prozent-Ministerpräsidenten von AfD-Gnaden ist der 5,3-Prozent-Stimmen-Anteil der AfD ein bemerkenswerter Erfolg dieser rechtsextremen Partei.
Dieser Erfolg hat auch zu tun mit der Partei die Linke. Dies trifft weniger die Linke in Hamburg selbst. Diese profitierte in bescheidenem Umfang von den neuen, erheblichen Verlusten der SPD in Hamburg. Sie hat bei den Stimmenanteilen deutlich und auch bei der absoluten Stimmenzahl selbst stark zugelegt (von 8,5 auf 9,1% und von 300.567 auf 368.471 Stimmen). Zu diesem relativ guten Landes-Ergebnis trug sicher bei, dass die LINKE vor Ort und in den Bezirken der Hansestadt ohne Zweifel oft eine gute Arbeit im Sinne fortschrittlicher Politik macht. In Sachen Elbvertiefung und Altona-Diebsteich unterstützt sie beispielsweise die Positionen derjenigen, die die zerstörerische Globalisierung bzw. den Abbau der Schienenkapazitäten bekämpfen.
Doch das ist auch alles. Und damit viel zu wenig. Die LINKE gewinnt weder in Hamburg noch auf Bundesebene angesichts des historischen Niedergangs der SPD. Und sie profitiert nicht von der neuen politischen Polarisierung, die sich mit der Thüringen-Krise auftat.
Bei der Bundestagswahl 2005 erreichte die SPD 34,2 Prozent. Die PDS, damals bereits im Verbund mit der WASG und mit den Spitzenkandidaten Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, erreichte 8,7 Prozent. Seither hat sich die SPD halbiert (2009: 23%, 2017: 20,5% und aktuell in den Umfragen 15%). Die LINKE liegt weiter bei 9 Prozent. Wobei es ein Zwischenhoch 2009 mit 11,9 Prozent gab. Das heißt in der Summe: Die LINKE gewinnt auf Bundesebene nicht von den massiven Verlusten der Bundes-SPD. Sie gewinnt kaum von der Mobilisierung neuer Wählerschichten, wie es sie am 23. Februar 2020 erneut in Hamburg gab.
Diese Stagnation der Linken ist – vor allem auf Bundesebene – schlicht tragisch, ist ein Trauerspiel – und ist zugleich selbstverschuldet. Denn das politische Klima ist durchaus ein anderes als es die Stärke der AfD und die Schwäche der LINKEN erscheinen lassen. Am 25. Februar veröffentlichte die FAZ eine ganzseitige Analyse unter der Überschrift „Kapitalismus am Pranger“. Vorspann: „Die Löhne sind hoch, die Arbeitslosigkeit niedrig, der Sozialstaat wächst. Trotzdem glaubt mehr als jeder zweite Deutsche, dass der Kapitalismus mehr schadet als nutzt.“ Es handelt sich hier nicht um eine Momentaufnahme. Vergleichbare Umfragen und Analysen gibt es seit mehr als zwei Jahrzehnten. Wir erleben in Berlin, dass mehr als Zweidrittel der Bevölkerung für eine Enteignung der Wohnungskonzerne und für eine Vergesellschaftung der Wohnungswirtschaft eintreten. In mehr als einem Dutzend Städten gibt es erfolgreiche Initiativen für eine Rekommunalisierung von zuvor privatisierten Gütern wie Wasser und Energie. Es ist nur so: Diese Offenheit der Bevölkerung für „system change“ ist parteipolitisch links nicht besetzt. Es gibt keine glaubwürdige Alternative auf der Linken. Keine Vision für eine neue, solidarische Gesellschaft.
Das machte gerade die Thüringen-Krise deutlich.
Der Aufstieg der AfD auf Bundesebene – und gerade auch der offen rechtsextremen AfD in Thüringen! – ist nicht nur den rechten Stimmungen im Land geschuldet. Er ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass die LINKE nicht als antikapitalistische Kraft wirkt, dass sie zunehmend als Teil derjenigen gesehen wird, die die kapitalistische Misere verwalten. Was hat die LINKE aus der Thüringen-Krise gemacht? Zunächst und im Landeswahlbarometer profitierte sie von der Krise. Genauer: Bodo Ramelow als „Landesvater“ – hier mit unübersehbaren Parallelen zu Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg – profitierte. Es war noch ein Coup, eine CDU-Frau als Kurzzeit-Ministerpräsidentin vorzuschlagen – ein Coup allerdings vor allem deshalb, weil dies mit sofortigen Neuwahlen verbunden gewesen wäre. Doch dann – was war denn das? LINKE, Grüne, SPD und CDU einigten sich zwei Tage vor der Hamburg-Wahl darauf, dass am 4. März eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung mit Bodo Ramelow als Ministerpräsident gebildet wird, die bis April 2021 im Amt bleiben soll, um dann – wer weiß, ob es dabei bleibt – Neuwahlen durchzuführen. Das heißt, diese Regierung wird dann 13 Monate lang auf die klammheimliche Unterstützung durch die CDU angewiesen sein, sie wird einen neuen Haushalt für 2021 verabschieden müssen, erneut mit Stimmen der CDU, Sie wird damit erheblich Zugeständnissen an rechte und CDU-Positionen machen. Sie wird auf diese Weise dazu beitragen, dass die Krise von CDU und FDP gemildert und der Höhenflug der LINKEN abgeflaut sein wird. Und warum wird so gehandelt? Die AfD sagt: Es geht dem „Machtkartell“ um den puren Machterhalt, um Posten und Diäten. Und ein großer Teil in der Bevölkerung wird dem zustimmen und in den Tenor einstimmen, dass „die Politik“ eben so funktioniere, dass „die Politiker“ eben so agierten. Auf alle Fälle trägt genau eine solche Politik dazu bei, dass die AfD noch mehr Oberwasser erhält, dass der Tabubruch in Thüringen zum Normalfall wird – und sich nach den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt am 6. Juni 2021 wiederholen könnte.
In der Weltwirtschaftskrise, zugleich die große Krise der deutschen Politik, 1929 bis 1933, war es die Spaltung der linken Kräfte und die Ablehnung einer Einheitsfront KPD-SPD seitens der KPD-Führung und der Komintern in Moskau, die den Aufstieg und schließlich den Sieg des Faschismus ermöglichten. Erst die Kombination von Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und Versagen der Linken ermöglichten den Aufstieg der NSDAP von einer 2,6 Prozent-Partei 1928 auf 33,1 Prozent 1932. Die fortgesetzte Stärkung der AfD und das Anwachsen von offen faschistischen Positionen im Land werden heute auch dadurch ermöglicht, dass die Partei DIE LINKE angepasst ist, dass sie den Kapitalismus verwaltet, dass sie dort, wo sie mitregiert, als Teil des bürgerlichen Machtapparats gesehen wird und damit: dass sie keine Vision hat, dass sie keine überzeugende sozialistische Alternative repräsentiert.
Diese Konstellation kann dann brandgefährlich werden, wenn wir eine neue Weltwirtschaftskrise – sei es eine normale, klassische, sei es eine solche, die mit der Bezeichnung „Corona-Crisis“ in die Wirtschaftsgeschichte eingehen könnte – erleben.
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Oben — Wasserschloss in der Dienerreihe 4 am Zusammenfluss des Holländischbrook- und des Wandrahmfleets Speicherstadt, HafenCity, Hamburg, Deutschland
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Cansu Özdemir tritt für die Linkspartei als Spitzenkandidatin zur Hamburg-Wahl an.
Von Marthe Ruddat
Sie will Menschen mobilisieren, die bisher nicht wählen gehen. Mitregieren will sie aber nicht.
Die Autobahn brummt ganz schön laut, wenn es ansonsten still ist in Kirchdorf-Süd im Hamburger Süden. Es sind kaum Menschen unterwegs in der Straße vor dem Hochhauskomplex. 13 Stockwerke, grau-braune Fassade. An einem Spielgerät auf dem verwaisten Spielplatz vor der Hausnummer 8 hängt ein Plakat von Cansu Özdemir. „Konsequent sozial!“ steht darauf.
Özdemir ist spät dran an diesem Freitagnachmittag. Als sie vor dem Haus auftaucht, hat sie das Handy am Ohr, telefoniert mit einem Unterstützer, der sie im Wahlkampf begleitet und die heutige Tour organisiert hat. Wenn andere Politiker*innen beim Haustürwahlkampf von Tür zu Tür tingeln, geht Özdemir lieber von Wohnzimmer zu Wohnzimmer. Sie besucht Mitglieder der kurdischen Community in Hamburg. Wohnzimmerwahlkampf nennt sie das. „Das hier ist mein Wahlkampf“, sagt sie. „Man führt einfach ganz andere Gespräche.“ Die klassischen Infostände macht sie auch, sie seien aber nicht so ihr Ding.
Özdemir ist die Spitzenkandidatin der Linkspartei bei der Wahl zur neuen Hamburgischen Bürgerschaft am kommenden Sonntag. In ihren etwa elf Jahren in der Partei hat sie es weit gebracht. Mit 22 Jahren wurde sie 2011 Bürgerschaftsabgeordnete, vier Jahre später eine der beiden Fraktionsvorsitzenden. Jetzt ist sie auch Spitzenkandidatin.
Mehrere Familien sind in einer Wohnung in dem Hochhaus in Kirchdorf-Süd zusammengekommen, um mit Özdemir zu sprechen. Schuhe aus. Özdemir hat in weiser Voraussicht die mit Reißverschluss angezogen. Es gibt Tee, viel Tee, und Süßes. Özdemir begrüßt alle persönlich. Die Männer und Frauen berichten ihr, was sie schon alles getan haben, um sie im Wahlkampf zu unterstützen, übersetzt sie. Die Gespräche werden meist auf Kurdisch oder Türkisch geführt. Wahlkampf sei in der Community eine kollektive Sache, fast wie ein Wettbewerb sei das Engagement für sie, sagt Özdemir. Sie findet das „süß und rührend“.
Die Atmosphäre in den Wohnzimmern ist entspannt, es wird viel gelacht. Politik ist trotzdem das zentrale Thema. Es gehe um die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen, die Idee, in Kirchdorf-Süd einen kurdisch-deutschen Kindergarten oder ein Frauenhaus aufzubauen, sagt Özdemir. „In der Türkei ist Wählen so etwas wie Ehrensache.“ Die Wahlbeteiligung ist stets hoch. Ein großer Teil ihrer Wahlkampfarbeit bestehe deshalb auch darin, den Menschen zu erklären, wie und wann sie wählen können.
„Was sind denn deine Ziele?“, will eine Frau von Özdemir wissen. Özdemir weiß, welche Themen die Menschen, bei denen sie sitzt, bewegen: Mietendeckel, Mindestlohn, keine Waffenexporte in die Türkei. Routiniert erzählt sie, auf welche Themen die Linken setzen. Özdemir wird im Wahlkampf immer wieder mit den persönlichen Problemen der Menschen konfrontiert. Wie schwer es ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden, wenn man keinen deutschen Nachnamen hat, zum Beispiel. Eine andere Frau möchte wissen, welche Möglichkeiten sie hat, Lehrerin zu werden, nachdem sie durch eine wichtige Prüfung gefallen ist. „Die Prüfung musst du halt machen, so wie ich Statistik machen muss“, sagt Özdemir.
Die 31-Jährige ist offiziell noch Studentin, hat Politikwissenschaften in Hamburg studiert. Für den Bachelorabschluss fehlt ihr nur noch eine Statistikprüfung. Die muss sie nachholen, ist letztes Mal durchgefallen. „Die Leute erwarten oft, dass ich sofort eine Lösung bieten kann, aber ich muss meistens auch erst mal recherchieren“, sagt sie auf dem Weg in die nächste Wohnung.
Özdemir hat nie woanders gelebt als in Hamburg. Sie ist hier geboren, bei ihren kurdischen Eltern am Osdorfer Born aufgewachsen. Die Plattenbausiedlung wurde in den Sechzigern gebaut, galt als besonders modern. Heute gilt der Stadtteil als sozialer Brennpunkt. Die Bewohner*innen hingegen betonen den besonderen Zusammenhalt der Siedlung. So auch Özdemir. Sie lebt immer noch dort.
In ihrer Fraktion ist Özdemir Sprecherin für Soziales, Inklusion, Frauen und Queer. Ihre Wahlkampftermine führen sie unter anderem zum Bündnis für Wohnen und zu einem Verein, der sich für drogenabhängige Frauen einsetzt. Viele Termine hat sie aber auch in ihrer eigenen, der kurdischen Community. Sie versuche auch, andere migrantische Gruppen zu erreichen, von denen sie wisse, dass viele gar nicht wählen gehen würden, sagt sie. „Mein Ziel ist, diese Menschen dazu zu bewegen, wählen zu gehen, und ihnen deutlich zu machen, dass ihre Stimme etwas bewirken kann.“
Eine Gelegenheit in den vergangenen Wochen waren kurdische Hochzeiten. „In Kurdistan ist es üblich und den Leuten auch wichtig, dass ihre Abgeordneten und Bürgermeister zu den wichtigen Ereignissen im Leben kommen“, sagt Özdemir auf einer Hochzeit in einem Harburger Festsaal Anfang Februar. Und das seien nun mal Hochzeiten und Beerdigungen. Praktischerweise erreicht man hier gleich 500 bis 1.000 Menschen. Kurdische Hochzeiten werden fast immer sehr groß gefeiert. Wenn Özdemir ohne Einladung auftauchen würde, das würde niemanden wundern, es wäre eine Selbstverständlichkeit. „Aber ich gehe nur, wenn ich eingeladen bin“, sagt sie. Und das ist sie oft, an diesem Abend bekommt sie gleich die nächste Einladung.
Den Linken –
Ex-Senator zieht mit der Familie nach Hamburg.
Von Jens Anker
Harald Wolf verlässt die Berliner Landespolitik. Der Linken-Ex-Senator zieht mit der Familie nach Hamburg.
Nach 29 Jahren in der Landespolitik ist nun Schluss. Der Linken-Politiker Harald Wolf verlässt das Abgeordnetenhaus und kehrt Berlin den Rücken zu. Am Dienstag habe er der Fraktion mitgeteilt, dass er sein Abgeordnetenhausmandat zum Monatsende niederlege, sagte ein Fraktionssprecher am Mittwoch auf Anfrage.
Wolf zieht es mit seiner Familie nach Hamburg. Die Abgeordnetenhaussitzung am 30. Januar wird seine letzte sein. „Ein guter Abschluss“, wie er den Fraktionskollegen sagte. An diesem Tag soll der umstrittene Mietendeckel endgültig verabschiedet werden. Die Linke, auch Harald Wolf, hatte lange dafür gekämpft.
Harald Wolf will sich mehr auf die Bundespolitik konzentrieren
Während Wolf die Landspolitik verlässt, will er sein Amt als Bundesschatzmeister und im Geschäftsführenden Bundesvorstand der Partei behalten. „Ich habe vor, mich mehr auf die Bundespolitik zu konzentrieren“, sagte Wolf dem „Neuen Deutschland“.
In Berlin blickt der ältere Bruder des Linken-Frakationschefs Udo Wolf auf eine bewegte politische Karriere zurück. Als Student der Politikwissenschaft an der FU startete der gebürtige Frankfurter ganz Linksaußen, als Mitarbeiter der trotzkistischen Zeitschrift „Comune!“ 1985 trat er der Alternativen Liste bei (heute Bündnis90/Die Grünen). Er gehörte bei den Koalitionsverhandlungen zur Verhandlungsgruppe der ersten rot-grünen Landesregierung 1989.
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———————— Unten —Dora Heyenn, Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft (l.), und Harald Wolf, Senator für Wirtschaft, Technologie und Frauen, Berlin…
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Ob sich Polizisten beim G20-Gipfel in Hamburg strafbar gemacht haben, ist noch lange nicht aufgeklärt. Nur ein Beamter wurde angeklagt. Woran liegt das?
Stein- und Flaschenwürfe auf Polizeibeamte, Schlagstockhiebe und Pfefferspray gegen Demonstrierende – gut zweieinhalb Jahre nach dem G20-Gipfel in Hamburg ist die letzte Akte noch lange nicht geschlossen. Mehr als 900 Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Randalierer hat die Staatsanwaltschaft bislang eingeleitet, rund 180 Personen wurden verurteilt. Vergleichsweise überschaubar wirken dagegen die Ermittlungen gegen mutmaßliche Straftäter in den Reihen der Polizei: Von 156 Verfahren wurden 103 eingestellt, nur ein Polizist landete bislang vor Gericht und wurde verwarnt – weil er einem Kollegen den kleinen Finger umknickte.
Direkt gegenüberstellen lassen sich die Zahlen nicht. Die Frage, ob Gewalt strafbar ist, hängt davon ab, wer sie anwendet und wann. Das staatliche Gewaltmonopol liegt bei der Polizei. Doch was sagt es aus, wenn zwei Drittel der Ermittlungsverfahren gegen Polizisten eingestellt werden mangels hinreichenden Tatverdachts? „Polizeigewalt hat es nicht gegeben“, behauptete der damalige Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) wenige Tage nach dem Gipfel und meinte damit: Für systematische Übergriffe von Polizisten auf Bürger gebe es keine Hinweise.
Geben die Zahlen ihm recht? Oder blieben womöglich Straftaten unentdeckt, weil nicht gründlich genug ermittelt wurde?
Früher oder später landen sämtliche Strafanzeigen gegen Polizisten im Einsatz auf dem Schreibtisch von Oberstaatsanwältin Sabine Schmädicke, Leiterin der Abteilung Amtsdelikte. Was und wie lange ermittelt werden soll, bestimmen sie und ihre Kollegen. Von dem Begriff „Polizeigewalt“ hält Schmädicke wenig. Doch sie sagt auch: Wenn ein hinreichender Tatverdacht fehle, heiße das nicht, dass keine Straftat vorgefallen sei. „Wir wissen es einfach nicht“, sagt sie.
Steht ein Polizist oder eine Polizistin im Verdacht, im Einsatz eine Straftat begangen zu haben, prüfen als Erstes andere Polizisten den Fall. Das Dezernat Interne Ermittlungen (D.I.E.) trägt im Auftrag der Staatsanwaltschaft Material zusammen, sucht nach Hinweisen auf strafbares Verhalten und trifft eine Vorauswahl. Dann geht die Akte an die Juristinnen der Abteilung Amtsdelikte, die den Fall strafrechtlich bewerten. Erhärtet sich ein Tatverdacht, erheben sie Anklage. Bei Verfahren gegen Polizistinnen und Polizisten im G20-Einsatz aber sei das schwierig, sagt die Oberstaatsanwältin.
Die Situation während der Gipfeltage war oft chaotisch – Demonstrationen und Proteste in kaum zu überschauender Zahl, vermummte Randalierer, Polizisten in gepanzerter Einsatzmontur, mit individueller Kennung oder ohne. Die Quellen für die Ermittlungen: YouTube-Videos, Aufnahmen der Polizei, Presseberichte, Fotos, Zeugenaussagen. Alles Momentaufnahmen aus bestimmten Blickwinkeln. „Ich sehe eine Szene, von der ich nicht weiß: Wann war das? Wo war das? Welcher Polizeibeamte hat gehandelt?“, sagt Schmädicke. „Und aus welchem Grund kam es zu diesem Geschehen? Das sind alles Fragen, die ich lösen muss.“
Zeugen könnten sich oft nicht an Einzelheiten erinnern, die Einsatzberichte der Polizei seien mit erheblichen Verzögerungen, womöglich erst Tage später, verfasst worden. „Mein Eindruck ist: Die schriftliche Berichtsfertigung, die eigentlich gefordert ist, war objektiv nicht möglich“, sagt Schmädicke. Das alles erschwere die Beurteilung.
Im Zweifel für den Angeklagten: Das gilt auch für die Polizei
Amira Mohamed Ali wird Nachfolgerin von Sahra Wagenknecht. Das Erbe wird schwer. Denn die Fraktion ist nach der Wahl gespaltener denn je.
Es gab da dieses Bild, kurz nachdem Amira Mohamed Ali am Dienstagnachmittag gegen halb vier zur Fraktionschefin der Linken gewählt worden war. Sie stand im Clara-Zetkin-Saal der Linksfraktion im Reichstagsgebäude, umringt von zwei Herren: zum einen Co-Fraktionschef Dietmar Bartsch und zum anderen Diether Dehm, einst Vorsitzender ihres niedersächsischen Landesverbandes und bis heute einflussreicher Strippenzieher in der Partei. Mohamed Ali lächelte in eine Kamera, Dehm und Bartsch neben ihr reckten die Fäuste. Gewonnen!
Die Szene war eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, der Fraktionssprecher scheuchte Neugierige schnell wieder aus dem Saal. Diether Dehm veröffentlichte es dennoch auf Facebook. Danach gingen Mohamed Ali und Bartsch aus dem Raum und vor die Presse und sie stand im Rampenlicht. Das erste Mal so richtig, seitdem sie vor zwei Jahren in den Bundestag eingezogen war.
2017 war Mohamed Ali auf Platz 5 der niedersächsischen Landesliste und als fünfte Niedersächsin für die Linke gerade noch in den Bundestag gerutscht. Zwei Jahre später ist sie Fraktionschefin, Nachfolgerin der bekanntesten Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht. Eine Traumkarriere als Politikerin. Oder doch eher ein Knochenjob als Trümmerfrau?
Wie tief die Fraktion nach dieser knappen Wahl mit zwei Wahlgängen gespalten ist, zeigte sich im weiteren Verlauf des Nachmittags. Caren Lay, die ihre Kandidatur für den Fraktionsvorsitz als Erste angekündigt hatte, hätte als erfahrenere und bekanntere Kandidatin eigentlich die besseren Karten haben müssen. Die Vizefraktionvorsitzende und mietenpolitische Sprecherin sitzt seit 2009 im Bundestag.
Der Frust entlädt sich
Mohamed Ali ist nun mit Unterstützung des sogenannten Hufeisens ins Amt gekommen, jenes machttaktischen Bündnisses aus Reformern und Partei-Linken, das vier Jahre lang eine knappe Fraktionsmehrheit gesichert hatte. Doch der Groll gegen diese Machtbündnis war in den letzten Jahren gewachsen. Nun bekamen die übrigen Kandidat:innen für den Fraktionsvorstand den geballten Frust über diesen knappen Wahlsieg und das Wirken des Hufeisens zu spüren.
Vom Winde verweht
Der erste parlamentarische Geschäftsführer Jan Korte erhielt nur 39 von 68 möglichen Ja-Stimmen. Und das, obwohl er im Bundestag souverän auftritt und ohne Gegenkandidat:in angetreten war. Von den sechs potenziellen Arbeitskreisleiter:innen, die sich auf sechs Stellen bewarben, fielen zwei im ersten Wahlgang durch, Fabio de Masi und Heike Hänsel. De Masi wurde im zweiten Anlauf gewählt, Hänsel fiel erneut durch. Bartsch wird drei Kreuze gemacht haben, dass er mit 64 Prozent in einem Rutsch zusammen mit Mohamed Ali gewählt wurde. In einem anderen Wahlprozedere wäre er wohl genauso abgestraft worden.
Politische und persönliche Fehden sind in der Linksfraktion eng verwoben. Genau das kann für die unverbrauchte Mohamed Ali eine Chance sein.
Amira Mohamed Ali, Muslimin und Juristin aus Hamburg, wird zusammen mit Dietmar Bartsch die Linksfraktion führen. Das ist eine erstaunliche Umkehrung des Prinzips demokratischer Elitenauswahl. Eigentlich wird an die Spitze gewählt, wer sich als besonders robust, vertrauenswürdig oder taktisch versiert erwiesen hat. Mohamed Ali ist eine sympathische, eher nachdenkliche denn agitatorische Parteilinke. Doch sie ist erst seit vier Jahren in der Partei und nicht nur in der Öffentlichkeit ein unbeschriebenes Blatt.
Auch in der Fraktion kann sich niemand an wegweisende Beiträge erinnern. Manche behaupten, sie solle Wagenknecht bloß den Sessel warm halten, bis die wieder Lust hat auf den Job. Gewissermaßen das Modell Putin/Medwedjew. Das ist eines jener bösartigen Gerüchte, die ziemlich typisch sind für die giftige Atmosphäre bei den GenossInnen. Die Wahrheit ist: Der linke Flügel hat schlicht niemand anderen gefunden.
Ein Sieg des Bündnisses von Reformern und linkem Flügel, von Bartsch und Wagenknecht gegen Caren Lay und Katja Kipping also? So sieht es aus. Aber die Sache ist komplexer. Die Grenzen zwischen den drei Lagern sind ausgefranst und überlagert von persönlichen Animositäten.
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2.) von Oben —Die Spitzenkandidaten der Linkspartei für die Bundestagswahl 2017, Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, während des Bundesparteitages der Linken. 2. Tagung des 5. Parteitags der Linken. Vom 9. bis 11. Juni 2017 in Hannover.…
Dass der AfD-Mitgründer seinen Lehrstuhl wieder aufnehmen darf, sollte keine Selbstverständlichkeit sein. Die Proteste sind ein wichtiges Zeichen.
Die einzigen Waffen, die uns in einer Demokratie zustehen sollten, sind unsere Stimmen. Und mit Stimmen meine ich beide Varianten: das Kreuzchen auf unserem Wahlzettel, und das, was wir zu sagen haben. Dass unsere Stimmen mal lauter, mal aggressiver, mal verstörender klingen werden, lässt sich nicht vermeiden. Ja, es ist sogar notwendig.
Gerade in einer Zeit wie dieser, in der Rechtsextreme zu anderen Waffen greifen, um etwa wie kürzlich an Jom Kippur in Halle Jagd auf Menschen zu machen, die in Synagogen beten, in Döner-Imbissen arbeiten oder einfach nur die Straße entlang spazieren.
Nun dürfte es wenig bringen, bewaffnete Terroristen anzuschreien. Sie sollten ja ein Fall für die Sicherheitsbehörden sein, die theoretisch längst alle Möglichkeiten besitzen, rechte Gefährder ausfindig zu machen, bevor diese morden – wenn denn Interesse daran bestünde. Wo wir hingegen unsere lautstarken Zwischenrufe strategisch nutzen können, sind die Orte, an denen jene Politiker sprechen, die den ideologischen Boden für solche Taten bereiten.
So etwa letzte Woche an der Uni Hamburg, als AfD-Mitbegründer Bernd Lucke nach fünf Jahren Beurlaubung seine erste Vorlesung in Makroökonomie halten wollte. Zwischenrufe wie „Nazischweine raus aus der Uni“ und „Ganz Hamburg hasst die AfD“ hinderten ihn daran. Einige Journalist_innen, auch in diesem Blatt, verurteilten diesen Protest. Unis seien Orte des Diskurses, dazu gehörten auch „unterschiedliche Meinungen“. Und Lucke sei schließlich nicht Höcke, also kein eindeutiger „Nazi“, zudem sei er aus der AfD ausgetreten.
1969 detonierten auf einer Werft 20 Kilo Sprengstoff. Täter konnten nie ermittelt werden. Erst jetzt erfahren wir mehr über die Tat von Linken.
Der 13. Oktober 1969 ist ein Montag. Für die Bundesrepublik erweist sich der Wochenbeginn als ein schwarzer Tag. Die Bundeswehr verliert in der Nähe des Fliegerhorstes Memmingen ihren 100. Starfighter, jenes von der US-Rüstungsfirma Lockheed produzierte und 1958 vom damaligen Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß trotz erheblicher Bedenken von Experten in hoher Stückzahl angekaufte Kampfflugzeug F-104 G. Auch wenn sich der 28-jährige Hauptfeldwebel Maximilian Ambs mit dem Schleudersitz retten kann, ist allein schon der symbolische Schaden enorm. Im Gegensatz zu einem anderen Vorkommnis dieses Tages stellt das Unglück eines der Top-Themen in der Presseberichterstattung des darauffolgenden Tages dar.
Im Hamburger Hafen gehen am frühen Morgen des 13. Oktober zwei Warnanrufe ein. Der erste erreicht um 6.13 Uhr eine Polizeistation, der zweite zwei Minuten später den Werkschutz von Blohm & Voss. Die 1877 gegründete Großwerft war mit der Produktion von Kriegsschiffen tief in den Nationalsozialismus verstrickt, wurde nach Kriegsende von den Briten geschlossen, teilweise demontiert, war aber 1955 wieder zugelassen worden und zu Beginn der sechziger Jahre dazu übergegangen, erneut Kriegsschiffe zu bauen. Ein anonymer Anrufer fordert: „Lassen Sie sofort die Korvette ‚João Coutinho‘ räumen: wir sprengen das Schiff in die Luft!“
Es dauert keine 20 Minuten, bis es tatsächlich so weit ist und um 6.32 Uhr ein Sprengsatz explodiert. Getroffen wird jedoch nicht so sehr das Kriegsschiff des Nato-Partnerlandes, sondern eine zwischen Kaimauer und der Korvette befindliche Schute. Den nicht sonderlich großen Kahn, der dem Transport von Gütern und Materialien dient, hat es so schwer erwischt, dass er in kurzer Zeit am Steinwerder-Kai versinkt. An der Korvette selbst, heißt es, sei nur geringer Sachschaden entstanden. Menschen sind nicht verletzt worden.
Die Reaktionen in der Presse sind eher bescheiden. Lediglich das Hamburger Abendblatt und die lokale Ausgabe der Bild-Zeitung informieren ihre Leser über das Ereignis. Später wird sich zeigen, dass das insbesondere bei den für den Anschlag Verantwortlichen für Verwunderung sorgt. Denn sie waren nicht nur davon überzeugt, dass sie eine spektakuläre antikolonialistische Aktion verübt hätten, sondern dass diese auch ohne die Verbreitung eines Bekennerschreibens durch das Medien-Interesse für die gewünschten Multiplikatoreneffekte sorgen würde.
Die Polizei tappt nach dem Anschlag im Dunkeln
Ganz im Gegensatz zum mangelnden Echo in der Presse widmen sich einige linke Gruppen und Zeitungen dem Anschlag. Überraschenderweise ist es aber eine niederländische Gruppierung, die als Erstes darauf reagiert. Ein in dem Nachbarland aktives Angola-Komitee lässt es sich nicht nehmen, die versuchte Attacke als antikolonialistische Aktion uneingeschränkt zu begrüßen. An Spekulationen beteiligen sich mehrere linksradikale Blätter. So wird etwa von der in Westberlin erscheinenden Wochenzeitung agit 883 behauptet, dass die Sabotageaktion von Werftarbeitern verübt worden sei.
Die mit dem Anschlag befassten Ermittler geben am Tag darauf bekannt, dass von den Tätern jede Spur fehle, man aber vermute, dass sie aus den Reihen einer antikolonialistisch eingestellten Organisation stammen würden. Konkret genannt werden das Governo Revolucionário de Angola no Exilio (Angolanische Revolutionsregierung im Exil, GRAE) und die Movimento Popular de Libertação de Angola(Volksbewegung für die Befreiung Angolas, MPLA). Diese beiden Organisationen würden auch, heißt es weiter, über Mitglieder in europäischen Studentenbewegungen verfügen. Mitglieder beider Organisationen hatten immer wieder mit Flugblattaktionen gegen den Bau derartiger Korvetten im Hamburger Hafen protestiert, zuletzt beim Stapellauf der „João Coutinho“ am 2. Mai.
Portugal tut im Übrigen so, als ginge es die Angelegenheit nichts weiter an. Ein Sprecher des in Hamburg befindlichen Generalkonsulats erklärt, dass „die Sache“ sie nicht betreffen würde. Solange die Schiffe nicht der Regierung ihres Landes übergeben worden und bis dahin Eigentum der Werft seien, hätten sie damit nichts zu tun.
Bei den 84 Meter langen und 10 Meter breiten Korvetten, die eine Besatzung von 70 Mann aufnehmen können, handelt es sich um eine eigene Schiffsklasse, die sogenannte „João-Coutinho“-Klasse. Die Schiffe verfügen über zwei 7,6-cm-Geschütze und zwei 4-cm-Maschinenkanonen in Doppellafetten. Portugal will sie zur Bekämpfung der in seinen Kolonien aktiven Guerillabewegungen einsetzen, die für die Unabhängigkeit ihrer Länder kämpfen. Nach ihrer Indienststellung sollen sie bei Patrouillenfahrten und Kampfeinsätzen in Angola, Mosambik, Guinea-Bissau und vor den Kapverden zum Einsatz kommen.
Trotz aller Anstrengungen verlaufen die von der Hamburger Staatsschutzabteilung K4 angestrengten Ermittlungen ergebnislos. Zwar sollen als verdächtig geltende Werftangehörige verhört und Mitglieder des Sozialistischen Lehrlingszentrums (SLZ) über Monate hinweg überwacht worden sein, aber niemand von ihnen wird festgenommen oder gar vor Gericht gestellt. Von den Urhebern des Anschlags fehlt jede Spur.
Erst 50 Jahre später beginnt die Aufarbeitung
Es wird schließlich ein halbes Jahrhundert dauern, bis sich das ändert. Die Betreffenden entscheiden, einen Bericht über Gründe und Hintergründe ihres Anschlags zu verfassen. Ihre Überlegungen sind eingebunden in einen kollektiven Erinnerungsprozess. Als sich die 68er-Bewegung im letzten Jahr zum 50. Mal jährte, trafen sich rund dreißig ehemalige Aktivisten – zum ganz überwiegenden Teil einstige Mitglieder des legendären Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS).
Die Hamburger Ehemaligen wollten es nicht bei einem einmaligen Treffen bewenden lassen, sondern einen Arbeitskreis bilden, um ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten. Als ein Vorgriff auf diesen Schritt ist dem Autor von einem Sprecher der Ehemaligengruppe ein Anfang März 2019 verfasster Bericht zugestellt worden, in dem der Auslöser für den Anschlag im Hamburger Hafen sowie der Ablauf der Aktion minutiös dargelegt wird. Auch wenn niemand der daran Beteiligten bereit ist, mit seinem Namen nachträglich für das Geschehene einzutreten, so gibt es keinen plausiblen Grund, an der Authentizität ihrer Darstellung zu zweifeln.
Es ist allgemein bekannt, dass die „Entdeckung“ der Dritten Welt samt den zahlreichen in Afrika, Asien und insbesondere in Lateinamerika aktiven Befreiungsbewegungen zu den Schwerpunkten der 68er-Bewegung zählte. Diese Hinwendung war maßgeblich durch die Nachrichten vom Vietnamkrieg befördert worden. Die grauenerregenden Bilder, die Tag für Tag von den südostasiatischen Schauplätzen per TV zu sehen waren, erschütterten insbesondere große Teile der jüngeren Generation.
Der Antikolonialismus ging aber weit über Vietnam als US-Stützpunkt hinaus, denn es ging dabei auch um den Restbestand an von europäischen Mächten beherrschten Ländern wie Angola. Im Frühjahr 1969 wurde dieser Aspekt von den Protestierenden aufgegriffen. So schlug etwa der seit dem Mai 1968 wegen Verletzung der Rathaus-Bannmeile mit Haftbefehl gesuchte Karl Heinz Roth, ein SDS-Kader, die Durchführung einer eigenen Kampagne gegen den Neokolonialismus vor, in deren Verlauf auch über den von Portugal in seinen afrikanischen Kolonien praktizierten Krieg aufgeklärt werden müsse.
Diese Bezugnahme kam nicht von ungefähr, denn es war den Protestierenden bereits bekannt, dass drei für die portugiesische Marine bestimmte Korvetten demnächst vom Stapel laufen sollten. Aus diesem Grunde hatte sich auch die MPLA Anfang April in Schreiben an die Geschäftsleitung sowie den Betriebsrat von Blohm & Voss gewandt und darin festgestellt, dass mit dem Bau der Kriegsschiffe eine Entscheidung für den portugiesischen Kolonialismus und damit zugleich auch für die Unterdrückung des angolanischen Volkes gefällt worden sei.
Und am Ende desselben Monats meldete sich mit Amilcar Cabral der Anführer einer anderen Befreiungsbewegung, der in Guinea-Bissau – einer an der afrikanischen Westküste gelegenen portugiesischen Kolonie – aktiven Partido Africano da Independência da Guiné e Cabo Verde (PAIGC) zu Wort. Er spitzte die Vorwürfe dahingehend zu, dass die bei Blohm & Voss gebauten Fregatten „für den Völkermord im Kolonialkrieg gegen unser afrikanisches Volk bestimmt“ seien. Er richte deshalb an alle Kräfte, die sich für Recht und Freiheit einsetzen würden, „… die dringende Aufforderung, der Kollaboration zwischen den Regierungen in Bonn und Lissabon auf politischer, militärischer, wirtschaftlicher und finanzieller Ebene durch wirksame Aktionen ein Ende zu setzen“.
Zur selben Zeit führte der AStA im Auditorium Maximum der Universität eine Informationsveranstaltung zu dem in immer weiteren Kreisen als skandalös betrachteten Fall des Korvettenbaus durch. SDS-Mitglieder verteilten dort ein Flugblatt, auf dem auch der Brief der MPLA abgedruckt war.
Eine Hamburger Kommune bedenkt, was man tun kann
Der Bericht aus der Gruppe von Hamburger Ex-SDSlern beginnt damit, dass der Besuch eines niederländischen Kamerateams geschildert wird, das im Herbst 1968 in einer Hamburger Kommune vorbeigekommen war, um nähere Informationen über die drei im Bau befindlichen portugiesischen Korvetten zu gewinnen. Die in der im Stadtteil Harvestehude gelegenen Hochallee 21 lebende Kommune hatte die Aufmerksamkeit des Filmteams errungen, weil in einigen zum Thema portugiesischer Kolonialismus verteilten Flugblättern ihre Adresse gestanden hatte.
Projekt Heißluftballon Werksgelände von Blohm + Voss: vorne die Einfahrt, mittig das Verwaltungsgebäude, rechts dahinter das Trockendock Elbe 17, oben rechts Dock 10
Ja, wir lesen es wieder des öfteren. Es wird vermehrt über Polizeigewalt berichtet. Müssen protestierende Kinder und Jugendliche nun befürchten das die Freiheit der freien Meinungsäußerung mehr und mehr durch knüppelnde und später vielleicht auch schießende Söldner der politischen Macht – Loser erneut in einen Drecksstaat seinen Einzug hält? Werden schon bald wild gewordene Kohorten die Stellungen der ehemaligen Gestapo einnehmen? Noch laufen die Stiefel ihre ersten, neu zu erlernenden Schritte.
Über ein „warum oder warum nicht“ könnte sicher vieles geredet werden. Nur, ganz allein Verantwortlich für derartige Auswüchse zeichnet immer eine, die Macht beanspruchende Regierung. Vor allen dann, wenn sie ihre Schergen bis an die Zähne bewaffnen muss, um Mittels Gewalt ihre Allgemein verachtenden Schritte lobbyistischer Einflüsterer durchsetzen will. Sollte es ihr nicht möglich sein, mit sich selber ins Reine zu kommen, wird es Zeit zum Rücktritt. Sonst folgt eines Tages unweigerlich der Tritt in ihren Allerwertesten. Denn wenn Volk erst aufzeigt das die Macht von ihm ausgeht, ist es für selbsternannte Platz-hirsche oder -Kühe gewöhnlich zu spät.
Ein verletzter Schüler und seine Mutter leiten rechtliche Schritte gegen die Hamburger Polizei ein. Die Polizei hatte das Handgelenk des 18jährigen gestaucht und ihm mehrere Verletzungen im Gesicht zugeführt, um ihn am vergangenen Freitag von einer Klima-Sitzblockade zu entfernen. Videos der Schmerz- und Würgegriffe gegen teils minderjährige Klimaaktivisten hatten für Empörung in den sozialen Medien gesorgt und erreichten bis zu 270.000 Views.
“Einmal für das Klima demonstriert und schon hat man ein gestauchtes Handgelenk”, kommentiert Patrick Hansen den Vorfall. “Ich würde es auf jeden Fall wieder tun, weil es richtig war. Aber ich fand das Verhalten der Polizei echt nicht in Ordnung. Ein Polizist hat sogar gegrinst. Ich glaube, es hat ihm auch noch Spaß gemacht, uns wehzutun.“
“Ich bin entsetzt darüber, wie gewalttätig die Polizei gegen Jugendliche vorgegangen ist”, sagt Wiebke Hansen und ergänzt: “Aber ich bin stolz auf meinen Sohn, weil er sich demokratisch engagiert und fürs Klima einsetzt.”
Patrick hatte sich während der Polizeimaßnahme mit seinem Handy gefilmt und die schockierenden Aufnahmen veröffentlicht. Ein Arzt bestätigte die Verletzungen schriftlich. Nun prüfen sie mit ihrer Anwältin, ob sie Dienstaufsichtsbeschwerde oder Strafanzeige erstatten.
Mutter und Sohn stehen für Interviews zur Verfügung. Bitte wenden Sie sich dafür an den untenstehenden Kontakt.
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Nach dem G20-Gipfel hat die Staatsanwaltschaft tausende Strafverfahren gegen linke Demonstranten eröffnet. Bei der Aufklärung von Polizeigewalt zeigt sich die Justiz weniger eifrig.
»Hamburger Gitter«, »Welcome to the New World«, »Festival der Demokratie«, »Utopia«, »Roh und gekocht«, »Der Gipfel – Performing G20« – so unterschiedlich sind die Titel und die Genres, von Dokumentation bis Experimentalfilm, zum selben Thema: Es gibt mittlerweile rund 20 Filme über den G20-Gipfel im Jahr 2017 in Hamburg, über den Protest und die Polizeigewalt. Nur einer dieser Filme lief im Fernsehen: Der Privatsender Tele 5 strahlte im vergangenen Jahr die Dokumentation »Vor dem Knall« aus.
Zum zweiten Jahrestag der Gipfelproteste liefen kürzlich vier längere Dokumentarfilme in einem Kino auf St. Pauli. Nach den Vorführungen wurde dort viel diskutiert, etwa über eigene Erinnerungen an die lange Woche des Protests im Juli 2017 oder über Fragen der Militanz. »Da dauerten die Gespräche danach oft noch mal so lange wie der Film selbst«, sagt Rasmus Gerlach, der Regisseur von »Der Gipfel – Performing G20«. »Der Diskussionsbedarf war und ist groß – und dann muss man die komplexen Fragen auch genau beantworten.«
Solche Diskussionen zeigen: Die Empörung über die heftige Polizeigewalt und Grundrechtsverletzungen ist weiterhin groß und wird genährt durch die Tatsache, dass keiner der dafür Verantwortlichen zurücktreten musste. Es geht aber auch um aus dem Ruder gelaufene Militanz: etwa um Brandstiftungen in Geschäften, die sich im Erdgeschoss von Wohnhäusern befanden.
Mediale Kampagne gegen Linke
Die ersten Auswertungen zu dieser Frage waren zwar schnell vorgelegt worden: Die Interventionistische Linke schätzte den zivilen Ungehorsam als erfolgreiche Strategie ein; autonome Gruppen verklärten die diffuse Eruption spontaner Militanz in der für drei Stunden polizeifreien Zone auf dem Schulterblatt regelrecht; gewaltfreie anarchistische Gruppen verurteilten solche häufig mit dem Schlagwort »Insurrektionalismus« versehenen Akte der Militanz als verantwortungslose Fetischisierung von Gewalt; die Linkspartei begrüßte den Einsatz gegen Polizeiwillkür als starkes Engagement für Bürgerrechte. Es entstand jedoch keine große Debatte: Die unterschiedlichen Einschätzungen standen unvermittelt und unverbunden nebeneinander und wurden nur vereinzelt aufgegriffen.
Die meisten beteiligten linken Gruppen hielten sich in den Monaten nach den Gipfelprotesten in der Öffentlichkeit weitgehend zurück, denn es setzten eine heftige mediale Kampagne gegen radikale Linke ein. Auch die Behörden ermittelten mit Hochdruck. Olaf Scholz (SPD), 2017 noch Erster Bürgermeister von Hamburg, hatte nach dem Gipfel »harte Urteile« gegen »Gewalttäter« gefordert. Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat bislang 3.567 Strafverfahren gegen mutmaßliche Gewalttäterinnen und -täter eröffnet, 1.228 gegen namentlich bekannte und 2.339 Verfahren gegen unbekannte Beschuldigte. Zur Anklageerhebung kam es bisher in mehr als 310 Fällen, Hamburger Gerichte haben 147 Angeklagte verurteilt.
Die höchste Haftstrafe verhängte der Amtsrichter Johann Krieten. Er verurteilte einen 36jährigen, der sechs Flaschen auf Polizisten geworfen hatte, wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren mit der Begründung: »Damit es keine weiteren Gewaltorgien gibt, müssen klare Ansagen gemacht werden.« Krieten hat auch zwei weitere harte Urteile gefällt: Er verhängte einmal zwei Jahre und sieben Monate und einmal dreieinhalb Jahre Haft gegen zwei Beschuldigte. In beiden Fällen korrigierte die Berufungsinstanz die Urteile deutlich nach unten.
Die Ermittlungsgruppe fahndet weiter
15 Freisprüche gab es, 19 Verfahren wurden eingestellt. Anwälte von Angeklagten wiesen wiederholt darauf hin, dass in der Vergangenheit bei vergleichbaren Delikten auf Demonstrationen – etwa Flaschenwürfe gegen Polizistinnen und Polizisten – in der Regel milder geurteilt worden war.
Der Aufklärungseifer bei mutmaßlichen Rechtsverstößen von staatlicher Seite erwies sich bislang als weniger ausgeprägt: 96 von 156 Ermittlungsverfahren gegen Polizistinnen und Polizisten wurden eingestellt, in keinem Fall wurde eine Anklage erhoben.
William Tonou-Mbobda suchte psychiatrische Hilfe in der Hamburger Uniklinik – und kam dort ums Leben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Mitte April rief William Tonou-Mbobda seinen Freund David an. William habe ihn gefragt, ob er ihn zum Frisör begleiten könne, erinnert sich David. Er sitzt an einem Nachmittag im Mai in einem Café am Hamburger Hauptbahnhof, seinen richtigen Namen möchte er nicht nennen. David stimmte dem Frisörbesuch zu, anschließend gingen die beiden Männer afrikanisch essen und fuhren dann zur Universität, ins Rechenzentrum. Dort trafen sie sich oft.
„William wollte dort eine Bewerbung schreiben“, erzählt David. Wenn er von der gemeinsamen Zeit mit seinem Freund spricht, hat er ein Lächeln auf den Lippen. „Er hatte vor, ein Praktikum bei einem Wirtschaftsprüfer zu machen.“ Später kauften die Männer ein paar Biere und tranken sie auf einem Platz an der Uni. Es war das letzte Mal, das David seinen Freund sah.
Wenige Tage später war William Tonou-Mbobda tot. Er starb, nachdem er am 21. April im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) vom Sicherheitsdienst fixiert worden war. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts der Körperverletzung mit Todesfolge gegen drei Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes und die behandelnde Ärztin. Die Ermittlungen sollen klären, ob die Securities so gewalttätig gegen Tonou-Mbobda vorgingen, dass er daran starb. Und welche Rolle die behandelnde Ärztin dabei spielte. Schon jetzt gibt es Hinweise, dass vieles schieflief an diesem Ostersonntag.
William Tonou-Mbobda wurde 34 Jahre alt. In Kamerun geboren, kam er vor etwa zehn Jahren nach Hamburg und begann ein Ingenieursstudium. Zuletzt studierte er im Master BWL. Tonou-Mbobda soll an Schizophrenie erkrankt und schon mehrfach in Behandlung gewesen sein, auch am UKE.
Offenbar wusste er um seine Krankheit, im April hatte er sich freiwillig in psychiatrische Behandlung begeben, suchte Hilfe. Wie lange er schon dort war, ist der taz nicht bekannt. Am Morgen des 21. April saß er vor dem Gebäude der psychiatrischen Klinik, Haus W37, auf einer Bank. So schildern es Zeug*innen.
„Lasst mich los, ich kriege keine Luft mehr“
„Mehrere Zeuginnen haben ausgesagt, dass Tonou-Mbobda ruhig auf einer Bank saß und vom Sicherheitsdienst dort weggezerrt wurde“, sagt Gabriele Heinecke. Sie ist die Rechtsanwältin der Schwester von Tonou-Mbobda. Diese hat sich als potenzielle Nebenklägerin dem Ermittlungsverfahren angeschlossen. Als Anwältin hat Heinecke Akteneinsicht. Die Schwester selbst möchte nicht mit der Presse sprechen.
Laut Heinecke berichten mehrere Zeuginnen, dass Tonou-Mbobda von dem Sicherheitsdienst brutal auf dem Bauch liegend festgehalten wurde. Ihm soll mehrfach mit dem Knie in die Nierengegend gestoßen worden sein. „Mehrere Zeugen haben ausgesagt, dass drei Menschen auf ihm saßen und ihm der Mund zugehalten wurde“, sagt Heinecke. Tonou-Mbobda soll mehrfach gerufen haben: „Lasst mich los, ich kriege keine Luft mehr.“
Von solchen Rufen berichtete auch Dilan Balhans Mutter. Auch sie war an diesem Morgen vor dem Gebäude W37 anwesend. Ihre Mutter selbst wolle nicht über den verstörenden Vorfall sprechen, sagt Dilan Balhan. Doch sie habe ihr das Erlebte später erzählt. Demnach lehnte Tonou-Mbobda eine Tablette ab, die ihm zwei Pflegekräfte hingehalten haben. „Die Pfleger sind dann wieder abgezogen und kamen mit drei Security-Mitarbeitern zurück“, sagt Balhan. Es habe keinen weiteren Wortwechsel gegeben, Tonou-Mbobda sei sofort gepackt und auf den Boden geworfen worden. „Meine Mutter hat gesagt, sie hat immer wieder weggeguckt, weil die Situation so aggressiv und brutal war“, sagt Balhan.
Dilan Balhan informierte die „Black Community Hamburg“ über den Vorfall. Kurz danach veröffentlichte diese Videos, in denen Zeug*innen das Geschehene schilderten. Ein Mann berichtete über Tritte gegen Nieren und Rücken von Tonou-Mbobda. Auch von einer Spritze, die ihm gegeben worden sein soll, war die Rede. Mittlerweile sind die Videos gelöscht. Nur in einem Artikel einer Hamburger Zeitung sind noch verfremdete Aufnahmen zu sehen.
Das brachiale Vorgehen des Sicherheitsdienstes ging fließend über in die Wiederbelebung von Tonou-Mbobda. Er konnte reanimiert werden, starb jedoch fünf Tage später auf der Intensivstation. „Eigentlich ist William schon am 21. April gestorben. Danach wurde er nur künstlich am Leben gehalten“, sagt sein Freund David.
Die beiden Männer lernten sich in einem Student*innenwohnheim kennen. Sie haben oft zusammen Mittag gegessen, gingen gemeinsam auf Partys, erzählt David. Dass es Tonou-Mbobda nicht gut ging und dieser Medikamente nahm, wusste er. Er nahm an, es handele sich um Schlaftabletten. „Ich dachte, das liegt einfach am Prüfungsstress, und hatte Verständnis, weil ich wusste, wie stressig das sein kann.“
Mahnwachen vor dem UKE
Gemeinsam mit der Black Community Hamburg demonstrierte David mehrfach für die Aufklärung der Todesumstände von Tonou-Mbobda. Die Gruppe, die sich für die Rechte von People of Colour einsetzt, organisierte bis Ende Juni regelmäßig Mahnwachen vor der Psychiatrie des UKE. Mit Spendenkampagnen sammeln sie Geld, um die Rechtsbeistände der Familie und Gutachten bezahlen zu können und für die Überführung des Leichnams. Mehrere tausend Euro sind zusammengekommen.
Der Tod Tonou-Mbobdas sorgte für viel Aufsehen und Solidarität in der Öffentlichkeit. Am 25. Mai gingen nach Angaben der Veranstalter*innen 3.000 Menschen unter dem Motto #JusticeforMbobda auf die Straße. Die Black Community Hamburg wirft den Verantwortlichen am UKE vor, nicht genug zur Aufklärung des Falls beizutragen. „Sie entwürdigten und kriminalisierten den Getöteten, indem sie das Bild von einem ‚gefährlichen‘ und psychisch kranken Schwarzen Mann zeichnen, der selbst die Schuld für seine Ermordung trägt“, hieß es in dem Demo-Aufruf. Struktureller und antischwarzer Rassismus sei die zentrale Ursache für den Tod Tonou-Mbobdas. Auch ein Mitarbeiter des UKE, der sich bei der taz meldete und anonym bleiben will, sprach von rassistischen Vorurteilen unter Kollegen.
Drei Monate nachdem Tonou-Mbobda starb, stehen diese Vorwürfe weiterhin im Raum. Das liegt nicht nur an den noch laufenden Ermittlungen, sondern auch an Fragen, die der Fall aufwirft und die das Krankenhaus unbeantwortet lässt.
Zum ersten Mal äußerte sich das UKE öffentlich, als auch die taz das erste Mal über den Fall berichtete. Das war vier Tage nach dem Übergriff. Ein Patient habe sich der „Anordnung der Unterbringung widersetzt und musste von dem zwischenzeitlich hinzugerufenen Sicherheitsdienst des UKE fixiert werden“, hieß es in einer kurzen Stellungnahme. Dabei habe er aus ungeklärten Umständen zusätzliche medizinische Hilfe benötigt.
Tonou-Mbobda sollte also auf eine geschlossene Station. Aber warum? Die Klinik will nichts weiter sagen – wegen des Datenschutzes und der laufenden Ermittlungen.
Eine Unterbringung ist laut dem Hamburger Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten nur zulässig, wenn die Gefahr besteht, dass jemand sich selbst oder andere erheblich schädigt und diese Gefahr nicht anders abzuwenden ist. „Die fehlende Bereitschaft, sich behandeln zu lassen, rechtfertigt für sich allein keine Unterbringung“, heißt es im Gesetzestext.
Unten — Route Mbouda-Batcham passant par Bamougong qui vient de connaitre un élargissement; en attente des grands travaux de bitumage dans les prochains mois.…
Ein Sommertag im Juni 2019. Die Uhr am Gebäude der Scientology Kirche im Hamburger Zentrum zeigt fünf nach eins. Kommentar zur Demo in Hamburg gegen den Mord an CDU-Politiker Lübcke.
Dieselbe Zeit wie die Turmuhr der Hauptkirche St. Petri vis-à-vis. Auf der kurzen Strasse dazwischen haben sich Demonstrant*innen versammelt, an die 250 vielleicht. Vor den Reden läuft Musik, schön laut, aber selbst das geht fast unter im Trubel eines ganz normalen Einkaufssonnabends.
Einen Steinwurf entfernt bevölkern Tourist*innen und Einheimische die Mönckebergstrasse, das nächste Schaufenster im Blick, Fastfood oder den Coffee to go in der Hand. Sie mustern die Demonstrant*innen eher wie Tiere im Zoo, sofern sie sie überhaupt zur Kenntnis nehmen. Wer der Mann auf dem Foto ist, das auf ein Plakat am Lautsprecherwagen geheftet worden ist? Auf diese Frage würden die meisten Passanten wohl antworten: Das ist doch dieser Politiker, der erschossen wurde.
Das Bild zeigt in der Tat den Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke, der am 2. Juni auf der Terrasse seines Hauses im hessischen Wolfhagen mit einem Kopfschuss ermordet wurde. Vermutlich von dem Neonazi Stephan Ernst, einem Mann, der noch im März an einem Treffen des Nazi-Netzwerk „Combat 18“ teilgenommen haben soll. Die Kundgebung an diesem Sonnabend richtet sich gegen die „geistigen Brandstifter“, die für solche Taten den Boden bereiten – darum findet sie vor dem Bürogebäude statt, in dem sich die Geschäftsstelle des Hamburger Landesverbands der protofaschistischen AfD befindet.
Die Interventionistische Linke (IL) Hamburg hat zur Demo aufgerufen, für einen Politiker der CDU. Ungewohnt genug, aber in diesen Tagen gerät vieles durcheinander. Die politische Öffentlichkeit beruhigt sich mit den üblichen Ritualen. Auf allen Kanälen sondern „Extremismusexperten“ Statements ab, die TV-Talks verhackstücken den Lübcke-Mord und Politiker*innen üben sich in Abgrenzerei. Gebot der Stunde: nach ganz rechts zeigen, auf die „bösen Nazis“, die offenbar aufgetaucht sind wie Kai aus der Kiste und mit denen man nichts zu tun hat.
Da kam der Evangelische Kirchentag in Dortmund gerade recht. Kirchentage sind bekanntlich ein willkommener Ort für Politiker*innen, hochmoralische, aber folgenlose Ansprachen zu halten und sich Absolution für ihr Tun und Reden abzuholen. So auch diesmal. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) äusserte Abscheu und Entsetzen über den „braunen Terror“ und salbaderte über „verrohte Sprache“ im Netz und anderswo. Der Zukunft vertrauen, das falle „vielen Deutschen heute nicht leicht“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schwadronierte, „Rechtsextremismus“ müsse „in den Anfängen“ und „ohne Tabu“ bekämpft werden.
Sie begreifen nichts, und sie wissen nicht, was sie reden, könnte man in leichter Abwandlung eines Bibelwortes diese Äusserungen kommentieren. Es soll hier gar nicht um die Verstrickungen staatlicher Stellen, voran des Verfassungsschutzes, in Nazistrukturen gehen, wie sie sich beim NSU-Komplex zur Genüge gezeigt haben. Vielleicht wird sich noch herausstellen, wie viel „tiefer Staat“, wie viel „Strategie der Spannung“ in Taten wie dem Mord an Lübcke stecken.
Es geht um etwas Grundsätzlicheres: Rechte Gewalt, faschistischer Terror sind Ausfluss spätkapitalistischer Zerfallsprozesse, einer allgemeinen Verrohung. Dass sich mit Steinmeier ausgerechnet einer der Architekten des Verarmungsprojekts Agenda 2010 über „verrohte Sprache“ beklagt, ist zum einen grotesk und zeigt zum anderen die ganze Ignoranz der politischen Klasse. Wenn man täglich ums materielle Überleben kämpft, kann man schon mal das Vertrauen in die Zukunft verlieren.
Mit ihrem Klassenkampf von oben haben die Herrschenden, vor allem nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz 1990, die Verrohung dieser Gesellschaft angefacht. Die AfD und die Neonazis sind nur ein Symptom dieser Entwicklung. Dass Geflüchtete und alle, die sich auf ihre Seite stellen, zunehmend zum Ziel rechter Gewalt werden, daran haben SPD, CDU, FDP und Grüne ihren Anteil. Indem sie das Asylrecht komplett demontiert haben, indem sie es zulassen, dass Tausende auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken, indem sie dafür sorgen, dass Menschen in das Kriegsland Afghanistan abgeschoben werden. Indem sie, wie SPD und CDU gerade im Bundestag, das Asylrecht immer weiter verschärfen und damit indirekt all denen Recht geben, die in den Asylsuchenden ein Problem sehen.
Sozialismus oder Barbarei – das ist mehr als eine Parole, die man so hinsagt. Wir sind doch längst auf dem Weg in die Barbarei oder sogar schon mittendrin. Die Szenerie bei der Kundgebung vor der Hamburger AfD-Zentrale, passte da ins Bild. Für die fröhlich konsumierende Masse ist doch der Mord an Walter Lübcke so weit weg und so irreal wie ein Fall in irgendeinem „Tatort“ am Sonntagabend oder ein der US-amerikanischen CSI-Serien. Sie haben sich vor den Zumutungen der Gegenwart längst in eine Art Autismus geflüchtet.
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Grafikquelle :
Wenn augerechnet Frank-Walter Steinmeier (SPD), einer der Architekten des Verarmungsprojekts Agenda 2010, sich über „verrohte Sprache“ beklagt, mutet das schon sehr grotesk an. / Viet-Hoang Nguyen (CC BY-SA 3.0)
Die 64 Geretteten von der „Alan Kurdi“ sofort in Hamburg aufnehmen!
Das Rettungsschiff „Alan Kurdi“ hat gestern im Mittelmeer 64 Personen aus akuter Seenot gerettet und an Bord genommen. Die Geretteten brauchen jetzt einen sicheren Hafen, wo sie an Land gehen können. Mit der öffentlichen Weigerung Italiens, die „Alan Kurdi“ einlaufen zu lassen, beginnt jetzt erneut das unwürdige politische Spiel, welches EU-Land die Geflüchteten aufnimmt. Über die Presse hat der rechte Innenminister Salvini geäußert: „Sollen sie doch nach Hamburg fahren“ https://www.tagesschau.de/ausland/sea-eye-105.html
Dazu erklärt Christoph Kleine von der SEEBRÜCKE HAMBURG: „Die rassistische Stimmungsmache von Salvini ist menschenverachtend und abstoßend. Eine wochenlange Seereise nach Hamburg ist absurd und für Gerettete wie Crew gleichermaßen unzumutbar. Die Alan Kurdi wird zudem für die nächsten Rettungseinsätze benötigt. Das Seerecht verlangt die Aufnahme im nächsten sicheren Hafen: Der ist entweder in Italien oder auf Malta. Dann sollten sie umgehend in ein Land ihrer Wahl weiterreisen können.“
Diese Auseinandersetzung darf aber nicht auf dem Rücken von Menschen ausgetragen werden, die gerade mit knapper Not der Hölle der libyschen Internierungslager entkommen sind. Die „Alan Kurdi“ fährt unter deutscher Flagge. Für die Aufnahme der 64 Geretteten gibt es also eine besondere Verantwortung der Bundesrepublik. In dieser Situation fordert die SEEBRÜCKE HAMBURG sofortiges Handeln von der Hansestadt Hamburg.
„Hamburg soll sich sofort und öffentlich zur Aufnahme der 64 Menschen an Bord der Alan Kurdi bereit erklären, um eine wochenlange Irrfahrt zu verhindern. Die Aufnahmekapazitäten in unserer Stadt sind vorhanden, die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung ebenso. Der Teufelskreis aus Gleichgültigkeit und Kompetenzgerangel muss jetzt durchbrochen werden.“, sagt Christoph Kleine von der SEEBRÜCKE HAMBURG.
„Konkret erwarten wir, dass Bürgermeister Tschentscher das Bundesinnenministerium und die italienischen Behörden kontaktiert und die 64 Geretteten nach Hamburg einlädt. Sicherer Hafen wird eine Stadt nicht durch folgenlose Resolutionen, sondern durch konkretes humanitäres Handeln. Der richtige Zeitpunkt dafür ist jetzt.“, so Kleine abschließend.
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Wolf Biermann verbindet in seinem neuen Novellenband pointiert und unterhaltsam persönliche Erlebnisse mit historischen Ereignissen.
m Künstlerclub „Die Möwe“ trifft sich die „Deutsche Demokratische Boheme“. Rein kommt man nur mit Clubausweis, es sei denn, man ist eine schöne Frau oder man besitzt Berliner Schnauze und „quatscht und quetscht sich kess“ durch die Kontrolle.
Im Winter 1961, die Mauer ist gerade gebaut, liegt eine sibirische Kälte über der Stadt. Wer einen solchen Winter mal erlebt hat, kurz nach dem Mauerfall gab es wieder einen, weiß, was es heißt, in einer Wohnung mit Kachelofen zu wohnen, wie Wolf Biermann, der in jenem Winter schon nicht mehr Regieassistent am Brecht-Theater, sondern wieder Student der Humboldt-Uni ist. Einen Clubausweis hat er aber noch. In der „Möwe“ trifft er die schöne Barbara. Sie stellt sich vor als „eene Ballett-Tänzerin anner Komischen“, abweisend und schroff.
Biermann erzählt ihr von der Nazizeit, seiner „Kommunistenfamilie“, seiner „Judenfamilie“ und von der Operation „Gomorrha“, als britische Bomber Hamburg in Schutt und Asche legten. Er trägt sein neuestes Gedicht über die Mauer vor: „Berlin, du deutsche, deutsche Frau, ich bin dein Hochzeitsfreier. Ach deine Hände sind so rauh von Kälte und von Feuer.“ Aus Eitelkeit, nicht Berechnung, schlägt er der Dame vor, ihr das Lied zu Hause in der Chausseestraße zur Gitarre vorzusingen.
Die Geschichte der kurzen, aber heftigen Begegnung mit der Tänzerin gab Biermanns eben erschienener Sammlung von 18 „Liebesnovellen und anderen Raubtiergeschichten“ den Namen: „Barbara“. Die Novelle war eine im 19. Jahrhundert beliebte kurze Prosaform. Deutschlehrer lassen noch heute gerne Jeremias Gotthelfs „Schwarze Spinne“ lesen, vielleicht, weil diese klassische Novelle trotz ihrer christlichen Moral eine Horrorstory ist, die es mit jedem Zombiefilm aufnehmen kann.
Bei Dage Gommunist, bei Nacht Faschist
Im Gespräch mit Eckermann definierte Goethe die Novelle als Prosastück über „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“. Das trifft auch auf Biermanns Erzählungen zu. Aus ihnen lassen sich, in schöner Ergänzung zu seiner 2016 erschienenen Autobiografie, Anekdoten aus seinem Leben und kluge Einschätzungen zu Liebesangelegenheiten und ihren Zusammenhang mit der Politik erfahren.
Im Mittelpunkt jeder Novelle steht eine Person. Ruth Berlau, Manfred Krug, eine Ostberliner Krankenschwester oder Kohlen-Otto, der im Suff Volkskammerabgeordneten in ihren Bonzenschleudern „Heil Hitler!“ zuruft und prompt in den Steinbruch geschickt wird.
Biermann wurde 1936 als Sohn zweier Kommunisten in Hamburg geboren. Schon seine Großmutter – Biermann nennt sie in seinen Lieder und Geschichten „Oma Meume“ – war Kommunistin gewesen. Sie erzählt dem jungen Wolf: „Mich hat mei Garrl im Bett nie jeschont. Bei Dage war er Gommunist. Bei Nacht war er ’n Faschist.“ Oma Meume nutzt keine Verhütungsmittel, ihre Tochter dagegen gehört zur „Avantgarde bolschewistischer Emanzen“. Die KPD empfiehlt den Genossen, Präservative zu benutzen, damit der Pfusch von Engelmacherinnen die Kampfkraft der Partei nicht schwächt. Anfang der dreißiger Jahre gibt die KPD – hat man Wilhelm Reich gelesen? – gar die Losung aus: „Genossen, verschafft euren Frauen einen Orgasmus, sonst wählen sie Hitler.“
Vater Dagobert kam aus einer orthodoxen jüdischen Familie, und als er 1939 wegen Vorbereitung zum Hoch- und Landesverrat vor Gericht stand und nach seiner Konfession gefragt wurde, antwortete der Atheist: „Ich bin Jude!“ 1943 wurde er aus dem Zuchthaus nach Auschwitz deportiert, wo er kurz darauf starb. Biermann beschrieb sich in seinem Lied „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“ später so: „Ich bleibe, was ich immer war: halb Judenbalg und halb ein Goy.“
Als die Mauer fällt, ist Biermann längst kein Kommunist mehr, wohl aber sein Freund Walter Grab, Heine-Spezialist aus Tel Aviv. Walter schimpft Wolf einen Verräter, der antwortet: „Gewiss, das bin ich! Wie Arthur Koestler, wie meine Freunde Manès Sperber und Ernst Fischer: ein treuer Verräter an der kommunistischen Illusion, ein frommer Ketzer, ein guter Renegat.“
Biermann findet die Urszene für Grabs ungebrochene Treue im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948, die dieser Novelle über den Freund in mehrfacher Hinsicht die unerhörte Begebenheit liefert. Grab war Kommunist, kein Zionist, verteidigte aber Israel gegen die einfallenden arabischen Armeen als Reservist. Er liegt mit einem Gewehr „wie aus dem Kriegsmuseum“ mit 10 Schuss Munition in einer Mulde. Da kommt ein Lkw angefahren, Kisten voller Maschinenpistolen werden ausgeladen, die Ende des Zweiten Weltkriegs von der Roten Armee erbeutet worden sind. „Die Sowjetunion war der einzige Staat, der das junge Israel militärisch unterstützte. Genosse Stalin hatte ihm ein Gewehr für diesen Krieg geliefert.“
Erst in der Morgensonne hat Genosse Grab die Gelegenheit, seine Waffe zu begutachten: „Es schmückte sie am Gewehrkolben ein blank poliertes Stahlblech. Darauf das Symbol der Hölle, ein fettes Hakenkreuz.“
Bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt nach der Ankündigung, sich aus der ersten Reihe der Politik zurückzuziehen, streichelt Sahra Wagenknecht kräftig die Seele ihrer Anhänger. Ob ihre Sammlungsbewegung „Aufstehen“ ohne sie überleben kann, ist fraglich.
Wahrscheinlich könnte Sahra Wagenknecht auch aus einem Supermarkt-Prospekt vorlesen, ihre Fans würden genauso elektrisiert an ihren Lippen hängen. Wenige Tage nach der Ankündigung, sich aus der Führung der Sammlungsbewegung „Aufstehen“ zurückzuziehen, schreitet, nein, schwebt die Linke-Politikerin auf die Bühne der „Fabrik“ in Hamburg und lässt sich feiern wie der Superstar, der sie in vielen linken Kreisen ist.
Der Andrang an diesem Donnerstagabend ist dermaßen groß, dass die Veranstalter ein Lokal angemietet haben. Dort können diejenigen, die es nicht mehr in den Saal geschafft haben, ihre Sahra wenigstens auf der Leinwand anhimmeln.
Am Sonntag hatte Wagenknecht bekanntgegeben, aus gesundheitlichen Gründen kürzer zu treten und das Engagement in der von ihr im vergangenen Herbst ins Leben gerufenen Bewegung herunterzufahren. Kurz darauf legte sie nach: Auch für den Vorsitz der Linke-Bundestagsfraktion wird sie nicht wieder kandidieren. Für ihre Partei geht damit eine Ära zu Ende. Für ihre Anhänger bricht eine Welt zusammen.
Faktensicher referiert Wagenknecht über Wohnungspolitik und fordert, „Miethaie“ zu enteignen
Schon auf der Straße vor dem Eingang schwenken Menschen „Aufstehen“-Fahnen, im Innern des Saals bilden Banner und Aufsteller die Kulisse für das Event, an dem unter anderem auch der Linke-Politiker und „Aufstehen“-Mitglied Fabio De Masi und der Sozialdemokrat Mathias Petersen teilnehmen. „Aufstehen für ein soziales Land?“ lautet die Überschrift.
Unterschiede zwischen Show und Arbeit ?
Für Wagenknecht ist es ein absolutes Heimspiel. „Auch Sahra ist ein Mensch“, hatte ihr Parteifreund De Masi anfangs einleitend gesagt, so als müsste man angesichts des überbordenden Personenkults sicherheitshalber noch einmal daran erinnern. „Es tut ihr gut zu sehen, wie viele Leute hier sind“, fährt er fort und fordert das Publikum zum Applaudieren auf.
Faktensicher wie stets referiert die 49-Jährige über Wohnungspolitik, fordert, „Miethaie“ zu enteignen und ärgert sich noch einmal lautstark über die Führungen der Parteien links der Union, die „Aufstehen“ von Anfang an schlechtgeredet hätten. „Um Gottes Willen“, hätten diese gerufen, „hoffentlich stirbt das Projekt schnell!“
Kollektive Trotzreaktion auf dieses politische Todesurteil
Vertreter der Partei Die Linke bei der Weltpremiere von Der junge Karl Marx bei der Berlinale 2017: v.l.n.r. Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch, Katja Kipping, Petra Pau und Kristian Ronneburg
Unter dem Label „Scientists for Future“ (WissenschaftlerInnen für die Zukunft) werben die VerfasserInnen des Aufrufs für ein Umdenken in der Politik. Neben etwa 30 weiteren Forschenden war auch Volker Quaschning, Professor für regenerative Energiesysteme in Berlin, von Beginn an dabei. „Wir haben diese Initiative gegründet, um das unsägliche Versagen in der Klimapolitik aus wissenschaftlicher Perspektive zu kommentieren“, sagte Quaschning der taz.
Es sei verstörend zu beobachten, wie engagierte Schülerinnen und Studierende von Teilen der Politik drangsaliert würden. „Aus unserer Sicht möchten wir sagen: Die Schüler haben recht!“
Die SchülerInnen-Proteste unter dem Motto „Fridays for Future“, die die 16-jährige Schwedin Greta Thunberg ins Leben gerufen hatte, polarisieren seit Wochen die deutsche Öffentlichkeit. Erst am Freitag waren in deutschen Städten wieder Tausende für eine bessere Klimapolitik auf die Straße gegangen; allein in Hamburg, wo auch Greta Thunberg an den Protesten teilnahm, beteiligten sich bis zu 10.000 Menschen.
„We’ll Come United“: Zehntausende Menschen demonstrierten gegen Rassismus. Wir sind eben doch mehr – das ist, was man senden will.
Wohl keiner hat sie alle gesehen. Wenn das Ende des Zuges kommt, war die Spitze schon vor einer Stunde da: Die „Omas gegen rechts“ und die DJs, die Kurden und die Afghanen, die Seenotretter und die Frauen, Ärzte, Eritreer oder Roma: Insgesamt 45 Trucks, dröhnend laut, geschmückt. Ein Karneval gegen Abschiebung, gegen die AfD, gegen die Seehofers und die Orbáns dieser Welt. 450 Flüchtlingsgruppen aus ganz Deutschland haben zur Welcome-United-Parade am Samstag in Hamburg aufgerufen. Sie wollen an die Grenzüberschreitung der Flüchtlinge vom Budapester Bahnhof Keleti vor drei Jahren erinnern; und jetzt schieben die Menschen und die Laster sich in einer nicht zu überblickenden Prozession durch St. Pauli in Richtung Hafen.
Fast am Ende, dort, wo Bässe die Trucks der Seenotrettungsgruppen umwabern, läuft Swantje Tiedemann, eine junge Frau mit blonden kurzen Haaren. Sie ist gewissermaßen auf Betriebsausflug: In Nordfriesland versucht Tiedemann ehrenamtliche Flüchtlingshelfer zu unterstützen, ihr Arbeitgeber ist der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein, dessen Transparent sie und fünf KollegInnen vor sich her tragen. „Musikalisch haben wir es hier hinten nicht so gut getroffen“, sagt Tiedemann, ansonsten aber ist sie zufrieden. Hier sei ein „auffällig breites Publikum“ unterwegs, sagt sie: Familien mit Kindern und Hunden, ältere Leute; solche, die wohl immer schon politisch aktiv waren – und solche, die wohl noch vor wenigen Monaten nicht auf eine solche Veranstaltung gekommen wären.
„Die politische Lage, was in Chemnitz passiert ist, das hat manchen Menschen das Gefühl gegeben: Da müssen wir was machen“, sagt Tiedemann. Genau das spüre sie auch bei ihrer Arbeit mit den Flüchtlingshelfern in der ländlichen Region im äußersten Norden der Republik. „Das sind oft Leute, die etwas älter und konservativ in ihrer Grundhaltung sind. Und trotzdem ist bei ihnen jetzt eine Politisierung festzustellen.“ Heute in einer solchen Masse auf der Straße zu sein, findet sie „beruhigend. Das zeigt, dass man nicht so alleine ist, wie man manchmal denkt.“
Seit dem Sommer hat sich die Lage in Sachen Flüchtlinge fundamental verändert: Im Mittelmeer hat Italien jede menschenrechtliche Hemmung fallen gelassen und seine Häfen gesperrt, in Marokko wird auf Flüchtlinge geschossen. In Deutschland ist mit Horst Seehofer ein Minister für Migration zuständig, der diese für „die Mutter aller Probleme“ hält und danach auch handelt. Und seit dem Wochenende wird die AfD laut einer Umfrage als zweitstärkste Partei in Deutschland gehandelt.
Der Protestbewegung allerdings gab das einen Schub. Die Seenotretter, deren Schiffe an die Kette gelegt wurden, bekamen so viele Spenden, dass sie sich jetzt einfach neue kaufen können – wenn sie denn wüssten, wo sie die Menschen damit hinbringen sollen. Die Seebrücken-Demos schafften es aus dem Stand, nahezu flächendeckend in ganz Deutschland Demonstrationen zu organisieren. 50.000 Menschen gingen unter dem Motto „ausgehetzt“ in München gegen die CSU auf die Straße. Und bei der „#unteilbar“-Demo in zwei Wochen in Berlin sollen es noch viel mehr werden.
Selbst die Elbphilharmonie macht mit
Auf diese Stimmung hatten auch die Veranstalter von Welcome United gesetzt. 25.000 Menschen, so kündigten sie an, würden an diesem Tag nach Hamburg kommen. Um 16.20 Uhr spricht die Polizei von 20.000. Die Agenturen übernehmen die Zahl. Die Organisatoren lassen selbst zählen und melden, es seien 30.000.
Am Abend berichten fast alle großen Medien über die Parade. Aus 35 Städten sind Busse gekommen. Eine größere Aktion haben Flüchtlingsgruppen in Deutschland noch nie auf die Beine gestellt. Und dieser Rekord, er ist vielen hier heute noch wichtiger als sonst: Wir sind eben doch mehr – das ist das Signal, das man senden will.
Der Widerspruch, den der Rechtsruck auslöst, wird immer lauter. Die allermeisten Menschen im Land wollen es weiter offen halten.
Es ist ein Paradox: Die Solidaritätsbewegung ist stark wie nie. Wohl 25.000 Menschen sind am Samstag einem Aufruf von Geflüchtetengruppen gefolgt und haben gegen Abschottung und für ein Ja zur Migration demonstriert. Es gab schon größere Aktionen gegen rechts in diesem Land – aber keine, die von Geflüchteten selber initiiert worden wären. Und ihre Aktion reiht sich ein in eine Serie von Großprotesten gegen eine radikale europäische Abschottungspolitik und rechte Hetze, die im Juni ihren Anfang nahm und nun am 13. Oktober mit der #unteilbar-Demo weitergehen soll. Diese Zeit der totalen Abschottung ist gleichzeitig eine große Stunde der Zivilgesellschaft.
„Migration ist die Mutter aller Gesellschaften“, stand am Samstag auf dem Haupttransparent von We’ll Come United. Prägnanter kann man Innenminister Horst Seehofers unsäglichem Ausspruch, Migration sei die „Mutter aller Probleme“, nicht kontern.
Hinter We’ll Come United steht auch kritnet, ein Netzwerk linker MigrationsforscherInnen. Immer wieder hatten diese in sich in der Vergangenheit gegen xenophobe Stimmungen zur Wort gemeldet. Ihre Aufrufe trugen dabei Titel wie „Solidarität statt Heimat“ oder „Demokratie statt Integration“. Sie zielten damit immer auf einen Konservatismus, der Zuwanderung zwar mit Skepsis gegenüberstand, diese an sich aber nicht komplett ablehnte. Doch diese Haltung erodiert. Der Konservatismus alten Schlages verstand Integration als bedingungslose Anpassung an die Leitkultur. Heute paktiert er zunehmend offener mit Rechtspopulisten, die mit Migration ganz und gar aufräumen wollen.
Kundgebung bei Tschentscher-Auftritt am Dienstag mit Übergabe von mehr als 7800 Unterschriften des „Hamburger Appells“
Das Rettungsschiff „Aquarius“ hat in den vergangenen Tagen insgesamt 58 Personen aus akuter Seenot gerettet und an Bord genommen. Erneut weigern sich die nächstgelegenen EU-Staaten Malta und Italien, die Geretteten an Land gehen zu lassen. In einem einmaligen skandalösen Vorgang versucht Italien sogar, der Aquarius von Panama die Flagge entziehen zu lassen, um weitere Rettungsmissionen zu unterbinden.
Weitere Informationen: https://sosmediterranee.de/press/italien-setzt-panama-unter-druck-der-aquarius-die-flagge-zu-entziehen/
Angesichts dieser Situation fordert die SEEBRÜCKE HAMBURG sofortiges Handeln von der Hansestadt Hamburg: „Hamburg soll sich sofort und öffentlich zur Aufnahme der 58 Menschen an Bord der Aquarius bereit erklären, um eine wochenlange Irrfahrt zu verhindern. Die Aufnahmekapazitäten in unserer Stadt sind vorhanden, die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung ebenso. Der Teufelskreis aus Gleichgültigkeit und Kompetenzgerangel muss jetzt durchbrochen werden.“, erklärt Christoph Kleine von der SEEBRÜCKE HAMBURG.
Mehr als 7800 Hamburgerinnen und Hamburger (Stand 24.9., 8.00 Uhr. 2614 auf Unterschriftenlisten plus 5285 online = 7899) haben gefordert, die Hansestadt zu einem „Sicheren Hafen“ zu erklären. Diese Unterschriften will die SEEBRÜCKE bei einem öffentlichen Bürgergespräch am Dienstag, 25.9. an Bürgermeister Tschentscher übergeben. Vor dem Ort des Bürgergesprächs, der Grundschule im Turmweg (Rotherbaum) ist ab 19 Uhr eine Kundgebung angemeldet, zu der mehrere Hundert Teilnehmende erwartet werden. https://weact.campact.de/petitions/hamburger-appell-fur-seenotrettung-und-einen-sicheren-hafen-fur-gefluchtete-in-hamburg?bucket=fbAD-18-09-03-seebr-hh&source=fbAD-18-09-03-seebr-hh
„Gern hätten wir mit dem Ersten Bürgermeister und den Fraktionen der Regierungsparteien direkt über unsere Forderungen und die Möglichkeiten ihrer Realisierung gesprochen. Stattdessen findet der Dialog nur indirekt über die Presse statt. Das finden wir respektlos gegenüber den 16.000 Menschen, die am 2.9. mit der SEEBRÜCKE auf die Straße gegangen sind.“, schildert Kleine die erfolglosen Bemühungen um einen Gesprächstermin.
Am Mittwoch, 26.9. wird ein Antrag für Hamburg als Sicheren Hafen in der Bürgerschaft behandelt werden. Die SEEBRÜCKE fordert insbesondere die Abgeordneten von SPD, GRÜNEN und LINKEN auf, ihrem Gewissen zu folgen und diesem Antrag zuzustimmen.
Zu dem Argument, ein solcher Beschluss sei „nur Symbolpolitik“, wie es u.a. vom SPD-Fraktionsvositzenden Dirk Kienscherf im Interview mit Hamburg1 vorgebracht worden ist, erwidert Kleine:
„Die 58 Geretteten an Bord der Aquarius sind keine Symbole, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Ihnen könnte von der Stadt Hamburg konkret geholfen werden. Das bräuchte nur etwas Mitgefühl und eine kleine Portion politischen Mut, über diese Einladung der Geflüchteten nach Hamburg in den Konflikt mit Bundesinnenminister Seehofer zu gehen. Ein fatales Symbol sind dagegen Wegschauen und Nichtstun, nämlich für die Fortsetzung der Politik des Sterbenlassens im Mittelmeer und für die politische Feigheit gegenüber dem Rechtsruck.“, so Kleine abschließend.
Am Samstag, 29.9., ruft die SEEBRÜCKE mit auf zur großen antirassistischen Parade UNITED AGAINST RACISM und wird dort mit eigenem Block und eigenem Wagen in Orange präsent sein.
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Mit einer Großdemonstration am 2.9.2018 will die SEEBRÜCKE gegen die Politik der Angst und der Abschottung protestieren, wie sie von vielen europäischen Regierungen betrieben wird.
Die SEEBRÜCKE ist eine bundesweite und zunehmend internationale Bewegung, die in den letzten Wochen in fast 100 Städten Demonstrationen, Kundgebungen und Aktionen gegen das Sterben im Mittelmeer organisiert hat. Die zentralen Aussagen und Forderungen der SEEBRÜCKE sind:
1. Das Ertrinkenlassen von Menschen ist falsch und muss aufhören
2. Seenotrettung ist eine humanitäre Pflicht und kein Verbrechen
3. Es muss sichere Fluchtwege nach Europa geben
Mit-Organisator Daniel Schädler von der SEEBRÜCKE HAMBURG erklärt zur geplanten Großdemonstration:
„Wir wollen, dass sich die Hansestadt Hamburg zu diesen Zielen bekennt und entsprechend handelt. Unsere Stadt soll zum SICHEREN HAFEN werden, in dem Gerettete und Geflüchtete Aufnahme finden und in Sicherheit leben können.“
Die Großdemonstration wird getragen von aktiven Menschen, von Bündnissen und Organisationen aus verschiedenen Bereichen der Zivilgesellschaft, aus kirchlichen und gewerkschaftlichen Gruppen und der antirassistischen Bewegung.
Die Großdemonstration beginnt am Sonntag, 2. September um 14:30 Uhr an den Landungsbrücken. Von dort zieht sie zum Millerntorstadion, wo nach dem Ende des Heimspiels viele Fans des FC St. Pauli zur Demonstration hinzukommen wollen. Abschluss ist ab ca. 17:30 auf dem Rathausmarkt. Die Organisator*innen rechnen mit mehreren Tausend Teilnehmenden.
„Der Erste Bürgermeister, Dr. Peter Tschentscher, hat unseren Wunsch nach einem Gespräch abgelehnt. Das bedauern wir sehr. Wir werden unsere Forderungen an die Hansestadt Hamburg daher direkt zum Rathaus tragen. Eine eindrucksvolle Demonstration am 2.9. wird hoffentlich helfen, dass Bürgermeister, Senat und Bürgerschaft ihre Verantwortung erkennen und einen aktiven Beitrag leisten, das Sterben im Mittelmeer zu beenden.“, so Schädler weiter.
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Siehe auch : Link zur Petition : RETTER VON IN SEENOT
Oben —Die Demonstration „Seebrücke“ des „Seebrücke“ Bündnisses forderte am 7. Juli 2018 über 10 Tausend Menschen in Berlin und an anderen Orten in Deutschland die ungehinderte Seenotrettung auf dem Mittelmeer. Grund dafür war das Festsetzen mehrerer Schiffe, die Flüchtenden in Seenot auf dem Mittelmeer halfen unter dem Vorwurf als Schlepper tätig zu sein.
Das Museumsschiff Old Lady bei der Ankunft im Hamburger Hafen. Am linken Bildrand sind die beiden Museumsschiffe Cap San Diego und Rickmer Rickmers zu sehen. Rechts steht das Musicaltheater, in dem der „König der Löwen“ aufgeführt wird.
Jan Hieber zählt gern: 3.286 Strafverfahren. 1.060 Ermittlungsverfahren. 120 Durchsuchungsbeschlüsse. 500 Fahndungen. Alles seit dem G20-Protest vor einem Jahr. Hieber ist Leiter der „SoKo Schwarzer Block“, über deren Arbeit berichtet er jetzt im G20-Sonderausschuss der Hamburgerischen Bürgerschaft. Von hinten ist im schummrigen Licht des Rathauses kaum zu erkennen, dass er gerade spricht – sein Kopf bleibt reglos, sein perfekt ausrasierter Nacken strafft sich bei jeder Zahl nur ganz leicht, vor Stolz. Wer Hieber von vorn zu sehen bekommt, wie die Abgeordneten, kann sehen, dass sein Bart über dem gebräunten Gesicht ebenso perfekt ausrasiert ist wie sein Nacken, dass auch auf seinem Kopf jedes Haar genau am richtigen Platz liegt, und dass der Polizist gern seine Lippen zusammenkneift, die Stirn runzelt, leicht von unten emporblickt und sagt: „Das ist erstmalig in Deutschland.“
Jan Hiebers ganze SoKo ist von erstmaligem Ausmaß. Zeitweise 170 Polizisten arbeiten sich durch ein gigantisches Datenmaterial von 100 Terabyte, um noch unbekannte Tatverdächtige der Krawalle zu ermitteln, die es während der Proteste gegen den G20-Gipfel am 7. und 8. Juli 2017 gab. Die Beamten durchforsten Videos von öffentlichen Überwachungskameras in U-Bahnen wie auf der Straße, sie durchforsten Handy-Videos, die ihnen Zeugen zugeschickt haben. „Wir sind inzwischen in der Lage, uns die Situationen aus den unterschiedlichsten Blickrichtungen anzuschauen“, berichtet Hieber, und wieder strafft sich stolz sein Nacken. Es sei noch ein Dunkelfeld da, aber die SoKo setze die Puzzleteilchen langsam zusammen. Stück für Stück – wir kriegen sie alle, ist seine Botschaft. „104 Personen konnten wir, auch durch die Öffentlichkeitsfahndung, bislang identifizieren“, sagt er.
Wen die CDU am liebsten kriegen würde, macht sie in jeder Sitzung seit Konstituierung des Ausschusses im August deutlich: die Rote Flora. „Kriegt ihr den Blechschmidt wirklich nicht?“, fragt ein Hamburger Reporter kurz vor der Sitzung Dennis Gladiator. Der CDU-Innenpolitiker hatte angekündigt, Andreas Blechschmidt als Sprecher des linksradikalen Flora-Projekts in den Ausschuss laden zu wollen. Doch er kriegte ihn nicht: weil die Bürgerschaftsverwaltung seine Adresse nicht fand. Dennis Gladiator zuckt mit den Schultern: „Wir wissen nicht, wo er wohnt.“
Wo die Wasserwerfer dröhnten
Dabei ist Blechschmidts Wohnung ganz einfach zu finden. „Guten Morgen!“, grinst der sportliche Aktivist in den Hausflur, als er die Tür seiner WG öffnet. „Komm rein, ich hole nur mein Handy, dann trinken wir draußen einen Kaffee, beim Portugiesen vielleicht?“ Der 52-Jährige hat seinen Namen von der Tür entfernt, „nach der ganzen Hetze“, erklärt er. Aufgeräumte WG, schicke rote Küchenzeile, auf zum Portugiesen.
Wir laufen ins Schanzenviertel, die Sonne scheint, Vogelgezwitscher auf dem Schulterblatt. Wo vor einem Jahr die Wasserwerfer dröhnten und es Steine regnete, liegt jetzt schwarz-rot-goldenes Konfetti auf der Straße. Deutschland ist bei der Fußball-WM gerade ausgeschieden, man trägt es mit Fassung hier, „ich bin jetzt für Kroatien“, erklärt eine Frau ihrer Freundin und bugsiert den Kinderwagen durch die Fähnchen. Die Rote Flora ragt bunt in den hellblauen Hamburger Himmel, „Abschiebungen verhindern!“, steht jetzt dort, wo das Angebot der Fotoagenturen noch immer „NoG20“ zeigt. Wir setzen uns auf eine Bierbank, Blechschmidt bestellt Café Latte.
Wäre er der Einladung in den Sonderausschuss denn gefolgt? „Nee“, lacht er. Wäre er nicht. Im vergangenen April, als es um die von ihn angemeldete „Welcome to hell“-Demo ging, da hätte er denen gern erzählt, was wirklich passiert ist. Aber da wollten sie seine Geschichte ja nicht hören. „Ferk hat gelogen“, sagt Blechschmidt, er meint den Leiter der Hamburger Bereitschaftspolizei, Joachim Ferk. Der sagte im Sonderausschuss aus, die Polizei habe die Demonstration nicht laufen lassen, weil Blechschmidt keinen Einfluss auf die Vermummten gehabt habe. „Das ist reine Fiktion, ich war ja gerade auf dem Weg zu den Vermummten im hinteren Teil des ersten Blocks, um mit ihnen zu sprechen, als Ferk die Demonstration vorne angreifen ließ“. In Blechschmidts Augen flammt Ärger auf, nur kurz, dann wischt er ihn mit einer Handbewegung vom Tisch und zuckt mit den Schultern. Wie oft hat er sich schon darüber aufgeregt, „der Sonderausschuss ist einfach nicht die richtige Form, das Ganze aufzuarbeiten, er dient nur dazu, die Darstellung von Polizei und Innenbehörden als richtig festzulegen“. Die einzige, die etwas zur Aufklärung beitrage, sei Christiane Schneider, er nickt, ja, Schneider von der Hamburger Linksfraktion, sonst halte er nicht viel vom Parlamentarismus, aber die habe viel geleistet rund um G20.
Christiane Schneider macht sich im Sonderausschuss heftig Notizen, legt die Brille ab, setzt sie wieder auf, dann schüttelt sie den Kopf über das, was sie hier gerade zu hören bekommt: Jan Hieber mit seinen nächsten Zahlen. An einem Beispiel möchte er verdeutlichen, wie die SoKo Strukturen geschaffen hat, um die 100 Terabyte für die Suche nach unbekannten Tätern nutzbar zu machen. „Erstmalig in Deutschland“, stolzer Nacken. Die Videos haben wiederholt Bilder eines französischen Pärchens aus Nancy ausgespuckt, bekannt aus dem dortigen Widerstand gegen ein Atommüllendlager. Das erste Mal tauchen die zwei am Abend des 7. Juli auf, um 19.48 Uhr bei Welcome to hell. Dann werden sie um 0.36 Uhr an der Max-Brauer-Allee gezeigt, dann um kurz vor 6 Uhr auf dem Camp im Volkspark Altona, von wo eine Gruppe Vermummter zur Elbchaussee startet, um Autos anzuzünden, dann zwischen 16 und 17.15 Uhr an der Hafenstraße, um 18.19 Uhr auf der Reeperbahn, „wo D. und S. zusammenkommen und S die Hand auf die Schulter von D. legt“, von 19.35 Uhr bis 20.35 am Schulterblatt, um 20.25 Uhr: „S. wirft den ersten Stein“, um 20.35 Uhr: „D. und S. rufen ‚Ganz Hamburg hasst die Polizei‘“. Den Franzosen wird vorgeworfen, in der Schanze rund 300 Personen zu schwerem Landfriedensbruch aufgewiegelt zu haben. Fünf Steinwürfe rechnet die SoKo nach Auswertung des Videomaterials S. zu.
Ein linkes Filmkollektiv hat die Proteste zum G20-Gipfel aufgearbeitet. Die Dokumentation ist eine Abrechnung mit dem Sicherheitsstaat.
Der Panoramablick von der Hamburger Elbe, die funkelnde Elbphilharmonie, das moderne Messegelände, Stadtbilder wie aus einem Marketingvideo. Dagegen geschnitten: spritzende Wasserwerfer, bunter Rauch zwischen Demonstrierenden, PolizistInnen, die einen Hang hinaufstürmen oder hinter Schildern in Deckung gehen. Schon die ersten Minuten der Dokumentation „Hamburger Gitter“ versetzen die Zuschauer zurück in die Zeit des G20-Gipfels.
In der Stadt sprechen viele Menschen immer noch über die Tage Anfang Juli 2017 als würden sie Kriegsgeschichten erzählen. Wann immer die BürgerInnen die Gelegenheit haben, wie jüngst bei einer AnwohnerInnenversammlung im Schanzenviertel, artikulieren sie ihre Wut: auf die Politik, die Polizei und vereinzelt auf die DemonstrantInnen.
Jede neuerliche Fahndung nach vermeintlichen StraftäterInnen, jede weitere Enthüllung, etwa über verdeckte ErmittlerInnen im Schwarzen Block, auch die Verfahren gegen GipfelgegnerInnen wecken neue Aufmerksamkeit. Die Gesprächsinhalte des Regierungstreffens oder die Ergebnisse, wenn es denn welche gab, sind vergessen. Geblieben sind die Proteste von Zehntausenden – und der größte Polizeieinsatz in der bundesdeutschen Geschichte.
Warum bringt das linke Filmkollektiv Leftvision gerade jetzt seine Dokumentation in die Kinos? „Wir wollten nicht, wie üblich, den Protest bloß noch mal aus einem anderen Blickwinkel nacherzählen“, sagt Marco Heinig, einer der vier FilmemacherInnen. Ausschlaggebend für das Projekt sei die massenhafte Öffentlichkeitsfahndung im Dezember gewesen. „Da wurde klar, dass die qualitative Verschiebung des polizeilichen Handelns nicht auf die Gipfeltage beschränkt geblieben ist“, sagt Heinig.
Rechtsstaat unter Druck
Die ZuschauerInnen erwartet daher kein klassischer Rückblick auf die Ereignisse zwischen Welcome-to-hell-Demo und den anarchistischen Stunden im Schanzenviertel – dafür gibt es schon die im März erschienene Doku „Festival der Demokratie“. Stattdessen beleuchten die Filmemacher G20 als Kulminationspunkt von Sicherheitsdiskurse. Es geht um den Rechtsstaat, der durch stetige Ausweitung von Befugnissen für die Sicherheitsbehörden unter Druck gerät, um Gesetzesverschärfungen, Einschränkung von Demonstrationsrecht und Pressefreiheit – und um Polizeigewalt.
Der Film ist eine Entgegnung, und zwar auf die Aussage des damals verantwortlichen ersten Bürgermeisters und heutigen Finanzministers Olaf Scholz (SPD): „Polizeigewalt hat es nicht gegeben.“ Er ist eine kundige Absage an einen Sicherheitsdiskurs, dem alles untergeordnet wird, gegen immer neue, immer repressivere Polizeigesetze. Treffend lautet der Untertitel der Dokumentation: „Der G20-Gipfel als Schaufenster moderner Polizeiarbeit.“
Ganz gewiss, das war er. Ein Lehrstück dafür, wie der sich demokratisch verstehende Staat in Großlagen operiert. Die leichtfertige Einschränkung von demokratischen Grundrechten, bevor auch nur ein einziger Stein geflogen ist, die teils exzessive Polizeigewalt bis hin zum Einsatz von mit automatischen Waffen ausgerüsteten Spezialtruppen.
76 Minuten lang reihen sich die Themen dicht an dicht und wechseln sich die Aufnahmen aus den Gipfeltagen und die insgesamt 17 GesprächspartnerInnen im schnellen Tempo ab. Diese nähern sich gemeinsam der Antwort auf die zu Beginn des Films gestellten Frage: „Markiert dieser G20-Gipfel einen Wendepunkt in der deutschen Sicherheitspolitik?“
Der Hamburger SV steht vor dem Abstieg aus der Bundesliga, wieder einmal. Wie aber kam es dazu, dass der Klub vom Spitzenverein zur Lachnummer geworden ist? Eine Spurensuche unter Gescheiterten.
Mai 2009. Es läuft die 83. Minute des Uefa-Cup-Halbfinales zwischen dem Hamburger SV und Werder Bremen. Der HSV liegt vor heimischer Kulisse mit 1:2 zurück, braucht unbedingt noch ein Tor, um das Finale zu erreichen. Verteidiger Michael Gravgaard will zu Torhüter Frank Rost zurückspielen. Doch der Ball rutscht über eine von Zuschauern aufs Spielfeld geworfene Papierkugel, springt Gravgaard ans Schienbein und von da ins Tor-Aus – Ecke für Bremen. Bis dahin gilt der HSV beim Verteidigen von Standardsituationen als besonders stark. Diesmal nicht. 1:3 – der HSV scheidet aus. Der Niedergang beginnt – ausgelöst von einer Papierkugel. Man kann das tragisch nennen.
Es ist nicht die einzige schmerzhafte Niederlage gegen den Rivalen von der Weser. Innerhalb von drei Wochen treffen die Rivalen gleich viermal aufeinander. Viermal müssen sich die Hamburger geschlagen geben. Bis dahin träumte man in Hamburg von der Champions League, sogar die Meisterschaft schien möglich. Vorbei: Der Abstand zum Meister VfL Wolfsburg beträgt am Ende der Spielzeit acht Punkte. Acht Punkte!
Wenn man nach Gründen sucht, warum der Hamburger SV, Gründungsmitglied der Bundesliga und noch niemals abgestiegen, in diesen Tagen schon wieder gegen den Niedergang kämpfen muss, dann sind die Wochen der Niederlagen vor neun Jahren der Schlüsselmoment. Was mit einer Papierkugel begann, könnte in den ersten Abstieg der Hamburger münden. Nach der Niederlage am Samstag in Frankfurt kann der Klub die Liga aus eigener Kraft nicht mehr halten. Wenn der VfL Wolfsburg, bislang Drittletzter, nicht gar so grauenhaft spielen würde in den letzten Wochen, niemand mehr in Hamburg würde sich für das Bundesligafinale interessieren. So gibt es noch Hoffnung. Ein bisschen. Vielleicht ist es doch noch nicht vorbei mit dem HSV. Vielleicht geht es weiter in der Relegation gegen den Dritten der zweiten Liga. Vielleicht müssen die HSV-Fans doch nicht trauern und sich fragen, wie alles anfing mit dem Absturz ihres einst so stolzen Klubs.
Was nach dem Wurf des Papierkügelchens vor neun Jahren geschieht: Der enttäuschende Verlauf der Saison und die verlorenen Derbys hinterlassen tiefe Spuren. In der Folge kommt es zum Bruch des Erfolgsduos an der Spitze: Bernd Hoffmann und Dietmar Beiersdorfer hatten den Verein innerhalb weniger Jahre vom grauen Mittelfeld der Bundesliga in die Riege der 20 besten Klubs Europas geführt.
Hoffmann hatte 2003 den Posten des Vorstandsvorsitzenden beim HSV übernommen. Fortan feiert der Klub Jahr für Jahr Umsatzrekorde in dreistelliger Millionenhöhe. Hoffmann, der zuvor für Sportfive Übertragungsrechte für Sportereignisse vertickt hatte, ist nicht besonders groß, das Haar ist inzwischen leicht ergraut und nicht mehr so voll wie bei seinem Amtsantritt vor 15 Jahren. Dafür weiß er sich im Zusammenspiel mit der Öffentlichkeit rhetorisch klar und professionell zu positionieren, fängt aber auch schon mal an, unruhig zu zucken, wenn der Druck zu groß und die Fragen zu kritisch werden.
Hamburger Fußballromantiker gegen Investorenmodelle
Seine Art, den HSV nach den Prinzipien des modernen Marketings zu führen, stößt bei den mächtigen Ultras und Fan-Organisationen von Beginn an auf Widerstand. Die Fans, die in den Kurven die Stimmung machen, die wirkmächtigen Choreograpfen organisieren, betrachten den Verein als ihren Besitz. Die meisten von ihnen verstehen sich als Fußballromantiker, reden von Treue und Freundschaft, wenn es um ihren Klub geht. Sie lehnen die Kommerzialisierung des Fußballs ab und fürchten den Einfluss fremder Geldgeber. Sie protestieren lautstark, als Hoffmann 2008 das Investorenmodell „Anstoß hoch drei“ präsentiert, das bei der Finanzierung neuer Spieler helfen soll.
Diese Anhänger, die man getrost als HSV-Extremisten bezeichnen kann, wollen die sukzessive Aufgabe der Selbstbestimmung ihres Vereins verhindern. Im Verein sollen die Mitglieder das Sagen haben, ihre Stimme soll mehr wert sein als die Meinung eines Investors, auch wenn der noch so viel Geld anschleppt. Die Fans, allesamt Mitglieder des Vereins, organisieren sich, werden sportpolitisch aktiv. Auf den jährlich stattfindenden Mitgliederversammlungen geben sie plötzlich Wahlempfehlungen ab und entsenden Vertreter in den Aufsichtsrat, der Hoffmann im Zaum halten soll.
Auf diesen mitunter bis in die Morgenstunden dauernden Veranstaltungen ist viel Langmut gefordert. Die Redner sind meist Männer in Anzügen mit Runzeln im Gesicht, Falten und Altersflecken, die ihre Ausführungen nicht selten mit der Dauer ihrer Mitgliedschaft einleiten, als wäre sie ein Merkmal für Kompetenz und Weisheit. Doch nun gibt es auch Ultras in Kapuzenpullis, die leicht alkoholisiert ins Mikrofon grölen und Hoffmann als einen Feind betrachten, das ihren schönen Fußball kaputt machen will.
Dietmar Beiersdorfer, der andere Teil des Führungsduos, wiederum genießt innerhalb der Fangemeinde Legendenstatus. Er ist als Sportdirektor für die Kaderzusammenstellung verantwortlich und alles andere als ein eiskalt kalkulierender Geschäftsmann. Dem ehemaligen Fußballer wird geglaubt, dass er am HSV hängt. Der heute 54-Jährige ist ruhiger als der manchmal hyperaktiv wirkende Hoffmann. Er spricht leise und langsam, manchmal wirkt das ein wenig hypnotisch. Beiersdorfer ist kein Alpha-Tier und ein Machtmensch schon gar nicht, sondern einer, der Gemeinschaft und Harmonie sucht und in dessen Nähe man sich wohl fühlen kann. Seine anfänglichen Erfolge bei der Verpflichtung neuer Spieler, darunter Rafael van der Vaart und Jérôme Boateng, sowie die regelmäßige Qualifikation für den Europapokal stimmen zunächst optimistisch. Als sich Beiersdorfer aber häufiger teure Fehlgriffe erlaubt, die Nachwuchsarbeit kritisch hinterfragt wird und bei der Auswahl von Trainern immer größere Differenzen entstehen, kommt es zum Bruch mit Vorstandschef Hoffmann. Das Führungsteam zerbricht.
„Der Hauptgrund für die Eskalation war, dass bei allen Beteiligten nach den Werder-Wochen die Nerven blank lagen: bei Trainer Martin Jol, bei Didi und bei mir“, sagte Hoffmann damals. Dass die erfolgreichste Saison seit 1983 hinter dem HSV lag, nahm keiner der beiden mehr wahr. Stattdessen diskutieren sie über Versäumnisse – und trennen sich im Streit. Sportchef Beiersdorfer hatte seinem Vorstandskollegen systematische Kompetenzüberschreitung vorgeworfen. Er stellt dem Aufsichtsrat die Vertrauensfrage und verliert den Machtkampf. Sein Vertrag wird aufgelöst, er muss gehen, Hoffmann aber darf bleiben.
Der Hamburger SV muss fortan ohne starken Sportchef auskommen. Wunschkandidaten sagen kurzfristig ab. Die Lösung für das Vakuum löst der Aufsichtsrat im Mai 2010, von Aktionismus gedrängt, mit einer eigentümlichen Entscheidung: Er bestellt den bisherigen Praktikanten der Presseabteilung Bastian Reinhardt, damals 35, einen mäßig begnadeten Verteidiger, zum neuen Sportvorstand. Die Fans lechzen nach einer Identifikationsfigur, Reinhardt wird nach sieben Jahren im HSV-Dress bei seinem letzten Kurzeinsatz von der Kurve gefeiert und eignet sich nach Auffassung der Kontrolleure als eine Art Übergangslösung. Eine, die es öfter gibt in Hamburg. Ehemalige sollen es richten. Männer mit HSV-Vergangenheit werden mit schwer nachvollziehbarer Regelmäßigkeit in für sie nicht geeignete Positionen gedrängt. Schon viele Cheftrainer sind dieser wackligen Konstellation zum Opfer gefallen. Sie alle wussten, dass der HSV wie eine Windmühle funktioniert, in der zuallererst sie zermahlen werden, wenn es stürmisch wird. Jedoch sind die Konditionen in Hamburg zu lukrativ, als dass man einen Einsatz einfach ablehnen könnte.
Diplom-Kaufmann Hoffmann bleibt der starke Mann beim im Klub. Er wirkt mit den vielen Baustellen und dem vereinspolitischen Druck zunehmend überfordert. Er bemüht sich darum, das Image eines Top-Klubs aufrechtzuerhalten. Dabei greift zu einem Mittel, das sich schon mehrfach bewährt hat, um die stets aufgeregte Öffentlichkeit zu beruhigen. Hoffmann verpflichtet mit Ruud van Nistelrooy einen Weltstar von Real Madrid. Der sorgt kurzfristig für Euphorie, entpuppt sich aber mittelfristig als Problemfall. Der HSV und sein Umfeld haben sich schleichend einer Systematik unterworfen, bei der es nicht primär darum geht, ob eine Maßnahme inhaltlich richtig ist, sondern wie sie sich mithilfe der Methoden von Public Relations verkaufen lässt.
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Was sind soziale „Klassen“ und wie kann man sie untersuchen? Der Blick in Klassenanalysen der 1970er Jahre lohnt nach wie vor.
Die Frage nach „Klassen“ und „Klassenpolitik“ ist wieder zurück in der öffentlichen und linken Diskussion. Das mag man begrüssen, zeugt sie doch zumindest von der Einsicht, dass die Linke oftmals kaum noch Menschen jenseits linksliberaler Filterblasen und subkultureller Milieus erreicht. Bislang wird die Debatte jedoch relativ oberflächlich geführt. Dass „Klassenverhältnisse“ und „Klassenfragen“ irgendwie wichtig sind und die Linke Kontakt zur „Arbeiterklasse“ braucht, darüber herrscht zwar neuerdings verdächtig grosse Einigkeit.
Allein, was damit genau gemeint ist, bleibt meist diffus: Wer oder was etwa ist die „Arbeiterklasse“ und wie sieht sie heute aus, worum geht es in „Klassenkämpfen“ – und wozu braucht man den Klassenbegriff überhaupt? Bleiben solche Fragen ungeklärt, ist seine Verwendung nicht nur phrasenhaft und performativ, im schlechtesten Fall platte Koketterie und radical chic. Es lässt sich vor allem auch nicht konkreter sagen, was genau eine vielbeschworene „neue“ oder „inklusive“ Klassenpolitik eigentlich sein soll.
Darum lohnt ein Blick in ältere Theoriebestände: Die vom Institut für Marxistische Studien und Forschung (IMSF) vorgelegte Studie behandelt die Gliederung und Entwicklung der westdeutschen Klassen- und Sozialstruktur der Jahre 1950–1970. Zusammen mit jener des Projekts Klassenanalyse (1973) ist sie eine der beiden umfassenden empirischen Klassenstrukturanalysen im Westdeutschland der 1970er Jahre und gehört zum Kanon der deutschsprachigen Klassendebatte. Der hier besprochene erste Band zu „Klassenstruktur und Klassentheorie“ behandelt in Beiträgen von Heinz Jung, Christof Kievenheim und Margarete Tjaden-Steinhauer sowie Karl Hermann Tjaden theoretische Grundlagen, der zweite und dritte dann die empirischen Ergebnisse. Auf Basis orthodox-marxistischer Klassentheorie werden hier Kategorien, Instrumente sowie das methodische Vorgehen empirischer Klassenanalyse entwickelt.
Struktur und Formierung
Deren Gegenstand sind zwei Dinge: einerseits die Struktur der Gesellschaft und Klassen entsprechend der Ökonomie und Produktionsverhältnisse, andererseits die Formierung der so bestimmten sozialen Gruppen zu politisch wirksamen Akteuren. Diese Unterscheidung ist wichtig, sollen Kurzschlüsse und ein Ökonomismus vermieden werden, der dem sogenannten Arbeiterbewegungsmarxismus zwar gerne vorgeworfen wird, von dem sich die Autoren aber abgrenzen: „Fragen der Ausbildung der realen Interessen, des Bewusstseins und des Verhaltens der Klassen und Schichten in den realen Kämpfen können vom Ansatz der Strukturanalyse keine befriedigende Antwort erhalten.“ (S. 18)
Weder Bewusstsein noch konkrete Interessen von Angehörigen der Klassen lassen sich also unmittelbar aus der Stellung im ökonomischen Prozess ableiten – sie müssen gesondert und als kulturell sowie politisch vermittelt untersucht werden. Die Autoren stellen klar:
„Der Klassenbegriff ist […] die Widerspiegelung eines wesentlichen Zusammenhangs der Realität, der mit dem materiellen Lebensprozess der Gesellschaft verbunden ist. Dieser Zusammenhang wird zerrissen, wenn der Begriff verselbständigt und nicht mehr in Zusammenhang mit der empirischen Wirklichkeit gebracht bzw. nicht mehr aus dieser entwickelt werden kann.“ (S. 17)
Gravitationszentrum der Klassenbeziehungen
Grundlage der Studie ist eine historisch-materialistische Gesellschaftsanalyse, die der zweite Abschnitt des Buches entwickelt. Die Produktionsverhältnisse werden als zentrale soziale Struktur und Ausgangspunkt zur Bestimmung der Klassen ausgemacht; gemeint sind damit jene Verhältnisse, die historisch konkret die Organisation der Arbeit zur Produktion und Reproduktion der Gesellschaft bestimmen. Insofern diese in der Geschichte auf Privateigentum an den dafür nötigen Produktionsmitteln beruhten, war und ist der gesellschaftliche Produktionsprozess ein herrschaftsförmiger: Kraft der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel kann ein Teil der Gesellschaft den anderen für sich arbeiten lassen und sich das Mehrprodukt seiner Arbeit aneignen.
In dieser Trennung und Ausbeutungsbeziehung gründet die Existenz sozialer Klassen, und über ihre je konkrete Stellung zu den Produktionsmitteln sind sie den IMSF-Autoren zufolge auch genauer zu bestimmen. Der gesellschaftliche Aneignungsprozess ist also nicht nur der Ursprung antagonistischer Klassenverhältnisse – seine Organisation ist auch die Instanz, die durch Arbeitsteilung, Technologie und Produktivkraftentwicklung die Zusammensetzung der Klassen sowie den Charakter ihres Verhältnisses bestimmt:
„Ist die Klassenspaltung entstanden, so wird die Schaffung, Aneignung und Verteilung des Mehrprodukts das Gravitationszentrum der Klassenbeziehungen […]. Das innerste Geheimnis und die spezifische Form der Klassenbeziehungen erschliesst sich aus der Form, in der unbezahlte Mehrarbeit, das Mehrprodukt den unmittelbaren Produzenten abgepresst, abgepumpt wird.“ (S. 69)
Eben dort setzt Klassenanalyse folglich an. Darüber hinaus ist so auch eine Aussage über den kritischen Gehalt des Marxschen Klassenbegriffs möglich: Er liegt nicht einfach im Hinweis auf die Existenz oder Grösse sozialer Klassen – sondern in dem auf das antagonistische Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis, das ihnen zu Grunde liegt, und die darin gründenden Interessen- und Bedürfnisstrukturen. Das markiert den zentralen Unterschied zu eher deskriptiven Begriffen wie „Schicht“ oder „Milieu“.
Warencharakter der Arbeitskraft
Die Abschnitte 3 und 4 entwickeln dann Kategorien zur Analyse der Klassenbeziehungen der kapitalistischen Gesellschaft. Zuerst wird die historisch spezifische Form der Ausbeutung untersucht. Mehrarbeit wird hier als unbezahlte Lohnarbeit geleistet; ihr Mehrprodukt nimmt aber nicht zwangsläufig die Form stofflicher Gegenstände an – entscheidend ist die produktive Arbeit im Sinne der Mehrwertproduktion: „[V]om Standpunkt der Zielstellung der kapitalistischen Produktionsweise“ ist hier „nur die Arbeit und ihr Verrichter produktiv, die und der Mehrwert erzeugt und in einem weiteren Sinne zur Verwertung des Kapitals als Quelle unbezahlter Mehrarbeit beiträgt“ (S. 83). In diesem Sinne produktive Arbeit wird aber nicht allein in der materiellen industriellen Produktion verrichtet, sondern auch von Lohnarbeitern anderer Bereiche, etwa dem Verkauf und Transport, dem Sorge- und Pflegesektor oder in der geistigen und immateriellen Produktion.
Zu diesen Lohnabhängigen, die unbezahlte Mehrarbeit leisten und damit als Verwertungsmaterial des Kapitals zur Quelle von Profit werden, gehören aber auch Angestellte, die den Produktionsprozess stellvertretend für die Kapitalisten leiten und so zur Kapitalverwertung beitragen (von den Autoren aber nicht zur Arbeiterklasse gezählt werden). Insofern dient die Kategorie der produktiven Arbeit zwar zur Bestimmung kapitalistischer Ausbeutung – als Instrument zur genaueren Gliederung der Klassenstruktur sowie zur Bestimmung der Arbeiterklasse, so die Autoren, dient sie nicht.
Dafür gehen sie vom Warencharakter der Arbeitskraft als Schlüsselkategorie aus: Seine Analyse ist den IMSF-AutorInnen zufolge „die Grundlage zur Bestimmung der modernen Arbeiterklasse“, denn sie „vermittelt entscheidende Einblicke in die Anatomie dieser Klasse als ausgebeutete Klasse und als Antipode des Kapitals“ (S. 101). Er ist Ergebnis eines Proletarisierungsprozesses, der vorkapitalistische Produzenten gewaltsam von ihren Produktionsmitteln trennt und den modernen Lohnarbeiter hervorbringt, der seine Arbeitskraft als Ware verkaufen muss.
Die Autoren entwickeln daher den Marxschen Begriff der Arbeitskraft und untersuchen die Bedingungen und Kosten ihrer Produktion und Reproduktion sowie ihre Konsumtion, sprich ihren Einsatz in der kapitalistischen Produktion. Die Untersuchung des Grades an Proletarisierung, der „vollen Entwicklung“ des Warencharakters der Arbeitskraft, der konkreten Qualifikation und Beschaffenheit der Ware Arbeitskraft sowie ihrer Rolle im Produktionsprozess und ihrer Stellung in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit, so die Annahme, liefert Kriterien zur Gliederung der lohnabhängigen Klasse:
„Wenn die Existenz des Lohnarbeiters an seine Arbeitskraft und ihren Verkauf als Ware gegen Lohn gebunden ist, so bringt der gesetzmässige Zusammenhang der Bestimmung des Lohnes, das Lohngesetz, auch den ökonomischen Zusammenhang, das gemeinsame ökonomische Interesse als Klasse und die gesellschaftliche Stellung der Arbeiterklasse im Kapitalismus zum Ausdruck. Es ist das Verteilungsgesetz des Kapitalismus für die Arbeiterklasse.“ (S. 111)
Gliederung der Arbeiterklasse
Davon ausgehend legt der fünfte Abschnitt Grundelemente der Klassen- und Sozialstruktur des entwickelten (staatsmonopolistischen) Kapitalismus dar. Neben den Gruppen der (Monopol-)Bourgeoisie, den Mittelschichten und Übergangsgruppen wird hier eine genauere Gliederung der Arbeiterklasse entwickelt. Deren Untersuchung müsse mehrere Dimensionen berücksichtigen: Erstens die Stellung im Reproduktionsprozess, also die Verteilung auf Wirtschaftsbereiche und die innere Struktur der jeweiligen Branchen und Produktionslinien; zweitens die Stellung in den je konkreten Formen des Kapitalverhältnisses, sprich die Gliederung nach sozialökonomischen Beschäftigungssektoren; drittens die konkrete Stellung in der kapitalistischen Organisation der Arbeit, viertens dann die Schichtung unter anderem nach Lebenslagen, Alter, Geschlecht, Herkunft, Wohnort.
Geht es nach der IMSF-Studie, sind nicht alle Lohnabhängigen gleich Teil der Arbeiterklasse, und diese wiederum ist nicht identisch mit der Arbeiterschaft des Industrieproletariats. Unterschieden werden „Kern“,„Gesamtklasse“ und „Übergangsgruppen“. Als „Kern der Arbeiterklasse“ macht die Studie zwar „im weiteren Sinne die Arbeiterschaft in der materiellen Produktion und im engeren Sinne in der industriellen Grossproduktion“ aus, weil die Proletarisierung sowie Entfaltung des Warencharakters der Arbeitskraft und damit der Klassenantagonismus hier am weitesten entwickelt sei. (S. 147)
Diese Gruppe sei entsprechend Qualifikationsstufe, Arbeitsfunktion sowie Form und Höhe der Entlohnung weiter zu untergliedern. Von „zunehmender Bedeutung“ seien aber auch „Gruppen der Arbeiterklasse in Kaufhäusern und Handelszentralen, in staatlichen Institutionen, Konzernverwaltungen, Versicherungen, Grossbanken usw.“ (S. 149), denn auch hier erreiche die Beschäftigungskonzentration ein der Industrie vergleichbares Ausmass. Mit dem Wandel der politökonomischen Konstellation wandelt sich folglich auch die „Kernarbeiterschaft“. In diesem Sinne wäre eine Neubewertung vor dem Hintergrund der heutigen Situation spannend: Gibt es heute noch einen „Kern“ der Arbeiterklasse – und falls ja, wer stellt ihn?
Im Lichte heutiger Entwicklungen besonders interessant ist auch die Frage der Intelligenz und geistigen Arbeit, der die Studie abschliessend einen eigenen Abschnitt widmet. Christof Kievenheim untersucht darin die Schicht der Intelligenz im Kapitalismus sowie die Rolle und Ausgliederung geistiger Arbeit aus dem Produktionsprozess im Zuge technologischen Wandels und der entsprechenden Neuzusammensetzung des Kapitals. Diese Impulse heute wieder aufzunehmen und vor dem Hintergrund aktueller Umbrüche in Arbeit und Produktion – Stichwort Digitalisierung – klassenanalytisch zu aktualisieren wäre hochinteressant.
Die Debatte unterfüttern
Der Band steht im Zeichen der Diskussion um die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (also die an Lenin anschliessende Theorie der Verschmelzung von Staat und Finanzkapital bzw. Monopolbourgeoisien in den imperialistischen Zentren), ist dicht geschrieben, theoretisch anspruchsvoll und ein Arbeitsbuch. Sein Gebrauchswert gerade für heutige Debatten indes besteht einerseits darin, Grundbegriffe marxistischer Klassentheorie zu entwickeln und in einer (gesellschafts-)theoretischen Tiefe zu erden, die heutige Beiträge meist vermissen lassen.
Zum anderen legt er eine Reihe klassenanalytischer Kategorien vor und diskutiert Methoden der empirischen Klassenanalyse, die Interessierten einen konsistenten Einstieg in die Auseinandersetzung bieten können. Die weiteren Bände zur „Sozialstatistischen Analyse“ liefern dann Anschauungsmaterial für die Operationalisierung der entwickelten Kategorien zur Analyse der Klassen- und Schichtungsverhältnisse der damaligen Bundesrepublik.
Soll die Diskussion um „Neue Klassenpolitik“ kein innerlinker Hype bleiben und an Substanz gewinnen, lohnt es, den theoretischen Fundus früherer Klassendebatten zur Kenntnis zu nehmen und neu zu entdecken, statt ihn als Unterbau einer angeblich „alten“ Klassenpolitik abzutun. Selbstverständlich kann man dabei zu dem Schluss kommen, dass das hier entwickelte analytische Instrumentarium überholt und der heutigen Situation nicht mehr angemessen ist. Das würde allerdings voraussetzen, dass man es überhaupt kennt und angemessen zu diskutieren in der Lage ist – um dann zur Entwicklung einer Klassenanalyse auf Höhe der Zeit beizutragen. Nur so liesse sich denn auch weiter klären, was genau nun Form und Inhalt einer entsprechenden linken Klassenpolitik sein muss. Und dann kann aus der Diskussion über die Arbeiterklasse ja vielleicht auch mal wieder eine mit ihr werden?
Institut für Marxistische Studien und Forschung (Hg.): Klassen- und Sozialstruktur der BRD 1950-1970. Theorie, Diskussion, Sozialstatistische Analyse. Verlag Marxistische Blätter, Essen 1973. 298 Seiten. ca. 4.00 SFr. ISBN: 3-88012-168-0
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Was geschah beim G20-Gipfel? Neun Monate nach der Gewalt in Hamburg meldet sich das autonome Zentrum Rote Flora zu Wort. Dort will man die Deutungshoheit über die Ursachen der Gewalt nicht länger der Polizei überlassen.
In einer Kneipe im Hamburger Schanzenviertel sagte eine Bekannte neulich: „G20 war unser Nine-Eleven.“ Mit „uns“ meinte sie die Hamburgerinnen und Hamburger. Einige in der Runde schauen irritiert, ein paar lachen, auch die Frau selbst. Natürlich kann man einen terroristischen Anschlag, bei dem 3.000 Menschen starben, nicht mit dem Gipfelgeschehen in Hamburg vergleichen. Aber ein Fünkchen Ernst steckte schon in dem polemischen Vergleich. Seit sich im Juli vergangenen Jahres die Staats- und Regierungschef*innen der reichsten Industrie- und Handelsnationen in der Stadt trafen, hat die Stadt eine neue Zeitrechnung: Wir teilen Erinnerungen in vor und nach dem G20-Gipfel.
Heute, neun Monate danach, sind kaum noch Spuren der Auseinandersetzungen zu finden. Nur einzelne Parolen machen die Ablehnung noch sichtbar, mit der Zehntausende Gipfelgegner*innen dem Regierungstreffen im Juli begegnet waren. „Smash G20“ steht einer Hafenmauer im Stadtteil St. Pauli. Nicht weit entfernt, auf einer anderen Mauer, eine Replik auf die Aussage des damaligen Bürgermeisters Olaf Scholz (SPD): „Polizeigewalt hat es nicht gegeben. Die Erde ist eine Scheibe. Jesus lebt!“
Das Schanzenviertel, wo wütende Gipfelgegner*innen die größten Zerstörungen angerichtet hatten, wirkt längst wieder normal. Die geplünderte und komplett verwüstete Drogerie Budnikowsky hat wieder geöffnet, genau wie der damals verkohlte Rewe-Supermarkt. Bei der Wiedereröffnung ließ Budnikowsky die Kund*innen mit bunten Stiften Solidaritätsbotschaften an die Türen schreiben: „Schön, dass ihr wieder da seid“, stand da, aber auch: „Hoffentlich werden die Übeltäter bestraft“.
Die Sparkassenfiliale im Schulterblatt hat noch geschlossen. Früher, also vor G20, standen hier junge Menschen mit knöchelfreien Jeans und bunten Nike-Schuhen auf dem Gehweg Schlange, um Geld abzuheben. An jedem ersten Mai wird die Sparkassenfiliale von Randalierer*innen und Krawalltourist*innen attackiert, aber beim G20-Gipfel war es den Vermummten gelungen, das Gitter aufzubrechen, die Türen einzuschlagen und Feuer zu legen. Die Filiale soll komplett abgerissen und neu gebaut werden, diesmal fünfstöckig.
Andreas Blechschmidt will etwas klarstellen
Keine 50 Meter entfernt steht, als letzte Bastion von Widerständigkeit in der Schanze, die Rote Flora. Dass es sie noch gibt, ist nicht selbstverständlich. Kurz nach dem Gipfel sah es schlecht für das seit 1989 besetzte autonome Zentrum aus: Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) forderte die Schließung der Flora, Bürgermeister Scholz nannte die Besetzer*innen „geistige Brandstifter“ und sagte, sein Geduldsfaden sei gerissen.
„Es geht um Deutungsmacht“, sagt Andreas Blechschmidt, der Mann, der wie kein anderer mit der Roten Flora verbunden wird. Weil der Anfang Fünfzigjährige mit den kurzen schwarzen Haaren sich seit vielen Jahren in der Roten Flora engagiert und weil er gut reden kann, wird er in der Öffentlichkeit als deren Sprecher wahrgenommen, obwohl es solche Ämter bei Autonomen eigentlich nicht gibt. In Hamburg kennt ihn jeder.
In der Zeit, als die Flora massiv unter Beschuss stand, hat er eisern geschwiegen. Neun Monate nach dem G20 will er mit der taz reden. Er will der Polizei nicht die Geschichtsschreibung überlassen.
An einem grauen Hamburger Nachmittag sitzt der Aktivist im Gemeinschaftsraum eines Wohnprojekts der Hafenstraße und wählt seine Worte mit Bedacht. Wie die Flora im Nachhinein den Gipfelprotest bewertet, was aus ihrer Sicht gut und was schlecht lief – zu alldem schweigt er. Aber Blechschmidt ist auch der Anmelder der autonomen „Welcome to Hell“-Demonstration, die am Donnerstag vor dem Gipfelwochenende von der Polizei zerschlagen wurde, bevor sie überhaupt losgehen konnte. Und dazu will er einiges sagen.
Für Blechschmidt geht die Geschichte so: Die Polizei habe niemals vorgehabt, die autonome Demo, die die Organisator*innen als „größten schwarzen Block Europas“ angekündigt hatten, überhaupt starten zu lassen.
War die Polizei von Beginn an auf eine Zerschlagung aus?
Deshalb genehmigte die Versammlungsbehörde – in Hamburg: die Polizei – die Route ohne Auflagen. „Was meiner gesamten Erfahrung der letzten 15 Jahre in Hamburg widerspricht“, sagt Blechschmidt. Nach der genehmigten Route wäre „Welcome to Hell“ an einer Polizeiwache vorbeigelaufen und hätte direkt am G20-Tagungsort Messehallen geendet. Eine solche Route hätte die Polizei gar nicht zulassen können, sagt Blechschmidt, erst recht nicht, weil sie angab, Hinweise zu haben, dass an der Route Depots für Steine, Wechselkleidung oder Ähnliches versteckt seien.
Während die Teilnehmer*innen sich am Donnerstagnachmittag in der Nähe des Fischmarkts aufgestellt hätten, seien an der Spitze der Demo Verhandlungen über Vermummung zwischen Blechschmidt und der Polizei gelaufen. Nach einer Durchsage hätten die vorderen Teilnehmer*innen ihre Vermummung abgenommen, aber hinten sei die Ansage nicht angekommen. Blechschmidt habe sich auf den Weg gemacht, um es ihnen zu sagen, sagt er. Was dann passiert, ist unstrittig: Eine Berliner Polizeieinheit stürmt von der Seite in die Menge und prügelt auf die Demonstrant*innen ein. Die können nicht weg: vorne die Wasserwerfer, hinten 12.000 Menschen, links Häuser, rechts die Flutschutzmauer. Flaschen fliegen auf Polizist*innen, Menschen versuchen, sich über eine Flutschutzmauer zu retten, und springen mehrere Meter in die Tiefe. Viele werden verletzt. „Aus Kalkül“, sagt Blechschmidt. „Um so viele Autonome wie möglich für die nächsten Tage, militärisch gesprochen, auszuschalten.“
Die Polizei gibt allein den Autonomen die Schuld
Die Polizei interpretiert die Geschichte völlig anders. Hartmut Dudde, der G20-Gesamteinsatzleiter, sitzt neben Innensenator Grote und dem Leiter des Polizeieinsatzes bei „Welcome to Hell“, Joachim Ferk, im Kaisersaal des Hamburger Rathauses. Hier tagt der G20-Sonderausschuss, hier soll die politische Aufarbeitung der Proteste stattfinden, hier müssen sich der Innensenator und die Polizeiführung rechtfertigen. Acht Wochen nach dem Gipfel hatte sich der Ausschuss unter Zustimmung aller Fraktionen konstituiert, bis zum Sommer soll er noch tagen. Am Ende soll ein Bericht herauskommen. Auch Olaf Scholz war schon vorgeladen, als er noch Bürgermeister war. Da sagte er, dass er zurückgetreten wäre, wenn es einen Toten gegeben hätte.
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Deutsch: Kundgebung bei der G20-Protestwelle auf dem Hamburger Rathausplatz
2.) von Oben — This file has been released under a license which is incompatible with Facebook’s licensing terms. It is not permitted to upload this file to Facebook.
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Deutsch: G-20 die Rote Flora nach der dritten Kravallnacht
Am Mittwoch verkündeten der Hamburger Senat und die schleswig-holsteinische Landesregierung, dass die skandalträchtige HSH Nordbank verkauft wird. Der Deal wird den Steuerzahler nicht nur mindestens 13 Mrd. Euro kosten, er wirft auch ein grelles Schlaglicht auf die Moral und die Sachkompetenz der politischen Elite in Deutschland.
Beim Hamburger Senat handelt es sich seit 2015 um eine Koalition aus SPD und Grünen, die schleswig-holsteinische Landesregierung wird seit 2017 von der CDU, den Grünen und der FDP gestellt. Alle vier Parteien waren sich in dieser Woche darin einig, die HSH Nordbank an ein Konsortium angelsächsischer Investoren zu verkaufen.
Schwergewicht unter den Geschäftspartnern ist mit einem Anteil von knapp über 40 Prozent der US-Hedgefonds Cerberus, der sich nach langjährigen Aktivitäten im Automobil, Waffen-, Pharma- und Immobilienbereich seit einiger Zeit auf den Bankensektor konzentriert.
Cerberus wurde 1992 in New York vom Princeton-Absolventen Stephen Feinberg gegründet und hat sich den Ruf erworben, sein Geschäft mit besonders harten Methoden zu betreiben. In den USA gilt Cerberus als „Geier-Hedgefonds“, dessen öffentlichkeitsscheue Führung vor allem dort ihr Geld macht, wo andere in Schwierigkeiten stecken.
Absolut hemmungslos
Zunächst engagierte sich Cerberus im Waffengeschäft, kaufte diverse Rüstungsunternehmen auf und wurde unter dem Namen „Freedom Group“ zum bedeutendsten Handfeuerwaffenhändler der USA. Mit der Übernahme von „DynCorp“ entstand ab 2010 ein „Sicherheits- und Militärunternehmen“, das weltweit Söldnerarmeen unterhält und seine Aufträge hauptsächlich von der US-Regierung bekommt.
Dabei helfen Cerberus seine hervorragenden Beziehungen in Washington: John Snow, von 2003 bis 2006 unter George Bush jr. Finanzminister, sitzt ebenso im Vorstand wie Dan Quale, von 1989 bis 1993 US-Vizepräsident. Im Wahlkampf 2017 wurden sowohl an Donald Trump als auch an Hillary Clinton großzügige Wahlspenden gezahlt.
2007 übernahm Cerberus vom damaligen Stuttgarter Autokonzern Daimler-Chrysler den Bereich Chrysler, feuerte 30.000 Arbeiter und Angestellte, trieb den Konzern in die Insolvenz – und ließ sich dafür durch ein Bail-out mit US-Steuergeldern entschädigen.
2010 übernahm der spanische Konzern Grifols die Firma Talecris, die Cerberus vier Jahre zuvor zusammen mit einem Partner von der Bayer AG gekauft und umbenannt hatte. Cerberus verdiente an dem Deal $ 1,8 Mrd., was vor allem darauf zurückzuführen war, dass man die Armut im amerikanisch-mexikanischen Grenzbereich ausgenutzt hatte, um billig an Spenden heranzukommen und die Preise anschließend durch eine Verknappung des Angebots (und der Inkaufnahme der unzureichenden Versorgung vieler auf Blutplasma angewiesenen Patienten) in die Höhe getrieben hatte.
In Deutschland hat sich Cerberus vor allem wegen seiner Geschäfte im Immobilienbereich hervorgetan. Zusammen mit Goldman Sachs hat der Hedgefonds 2004 für 405 Mio. Euro vom rot-roten Berliner Senat 75.000 Wohnungen gekauft, was der damalige SPD-Finanzsenator Theo Sarrazin als „beachtlichen Erfolg“ bezeichnet hatte – ein Urteil, dass die Mieter der Wohnungen wohl kaum teilen dürften.
Ahnungslose Politiker…?
Auch bei wohlwollender Betrachtung fällt es schwer, Cerberus’ Geschäftspraktiken nicht als abstoßend und menschenverachtend einzustufen. Kein Wunder also, wenn die für den Verkauf der HSH Nordbank zuständigen Politiker diesen Deal am liebsten so schnell wie möglich unter den Teppich kehren würden. Bevor ihnen das gelingt, sollte man jedoch noch folgende Tatsachen festhalten:
Der Deal wurde auf schleswig-holsteinischer Seite von der grünen Finanzministerin Monika Heinold und ihrem ebenfalls grünen Staatssekretär Philipp Nimmermann verhandelt. Auf Hamburger Seite war es der SPD-Finanzsenator Peter Tschentscher, der die Details im Pakt mit Cerberus aushandelte.
Heinold ist von Beruf Erzieherin und hat vor ihrer politischen Karriere in einer Kindertagesstätte der Arbeiterwohlfahrt gearbeitet. Tschentscher ist promovierter Mediziner und hat sich offensichtlich ab 2010 als Vorsitzender des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses Elbphilharmonie für sein Amt als Finanzsenator empfohlen.
Man darf damit rechnen, dass es nicht lange dauern wird, bis beide wegen der von Cerberus beabsichtigten Entlassungen in die Kritik geraten werden. Vermutlich werden sie sich dann auf ihre Ahnungs- und Hilflosigkeit gegenüber den Finanzprofis von der Wall Street berufen. Vorgemacht hat ihnen das die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis, die sich 2002 zwar zur Aufsichtsratschefin der Landesbanken hat küren lassen, sich nach dem darauffolgenden Desaster aber immer wieder auf ihre Naivität in Finanzangelegenheiten berief.
Noch aufschlussreicher allerdings ist ein Blick auf die andere Seite des Verhandlungstisches, und zwar auf die Liste der Berater, die in Deutschland für Cerberus tätig sind. Dort findet man neben diversen ehemaligen Industrie- und Finanzmanagern den Ex-Bundesverteidigungsminister Volker Rühe von der CDU und seinen Amtsnachfolger, den Ex-SPD-Vorsitzenden Rudolf Scharping.
Wie viel beide für ihre Dienste erhalten, ist nicht bekannt, nur soviel: Bereits 2007 zahlte Cerberus seinen Beratern in Deutschland 125.000 Euro pro Jahr plus Prämien, falls eine ihrer Ideen umgesetzt werden sollte.
Ob Rühe oder Scharping zum Kauf der HSH Nordbank eigene Ideen hinzugesteuert haben, ist bisher nicht bekannt. Bekannt ist allerdings, dass der SPD-Landesvorsitzende und stellvertretende Parteivorsitzende der SPD, Ralf Stegner, nach dem Deal mit Cerberus verkündete, man hege „keinerlei Sympathie für die Käufer“. Ob das auch für sein persönliches Verhältnis zum Parteigenossen Scharping gilt, ließ Stegner offen.
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Die Polizei im Kriegseinsatz zwecks Machterhaltung ?
Aus Hamburg: Stefan Buchen und Philipp Hennig
Der G20-Prozess gegen Fabio V. zeigt, wie ein Grundrecht angegriffen wird. Das haben auch ein Doktorand und ein Student erfahren.
HAMBURG taz | Auf die Frage, wann Demonstranten zu Straftätern werden, haben Polizei und Justiz in Hamburg eine einmütige Antwort: Auch wer gewaltfrei an einem Protestmarsch teilnimmt, kann sein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit schnell verwirken. Es genügt demnach schon, an einem Protestmarsch teilzunehmen, aus dem heraus einige wenige Personen Gegenstände werfen. Dann hat man die Gewalttäter durch seine bloße Anwesenheit „unterstützt“ und macht sich des schweren Landfriedensbruchs schuldig. Strafmaß: bis zu zehn Jahre Haft. Eine solche „Anwesenheit“ liegt auch gegen den Italiener Fabio V. vor.
Beweise für darüber hinaus gehende Straftaten des 19-Jährigen konnte die Hamburger Staatsanwaltschaft in dem Prozess, der fast schon ein halbes Jahr dauert, nicht liefern. Gewiss ist nur, dass der Angeklagte sich am frühen Morgen des 7. Juli 2017 einer Gruppe Demonstranten anschloss, die gegen die Politik der G20-Staaten protestieren wollten. Die Staatsanwaltschaft unterstellt der Gruppe einen „gemeinsamen Willen zur Gewalt“. Den könne man daran erkennen, dass die Teilnehmer überwiegend dunkel gekleidet und viele von ihnen „vermummt“ gewesen seien. Fabio trug beige Hose und ein schwarz-weißes Palästinensertuch.
Auf dem Weg in die Innenstadt, in der Straße „Rondenbarg“, wurde die etwa 200 Personen starke Gruppe von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Einige im vorderen Bereich marschierende Demonstranten schleuderten Steine und Rauchtöpfe in Richtung der herannahenden Beamten, ohne diese zu treffen. Die Staatsanwaltschaft zählte 14 Steine und 4 „pyrotechnische Gegenstände“. Wer geworfen hat, ist unklar. Dass der Angeklagte Fabio V. Gewalt ausübte, ist äußerst unwahrscheinlich, weil er im hinteren Teil des Protestmarsches unterwegs war. Das Urteil sollte eigentlich heute (Dienstag) gesprochen werden. Aber dazu kommt es nicht, weil sich die vorsitzende Amtsrichterin krank gemeldet hat. Sie ist hochschwanger. Ob der Prozess vor einem anderen Richter neu aufgerollt wird, ist unklar.
Aber auch ohne Urteil im Fall Fabio ist der „Rondenbarg-Komplex“ keineswegs erledigt. Mehr als 70 weitere Beschuldigte, die auch an der Demonstration teilgenommen haben und deren Lage mit der von Fabio V. vergleichbar ist, warten auf ihre Anklage. Das Führungspersonal der Hamburger Polizei hält sie alle des Landfriedensbruchs für schuldig. „Es handelte sich um einen in seiner Gesamtheit gewalttätig handelnden Mob.“ So charakterisierte der Leiter der SoKo „Schwarzer Block“, Jan Hieber, die Demonstration auf einer Pressekonferenz im Dezember. „Es reicht eben, wenn man sich in so einer Gruppe bewegt,“ erläuterte sein Vorgesetzter, der Hamburger Polizeipräsident Ralf Martin Meyer gegenüber dem NDR. Polizeipräsident und Hanseatisches Oberlandesgericht verweisen auf eine höchstrichterliche Entscheidung zum Landfriedensbruch.
„Psychische Beihilfe“ gibt’s eigentlich nur im Fussball
Im Mai 2017 hatte der Bundesgerichtshof (BGH) Teilnehmer einer Hooligan-Formation am Rande eines Fußballspiels für schuldig befunden, die nicht selbst geprügelt, sondern durch „ostentatives Mitmarschieren“ den Schlägern „psychische Beihilfe“ geleistet hätten. Der BGH macht in seiner Entscheidung aber deutlich, dass dieser Fall sich von politischen Demonstrationen unterscheide, bei denen von einigen Teilnehmern, nicht aber von allen, Gewalttätigkeiten begangen werden.
Dass der Protestzug am Rondenbarg genau eine solche verfassungsrechtlich geschützte Demonstration war, meinen Experten nach Ansicht des vorhandenen Videomaterials. „Aus meiner Sicht spricht eigentlich alles dafür, dass es sich hier um eine Versammlung handelt,“ sagt der Kriminologe Tobias Singelnstein. Auf die Nachfrage von Panorama 3 und der taz, warum er den „Hooligan-Fall“ trotzdem auf die Anti-G20-Demonstration in Hamburg übertrage, antwortete Polizeipräsident Meyer nur: „Man sollte nicht versuchen, sich auf dem Gebiet der Juristerei zu tummeln.“
Polizei und Gerichtsbarkeit in Hamburg vertreten die Ansicht, dass jener Protestzug vor dem G20-Gipfel keine Versammlung im Sinne des Grundgesetzes war. Den Teilnehmern der Demonstration sprechen sie politische Anliegen ab. Keine Demonstranten eben, sondern Kriminelle. Kriminell ist demnach auch Simon Ernst, einer der mehr als 70 Beschuldigten, die auf derselben Demonstration wie Fabio V. waren. Auf mehreren Polizeivideos ist der groß gewachsene Mann zu erkennen, wie er, mit einer roten Jacke bekleidet, im Strahl eines Wasserwerfers steht und eine Frau beschützt.
Dem 32-jährigen Bonner politische Anliegen abzusprechen, scheint vermessen. Seit mehr als 10 Jahren ist er in der Gewerkschaft Verdi engagiert. Mehrfach meldete Ernst Demonstrationen gegen Rechtsradikale an. Am frühen Morgen des 5. Dezember klopft es bei ihm an der Wohnungstür. „Polizei! Machen Sie auf!“. Einen Augenblick später tummeln sich zehn Beamte in seiner 2-Zimmer-Wohnung. Ein Polizist bugsiert den splitternackten Promotionsstudenten auf das Wohnzimmersofa und hält ihm einen Durchsuchungsbeschluss aus Hamburg unter die Nase, Vorwurf „Landfriedensbruch“.
Trifft ein Deutscher einen Anderen bei der UN Vollversammlung: Frage – „Wie kommen sie hier hin“. Antwort : „Ich habe Merkel bei den letzten Wahlen meine Stimme gegeben“. „Und sie“ ? „Ich habe ihr meine Stimme nicht gegeben, und wurde darum Strafversetzt“ !
Das Interview führte Katharina Schipkowski
Rund fünf Monate saß der Italiener Fabio V. in U-Haft. Der Vorwurf: schwerer Landfriedensbruch. Nun muss der Prozess neu aufgerollt werden.
Fabio V. kann nach Hause – der Prozess gegen ihn ist geplatzt. An diesem Dienstag stand eigentlich der letzte Verhandlungstermin an, bevor die Richterin in den Mutterschutz geht. Aber die Richterin ist krank, wie das Gericht V.’s Verteidiger*innen am Montag mitteilte – der Termin fällt aus. Nun liegt der Prozess auf Eis, bis eine andere Richter*in das Verfahren irgendwann neu aufrollt. V. wird vorgeworfen, sich an einer Demonstration beteiligt zu haben, bei der G20-Gegner*innen Steine in Richtung der Polizei warfen. Die Beweislage ist dünn – in zwölf Verhandlungstagen konnte ihn kein*e Zeug*in belasten. Die Staatsanwaltschaft wirft V. keine individuelle Tat vor, sondern lediglich die Teilnahme und psychologische Unterstützung der Demonstration. Ende November wurde V. nach fast fünf Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen. Seitdem hat er sich nicht in der deutschsprachigen Presse geäußert. Für die Dauer des Prozesses lebt er mit seiner Mutter in Hamburg. Wir treffen uns an der Sternschanze, unweit der Messehallen.
taz:Herr V., Sie sind unfreiwillig ein Star des G20-Protests geworden. Wie fühlt sich das an?
Fabio V.: Ich möchte auf keinen Fall für berühmt oder wichtig gehalten werden. Ich bin nur ein junger Mensch, der wie viele andere nach Hamburg gekommen ist, um gegen die Ungerechtigkeit in der Welt zu demonstrieren. Ich hatte das Pech, festgenommen zu werden und im Gefängnis zu landen – wie viele andere auch.
Aber bei wenigen steht das Verhältnis zwischen Tatvorwurf und Strafverfolgung in einem so drastischen Verhältnis: Ihnen wird keine individuelle Tat vorgeworfen, aber Sie saßen fast fünf Monate in Untersuchungshaft.
Ja, das ist interessant und etwas, was es in Deutschland noch nicht gab. Ich bin nicht für eine spezifische Tat angeklagt, sondern für die Anwesenheit bei einer Demonstration. Die Verschärfung des Paragrafen des schweren Landfriedensbruchs passt in das immer repressiver werdende System in Europa, das benutzt wird, um Leute einzuschüchtern und zu unterdrücken, die rebellieren wollen.
Sind Sie Opfer einer politischen Justiz geworden?
Ja und nein. Alle Gerichtsprozesse sind politisch, auch die gegen „normale Kriminelle“. Justiz ist eine Waffe derer, die an der Macht sind, um die Abtrünnigen zu bestrafen, die Marginalisierten und Ärmsten zu unterdrücken. Ich glaube nicht an eine unabhängige Justiz.
Die Staatsanwaltschaft rechnet mit einer Jugendstrafe auf Bewährung.
Wenn ich am Ende verurteilt werde, muss man sagen, dass das Recht zu demonstrieren in Deutschland mit Füßen getreten wird.
Der Prozess ist jetzt geplatzt, wie geht es weiter?
Es wird es wahrscheinlich einen neuen Prozess geben, alles noch mal von null, mit einer anderen Richterin. Wir hören alle Zeugen noch mal, sehen alle Videos noch mal.
Was machen Sie jetzt?
Ich fahre nach Italien und bleibe da erstmal. Ich werde bei meinem Vater in Feltre wohnen.
Wie haben Sie die Zeit im Gefängnis empfunden?
Sie hat mich sicher verändert. Eine normale Person, die in den Knast kommt, ist nicht die gleiche, wenn sie rauskommt. Im Gefängnis zu sein ist schrecklich. Man kann von außen nicht verstehen, was es heißt, drinnen zu sein. Ich hatte das Glück, dass ich im Verhältnis zu anderen nur so kurz da war. Mein Glück war außerdem, dass ich enorme Solidarität von außen erfahren habe.
Was haben Sie erlebt?
Ich habe sehr viele Leute kennengelernt. Normale Kriminelle und solche, die einfach am falschen Ort der Welt geboren und von dort geflohen sind, andere, die im Supermarkt geklaut haben, weil sie Hunger hatten. Die meisten hatten keine Möglichkeit, zu studieren, sich zu verwirklichen, hatten viele Probleme und niemand hat ihnen geholfen, am wenigsten der Staat. Was sie erzählt haben, war oft absurd und sehr traurig.
Welche Gedanken haben Ihnen Hoffnung gemacht?
Meine Haft war gewissermaßen eine Fortsetzung des Kampfes gegen den G20-Gipfel. Ein politischer Gefangener zu sein ist leichter, als ein „normaler“ Gefangener zu sein. Ein politischer Gefangener hat immer seine Ideale und Ideen, die ihm helfen, das macht es einfacher. Man denkt immer daran, dass man einen Kampf kämpft gegen die, die wollen, dass du drinnen bist.
SSGT F. Lee Corkran – Defenseimagery.mil, VIRIN DF-ST-91-03542
Vorsitzender des DDR-Ministerrates Hans Modrow, Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen Dorothee Wilms, Bundeskanzler Helmut Kohl und der Regierende Bürgermeister Walter Momper (West-Berlin) während der Öffnung des Brandenburger Tores am 22. Dezember 1989. Im Hintergrund zwischen Kohl und Momper der Oberbürgermeister Erhard Krack (Ost-Berlin); vor Momper dessen Tochter Friederike. Rechts daneben: Walter Scheel, Otto Graf Lambsdorff und Hans-Dietrich Genscher.
Unten —Gruppenfoto mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Mitte.[13]
Kremlin.ru
„Familienfoto“ zum G-20-Gipfel in Hamburg mit Bundeskanzlerin Angela Merkel als Gastgeberin in der Mitte. In den ersten zwei Reihen die Politiker der 20 bedeutendsten Industrie- und Schwellenländer, mit den Neulingen im Amt am Rand. Die Staatsmänner des vorherigen und nächsten G20-Gipfels stehen hierbei neben der Frau im roten Blazer, gleich daneben Wladimir Putin (die Namen werden am Computer mit mouseover sichtbar, mit Smart-Phone wohl eher nicht). In der 3. Reihe die auch wegen des Schwerpunkts Afrika eingeladenen Gäste, dahinter Vertreter der internationalen Organisationen. Links zu weiteren Fotos der G-20-Spitzenpolitiker und -politikerinnen über die Kategorie zum Familienfoto.
Vor etwas mehr als 50 Jahren wurde an der Universität Hamburg einer der bekanntesten Slogans der 1968er-Bewegung geprägt: Am 9. November 1967 zog ein feierlicher Zug mit dem scheidenden und neuen Rektor, standesgemäß in Talar und gestärkter Halskrause, in das vollbesetzte Audimax. Als sie durch die Tür schritten, setzten sich mitlaufende Studentenvertreter an die Spitze des Zuges, entrollten ein Spruchband und spannten es vor den Honoratioren auf: „Unter den Talaren, Muff von 1000 Jahren“. Damit protestierten die Studenten nicht nur gegen die mangelnde Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, sondern auch gegen elitäre Strukturen an deutschen Universitäten. Das richtete sich speziell gegen die traditionelle deutsche „Ordinarienuniversität“ mit ihrer herausgehobenen Stellung der Professoren: Schon im Kaiserreich[ genossen sie eine geradezu patriarchal anmutende Machtfülle. Je Institut gab es nur einen ordentlichen Professor, der alleine und niemandem Rechenschaft schuldig die Ausrichtung in Forschung und Lehre bestimmte und über Finanzen und Personal verfügte. Die Schlüsselpositionen der universitären Selbstverwaltung – Rektor, Dekane und Senatsmitglieder – wurden ausschließlich von Lehrstuhlinhabern bekleidet. Wissenschaftsmanagement war noch kein eigener Karrierezweig, externe Expertise aus Politik und Wirtschaft waren unerwünscht.
Bis heute hat sich an dieser Situation nicht viel geändert – und das trotz ambitionierter Reformversuche. Noch kurz bevor die Studenten 1967 gegen die Ordinarienuniversität ins Feld zogen, kritisierte der deutsche Wissenschaftsrat das „monokratische Direktorialprinzip“ und schlug die Einrichtung von „Sonderforschungsbereichen“ vor, in denen sich Professoren und Mitarbeiter verschiedener Fakultäten in gemeinsame Forschungsprojekte einbringen könnten. Dadurch sollte die Macht des einzelnen Lehrstuhlinhabers als der alles bestimmenden Autorität zugunsten einer kollegialeren, „gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen jüngeren und älteren Wissenschaftlern“ zurückgedrängt werden. Die ersten Sonderforschungsbereiche kamen noch im selben Jahr, neue werden bis heute eingerichtet – einen strukturellen Wandel an den Universitäten bewirkten sie jedoch nicht.
So stehen nach wie vor die Professoren organisatorisch im Zentrum der deutschen Universitäten und haben viele ihrer Standesprivilegien bewahrt: Gelder, Räume und Forschungsgeräte werden einzelnen Lehrstühlen zugeordnet, über deren Nutzung ihre Inhaber frei verfügen können. Ebenso werden ihnen wissenschaftliche Mitarbeiter gestellt, die sie frei aussuchen können und die ihnen zuarbeiten müssen. Selbst die grundgesetzlich verankerte Freiheit der Wissenschaft ruht allein auf ihren Schultern. Das entschied das Bundesverfassungsgericht schon 1973: Professoren seien die „eigentlichen Träger der freien Forschung und Lehre innerhalb der Universität“, weswegen ihnen in Forschungsfragen ein „ausschlaggebender Einfluss“ vorbehalten bleiben müsse. Alle anderen unterstehen ihnen weisungsgebunden und dürfen nicht selbstständig forschen und lehren, außer ihr Chef lässt das zu – bis heute.
Prekäre Wissenschaft
Und diese „anderen“ bilden die große Mehrheit. Nur zwölf Prozent des wissenschaftlichen Personals deutscher Hochschulen bekleiden heute den Rang eines Professors. Ihnen gegenüber steht ein großer, weitgehend prekär beschäftigter akademischer Mittelbau von Doktoranden und wissenschaftlichen Mitarbeitern, Post-Docs und Privatdozenten. Diese Pyramide hat sich in den letzten Jahren noch dramatisch zugespitzt: Durch die Exzellenzinitiative und die vielen seither entstandenen, zeitlich begrenzten Drittmittelprojekte wurden vor allem befristete Mittelbaustellen geschaffen. Je nach Schätzung sitzen mittlerweile bis zu 93 Prozent dieser Gruppe auf befristeten Verträgen. Die bis in die 1990er Jahre verbreiteten entfristeten Mittelbaustellen gehören damit weitgehend der Vergangenheit an.
Obzwar heute so viele Studenten wie noch nie promovieren, sind die Aussichten auf einen dauerhaften Verbleib in der Wissenschaft daher schlechter denn je. Wer es nicht durch den engen Flaschenhals auf eine Professur schafft, hat kaum Aussicht auf ein dauerhaftes Auskommen in der Wissenschaft. Er oder sie muss sich dann nach einem langen Karriereweg – erstberufene Professorinnen und Professoren sind gegenwärtig im Schnitt 42 Jahre alt – beruflich wieder umorientieren oder an eine Universität im Ausland ausweichen. Angesichts der wenigen Dauerstellen jenseits der Professur werden so vorhersehbare biographische Krisen produziert: Vielen hochspezialisierten, beschlagenen Forschern steht mit Mitte 40 der Fall ins Bodenlose und nicht selten der Gang zu Arbeitsagentur oder Jobcenter bevor. Von persönlichen Schicksalen abgesehen, stellt sich auch eine ökonomische Frage: Welchen volkswirtschaftlichen Sinn macht es, mit Steuergeldern hochqualifizierte Wissenschaftler auszubilden, deren Potential ungenutzt bleibt, weil ihnen das hiesige Wissenschaftssystem keine dauerhafte Perspektive bietet?
Das Problem ist: Heute trifft eine überkommene, radikal hierarchische Struktur auf eine harte, erbarmungslose Auslese. Die wissenschaftliche Laufbahn wird dadurch zu einem brutalen Wettkampf – frei nach dem Motto „The winner takes it all“: Wer es nicht auf eine Professur schafft, muss sich aus der Wissenschaft verabschieden. Max Webers treffende Beschreibung des deutschen Wissenschaftssystem bleibt so auch nach knapp 100 Jahren noch aktuell: Die wissenschaftliche Laufbahn beruhe in Deutschland auf „plutokratischen Voraussetzungen“, denn sie erfordere, jahrelang in unsicherer Stellung zu verharren, um auf die Berufung auf eine Professur zu hoffen.
Da verwundert es kaum, dass die deutsche Professorenschaft nach wie vor sehr homogen zusammengesetzt ist: Obwohl das Geschlechterverhältnis bei Studierenden und Doktoranden schon seit längerem ausgeglichen ist, haben Frauen kaum ein Viertel der Professuren inne. Auch soziale Aufsteiger schaffen es nur selten in den Professorenstand.
Zwar hat die vergangene schwarz-rote Bundesregierung in den letzten zwei Jahren einige Reforminitiativen gestartet. In der Sache geändert haben sie aber wenig. So beschloss der Bundestag im Januar 2016 eine Reform des „Wissenschaftszeitvertragsgesetzes“, welche die Befristung von Verträgen einschränkt. Ihre Laufzeit muss sich nunmehr an der Dauer des Forschungsprojekts oder der Abfassung einer Doktorarbeit orientieren, und Lehrstuhlinhaber können ihre Mitarbeiter nicht mehr ohne weiteres mit Verträgen beschäftigen, die nur drei Monate laufen und dann verlängert werden müssen. Das Hörigkeitsverhältnis aber bleibt davon ebenso unberührt wie die bange Unsicherheit, ob man eine Dauerstelle ergattern wird. Daran ändert auch der „Nachwuchspakt“ wenig, der im Dezember 2016 folgte und eine Milliarde Euro für neue Professuren mit „Tenure-Track“ vorsieht. In diesem Verfahren erhalten nach amerikanischem Vorbild jüngere Wissenschaftler vorläufig Professuren, die nach einer Bewährungsphase entfristet werden. Doch angesichts der gegebenen Dimensionen handelt es sich dabei um nicht mehr als einen Tropfen auf den heißen Stein.
16. Februar. Luise ist weniger enttäuscht, als ich befürchtete. Sie hatte sich darauf gefreut, mit mir nach Mainz zu fahren. Demo gegen den Bush-Besuch. Könnte happig werden.
Gewalt und Polizei und Da-versteht-der-Staat-aber-keinen-Spass. Besser, das Kind bleibt zu Hause. Ist ihm recht. – Es liegt was in der Luft. Was? – Unsereiner hat mit derlei Strassenprotesten keine Erfahrung. Mitte der Neunziger Jahre, war ich in eine Demo des öffentlichen Dienstes geraten. Berlin. Rotes Rathaus. Neptunbrunnen. Die Angestellten zuhauf, Kinder auf den Schultern, ein harmloses Treiben. Die Loyalität ging auf die Strasse. Wenn was zur Wut reizte, dann: der Ring martialisch gerüsteter Polizisten mit ihren Schilden, Visierhelmen, armlangen Knüppeln und Plasteschienen an den Beinen. Aliens. – Hier haben uns Leute beim Riesling erzählt, dass sie noch heute im Schlaf den Demo-Rucksack packen können. Utensilien für den Strassenkampf. Pflasterstrand. Macht kaputt, was euch kaputtmacht. Der Gesang der wilden Zeit. Wo Fischer sass, das wissen sie heute noch. Kommt eines Tages eine Gedenkplakette hin. Die Grünen-Klientel ist, soweit ich das überschauen kann, amifreundlich. Bin ich amifeindlich! Könnte ja mal ein paar von den Kampf-Profis fragen, ob sie am nächsten Mittwoch mitkommen.
18. Februar. Höchste Sicherheitsstufe. Was heisst das? »Schon jetzt werden aus Angst vor möglichen Anschlägen in der Mainzer Innenstadt und entlang der Präsidentenroute Kanaldeckel zugeschweisst und Papierkörbe abgebaut. Auch die Anlieger sind aufgefordert, alle potentiellen Bombenverstecke – vom Briefkasten bis zur Mülltonne vor dem Haus – vorsorglich zu entfernen.« (FAZ) – Es wird empfohlen, am 23. März Bus und Bahn zu fahren und das Auto stehenzulassen. Sowieso. Parkplätze kriegt man so schon kaum. – Was, wenn auf Bush ein Attentat verübt wird? Bombardieren die Amis Mainz? Wie damals am 27. Februar, als die Innenstadt zu achtzig Prozent vernichtet wurde? Oder Frankfurt gleich mit? Vielleicht hält man in Washington Frankfurt für die Hauptstadt Deutschlands? Oder Mainz? – Der Schiffsverkehr auf Rhein und Main soll zeitweilig eingestellt werden. Der Luftraum gesperrt. Widersprüchliche Gerüchte. Der Luftraum soll nur für den privaten Luftverkehr gesperrt werden. – Schilder mit der Warnung Vorsicht, Bissiger Hund werden ersetzt durch die Schilder mit der Aufschrift Welcome Mr. Bush. Ulk, oder?
19. Februar. Internethilfe. Demo-Einmaleins: Vorbereitungen, auf der Demo, bei Festnahmen. »Versuche, niemals allein zu Demonstrationen gehen zu müssen. Es ist nicht nur lustiger, mit Menschen unterwegs zu sein, die du kennst und denen du vertraust, sondern auch nützlich. Zum einen wird es für Zivilbullen und Provokateure des Verfassungsschutzes ungleich schwerer, sich unter die Demo-TeilnehmerInnen zu mischen. Zum anderen ist es leichter, zum Beispiel wenn die Bullen an einer Stelle auf Leute einknüppeln, ruhig zu bleiben und nicht auseinander zu laufen.« – Hab’ ein paar Leute gefragt, die meiner Ansicht sind. Was Bush und Co betrifft. Sie würden gern mitkommen. Aber die Arbeit. – »Sei so fit, wie’s halt geht; das heisst frühstücke gut, Shit und jeglicher Alkohol bleiben zu Hause; sie beeinträchtigen dein Reaktions- und Wahrnehmungsvermögen.« Seit fünf Monaten keinen Tropfen getrunken. Shit mal probiert, also Hasch. Als ich anfing, Bewohner des Kapitalismus zu sein. Einmal war’s lustig, das andere Mal war’s scheisse. Auch Bier selbst gebraut in der Badewanne des Nachbarn. Totalausfall. – Wie lange musst Du hier brummen?
Zur Identitätsfeststellung: Wenn du Tor keinen Ausweis dabei hast, höchstens zwölf Stunden. Tor? Narr? Ach so, Humor, oder? Als Verdächtiger einer Tat: Nach 48 Stunden, besser, bis Mitternacht des darauffolgenden Tages musst du entweder freigelassen worden sein oder einem Haftrichter vorgeführt werden. – Die Polizei warnt eindringlich davor, sich am kommenden Mittwoch mit dem Auto auf die Strassen des Rhein-Main-Gebietes zu begeben. Die Autobahnen werden leer sein. Mir fällt ein Filmbild ein: Hab’ mal gesehen, wie bizarr leer die Autobahnen zur Zeit der Ölkrise aussahen. Siebziger Jahre. Das Öl, das Öl, das heilige Öl! – Lass Dein Adressbuch, Notizbuch und andere persönliche Aufzeichnungen zu Hause und nimm lediglich Bleistift und gültigen Personalausweis mit.
Eine Demo ist ein schöner Anlass, mal die Taschen nach Müll zu durchsuchen. – Foto in der FAZ (für mein Notizbuch): Jemand schweisst auf dem Pflaster einen Gullydeckel zu. Im Hintergrund der brockige Mainzer Dom. – Lese gerade, dass Gerry Wolff gestorben ist. Gehört zu meiner Jugend in Berlin-Niederschöneweide, wo er gewohnt hat. Sein Sohn hat mir auf dem Schulklo, 7. Oberschule »Feliks Dziershinski«, merkwürdige Zigaretten gezeigt: in einer weissen Schachtel ohne Markenname. – Frankfurter Rundschau veröffentlicht einen groben Stadtplan von Mainz. Bush-Besuch gerät zur Katastrophenübung in Rhein-Main.
20. Februar. Ausfahrt nach Eppstein am Taunus. Wanderung hoch zum Rossert, 516 Meter, unberührter Schnee. Dass ich mal ein Wanderfreund werde. Seitdem wir in Frankfurt leben: Rheingau, Taunus, Spessart, Odenwald, Hunsrück et cetera. Ein Heimat-Gewinn. – Auf der A 66 Sonntagsnachmittagsverkehr und Matsch. Am Mittwoch wird auch die A 66 gesperrt sein. Eine Gespensterbahn. – Wie bereitet sich ein Präsident auf einen Staatsbesuch vor? Hat er Herzklopfen? Prüfungsangst? Lässt er sich noch mal trimmen, dass er nicht die Länder und Namen seiner Partner verwechselt? Stuhlgang normal? – Im Mainzer Aktionsbündnis Not welcome, Mr. Bush! äussere sich kein dumpfer Anti-Amerikanismus, sondern der Protest gegen die Politik des Präsidenten George W. Bush, heisst es in der Frankfurter Rundschau.
21. Februar. Seit langem wieder in der Deutschen Bibliothek. In den vergangenen fast zwei Jahren hier an den Filmen über die Obst- und Gemüse-Grossmarkthalle im Frankfurter Ostend gearbeitet. In einem der Filme: Archivbilder vom Besuch Kennedys. Kalter Krieg. Panzerrohre exakt ausgerichtet. Der Präsident fährt im offenen Wagen. Die Amis haben den Deutschen übrigens den Eisbergsalat und die Avocados gebracht. Dafür gab’s den Erlass, nicht mehr einheimisches Obst zu kaufen. War für die deutschen Händler ein Verlust. – Polizeiauflagen für die Demonstration. Zweihundert Ordner müssen sich mit Namen und Adressen registrieren lassen. Lautsprecheranlage dürfte den Schall nicht zum Main leiten. Transparente dürften maximal zwei Meter breit sein. Es werde jeder mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafen bestraft, der ein ausländisches Staatsoberhaupt oder ein Mitglied einer ausländischen Regierung beleidigt. »Jehste frühs ausm Haus und kommste nach drei Jahren wieder, ach du Kacke!«
22. Februar. Müde Generalprobe: Hauptwache, Katharinenkirche, Frankfurt. 500, 600 Leute? Einer trommelt. Einer trötet. Jemand von der PDS/Christen verteilt Selbstgedichtetes: Ich darf mich wehren/gegen alle Menschen missachtenden und verachtenden Kräfte!/Ich muss es sogar,/ muss das Schild meiner Liebe/vor und über Schwächere halten,/die meinen Schutz brauchen. – Mehr Kameraleute als Demonstrierende.
23. Februar. Sieben Uhr morgens mit der Bahn nach Mainz. Im Bahnhof kleine Grüppchen von Punks (?) – Herrlich leer. Die ganze Stadt Mainz ist meins. – An einem Bäcker stehen zwei vermummte Polizisten. Wie kriegen die Brötchen und Kaffeetasse an ihrem Gesichtsstrumpf vorbei in den Mund? – Bleibe hängen in Werner’s Backstube. Die haben einen Aufkleber, für fünfzig Cent. Hello Mr. Bush, lass dein FBI daheim. Feier mit uns in Mainz am Rhein. – Kunden sind Geschäftsleute. Man kennt sich, befragt sich: »Machst du heute auf?« – Eine erzählt von ihrem Mann, der hat bei Verwandten in Mainz übernachtet. Wäre sonst nicht in die Stadt gekommen. – Die Anwohner dürften nicht mal auf den Balkon. Bei der Kälte, frage ich, was will einer auf dem Balkon? – Eine erzählt von den Demonstranten, die sich am Bahnhof sammeln. Kriegt man Läuse, wenn man an denen vorbeigeht. »Vor dem Pack könnte einem angst und bange werden!« Ein Mann spricht das Wort Molotow-Cocktail aus. Eine Frau spricht von den Nazis. Ziemlich durcheinander: das Protestpotential in der Meinung des Mittelstandes. – In der Kapuzinergasse hängen neben den Laken mit der Aufschrift You’re not welcome, Mr. Bush die Plakate, die Küblböck und Band ankündigen. Dicke Schneeflocken.
Ein Polizeihubschrauber: behäbig und stur. – Die Demo findet statt. Ab Mittag. Als die Runde rum ist, stockt der Zug. Aus einem Fenster im ersten Stock winken Vermummte mit Rot-Front-Fäusten, hängen durchlöcherte rote Fahnen raus, und aus ihren Lautsprechern schallen Ernst-Busch-Lieder. – Am frühen Nachmittag bin ich wieder in Frankfurt. Mache Essen für meine Tochter. Ich hätte sie doch mitnehmen und ihr einen Entschuldigungszettel schreiben sollen.
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An den Unis rumort es wie vor 50 Jahren – diesmal im Mittelbau
Wenn am heutigen Dienstag die deutschen HochschulrektorInnen in Potsdam zu ihrer jährlichen Herbstkonferenz zusammenkommen, dann werden sie viel Unzufriedenheit und Kritik zu hören bekommen: Rund hundert Protestierende mit Plakaten wollen den Eingang zum Unigebäude versperren. Auch Protestaktionen im Audimax sind geplant.
Für die Rektorinnen und Rektoren wird das Zuhören sicher unangenehm. Denn die ungebetenen Gastredner werden sie verantwortlich machen für eine unzeitgemäße Hochschule, an der, wie in einem der taz vorliegenden Manuskript zu lesen ist, „Angst“, „Abhängigkeit“ und eine „Wettbewerbsideologie“ herrschten. Eine Uni, die erst dann wieder gute Forschung und Lehre garantieren könne, wenn die RektorInnen „Exzellenzterror“ und „Antragswahn“ stoppten und eine „echte Demokratisierung“ ermöglichten.
An deutschen Hochschulen rumort es derzeit gewaltig. Und damit sind nicht lokale Proteste gegen die teilweise Wiedereinführung von Studiengebühren (Uni Freiburg), Panzerdeals mit der Türkei (RWTH Aachen) oder AfD-Hochschulgruppen (Uni Magdeburg) gemeint. Spricht man mit Studierenden, DoktorandInnen und ProfessorInnen, wird schnell klar: Für viele läuft etwas grundlegend falsch im deutschen Hochschulsystem.
Die Stimmung erinnert an die Hochphase der Studentenproteste vor 50 Jahren. Damals trafen zwei Hamburger Studenten mit einem Spruch den Nerv der Zeit: „Unter den Talaren – Muff von 1.000 Jahren“. Das Banner, das die beiden vormaligen AStA-Vorsitzenden am 9. November 1967 im Audimax ausrollten und damit die Talar tragenden Ordinarien vorführten, war ein Aufstand gegen die autoritätshörige Vätergeneration – und läutete das überfällige Ende der professoralen Alleinherrschaft an den Unis ein.
Die Uni Hamburg machte selbst den Anfang und änderte kurz darauf ihr Hochschulgesetz. In der Folge durften Studierende und Assistenten, wie die wissenschaftlichen MitarbeiterInnen damals hießen, gleichberechtigt an den Unigremien mitbestimmen. Prompt wurde gegen den Willen der Professoren ein wissenschaftlicher Mitarbeiter Präsident. Für viele Zeitgenossen eine ungehörige Vorstellung.
In jüngerer Vergangenheit konnte man innerhalb der EU beobachten, wie es um das Verhältnis von oben und unten bestellt ist, wenn es ans Eingemachte eines Staates geht, weil die Staatsräson zum Zug kommt oder in Frage gestellt wird.
Eines war der G 20-Gipfel in Hamburg. Da waren die schwarz-rote Bundesregierung und die rot-grüne Hamburger Stadtregierung sich darin einig, dass hier wieder einmal demonstriert werden muss, wer der Herr im Haus ist.
Im Vorfeld wurden Unmengen an Polizei aus allen Bundesländern dort hingekarrt. Was de facto eine Machtdemonstration war, wurde über die Medien als eine Aktion zur Verteidigung der Demokratie gegen die Gewalt der Strasse verkauft. Die Subjekte wurden vertauscht, die Monopolisten der Gewalt stellten sich als Betroffene, die sich wehren müssen, dar.
Ein Teil der Stadt wurde abgesperrt, sodass keinerlei Demonstrationen dort abgehalten werden konnten. Dieses Demonstrationsverbot wurde von den Gerichten abgesegnet. Dann wurde auch durch das Agieren der Polizei klargestellt, dass auch friedliche Demonstranten Leib und Leben in Gefahr bringen, wenn sie gegen einen G 20-Gipfel demonstrieren wollen.
Als wahrscheinlich kann angesehen werden, dass auch Provokateure eingesetzt wurden, um sicher zu gehen, dass man diejenigen Szenen und Bilder produzieren kann, die nachher durch die Medien gingen. Die Medien stellten sich – mit wenigen Ausnahmen – einhellig auf die Seite des „angegriffenen“ Gewaltmonopols, das unter Einsatz aller Kräfte gerade noch einmal verteidigt werden konnte. Die Demokratie ist wieder einmal gerettet.
Was bleibt als Fazit? Das Gewaltmonopol in Deutschland ist intakt, die demokratisch gewählte Regierung hat klargestellt, dass sie Herrschaft ist, und auf den Konsens pfeift, der ihr immer als Regierungsmethode nachgesagt wird. Und das Volk wurde darauf aufmerksam gemacht, dass es dafür da ist, zu arbeiten und Steuern zu zahlen und hin und wieder die Herrschaft zu ermächtigen, aber nicht dazu, sich in Regierungsangelegenheiten einzumischen oder die Repräsentation der Macht zu stören.
Ganz anders sieht es aus in Spanien.
Da will sich ein Landesteil abspalten. Um sich gegenüber der Zentralgewalt einen Rechtstitel zu verschaffen, rufen die katalanischen Politiker zu einer Abstimmung auf, die sie trotz Verbots durch das Verfassungsgericht organisieren. Bayern hat auch einen Antrag auf so eine Abstimmung gestellt, sie wurde verboten. Auch andere Staaten haben solche Probleme.
Es liegt an der Art, wie sich die EU und das in ihr stattgefunden habende Niederreissen aller Schranken für das Kapital auf die Mitgliedsstaaten ausgewirkt haben. Manche Regionen sind völlig abgeschifft, fast jeder Staat hat seine Mezzogiornos, und versucht die aus dem Budget irgendwie funktional zu halten. Bayern wollte eben auch nicht mehr für den abgewrackten Ruhrpott oder die Nebulae Mittel lockermachen.
Um was es hier geht, ist die Verfasstheit der EU-Staaten an sich. Viele Staatenlenker haben ihre Staatsräson eingebüsst oder völlig neu überdacht. Und die Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens und anderer Regionen stellen die jetzigen Staaten und ihre Landesgrenzen in Frage. Es stellt sich heraus, dass diese Staaten gar nicht mehr über die Mittel verfügen, diese Zentrifugalkräfte gewaltmässig zu bändigen.
Diese Entwicklung erwischt die Eliten der EU irgendwie am falschen Fuss, und das betrifft nicht nur die Politiker, sondern vor allem die Medienfritzen. Während das Zuschlagen der deutschen Polizei in Hamburg für die meisten deutschsprachigen Medien völlig in Ordnung geht, wird der spanischen Regierung von Ungeschicklichkeit über Unverhältnismässigkeit bis Unfähigkeit alles Mögliche vorgeworfen. Die relative Erfolglosigkeit oder Schwäche der spanischen Exekutivkräfte gegenüber dem illegalen Referendum wird ihnen zum Vorwurf gemacht.
Aus der medialen Aufarbeitung der Ereignisse kann man schliessen, wie wenig Rückhalt Regierungen, die ihr Volk nicht mehr im Griff haben, bei den EU-Meinungsmachern geniessen.
Schon haben baskische Nationalisten Aufwind und rufen zu Ungehorsam gegenüber Spanien und Solidarität mit Katalonien auf. Sie wollen also die katalanischen Bestrebungen für ihre eigenen Ambitionen nutzen.
Sehr bürgerkriegsträchtig, das „Europa der Regionen“.
Amelie Lanier
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Grafikquelle : Autonome bei einer Demo gegen den G-20 Gipfel im Hamburg
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Sie war viele Jahre das Linke Gesicht aus Hamburg – die Reste sehen wir jetzt rechts.
Wer nicht auf die Pfeifen aus Berlin tanzt, wird rausgepöbelt oder von korrupten Handlangern ausgeschlossen.
Etwas mehr als zwei Wochen vor der Bundestagswahl verzichtet die Linken-Kandidatin Sarah Rambatz auf ihren Listenplatz in Hamburg. Grund ist ein Facebook-Eintrag der 24-Jährigen, der für Wirbel sorgt.
Empfehlungen für antideutsche Filme gesucht
Rambatz hatte in einer nicht öffentlichen Facebook-Gruppe um Empfehlungen für „antideutsche Filme“ gebeten – am Besten solche, in denen Deutsche sterben. Seitdem gibt es in den sozialen Medien eine Welle der Empörung. Die Hamburger Linke ging auf Distanz zu ihr: Spitzenkandidat Fabio de Masi sagte NDR 90,3, er bekäme „das kalte Kotzen“ – das sei keine linke Position. Aber es sei auch ein absoluter Einzelfall.
Grafikquelle : Die Politikerin und Spitzenkandidatin der Patei DIE LINKE für die Bürgerschaftswahl in Hamburg 2015 Dora Heyenn bei einem Fototermin in Hamburg.
CC BY-SA 3.0Die Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Person(en) beschränken bestimmte Weiterverwendungen des Bildes ohne dessen/deren vorherige Zustimmung.
File:Dora Heyenn – Bürgerschaftswahl in Hamburg 2015 01.jpg
Seit G20 in Hamburg ist „die Linke“ in Verruf geraten, und im konservativen Lager kehren selbstherrliche Zeiten zurück. Es ist eine trübe Debatte.
Autor Michael Ebmeyer
Auf die Krawalle zum G20-Gipfel folgte die lange Nacht der Leitartikler, und sie ist noch nicht vorbei. Solche Nächte können Wochen dauern, selbst in unserer kurzatmigen Epoche. Ein wenig von dem Dunkel und dem Dünkel solcher Nächte kann sich sogar auf unbestimmte Zeit festsetzen und die öffentliche Debatte eintrüben.
Diesmal hat sich der Diskursnebel über „die Linken“ gesenkt. Wobei wir uns „die Linken“ als ein gigantisches Ungeheuer vorzustellen haben, dessen Schwänzchen sich im kreuzbraven SPD-Ortsverein ringelt und dessen Kopf bei den potenziellen „Mordbrennern“ (Martin Schulz) aus den berüchtigten autonomen Kreisen um sich schnappt.
Das Gesetz der Aufmerksamkeitsökonomie verlangt, dass die Randale in Hamburg zu etwas nie Dagewesenem erklärt werden. Gegen die G20 kündigten sich Proteste an. Was dann geschah, war unglaublich. Eine neue Dimension, darunter geht es nicht. Und in dieser neuen Dimension wimmelt es von Gewalttätern, die sich als „links“ betrachten.
Da reibt sich die Christdemokratin die Hände, und der FDPler macht schon mal den Sekt auf. Jahrelang ist man ist man in der Defensive gewesen, wenn es um die Ränder des politischen Spektrums ging. Schließlich waren es zum Großteil die (vormals) eigenen Leute, die in der AfD mit rassistischen und demokratieverächtlichen Tönen auftrumpften. Laufend musste man sich dagegen verwahren, dass diese Rechtspopulisten sich als „Liberale und Konservative“ (Präambel zum AfD-Grundsatzprogramm) ausgaben. Wenn Rumpelstilzchen Seehofer oder andere Spitzenfunktionäre aus dem bürgerlichen Lager selbst wie neurechte Einpeitscher klangen, musste man sich furchtbar winden.
Doch dann kam Hamburg
Und die Floskel „Gegen Linksextremismus müssen wir aber auch vorgehen“, die doch immer sicheren Halt geboten hatte, klang schaler denn je angesichts der NSU-Morde, der „national befreiten Zonen“, der Pegida-Hetze und der Hasskampagnen in den sozialen Netzwerken, der Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, des Anstiegs rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten um über 42 Prozent (2015) und von da aus dann nochmals um über 14 Prozent (2016).
So hartnäckig der Verfassungsschutz betonte, die Zahl der Straftaten von Linksextremisten sei ebenfalls erschreckend hoch: Mit solchen Raten konnte sie bei weitem nicht Schritt halten, weder relativ noch absolut gesehen. Zudem war keine auch nur ansatzweise linksradikale Partei in Deutschland auf dem Vormarsch, während die AfD mit reichlich Auslegern in die rechtsextreme Szene in ein Länderparlament nach dem anderen einzog und sogar nach einem halben Jahr gewissenhafter Selbstdemontage allen Umfragen zufolge noch die Fünfprozenthürde bei der Bundestagswahl schaffen würde.
Doch dann kam Hamburg. Das große Revival-Wochenende der Gewalt von links, mit allen geläufigen Schreckensbildern. Der Schwarze Block, die brennenden Autos, die Plünderungen. Und die erleichterte Entrüstung der Konservativen schlug vollends in Frohlocken um, als linke und sozialdemokratische Politiker blöd genug waren, die Ausschreitungen als „nicht links“ zu deklarieren. Die Täter von Hamburg, versicherte Martin Schulz den kreuzbraven Ortsvereinen im Land, seien „bescheuert, aber nicht links„, denn „links und Gewaltanwendung schließt sich gegenseitig aus“.
Lauter Steilvorlagen für bürgerliche Kommentatoren. Die Linken sind scheinheilig, die Linken lügen sich die Wirklichkeit zurecht – die Artikelmaschine sirrt weiter wie Söhnleins Fidget Spinner. Mit schulmeisterlicher Süffisanz ruft einer von der Französischen Revolution bis zum Pol-Pot-Terror die blutigsten Beweise dafür in Erinnerung, dass Gewaltanwendung und linke Ideologie sich eben doch nicht ausschließen. Ein anderer nutzt die Gunst der Stunde, um melancholisch zu resümieren: „Eine Linke braucht es nicht mehr.“ Und so weiter.
Über 35 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten laufen derzeit im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel, wie die Hamburger Innenbehörde bestätigte. In der überwiegenden Zahl der Fälle geht es dabei um Körperverletzung im Amt. Dennoch bestreitet Olaf Scholz, Erster Bürgermeister der Hansestadt, noch immer vehement, dass es zu Übergriffen seitens der Polizei gekommen sei. Scholz’ Behauptung erscheint grotesk auch angesichts zahlreicher Berichte, wonach die Polizei in den Tagen rund um den Gipfel massiv gegen Demonstranten und Unbeteiligte vorgegangen ist – sei es mit Tritten, Fausthieben und Schmerzgriffen, sei es mit Schlagstock, Pfefferspray und Wasserwerfern. Auch zahlreiche Journalistinnen und Journalisten wurden Opfer polizeilicher Gewalt; Dutzenden von ihnen wurde zudem vor Ort überraschend die Akkreditierung entzogen und damit der Zutritt zum Pressezentrum des G20-Gipfels verwehrt.
Bereits im Vorfeld des Gipfels setzte die Polizeiführung unmissverständliche Zeichen, die sich sowohl an die Protestierenden als auch an die eingesetzten Beamten richteten: So wollte sie, trotz eines anderslautenden Beschlusses des Hamburger Verwaltungsgerichts, das geplante Protestcamp auf Entenwerder um jeden Preis verhindern; ein großer Teil der Innenstadt wurde zur demonstrationsfreien Zone erklärt. Stadtweit gingen Einsatzkräfte gegen Menschenansammlungen vor, die Bewohnerinnen und Bewohner von St. Pauli und Teilen Altonas waren dem Dauerlärm von Hubschraubern ausgesetzt und wurden immer wieder in Polizeimaßnahmen verwickelt.
Den Höhepunkt dieses versammlungsfeindlichen Vorgehens bildete die Zerschlagung der antikapitalistischen „Welcome to Hell“-Demonstration. Den Anlass dafür lieferten vermummte Teilnehmende, die jedoch nach übereinstimmenden Aussagen von Beobachtern größtenteils auf die Forderung der Polizei reagierten und Masken und Tücher ablegten. Doch selbst nachdem der schwarze Block in die Zange genommen war und manche seiner Teilnehmer in Panik über eine Flutmauer geflüchtet waren, räumten Wasserwerfer und gepanzerte Einheiten auch die verbliebenen 10 000 Demonstrierenden von der Straße. Dieser Einsatz setzte den Rahmen für die Ereignisse der folgenden Tage: Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Protestgruppen, Zuschauern und der Polizei. Diese gipfelten in Ausschreitungen mit brennenden Barrikaden und geplünderten Geschäften.
Der doppelte Blick zurück
Angesichts der ausufernden Gewalt ist eine nüchterne Aufarbeitung der Hamburger Ereignisse bitter nötig. Erfolgt diese Aufarbeitung nicht, so bleibt es bei der bloßen Skandalisierung der Geschehnisse, ohne dass ihr Kontext betrachtet würde. Ressentimentgeladene Antworten und weitere Eskalationen sind dann unweigerlich die Folge.
Eine solche Aufarbeitung kann jedoch nur mit einem doppelten Blick zurück erfolgen: zum einen auf die Geschichte des Gipfelprotests und zum anderen auf die Geschichte des polizeilichen Umgangs mit linkem Protest in der Hansestadt.
Bereits seit Ende der 1980er Jahre werden internationale Treffen wie der G20 von massiven Protesten begleitet. Die Städtenamen Seattle (Treffen der Welthandelsorganisation 1999), Prag (Treffen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds 2000) und Genua (Treffen der G8 2001) stehen sinnbildlich für diese globalisierungskritischen Großereignisse. Dabei etablierte sich schon frühzeitig ein Repertoire des Gipfelprotestes, das mit wechselnder Gewichtung zu jedem Anlass neu eingeübt wird: Neben dem alternativen Gegengipfel wird meist für eine Großdemonstration mobilisiert, es gibt kreative Aktionen, Blockaden und schließlich Angriffe auf die Gipfelinfrastruktur und die Vertretungen internationaler Konzerne.
Autonome und anarchistische Gruppen haben dabei immer militante Aktionen geplant und durchgeführt. Ihrem Verständnis nach sind die internationalen Gipfeltreffen Ausdruck einer globalen imperialistischen Herrschaft, die durch Demonstrationen und Appelle nicht in Frage gestellt werden kann. Daher gehören Sachbeschädigungen und Attacken auf Polizeibeamte zum politischen Kalkül eines zumindest zahlenmäßig überschaubaren Teils der Protestszene.
Die Polizei kennt unterschiedliche Konzepte im Umgang mit dieser Gruppe, die andere Demonstrierende mehr oder weniger in Mitleidenschaft zieht. In der polizeilichen Handhabung der Gipfelproteste hat sich dabei im Laufe der Jahre – auch in liberalen Demokratien – eine Einsatzlinie durchgesetzt, die hinter das Konzept des Negotiated Management zurückfällt, das seit Ende der 1960er Jahre entwickelt wurde. So setzt die Polizei oftmals nicht mehr auf Aushandlungen mit den Demonstrationsanmeldern, um dem Protest Raum zu geben. Vielmehr behandelt sie das Versammlungsrecht als nachrangig und setzt andere strategische Prioritäten. In der Forschung wird dieser Ansatz als Strategic Incapacitation (strategische Unfähigmachung) bezeichnet: Die Polizei erschwert Proteste, insbesondere dann, wenn sie dem Gipfelort zeitlich und räumlich nahekommen. Das geschieht unter anderem durch Verbotszonen und eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, in der die Bedrohung durch gewaltsamen Protest in der Regel überbetont wird.
Dadurch trifft das repressive Vorgehen der Polizei auch einen Großteil der friedlichen Demonstrantinnen und Demonstranten – ungeachtet einer höchstrichterlichen Rechtsprechung, die etwa in der Bundesrepublik die Differenzierung von Protestgruppen und eine faktenbasierte Gefahrenprognose gebietet. So heißt es im Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 1985, das Demonstrationsrecht gehöre „zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens“. Gerichte und Behörden müssten die „grundlegende Bedeutung dieses Freiheitsrechts“ beachten. Dennoch wird das Demonstrationsrecht zumeist sicherheitspolitischen Erwägungen untergeordnet. Dass Gerichte dieses polizeiliche Vorgehen im Nachhinein nahezu immer verurteilen, hilft den Demonstrierenden vor Ort dabei nur wenig.
Brennpunkt Rote Flora: Die Protestgeschichte Hamburgs
Gewalt spielt den Herrschenden in die Karten. Die außer-parlamentarische Linke sollte lieber auf zivilen Ungehorsam setzen.
Die Gewalt von Hamburg wird in wenigen Tagen im Sommerloch verschwinden. Dabei ist eines eindeutig: Auch ein umsichtigerer und strategisch klügerer Polizeieinsatz hätte die Gewalt nicht verhindern können – die Gewaltausbrüche waren von Politik/Polizei und Gewaltbereiten gewollt, wie das bisher vorliegende Material zeigt. Aber merkwürdig an der bisherigen Debatte ist schon, dass die Veranstalter des Protests diese beschweigen, in Dreiviertel/Einzehntel-Distanzierungen oder in einseitigen Schuldzuweisungen verharren.
Die Kernfrage für die außerparlamentarische Linke lautet: Gibt es in Zukunft nur noch kreuzbrave Demos und gewaltsame Ausbrüche? Oder gibt es doch etwas, das wir massenhaften gewaltfreien zivilen Ungehorsam nennen – und was in Hamburg nur in Spurenelementen zu besichtigen war? Kurzum: Das produktive Verständnis von der Toleranz unterschiedlicher Radikalitäten ist zerbrochen.
Verdeckt von der Gewaltwolke
Nach Hamburg gilt: Nicht verstecken! Fast 100.000 Menschen haben friedlich, fantasievoll und kreativ demonstriert. Die Gewaltwolke hat diesen Protest weitgehend verdeckt. Sie haben sich die Gewaltausbrüche nicht in die Schuhe schieben lassen und darauf beharrt, dass der politischen Verantwortungslosigkeit der G20 ihre scharfe Kritik gilt. Sie haben auch weitgehend der Distanzierungsmasche der Herrschenden widerstanden und sind einer sofortigen Distanzierung nicht gefolgt.
Als ob nicht diejenigen, die Gewalt ausgeübt haben, auch dafür selbst verantwortlich seien und strukturelle Gewalt nicht das periodische Kennzeichen marktkonformer Demokratien ist (siehe „Riots“ in Los Angeles, London und den Banlieues von Paris). Die scheinbare Irrationalität der Gewalt bekommt ihre Rationalität in der Agonie der politischen Verantwortungslosigkeit der G20. Massive Gewaltausbrüche sind politisch.
Die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 waren schon von dem fragilen Konsens getragen, man könnte die gewaltfreien Proteste mit den Offensiven des zivilen Ungehorsams sowie mit provozierenden Gewaltaktionen irgendwie gewaltfrei bündeln. In Hamburg zerbrach dieser kaum haltbare Konsens schon im Vorbereitungsprozess. Jeder machte seine Protestform, sein Ding, und fast alle wussten bei „Welcome to Hell“: Da würde es knallen.
Aber die Frage muss schon gestellt werden, warum das Protestmittel des zivilen Ungehorsams insgesamt nicht dominierte. Also als bewusster Verstoß gegen rechtliche Normen von handelnden Staatsbürgern mit einem Akt des zivilen Ungehorsams auf die Beseitigung einer Unrechtssituation hinzuwirken. Und damit ein moralisches Recht auf Partizipation und gesellschaftliche Lernprozesse zu begründen – mit der Konsequenz, dafür auch eine Strafe zu erdulden.
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Über die Wahrnehmung von Gewalt
und intellektuelle Unterwerfung
SCHLAGLOCH VON CHARLOTTE WIEDEMANN
Die Debatte über Gewalt, wie sie seit dem G20-Gipfel in Hamburg geführt wird, hat einen blinden Fleck. Sie spart nämlich die Frage der Wahrnehmung aus: Für wen ist was wann Gewalt? Eine Antwort darauf zu suchen, ist nicht weniger als der Kern emanzipatorischen Denkens. Dazu drei Anregungen.
Erstens: Die tatsächliche Dimension institutioneller und struktureller Gewalt setzt sich selten in unsere Alltagswahrnehmung um. Deshalb wirkt ein Jean Ziegler, der immer wieder die blanken Zahlen des „Imperiums der Schande“ benennt, die täglich Verhungernden, wie ein Don Quichotte der Weltöffentlichkeit, ein verrückter Sehender, irre in seinem Unbeirrtsein.
Zu enge Sicht
Framing, eigentlich ein Begriff der Medienwissenschaft, prägt unsere Sicht von Gewalt: Wir blicken durch einen zu kleinen Rahmen. In diesem Ausschnitt wirkt, wer sich gegen das große institutionalisierte Unrecht auflehnt, immer falsch, weil der eigentliche Gegner nicht sichtbar ist. Unter westeuropäischen Bedingungen leidet oppositionelle Gewalt dann an einer doppelten Unangemessenheit: Sie ist einerseits zu klein, weil sie den Agenten der institutionellen Gewalt nicht weh tut. Und andererseits zu groß, weil sie die Falschen trifft, die bloßen Statthalter, die Unbeteiligten.
Zweitens: Unser Verhältnis zur Gewalt ist nur psychiatrisch zu verstehen. Wir sind süchtig nach ihr, wir konsumieren Gewalt durch Nachrichten und Unterhaltungsmedien in einem zuvor nie gekannten Ausmaß – und wir tabuisieren sie zugleich.
In jedem Fernsehkrimi geschändete Mädchen, abgeschnittene Finger, Leichen. Obligatorisch die Szene beim Rechtsmediziner, damit wir die Leiche noch mal in Naheinstellung haben, bläuliches Fleisch, gewendet nach allen Seiten. Daneben, wie unverbunden, die Tausenden Toten im Mittelmeer, doppelt unsichtbar, versunken im Meer und nie gehoben über den Level von Verdrängung hinaus. Fast müsste man den Identitären, die im Meer Rettung zu verhindern suchen, dankbar sein: Sie entschleiern die institutionelle Gewalt, machen sichtbar, dass Tod oder Leben eine Folge von Entscheidungen ist.
Wie wir uns nähren am Konsum von Gewalt, mit der wir scheinbar nichts zu tun haben, entblößt gerade ungewollt eine ARD-Eigenwerbung, die solche Sendungen als „schwere Kost“ bezeichnet. Viele Medien lechzen nach Gewalt, und es bleibt im Dunkeln, ob sie ihr Publikum damit erziehen oder nur dessen verborgene Gier spiegeln. Zahllos die Vergewaltigungsfantasien, die in WLAN-Netze von Schrebergartenkolonien eingetippt werden.
Drittens: Es ist eine Mär, dass es in der politischen Auseinandersetzung eine klare Grenze zwischen legitimer und nicht legitimer Gewalt gäbe. Welche Regime unter Einsatz von Gewalt bekämpft werden dürfen, das unterliegt immer dem Kriterium der Opportunität. Jüngstes Beispiel: Venezuela. Die schöne durchtrainierte Steinewerferin wird zur Fotoikone hiesiger Medien; zugleich erkennt das Auswärtige Amt ein formell illegales Referendum der Opposition als „legitimen Ausdruck“ des Wählerwillens an.
Merkels Bilanz des Versagens nach bald 12 Jahren Regierung
oder
Die Pleiten und Pannen, einer einstigen Wirtschaftsmacht
Gegen, soviel vom Volk bezahlte Pracht,
wirkte der Palast der Republik wohl nur wie eine einfache Kaffeebude
Von Winfried Wolf
Der Berliner Flughafen BER wird seit Jahren nicht eröffnet, die Elbphilharmonie wurde teurer, aber Stuttgart schlägt sie alle. Dem S-21-Projekt gebührt im Wettbewerb um das skandalträchtigste Großprojekt der Siegerkranz.
Als die neue Hamburger Elbphilharmonie am 11. Januar 2017 mit großem Pomp den Konzertbetrieb aufnahm, machte das Projekt seinem Namen einige Ehre: Vorherrschend war Harmonie. Vergessen schienen Dissens und Disharmonie, die gut fünf Jahre lang die Debatten zu dem Kulturbau bestimmt hatten; die Medien feierten den Kulturpalast als Errungenschaft. Das damalige Bundespräsidentenauslaufmodell Joachim Gauck formulierte, „bei Elphi“, dem „Juwel der Kulturnation Deutschland“, sei ja „einiges verbaut“ worden.
Fürwahr. Am Ende lagen die Gesamtkosten bei 866 Millionen Euro – 3,6-mal mehr als geplant. Die reale Bauzeit betrug mit rund acht Jahren 1,6-mal mehr als ursprünglich vorgesehen. Im Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses Elbphilharmonie der Hamburger Bürgerschaft heißt es: „Die wesentliche Ursache (für die Kostensteigerung des Projekts, d. Verf.) war die verfrühte Ausschreibung, die unvollständige Planung, eine Ausschreibung, die wesentliche Lücken hatte, und die natürlich damit auch Tür und Tor öffnete für Nachtragsforderungen.“ Eine Bilanz, bei der man sich fragt: Wurde denn überhaupt etwas richtig gemacht? Doch es ging nicht um eine wirtschaftliche Bilanz und nicht um einen bloßen Kulturtempel. Es geht um eine Art Sponsoring by Arts: „Die Erwartung ist“, so brachte es das Handelsblatt trefflich auf den Punkt, „dass die Elbphilharmonie den Wirtschaftsstandort Hamburg weltweit bekannter macht.“ Prompt waren am Abend des 7. Juli die G20 in die heiligen Elbphilharmonie-Hallen geladen, um als Kontrastprogramm zur vergeigten Gipfelharmonie Beethovens Neunte gefidelt zu bekommen.
Bundesweit Gähnen über den Berliner Flughafen BER
Als im Juli 2017 bekanntgegeben wurde, dass der neue Berliner Flughafen BER nicht, wie bisher öffentlich kundgetan, im laufenden Jahr 2017, sondern frühestens 2019, wenn nicht 2020 den Betrieb aufnehmen würde, gab es bundesweit bemühtes Gähnen. Ist doch die aktuelle Verschiebung des BER-Inbetriebnahme-Termins die siebte binnen sechs Jahren. Originell dabei ist, dass die BER-Flughafengesellschaft kund tat, der Airport sei mit Stand Ende Februar „zu 87 Prozent vollendet“ gewesen; im Januar habe „die Quote noch bei 82 Prozent“ gelegen. So gesehen müsste der BER Mitte 2018 ein 150-prozentiger sein.
Die aktuell absehbare Zeitplanung als realistisch unterstellt, wird die Bauzeit für den BER-Airport am Ende bei gut 12 Jahren liegen. Ursprünglich sollten es fünf Jahre sein. Allerdings ruhten beim Berliner Airport die Bauarbeiten mehr als ein Jahr. Am Ende wird sich die reale Bauzeit im Abgleich mit der ursprünglich geplanten mehr als verdoppelt haben.
Als Kosten wurden ursprünglich 1,7 Milliarden Euro veranschlagt. Im Sommer 2017 werden mit Gesamtkosten in Höhe von 6,5 Milliarden Euro gerechnet. Es könnten sicher auch sieben Milliarden werden. Es kommt demnach zu einer Verteuerung um rund das Vierfache. Damit übertrumpft das Berliner Großprojekt hinsichtlich Bauzeitverlängerung und Kostensteigerung den Hamburger Konkurrenten.
Stuttgart 21 – das Monster unter den Großprojekten
Rund 500 Verletzte Polizisten und 51 Personenin Untersuchungshaft – für Pter Altmaier ein Zeichen von Menschenverachtung. Die Krawalle in Hamburg seien „wie Terror von Rechtsextremen und Islamisten“, twitterte Peter Altmaier am Wochenende. Nun verteidigt er seine Aussage.
taz: Herr Altmaier, am Wochenende twitterten Sie über die Krawalle in Hamburg:
„Linksextremer Terror in Hamburg war widerwärtig und so schlimm wie Terror von Rechtsextremen und Islamisten. Danke Polizei. Danke Hamburg“
Wollen Sie ernsthaft brennende Flüchtlingsunterkünfte und Terroristen, die mit LKWs nur des Töten wegen in Menschenmengen rasen, mit brennenden Barrikaden in Hamburg gleichsetzen?
Peter Altmaier: In Hamburg gab es brutale Gewalt gegen Personen und Sachen. Nicht nur brennende Barrikaden. Auf Polizisten wurden Molotow-Cocktails, große Wackersteine und Eisenstangen geworfen, viele Polizisten wurden verletzt, einige schwer. Es ist ein Wunder, dass niemand zu Tode kam. Unbeteiligte Anwohner und Passanten wurden tätlich angegriffen. Es wurden Autos von Bürgern abgefackelt, auch von ambulanten Pflegediensten. Die Autos waren direkt an Häuserfassaden geparkt, es gab meterhohe Stichflammen, die auf die Häuser hätten übergreifen können. Menschen wurden in Todesangst versetzt, Kindergärten gaben Notrufe an die Eltern der Kinder ab.
Im Schanzenviertel sollte die Polizei offenbar sogar in eine tödliche Falle gelockt werden: Der schwarze Block hatte sich mit Gehwegplatten und Brandsätzen auf Hausdächer begeben, um diese auf die Polizisten hinabzuschleudern. All dies ist Terror, sonst nichts. Das sehen ganz offenbar auch der Vizekanzler und der SPD-Kanzlerkandidat ganz ähnlich: Beide haben ebenfalls von Terror gesprochen. Martin Schulz sogar von „Mordbrennern“.
Vielleicht hätten sie zur Klarstellung twittern sollen: „Der linksextreme Terror in Hamburg war so schlimm wie Terror von Rechtsextremen und Islamisten, abzüglich des Terrors von Rechtsextremen und Islamisten, über den wir seit Jahren sprechen, also Breitscheidplatz, Bataclan, IS und NSU.“
Ich habe in meinem Tweet keine konkreten Tatvergleiche gezogen, sondern allgemein den gerade beschriebenen Terror in Hamburg als so widerwärtig und schlimm bezeichnet „wie Terror von Rechtsextremen und Islamisten“. Dabei standen mir Beispiele rechtsextremer Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, die gezielte Terrorisierung und Einschüchterung von Flüchtlingen sowie die Terroranschläge von Würzburg und Ansbach vor Augen.
Als erfahrener Politiker wissen Sie, was Sie mit Ihrem Tweet für Assoziationen hervorrufen: Bilder von mordenden Islamisten mit dem Untertitel: „Jetzt auch von Linksextremen“. Schafft die Union damit den Hintergrundsound für den neuen Wahlkampfschlager Linksterrorismus?
Gewalt kickt. Unter brennenden Barrikaden blühen die Dystopien, plündern die Kids. Nur dem Kapitalismus geht’s ganz gewaltig am Arsch vorbei.
Hamburg, Schanzenviertel, Freitagnacht letzte Woche auf der Kreuzung Juliusstraße Ecke Schulterblatt unweit der Roten Flora. Sie wissen schon, die Krawall-Nacht.
Schwarzer Block brüllt A-, Anti, Anticapitalista, Plünderer, Bullen, Wasserwerfer, SEK, Waffen, Trump, Putin, Weltgipfel, Brände neben geöffneten Kneipen, die Faszination des Ausnahmezustands, der Gewalt, des Kampfes, egal gegen wen, Adrenalin fegt durch Adern, hämmert in den Köpfen tausend Mal härter als Sex.
Der Rausch des gemütlichen Bürgerkriegs, die Generation Fernsehgrusel ist endlich LIVE dabei, die Gleichung: Echte Gefahr ohne nennenswerte Folgeschäden, bei Überdruss ab nach Hause, in die sozialen Netzwerke, Heldengeschichten posten, empören und pöbeln, egal gegen wen, Bullenschweine, Linksterroristen immer im Namen der größeren Idee, ohne irgendwas zu kapieren, sichere Verortung im Moralgerüst, sicher ohne Konsequenzen.
Alles ab in den Eintopf der Empörung. Kurzschlüsse. Die Einen: Saudi-Arabien, Türkei, Russland, Flüchtlinge im Mittelmeer, Hunger, Krieg, Ausbeutung, Dreckssystem, Anticapitalista, Bullenschweine. Die Anderen: Staat, Ordnung, Bürger, Linke, Gewalt, Terror, RAF.
Ich schildere Ihnen jetzt mal, wie sich das anfühlte, am Freitag in Hamburg.
Grafikquelle : Dieses Foto ist von Olaf Kosinsky Achtung: Dieses Bild ist nicht gemeinfrei. Es ist zwar frei benutzbar aber gesetzlich geschützt. Bitte benutzen sie nach Möglichkeit als Bildbeschreibung: Olaf Kosinsky / Wikipedia in unmittelbarer Nähe beim Bild oder an einer Stelle in ihrer Publikation, wo dies üblich ist. Dabei muß der Zusammenhang zwischen Bild und Urhebernennung gewahrt bleiben.
bewaffnet mit roten Schirm, Schal – Raubritter vereinigt euch
Autonome sollen für die Eskalation bei einer Anti-G20-Demo mitverantwortlich sein. Aber wer ist das überhaupt? Die wichtigsten sieben Antworten zur radikalen Linken
Am Donnerstagabend eskalierte die von Hamburger Autonomen organisierte Anti-G20-Demo Welcome to Hell. Demonstranten und Polizisten geben sich gegenseitig die Schuld dafür. Die Polizei spricht von Aggressionen aus dem sogenannten schwarzen Block und vonseiten der Autonomen. Aber wer oder was sind diese Gruppen? Worin unterscheiden sie sich? Und wieso kommt es bei linken Demos immer wieder zu Zusammenstößen mit der Polizei?
1. Wer ist der schwarze Block?
Der schwarze Block ist weder Gruppe noch Bündnis, sondern eine Demonstrationstaktik. Sie hat ihren Ursprung in der Anti-Akw-Bewegung und den Protesten gegen die Startbahn West des Frankfurter Flughafens: Um sich vor Angriffen durch die Polizei zu schützen, vermummten sich die Demonstranten unter anderem mit Helmen. Die Bezeichnung schwarzer Block stammt von der Frankfurter Staatsanwaltschaft, die ihn das erste Mal in einem Urteil von 1981 so bezeichnete.
2. Warum gibt es den schwarzen Block?
Ursprünglich hatte der schwarze Block als Taktik die Funktion, sich zu schützen. Inzwischen dominiert jedoch ein symbolischer Aspekt: Durch einheitliche Kleidung soll Gewaltbereitschaft nach außen und innen signalisiert werden. „Es ist die Möglichkeit, Militanz darzustellen, ohne sie tatsächlich ausüben zu müssen“, sagt Sebastian Haunss, der an der Universität Bremen zu Protesten und sozialen Bewegungen forscht und zur Autonomenbewegung promoviert hat. Der schwarze Block ist also ein Symbol, das Links- und inzwischen auch Rechtsradikale für sich nutzen, um Militanz und Opposition auf der Straße auszudrücken.
3. Wer läuft dort mit?
Da die Taktik von jedem genutzt werden kann, ist die Frage nur schwer zu beantworten. „Bei den linken Protesten in Griechenland vor einigen Jahren etwa bestand er vor allem aus Anarchisten, die auch Molotowcocktails warfen. So etwas gibt es in Deutschland gar nicht“, sagt Haunss. Zu den G20-Protesten sind Tausende Demonstranten, linke und linksradikale, angereist, die sich ideologisch teilweise sehr stark unterscheiden. Es ist daher unwahrscheinlich, dass der schwarze Block auf der Welcome-to-Hell-Demo aus nur einer Gruppe wie etwa Hamburger Autonomen bestand.
Deutsch: Vorsitzender des DDR-Ministerrates Hans Modrow, Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen Dorothee Wilms, Bundeskanzler Helmut Kohl und der Regierende Bürgermeister Walter Momper (West-Berlin) während der Öffnung des Brandenburger Tores am 22. Dezember 1989. Im Hintergrund zwischen Kohl und Momper der Oberbürgermeister Erhard Krack (Ost-Berlin); vor Momper dessen Tochter Friederike. Rechts daneben: Walter Scheel, Otto Graf Lambsdorff und Hans-Dietrich Genscher.
Die Protestbewegung beim G20-Gipfel ist gespalten. Die einen wollen den Kapitalismus reformieren, die anderen warten auf seine Selbstzerstörung. Eine Vorschau auf die Denkmuster des kommenden Aufstands.
Hurra, die Welt geht unter heißt ein Hit der deutschen Band K.I.Z. Entspannte junge Menschen sitzen auf einem selbst gebauten Floß, sie sind die Überlebenden des dahingeschiedenen Kapitalismus. Die alte Welt ist am Horizont in einem prächtigen Feuerball versunken, vorbei das kapitalistische Rattenrennen, endlich dürfen die Menschen wieder glücklich sein. Das Leben ist wieder lebenswert, und alle teilen alles. In Soldatenhelmen kochen sie ihr Essen, mit Euro-Scheinen zünden sie das Feuer an. „Unter den Trümmern das Paradies.“ Es musste erst schlimmer kommen, bevor es besser wurde.
Das Lied ist toll, und seine apokalyptische Naherwartung trifft einen Nerv, aber klar: Es ist nur ein Song. Die Aufrufe allerdings, mit der radikale Demonstranten in diesen Tagen gegen den Hamburger G20-Gipfel mobilmachen, komponieren aus ihrem Wut- und Hassdeutsch denselben Sound: Lasst die hässliche Welt der Globalisierung zum Teufel gehen, sie ist ohnehin verloren. Globalisierung ist Krieg – sie ist nackte Gewalt, nichts anderes als Ausbeutung, Elend, Hunger, Steuerdumping, Billiglohn, Geldwäsche, Massenbetrug, Massenflucht, Massensterben, Naturzerstörung, Existenzangst und seelische Verwüstung. Kapitalismus ist, wenn vorne Leben hinein- und hinten Geld herauskommt, denn Geld ist der Fürst dieser Welt, alles tanzt nach seiner Pfeife. Das Kapital sagt Menschlichkeit und spekuliert mit Nahrungsmitteln. Es sagt Demokratie und erzeugt Autokraten. Es sagt Frieden und überschwemmt die Welt mit Waffen, Waffen, Waffen. Ein Narr, wer glaubt, die G20 werde „das System“ reformieren, denn Politiker sind die Lakaien der „imperialistischen Globalisierung“. G20 repräsentiert nicht die Menschheit, sondern die Sieger. Soll doch die systemfromme Standardlinke, sollen doch Bionade-Jugend und Apple-Hipster artig ihre Fähnchen schwenken und mit ihrem lokalen Bischof für globale Gerechtigkeit beten: „Im Gegensatz zur bürgerlichen Opposition werden wir den Herrschenden keine Alternative vorschlagen, um das kapitalistische System am Leben zu halten.“ Welcome to hell.
Die Linken, die gegen den G20-Gipfel protestieren, sind gespalten. Es gibt die radikalen Apokalyptiker, die auf den Zusammenbruch des Systems spekulieren, und es gibt die Reformer, die den Kapitalismus nicht abschaffen, sondern ihn politisch regulieren wollen. Die einen wollen „blockieren, sabotieren, demontieren“, die anderen verlangen einen „fairen Welthandel“. Die Spaltung in der Praxis spiegelt sich auch in der linken Theorie, wobei man sagen muss, dass die Apokalyptiker hier klar im Vorteil sind: Ihr Held ist nämlich der Psychoanalytiker und Marxist Slavoj Žižek, der bekannteste Feuerschlucker im linken Theoriezirkus, ein ungemein gewitzter Geist mit einer untrüglichen Witterung für die Heucheleien und Widerwärtigkeiten in der freien, von Donald Trump angeführten westlichen Welt.
Der Krisenkapitalismus hat Žižek groß gemacht, oder wie man in seinen Kreisen sagt: Neben der Anzahl der Suppenküchen ist die Auflage von Žižeks Büchern das Einzige, was im Kapitalismus überhaupt noch wächst. Zwar kommt ihm hin und wieder das Wort Demokratie über die Lippen, aber viel Demokratisches darf sich seine Gemeinde darunter nicht vorstellen. Man müsse den „selbstverständlichen Bezug“ der Anti-Globalisierungs-Bewegung auf „Freiheit und Demokratie“ problematisieren, schrieb er einmal, denn Demokratie beruhe auf Privateigentum, und das sei ihr Makel. Für Fassungslosigkeit sorgte Žižek, als er mit dem Gedanken spielte, man solle Donald Trump wählen, weil dessen Wahlsieg einen Prozess einleiten könne, „aus dem eine authentische Linke hervorgeht“. Für einen Dialektiker war das konsequent, denn in Hillary Clinton sah Žižek nichts anderes als die liberale Krankenschwester am Sterbebett des siechen Kapitalismus: Sie entschärft den amerikanischen Klassenkampf und verlängert das triste Leben eines todgeweihten Systems.
Auch für Žižek scheint klar: Es muss erst schlimmer werden, bevor es besser wird. Erst wenn hinter dem liberalen Scheinfrieden die Klassengegensätze wieder glasklar hervortreten und eine revolutionäre Stimmung aufkommt – erst dann wird die Linke auferstehen wie Phönix aus der Asche. Noch verharrt sie auf verlorenem Posten, doch das Warten lohnt sich. Alles, was einen Anfang hat, hat ein Ende. Auch der Kapitalismus.
Links ist nicht gleich rechts, das behaupten nur Rechte, die die Linke zur Hölle wünschen. Trotzdem gibt es linke Theoriepartikel, die sich dann, wenn die politische Lage finster und aussichtslos scheint, wie von Geisterhand auf eine Denkfigur ausrichten, die aus urkonservativen Quellen stammt und sich nahtlos mit einer marxistischen Analyse verschweißen lässt. Es ist die Behauptung, dass die liberale Demokratie ihrem Untergang entgegentaumelt oder, wie das Signalwort lautet, sich geschichtlich „vollendet“. In der Dauerkrise kommt das liberale System zu sich selbst. Es hat seine innere Logik vollständig entfaltet und steht bereits mit einem Bein im Grab.
Alain Badiou heißt der französische Philosoph, der diese These vertritt und auch von Slavoj Žižek ausgiebig zitiert wird. „Vollendung“ des Liberalismus heißt bei ihm: Nach 150 Jahren zerfällt das Zwillingspaar aus Markt und Demokratie, die liberale Schminke tropft ab, und das System zeigt sein wahres Gesicht. Das demokratische Versprechen („Freiheit“) war eine Lüge, denn in Wahrheit herrscht die „unumschränkte Macht einer Finanzoligarchie“ – eine globale Clique von einzigartiger moralischer Verkommenheit, besessen vom „morbiden Kult ums Eigentum“, verhext von der tiefen Absurdität ihrer Geldkultur. Die Gegenwart, schreibt Badiou in seinem Buch Das Erwachen der Geschichte (Passagen Verlag), „ist genau jene, die Marx durch eine geniale Vorwegnahme, eine Art wahrer Science-Fiction als die vollständige Entfaltung der irrationalen und wahrhaft monströsen Virtualitäten des Kapitalismus voraussagte“.
Der Grünen-Europaabgeordnete und Attac-Mitgründer Sven Giegold übt scharfe Kritik an seiner eigenen Partei: Es fehle Widerstand gegen Camp-Verbote.
Das Interview führte : Malte Kreutzfeldt
taz: Herr Giegold, ausgerechnet im rot-grün regierten Hamburg gibt es eine riesige Demo-Verbotszone, Schikane gegen politische Camps und Wasserwerfer-Einsätze gegen Straßenpartys. Wie kann das sein?
Sven Giegold: Ich habe dafür kein Verständnis. Eine demokratiefreie Zone von 38 Quadratkilometern ist eines demokratischen Staates unwürdig. Friedlicher Protest muss erlaubt sein. Eine wehrhafte Demokratie muss gegen Gewalt vorgehen, aber genauso konsequent die Bürgerrechte achten und zivilgesellschaftliches Engagement fördern. Weniger vermögende Demonstranten, die auf Camps angewiesen sind, gehören genauso zum Gipfel wie die Staatschefs, die in den Luxushotels residieren.
Von prominenten Grünen ist bisher aber kaum Kritik zu vernehmen.
Das stimmt leider. Von den Grünen auf Bundesebene und in Hamburg kommt hier viel zu wenig. Aber auch die sonst so laute Spitze der Linkspartei ist erstaunlich still. Während sonst zu allem und jedem getwittert wird und Pressemitteilungen verschickt werden, fehlt bisher wirklich laute Kritik an den Camp-Verboten und der Demonstrationsverbotszone. Die Parteien versagen kollektiv bei diesem Stresstest für unsere Demokratie. Ich vermisse demokratische Haltung. Gerichte müssen im Eiltempo Entscheidungen treffen, während sich die Politik ihrer Verantwortung entzieht. Es ist die Aufgabe von Parteien für eine lebendige Demokratie zu sorgen, nicht sich hinter Gerichten zu verstecken.
Was hätten die Hamburger Grünen denn Ihrer Meinung nach tun sollen? Die Koalition verlassen?
Sie verfolgen Journalisten und Minderheiten, aber in Hamburg wird Putin, Erdoğan und Co heute der rote Teppich ausgerollt. Die taz hat prominente Dissidenten gefragt: Was erwarten sie vom Gipfel? Und welche Hoffnungen haben sie längst begraben?
Mumia Abu-Jamal, USA
„Diesem vom Ku-Klux-Klan gefeierten Mann obliegt nun die Pflicht, über uns zu bestimmen“
John Kiriakou, USA
“Er schadet unserem Standing im Rest der Welt“
Ildar Dadin, Russland
„Ob in Russland gefoltert wird, ist für wirt-schaftliche Interessen nebensächlich“
Liao Yiwu, China
„Lassen Sie ihn ausreisen“
Yüksel Koc, Deutschland
„Wenn er kommt, sollte er vor Gericht gestellt werden“
Sinem Mohamed, Rojava ( Nord – Syrien )
„Was ist die Bedeutung eines G20-Gipfels, wenn währenddessen Zivilisten angegriffen werden?“
Werner Boyens kam als Baby in die Alsterdorfer Anstalten, weil seine Mutter ihn nicht haben wollte. Erst Anfang der 80er Jahre gelang ihm die Flucht.
Nachts im Bett oder wenn man so still sitzt oder Musik hört, dann läuft es hier oben wie ein Film ab. Meine Jugendzeit, das Leben, die Menschheit, das ist für mich dann auf Hochdeutsch gesagt scheiße.
Ich war ein halbes Jahr alt, als ich nach Alsterdorf gekommen bin, das war 1947. Ich bin unehelich geboren, ich habe einen älteren Bruder, der auch unehelich geboren ist. Das habe ich recherchiert, ich habe die Papiere im Wohnzimmerschrank gefunden. Die wollten mich nicht haben. Der neue Mann meiner Mutter hat gesagt: „Das, was du unter der Brust trägst, muss weg, egal wie.“ Meine Mutter hat sich vor die Straßenbahn geschmissen, sie wollte, dass ich abgehe. Aber ich bin leider nicht totgegangen, ich bin zur Welt gekommen, und dann bin ich gleich von meiner Mutter weggekommen, sie hat mich gar nicht berührt.
Erst bin ich ein halbes Jahr auf die Säuglingsabteilung gekommen und dann nach Alsterdorf in das Haus Fichtenheim. Das ist eine Holzbaracke gewesen, wir haben später KKST dazu gesagt, also Kinderkrankenstation. Da lagen zwischen 15 und 20 Leute in einem Raum. Abends wurden wir am Fuß am Bett angekettet, damit wir nachts nicht rausgingen. Es wurde nur einmal in der Woche gebadet und wenn man sich nass gemacht hat – wenn man noch klein ist, macht man sich ja auch nass – dann wurde man nur ein bisschen mit einem nassen Lappen abgewischt. Ich war dort ein paar Jahre und dann ging es auch los. Wissen Sie, was das heißt? Wir sind geschlagen worden.
Würmer im Eintopf
Es gab ein Scheißessen. Wir haben morgens und mittags drei Scheiben Brot bekommen, wenn ich es drückte, kam da das Wasser raus. Deswegen haben wir Kinder es viel mit dem Magen gehabt. Montags gab es Kohlsuppe, Eintopf, da konnte man mit der Hand reingreifen, da hing es wie eine Traube dran. Wir hatten Blechteller, ich habe mit dem Löffel drin rumgewühlt und was habe ich in dem Kohl gefunden – so lang und so dick wie der Finger – Kohlwürmer mit rotbraunen Köpfen. Wir konnten ja nichts sagen.
Wir wurden nicht mit Namen genannt, wir haben alle eine Kleidernummer gehabt. Ich hatte die Nummer 967, wenn jemand zum Beispiel die Nummer 71 hatte, dann kam der Pfleger oder die Schwester: „71, komm’mal her, du hast Scheiße gebaut“, und dann ging es ab. Wir haben die Suppe gegessen und dann wieder ausgebrochen, weil ich die Würmer gesehen hatte, und dann kam die Schwester, setzte sich neben mich hin und hat das Gebrochene wieder in mich reingeschaufelt.
Nach dem Fichtenheim war ich im Haus Alstertal, vielleicht knapp zwei Jahre, da waren Jugendliche und Schulkinder. Angeblich war ich Epileptiker, dabei hatte ich gar keine Anfälle, und bekam jahrelang eine kleine Pille, die hieß Zentropil, da war ich vielleicht sieben, acht Jahre alt.
Später ist noch etwas ganz Hartes passiert: Ich bin sterilisiert. Ich wusste das lange nicht, ich habe es erst rausgekriegt, nachdem ich abgehauen war, verheiratet und ein Kind kriegen wollte. Es passierte nichts und da bin ich zum Urologen gegangen. Da stellte sich die Sterilisation raus.
In Alsterdorf war eine große Mauer, Männlein und Weiblein getrennt, aber ich war doch mit jemandem zusammengekommen, mit 17, 18 Jahren und dann wurde ich geschnappt. Ich wurde genommen, Hände auf den Rücken, und es ging zum „Guten Hirten“. Jedes Haus hatte seinen Namen, das war die weibliche geschlossene Abteilung und bei dem Arzt, Doktor Borg, musste ich die Hose runterziehen, er hat die Eichel mit Jod eingerieben, dann konnte ich wieder gehen. Das hat mehrere Tage wie Feuer gebrannt.
– In Hamburg haben „Rebellen“ die Mehrheit in der Vollversammlung der Handelskammer gewonnen.
– Sie wollen unter anderem die Mitgliedsbeiträge abschaffen und das Gehalt des Geschäftsführers deutlich senken.
– In vielen Industrie- und Handelskammern kommen Zukunftssorgen auf.
In vielen Industrie- und Handelskammern herrscht Sorge, nachdem die „Kammerrebellen“ in Hamburg die Wahlen zur Vollversammlung mit 90 Prozent der Stimmen gewonnen haben. Die Rebellen sind angetreten, alles anders zu machen als die bisherige Führung: Sie wollen Kammerpflichtbeiträge streichen oder nur noch auf freiwilliger Basis erheben, das Gehalt des Geschäftsführers deutlich senken, für mehr Transparenz sorgen und nur noch in Ausnahmefällen politische Forderungen stellen. In der Kritik steht das Kammersystem auch in Berlin – dort laufen die Vorbereitungen für die Wahlen zur Industrie- und Handelskammer.
Das kritisieren die „Kammerrebellen“
Nach Ansicht der Kritiker setzen die Kammern Geld nicht wirtschaftlich ein, weil sie in teuren Gebäuden arbeiten und hohe Gehälter an die hauptamtlichen Geschäftsführer zahlen.
In Einzelfällen seien die Aufwandsentschädigungen für das ehrenamtliche Präsidium sehr hoch und intransparent.
Vom Kammerpräsidium abgegebene politische Statements entsprächen häufig nicht der Mehrheitsmeinung der Mitglieder, würden aber als solche verkauft.
Statt die Pflichtbeiträge ihrer Mitglieder zu senken, bildeten einige Kammern hohe Rücklagen.
Trotz der Beiträge verlangten die Kammern von ihren Mitgliedern für die meisten Dienstleistungen gesonderte Gebühren.
Ein großer Teil der Mitglieder nehme die Leistungen der Kammer praktisch nicht in Anspruch.
So argumentieren die Befürworter
Nach Ansicht der Befürworter des Status Quo würden freiwillige Mitgliedsbeiträge zu einem Rückgang des Budgets führen und dadurch auf Dauer den Einfluss der Kammern schwächen. Politische Forderungen ließen sich dann nicht mehr so leicht durchsetzen. Die Kammer könnte wichtige Aufgaben nicht mehr wahrnehmen.
Zu große Transparenz, etwa in Haushaltsfragen, schaffe Unruhe und gefährde somit die Handlungsfähigkeit der Kammern.
Kritik an Höhe und Verwendung der Mitgliedsbeiträge
Unterstützt vom Bundesverband für Freie Kammern ziehen immer mehr Mitglieder vor Gericht, um gegen die Gebührenbescheide ihrer Kammern zu klagen. Oft folgen die Gerichte den Argumenten der Kammergegner – vor allem, wenn es um die Höhe von Rückstellungen geht.
Rückenwind bekommen die Kritiker auch vom Landesrechnungshof Niedersachsen, der das Finanzgebaren mehrerer Kammern unter die Lupe genommen hat und in einigen Fällen einen „haarsträubenden Umgang“ mit Mitgliedsbeiträgen festgestellt hat.
Die Linke: Doppelt hält besser
Aufgrund von formalen Fehlern muss die Wahl der
Kandidierenden zur Bundestagswahl wiederholt werden
Wurden die Wahlscheine draußen eingeworfen –
oder vielleicht in eine Urne auf den Friehof ?
Nichts ist unmöglich bei den Linken!
Die Landesliste der Hamburger LINKEN zu den Bundestagswahlen 2017 muss noch einmal gewählt werden. Die Liste mit sieben Kandierenden, die vom derzeitigen Europaabgeordneten Fabio De Masi angeführt wird, ist wegen formaler Fehler vom Landesvorstand der Partei in Hamburg und einzelnen Vertreterinnen vor der Schiedskommission der Partei angefochten worden, um eine zeitnahe und ordnungsgemäße Wiederholung der Wahlen zu ermöglichen. Dieser Schritt erfolgte auf ausdrücklichen Wunsch der nominierten Kandidatinnen und Kandidaten zur Bundestagswahl.
„Leider haben zwei Landesvertreterinnen und -vertreter, die an der Wahlversammlung (LVV) teilnahmen, ihren Wohnsitz nicht wie vom Bundestagswahlgesetz verlangt in Hamburg. Das ist bei der Versammlung nicht aufgefallen“ beschreibt der Landesgeschäftsführer Martin Wittmaack die Mängel, die zur Anfechtung führten. „Unseren Wahlkampf hält dies nicht auf. Die Hamburgerinnen und Hamburger sollen wissen: Einen Politikwechsel 2017 hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit kann es nur mit einer starken LINKEN geben. Unser Spitzenkandidat Fabio De Masi hat kürzlich beim DGB in Hamburg darauf hingewiesen, dass 13,6 Prozent der Hamburger Rentnerinnen und Rentner von Armut bedroht sind.
Irgendwann im letztem Jahr soll es im NDR-Sendehaus einen Umsturzversuch gegen haben. „Russische staatliche Organe“ seien beteiligt gewesen sagte ein Ermittler, vom dem keiner weiß wer ihn warum zum Sonderermittler gemacht hat. Trotzdem geht „Hamburg“ – wer immer das ist – von einer Beteiligung Russlands aus. Die Behörden – das Straßenverkehrsamt, die KFZ-Zulassungsstelle oder die Hamburg Port Authority – haben was vermutet. Es war sogar von einem mutmaßlichen Komplott zum Sturz der Chefredaktion die Rede. Diese völlig sinnfreie und aus der Zeit gefallen Meldung wurde jüngst (s. unten, nur Montenegro gegen Hamburg austauschen) von einem NN der TAGESSCHAU formuliert. Bei der APOTHEKENUMSCHAU wäre der Volontär für eine solche dubiose Nachricht gefeuert worden und der Chef vom Dienst gleich mit. Bei der TAGESSCHAU riecht sowas nach Beförderung. Denn wenn der Russe an irgendwas Schuld ist, dann ist die Meldung einfach gut. Je postfaktischer um so besser.
Sehr geehrte Damen und Herren des NDR-Rundfunkrates, zunächst: Ziel dieser ARD-aktuell-Veröffentlichung ist, Russland zu beschuldigen, es habe in Montenegro einen Putschversuch initiiert. Als Bezugsrahmen dient, wenn auch nicht expressis verbis, sondern assoziativ bewusst gemachte und ständig genutzte propagandistische Behauptung „Russland ist eine Gefahr für alle Länder Europas“. In diesem „Frame“ wird im weiteren subtil desinformiert, mit Weitergabe von Vermutungen Dritter, deren Behauptungen, Dementis, Kontruktionen. ARD-aktuell stellt sich dabei selbst in der Rolle des neutralen Beobachters und Übermittlers dar, der aus vorgeblich objektiver Position referiert. In der Wissenschaft heisst diese Form der Manipulation „Innuendo“, versteckte, verdeckte Andeutung, hier mittels Berufung auf andere“. Praktiziert wird sie im vorliegenden Fall mit der reißerischen Schlagzeile: „Umsturzversuch“, „Montenegro beschnuldigt Russland „. Das Wort „Umsturzversuch“ weckt bei Rezipienten die Vorstellung von einem echten Ereignis. Tatsächlich steckt dahinter aber lediglich eine unbewiesene Behauptung montenegrinischer Behörden. Ihr wird in der Nachricht dann auch nicht einmal mehr nachgegangen. Die gewollte Wirkung ist ja bereits erzielt. Die Verbreitung solcher nicht belegter Beschuldigungen unter Berufung auf andere hat für die Übermittler den Vorzug, dass sie sich nicht mehr um Beweise kümmern müssen, opportunen Zeugen stehen als Ersatz bereit, hier Behörden Montenegros. So machen sich unseriöse Journalisten einen weißen Fuß. Der naheligenden Frage, ob nicht ein politisches Interesse hinter der Behauptung des NATO-Beitrittskandidaten Montenegro stecken könnte, würde ein seriös recherchierender Journalist natürlich nachgehen. ARD-aktuell widmet ihr keine Aufmerksamkeit. Um alle russophoben Vorurteile „triggern“ zu können, bringen die Qualitätsjournalisten eine Story, die hinten und vorn nicht stimmen kann. Gerade einmal 25 Serben (auch hier ein bekanntes frame: Russen und Serben sind bekanntlich „ziemlich gute Freunde“ seit jeher) sollen, lediglich leicht bewaffnet, eine Staatsregierung und ihren behördlichen Führungsapparat zu sürzen versucht haben. Der Blödsinn, der hier aufgetischt wurde, war garniert mit der Information, dass die des Hochverrats Beschuldigten 5 monatige Haftstrafen erhielten und die meisten Beklagten sofort auf freien Fuß gesetzt wurden. Mittels Verzerrungen und falscher Akzentuierung verankert ARD-aktuell im Publikum die objektiv unbegründete, subjektiv aber unvermeidliche Besorgnis, Russland habe möglicherweise doch in Montenegro einen Umsturzveruch inszeniert. Dass die Zuschauer dieser Vorstellung folgen und ARD-aktuell auf den Leim gehen, zeigen die Reaktionen in den Foren. ARD-aktuell hätte, wenn überhaupt über die Vorgänge hat berichtet werden sollen, erwähnen müssen, welchen Hintergrund das montenegrinische Märchen hatte. Der NATO-Beitrittsporzess Montenegros stockt. Vor einer Woche war der US-Sicherheitsberater Flynn geschasst worden, eines Befürworters der NATO-Mitgliedschaft Montenegros. In der derzeitigen Hängepartie kommt nun die Story vom angeblichen russischen Umsturzversuch in die Schlagzeilen. Bei einer so deutlichen Interessenlage und einer dermaßen dümmlichen Geschichte wird selbst einem unbedarften ARD-aktuell-Journalisten aufgefallen sein, dass er mit einer AgitProp-Kiste unterm Arm losgeschickt werden sollte. Und weil wir deshalb Unbedarftheit nicht vermuten dürfen, gehen wir von einer bösartigen neuen Propagandaaktion der Gniffke-Show gegen Russland aus. „Die ARD hat bei der Erfüllung ihres Auftrags die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung zu gewähren“. Hier wurde weder objektiv noch unparteilisch berichtet, sondern wurden russophobe Auftragsbotschaften übermittelt.
Friedhelm Klinkhammer, Volker Bräutigam
Das TAGESSCHAU-Buch von Gellermann/Klinkhammer/Bräutigam kommt bald: DIE MACHT UM ACHT
Polizeichef in Hamburg: Anzeige gegen Linke-Politiker
Hinrichtungs-Vorwürfe haben juristisches Nachspiel
Die Hinrichtungs-Vorwürfe des Linke-Politikers Martin Dolzer gegen einen Hamburger Polizisten haben möglicherweise ein juristisches Nachspiel: Polizeipräsident Ralf Martin Meyer hat gegen Dolzer Strafantrag wegen übler Nachrede gestellt. Dies bestätigte ein Polizeisprecher. Damit könnte dem Bürgerschaftsabgeordneten eine Geld- oder Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren drohen, wie die „Bild“-Zeitung berichtete. Dolzer hatte nach Polizeischüssen auf einen Ghanaer in St. Georg von einem „rassistisch motivierten Hinrichtungsversuch“ gesprochen und war dafür, auch aus der eigenen Fraktion, kritisiert worden.
Anfang Februar war ein Zivilpolizist von einem 33 Jahre alten Schwarzafrikaner mit einem Messer angegriffen worden. Wie die Polizei mitteilte, soll der Beamte den Angreifer zunächst mit Pfefferspray abgewehrt und dann zu Boden gebracht haben. Als dieser den Polizisten weiter mit dem Messer traktierte, soll der Beamte seine Dienstpistole gezogen und dem Angreifer ins Bein geschossen haben. Die Polizei geht von einer Notwehr-Situation aus. Der Fall wird, wie üblich, von der Dienststelle Interne Ermittlungen untersucht.
Eine großzahlige Studie zu Belästigung unter Wikipedianern zeigt, dass registrierte Nutzer für einen größeren Teil von Belästigungen verantwortlich sind als unregistrierte. Außerdem wird nur ein geringer Teil der Belästigungen sanktioniert.
Die Wikimedia Foundation, die Organisation hinter der freien Enzyklopädie Wikipedia, veröffentlichte gestern auf ihrem Blog eine gemeinsam mit Jigsaw, einer Tochter der Google-Mutter Alphabet, erstellte Studie mit der bislang größten Datenbasis zu Belästigung („harassment“) unter Wikipedianern (Link zur Studie). Wikimedia-Forscherin Ellery Wulczyn hatte dafür gemeinsam mit Nithum Thain und Lucas Dixon von Jigsaw 100.000 Kommentare von Diskussionsseiten gesammelt und sowohl von 4.000 Crowdworkern als auch via Algorithmus auswerten lassen. Jeder Beitrag wurde von 10 Crowdworkern bewertet und auf dieser Basis der Algorithmus (weiter-)entwickelt. Der gesamte Datensatz steht auf FigShare zur Verfügung.
Grafik Darstellung : 3D-Darstellung der Einträge binnen 30 Tagen auf Wikipedia-Diskussionsseiten, von denen 1092 verunglimpfende Sprache („toxic language“) aufwiesen (als rot angezeigt, wenn sichtbar, als grau, wenn zurückgesetzt) sowie 164.102 nicht-toxische Kommentare (dargestellt als Punkte). Darstellung von Hoshi Ludwig, CC BY-SA 4.0.
Heftiger Streit in der Bezirkspolitik um zwei Bäume,
die gefällt werden sollen. Mehrheit lehnt
neues Gutachten ab.
Zum Streit der LINKEN und GRÜNEN in Hamburg – Altona fällt mir nichts anderes als ein altes Spiel aus Kindertagen ein. Es ist immer wieder interessant festzustellen wie weit sich unsere Politiker rückwärts bewegen. Da ist der Unterschied zwischen den Parteien sowie Regierung und Opposition nur äußerst gering. Bezeichnen wir die „Eliten in Nadelstreifen“ als Dumme Blagen, wäre dies eine Beleidigung für Kinder, aber nicht für Erwachsene Menschen welche unbedingt ernst genommen werden wollen. Ein schönes Zeichen mit welchen Themen sich „Schwachköpfe“ beschäftigen und dabei die Gelder von BürgerInnen verpulvern.
Klotz, Klotz, Klotz am Bein, Klavier vorm Bauch wie lang ist die Chaussee? Links ´ne Pappel, Rechts ´ne Pappel in der Mitte ´nen Pferdeappel. Und eins – und zwei – und drei – und vier vorwärts, rückwärts, seitwärts ran.
Beim letzten Satz blieben alle stehen und bewegten den rechten Fuß, den Worten entsprechend noch vorn, hinten, zur seite und ran. Anschließend ging es wieder von vorne los.
Redaktion / IE
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Sind es nun seltene Schwarzpappeln oder doch nur Allerwelts-Pappeln, muss man sie schützen oder müssen sie weg, weil sie wegen ihres Altes umstürzen könnten? Um diese Fragen wurde jetzt in der Bezirksversammlung Altona heftig gestritten: Hintergrund: Ein kleiner Platz an der Erzbergerstraße in Altona soll umgestaltet werden – und dabei will das Bezirksamt die beiden alten Pappeln dort gleich mit fällen lassen. Sie hätten ihr maximales Lebensalter erreicht und müssten allein aus Sicherheitsgründen weichen, wie ein Baumgutachten festgestellt habe.
Doch gegen das Fällen gibt es heftigen Widerspruch von Anwohnern und Naturschützern. Die Linke formulierte daher einen Antrag und forderte ein weiteres Gutachten. Insbesonders dazu, ob es sich bei den Bäumen nicht doch um die seltene Art der Schwarzpappeln handele, die strenger geschützt werden müssten. So etwas kann aber nur durch einen regelrechten Gentest ermittelt werden, sagt die Bezirksverwaltung. Und der würde rund 1300 Euro kosten. Trotz Unterstützung durch die Grünen konnte sich die Linke mit dieser Forderung nicht durchsetzen. Der Antrag wurde von der Mehrheit abgeschmettert. Nun sollen dort junge Eichen als Ersatz gepflanzt werden.
Hamburger Grüne und Linke wollen sich
Verzicht auf Dienstwagen teuer bezahlen lassen
Auf die Idee muss man erst mal kommen: Grüne und Linke in der Hamburger Bürgerschaft wollen sich den Verzicht auf einen Dienstwagen von der Stadt bezahlen lassen. 50.000 Euro pro Jahr sollen die Fraktionen ab 1. Januar erhalten, weil ihre Vorsitzenden Anjes Tjarks (Grüne) und Sabine Boeddinghaus (Linke) das Angebot eines Pkw auf Stadtkosten nicht wahrnehmen.
Den entsprechenden Antrag will das Landesparlament am Mittwoch ohne Aussprache durchwinken. Die fraktionslose parteilose Abgeordnete Dora Heyenn ist empört: „Was für ein dreister Deal, eine Riesen-Sauerei.“
Fraktionsvorsitzenden steht die Nutzung eines Dienstwagens samt Fahrer zu. Tjarks fährt aber lieber Fahrrad, Boeddinghaus und AfD-Spitzenmann Jörn Kruse verzichten ebenfalls. Als Ausgleich sollen dafür ab 2017 jährlich insgesamt 150.000 Euro in die Kassen dieser drei Fraktionen fließen, als „geldwertes Äquivalent in Höhe von jeweils 50.000 Euro pro Jahr“, wie es im Antrag heißt.
Olaf Scholz hält SPD-Sieg bei Bundestagswahl für möglich
Hamburgs Bürgermeister geht davon aus, dass seine Partei bei der Bundestagswahl stärkste Kraft werden könnte. Ein Einzug der AfD sei noch längst nicht sicher.
Das Ziel der SPD im kommenden Bundestagswahlkampf muss nach Ansicht ihres Vize-Vorsitzenden Olaf Scholz trotz schlechter Umfragewerte lauten, stärkste Kraft zu werden. „Das ist machbar. Wenn die Bürgerinnen und Bürger sich einen Sozialdemokraten als Kanzler vorstellen können, kann die SPD gut und gerne zehn Prozentpunkte zulegen“, sagte Hamburgs Erster Bürgermeister der Neuen Osnabrücker Zeitung(NOZ). Damit wären die Sozialdemokraten dann gleichauf mit den Unionsparteien, „oder sogar vor ihnen“.
Die Kandidatenfrage werde die Partei im kommenden Jahr klären, sagte Scholz. Parteichef Sigmar Gabriel werde auf einem Parteitag im Mai 2017 einen Vorschlag machen. „Klar ist: Ein Parteivorsitzender ist auch immer ein guter Kanzlerkandidat“, sagte Scholz. Zu eigenen Ambitionen wollte er sich nicht äußern.
Zu möglichen Wahlkampfthemen sagte Scholz: „Wir müssen zeigen, dass man der SPD das Land anvertrauen kann.“ Der soziale Zusammenhalt in Europa müsse neu justiert werden, etwa indem man Menschen gute wirtschaftliche Perspektiven biete. „Sonst werden wir so etwas wie Herrn Trump in Europa, aber auch in Deutschland erleben.“ Dass die AfD in den Bundestag einzieht, ist nach Ansicht von Scholz noch nicht gesichert. „Die haben auf den meisten Politikfeldern gar nichts anzubieten. Ich bin mir sicher, dass viele Bürger das auch so sehen.“
CC BY-SA 3.0 deDie Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Person(en) beschränken bestimmte Weiterverwendungen des Bildes ohne dessen/deren vorherige Zustimmung.Weiternutzungshinweise ausblenden
File:2017-09-04 BSPC Hamburg Opening by Olaf Kosinsky-2.jpg
Die Aussagen des Linken-Politikers zu seiner DDR-Vergangenheit sind nicht zu widerlegen: Die Staatsanwaltschaft Hamburg stellt das Meineids-Verfahren gegen Gysi ein.
Aus Mangel an Beweisen hat die Staatsanwaltschaft Hamburg ihre Ermittlungen gegen den früheren Linksfraktionschef Gregor Gysi wegen Falschaussage eingestellt. Die eidesstattliche Erklärung, in der Gysi eine Tätigkeit für die Stasi bestritten hatte, sei nicht zu widerlegen gewesen, teilte die Behörde mit.
In dem Verfahren war es erneut um die Frage gegangen, ob Gysi zu DDR-Zeiten inoffizieller Mitarbeiter der Stasi war. Die Staatsanwaltschaft erklärte nun, zwar belasteten einige Unterlagen der Stasiakten-Behörde den Bundestagsabgeordneten. Bei kritischer Betrachtung hätten sich jedoch zahlreiche Widersprüche aufgetan, „die den Beweiswert der Stasi-Unterlagen schmälern“.
Auch die vernommenen Zeugen hätten keine eindeutig belastenden Angaben machen können. Ebenso wenig habe sich aus Aufzeichnungen, die der Generalbundesanwalt vor einem Jahr übersandt hatte, ein Tatnachweis führen lassen.
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Sieben kleine Nichtsnutze sich der Staatsgewalt zeigen wer die Pfründe ernten darf !
von Benedict Wermter
Über 2.100 Polizisten wurden 2014 wegen Gewalttätigkeit angezeigt. Nur 33 wurden angeklagt. Ihre Opfer hingegen landen oft vor Gericht.
An einem Sonntagabend im Herbst 2014 will eine Band auf dem Kölner Friesenplatz „Liebe verbreiten“. Rund 30 Menschen hören zu. Ein Mann vom Ordnungsamt verbietet die elektrische Verstärkung, die Umstehenden protestieren: Es wohnten doch gar keine Anwohner in der Nähe. Man ruft die Polizei.
Die Beamten rücken an, angeblich kommen sie von einem Einsatz bei einem Fußballspiel, vielleicht sind sie deshalb so geladen. Ein Polizist mit langem Bart steigt mit hochgekrempelten Ärmeln aus dem Wagen, berichten die Musiker. Dann geschieht das hier. Der Polizist reißt den Musiker Marius Bielefeld zu Boden und drückt sein Gesicht auf das mit Glasscherben bedeckte Pflaster. Dabei verdreht er ihm den Arm. Zwei weitere Beamte unterstützen den Polizisten. Die Umstehenden beginnen zu schreien. Einer der Zuschauer filmt die Szene mit dem Handy. Später zeigt er den Polizisten an, gemeinsam mit fünf andere Zeugen.
Man sieht in dem Film nicht, ob und wie Marius Bielefeld sich gegen die Beamten gewehrt hat. Aber er wird angezeigt wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“. Bei der Verhandlung spielt der Bielefelder Anwalt Dominik Maraffa der Richterin das Handyvideo vor. Diese ist überrascht, dabei war das Video der Polizei lange zuvor übergeben worden. Marius Bielefeld wird daraufhin freigesprochen. Die Staatsanwältin verspricht, Schritte gegen den Polizisten einzuleiten
Doch nichts passiert. Und auch die Anzeige der sechs Zeugen verläuft im Sande. Am Ende hat die Kölner Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt, ohne die sechs Anzeigenerstatter schriftlich darüber zu informieren, obwohl Staatsanwälte dazu rechtlich zwingend verpflichtet sind. Dominik Maraffa, der Anwalt des Musikers, weiß, dass der Fall beim Kölner Kommissariat untersucht wurde, hausintern also. In der Abschlussbemerkung hätten die untersuchenden Beamten geschrieben, sie sähen „keinen hinreichenden Tatverdacht“ – obwohl auch sie das Video kannten.
Eine fast durchgängigen Straflosigkeit
Vor einigen Monaten hat correctiv.org erstmals genaue Zahlen zur Polizeigewalt veröffentlicht – und von der fast durchgängigen Straflosigkeit berichtet. Jetzt liegen exklusiv die Zahlen für 2014 vor: Demnach wurden in dem Jahr 2138 Polizisten wegen Körperverletzung von Bürgern angezeigt. Nur gegen 33 Polizisten haben die zuständigen Staatsanwaltschaften Anklage erhoben – ganze 1,5 Prozent. Wie viele Polizisten tatsächlich verurteilt wurden, wird nicht statistisch erhoben. Es dürfte – wenn überhaupt – eine Handvoll sein.
Ganz anders die Gegenseite: Wer einen Polizeibeamten anzeigt, erhält meist umgehend eine Gegenanzeige wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“. Diese wurden in fast allen Fällen von einer Staatsanwaltschaft zur Anklage gebracht. Rund ein Viertel der Angeklagten wurde am Ende auch verurteilt.
Martin Rätzke ist Sprecher der Organisation Victim Veto, die Opfer von Polizeigewalt vertritt. „Wird gegen Polizisten ermittelt“, sagt Rätzke, „nimmt das Bild vom Rechtsstaat immer schweren Schaden.“ Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht an der FU Berlin, sieht innerhalb der Polizei eine „Mauer des Schweigens“. Die Beamten verweigerten Aussagen und deckten sich gegenseitig, schreibt der Jurist in einem Aufsatz. „Es gilt das Prinzip: Nichts verlässt den Funkwagen – weder nach oben noch an die Öffentlichkeit“, hat im vergangenen Jahr Rafael Behr festgestellt, Professor an der Polizeiakademie Hamburg. Anstatt in den eigenen Reihen zu ermitteln, verfolgten Polizei und Justiz ihre Opfer.
Die Autorenschaft wurde nicht in einer maschinell lesbaren Form angegeben. Es wird angenommen, dass es sich um ein eigenes Werk handelt (basierend auf den Rechteinhaber-Angaben).
Urheber
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Der Kurde passt nicht so richtig ins ARD-Sendeschema
Autor: U. Gellermann
Datum: 07. Januar 2016
Einmal möchte ich, nur für einen Tag, bei der TAGESSCHAU arbeiten: Nach Herzenslust könnte ich fälschen & betrügen & und ohne jede Recherche regierungskonformen Unsinn verzapfen. Aber dann kämen die Kollegen Bräutigam und Klinkhammer und schon wäre Schluss mit lustig. Wie im jüngsten Fall. Ja, wenn die Kurden im Format der irakischen Peschmerga von Deutschland die schönen leichten Boden-Boden Panzerabwehrlenkwaffen des Typs MILAN bekommen, um den IS zu bekämpfen, dann können sie kurzfristig Helden sein. Aber wenn sie ganz ordinäre in der Türkei lebende Kurden sind, die um ihre Kultur, Sprache und ihre Leben kämpfen, dann verfallen sie, mitten in Deutschland, der Erdogan-Sprachregelung und werden zu Terroristen. Ich will dann doch lieber nicht für die TAGESSCHAU arbeiten.
Programmbeschwerde: Tagesschau 25.12.15, 16:00 und Tagesschau.de 25.12.15, 15.42
Sehr geehrter Herr Marmor, die Tagesschau behauptete in der Sendung vom 25.12.15, 16:00, es habe Kämpfe zwischen der „verbotenen“ PKK und der Türkischen Armee gegeben, bei denen 6 PKK-Kämpfer und einige Soldaten getötet worden seien.
In „Tagesschau.de“ hieß es 8 Minuten zuvor, um 15:42: „Bei einer neuen Offensive türkischer Streitkräfte im Südosten des Landes sollen mindestens 205 Kämpfer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK getötet worden sein. Das berichtete die türkische Nachrichtenagentur Dogan unter Berufung auf Sicherheitskräfte. Cizre sei am schwersten von den Kampfhandlungen betroffen. Auch aus Diyarbakir wurden Opfer gemeldet. Die Nachrichtenagentur Reuters spricht von 168 toten PKK-Kämpfern. Sie beruft sich dabei auf staatliche Medien. „ Diese Informationen sind erlogen, denn tatsächlich operieren die Guerillas der PKK bislang gar nicht in den Städten der Türkei. Die Führung der Kurdischen Arbeiterpartei hat immer wieder betont, dass ihr militärischer Arm, die Volksverteidigungskräfte HPG, bislang in die Kämpfe in den seit Wochen belagerten Städten gar nicht eingegriffen hat. Richtig ist vielmehr, dass mörderische Erfüllungsgehilfen des Erdogan-Regimes entgegen den Behauptungen der „Tagesschau“ in einer Strafexpedition gegen „kurdische Jugendliche , die ohne Chance auf eine Arbeit sind und ohne Perspektive“ vorgehen , wie es die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ formulierte.
Es ist ein verzweifelter Jugendaufstand, angefacht durch die beständigen Provokationen der Staatsmacht, der mit brutalsten Mitteln von dem türkischen Militär in Blut erstickt werden soll. So setzen die Sicherheitskräfte, wenn sie in die Städte vordringen, als Vorhut die als besonders brutal geltenden „Esedullah Timleri“ ein, über denen ein Schatten des Geheimnisvollen liegt. Sie dringen in die Häuser ein, zerstören, töten, berichtete die FAZ. Und abermals schweigen die Verbündeten in der „westlichen Wertegemeinschaft“ des geschätzten „NATO-Partners“ Türkei zu diesem sich entfaltenden staatlichen Massenmord, dem in kürzester Zeit Hunderte von Menschen zum Opfer fielen. Während deutsche Regierungspolitiker und die ihnen verbundenen Massenmedien (incl. ARD und ZDF) noch vor gut zwei Jahren jeden von ukrainischen Sicherheitskräften zusammengeschlagenen Neonazi hysterisch skandalisierten, als die prowestliche „Opposition“ in Kiew einen veritablen Regierungssturz organisierte („Ukraine über Alles!“), herrscht nun in Berlin absolute Funkstille (so „Telepolis“ in einem Beitrag vom 1.1.16)
http://www.heise.de/tp/artikel/46/46978/1.html
Die professionellen Menschenrechtskämpfer im Umfeld der deutschen Außenpolitik scheinen alle in die Weihnachtsferien abgetaucht zu sein. Dafür erledigt die „Tagesschau“ das Propagandageschäft für die Regierenden in Berlin. Für die deutsche Bevölkerung ist es friedvoller von Kämpfen zwischen Türkischer Armee und der verbotenen PKK, anstatt von Morden einer Erdogan-angeleiteten Soldateska an kurdischen Zivilisten zu erfahren. Die „Tagesschau“ macht es möglich. Die Beiträge verstoßen wegen der erlogenen Behauptungen gegen die NDR-Programm-Richtlinien. Außerdem stellt sich die Frage, warum die Franfurter Allgemeine Zeitung zu besserer Recherche fähig ist, las das vermeintliche „Flaggschiff“ ARD-Aktuell.
Plus Nobody welcher sich an seiner Seite sonnten.
Eine große Ehre für den hochdekorierten Lamettaträger.
von Tobis Schulze
Für die Älteren war Helmut Schmidt ein Ex-Kanzler. Für die Jüngeren war er: kultig, kauzig und vor allem der letzte würdige Kanzler a. D.
Zur Begrüßung hatte sich Sandra Maischberger eine Laudatio zurechtgelegt: 96 Jahre alt sei ihr Gast. Deutschlands beliebtester Bundeskanzler sei ihr Gast. Noch immer gut für Schlagzeilen sei ihr Gast. Aus Hamburg sei ihr Gast.
Dann, am Ende der Aufzählung, drehte die Moderatorin ihren Kopf zum Gast. „Herzlich willkommen, Herr Schmidt!“, sagte sie mit Festtagsstimme.
Helmut Schmidt blies eine kleine Rauchwolke aus dem Mund, drehte den Kopf zur Moderatorin, um eine große Rauchwolke aus dem Mund zu blasen. „Ja“, antwortete er dann.
Der paffende, schnoddrige Großvater aus der Glotze: Helmut Schmidt wird einem großen Teil der Deutschen so in Erinnerung bleiben wie bei seinem letzten Fernsehauftritt im April 2015. All jenen zumindest, die jünger sind als Mitte oder Ende dreißig, die sich an Schmidts aktive Zeit also nicht erinnern. Despektierlich ist das nicht gemeint: Gerade unter den Jüngeren hatte Schmidt schließlich einen Kultstatus, sorgte für Einschaltquoten, galt als moralische Instanz.
Jan Fleischhauer ist ein Missverständnis. Einst hielt er seine Eltern für links, weil die in der SPD waren. Diesem Irrtum aufgesessen schrieb der kleine Jan darüber ein ganzes, echtes Buch. Das wurde nun in den Feuilletons – und dem was die deutsche Medienlandschaft sonst noch an intellektueller Kirmes bereit hält – als anti-links begriffen, mal gefeiert, mal gescholten aber nie als Fälschung einer Fälschung begriffen. Solche Imitate der Wirklichkeit machen Karriere. Auch und gerade in deutschen Medien. Jüngst durfte Fleischhauer im SPIEGEL diesen fundamentalen Satz von sich geben: „Demokratie hat auch ihre Schattenseiten. Es reden zu viele Leute mit, die unqualifiziertes Zeug von sich geben.“ Nun folgte keine Aufzählung vom heiligen Verantwortungs-Gauck bis zum Abgas-Fälscher Winterkorn. Nein, gemeint sind Leute, die sich im Netz nicht so äußern, wie Fleischhauer das gern hätte und nach „40 Jahre(n) Gesamtschule“, nicht mal wissen, wie man „Fuck“ schreibt. Immer wieder schreiben die tatsächlich Fick und das tut man aber man schreibt es nicht, außer in englisch.
Jan Fleischhauer war mal beim SPIEGEL stellvertretender Leiter des Wirtschaftsressorts und stellvertretender Leiter des Hauptstadtbüros. Und weil er nicht immer Stellvertreter sein mochte, mutierte er zum Autor des SPIEGEL. Der SPIEGEL hält sich für ein Nachrichtenmagazin. Dieses Missverständnis wurde vor allem im letzten Jahr deutlich, als das Hamburger Magazin noch mehr Meinungen als sonst verbreitete und mit einem Titelblatt nicht nur den dringend Wunsch äußerte, irgendjemand solle den russischen Ministerpräsidenten Putin stoppen, sondern auch von keiner Tatsache getrübt behauptete, der habe ein Passagier-Flugzeug abschießen lassen. So macht der SPIEGEL gern selbst Nachrichten, vermittelt solche aber immer seltener. Dort hat Jan Fleischhauer, der Absolvent der Henri-Nannen-Schule ist, eine feste Kolumne. Absolventen der Henri-Nannen-Schule halten sich für Elite-Journalisten. Und das sind sie auch. Hat Ihr Namenspatron als STERN-Herausgeber doch die primitiv gefälschten Hitler-Tagebücher in die Welt gebracht und so die Elite-Weichen gestellt: In Richtung Fälschung, Meinung, Nachrichten-Manipulation. So verlassen Jahr für Jahr 20 Absolventen diese Schule und wissen zwar nicht was gut ist für die Demokratie, aber was gut ist für sie. Unter ihnen Peter Kloeppel, der für RTL die Sicht der USA über den Golfkrieg propagierte oder Stefan Kornelius, der für die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG so ziemlich jeden Krieg gut findet und eben Jan Fleischhauer, der offenkundig mal Stefan George gelesen hat, einen Autor, der sich zwar für den Ahnherren „jeder nationalen Bewegung“ hielt, dessen Leser laut Fleischhauer aber nicht dazu neigt, andere morgens mit „Hey, Arschloch“ zu begrüßen.“ Nicht mal dann, wenn er in den Spiegel schaut.
Nie würde Jan Fleischhauer den Plural des Semikolon, Semikola, für eine Halb-Cola halten, da schreibt er gebildet lieber mit Ü, und macht den niederen Bildungs-Wesen im Land ein für allemal klar: „Es heißt immer, man solle die Bildungsbarrieren senken. Das ist der falsche Ansatz. Man sollte sie im Gegenteil erhöhen. Nur wer einen geraden Satz schreiben kann, hat Anspruch darauf, dass man sich mit ihm auseinandersetzt.“ Ob der Satz rassistisch daherkommt, wie der von Fleischhauer als er mal „die“ Italiener beleidigte, oder dem Fast Food eine pro-amerikanische Lanze bricht, ist dann gleichgültig. Weil ihm jede Banalität gleich gültig ist, schreibt Fleischhauer auch gern für die „Achse der Guten“, jenen Blog, der sich im Echo auf die von George W. Bush erfundene „Achse des Bösen“ gegründet hat. Dort ist er in Gesellschaft von Henryk M. Broder, dessen Intelligenz darin gipfelt, Juden für antisemitisch zu halten, wenn sie Israel kritisieren, oder von Vera Lengsfeld, deren politisches Verständnis auf einem Plakat mit ihr und der Kanzlerdarstellerin zu besichtigen war, das unter dem Slogan „Wir haben mehr zu bieten“, jede Menge fettes Dekolleté-Fleisch präsentierte. Wie jemand rund um die Achse – geschmiert vom CSU-Parteitags-Sänger Wolf Biermann und dem Fan der Regime-Change-Kriege Josef Joffe – einen geraden Satz schreiben kann, bleibt ein Wunder. Arbeiten die Damen und Herren der guten Achse doch immer in gebückter Haltung: Köpfchen nach unten, um den Blick vor den Mächtigen zu senken und Hintern in die Höh, damit die wirkliche Herrschaft zum Ansporn ihrer Schreiber reintreten kann. So kommt dann ein Glaubens-Bekenntnis zustande, das behauptet „skeptisch gegenüber Ideologien“ zu sein. Denn eine Weltanschauung haben immer nur die Anderen, die Achsisten glauben die Welt höchstselbst zu sein.
Aus der Höhe seiner Weltanschauung schraubt sich dem Fleischhauer dann dieser demokratische Prachtsatz aus dem Mund: „Dass unser System relativ stabil ist, verdanken wir nicht zuletzt der Tatsache, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Wählerschaft zu desinteressiert oder zu betrunken ist, um am Wahltag aus dem Bett zu finden.“ Gerade wird „unser System“ von den Folgen seiner Waffenexporte und seiner Kriege in großer Zahl besucht. Stabil hat „unser System“ seit Jahr und Tag seine Wähler von der Teilhabe an wirklicher Entscheidung ausgeschlossen, um die 50 Prozent gehen wegen mangelnder Hoffnung auf Änderung nicht mehr zur Wahl. Diesem System haben der SPIEGEL und seine Autoren gern Beifall geklatscht. Weil immer mehr Leser vor dieser Beifallswoge ins Internet ausweichen, hält Fleischhauer diesen Satz bereit: „Der typische Internetkrakeeler verfügt über eine eher gebrochene Erwerbsbiografie und eine noch gebrochenere Schulkarriere.“ Auch der Bildungs-Dünkel ist ein Missverständnis, hält doch der Dünkelhafte sein gebrochenes Rückgrat für eine angeborene Wohlgestalt und seinen von den Eltern finanzierten Bildungsweg für ein persönliches Verdienst, nur weil das System ihn häufig gut verdienen lässt. So wissen denn SPIEGEL-LESER, dem Magazin-Slogan folgend, nach Fleischhauer, tatsächlich mehr: Der Mensch beginnt erst beim Abiturienten, erst das Studium macht den Meister, die Eliten wissen alles, und das auch noch besser. Und wenn der SPIEGEL-Leser das glaubt, dann darf er seinen Verstand gern in Hamburg bei der Sammelstelle für verlorene Gegenstände abgeben, er braucht ihn ohnehin nicht mehr.
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Folgendes wurde auch aus anderen Ländern berichtet und es ist wohl zutreffend wenn ich behaupte das die Opposition schläft. Hier werden ganz massive Menschenrechte verletzt und niemand protestiert oder zieht die Politiker vor die entsprechende Kommission. Gibt es bessere Anlässe für DIE LINKE laut zu werden?
„Der Flüchtling, der am Zaun lehnt, liest „English for Travel“. Es ist noch nicht so einfach mit dem Englisch, aber so viel wird doch klar, dass er nicht einfach so mit einem reden kann, sondern dass er eine Erlaubnis, eine „Karte“, bräuchte, um dann draußen mit einem zu sprechen – aber die hat er nicht.“
Menschenrechte? Wieso denn?
von Friederike Gräff
Der Hamburger Senat streitet mit dem Hamburger Sportverein um einen Parkplatz. Es geht darum, wo Flüchtlinge leben dürfen.
Man könnte sagen, dass ein Parkplatz wenig Potenzial für Ungewissheit hat, aber das ist natürlich Unsinn, man kann auch über Parkplätze streiten und die Frage, wer im Recht ist: die Stadt Hamburg, die hier Flüchtlinge unterbringen will, oder der Hamburger Sportverein, der sagt: Hier nicht, hier müssen unsere Fans parken.
Niemand hat so richtig Lust, über diese Geschichte zu reden, dabei haben sowohl die Stadt, genauer die Innenbehörde, als auch der HSV einen ganzen Apparat, um solche Fragen zu beantworten. Aber dem Verein, dessen Männerfußballclub als einziger von Anfang an in der Bundesliga dabei ist und dabei nie abgestiegen, fällt nach zwei Tagen Bedenkzeit lediglich ein, dass er „aktuell nicht mehr sagen“ kann, und die Innenbehörde ist das Thema ohnehin leid. Flüchtlingsunterkünfte sind ein schwieriges Thema. Da kann der Streit um einen Parkplatz sehr grundsätzlich werden.
Das Parkplatzareal „Braun“, um das Stadt und HSV streiten, liegt etwa einen Kilometer vom Stadion des Vereins entfernt – Müllverbrennungsanlage gegenüber, Autobahn links, weiter hinten Kleingärten. Ein petrolfarbener Golf mit zerschlagenen Fenstern steht dort und ein weißer Imbisswagen, auf den jemand mit gelber Farbe „Kosovo“ geschrieben hat und dann hat noch einmal jemand „Kosova“ dazugepinselt, weiß auf weiß.
Der Parkplatz gehört der Stadt, die ihn an den HSV verpachtet hat. Er schließt an eine der größten Flüchtlingsunterkünfte in Hamburg an, die zentrale Erstaufnahmestelle Schnackenburgallee, in der 1.300 Flüchtlinge leben. „Durchreiseplatz“ steht auf einem blauen Schild, und genau das ist er auch, ein Provisorium, mit den weißen Containern auf der linken Seite und den genauso weißen Zelten auf der rechten, die man aufgestellt hat, als man sich nicht mehr anders zu helfen wusste.
ABSCHLUSS Ingeborg Rapoport stand als junge Frau kurz vor der Promotion, nur die mündliche Prüfung fehlte noch. Dann kamen die Nazis, und sie durfte nicht weitermachen. Jetzt hat sie den Titel – mit 102 Jahren
Berlin-Pankow im Mai. Die Straßen tragen die Namen der DDR-Intelligenz. Ingeborg Rapoport empfängt im schlichten Wohnzimmer ihres Einfamilienhauses. Sie trägt ein fliederfarbenes Oberteil, die dichten weißen Haare kurz geschnitten. In der DDR war Rapoport eine bedeutende Kinderärztin. Vor zwei Tagen war sie in Hamburg und hat an der dortigen Uniklinik ihre mündliche Promotionsprüfung abgelegt. Dies ist ihr fünftes Interview heute. „Aber die anderen waren nur telefonisch“, sagt sie. Sie spricht mit fester Stimme und leichtem Hamburger Akzent.
taz: Frau Rapoport, wie lief die Prüfung?
Ingeborg Rapoport: Gut. Ich habe bestanden.
Herzlichen Glückwunsch!
Danke. Das war eine richtige formale Prüfungssituation. Der Dekan der Medizinischen Fakultät ist extra hergekommen und die Vorsitzende des Prüfungsausschusses und Professor Frotscher, ein Neuroanatom. Sie haben mir den Blumenstrauß mitgebracht. Die Prüfung ging fast eine Stunde. Dann haben wir noch geplaudert.
Ihre Doktorarbeit liegt seit fast 80 Jahren vor. Wie kommt es, dass Sie jetzt erst promoviert wurden?
Ich habe in Hamburg ab 1935 Medizin studiert und 1937 bei Professor Rudolf Degkwitz die Doktorarbeit gemacht über Diphtherie. Das Thema hat er angenommen, ich führte die Experimente durch und gab die Arbeit ab. Er akzeptierte sie als Doktorarbeit, konnte mich aber nicht zur mündlichen Prüfung einladen, weil ich als „Halbjüdin“ galt.
Ihnen fehlte nur die mündliche Prüfung?
Ja. Degkwitz hätte mir liebend gern die volle Promotion gebilligt. Aber ihm waren die Hände gebunden. Er schrieb sogar noch mal die Ämter in Berlin an und fragte nach, ob es nicht doch möglich sei. Da haben die nochmal eins draufgegeben. Sie schrieben, das könnten sie nicht erlauben, insbesondere weil ich beim jüdischen Teil der Eltern lebte, nämlich meiner Mutter. Meine Eltern waren damals schon lange geschieden.
Da hat sich Ihr Doktorvater aber weit aus dem Fenster gelehnt, oder?
Das ist schon eine treffliche Situationsbeschreibung welche wir vor einigen Tagen in der Zeit lesen konnten. Und wir sind sicher das die meisten Personen welche mit der Partei Die Linke je in Kontakt kamen, die innerhalb des Artikels sehr schön beschriebenen Vorkommnisse voll bestätigen werden.
Ob im Saarland oder NRW und auch in Berichten von Parteitagen aus vielen anderen Bundesländern, – große Unterschiede in den Abläufen sind kaum auszumachen. Es wird nur immer wieder neu gemischt, denn die Wortführer der Landesparteitage haben auf den Bundesparteitagen natürlich Platz zu machen, für noch größere Schreihälse und Mobbing Spezies denn dort beherrschen dann wieder andere InteressentInnen das Terrain und verteidigen Ihre Plätze auf der Einkommensskala.
Von den Typen her ändern sich nur die Gesichter. Die lautesten sind vielfach diejenigen welche schon immer als Maulhelden aufgefallen sind und außer Ihre Lautstärke wenig positiv verwertbares in die Gesellschaft einbrachten. Typen wie dieser Olaf Walther eben welcher es wie wir lesen als ewiger Student gewohnt ist der Allgemeinheit auf den Taschen zu liegen. Früher zu meiner Zeit des Lernens verteilten diese gerne Überweisungsformulare mit eingedruckten Konto Nummern unter denen, bei welchen sie noch fünf DM im Portemonnaie vermuteten. Selber zu arbeiten war nicht in ihrem Sinn.
Sehr gut in Erinnerung bleibt hier der Landesparteitag der Linken im Saarland. Es war im November 2013 in Dillingen. Einige Mitglieder waren von sehr weit angereist um sich einen der Bundesweit berüchtigt gewordenen Landesparteitage einmal persönlich anzusehen. Sie durften live erleben wie die Ehefrau eines Pastor ähnlich wie der Walther in Hamburg agierte und sich zu immer neuen Hetztiraden gegen DL ermuntert fühlte, welche einem sich selbst als Anwalt bezeichnenden Parteimitglied dazu animierte mittels eines siegessicheren Grienen, Blickkontakt mit einer an einen der Nachbartische sitzenden Person aufzunehmen.
Eine sehr treffende Beobachtung besonders in den Zusammenhang dass sein eingeleiteter Prozess gegen die Internetzeitung DL mit Datum vom 03. 03. 2015 endgültig zugunsten von DL entschieden wurde. Das Urteil des Landgericht Köln vom 12. 03. 2014 ist also Rechtskräftig. Wir berichteten darüber unter den Titel „Keine Maulkorbbeschlüsse durch die Linke für DL“
Uns wurde unterdessen mitgeteilt, dass dieses Urteil wohl nicht in der Datenbank nrwe erscheinen wird. Wir arbeiten darum zur Zeit daran diesen Prozess dokumentarisch aufzuarbeiten und werden dann in allen Einzelheiten darüber berichten. Wir versprechen eine hoch interessante Lektüre und bitten darum noch um ein wenig Geduld.
Linke Garde
Von Frank Drieschner
Die Untergruppe Liste Links ist mächtig – und erinnert an eine Sekte. Doch so genau will es keiner wissen.
Wäre ein Parteitag der Linken ein Stummfilm, Olaf Walther wäre sein Star. Wie er die Hände zum Sprachrohr formt, wenn er Zwischenrufe skandiert! Wie er die Arme zur Saaldecke reckt, die Handflächen nach oben geöffnet, wenn ein Redner der Gegenseite vom „Verstand“ spricht, den es in einer politischen Abstimmung eben brauche: Ja, Verstand, wenn man den hätte! Als Pantomime ist er großartig.
Mit Ton wird die Show noch eindrucksvoller. Walther ist der Anführer – oder vielleicht besser: der Guru – der Liste Links, einer studentischen Organisation in und im Umfeld der Hamburger Linken. Die Liste wiederum ist die Machtbasis der umstrittenen Ex-Fraktionsvorsitzenden Dora Heyenn und deren Ablösung darum auch ein Angriff auf Walther und Genossen.
Für Liebhaber politischer Gemeinheiten ist ein Auftritt der Liste Links bei einem Parteitag ein Genuss. Da ist das aus Dutzenden Kehlen wunderbar ironisch hingehauchte „Aaah!“, Glissando auf- und absteigend, wenn ein politischer Feind einen Erkenntnisfortschritt beschreibt. Da ist das traurig verhallende „Oooh!“, Glissando decrescendo, absteigend, wenn ein Vertreter der Gegenseite persönliche Verletzungen schildert.
Ob dort wohl Frau Heyenn von einer ganz falschen Voraussetzung ausgeht? Haben doch sowohl die vorausgehenden Innerparteilichen – als auch die späteren Fraktionswahlen ein ziemlich eindeutiges Ergebnis gebracht. Viele Mitglieder der Partei möchten mit Ihr nicht mehr zusammenarbeiten. Punkt aus und wenn so ein Ergebnis einmal vorliegt tritt eine Realistin nicht nur aus der Fraktion aus sondern verlässt auch die Partei.
Hat Sie doch letztendlich selber eingesehen das es an dem nötigen Vertrauen fehlt und das ganze nun folgende Palaver beschädigt nur sie selbst. Vor allen Dingen ist sie doch in der glücklichen Lagen an aller Ruhe zusehen zu können wie der Rest die Zukunft verspielt. Sie kann doch die Erfolge vorweisen nach denen die Zukünftigen noch lange vergeblich hecheln werden. Nicht der Name einer Partei ist doch entscheidend sondern das Programm. Dabei sollte sich keiner von den immer wieder laut werdenden Forderungen blenden lassen sondern einmal genau beobachten was da letztendlich hinten auch herauskommt.
Es ist auch vielfach besser eine Institution vor die Wand laufen zu lassen. Solange die Mitglieder nicht die Härte der Mauer verspüren ist denen so oder so nicht zu helfen. Zumal die Geschichte zeigt das eine Linke Partei innerhalb einer Gesellschaft noch nie eine lange Lebensdauer nachweisen konnte. Darüber sollten einige der sich so stark fühlenden Damen und Herren auf ihren hohen Thronen einmal gründlich nachdenken.
Die sechs Stunden in welchen vergeblich über ein Ergebnis diskutiert wurde zeigte doch dass solche Auseinandersetzungen letztendlich nicht von Erfolgen gekrönt sind. Linke bringen es spielend fertig innerhalb einer kurzen Zeit alles und notfalls auch sich selbst zu zerlegen und werden darum immer den Erfolgen hinterherlaufen. Wo sich fünf Mitglieder treffen stoßen gleichzeitig auch zehn Ideologien aufeinander, von der die Eine die Andere bis zu bitteren Ende bekämpft. Da bleibt dann einfach zu wenig an brauchbarer Substanz zurück.
Was bedeutet denn schon eine Partei? Ein Zusammenschluss mehrerer Menschen mit einem gemeinsamen Vorhaben. Wenn dieses Ziel nicht in absehbarer Zeit erreicht werden kann, erübrigt sich das Vorhaben von selbst, da die Zeit voranschreitet und zu einem späteren Zeitpunkt ganz andere Vorstellungen und Bedürfnisse nachgefragt werden. Das lässt sich mit Ideologien welche vielleicht vor hundert Jahren Nutzen versprachen nicht mehr in neue Zeiten umsetzen. So werden die Parteien kommen und wieder vergehen da der Wechsel noch am beständigsten ist.
Die Linke – eine gespaltene Partei
Andreas Dey
Nach stundenlangen Diskussionen um die Ex-Fraktionschefin Dora Heyenn war von Versöhnung nichts zu spüren
Am Ende waren sie so schlau wie zuvor. Mehr als drei Stunden hatten sich die Mitglieder der Linkspartei am Sonnabend zum Teil hitzig darüber gestritten, warum die Spitzenkandidatin bei der Bürgerschaftswahl, Dora Heyenn, nicht wieder zur Fraktionschefin gewählt worden war, warum sie sogar die Fraktion verlassen hatte, ob und unter welchen Bedingungen ihre Rückkehr vorstellbar sei. Doch dann beendete Heyenn selbst die Debatte: „Die Diskussion hier und heute hat doch gezeigt, dass das Vertrauensverhältnis nicht besser geworden ist“, sagte die 65-Jährige. „Ich bitte daher um Verständnis, dass ich erstmal Abstand gewinnen muss und meine Arbeit als fraktionslose Abgeordnete fortsetzen werde.“ Danach verließ Heyenn den Saal „Hamburg“ im Berufsförderungswerk in Farmsen-Berne.
Doch damit hatten die gut 150 Mitglieder noch immer nicht genug. Nach der Mittagspause wurde weitere drei Stunden über einen möglichen Beschluss zu der Lage diskutiert. Letztlich gipfelte es in dem Antrag der Heyenn-Unterstützer, den Fraktionsvorstand neu zu wählen. Die Mehrheit der Delegierten (74 zu 40 Stimmen) votierte jedoch für den Gegenvorschlag, der lautete, der Parteitag bestätige „ungeachtet unterschiedlicher Kritiken die Wahl des neuen Fraktionsvorstandes und erwartet, dass die Tür für eine Rückkehr von Dora in die Fraktion offen steht“. Mit anderen Worten: Alles bleibt vorerst, wie es ist.
„Dieser Parteitag setzt ein positives Zeichen“, sagte Landessprecher Rainer Benecke im Anschluss. Denn die Fraktion habe „deutlich gemacht, dass sie den Willen zu einer Versöhnung mit Dora Heyenn hat“. Seine Vorstandskollegin Sabine Wils erkannte eine Bereitschaft, „im Interesse der Partei zur Sacharbeit zurückzukehren“. Das waren zumindest eigenwillige Interpretationen: Denn tatsächlich hatten zwar mehrere Fraktionsmitglieder wie die neue Vorsitzende Sabine Boeddinghaus, aber auch Christiane Schneider, Norbert Hackbusch und Heike Sudmann die Nicht-Wahl Heyenns als „Unfall“ bedauert und ihr eine Rückkehr in Aussicht gestellt. Aber gleichzeitig übten sie und viele andere auch deutliche Kritik an der langjährigen Fraktionschefin und stellten klar, dass Heyenn nur als „gleichberechtigtes Mitglied“ zurückkehren könne, also nicht als Vorsitzende. Von „Versöhnung“ war jedenfalls nichts zu spüren, im Gegenteil: Im Laufe der Debatte wurden die Beiträge eher persönlicher, von Verantwortungslosigkeit, fehlender Solidarität, Putsch, Intrigen, Heuchelei, Wahlbetrug und Opfermythen war die Rede – was Heyenn letztlich mit ihrem Abgang kommentierte.
Die pensionierte Lehrerin hatte schon bei ihrer Nominierung zur Spitzenkandidatin im Herbst nur 55 Prozent Zustimmung erhalten. Ihr resoluter Führungsstil und ihre Nähe zu linken Hochschulgruppen – sie selbst gehört eher dem gemäßigten Flügel an – hatten intern immer mal wieder für Diskussionen gesorgt, ohne dass ihre Position ernsthaft in Frage gestellt worden war. Dass die Linke bei der Bürgerschaftswahl mit 8,5 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte in Hamburg erzielte, befriedete die Lage nicht, im Gegenteil: Bei der Konstituierung der neuen Fraktion beantragten Schneider und Hackbusch für Heyenn überraschend („Mit mir hat kein Mensch gesprochen“), eine Doppelspitze als Fraktionsführung zu installieren. Auch der Landesvorstand unterstützte diesen Weg – allerdings empfahl er auch, Heyenn zu einem Teil dieser Doppelspitze zu machen. Bei der Wahl in der Fraktion Anfang März fiel sie jedoch durch. Daraufhin trat Heyenn entnervt aus der Fraktion aus und ist nun unabhängige Abgeordnete. Neue Fraktionsvorsitzende wurden Sabine Boeddinghaus und Cansu Özdemir.
Boeddinghaus spricht von einem großen Fehler
„Das war eine Demütigung zu viel“, sagte Heyenn auf dem Parteitag. Sie fühle sich „ungerecht behandelt“, denn ihr „Verständnis von Partei“ sei, dass man sich an Beschlüsse des Landesvorstands halte. Donnernden Applaus erhielt auch Constantin Braun, der energisch betonte, die Fraktion könne es nicht als „Unfall“ abtun, dass sie anders abgestimmt habe. Landessprecherin Sabine Wils hatte eingangs festgestellt, nach dem tollen Wahlergebnis habe man es „in kürzester Zeit geschafft, das Vertrauen der Wähler zu zerstören“.
Auch Boeddinghaus räumte ein, dass es „menschlich und politisch ein großer Fehler“ gewesen, Heyenn derart abzuservieren. Sie betonte aber auch, dass es „kein Komplott“ gab, sondern eine „geheime und freie Wahl von elf Abgeordneten“, die halt ihre Meinung kundgetan hätten. Christiane Schneider sagte: „Ich halte die Nicht-Wahl von Dora für dumm.“ Der Vorschlag des Landesvorstands sei klug gewesen. Doch auch Heyenn habe Fehler gemacht – etwa, als sie die Führung einer Fraktion mal mit dem Job einer Klassenlehrerin verglichen habe. Schüler hätten gegenüber ihrer Lehrerin „überhaupt nichts zu sagen“, so könne man Abgeordnete nicht behandeln, sagte Schneider. Heyenn ging auf die Kritik mit keinem Wort ein – was vernehmbar für Unmut sorgte. Auch in dem Punkt galt: Von „Versöhnung“ keine Spur.
Jetzt wandert er also weiter, der Bazillus Linkus von Kipptrix und Co.. Was in den unteren Etagen der Partei DIE LINKE schon in den Jahren 2008 – 2009 seinen Anfang nahm und einen vorläufigen Höhepunkt auf dem Berliner Bundesparteitag 2014 fand, wurde nun nach Hamburg weitergereicht. Wir werden genau beobachten wer den Staffelstab als nächstes übernimmt, denn mittlerweile kann sich zumindest im Westdeutschen Raum kein Land mehr rühmen diesen Stab nicht schon in Händen gehalten zu haben.
Ja, gewählt haben sie in Hamburg auch, aber eben nicht oft genug und auch ohne die entsprechende Anweisung ihrer Experten aus Berlin. Kipptrix war dieses mal nicht vor Ort um die entsprechenden Weisungen zu erteilen. So wie in RLP noch vor einigen Monaten zum Beispiel. Hieß es doch bislang immer noch – Wählen, oder auch Zählen – bis das Ergebnis passt. Im erfinden vorhergehender, später gesucht und entdeckter Fehler kannte die Kreativität gewöhnlich kaum Grenzen. In Hamburg wurde empfohlen eine gültige Wahl zu einer Probewahl umzufunktionieren, was aber wohl von Frau Heyenn abgelehnt wurde.
Dora Heyenn trat 2012 auch schon als Kandidatin der Bundesvorsitzenden an – aber die Delegierten zogen wohl den Griff ins Klo vor – ganz tief. Was will die LINKE Funktionärs Partei denn auch mit Leuten welche eine erfolgreiche Berufskarriere nachweisen können? Passt einfach nicht zu Sektierern und Spinnern, da die Realitäten nicht übertrieben werden sollten. Ist doch das Leben in Träumen angenehmer und leichter. Fremde Federn zu den Wahlen ja, aber danach bleiben sie lieber unter sich. Oder noch besser: Die Arbeit den Anderen, wir möchten die Kasse!
Beurteilen können wir die spezielle Situation in Hamburg nicht, brauchen wir auch nicht da die Parallelen ausreichen. Diese zeigen sich in Wahlmanipulationen ganz gleichgültig ob dort plötzlich „Sympathisanten“ zu Wahlen auftauchen, welche niemand zuvor je gesehen hat, oder gleich ganze Busse vorfuhren, oder einfach gezählt wurde bis das Ergebnis passte. Eine ganz beliebte Geste ist das Rufmorden von missliebig gewordenen Personen mit einer eigenen Meinung vor den Wahlgängen, wie es von Kipptrix 2014 in Berlin so exzellent zur Nachahmung vorgeführt wurden. Viele Methoden wurden ja auch zuvor schriftlich verfasst, als Arbeitsvorlagen verbreitet.
Jetzt stehen sie also wiedereinmal am Pranger wie die Presse schreibt. Worte wie „niederträchtig“, „bösartig“, Wahlbetrug“ und von „Königsmord“ fallen. Auch die Listen mit den Namen der „VerräterInnen“ werden angeblich verteilt. Hoffen wir das Dora Heyenn keinen Rückzieher von Ihren Austritt aus der Fraktion macht. Denn ein Nachgeben würde nur die Drahtzieher im Hintergrund stärken. Das Gute ist, die Methoden sind „Oben“ angekommen, nachdem viele an der Basis zuvor eher still in die Tonne getreten wurden.
Normal müssten sich die Beteiligten ja selber in die Verantwortung nehmen und von ihren Posten zurücktreten. Das ist aber in dieser Partei eher nicht zu erwarten, ansonsten diese Sandkastenspiele nicht durchgeführt worden wären. Funktionäre sind es gewohnt auf Kosten von Anderen zu leben. Sie werden sich nun die Wurst welche Frau Heyenn Ihnen verdient hat, nicht vom Brot nehmen lassen. Vorbilder in Berlin leben es vor.
Es war ein verzweifelter Plan, der vor geraumer Zeit in einem sozialdemokratischen Hinterzimmer gehäkelt wurde. Kurz nach den Hamburger Wahlen saß man zusammen. Da stimmt doch was nicht, meinte der kleine Kreis: In Hamburg holt unser Olaf 45 Prozent und im Bund kommen wir kaum über 25 rüber. Ganz Deutschland muss Hamburg werden, sagte der eine der Spin-Doctors. Und der andere spann den Faden fort: Die nächsten Bundestagswahlen sind 2017, da muss unser Olaf als Kanzler kandidieren und wir gewinnen die Wahl. Aber der Dritte sprach: Sehet, die Merkel-CDU ist die bessere SPD geworden. Frau von der Leyen verteidigt genau so weit vorne wie der Hindukusch-Struck, der Innen-de-Maizière ist so rechtsaußen wie der das-Boot-ist-voll-Schily und unser Wolfgang Clement war damals genauso neoliberal wie heute der Sigmar Gabriel. Aber der ist doch von uns rief einer dazwischen. Ja eben, setzte der Dritte fort – warum sollten die Leute uns wählen?
Nach noch ein paar Proseccos, die man mit abgespreiztem kleinen Finger trank, kam wieder der Dritte zu Wort, der als der klügste galt, denn er hatte mal ein Buch von Michael Spreng gelesen, der dem Edmund Stoiber den Spin gedreht hatte: Wir müssen uns von der CDU unterscheiden, rief er in das Zimmer und lauter Beifall brandete auf. Doch dann schlich kalte Ratlosigkeit in den Raum: Wenn der Mitte-SPD-Platz schon von der CDU besetzt war und die LINKE den linken Platz besetzt hielt, wo sollte die arme SPD dann hin? Der Dritte Mann ließ nicht lange auf sich warten: Wir erobern die christliche Mitte! Längst hat die CDU durch ihre Modernisierung, ihre Anerkennung der Homo-Ehe, eine Geschiedene als Kanzlerin, die Wehrpflicht abgeschafft, die Atomkraftwerke kaltgestellt und mit einem Islam-Schmusekurs ihre alten, konservativen Ideale verraten. Wir müssen die Weichen anders stellen: Wenn die CDU unseren Platz eingenommen hat, dann nehmen wir deren Platz ein!
Und so kam es denn, dass Olaf Scholz, nur wenige Wochen nach der Wahl die Schirmherrschaft des „Kongress Christlicher Führungskräfte“* in Hamburg übernahm: „Herzlich Willkommen in Hamburg“, sagte der Bürgermeister, „ich finde, die Stadt der ehrbaren Kaufleute an der Wasserkante ist genau der richtige Ort für den diesjährigen Kongress christlicher Führungskräfte.“ Da nickte Helmuth Matthies, einer der Organisatoren, begeistert. Er ist Chef des evangelikalen Verlages „idea“. Der hält Abtreibung für „das größte Verbrechen der Gegenwart in Deutschland“ und bezeichnet Homosexualität als Sünde. Der Verlag warnt immer wieder vor einer „Islamisierung“ und ruft zur Missionierung von Muslimen auf. Matthies war ein Freund des südafrikanischen Apartheid-Regimes und warf der evangelischen Kirche vor, dort sei der Einfluss des „theologischen Neomarxismus“ immer stärker geworden.
Dieser Scholz-Auftritt kann natürlich nur der erste Schritt zur „Evangeliums Partei Deutschlands (EPD)“ sein, meinte der Dritte. Der Kongress ist erst ein Anfang. Jetzt müssen wir für die Law-and-Order-Wähler mal daran erinnern, dass unser Olaf schon als Hamburger Innensenator die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln zur Beweissicherung bei Drogendealern eingeführt hat. Einer von denen ist dann prompt gestorben. Da kann nicht mal die CSU mit. Ganz wichtig: Unter Scholz als Bürgermeister sind die Gefahrengebiete im Schanzenviertel und den Stadtteilen St. Pauli und Altona-Altstadt eingeführt worden, Sonderzonen, in denen die Bürgerrechte abschafft waren. So was sichert uns die Lufthoheit über die Stammtische!
Fröhlichkeit breitete sich unter den versammelten EPDlern aus, sie riefen durcheinander: Und Sarrazin wird im Schattenkabinett Integrationsbeauftragter, und Steinbrück Fahrradbeauftragter – kleiner Scherz – die Manuela Schwesig hat sich schon vorsorglich taufen lassen und Thierse wird Hofprediger in der Berliner Sankt-Hedwigs-Kathedrale! Aber vor allem, mahnte der Dritte, müssen wir daran erinnern, dass unser Olaf schon SPD-Generalsekretär war, als die Agenda 2010 das Soziale aus dem Namen der SPD entfernte.
Die neue, christliche SPD, äh EPD, wird daran erinnern, dass der HERR gesagt hat, dass eher ein Kamel durchs Nadelöhr ginge als ein Reicher in den Himmel kommen könnte. Das ist die echte AGENDA! Wir machen da oben Platz für die Armen, während die Reichen unten bleiben müssen! Das ist unser christliches Sozialprogramm! – Andächtige Stille breitete sich aus: Die neue SPD als Platzanweiser für das Himmelreich, darauf muss man erstmal kommen.
* Der Kongress Christlicher Führungskräfte fand am 26. Februar 2015 in Hamburg statt.
Der Wahlerfolg von Olaf Scholz in Hamburg ist enorm. Trotzdem hätte er als Kanzlerkandidat, womöglich gegen Merkel, keine Chance
SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Klingt ungewohnt? Mag sein, aber das kann sich ändern. „Wie sind ihre Pläne in der Bundespolitik?“, fragte das ZDF den Wahlsieger am Sonntagabend, als die Wahllokale gerade mal 40 Minuten geschlossen waren. „Kann er auch Kanzler?“, titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung wenig später im Internet. Die Bundes-SPD müsse Scholz an die Spitze stellen, forderte am Montagmorgen die Bild-Zeitung. Und selbst wenn der Hamburger Bürgermeister seine Ambitionen bislang zumindest halbherzig dementiert: In den nächsten Wochen werden die Spekulationen über seine Zukunftspläne nicht abreißen.
Fleiß ohne Kanten
Der Gedanke vom Kanzlerkandidaten Scholz liegt nahe. Zwar wäre 2017 eigentlich Sigmar Gabriel an der Reihe, aber wenn der Parteivorsitzende die SPD nicht bald aus dem Umfragetief führt, werden seine Genossen die K-Frage doch noch einmal diskutieren wollen. Dass die Sozialdemokraten ihren Blick in so einem Fall auf ihre erfolgreichen Ministerpräsidenten werfen, hat Tradition. 1990 schickten sie den saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine ins Rennen. Gerhard Schröder erkoren sie acht Jahre später zum Kanzlerkandidaten, als sein dritter Wahlsieg in Niedersachsen gerade eine halbe Stunde alt war. Und heute? Hat Olaf Scholz von allen Regierungschefs der SPD die besten Wahlergebnisse vorzuweisen.
Laut ARD-Prognose liegt die Wahlbeteiligung bei 55,5 Prozent was einen historischen Tiefststand. bedeuten würde. 2011 lag die Quote noch bei 57,3 Prozent.
Erste Prognose ARD: 18.00 Uhr
SPD 47 Prozent,
CDU 16 Prozent,
Grüne 12 Prozent,
Linke 8,5 Prozent,
FDP 7 Prozent
AfD 5,2 Prozent
Erste Prognose ZDF: 18.02 Uhr
SPD 46,5 Prozent,
CDU 16 Prozent,
FDP 7,5 Prozent,
Linke 7,5 Prozent,
Grüne 11,5 Prozent,
AfD 5,5 Prozent
Erste Hochrechung ARD: 19.31 Uhr
SPD 46,8 Prozent
CDU 16,1 Prozent
Linke 8,6 Prozent
FDP 7,0 Prozent
Grüne 11,8 Prozent
Afd 5,4 Prozen
Erste Hochrechnung ZDF: 19.39 Uhr
SPD 46,7 Prozent
CDU 15,9 Prozent
Linke 8,5 Prozent
FDP 7,4 Prozent
Grüne 11,7Prozent
AfD 5,5 Prozent.
Vorläufiges Ergebnis:
SPD 45,7 Prozent
CDU 15,9 Prozent
Linke 8,5 Prozent
FDP 7,4 Prozent
Grüne 12,2 Prozent
AfD 6,1 Prozent
.PARTEIGRÜNDUNG Sie denken über die Liberalisierung von Haschisch nach, wollen Spekulationsgeschäfte besteuern und Hartz IV abschaffen: die „Neuen Liberalen“
INTERVIEW MARTIN KAUL
taz: Herr Karim, Sie basteln an einer neuen Partei: die „Neuen Liberalen“. Liberal – was ist das?
Najib Karim: Uns interessiert: Wer ist in seiner Freiheit am stärksten eingeschränkt? Wir wollen Menschen ermöglichen, ihre eigene Freiheit nutzen zu können.
Super. Ich möchte Haschisch rauchen. Darf ich das bei Ihnen?
Das wird auf unserem nächsten Parteitag entschieden werden müssen. Es gibt unterschiedliche Freiheitsbedürftige: diejenigen, die konsumieren wollen, was sie wollen, und die Gesellschaft, die die gesundheitsökonomischen Kosten tragen muss.
Parteitag, Parteitag. Was sagen Sie persönlich?
Alle wissen, dass die Folgen von Haschischkonsum nicht so gefährlich sind wie etwa die von Alkohol. Dass Alkohol erlaubt ist und Haschisch nicht, ist kulturell bedingt. Ich denke, Haschischkonsum zu verbieten entspricht einer tradierten Kulturvorstellung und widerspricht der Eigenverantwortung.
Danke. Ich möchte aber auch Fische fangen ohne Angelschein.
Wir hatten gestern darüber berichtet, vom Austritt einiger Mitglieder aus der Partei DIE LINKE der Solid in Hamburg. Heute lesen wir zu diesen Thema ein Interview mit Einer der in diesen Artikel erwähnten Personen Christin Bernhold.
Interessant da das Problem genau die Situation in der Partei widerspiegelt, denn es geht natürlich um die Richtung in der Politik. Wobei uns, Außenstehende der Partei, die eingeschlagene Richtung ziemlich gleichgültig ist, zeigt es doch letztlich immer nur an, wie sehr Diese ihre Linie verlassen hat. In Richtung aller anderer Parteien.
„Wir wollen Anders sein als alle Anderen und den Menschen helfen!“ Das war einst die Gründungsidee. Was ist daraus geworden? Eine mit klerikalen Grundzügen durchsetzte Ansammlung Geltungssüchtiger Funktionäre welche die Masse nur dazu benutzen gewählt zu werden, genau wie in der Überschrift des Interview geschrieben wird, zum Selbstzweck. Die Richtung ist hierbei beliebig austauschbar.
Alle Strömungen stehen sich nahezu feindlich und unversöhnlich gegenüber. Das was die Eine Seite einige Jahre ziemlich ungestört praktizierte holt nun die Gegenseite im gleichen Umfang nach, wobei auch jetzt nur die eigenen Interessen der Strömung zählen. Rücksichtnahme hat es zuvor nicht gegeben, kann folglich auch jetzt niemand einfordern.
Es wird immer deutlicher dass sich hier wenigstens zwei Parteien, wahrscheinlich sogar drei oder vier, in einer Partei gegenüber stehen, welche nie miteinander harmonieren werden. So wird sich die Partei über kurz oder lang für eine Richtung entscheiden müssen, wenn sie denn überleben will womit sich die Frage nach Sozialismus, Kommunismus oder etwas Anderes von selbst ergibt. Das entscheidet die Bevölkerung und niemand anders und das ist gut.
»Linkspartei verkommt immer mehr zum Selbstzweck«
In Hamburg sind mehrere junge Mitglieder ausgetreten. Sie lehnen den reformistischen Kurs ab. Ein Gespräch mit Christin Bernhold
Christin Bernhold war Mitglied der Partei Die Linke sowie im LandessprecherInnenrat der Linksjugend [’solid] Hamburg. 2011 kandidierte sie zur Hamburger Bürgerschaft
Sie haben gemeinsam mit anderen Mitgliedern aus Hamburg die Partei Die Linke verlassen und eine Austrittserklärung veröffentlicht, in der Sie scharfe Kritik an deren Entwicklung üben. Was mißfällt Ihnen?
Im Kern geht es um den Kurs der Partei, die von einer radikalen Oppositionspolitik zu einer ausschließlich reformistischen Anpassungspolitik übergeht, die auf ein rot-rot-grünes Bündnis 2017 hinausläuft. Auf dem Europaparteitag konnte man diese Entwicklung anschaulich erleben.
Doch das war nur der vorläufige Höhepunkt. Schon im Bundestagswahlkampf kannten Gregor Gysi, Bernd Riexinger und Katja Kipping kein anderes Thema mehr als eine »Mitte-links-Koalition«. SPD und Grüne gehören aber zum bürgerlichen Lager – und das nicht nur in einzelnen Politikbereichen! Außerdem geht es in der Partei immer undemokratischer zu, was vor allem von den Kräften vorangetrieben wird, die sonst am stärksten auf dem Attribut »demokratisch« vor dem Substantiv »Sozialismus« bestehen. Offene Debatten sind tabu.
Und was hat die Partei davon? Ein paar Funktionäre und eine Partei, die einmal eine revolutionäre Realpolitik anstrebte, jetzt aber immer mehr zum Selbstzweck verkommt.
Man könnte entgegnen, daß die Arbeit an der Parteibasis ausgebaut werden müsse. Ist das keine Option für Sie?
Über die Erziehung zur Harmlosigkeit oder: Warum wir aus der LINKEN austreten und trotzdem weitermachen
Da können noch so wunderbare Wahlprognosen zugunsten der Linken veröffentlicht werden, und die Partei in Hochstimmung versetzen. Das alles ändert nichts an der Tatsache das die Partei sich auf einen tiefen Abgrund zubewegt. Die Austritte nehmen zu und die Verbreitung negativer Eindrücke nehmen überhand.
Berichteten wir unter anderen am 27,02.14 innerhalb unseres Tagesspiegel über die Weigerung der Solid Gruppe von Ortenau die Partei zu den kommenden Wahlen zu unterstützen, konnten wir in den letzten Tagen aus Hamburg über den Austritt von vier Mitglieder der Jugend Solid lesen. Wenn die Jugand beginnt einer Partei den Rücken zukehren, verliert die ihre Zukunft und damit ihr Recht auf Existenz. Vom Wachstum zwecks Erreichung versprochener Ziel schweigen wir besser.
Dabei geht es unseres Erachtens sicher nicht in erster Stelle um die verschiedenen Sichtweisen oder Richtungsauffassungen in der Politik. Hier zeigt sich die mangelnde Führung, der es einfach nicht gelingen will die Menschen entsprechend abzuholen um sie dann mitzunehmen. Dieses sind typische Merkmale einer Funktionärs und obrigkeitsstaatlichen Struktur, welche insbesondere bei den Jugendlichen bitter aufstoßen.
Es wurde hier eine Partei für schweigende Mitläufer und nicht für emanzipierte Mitglieder geschaffen. Eine Partei in der Einige wenige die Richtung angeben und alle anderen gleich Lämmer hinterherhecheln. Das spürt ganz besonders die Jugend und verabschiedet sich, da sie ein völlig anderes Freiheitsgefühl leben als es von der Partei vorgelebt wird.
Über die Erziehung zur Harmlosigkeit oder:
Warum
wir aus der LINKEN austreten und trotzdem weitermachen
Der Europaparteitag der Linkspartei in Hamburg hätte kein besseres Modell für die Entwicklung der Partei DIE LINKE liefern können, die man seit einigen Jahren trotz aller Widersprüche und lokaler und regionaler Besonderheiten beobachten kann: die Fortsetzung des inhaltlichen Anpassungskurses, in diesem Fall an eine „verantwortungsvolle Europapolitik“; Realos, die trotz ihrer hehren Bekenntnisse zur Demokratie ihre Interessen kompromisslos mit den alten Methoden durchsetzen; eine machtlose und desorganisierte Partei-Linke, von der ein Teil sich stramm parteitreu von Niederlage zu Niederlage manövriert sowie von Mal zu Mal blumiger selbst belügt und deren anderer Teil mittlerweile nahezu einflusslos ist.
Für uns war bereits die Einsetzung des zentristischen Führungsduos, in dem Katja Kipping nach rechts und Bernd Riexinger nach links integrierend wirken, kein Signal für einen Aufbruch der Linkspartei, sondern für eine Fortsetzung ihres Anpassungskurses an den bürgerlichen Konsens in der Bundesrepublik – die Staatsräson – frei nach Volker Rühe: Stück für Stück geht’s besser als mit einem Bruch. Die tragenden Cliquen der Partei wollen die Regierungsbeteiligung. Sie haben sich für – und nicht gegen – ein Bündnis mit den Parteien entschieden, deren Politik das Entstehen der LINKEN überhaupt erst ermöglicht hat und die die neoliberale Konterrevolution – das bedeutsamste Projekt der herrschenden Klasse zur Wiederherstellung ihrer Macht in den letzten Jahrzehnten – politisch durchgesetzt haben. Wir wollen diesen Kurs nicht. Wir sehen keine (strategische) Option darin, das soziale Gewissen der bürgerlichen Demokratie zu spielen. DIE LINKE kann nur die Totengräberin der bürgerlichen Gesellschaft sein – oder sie ist bestenfalls bedeutungslos, schlimmstenfalls Teil des Problems. Mit riesigen Schritten geht sie auf Geheiß ihrer Gallionsfiguren letzterem entgegen.
Rot-Rot-Grüne Farbenspiele oder:
Der Wille zur Macht – DIE LINKE als strategisches Oppositionsprojekt am Ende
Fotoquelle: Author Linksjugend [’solid] / Vektorisierung von Lamento5
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Offener Brief der Sozialistischen Linken
zum Hamburger Europaparteitag 2014
Jetzt bricht Panik aus unter den westdeutschen Strömungen der LINKEN. Haben sie nun Angst bekommen das der Osten sich an ihnen revanchieren möge, für die Schmach unter deren sie die letzten Jahre leiden mussten. Ja, es war ein schwerer Fehler den westdeutschen Verbänden im Vereinigungsvertrag einen solch großen Vorteil einzuräumen.
Jetzt, nachdem die Delegierten wieder nach Mitgliederzahlen versandt werden, sieht sowohl die AKL als auch die Sozialistische Linke ihren Einfluss schwinden, auf ihre wirkliche Größe zurechtgestutzt. Aber, die ostdeutschen Verbände werden nun ihre erzielten Mehrheiten auch nutzen müssen, soll denn diese Partei noch länger Bestand haben. Letztendlich sind die Auflösungserscheinungen der Partei im westdeutschen Raum besonders deutlich sichtbar.
Existieren doch besonders in Bayern und Baden Württemberg nur noch Reste einer einmal so glanzvoll gestarteten Partei. Das auch die heute bekannten Mitgliederzahlen noch immer geschönt und auf den Listen noch immer lang Ausgetretene und sogar Verstorbene aufgeführt werden ist bekannt. Manch Einer würde vermutlich erschrecken, sollte ihm bewusst werden heute noch als Mitglied in den Listen zu erscheinen.
Sie haben ihre Zeit nicht genutzt und sich in innerparteilichen Streitereien zerrieben in deren sich der größte Teil der Fraktionen in den Gemeinden und Kreisen auflöste. Weit über 150 mal im Westen. Die über Manipulationen zusammen gefügten Gruppierungen, zugunsten der Einen oder Anderen Strömung, konnten den in sie gesetzten Erwartungen nie gerecht werden, da keine gewachsene Bindung zur Partei bestand. Die Vorstände in den Ländern haben sich schlicht verzockt. Zu viele Leitfiguren aus Gründerzeit haben der Partei lange den Rücken gekehrt.
Da klingt dieser „Offene Brief“ aus der Sozialistischen Linke“ wie der Hilfeschrei eines Ertrinkenden. Anstatt nun wiedereinmal endlose Forderungen zu stellen, wäre es angeraten in sich zu gehen und die jahrelange Misswirtschaft auf Kosten der Gelder aus dem Osten einzugestehen. Der Osten sollte sie zappeln lassen, denn nur so könnte es gelingen die Karrieristen endgültig los zu werden, da diese sofort abwandern wenn den Hoffnungen auf ertragreiche Pfründe der Boden entzogen würde.
Da ohne tiefgreifende Grundreinigung kein Wiederaufbau gelingen kann, darf das Motto nur „je schneller, je besser“ lauten. Hier der „Offene Brief“ wie er uns per Mail, mit der Bitte um Verbreitung zugesandt wurde.
Offener Brief der Sozialistischen Linken
zum Hamburger Europaparteitag 2014
Der Presse war zu entnehmen, dass ostdeutsche Spitzenfunktionäre der LINKEN eine „geheime“ konkurrierende KandidatInnen-Liste gegen den satzungsgemäßen Vorschlag des Bundesausschusses für die EP-Wahlliste verabredet haben. In einem offenen Brief stellen wir dar, wie sich der Konflikt in der Partei vor dem Europaparteitag tatsächlich darstellt, was auf dem Spiel steht, und wofür wir stehen.
Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Delegierte,
in der LINKEN findet eine Debatte zur Europapolitik und zur Liste für die Wahl zum Europaparlament statt. Wir wollen mit dieser Erklärung zur innerparteilichen Aufklärung und Transparenz beitragen.
Der Parteivorstand hat einen umfangreichen Leitantrag vorgelegt, der scharfe Kritik an der Lage und Politik der EU, linke Alternativen und auch die Forderung des Erfurter Grundsatzprogramms nach einem Neustart der EU auf veränderten Vertragsgrundlagen enthält. Zum ganz überwiegenden Teil der Positionen und Forderungen besteht in der LINKEN breite Übereinstimmung. Ein Alternativantrag von Diether Dehm und Wolfgang Gehrcke ist zugespitzter in Sprache und EU-Kritik und unterstreicht den demokratischen und sozialstaatlichen Gehalt des Grundgesetzes, der den EU-Verträgen fehlt. Er war entstanden in Auseinandersetzung mit dem ersten Entwurf der Parteivorsitzenden. Der Alternativentwurf hat die Debatte belebt, hat aber auch Mängel. Ihn aufrecht zu erhalten erscheint uns nicht sinnvoll.
Auf dem Europaparteitag geht es uns darum, den Leitantrag des Parteivorstands zu verbessern und seine EU-kritische Linie zu verteidigen. Einige kritisieren insbesondere die Formulierung, dass die „EU zu einer neoliberalen, militaristischen und weithin undemokratischen Macht“ geworden sei. Dies wurde auch von Gregor Gysi medienöffentlich angesprochen. Diese Formulierungen sind u.E. verzichtbar. Darüber hinaus gibt es aber Angriffe auf eine EU-kritische Positionierung der LINKEN insgesamt sowie gegen friedenspolitische Positionen des Erfurter Grundsatzprogramms. So wurde die Kritik an der real existierenden EU sogar als „nationalistisch“ oder „anti-europäisch“ bezeichnet. Dies ist aus unserer Sicht inakzeptabel. Geäußert wurde auch, wenn DIE LINKE die EU grundsätzlich kritisiere, dürfe sie eigentlich gar nicht zur EP-Wahl antreten, sondern müsste zum Wahlboykott aufrufen. Nach dieser Logik hätte die Bebel-SPD nie zur Reichstagswahl im Kaiserreich antreten dürfen. Sie hat es aber getan, sehr erfolgreich und ist dabei immer stärker geworden.
DIE LINKE muss von den Realitäten ausgehen und aufklären. Während viele abhängig Beschäftigte gegenüber der EU gleichgültig oder skeptisch sind, verteidigen die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten die herrschende Europa-Politik. Die Versuche von Markus Lanz und Hans-Ulrich Jörges im ZDF, Sahra Wagenknecht zu platten Bekenntnissen zur EU zu nötigen, haben zu Recht zu Empörung und kritischer Öffentlichkeit geführt. Auch die SPD versucht DIE LINKE an dieser Frage zu spalten. Innerhalb der LINKEN sollte die Debatte daher nicht mit ähnlichen Methoden geführt werden. Ein positives Verhältnis zur EU beruht unter Linken zumeist auf einer internationalistischen Orientierung, berücksichtigt aber unzureichend den heutigen Zustand und Charakter der EU. Eine zu unkritische Haltung zu bestärken, anstatt ihr entgegenzuwirken leistet keine Aufklärung und auch keine Mobilisierung von WählerInnen, die von der EU enttäuscht sind. Die Überhöhung der real existierenden EU stärkt nicht den Internationalismus, sondern im Gegenteil eine Art EU-Nationalismus, der ebenso vor allem Kapitalinteressen dient. Wir meinen: Demokratische, sozialistische, internationalistische Linke müssen gegenüber der heutigen EU kritisch sein. Das entspricht auch der Position der Europäischen Linkspartei.
Wir erinnern auch an das „Memorandum für eine demokratische, freiheitliche, soziale und Frieden sichernde Europäische Union“, das im Januar 2007 Gregor Gysi und Oskar Lafontaine gemeinsam vorgelegt haben. Darin heißt es u.a.: „Mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte 1987 und dem Vertrag von Maastricht schwenkte die Gemeinschaft auf einen fatalen Kurs des neoliberalen Markt-Rigorismus, der Herrschaft der Wirtschaft über die Politik. (…) Seit Maastricht jedoch beschreitet die EU im Geleitzug mit den USA einen verhängnisvollen Weg der Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik. (…) Die EU ist von funktionierender Demokratie weit entfernt.“
Die Sozialistische Linke setzt sich dafür ein, im EP-Wahlprogramm Kompromisse und Formulierungen zu finden, die für möglichst viele in der Partei akzeptabel sind, ohne die politische Substanz aufzugeben. Wir gehen davon aus, dass alle aussichtsreichen BewerberInnen für einen Platz auf der Liste der LINKEN zur EP-Wahl auf der Grundlage des zu beschließenden Wahlprogramms kandidieren, auch wenn sie zu einzelnen Punkten unterschiedliche Auffassungen haben. Wir setzen uns für eine Liste ein, auf der die politische Vielfalt und der gesamtdeutsche Charakter der Partei abgebildet werden, ebenso wie die wichtigsten Politikfelder und regionalpolitische Interessen.
Der satzungsgemäße Vorschlag des Bundesausschusses vom 30.11.2013 ist eine geeignete Grundlage. Er erfüllt unseres Erachtens jedenfalls bis Listenplatz 7 die genannten Anforderungen. Auf Platz 8 wäre eigentlich wieder ein Genosse aus Ostdeutschland an der Reihe gewesen. Deshalb haben die SL-nahen Delegierten im Bundesausschuss für diesen Platz in der Stichwahl Martin Schirdewan unterstützt. Dass er dennoch deutlich unterlag ist nur dadurch zu erklären, dass FDS-nahe Delegierte ihn nicht gewählt haben. Offenbar um zu verhindern, dass die Wahlchancen eines anderen ostdeutschen Kandidaten getrübt werden und um den Listenvorschlag des Bundesausschusses insgesamt zu diskreditieren. So gab es auch für die folgenden Plätze keine Bewerbungen aus diesem Spektrum mehr.
Mitte Januar fand ein Treffen ostdeutscher Spitzenfunktionäre unter Beteiligung von Gregor Gysi und Dietmar Bartsch statt, auf dem eine gegen den BA-Vorschlag gerichtete Vorschlagsliste für die ersten 10 Plätze verabredet wurde. Diverse Medien haben darüber mit dem Verweis „Gysis Geheimliste“ berichtet. Auf Platz 2 wird dort Thomas Händel statt Tobias Pflüger gesetzt (im BA Stimmengleichheit und Losentscheid, Tobias Pflüger wird von Baden-Württemberg vorgeschlagen und von NRW unterstützt). Auf Platz 6 Dominic Heilig (Mecklenburg-Vorpommern) statt Fabio de Masi (von NRW mit deutlichem Votum nominiert und unterstützt vom Studierendenverband DIE LINKE.SDS). Auf Platz 7 Martina Michels (Berlin) statt Sabine Wils (Hamburg, AG Betrieb und Gewerkschaft). Auf Platz 8 Martin Schirdewan (Berlin) statt Ali Al Dailami (Hessen). Nicht angegriffen werden die Plätze 1 Gabi Zimmer (Thüringen), 3 Cornelia Ernst (Sachsen), 4 Helmut Scholz (Brandenburg), 5 Sabine Lösing (Niedersachsen).
Wenn dieser Vorschlag sich durchsetzen würde, fielen eine erhebliche politische Bandbreite innerhalb der Partei und wichtige inhaltliche Kompetenzen für das nächste EU-Parlament völlig heraus. Es stünden dann auf den ersten und aussichtsreichen acht Listenplätzen sechs GenossInnen aus Ostdeutschland. Die Durchsetzung dieses Vorschlags ostdeutscher Spitzenfunktionäre würde ein verantwortungsloses „Durchziehen“ gegen die westdeutschen Teile der LINKEN bedeuten. Das würde die Einheit und den Zusammenhalt der Partei gefährden. Kann oder möchte sich jemand vorstellen, was passieren würde, wenn bei anderen Mehrheitsverhältnissen eine Liste aufgestellt würde, auf der unter den ersten acht Plätzen nur jeweils von West-Linken ausgesuchte zwei GenossInnen aus dem Osten und eine/r aus dem Reformerlager vertreten wären? Mit der Liste der Ostfunktionäre wären die westlichen zehn Länder der Republik, auf die immerhin 80 Prozent der Bevölkerung und über die Hälfte der LINKE-Stimmen bei bundesweiten Wahlen entfallen, unzumutbar unterrepräsentiert. Wir befürchten, dass damit die seit dem Göttinger Parteitag erreichte Konsolidierung und Befriedung der Partei sowie die Arbeit der Parteivorsitzenden beschädigt würden – mit negativen Folgen für die anstehenden Wahlkämpfe in Ost wie West, bei denen wir eine geeinte und zusammen kämpfende Partei brauchen.
Wir plädieren deshalb insbesondere dafür, die vom Bundesausschuss vorgeschlagenen Kandidaten Fabio De Masi auf Platz 6 und Sabine Wils auf Platz 7 zu bestätigen. Fabio brächte in die deutsche Delegation wichtige ökonomische Kompetenzen und Kontakte zu fortschrittlichen Ökonomen ein, die im Zusammenhang mit der Euro-Krise wie auch der Debatte um das Freihandelsabkommen mit den USA unverzichtbar sind. Sabine steht für eine gewerkschaftliche Orientierung und wird von der AG Betrieb & Gewerkschaft vorgeschlagen. Sie hat sich umweltpolitisch profiliert und erfolgreich in der Kampagne gegen Wasserprivatisierung engagiert. Die Kompetenzen der beiden werden im nächsten Parlament wichtig sein.
Die ostdeutschen Landesverbände haben aufgrund ihrer höheren Mitgliederzahl auf diesem Parteitag eine deutliche Mehrheit. Darauf setzen diejenigen, die den dargestellten Vorschlag gegen den des Bundesausschusses durchsetzen wollen. Mehrheiten haben allerdings auch Verantwortung für die Gesamtpartei. Wir appellieren deshalb an alle Delegierten, denen der dargestellte Listenvorschlag ostdeutscher Spitzenfunktionäre als Wahlverhalten empfohlen wird, diesem nicht zu folgen, sondern ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
Mit solidarischen Grüßen
Der BundessprecherInnenrat der Sozialistischen Linken
Einen interessanten Beitrag zu diesem Thema finden wir auch auf der Web-Seite der MdB Halina Wawzyniak. Ich möchte an dieser Stelle einmal ihren Mut erwähnen mit welchen sie in schöner Regelmäßigkeit Stellung bezieht. Im Westen wurde die gleiche Offenheit allerdings mit Parteiausschlüssen geahndet.
Ganz großes Kino
In Berlin läuft derzeit die Berlinale, ein Filmfestival. Doch ganz großes Kino gibt es auch außerhalb der Berlinale. Kostenlos. Lediglich ein Internetzugang wäre nicht schlecht. Denn ganz großes Kino ist immer die Zeit vor innerparteilichen Wahlen. Also: Hinsetzen, Anschnallen, Popcorn rausholen und genießen.
Zu Beginn erscheint eine Einladung. Die linken Linken laden ein. Wer sich selbst dafür hält, unterschreibt mit Namen. Das Publikum erfährt nicht so richtig, was linke Linke sind und was der Unterschied zu rechten Linken sein soll. Unklar bleibt auch, was die mitte Linken sind. Macht aber nichts. Es sieht jedenfalls nach Streit aus, das erhöht die Spannung und lässt im Übrigen dem Publikum die Möglichkeit sich still und leise selbst zuzuordnen und ansonsten den Kopf zu schütteln über soviel Mauern in den Köpfen. (Die Autorin dieses Beitrages wird selbstverständlich, da sie sich als radikaldemokratisch-linksradikal versteht mit Kippe, Popcorn und Club Mate der Einladung Folge leisten.) Doch das ist nicht genug Spannung und deshalb wird das Publikum Zeuge, wie sich die linken Linken gemeinsam mit dem sehr linken Flügel Treffen wollen. Gleicher Raum, gleiche Zeit für Harmonie pur ist gesorgt.
Dieses ist wieder einmal ein schönes Beispiel für die vielen Unwahrheiten welche aus der Partei die Linke heraus den allzu leichtgläubigen Mitgliedern vorgespielt werden. Glauben viele der Delegierten doch tatsächlich auf dem Bundespartei wäre die Aufstellung der Wahlliste für die Europawahl das Hauptthema. Eine Entscheidung also zwischen den Soldaten der Roten Faust Armee unter der Führung von Sahra Lanz und der Gregor Gysi Truppe, den Normalos.
Verschwiegen haben sie hier den wichtigsten Antrag, den eines Horst Schmitt aus Detmold welcher dafür plädiert das faschistische, das allzu klein geistige Lied die „Internationale“ nicht mehr zu singen, da hierdurch der Militarismus zu sehr verherrlicht wird. Wobei, so ganz im Unrecht ist er hier ja nicht, wird doch in diesem Lied zu einem „letzten Gefecht“ aufgerufen. Und darin sind wir uns doch sicherlich einig, zu einem „letzten Gefecht“ kann letztendlich nur einmal aufgerufen werden! Und auch darin werden wir schnell einig werden, in ihrem „letzten Gefecht“ befindet sich die Partei doch seit Jahren schon, oder immer noch, oder schon immer wieder?
„Letzte Gefechte“ können aber nur einmal ausgefochten werden, zumindest in einer LINKEN, was ja auch die Schotterwerfer, oder zumindest deren AnführerInnen unter Beweis stellten. Sie warfen einmal, bezahlten brav den behördlich ausgestellten Jagdschein und reden fortan nur noch in Talkshows, wenn man sie denn dort lässt. Steine wurden in solcherart Sendungen zumindest nie gesehen.
Vorbei ist es dann auch mit den LINKEN Liederabenden von denen eine grauhaarige Schabe in meinen ehemaligen Heimatkreis immer schwärmte. Geht heute nicht mehr, da sie das Hohe C nicht mehr halten kann. Liederabende in Ost-Berlin oder Moskau für die wohl auch extra Bücher gedruckt wurden. Nicht solche Anfängersongs wie neulich für Dietmar Bartsch, nein alte speziell für Links SängerInnen. Aber nun gut, zu schwingen war da ja auch nicht mehr viel.
Lieder wie: „Die Fäuste hoch, den Globus fest umschlungen“ oder „Und wenn wir radieren die Satzung Strich für Strich“, dürften doch nicht nur die linken Augen zum glänzen bringen, sondern auch den manipulierenden Schiedskommissionen ungeahnte Kräfte einhauchen, da es ihr Auftrag ist mit ihren zuständigen Blockswarten fortwährend die Überholspuren auf den Autobahnen der Intelligenz auch in dieser Partei zu blockieren. Denn so wird es gewünscht, ein Oscar muss immer als erster auf die Blechtrommel schlagen. So wollen wird dann alle hoffen, dass auch linke Lieder bald wieder sauber und rein werden.
Nie wieder Lied!
KEIN SCHERZ! Für den nächsten Bundesparteitag der Linken gibt es einen Antrag, „Die Internationale“ nicht mehr zu singen
Eine markante Zäsur in der Geschichte der sozialistischen Bewegung verspricht der 4. Bundesparteitag der Linken am 15. Februar 2014 in Hamburg zu setzen. Hoffnung darauf weckt der jetzt bekannt gewordene Antrag „P.6“, verfasst von Horst Schmitt aus Detmold. Denn der Delegierte des Kreisverbands Lippe empfiehlt darin tatsächlich der Partei, die „Aussetzung der akustischen oder gesanglich musikalischen Intonierung des Liedes ,Die Internationale'“ – am besten für immer: Nie wieder Lied!
Schmitt nämlich hat entdeckt, dass die Melodie der „Internationalen“ ein verbrämtes Symbol des Kapitalismus ist. Wie dieser, so ist auch das alte Liedgut „militaristisch, gewalt- und kriegsverherrlichend“. Und unterlässt die Linke nicht künftig die gesangliche Intonierung dieses problematischen Heiligtums, wäre „der Schritt nicht weit, generell Militäreinsätze zu akzeptieren. Die Aussage in unserem Parteiprogramm, dass wir eine Friedenspartei sind, wäre dann nur eine Farce.“
Fotoquelle: Wikipedia- Urheber Staff Sgt. D. Myles Cullen (USAF)
Diese Datei ist ein Werk eines Angestellten der U.S. Air Force, das im Verlauf seiner offiziellen Arbeit erstellt wurde. Als ein Werk der Regierung der Vereinigten Staaten ist diese Datei gemeinfrei.
Nach und nach schöpfen die betroffenen Familien Mut und melden sich beim Thema Heimunterbringung zu Wort. Hier ist der nächste Erfahrungsbericht und die Mutter äußert sich wie folgt: „Ich habe ein krankes Kind dorthin gegeben und ein viel kränkeres zurückbekommen“.
Mit 12 Jahren kommt Jonas ins umstrittene Jugendheim der Haasenburg. Als seine Mutter ihn leiden sieht, kämpft sie um ihren Sohn
Jonas macht Kniebeugen, Hampelmann, Liegestütze, wieder Kniebeugen. Es ist spät an diesem Tag, draußen schon dunkel. Jonas will nicht weitermachen. Die Haasenburg GmbH setzt manchmal eine Art Sportprogramm ein, wenn die Kinder von dem vorgeschrieben Verhalten abweichen. Jonas sagt, er habe geschrien, später sei er „begrenzt“ worden. So nennen sie es in diesem geschlossenen Heim, wenn mehrere Betreuer Kinder und Jugendliche an den Armen packen und mitunter brutal zu Boden bringen. Nach Ansicht der Haasenburg GmbH geschieht dies, um die Kinder vor sich selbst oder um andere vor ihnen zu schützen. Viele der Kinder und Jugendlichen, die mit der taz sprachen, beurteilen das anders.
Manche kommen bei solchen Aktionen in den Antiaggressionsraum – so wie Jonas an diesem Tag. Dort stand damals noch die Fixierliege, die 2010 mit einer Auflage des Landesjugendamtes verboten wurde. Jonas hatte panische Angst, auf dieser Liege festgeschnallt zu werden.
Die Haasenburg GmbH betreibt in Brandenburg Heime für Kinder und Jugendliche, die zum eigenen Schutz und zum Schutz anderer hier geschlossen untergebracht werden. Recherchen der taz zu diesem Betreiber deckten erhebliche Missstände auf. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft in zahlreichen Fällen. Für die Einrichtung wurde bis Ende August ein Belegungsstopp durch das zuständige Bildungsministerium in Brandenburg erlassen. Erschüttert reagieren befragte Experten auf die Fixierung der Jugendlichen.
Folgenreiche Beschwerde
In eigener Sache: Jugendanstalt Haasenburg gegen die taz
Da fühlt sich die Haasenburg GmbH wohl kräftig auf den Schlips getreten wenn sie nun gegen die TAZ gerichtlich vorgehen will. Wobei, um die Pressefreiheit mach ich mir die geringste Sorge in diesen Fall, da schon sehr viele Prozesse ähnlicher Art geführt wurden, welche zumeist zu Gunsten der freien Berichterstattung endeten. Es wird auf jeden Fall interessant.
In eigener Sache:
Jugendanstalt Haasenburg gegen die taz
Die Haasenburg GmbH, gegen die die taz Misshandlungsvorwürfe erhebt, geht nun juristisch gegen die taz vor
Die taz steht wegen ihrer Berichterstattung über Misshandlungen in der geschlossene Jugendanstalt Haasenburg in juristischen Auseinandersetzungen. So wird am 8. August 2013 vor dem Landgericht Berlin der Widerspruch der taz gegen eine ohne Anhörung der taz ergangene Gegendarstellungsverfügung des Landgerichts Berlin verhandelt. Es geht dabei um einen Artikel in der Wochenendausgabe vom 15./16. Juni 2013. Die taz war trotz ausdrücklicher Aufforderung an das Landgericht Berlin zu diesem Antrag nicht gehört worden.
Am 8. August 2013 wird auch über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung der Haasenburg gegen die taz auf Unterlassung verschiedener Formulierungen in dem Artikel vom 15./16. Juni 2013 verhandelt werden.
Die taz hatte sich zuvor bemüht, stets und umfassend Stellungnahmen der Haasenburg zu den Vorwürfen der Misshandlung zu erhalten. Anfragen vor dem Artikel vom 15./16. Juni 2013 hat die Haasenburg nicht beantwortet mit der Begründung, sie könne „sich angesichts Ihrer bisherigen tendenziösen Berichterstattung auch keine Hoffnung auf eine ausgewogene Berichterstattung […] machen“. Zahlreiche Anfragen seither hat die Haasenburg nicht beantwortet.
Die Haasenburg GmbH ist zur Auskunft verpflichtet
Der Haasenburg werden zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben Kinder anvertraut. Daher ist die Haasenburg auskunftsverpflichtet nach dem Landespressegesetz. Die Haasenburg GmbH verletzt mit ihrer Weigerung, die Presseanfragen zu beantworten, ihre Auskunftspflichten aus Art. 5 GG i.V.m. § 5 PresseG Brandenburg. Diese Auskunftspflicht besteht auch, wenn eine private GmbH öffentliche Aufgaben wahrnimmt.
Nein, auch vor dem Hamburger Arbeitsgericht gab es keine Ausnahme für die Hartz IV Rebellin Inge Hannemann. Ihr Eilantrag auf Weiterbeschäftigung wurde Weisungs-, oder Erwartungsgemäß abgelehnt. Der Büttel zeigte Einigkeit gegenüber seinen politischen Auftraggeber. Ist er doch Gehalts mäßig von seinem Auftragsgeber abhängig. Aber ist der eigentliche Auftragsgeber nicht das Volk, von dem alle Macht ausgeht? Wo bleibt die schweigende Masse?
Die meldet sich scheinbar nur wenn es gegen Randgruppen geht. Die Ausländer sind solch eine welche für schlechte Löhne oder Arbeitslosigkeit, einfach für alles schuldig gemacht werden können. Da zeigt der Bürger Stärke und Mut, unter gnädiger Duldung der Parteien? Wie wir lesen soll sie am Nachmittag zusammen mit Katja Kipping in Berlin ein neues Buch von Klaus Dörre „Bewährungsproben für die Unterschicht“ vorgestellt haben.
Einen politischen Skandal will sie nun aus ihrer Situation machen, lässt Inge Hannemann verlauten. Und das ausgerechnet mit einer Partei und dann auch noch mit der LINKEN, welche für sich selbst ja schon genug Skandal ist? Zumindest aufgrund vieler Mitglieder welche die von ihnen selbst verfassten Programme nicht verstehen – wollen, oder auch brauchen wollen, da sie über den Dingen schweben.
Mit Leuten wie Dehm, Wagenknecht oder Lafontaine Skandale aufzudecken geht nicht, da diese selber schon der Skandal sind und nicht mehr für Aufmerksamkeit sorgen können. Was die schon wieder? Von denen sind wir ja nichts anderes gewohnt. Damit lässt sich heute keine Politik mehr machen.
Eine Jobcenter-Mitarbeiterin weigerte sich, gegen Langzeitarbeitlose hart vorzugehen und wurde suspendiert. Der Einspruch der Hamburgerin half nichts: Die sogenannte Hartz-IV-Rebellin unterlag jetzt vor Gericht.
Inge Hannemann vor dem Jobcenter Altona: Suspendierung war rechtens
Inge Hannemann gilt vielen als das gute Gewissen der Republik. Die Arbeitsvermittlerin aus dem Jobcenter Hamburg-Altona kämpft gegen die Ungerechtigkeiten von Hartz IV und weigert sich, arbeitslosen Jugendlichen das Geld zu kürzen, wenn sie nicht erscheinen. Das Jobcenter suspendierte Hannemann, die sich dagegen wehrte und jetzt vor Gericht unterlag.
Das Hamburger Arbeitsgericht hat ihren Antrag auf Weiterbeschäftigung vorerst zurückgewiesen. In dem Eilverfahren habe Frau Hannemann die ihr von ihrem Arbeitgeber zur Last gelegten Verstöße nicht entkräftet, teilte das Gericht am Dienstag mit. Damit entfalle auch der Grund für eine einstweilige Verfügung. Diese könne das Gericht nur erlassen, wenn der Anspruch auf eine Beschäftigung zweifelsfrei feststehe. Hannemann darf also vorerst nicht an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Ob das später der Fall sein wird, klärt sich im Hauptklageverfahren, das im August beginnt.
Inge Hannemann wird bis zur Hauptverhandlung nicht wieder im Jobcenter arbeiten dürfen. Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Hamburg ist bedauerlich, aber wenig überraschend.
Durch ihren öffentlichen Protest ist Inge Hannemann zu einer Symbolfigur geworden. Dafür, dass bei der Betreuung von Arbeitslosen häufig nur die Quote zählt, aber nicht, ob jemand auch ein sinnvolles Training oder eine anständig entlohnte Stelle angeboten bekommt. Inge Hannemann hat unseren Blick nicht nur auf die „Kunden“ gelenkt, wie Arbeitslose mittlerweile im Orwellsprech der Jobcenter heißen, sondern auch auf diejenigen, die hinter den Schreibtischen sitzen. Sie haben zwar die Macht, über Leistungskürzungen zu entscheiden, sind aber häufig selbst frustriert. Die Anforderungen an sie wachsen, ihre Spielräume schrumpfen.
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Jeder zusätzliche Kommentar erübrigt sich hier und so verlinke ich diesen Artikel in der Hoffnung das die PolitikerInnen sich einmal über ihren geistigen Horizont hinaus bewegen mögen und den Albträumen der Jugendlichen ein schnelles Ende bereiten.
„Ich will auf keinen Fall zurück“
Nico befindet sich seit über einer Woche auf der Flucht. Er war in einem Heim der Haasenburg GmbH untergebracht. Nun meldete er sich bei der taz und berichtet von seinen Erlebnissen
Drei Jungen flüchteten in der vergangenen Woche aus Heimen der Haasenburg GmbH. Sie erhoben schwere Vorwürfe wegen Misshandlungen. Zwei Jungen, sie sind aus dem Saarland und Hamburg, waren gegen ihren Willen wieder in die umstrittene Einrichtung zurückgebracht worden. Der Junge, der aus dem Saarland stammt, hält nach Aussage seines Anwaltes an seinen Vorwürfen gegenüber der Haasenburg GmbH fest. Das würde er auch dem Landesjugenddamt Brandenburg so sagen. Der Hamburger Senat hatte zuvor verbreitet, die Jungen würden ihre Vorwürfe dementieren. Ein dritter Junge befindet sich noch auf der Flucht. Bei ihm entschied das Jugendamt Berlin-Charlottenburg, dass es nicht angemessen wäre, ihn in die Haaseburg GmbH zurück zu führen, so der Anwalt. Die taz hat die Haasenburg GmbH mit den Kernaussagen dieses Interviews konfrontiert. Eine Stellungnahme von der Haasenburg GmbH blieb aus.
Nico*, weshalb bist du aus dem Heim der Haasenburg GmbH geflüchtet?
Nico: Wegen der strengen Regeln dort und wegen der Missstände. Und weil ich Kontakt zu meinen Freunden wollte.
Was ist dir passiert?
Einen Tag vor meiner Flucht hatte ich Streit mit einem Erzieher. Ich hatte abends geklopft, weil ich etwas zu Trinken wollte. Das mussten wir so machen. Da hat er gesagt, du kriegst nichts, du hast schon vor einer halben Stunde getrunken. Er hat mich dann in mein Zimmer geschubst. Das hab ich mir nicht gefallen lassen und bin raus in den Flur, um mir was zu Trinken zu holen. Da hat er einen anderen Erzieher aus der Nachbargruppe angefunkt. Ich wollte wieder rein in mein Zimmer, da hat er ausgeholt und mir heftig in den Po getreten mit seiner Fußspitze.
Belegungsstop für umstrittene Kinderheime in Brandenburg
Jetzt wurden wohl die ersten Konsequenzen aus der Haasenburg Affäre gezogen und drei Angestellte entlassen. Außerdem verhängte die brandenburgische Bildungsministerin einen Belegungsstopp für diese umstrittenen Einrichtungen. Die noch in den Heimen sitzenden Kindern haben sich aber weiter den Launen ihren wahrscheinlich unqualifizierten Pflegern aussetzen müssen.
Überhaupt scheint sich das Ganze zu einem massiven Skandal für die SPD zu entwickeln. Wie die TAZ heute berichtet wird in der Hamburger SPD über die Folgen gestritten. So erteilte der SPD Fraktionschef Dressel einem Antrag seines SPD Bürgerschaftsabgeordneten Wolfgang Rose alle Hamburger Kinder aus den Heimen zu holen eine Absage. Erst sollen die Untersuchungen des Brandenburger Ministeriums abgewartet werden.
Rose soll in einer internen Mail an Dressel und Sozialsenator Detlef Scheele (SPD), geschrieben haben: „den Aufenthalt von Hamburger Jugendlichen dort zu rechtfertigen, diskreditiert unsere Partei in diesem Politikbereich“. Es sei „eher eine Dressuranstalt mit fragwürdigen Geschäftsinteressen“. Nicht nur ihm falle es schwer, „jede öffentliche Äußerung oder Beteiligung an Veranstaltungen aus Fraktionsdisziplin zu verweigern“, so Rose.
Grüne und Linke in Hamburg werfen der Sozialbehörde unterdessen vor, „zynisch und unverantwortlich zu handeln“. Ihrer Ansicht nach müssten alle Hamburger Jugendlichen die Haasenburg-Heime umgehend verlassen und in der Hansestadt selbst betreut werden.
Die CDU verweist eine Rolle, die der Jurist Christian Bernzen in dieser Angelegenheit spielt: Bernzen vertritt als Anwalt die Haasenburg GmbH – und ist zugleich Landesschatzmeister der Hamburger SPD. Somit gehört er zum engsten Machtzirkel um Parteichef und Bürgermeister Olaf Scholz. Kommentieren wollte das am Mittwoch kein Sozialdemokrat.
KOMMENTAR VON INES POHL ÜBER DIE SKANDALE IN HEIMEN DER HAASENBURG GMBH
Schließt die Heime endlich
Über fünfzig Kinder und Jugendliche leben derzeit in den drei Haasenburg-Heimen in Brandenburg. Über fünfzig Kinder und Jugendliche sind auch heute Morgen wieder in den geschlossenen Anstalten aufgewacht, obwohl durch die taz bekannt wurde, was sich hinter diesen Mauern abspielt: Kinder werden misshandelt, sie werden isoliert und stundenlang auf Liegen als Bestrafung fixiert. Insassen berichten, dass ihnen Arme ausgekugelt und Knochen gebrochen wurden. Ein Mädchen erhängte sich 2005, weil sie dieses Leben offenbar nicht mehr aushalten konnte. Spätestens seit 2006 berichten Mitarbeiter beim zuständigen Landesjugendamt immer wieder über den brutalen Umgang. Regelmäßige unangemeldete Kontrollbesuche fanden trotzdem nicht statt.
Alle Mahnungen, alle Beschwerden und Hilferufe reichen also nicht aus, damit die verantwortliche Landesregierung wirksame Konsequenzen zieht. Entsprechend können die Inhaber weiter ihre Geschäfte mit traumatisierten und „schwer erziehbaren“ Kindern betreiben.
Es ist sehr lang dieses Interview mit dem DGB-Vorsitzenden Michael Sommer, neue Erkenntnisse oder eine Erklärung, Motivation wieder Mitglied in einer Gewerkschaft zu werden ist leider nicht zu entdecken. Stattdessen immer die gleichen, alten Storys über eine Aussprache mit Steinmeier, dem Miterfinder der Hartz-Gesetzgebung, und seine Dankbarkeit das dieser mit Merkel, eine Ansprache zu seinen 60 Geburtstag hielt. Andere, gewählte Arbeiterführer hätten sicher darauf verzichtet.
Im Sinne seiner Gewerkschaftsmitglieder wäre es vielleicht angebrachter gewesen, ins besondere an seinen Geburtstag, als Anerkennung derer welche ihn seit Jahren wählen, einmal grundsätzliche Programme auszuarbeiten wie denn wohl die Hartz-Gesetzgebung wieder abzuschaffen wäre? Ist dort schon einmal die Idee einer Ausschreibung zu einem Ideenwettbewerb angedacht worden? Nein, mit Sicherheit nicht. Lobt man sich doch immer wieder ob der Willig- und Billigkeit ganz zum Vorteil von Regierung und der Wirtschaft.
So fordert er auch im allerletzten Satz einen ordentlichen Schluck aus der Lohn-Pulle, wie er es ausdrückt. So einfach ist das, denn er verschweigt natürlich diese Flasche zuvor umgestoßen und nicht am auslaufen gehindert zu haben.
Ein gutes Beispiel nicht nur auf ihre Gewerkschaften zu hören zeigen die Beschäftigten der Fa. Neupack im Hamburg. Dort ist man sauer auf die Verhandlungsführung und der Streiktaktik mit der IG BCE. Volle fünf Monate hält der Streik nun schon an, da der Unternehmer keinen Tarifabschluss mit seinen 200 Beschäftigten akzeptiert, obwohl die Löhne weit unter dem üblichen Niveau liegen.
Die von Seiten der Gewerkschaft eingebrachte Formulierung einer Vereinbarung wird von den Mitarbeitern als Geschwafel und mit weniger als nichts strikt abgelehnt. Ohne eine vernünftige Maßregelungsklausel wird es zu keiner Einigung kommen und man sei bereit die Firma bis an den Rand ihrer Existenzfähigkeit zu bestreiken. Den immer wieder versuchten Schmusekurs der Gewerkschaft lehnt man ab.
Grünes Licht für Streiks
Es ist der wohl längste Arbeitskampf für einen Haustarifvertrag in der bundesdeutschen Geschichte – und ein Ende ist nicht in Sicht.
Seit 1. November 2012 befinden sich die Belegschaften des Lebensmittel-Verpackungsherstellers Neupack in Hamburg-Stellingen sowie im niedersächsischen Rotenburg an der Wümme im Streik – seit 157 Tagen. Doch der 72-jährige Geschäftsführer Jens Krüger, der seine 200 Beschäftigten nach Gutsherrenart behandelt, trotzt dem Gewerkschaftsriesen Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). Tarifverträge sind für ihn Teufelszeug. Die Beschäftigten hingegen wollen, dass die Löhne nicht mehr individuell und völlig willkürlich festgelegt werden.
Erst am Wochenende musste die Führung der sozialpartnerschaftlich orientierten IG BCE erneut erkennen, dass auf die sanfte Tour nichts zu holen ist. Neupack ließ eine Frist verstreichen, bis zu der das Unternehmen erklären sollte, ob man nach einer möglichen Einigung auf Sanktionen gegen die StreikteilnehmerInnen verzichten würde. Krüger hatte verlangt, dass alle Streikenden, die während des Arbeitskampfes wegen Beleidigung oder Nötigung von Arbeitswilligen angezeigt worden sind, unter eine „Maßregelungsklausel“ fallen. Das würde unter anderem den Betriebsratsvorsitzenden Murat Günes treffen, dem mehrfach fristlos gekündigt wurde. Die IG BCE musste die Gespräche nach der Abfuhr erneut für gescheitert erklären.
Welt am Sonntag: Herr Sommer, es ist stiller geworden um Sie. Wie geht es Ihnen?
Michael Sommer: Gut, meiner gesundheitlichen Situation entsprechend. Man wird älter, und ich habe zwei schwere Operationen hinter mir. Aber ich fühle mich fit. Ich achte nur mehr auf meine Gesundheit als früher.
Was bedeutet das?
Ich habe ja nur noch ein Fünftel meines Magens, und mir wurde die Galle rausgenommen. Man kann damit gut leben und arbeiten, und ich jammere auch nicht, aber mein Leben ist schon anders geworden. Ich muss sehr mit dem Essen aufpassen. Ich muss viel langsamer essen, was mir schwerfällt.
Was hat sich sonst verändert?
Ich bin nachdenklicher, vorsichtiger geworden. Ich hinterfrage das, was ich sage und tue, mehr als früher. Wir haben neulich den ehemaligen DGB-Vorsitzenden Ernst Breit beerdigt, der für mich in vielerlei Hinsicht ein Vorbild war. Als ich ein junger Gewerkschaftssekretär war und bei Ernst Breit lernte, hat er mir geraten: „Du musst jedes Wort auf die Goldwaage legen!“ Ich habe in den elf Jahren viel erlebt, erreicht, nicht erreicht. Das verändert einen, und das ist auch gut so.
Warum?
Ich finde, Menschen sollten eine gewisse Lebenserfahrung haben, bevor sie ein Amt übernehmen. Als ich 30 war, konnte ich vor Kraft kaum laufen. Aber zum Leben gehört die Erfahrung, mit Niederlagen und Rückschlägen umzugehen.
Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach geht auf ganz eigene Weise mit seiner schweren Krankheit um. Bewundern Sie seine Ausdauer?
Mobbing-Vorwürfe in Wandsbek
Die Linke zerlegt sich selbst
Das ist wieder so ein Fall! Der wievielte? Das weiß niemand so genau. Aber für eine Partei der sozialen Gerechtigkeit, schon bemerkenswert. Wenn wir einmal nur auf DL recherchieren, werden wir wohl an die zwanzig Beispiele dergleichen, oder ähnlicher Art zusammenbekommen. Natürlich sind die meisten Fälle nicht vor Gericht entschieden worden, da die Beweisführung einfach zu schwierig ist. Auch lügen die, welche an ihren Parteiclowns in stiller Ergebenheit hängen auf Teufel komm heraus. Aber diese Leute kann die Gesellschaft ehe vergessen, die werden sich nie befreien.
Zurück mobben ist hier noch die beste und wirkungsvollste Möglichkeit. Das Mobbing aus der Partei ist mit einem Austritt vorbei. Das heißt die so gemobbte Person hat für einen überschaubaren Zeitraum den Kopf hingehalten. Die Schläge zurück sind viel härter und dauern, Jahre? „Was, die Partei hat sich noch nicht aufgelöst“? Dann machen wir eben weiter und sparen dem Steuerzahler auf Dauer viel Geld.
Nun zu den neueste Fall in Hamburg Wandsbek. Dort klagte die ehemalige Geschäftsführerin der Linksfraktion in der Bezirksversammlung, und verliert die Klage gegen ihre Kündigung. Von 2011 bis 2012 war sie in ihren Job tätig.
Die Arbeit habe ihr sehr viel Spaß gemacht erklärt A. M. B.. Doch der Spaß verging mit dem Tag der Kündigung im Herbst des letzten Jahres. Da sie weiter beschäftigt werden wollte, klagte sie, und verlor. Der Gang in die Berufung ist noch offen.
Das Vertrauen in die Arbeit der Angestellten sei nicht mehr gegeben gewesen. So erklärte der Fraktionsvorsitzende Julian Georg die Kündigung vor Gericht. Einer Dokumentation von Mobbing Geschehnissen welche von B. vorgelegt wurde, konnte sich das Gericht in der Bewertung nicht anschließen.
Probleme in der Wandsbeker Linksfraktion gab es wie wir erfuhren bereits im Dezember 2012. Zu dieser Zeit war das Mitglied Anke Ehlers aus der Fraktion ausgetreten, so das die restlichen zwei Abgeordneten den Fraktionsstatus verloren. Dieser Streit konnte ausgeräumt werden und Ehlers kehrte drei Tage später zurück in die Fraktion.
Ralf Brodesser, Vorgänger auf B. Position nennt die Kündigung besonders problematisch, schließlich sei die Frau schwerbehindert und alleinerziehend. Besonders aber beklagt er den Umgang der Partei mit ihrer Beschäftigten: Die Linke gebe im Wahlkampf vor, 100 Prozent sozial zu sein. „Das muss die Partei auch nach innen sein“, verlangt Brodesser.
Diese Forderung war dann aber wohl der berühmte Satz mit X, denn da kommt Erfahrungsgemäß nix ! Selbst Fressen macht fett. Die Frage von Wem und Warum die Dame eingestellt wurde, ist leider genau so wenig wie die nach der Qualifikation gestellt worden. Es wäre schön, würde sich die Dame bei uns melden. Wir freuen uns immer Berichte direkt aus dem Zentrum des Orkan zu bekommen.
Mobbing-Vorwürfe in Wandsbek
Die Linke zerlegt sich selbst
Der Streit der Bezirksfraktion gipfelte am Mittwoch vor Gericht
Der Vorwurf, den ehemalige Mitglieder und Mitarbeiter der Linken-Bezirksfraktion in Wandsbek vorbringen, wiegt durchaus schwer: Geschäftsführer, Fraktionsvorsitzende und Parteimitglieder seien über Jahre hinweg gezielt gemobbt worden, behaupten Dieter von Kroge, Ralf Brodesser und Gernot Schultz, die von 2008 bis 2011 in ihrer Partei im Bezirk Wandsbek aktiv waren. „Ich hatte psychisch schwer mit den Folgen des Mobbings zu kämpfen“, berichtet Dieter von Kroge, der der Bezirksfraktion mehr als zwei Jahre vorstand.
„Alles was ich in meiner Zeit als Fraktionsvorsitzender in der Bezirksversammlung tat, wurde öffentlich kritisiert.“ Irgendwann habe er nicht mehr gekonnt. Offiziell legte er sein Mandat aus gesundheitlichen Gründen nieder.
Der Fall Inge H. aus HH.:
Maulkorb für kritische Jobcenter-Mitarbeiterin?
Bei unseren Netzwanderungen sind wir auf einen interessanten Blog gestossen, auf dem die Betreiberin Inge Hannemann, Mitarbeiterin in einem Jobcenter, auspackt.
Zur Beschreibung der Sachlage die nachfolgenden Widmung von Norbert Wiersbin:
Der Fall Inge H. aus HH.: Maulkorb für kritische Jobcenter-Mitarbeiterin?
Noch sind es wenige, aber es werden immer mehr. Inge H. ist so eine Ausnahme, nicht erst seit gestern. Bereits seit April 2012 betreibt sie ihren Blog altonabloggt.wordpress.com im Internet, schreibt und veröffentlicht kritische Beiträge zu den Missständen im Hartz-System. Das macht sie ehrenamtlich, aus bürgerschaftlichem Engagement heraus, aus Sorge um den sozialen Frieden und um die demokratische Grundordnung. Dabei hat sie sich weit aus dem Fenster gelehnt, zu weit, wie ihr Arbeitgeber nun mutmaßt. Aber Inge H. hat es damit auch in die Schlagzeilen einer wachsenden Gegenöffentlichkeit gebracht. Und die lässt sich nicht lange lumpen, um demokratische Grundrechte wie die Meinungsfreiheit zu verteidigen.
Von Wiersbin stammt auch der „Offene Brief“, der sich unter anderem mit der Reaktion des Arbeitgebers von Inge H. beschäftigt und im Moment der neueste Artikel auf Inges Blog ist:
Das Fatale ist (jedoch), dass „1.000 Leute“ sich in Einzelaktionen gegen HARTZ IV wenden. Auch wir von DL. Der Eine oder Andere wird im Sinne der Sache vom Anderen oder Einen verlinkt.
Es gibt auch das http://sozialbuendnis.de
was durch die Endung .de bundesweiten Vertretungs“anspruch“ zu erwecken scheint.
Es gibt seit Jahren (2005) das http://www.erwerbslosenforum.de
welches zu Gründungszeiten noch einen anderen Namen trug. Es gibt diese „Sozialbündnisse“ in Landkreisen und Städten – oft benannnt nach ‚Stadt, Land oder Fluss‘. Campact gibt es, die sich ebenfalls um soziale Belange kümmern. Das labournet wollen wir nicht vergessen. Und den ‚Klassiker‘ tacheles mit Thomé in Wuppertal, einem grossen Aktivist, dürfen wir nicht vergessen.
Diese Liste erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, und ist in diesem Sinne auch kein Zeichen von Wertigkeit – egal in welche Richtung.
Und dann wäre da noch ATTAC. Was bekanntlich heisst: Nun haben wir sie, die Steuer auf Börsenerträge, die Tobin-Steuer. Für die Einführung hat ATTAC „ein Leben lang“ gekämpft. Wo aber fliessen die kommenden Milliarden aber hin? Wo bleibt der Aufschrei aller, die die sozialen Missstände anprangern seit Jahren? Wo bleibt vor allen Dingen der „Aufschrei“ von ATTAC???
Einer unserer Leser (Ichbins) ist zeitgleich auf einen Artikel auf dem Blog „http://www.gegen-hartz.de“ gestossen. Scheinbar hatten die Kollegen ein Interview mit Inge Hannemann. Ichbins hat folgenden Kommentar übersandt einschliesslich des Links, der das Gespräch reflektiert. Danke für diese passende Ergänzung
Ichbins sagt:
Sonntag 10. März 2013 um 10:55 Hut ab vor dieser Frau! Ihre Mitteilung zeigt, wie dieses System tickt und was die Linke versäumt, auch wenn sie ab und zu mal Aktionen durchführt… http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/eine-jobcenter-mitarbeiterin-kaempft-gegen-hartz-iv-9001333.php
Es müsste mehr solche Sachbearbeiter/innen geben, denn [nur] durch solche Menschen könnte man das System kippen. Die meisten aber sind Mitläufer und schickanieren und reden sich raus von wegen „…ist eben Gesetz“, man setze dies ja bloß um und tue seine Arbeit und das seien ja nur Einzelfälle bla-bla-blubb – Es muss mehr Inges geben, Hoffnung für die Menschen, die immer mehr resignieren und der Willkür ausgeliefert sind… – die Wahlbeteiligungen und Politikverdrossenheit sind ein deutliches Statement, spielen aber den Parteien, die eigentlich für uns da sein sollten, die uns jedoch kaputtregieren, in die Hände, und die Politiker verraten uns an den Mammon, sobald sie vom Honigtopf lecken…
Der Einfachheit halber haben wir das komplette Interview einkopiert.
09.03.2013 Offenbar sehr zum Missfallen ihres Arbeitgebers engagiert sich Frau Inge Hannemann, Jobcenter-Mitarbeiterin aus Hamburg, mit ihrem Blog gegen Sanktionen und Ungerechtigkeiten im Hartz IV-System. Sie tritt öffentlich bei Veranstaltungen auf, weigert sich Strafen gegen ihre „Kunden“ auszusprechen und solidarisiert sich aktiv mit Betroffenen. Am Freitag sollte eine Anhörung seitens des Arbeitgebers stattfinden. Dazu hatte die Behörde kurzfristig eingeladen und dann überraschenderweise ebenso wieder schnell ausgeladen. Was ist passiert? Wir haben bei Frau Hannemann direkt nachgefragt:
Frau Hannemann, Sie wurden gestern durch ihren Arbeitgeber zu einer Anhörung vorgeladen. Wie ist das Gespräch verlaufen? Das Gespräch wurde am Donnerstag Nachmittag kurzfristig durch die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) der Stadt Hamburg per Anrufbeantworter abgesagt. Es gab zunächst keine Angaben von Gründen. Ebenso war zunächst nicht bekannt, ob der Anruf tatsächlich von der Behörde kam, da kein Name genannt wurde. Ein Rückschluss konnte nur anhand der sichtbaren Telefonnummer geschlossen werden. Da ich noch eine aktuelle Krankmeldung zuhause hatte, musste ich diese aus Zeitgründen, um die rechtzeitige Abgabe zu gewährleisten, bei der BASFI persönlich abgeben. Mit einem Beistand bin ich dann gegen 10 Uhr zur BASFI gefahren. Es bestand ja noch die Unsicherheit, ob der anonyme Anruf tatsächlich durch die Behörde kam oder ein Fake war. So wollte ich sicherstellen, dass der anberaumte Termin um 10 Uhr zur Anhörung durch meine Person wahrgenommen wird.
Bei der Bitte um Einlass per Klingeln und Sprechanlage, wurde mir mitgeteilt, dass jemand käme, weil die Tür sich so nicht öffnen ließe. Im Eingangsbereich stand bereits schon ein Sicherheitsdienst im Zivil, was mir bisher so nicht bekannt war und bei vorherigen Besuchen entgegenkommen ist. Der Verwaltungschef öffnete uns die Tür und fragte, ob ich Frau Hannemann sei. Dieses bestätigte ich. Ich fragte nach seiner Funktion, welche er bereitwillig mitteilte. Bereits kurz danach telefonierte er mit dem Handy. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl in die Etage der Sachbearbeitung Personal und wurden dort von einer anderen Person in Empfang genommen und zur Sachbearbeitung begleitet. Die Stimmung auf dem Gang empfand ich als sehr angespannt. Auch waren alle Türen geöffnet. Nach Abgabe der Krankmeldung verließen wir das Gebäude und trafen erneut im Eingangsbereich auf den Sicherheitsdienst. Anschließend sind wir in das im Haus angegliederte Einkaufszentrum, um dort noch in Ruhe einen Kaffee zu trinken.
Während des Kaffeegenusses stellten wir fest, dass neben dem Verwaltungschef auch andere Personen in Zivil uns sozusagen umkreisten und beobachteten. Nach rund einer 3/4 Stunde verließen wir das Einkaufszentrum. Auf dem Weg zur U-Bahn sind mir bekannte Gesichter aus meiner Jobcenter-Zentrale entgegen gekommen, welche in Richtung Eingang der BASFI gelaufen sind. Wie mir inzwischen bekannt ist, ging eine von mir unabhängige Person gegen 10 Uhr ebenfalls zur BASFI, um in Erfahrung zu bringen, wie es um meine Anhörung steht. Er wurde im Eingangsbereich der Behörde von einem Polizisten empfangen und in Begleitung zur Personalverantwortlichen begleitet. Dort teilte man ihm mit, dass keine Anhörung stattgefunden habe, jedoch man sich um die Fürsorge gegenüber den Mitarbeitern kümmere und ich keine Kündigung zu befürchten habe.
Was meinen Sie, warum wurde die Anhörung erst kurzfristig anberaumt und dann genauso schnell wieder abgesagt? Aufgrund meines Urlaubs bis zum 4. März, haben sie wohl keine andere Möglichkeit gesehen, mir die „Vorladung“ persönlich zu überreichen. Dieses geschah in Begleitung einer Zeugin in meinem Büro, mitten im Gespräch mit einem Leistungsberechtigten. Die Einladung selbst stammt vom 27. Februar 2013. Ebenso muss ich davon ausgehen, dass versucht wurde, mir sowenig Zeit wie möglich zu lassen, einen Beistand zu organisieren. Der Versuch meinen sonstigen Beistand – die Gleichstellungsbeauftragte der team.arbeit.hamburg zu erreichen, schlug fehl, da sich diese bis zum eigentlichen Termin der Anhörung am 6. März sich nicht im Hause befand. Telefonisch bat ich um die Verlegung des Termins. Hier machte man deutlich, dass eine Verlegung maximal bis zum 8. März möglich sei. Zu weiteren Kompromissen war die Behörde nicht bereit. Allerdings gestand man mir zu, dass ich eben bis zum 8. März Rücksprache mit meinen Anwälten halten darf. Der Personalrat war ebenfalls am Tag meines Anrufes zwecks Terminverlegung komplett nicht im Haus. Jedoch rief später eine Personalratsvertretung an und sicherte mir die Begleitung als Zeugin zu. Sie war jedoch nicht wirklich über meinen Fall informiert.
Nach dem Besuch bei der BASFI, um die Krankmeldung abzugeben, hatte ich um 8.50 Uhr einen Anruf auf meinem Anrufbeantworter durch die Abteilungsleiterin Personal- und Organisationsmanagement. Diese begründete die kurzfristige Absage damit, dass sie zur Gewährleistung ihrer und meiner Sicherheit den Termin abgesagt haben, weil sie gestern (7. März) davon ausgehen mussten, dass hier vielleicht 100 oder 200 Personen eine Kleindemonstration machen.
Was will Ihr Arbeitgeber damit erreichen? Denke ich negativ, muss ich davon ausgehen, dass man mich mit der knappen Zeit zwischen Einladung und Termin oder der kurzfristigen Absage des Termins unter Druck setzen wollte. Druck in dem Sinne, dass ich mich kaum mit meinen Anwälten beraten kann.
Denke ich positiv, so kann ich die Angst vor einer Anzahl unbekannter Personen verstehen. Wer und insbesondere die Behörden, wollen negative Presse? Aus der Sicht der BASFI war die Lage nicht mehr einzuschätzen.
Wie reagieren Ihre Kollegen auf Ihr Engagement? Gibt es noch weitere Mitarbeiter in den Jobcentern, die ähnlich denken wie Sie? Meine Kollegen reagieren sehr unterschiedlich. So gibt es durchaus Kollegen, die leise mein Engagement schätzen. Und andere wiederum, die dieses durch Missachtung oder Vermeidung von persönlichen Gesprächen mit mir, verurteilen.
Man achtet darauf, nicht mit mir in den Räumen meines Jobcenters in Kontakt zu treten.
Inzwischen melden sich jedoch immer mehr Mitarbeiter der Agentur für Arbeit als auch aus den Jobcentern aus Hamburg und bundesweit, die mich im Hintergrund unterstützen wollen. Sie fragen nach Möglichkeiten, wie sie mir helfen können. Zum Teil anonym, aber auch zum Teil ganz offen.
Erhalten Sie Unterstützung durch Arbeitnehmervertreter oder der Gewerkschaft Ver.di? Meine Anfrage bei Verdi Hamburg für rechtlichen Beistand, welche ich bereits vor Monaten gestellt habe, wurde mit der mündlichen Begründung abgelehnt, dass ich über meine Loyalität gegenüber des Arbeitgebers nachdenken solle. Ebenso dürfe auch ein Gewerkschafter nicht über seine eigene Gewerkschaft schreiben. Eine schriftliche Begründung liegt mir bis heute nicht vor. Jedoch erklären sich andere Verdi-Gemeinschaften mit mir solidarisch. Auch hat sich ein Vertreter eines Betriebsrats eines bundesweiten Großunternehmens bereit erklärt, mich zu beraten oder auch zu begleiten, sofern es nötig ist.
Werden Sie unter diesen Umständen noch weiter ihren Beruf ausüben können? Ja, diese Möglichkeit sehe ich durchaus. Insbesondere in den Beratungsgesprächen mit meinen jungen Leistungsberechtigten sehe ich nicht die Diskussion um mich, sondern primär die Notwendigkeit der praktischen Hilfe, unter