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Archiv für die 'Asien' Kategorie

KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von DL-Redaktion am 5. August 2023

Lobesworte aufs Vaterland gegen Arbeitslosigkeit

Vogelbeobachtung (8618362879).jpg

Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Einst fragte mich jemand in Deutschland: Was ist der Unterschied zwischen einem guten Marketing und einer schlechten Propaganda? Die Fragende bat mich, dies an einem Beispiel aus China zu illustrieren. Kaum konnte ich ihr antworten, antwortete ein Kommentar der KP Chinas am 10. Juli 2023, betitelt: „Eine richtige Anschauung auf die Beschäftigungsfrage tut mehr not als je zuvor.“

Die Kernthese des KP-Organs: Im Moment bedrückt die Massenarbeitslosigkeit – bei Menschen zwischen 16 und 24 Jahren liegt diese bei sage und schreibe 21 Prozent – uns alle in unserem Lande. Angesichts dessen tut es not, dass gerade diese jungen Menschen bei der Jobsuche nicht allein daran denken dürfen, Geld zu verdienen, Familie zu unterstützen und beruflich weiterzukommen. Stattdessen muss man sich, bitte, darum bemühen, dorthin zu gehen, wo das Vaterland einen am meisten braucht.

Ein Marketing-Trick, gar ein wohlklingender: Um die Kernthese zu unterstützen, regnen im Parteiorgan schnulzige Lobesworte aufs Vaterland nur so hernieder: Dort, wo das Vaterland dich brauche, würdest du dein Licht ausstrahlen; dort, wo das Vaterland dich brauche, beginne die Ehre schon damit, da zu sein; ein größeres Bild im Leben sei schon immer das A und O für einen jeden, und welches Bild sei größer als das, in dem einer sich wiederfinde, weil er sein Vaterland beherzige? Usw. usw. War dies gutes Marketing – für das Vaterland? Aus dessen Perspektive immerhin „gut gemeint“.

Aus der Sicht der Adressaten, die die Partei anzusprechen beabsichtigt, ist dies sehr schlechte Propaganda. Denn die Adressaten antworteten prompt, in Social Media, inklusive auf behördlich betriebenen Plattformen. „Was ist dies? Die, die den Job innehaben, in klimatisierten Büroräumen Kommentare schreiben, belehren uns, die nicht einmal die Chance haben, täglich unseren knurrenden Magen zu füllen?“ „Wie wäre es, dass ich bei Euch zu Hause Haushälter werde; ich nehme jeden Job gerne an, etwa für dich deinen Aktenkoffer zu tragen, oder, wie wäre es, deinen Stiefel jederzeit zu putzen?“ Oder: „Die Staatsfirmen für Tabak und Alkohol melden jährlich steigende Verluste. Ich melde mich freiwillig, um dort mein Licht auszustrahlen, Jahr um Jahr, Tag um Tag, bis sie schwarze Zahlen schreiben. Ich schwöre, niemals zu meckern, wenn monatlich ein Gehalt bei mir aufs Konto kommt!“

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Ziemlich zynisch wurde es, als eine längst verstummte Diskussion erneut entzündet wurde, die über einen möglichen Krieg gegen Taiwan – eine Beschäftigungschance, immerhin. „Siehe die Wagner-Gruppe in der Ukraine! Sie kämpft fürs russische Vaterland, für viele Rubel sogar. Ist nur ein bisschen gefährlich!“ Oder: „Schicke erst alle Kids von den hohen Funktionären hin. Wenn die alle gestorben sind, ist es immer noch nicht zu spät für uns, in aller Ruhe zu überlegen.“ Kurz und bündig schrieb einer: „Wer auch immer hingeht, ich nicht. Auch nicht meine Kinder! Nicht für Taiwan, auch sonst für nichts.“

Quelle       :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Klimawandel und Politik

Erstellt von DL-Redaktion am 2. August 2023

Mehr Küstenstädte als bisher angenommen werden überflutet

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Jakarta ist regelmässig von Überschwemmungen betroffen

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von          :       Daniela Gschweng /  

Radarmessungen der Küsten seien alt und ungenau, sagen zwei Forscher. Es sind mehr Küstenabschnitte gefährdet.

Prognosen darüber, wie schnell und wie stark der Meeresspiegel ansteigen wird, sind mittlerweile fester Bestandteil von Klima- und Zukunftsszenarien. Nicht ohne Grund – der Grossteil der Menschheit lebt an Küsten. Die Daten, auf denen Vorhersagen basieren, sind jedoch oft alt und ungenau, fanden zwei Forschende heraus. Einige Küstenhöhen müssen sehr wahrscheinlich nach unten korrigiert werden.

Viele Messungen sind so ungenau, dass man sie nicht verwenden könne, schrieben die Datenanalytiker Ronald Vernimmen and Aljosja Hooijer in einer im Januar publizierten Studie.

Das liegt vor allem an der verwendeten Messmethode. Höhenunterschiede an Land wurden früher ausschliesslich mit Radar gemessen. Bei der Messung wird ein Gebiet mit Radarwellen belegt. Anschliessend wird aufgenommen, wie lange die Reflexion auf sich warten lässt.

Viele Prognosen basieren auf ungenauen Radar-Daten von 2000

Dabei kommt es öfter zu Messfehlern. Ein Wäldchen oder einige Gebäude auf dem vermessenen Gebiet ergeben dann eine falsche Höhe. In tropischen Wäldern könne die Messung mehr als 20 Meter abweichen, sagte Vernimmen zum «Hakai Magazine».

Inzwischen ist man zu Lidar-Messungen übergegangen. Diese funktionieren nach dem gleichen Prinzip, arbeiten aber mit Laserstrahlen und sind weit präziser. Viele Studien und Prognosen über den Meeresspiegelanstieg verwenden SRTM-Daten, die das Space Shuttle vor 23 Jahren gesammelt hat (Shuttle Radar Topography Mission, SRTM). Noch genauer wird die Messung, wenn sie von Flugzeugen aus gemacht wird statt per Satellit. Solche Messungen sind aber teuer.

Viermal mehr Land betroffen als bisher angenommen

Die Neuberechnung der Wissenschaftler sagt voraus, dass insgesamt rund 482’000 Quadratkilometer Land untergehen könnten. Das heisst, bei einem Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter gegenüber 2020 würde fast viermal so viel Land überflutet wie bisher vorhergesagt.

Betroffen wären vor allem Länder mit grossen, dicht bevölkerten Flussdeltas, wie Bangladesch, Myanmar und Pakistan, oder solche mit flachen Küstenlinien wie die Niederlande. Bis wann genau, ist zwar schwer zu sagen. Es könnte aber schneller gehen als bisher angenommen.

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Zu den vom Meeresspiegelanstieg (mean sea level rise, MSL) besonders betroffenen Gebieten gehören zum Beispiel die Delta-Regionen grosser Flüsse. © Vernimmen, Hooijer

Genaue Prognosen sind komplexe Mathematik

Prognosen über den Meeresspiegelanstieg an einem bestimmten Ort sind eine komplexe Angelegenheit. Unter anderem, weil Küstenlinien unregelmässig sind und sich Wasser nicht gleichmässig über den Globus verteilt (Infosperber berichtete).

Auch das Ufer bewegt sich – im ungünstigen Fall nach unten. In der indonesischen Hauptstadt Jakarta beispielsweise sinkt der Boden ab. Deshalb ist die Stadt vom steigenden Wasserspiegel zusätzlich bedroht. Die Regierung hat bereits begonnen, die Hauptstadt auf die Insel Borneo zu verlegen.

Recht genau berechnen können Forschende, wie stark sich die Ozeane bei steigender Temperatur ausdehnen werden. Wie viel Eis in den kommenden Jahren und Jahrzehnten schmelzen wird, ist schon schwerer abzuschätzen.

Am wichtigsten ist, wie heftig und wie häufig extreme Wetterereignisse wie Stürme und Starkregen werden und wie hoch das Wasser in solchen Extremsituationen steigt. Der Weltklimarat IPCC rechnet bisher mit 60 bis 110 Zentimetern Meeresspiegelanstieg bis Ende des Jahrhunderts (IPCC AR6).

Forschende sprechen von «neuer Zeitachse»

Die Neueinschätzung ist ein Alarmsignal. In den Niederlanden, in Italien, im Senegal und in vielen anderen Ländern wird heute entschieden, wo in den kommenden Jahren Deiche verstärkt, Menschen umgesiedelt oder Bauvorhaben geplant werden. Für die betroffenen Länder und Städte geht es um Zentimeter. Bisher schätzte Indonesien beispielsweise, dass bis 2050 ein Drittel von Jakarta überflutet sein wird. Was, wenn es deutlich mehr ist?

Nach Vernimmens und Hooijers Berechnungen wären rund 132 Millionen Menschen direkt betroffen, wenn der Wasserspiegel um einen Meter steigt. Die beiden niederländischen Forscher haben ihre Daten öffentlich verfügbar gemacht. «In der Hoffnung, dass die betroffenen Regierungen die neue Zeitachse zur Kenntnis nehmen», zitiert das «Hakai Magazine».

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Oben      —      Jakarta ist regelmässig von Überschwemmungen betroffen

Author Hullie at Dutch Wikipedia
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Attribution: Hullie

 

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von DL-Redaktion am 2. August 2023

„Krieg und Frieden“
Zu Hause an der Front: Abschied, der schwerfällt

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Aus dem Donbass Roman Huba

Vor Kurzem haben wir in der Ukraine den 500. Tag seit Beginn des russischen Großangriffs „begangen“. Auch ich habe mich auf diesen Moment vorbereitet: Kurz vorher wurde meine Großmutter aus dem Frontgebiet evakuiert und das war für mich eine große Freude. Denn im Februar 2022 hatte sie sich noch geweigert, ihr Haus in Lyman im Gebiet Donezk zu verlassen. Sie blieb dort während der russischen Besetzung und lernte all die damit verbundenen „Freuden“ kennen. Ein Jahr lang hatte sie nicht einmal Strom.

Das muss man sich einmal vorstellen: In der Stadt gab es nichts mehr, keine Apotheke, keine Geschäfte, weder Postamt noch Krankenhaus. Renten wurden nicht ausgezahlt, Panzer fuhren auf den Hof, am Himmel flogen die Kampfflugzeuge und die ganze Nacht über wurde das Haus von Explosionen erschüttert. So lebte meine Großmutter. In solch einer Situation ist man sogar über eingeschränktes Hörvermögen froh. Nur, dass es nicht vor Granatsplittern und Druckwellen schützt. Und auch mit der Befreiung des Gebietes sind nicht alle Probleme gelöst, weil die Front immer noch nur 10 bis 15 Kilometer entfernt ist. Und die Russen immer noch darauf hoffen, eines Tages zurückzukommen.

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Oft habe ich mich gefragt: Hat es sich gelohnt, dass Oma nicht gleich weggefahren ist? Aber diese Gedanken habe ich immer schnell wieder verworfen, denn es würde so klingen, als sei meine Oma selbst schuld an ihren Leiden. Dabei ist der Grund für unser Unglück bekannt: Russlands Angriffskrieg gegen unser Land. „Warum gehen sie von dort, also dem Frontgebiet, nicht weg?“ – wenn diese Frage kommt, ist die Geschichte meiner Großmutter für mich immer ein Argument. Diejenigen, die in Frontnähe und in den besetzten Gebieten leben, sind in der Ukraine häufig mit Vorwürfen konfrontiert. „Wenn sie dort weggegangen wären, hätte es die ukrainische Armee jetzt leichter, die Städte zu verteidigen“, heißt es dann etwa. Dabei ist allen mehr oder weniger klar, wie hart ein Leben außerhalb der eigenen vier Wände ist, vor allem für über Achtzigjährige. Ohne Geld und Unterstützung durch Angehörige ist es in diesem Alter schwer, alles Bisherige aufzugeben.

Quelle          :           TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Oben     —    Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Unten     —   Lystopad – Composed by Lystopad. The photos made: File:Square Memory.jpg by Qypchak File:Володимирський кафедральный собор (Луганськ).JPG by Okosmin File:Музей истории Луганска.jpg by Кишко Юрий Николаевич File:Locomotive СО17-1000 (01).JPG by Lystopad File:Отель Украина 2.jpg by Кишко Юрий Николаевич File:Mark V Luhansk.jpg by Qypchak

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Wo endet Freundschaft?

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Juli 2023

Südafrika beim Russland-Afrika-Gipfel

Ein Debattenbeitrag von Lutz van Dijk

Beim Russland-Afrika-Gipfel muss sich besonders Südafrika heiklen Fragen stellen. Dabei geht es nicht nur um die Haltung zum Krieg in der Ukraine.

Zum Auftakt des zweitägigen Russland-Afrika-Gipfels in Sankt Petersburg sind am Donnerstag nur 17 Staatschefs der 54 Länder Afrikas erschienen – wesentlich weniger als beim ersten Gipfel 2019, als es noch 43 waren. So gab es diesmal Absagen aus Nigeria, Kenia, der Demokratischen Republik Kongo, Ruanda und Sambia. Dabei sind außer Südafrika unter anderem Ägypten, Äthiopien, Mali, Senegal, Simbabwe und Uganda.

Ein Kreml-Sprecher machte für das Wegbleiben bereits den „Druck des Westens“ verantwortlich. Zu dem parallel stattfindenden Forum mit zahlreichen Arbeitsgruppen waren bis Donnerstag dagegen fast 1000 Delegierte aus afrikanischen Ländern angereist, allein 39 aus Südafrika unter Leitung von Präsident Cyril Ramaphosa.

Mit Spannung wird erwartet, worüber jenseits von Bekundungen zu historischen „Freundschaften“ zwischen der damaligen Sowjetunion (zu der auch die Ukraine gehörte, was gern vergessen wird) und Befreiungsbewegungen Afrikas konkret gesprochen werden wird:

Wird es auch um die drohenden Hungersnöte in Ländern Ostafrikas wie dem Sudan oder Tansania nach der russischen Aufkündigung des Getreideabkommens mit der Ukraine gehen? Deren Lieferungen können nun nicht mehr sicher beziehungsweise nur noch teilweise über teure Umwege stattfinden – wobei Russland jüngst selbst ukrainische Getreidesilos bombardierte. Wo werden afrikanische Länder eigene Positionen formulieren, auch bei bislang mehrheitlicher Enthaltung bei den UNO-Abstimmungen gegen Russlands Krieg gegen die Ukraine?

Auf dem ersten Russland-Afrika-Gipfel vor vier Jahren hatte Putin noch ausdrücklich die „Souveränität aller Länder“ betont. Er sprach von „bedingungsloser Hilfe beim Aufbau von Infrastrukturen in Afrika – anders als zahlreiche westliche Länder, die dies nur mittels Drohung oder Erpressung tun“. Nun sicherte Putin schon im Vorfeld des Gipfels zu, dass Russland in der Lage sei, „Getreide aus der Ukraine durch sowohl kommerzielle als auch kostenlose Lieferungen an notleidende Länder Afrikas zu ersetzen“. Dies auch als deutliche Kritik an der EU-Sanktionspolitik gegen Russland, obwohl dieses Angebot fragwürdig bleibt. Bereits jetzt sind seit dem Ende des Abkommens die Getreidepreise weltweit um 9 Prozent gestiegen.

Es gibt eine eigene Tradition, nach der Delegierte aus Russland und afrikanischen Ländern sich gegenseitig als „Freunde“ begrüßen, zuweilen auch Staatschefs mit Vornamen. Zuletzt geschehen Mitte Juni bei der Friedensmission sieben afrikanischer Staaten in der Ukraine und Russland.

Ramaphosas 10-Punkte-Plan

Trotz dieser Freundschaftsbekundungen sollte das Bemühen der Leitung dieser Mission durch Südafrikas Präsident Ramaphosa in Gesprächen mit Selenski und dann Putin nicht lächerlich gemacht, sondern als ernsthafter Vermittlungsversuch anerkannt werden. Auch weil Ramaphosas „10-Punkte-Plan“ kritisch gegenüber Russland vermerkte, dass „Kriegsgefangene und verschleppte Kinder freizulassen“ seien und die „Souveränität aller Staaten gemäß der UN-Charta anerkannt“ werden müsse. „Freund Wladimir“ ließ seinen Unmut unmittelbar spüren: Die russische Luftwaffe bombardierte Kyjiw, als Ramaphosa mit Begleitung dort eintraf und zunächst in einem Bunker Zuflucht suchen musste.

Es gibt die Tradition, nach der Delegierte aus Russland und afrikanischen Ländern sich als „Freunde“ begrüßen. Trotzdem sollte Ramaphosas Vermittlungsversuch ernst genommen werden.

Brisant wurde die „Freundschaft“ Südafrikas mit Russland, als Ramaphosa als Gastgeber des nächsten BRICS-Gipfels in Johannesburg vom 22. bis 24. August auch Putin einladen sollte: Als Mitgliedsland des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), der einen Haftbefehl gegen Putin ausgestellt hatte, wäre er verpflichtet, ihn bei Einreise zu verhaften. Monatelang wurden alternative „Lösungen“ erkundet, wie die Verlegung des BRICS-Gipfels nach China, das kein IStGH-Mitglied ist, wie übrigens auch Russland und die USA nicht.

Erst kürzlich gab es ein allgemeines Aufatmen in Südafrika, als Putin bekannt gab, nicht zum nächsten BRICS-Gipfel zu reisen, sondern seinen Außenminister Lawrow zu schicken und selbst nur digital teilzunehmen. Inzwischen gibt es auch einen Gerichtsbeschluss in Südafrika, wonach Putin bei Einreise auch in Zukunft verhaftet werden müsste.

BRICS-Staaten nicht unterschätzen

Quelle          :           TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     CAPE TOWN. At the Russian-South African talks with South African President Tabo Mbeki.

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Unten          —                 SOUTH AFRICA. Visiting the Cape of Good Hope.

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Krieg: Ukraine-Russland

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Juli 2023

Dilemma mit Streuwirkung

Von Elvira Rosert ind Frank Sauer

Die Lieferung der verpönten, aber legalen Streumunition wurde notwendig, weil die internationale Koalition die Ukraine nicht ausreichend mit anderen Waffen versorgt hat.

Die Streumunition aus den USA ist nun in der Ukraine angekommen. Zuvor hatte die Ankündigung dieser Lieferung nicht nur in Deutschland für Kontroversen gesorgt. Das Völkerrecht bemühten dabei sowohl diejenigen, die die Lieferung kritisierten, als auch diejenigen, die sie begrüßten. Doch der Verweis aufs Völkerrecht allein greift zu kurz.

Bei Streumunition handelt es sich um Behälter, die mit Dutzenden, teils Hunderten explosiven Submunitionen gefüllt sind, die sich nach dem Abwurf in der Fläche verteilen. Während eine einzelne konventionelle Artilleriegranate in unmittelbarer Nähe feindlicher Truppen landen muss, um sie zu verletzen oder zu töten, hat die entsprechende Streumunition durch die Vielzahl der freigesetzten „Bomblets“ eine viel höhere Wahrscheinlichkeit, dem Gegner zu schaden. Die großflächige Zerstörungskapazität macht Streumunition militärisch so wirksam – und für die Ukrai­ne nützlich.

Diese Flächenwirkung hat allerdings zum Verbot von Streumunition durch einen internationalen Vertrag geführt, der 2010 in Kraft trat. Humanitäre Organisationen und die damals 107 Unterzeichnerstaaten waren der Auffassung, dass die Waffen gegen das humanitärvölkerrechtliche Gebot verstoßen, zwischen Zivilisten und Kombattanten zu unterscheiden. Denn erstens sind Streubomben schon während ihres Einsatzes potenziell gefährlich für die Zivilbevölkerung, weil sie nicht punktgenau nur gegen militärische Ziele gerichtet werden können. Zweitens explodiert nicht jede Submunition, so dass Blindgänger verbleiben, die noch Monate, Jahre oder sogar Jahrzehnte später Menschen verstümmeln und töten.

Doch der Vertrag bindet, wie andere interna­tio­nale Verträge auch, nur diejenigen Staaten, die ihm beigetreten sind. Eine Ausnahme bildet das Völkergewohnheitsrecht, zu dem die Streubombenkonvention aber nicht zählt. Weder die USA noch die Ukraine haben den Streumunitionsverbotsvertrag unterschrieben; die USA können deshalb legal Streumunition liefern, die Ukraine sie legal empfangen und auch einsetzen, sofern sie es gemäß den Regeln des humanitären Völkerrechts tut und alles unternimmt, um Zivilisten möglichst zu schützen. Die Rechtslage ist klar.

Allerdings sind Verbotsnormen, sozialwissenschaftlich verstanden als kollektive Verhaltenserwartungen, nicht notwendigerweise kongruent mit dem kodifizierten Recht. Normen entfalten eine soziale Verbindlichkeit, die die rechtliche in manchen Fällen übertrifft.

Genau daher rührt die Empörung im vorliegenden Fall: Die völkerrechtliche Norm gilt nur begrenzt, doch das Stigma, das Streubomben inzwischen umgibt, ist stärker. Der Verbotsvertrag verstärkt dieses natürlich, indem er es in positives Recht gießt, doch entstanden ist das Stigma bereits Jahrzehnte zuvor, als Einsätze von Streumunition immer wieder für öffentliche Kritik sorgten, was humanitäre Organisationen zusammen mit gleichgesinnten Staaten zu einer globalen Äch­tungs­kam­pagne veranlasste.

Insbesondere in demokratischen Ländern wie Frankreich, Deutschland oder Japan, die die Streumunitionskonvention ratifiziert und in nationales Recht umgesetzt haben, überrascht nicht, dass das Verbot in der Öffentlichkeit weitgehend akzeptiert ist. Wenn politische Führungsfiguren der Vertragsstaaten wie die deutsche Außenministerin Anna­lena Baer­bock oder die spanische Verteidigungsministerin Margarita Robles die Lieferung und die geplante Nutzung von Streumunition kritisieren, dann folgen sie damit nicht nur ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung, sich zu bemühen, den Einsatz abzuwenden – sie bedienen vor allem auch die öffentliche Erwartung, dass gerade die Vertragsstaaten die Norm auch unter widrigen Umständen hochhalten.

Aber auch, dass US-Präsident Joe Biden die Entscheidung lange aufgeschoben hatte und sie nun als „sehr schwierig“ bezeichnete, belegt die Wirkmächtigkeit der sozialen Norm: Ohne sich rechtlich gebunden zu haben, erkennen die USA dennoch die internationale Erwartung und das humanitäre Problem demonstrativ an. Dass also im Weißen Haus die absehbare öffentliche Kritik an der „amerikanischen Doppelmoral“ und Bedenken der Allianzpartner in die Entscheidung einbezogen wurden, zeigt, dass die Biden-Administration willens und in der Lage ist, über simplen Rechtspositivismus hinauszudenken. Kurzum: Das Weiße Haus hätte die ganze Zeit schon liefern dürfenwollte es aber nicht, weil den Verantwortlichen das dadurch heraufbeschworene politische Dilemma klar vor Augen stand.

Ein Dilemma stellt sich aber zuallererst für die Ukrai­ne. Die Lieferung wurde nur notwendig, weil die internationale Koalition, die die Ukraine bei der Verteidigung unterstützt, sie nicht ausreichend mit anderen Waffen versorgt hat. Diese hätte die Ukraine gebraucht, um die zahlenmäßigen Nachteile bei Artilleriesystemen und -munition auszugleichen und die humanitären sowie reputativen Risiken durch den Einsatz von Streubomben gar nicht erst eingehen zu müssen. Sie hat Streumunition, geliefert von der Türkei, im Übrigen bereits eingesetzt. Kyjiw hat also das Für und Wider längst abgewogen und entschieden, dass der Schaden durch einige zusätzliche Blindgänger auf dem eigenen Territorium durch den militärischen Gewinn aufgewogen wird – „einige zusätzliche“, weil die Ukraine längst mit russischen Minen und Blindgängern übersät ist, inklusive der Städte, auf die Russland schon seit Monaten Streumunition abfeuert. Umso zynischer erscheint vor diesem Hintergrund die aktuelle „Drohung“ Russlands, in Reaktion auf die Lieferung seinerseits Streumunition einzusetzen.

Ein Dilemma stellt sich auch für Deutschland, wo die Debatte in den letzten zwei Wochen besonders intensiv war. Die Sorge ob möglicher negativer Auswirkungen auf das Streumunitionsverbot, das Völkerrecht oder sogar die regelbasierte Weltordnung insgesamt ist groß. Aber die Rechtsnorm gilt nun einmal nicht universell, und abgesehen von den USA und der Ukraine haben auch eine ganze Reihe von EU- und Nato-Partnern wie Polen, Rumänien, Estland, Lettland oder Finnland den Vertrag nicht unterzeichnet. Zudem kann man nur jede und jeden ermutigen, die Sache einmal aus der Sicht der Ukraine zu betrachten, die ums Überleben kämpft, die rechtlich nicht verpflichtet ist, auf Streumunition zu verzichten, die diese Entscheidung getroffen hat und die Konsequenzen zu tragen bereit ist. Nachdem Berlin sich in den letzten Monaten für die Lieferung aller anderen Waffen samt ausreichender Munition ausführlichste Debatten gegönnt hat, wäre es wohlfeil, der Ukrai­ne vom friedlichen Deutschland aus jetzt in den Arm zu fallen. Das ist freilich auch der Bundesregierung sehr wohl bewusst – und erklärt, warum der politische Protest, den Deutschland gemäß seiner Vertragsverpflichtungen einlegen musste, eher verhalten und selektiv ausfiel.

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Oben           —     Ein USAF-B1-Bomber wirft 30 CBU (Clusterbomben) ab.

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von DL-Redaktion am 20. Juli 2023

„Krieg und Frieden“
Absurd: Moskaus Feldzug gegen trans Menschen

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Aus Riga von Maria Bobyleva

Neulich hat die russische Staatsduma in erster Lesung einem Gesetzentwurf über das Verbot von Geschlechtsangleichung für trans Menschen zugestimmt.

Das Verbot betrifft sowohl die Möglichkeit, das Geschlecht im Pass ändern zu lassen, als auch medizinische Eingriffe, die für trans Personen nötig sein können. Ein weiteres repressives Gesetz eines fast totalitären Staates – nichts Ungewöhnliches also? Tatsächlich wurde damit eine neue Stufe der Unmenschlichkeit erreicht.

Erstens: Es gibt nur wenige trans Personen in Russland. Laut Innenministerium haben zwischen 2016 und 2022 nur 3.050 Menschen ihr Geschlecht im Pass umschreiben lassen. Das sind weniger als 500 im Jahr. Wenn die Abgeordneten mit erhobener Stimme davon sprechen, dass Menschen sich mit einem anderen Geschlecht registrieren lassen, um sich so vor der Mobilmachung zu drücken und nicht in den Krieg in der Ukraine zu müssen, klingt das selbst für Dumaverhältnisse völlig absurd.

Wegen jährlich 500 Menschen, ernsthaft? Tausende von Männern haben im vergangenen Jahr in nur einem Monat das Land verlassen, um dem Krieg zu entkommen. Ich spreche hier nicht mal darüber, dass es bei trans Personen nicht nur den Übergang von Mann zu Frau, sondern natürlich auch umgekehrt gibt. Aber das haben die Abgeordneten wohl vergessen – oder wussten es nicht.

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Zweitens: Die Gruppe dieser Menschen ist nicht nur klein, sie ist auch weitgehend unpolitisch. Das Leben von trans Menschen in Russland war schon vor diesem Verbot extrem schwierig. Das reicht von genereller Stigmatisierung über Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche bis zu allen daraus resultierenden seelischen Problemen. Sie sind bereits mit der Bewältigung ihres komplizierten Lebens beschäftigt und haben keine Zeit für Politik. Die Repressionen sind daher nicht nur absurd, sondern auch politisch sinnlos.

Und drittens: Hier werden Menschen nicht für das bestraft, was sie tun, sondern dafür, wer sie sind. Das ist das Allerschlimmste. Selbst die brutalsten Gesetze gegen Oppositionelle sind immer Gesetze gegen Taten oder Worte, die sich gegen das Regime richten. Das Gesetz gegen trans Personen ist eine Maßnahme gegen eine bestimmte Gruppe Menschen.

Quelle        :       TAZ-online          >>>>>           weiterlesen

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Oben     —    Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Unten     —    View of Riga towards the cathedral and Vanšu Bridge.

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Wege von Waschmaschinen

Erstellt von DL-Redaktion am 16. Juli 2023

Waschmaschinen auf Abwegen

AUS BERLIN UND STEPANTSMINDA  – JEAN-PHILIPP BAECK,  ANNE FROMM,  LUISE MÖSLE,  LILE SAMUSHIA UND LALON SANDER

Die taz hat ausgewertet, wie sich die Handelsströme in Europa seit Kriegsbeginn verändert haben. Stutzig macht der enorm gestiegene Waschmaschinen-Export nach Kasachstan. Aber nur auf den ersten Blick, denn Russland braucht die darin verbauten Chips dringend. Wie wirksam sind die Sanktionen?

Die Europastraße 117 ist nicht nur eine Autobahn, sie ist eine Touristenattraktion. Auf 1.100 Kilometern führt sie von Armenien über Georgien nach Russland. Mitten durch den Kaukasus, vorbei an schneebedeckten Gipfeln und geschichtsträchtigen Klöstern.

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat die E117 aber auch als Handelsstraße an Bedeutung gewonnen. Sie ist die wichtigste Landverbindung zwischen Russland und Georgien. Wer aus der Türkei, Armenien, Aserbaidschan oder dem Nahen Osten Waren nach Russland liefert, fährt wahrscheinlich hier durch – mit legalen, aber auch mit illegalen Transporten.

Am Grenzübergang von Georgien nach Russland reihen sich seit Monaten die Lkws aneinander. So auch an diesem Tag Anfang Juli. Einen Kilometer ist die Schlange lang. Viele Fahrer haben ihre Motoren ausgeschaltet, einige ihre Lastwagen verlassen. Um einen Tisch am Straßenrand sitzen georgische Fahrer mit einem Sommerpicknick. Sie haben Gurken, Tomaten, Brot und Käse vor sich. Essen und Warten. Seit Beginn des Kriegs sei das so, erzählen sie. Manchmal würden sie Stunden, manchmal sogar Tage lang ausharren, bis sie über die Grenze könnten.

Die EU hat auf den russischen Einmarsch in die Ukraine mit umfassenden Sanktionen reagiert. Sie hat es europäischen Firmen weitgehend verboten, Geschäfte mit russischen Unternehmen zu machen. Sie hat Listen angefertigt, welche Waren nicht mehr aus der EU nach Russland exportiert werden dürfen. Sie hat es sehr schwer gemacht, Geld aus der EU nach Russland zu schicken. Der Handel zwischen der EU und Russland ist so fast zum Erliegen gekommen. Aber eben nur fast.

Waren aus der EU gelangen über Umwege trotzdem nach Russland. Zwischenhändler helfen dabei, Logistikunternehmen erschließen neue Routen. Sie führen über Länder außerhalb der EU, auch über Georgien oder Kasach­stan. An deren Grenzen ist es seitdem voller geworden. Und die deutschen Behörden haben Mühe, die Sanktionsverstöße zu verfolgen.

Es ist nicht irgendeine Ware, die in Russland landet. Es sind Güter, die Russland für seinen Krieg gut gebrauchen kann, zum Beispiel weil sie Mi­kro­chips enthalten. Dazu zählen auch Waschmaschinen, etwa von Miele aus Deutschland.

Die taz hat ausgewertet, wie sich die Handelsströme nach Russland seit Kriegsbeginn verändert haben. Es zeigt sich deutlich: Die Exporte von Europa nach Russland sind drastisch zurückgegangen. Dafür profitieren andere: China exportiert nun fast 13 Prozent mehr nach Russland als vor dem Krieg. Die Türkei verdoppelte die Exporte zwischen 2020 und 2022.

Besonders stark stiegen aber die Exporte von und in die russischen Nachbarstaaten Georgien und Kasachstan. Von Deutschland nach Kasachstan und von Kasachstan nach Russland wird wesentlich mehr exportiert. So hat Kasachstan im Jahr 2022 Waren im Wert von etwa 8,8 Milliarden Dollar nach Russland ausgeführt – 25 Prozent mehr als im Jahr 2021. Für Georgien ist der Anstieg nicht ganz so steil.

Am stärksten zeigt sich der Exportboom bei Autos und Maschinen. Dazu gehören auch Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen. Die nach Russland zu exportieren ist nicht grundsätzlich verboten. Aber der Anstieg der Waschmaschinen-Geschäfte macht stutzig.

Laut unserer Datenauswertung werden aus Europa nach Russland nur noch halb so viele Waschmaschinen geliefert wie vor dem Krieg. Dafür hat sich der Waschmaschinen-Export von Europa nach Kasachstan im selben Zeitraum mehr als verfünffacht.

Wie viel mehr Waschmaschinen von Kasachstan nach Russland exportiert wurden, lässt sich nicht genau sagen. Die UN-Daten, auf denen unsere Auswertung beruht, sind für Kasachstans Waschmaschinen-Ausfuhren nicht vollständig. Aber für die große Gruppe „Maschinen und Anlagen“, zu denen auch die Waschmaschinen zählen, gibt es Zahlen: Während Kasach­stan im Jahr 2021 Maschinen im Wert von 128 Millionen Dollar nach Russland exportierte, waren es im Jahr 2022 Maschinen im Wert von 837 Millionen Dollar. Die deutschen Maschinen-Exporte nach Russland gingen im gleichen Zeitraum von 8 auf 3 Milliarden Dollar zurück. Zu den gefragten Geräten zählen in Russland auch Kühlschränke, Geschirrspülmaschinen und elektrische Milchpumpen – Geräte, in denen Chips verbaut sind.

Was ist da los? Waschen die Ka­sa­ch:in­nen plötzlich mehr, weil ihre Bevölkerung wächst? Unwahrscheinlich, die Geburtenrate in Kasachstan ist gesunken. Der Verdacht liegt nah, dass Kasachstan die Waren nach Russland durchwinkt und Russland sie in ihre Kleinteile zerlegt. Kann das sein?

Für Russland seien alle sanktionierten Produkte und Technologien von Interesse, die dem militärisch-­in­dus­triel­len Komplex zugutekommen, sagt Hans-Jürgen Wittmann von German Trade & Invest. Das ist die Wirtschaftsförderungsgesellschaft der Bundesrepublik, eine Art staatliche PR-Agentur für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Besonders interessiert sei Russland, sagt Wittmann, an Maschinen, Informationstechnik und Halbleitern.

Halbleiter sind Bestandteile von Computerchips. Sie sind zentral für moderne Elektronik – sowohl für Kühlschränke als auch für Drohnen, Panzer, Raketen und Nachtsichtgeräte. Russland stellt kaum eigene Chips her, es hat sie seit jeher aus Asien, Europa und den USA importiert. Doch sowohl die Europäische Union als auch die USA haben den Export von Halbleitern seit Kriegsbeginn streng reglementiert. Nun nehmen sie Umwege über Drittstaaten. Japanische Jour­na­lis­t:in­nen haben recherchiert, dass seit Kriegs­beginn 75 Prozent der US-amerikanischen Mikro­chips, die in Russland gelandet sind, über Hongkong oder China ins Land kamen – wohl über kleine Chiphändler oder illegale Zwischenhändler.

Waschmaschinen-Kleinteile in russischen Panzern? Für Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, war dieser Verdacht ein Grund zur Freude. Wenn Russland mittlerweile Waschmaschinen ausschlachten müsse, liege die Industrie offenbar in Trümmern, sagte sie im vergangenen Herbst vor dem EU-Parlament. Allerdings zeigt das eben nicht nur die Schwäche der russischen Industrie, sondern auch die Schwäche der europäischen Sanktionen.

Die EU hat festgelegt, welche Produkte nicht mehr nach Russland geliefert werden dürfen. Dazu gehören die sogenannten Dual-Use-Güter, die zivil, aber auch zum Bau von Waffen genutzt werden können. Waschmaschinen fallen nicht grundsätzlich unter das Embargo. Nur die besonders teuren, luxuriösen Modelle dürfen tatsächlich nicht nach Russland exportiert werden. Andere Waschmaschinen-Typen hat die EU auf die Liste der „Kritischen Güter“ aufgenommen. Unternehmen und Drittländer sollen bei deren Export „besonders wachsam“ sein.

Im nordrhein-westfälischen Gütersloh laufen die Waschmaschinen der Firma Miele vom Band. Von hier werden sie in die ganze Welt geschickt. Fast in die ganze Welt. Miele liefert seit Kriegsbeginn im März 2022 keine Haushaltsgeräte mehr nach Russland. Trotzdem sind in Russland weiter Miele-Maschinen zu haben.

Unsere Recherchen zeigen: Von Russland aus bekommt man die Geräte leicht im Internet, zum Beispiel auf Webseiten wie mlshop.ru. Die Seite sieht aus, als käme sie direkt von Miele: professionelles Webdesign, Miele-Logo, Miele-Waschmaschinen im Angebot. Ein offizieller Miele-Shop sei das nicht, schreibt ein Unternehmenssprecher, als wir ihn danach fragen. Es sei der Shop eines Handelspartners, den Miele aber nicht mehr beliefere. Die Versorgung mit den Geräten könne nur über den „Graumarkt“ erfolgt sein.

Nach Kriegsbeginn hat Russland sogenannte Parallelimporte legalisiert. Darüber können Einzelhändler Produkte nach Russland importieren, ohne die Genehmigung des Herstellers einzuholen. Das russische Industrie- und Handelsministerium hat eine Liste von Waren festgelegt, die über Parallel­importe eingeführt werden dürfen. Auf dieser Liste steht neben Apple, Siemens und Volkswagen auch Miele. Deswegen könne das Unternehmen gegen diese Importe wenig tun, sagt der Miele-Sprecher der taz. Nur: Wie kommen die Waschmaschinen über die Grenze auf der Europastraße E117?

Hört man sich unter deutschen Logistikunternehmen um, erzählen einige, es sei ein offenes Geheimnis in der Branche, dass Güter nach Russland über Georgien und Kasachstan vertrieben werden. Öffentlich will das niemand sagen. Die Sanktionen und die politische Situation in Russland hätten den Transport in und durch das Land zwar erschwert. Aber die Transportwege verlagerten sich.

Verhindern soll das eigentlich der deutsche Zoll. Wer kritische Güter wie etwa Dual-Use-Güter in Drittstaaten exportiert, muss das beim Zoll anmelden. Der prüft, ob die Ausfuhr zulässig ist. Dual-Use-Güter dürfen nur mit gesonderter Genehmigung des Bundesamts für Ausfuhrkontrolle ausgeführt werden. Die Zollabwicklung läuft digital, alle Informationen und Risikohinweise werden automatisch an die Zollstellen übermittelt und bei der Ausfuhr kontrolliert, sagt André Lenz, der Sprecher des Zolls am Telefon. Zusätzlich werde auch die Ware selbst risikoorientiert kontrolliert.

Quelle         :            TAZ-online           >>>>>       weiterlesen   

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Grafikquellen      :

Oben      —       Argol, musée vivant des vieux métiers : machine à laver (vers 1935).

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Vom Krieg und Frieden

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Juli 2023

Die Verschwundenen von Belarus

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Von     :       Olga Bubich

Das Gedächtnis ist eine knifflige und äußerst unbeständige Sache. Mit jeder neuen „Schicht“ an Erfahrungen wird der Inhalt unserer Erinnerungen beständig verändert. Wir sind von Natur aus wirklich nicht gut darin, uns Dinge zu merken, und die Aussichten werden angesichts unseres blinden Vertrauens in mobile Geräte und das sogenannte Silikongedächtnis nicht besser.

Repressive Regime nutzen das kollektive Gedächtnis jedoch immer wieder als einen Raum, in dem sich die Geschichte fälschen lässt, und setzen alles daran, dass neue Generationen bestimmte „unbequeme“ Episoden oder störende Meinungsführer vergessen oder sich falsch an sie erinnern. Zwei Jahre nach der größten Protestbewegung in der Geschichte meines Heimatlandes Belarus scheint das Land in eine Fabrik der Amnesie verwandelt zu werden.

Erst unentschuldbar spät las ich über die „desaparecidos“ – über die repressive Strategie des Verschwindenlassens durch den unterdrückenden Staat oder eine politische Organisation, gefolgt von der Weigerung, das Schicksal oder den Aufenthaltsort dieser Person bekannt zu geben. Den herrschenden Militärjuntas erschien dies günstig: Da keine Leichen gefunden wurden, konnten keine Anklagen erhoben und auch keine Gerichtsverfahren begonnen werden. Schon die ungefähre Zahl der Verschwundenen ist kaum vorstellbar: 30 000 Opfer in Argentinien und über 2000 in Chile. Von keinem dieser Menschen wurden jemals Spuren gefunden.

In Argentinien wurde das Schweigen jedoch schnell gebrochen, und zwar von jenen, für die das Erinnern eine Pflicht war – den Aktivistinnengruppen der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo. Sie wurden 1977 spontan von Verwandten der Verschwundenen gegründet und verlangten Gerechtigkeit mit regelmäßigen Protesten auf dem gleichnamigen Platz in Buenos Aires. Die Unmöglichkeit, über den Verlust trauern zu können, verlagerte das Trauma in eine ewige Gegenwart – die Toten waren immer noch da und mit ihren verzweifelten Familien umkreisten sie auf Fotos und selbstgemachten Plakaten den Platz, stets begleitet von derselben Frage: „Wo sind diese Menschen?“

Als ich über die Mobilisierungen zur Bewahrung des Gedächtnisses in Lateinamerika las, konnte ich gar nicht anders, als ein heftiges Déjà-vu-Gefühl zu verspüren. All diese Frauen mit Schwarz-Weiß-Portraits ihrer Lieben, die Lippen fest aufeinander gepresst, die Gesichter eisern entschlossen. Ich entdeckte, dass die Tragödie der Verschwundenen sich nicht nur jenseits des Ozeans abspielte – sondern auch zur Realität meines Landes gehörte. Und bis heute gehört.

Zum Schweigen gebracht

Leider erwies sich der Argentinier Jorge Videla nicht als der letzte Diktator, der Oppositionelle entführen ließ und dann verlangte, man solle eine neue Seite aufschlagen. Vielmehr gehören Auslöschung und das folgende Schweigen des Staates auch zu den Instrumenten des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko. Seit seiner ersten Amtszeit ging er auf Nummer sicher, indem er jeden Rivalen eliminieren ließ, der den Thron seines Landes hätte erobern können. Zu den bekanntesten Fällen belarussischer „desaparecidos“ gehören die Politiker Juri Sacharenko und Viktor Gonchar, der Unternehmer Anatol Krasovsky sowie der politische Journalist und Kameramann Dmitri Sawadski. Im Jahr 2004 gründeten Iryna Krasovskaya und Swetlana Sawadskaya, die Ehefrauen der Verschwundenen, die gemeinnützige Stiftung „We Remember“.[1]

Ihr Ziel ist es, die Verantwortlichen für die Morde an ihren Partnern vor Gericht zu bringen. Doch obwohl private Ermittlungen den Plan hinter diesen „perfekten Morden“ aufgedeckt haben, von denen es mehr als 30 gegeben hat, musste sich bislang kein Staatsdiener für die Entführungen vor Gericht verantworten[2]. Hingegen wurde Pawel Scheremet, der diesen Plan gemeinsam mit Swetlana Kalinkina in ihrem Buch „Der zufällige Präsident“ aufgedeckt hatte, 2016 von unbekannten Tätern ermordet.

Pack kennt und trifft sich . Vor ihren Fahnen stehen die Bananen. 

Nach diesem lauten Vorgehen in den späten 1990er Jahren griff Lukaschenko zu einer anderen Methode, um den Dissens zum Schweigen zu bringen. Oppositionsführer durften ihre Meinung nun äußern – aber nur bis zu einem gewissen Grad. Denn das Regime lässt sie nicht mehr entführen, sondern aufgrund von absurden Vorwürfen anklagen und ins Gefängnis stecken. Sodann verbreitet es nur wenige oder gar keine Nachrichten über ihre körperliche und seelische Verfassung. Wir kennen also scheinbar den Aufenthaltsort dieser Menschen, aber was bedeutet das unter diesen Umständen schon? Sie werden von der Öffentlichkeit ausgeschlossen, medizinische Hilfe wird ihnen verweigert, und sie müssen monotone, gesundheitsgefährdende Arbeiten verrichten. Damit sind sie in Wirklichkeit die belarussischen „desaparecidos“. Von den 24 Präsidentschaftskandidaten, die bei den fünf Wahlen nach 1994 gegen Lukaschenko antraten, wurden sieben inhaftiert, weitere vier sahen sich Gewalt und Drohungen ausgesetzt. Zusammen kommen Lukaschenkos Konkurrenten um die Staatsspitze auf über 60 Jahre Haft.

Dem Menschenrechtszentrum Wjasna zufolge gibt es in Belarus derzeit rund 1500 politische Gefangene. Im Jahr 2020 lag die Inhaftierungsrate bei 345 Gefangenen pro 100 000 Einwohner. Belarus gehört damit weltweit zu den 20 Staaten mit der höchsten Rate – als einziges europäisches Land neben der Türkei. Verurteilt wurden die politischen Gefangenen, weil sie „Absichten“ geäußert, „verurteilendes Schweigen“ gezeigt, „mentale Solidarität“ geleistet haben oder gar, weil sie „stillschweigend zugestimmt“ haben. Unter ihnen finden sich Teenager, Rentner und Mütter mit kleinen Kindern. Mit Stand Sommer 2022 beliefen sich ihre Strafen zusammengenommen auf 2756 Jahre. Dennoch enthalten die Schulbücher für das Fach Geschichte, die 2021 neu geschrieben wurden und die Zensur des kollektiven Gedächtnisses betreiben, nur drei Zeilen über die Massenproteste von 2020 und ihre verheerenden Folgen: „Die sechsten Präsidentschaftswahlen fanden am 9. August 2020 statt. Bei fünf anderen Kandidaten erhielt der gegenwärtige Präsident 80,1 Prozent der Stimmen.“

Quelle          :         Blätter-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —   Demonstration in Warschau zur Erinnerung an die verschwundenen Regimegegner Juryj SacharankaWiktar HantscharAnatol Krassouski und Dsmitryj Sawadski

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KOLUMNE-Fernsicht-Indien

Erstellt von DL-Redaktion am 15. Juli 2023

Sportfunktionäre sitzen Proteste der Frauen aus

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Kolumne Fernsicht von  : PRIYANKA BORPUJARI

Mit Helden ist das so eine Sache: Sie können immer scheitern. Einige junge Wrestlerinnen wurden gar von der Polizei geschlagen.

Aber was geschieht, wenn wir sie im Stich lassen und sie zu Opfern eines toxischen Systems machen? Schauen wir auf Vinesh Phogat, eine erfolgreiche indische Wrestlerin, die mehrere Gold- und Silbermedaillen bei den Weltmeisterschaften, den Commonwealth Games und den Asian Games gewonnen hat. Doch im Mai twitterte sie: „Vom Siegertreppchen auf die Straße, um Mitternacht unter freiem Himmel, in der Hoffnung auf Gerechtigkeit.“ Mit ihr demonstriert Sakshi Malik auf den Straßen Neu-Delhis. Sie war 2016 die erste olympische Bronzemedaillengewinnerin im Wrestling aus Indien. Seit Januar protestieren diese jungen Sportlerinnen gegen Brij Mohan Charan Singh, den Vorsitzenden des indischen Wrestlingverbandes WFI. Sie und weitere junge Wrestlerinnen werfen dem Funktionär sexuelle Belästigung vor. Er wird auch der Selbstherrlichkeit, des Mobbings und der Veruntreuung von Geldern bezichtigt. Als Politiker der regierenden BJP wurden ihm noch weitere schwere Straftaten vorgeworfen.

Als die Sportlerinnen mit ihrem Protest begannen, versprach man ihnen eine Untersuchung ihrer Vorwürfe. Die Polizei nahm sogar Ermittlungen auf. Wenn Athletinnen zusätzlich zu ihrem anstrengenden Training die mentale Stärke für einen öffentlichen Protest aufbringen, sollten sie aber nicht erleben müssen, dass Männer ihre Macht missbrauchen und den Frauen drohen, deren sportliche Karrieren zu beenden.

Für viele indische Sportlerinnen geht es nicht nur um einen persönlichen Lebenstraum und den Ruhm für ihr Heimatland, sondern schlicht um ihren Lebensunterhalt. Wer beruflich Sport treibt, mit Kollegen und Trainern zu tun hat und sich auch in Trainingscamps aufhält, muss immer wieder sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erleben. Der gesetzlich vorgeschriebene Ausschuss gegen sexuelle Belästigung existiert bei der WFI nur auf dem Papier.

Wirklich wie ein Keulenschlag trifft uns aber, dass diese Wrestlerinnen keinerlei Rückhalt aus der übrigen Welt des Sports erhalten. Sie ernten entweder dröhnendes Schweigen – oder sogar Vorhaltungen, weil sie sich beklagt haben. Einige von ihnen wurden gar von der Polizei geschlagen und festgenommen. Und dann geschahen seltsame Dinge, um die Proteste in Verruf zu bringen: Manipulierte Bilder der Ath­le­t:in­nen zeigten sie mit höhnischem Grinsen, als ob man zeigen wollte, dass sie einen heimtückischen Plan ausgeheckt hätten, das politische Aus des WFI-Vorsitzenden herbeizuführen.

Quelle         :       TAZ-online         >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Putins Mann in Belarus

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Juli 2023

Lukaschenko und Russlands Atomwaffen

Ein Debattenbeitrag von Alexander Friedmann

Lukaschenkos atomares Säbelrasseln ist unverantwortlich. Aber es ist nicht zuletzt auch ein vorsichtiges Gesprächsangebot an den Westen.

Seit Monaten schlägt Juri Felschtinski Alarm. Der amerikanisch-russische Historiker geht von einem düsteren Szenario aus: Um das Blatt im Ukrainekrieg doch zu seinen Gunsten zu wenden, bereite der Kreml einen Atomschlag auf Polen oder Litauen vor und würde dafür gezielt das Territorium des Satellitenstaates Belarus verwenden.

Putins perfides Kalkül, so Felschtinski, ist dieses: Im Ernstfall würden Washington, London und Paris einen atomaren Schlagabtausch nicht riskieren und ihre osteuropäischen Partner sowie vor allem die Ukraine im Stich lassen. Und sollten die USA doch mit Atomwaffen antworten, würden sie Belarus, nicht Russland treffen.

Diese apokalyptischen Thesen finden Gehör – in Osteuropa. In Westeuropa werden sie hingegen als Panikmache zurückgewiesen: Einerseits sind sie zu erschreckend; andererseits genießt Felschtinski einen ambivalenten Ruf, wobei ihm eine gewisse Neigung zu Verschwörungstheorien unterstellt wird.

Noch in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren hat er mit dem früheren Offizier des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Alexander Litwinenko, zusammengearbeitet, der 2006 in London mit Polonium-210 vergiftet wurde. Litwinenko und Felschtinski warfen damals dem FSB grausame Verbrechen vor, darunter auch die Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser in Moskau 1999.

Genüsslich als Haudegen inszeniert

Aber vielleicht hat der radikale Kreml-Kritiker recht und die westliche Politik agiert fahrlässig, indem sie den Faktor Belarus übersieht?

Inzwischen spricht tatsächlich einiges für Felschtinskis Theorie. Moskau hat die Stationierung seiner taktischen Atomwaffen im Nachbarland bereits verkündet. Die Atomdrohungen gehören längst zum Arsenal der russischen Propaganda. So stellt etwa der ehemalige Staatspräsident Dmitri Medwedew die Auslöschung Polens in Folge eines Atomkrieges in Aussicht. Der einflussreiche Politikwissenschaftler Sergei Karaganow fordert einen präventiven Atomangriff auf Europa.

Und da gibt es noch den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, der beim Thema Atomwaffen immer häufiger im Vordergrund steht und sich dabei genüsslich als Haudegen inszeniert, der die taktischen russischen Atomwaffen bereits nach Belarus geholt habe und dort in Zukunft auch strategische Atomwaffen stationieren lassen könne.

Weiterhin behauptet Lukaschenko, an Entscheidungen über den Einsatz von Atomwaffen beteiligt zu sein, und lässt zudem die Ent­schei­dungs­trä­ge­r*in­nen im Westen wissen, seine Hand würde nicht dabei zittern, wenn er auf die „Atomknöpfe“ drücken müsse.

Lukaschenko ist zwar ein williger Vollstrecker des Kreml, agiert jedoch stets auf seine eigenen Interessen bedacht

Was spielt Lukaschenko da? Lange unterschätzt und belächelt, wird er von westlichen Po­li­ti­ke­r*in­nen und Be­ob­ach­te­r*in­nen eher als Marionette wahrgenommen, welche zwar keinerlei Einfluss habe, jedoch überzeugend die ihm vom Kreml zugewiesene Rolle eines unberechenbaren Diktators mit Atomwaffen verkörpere. Seine Eskapaden sollten helfen, die Nato im Vorfeld des Juli-Gipfels in Vilnius zusätzlich zu verunsichern und ihre Entscheidungen hinsichtlich der Unterstützung der Ukraine zu beeinflussen.

Dass Lukaschenko seine Auftritte im Auftrag des Kremls oder zumindest in Absprache mit Putin macht, scheint naheliegend. Moskau betont zwar gelegentlich, dass Russland die Kontrolle über die Atomwaffen im Nachbarland obliege. Die russische Führung lässt Lukaschenko allerdings gewähren und macht gleichzeitig keinen Hehl daraus, dass Belarus als russische Einflusszone betrachtet wird.

Der „Retter Russlands“?

Juri Felschtinskis Grundannahme, Belarus solle von Moskau lediglich als Vorhang verwendet werden, erweist sich somit als nicht stichhaltig, denn Putin macht keinen Unterschied mehr zwischen Belarus und dem russischen Kerngebiet. Und auch der Westen betrachtet die Atomwaffen in Belarus als ein russisches Projekt, für das Moskau Verantwortung trägt.

Der Autokrat aus Minsk ist zwar ein williger Vollstrecker der Kreml-Politik. Jedoch agiert er stets auf seine eigenen Interessen bedacht. Die groteske Wagner-Meuterei kommt ihm zupass. Obschon die Rolle, welche Lukaschenko in Verhandlungen mit dem Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin tatsächlich gespielt hat, nach wie vor unklar bleibt, wird er vom Kreml zum „Friedensstifter“, sogar zum „Retter Russlands“ stilisiert.

In der Russischen Föderation ohnehin beliebt, genießt der belarussische Machthaber nunmehr außergewöhnliche Anerkennung. In der neuesten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum gehört er sogar zur Spitze vertrauenswürdiger Politiker, vor Außenminister Sergei Lawrow und nicht weit hinter Putin.

Absicherung seiner Herrschaft

Dies, gepaart mit russischen Atomwaffen und der geplanten Stationierung der Wagner-Gruppe in Belarus, führte kurzfristig zu einer rasanten Aufwertung Lukaschenkos in der westlichen Presse. Manche Medien brachten ihn sogar als Putins Nachfolger ins Spiel.

Quelle          :        TAZ-online             >>>>>          weiterlesen

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Oben      —       Раис Республики Татарстан Рустам Минниханов встретился с Президентом Республики Беларусь Александром Лукашенко.

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Die Hölle auf Erden

Erstellt von DL-Redaktion am 7. Juli 2023

Es gibt gute Gründe, Afghanistan zu helfen. 

Ein Debattenbeitrag von Theresa Breuer

Aber den Preis zahlen die Frauen und Mädchen. Für sie gibt es unter den Taliban keine Freiheit. Am Tag 1 ihrer Herrschaft schafften die Taliban das Frauenministerium ab und schlossen Mädchenschulen.

Kaum ein Land auf dieser Welt behandelt Frauen so schlecht wie das Taliban-Regime. In weniger als zwei Jahren haben die selbsternannten Gotteskrieger die Hölle auf Erden geschaffen. Nichts anderes hatten sie angekündigt. Die Taliban leben ihre menschenverachtende Geisteshaltung. Ihren Worten lassen sie Taten folgen – im Gegensatz zu unserer Bundesregierung.

Am Flughafen von Kabul spielten sich apokalyptische Szenen ab, als die Taliban im August 2021 in Kabul einmarschierten. Zehntausende Menschen versuchten zu fliehen, klammerten sich in ihrer Verzweiflung an Flugzeuge und stürzten in den Tod. Die Welt war entsetzt. Trotzdem mahnten konservative Politiker in Deutschland, 2015 dürfe sich nicht wiederholen.

Nach der Bundestagswahl im Herbst 2021 kündigte Außenministerin Annalena Baerbock an: „Viele Menschen leben in täglicher Angst. Das gilt besonders für diejenigen, die mit uns für eine bessere Zukunft Afghanistans gearbeitet, daran geglaubt und sie gelebt haben. Am schwersten ist die Lage für die besonders gefährdeten Mädchen und Frauen. Gegenüber diesen Menschen haben wir eine Verantwortung, und wir werden sie nicht im Stich lassen.“ Die Ampelregierung beschloss ein Aufnahmeprogramm für gefährdete Afghaninnen und Afghanen. Es sollte gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgearbeitet werden. Die Zusammenarbeit war ein einziges Debakel.

Monatelang ließ das Innenministerium auf sich warten, bis Gefährdungskriterien für das Programm veröffentlicht wurden. Das Geschlecht allein hätte gereicht. Die Zeit raste. Schon am Tag 1 ihrer Herrschaft schafften die Taliban das Frauenministerium ab, schlossen Mädchenschulen und schlugen die anschließenden Proteste nieder.

Trotzdem hatten die Vereinten Nationen gehofft, die Taliban zur Einsicht bringen zu können. Ohne Erfolg. Im Mai verkündeten die Taliban die Burka-Pflicht. Frauen sollten ab sofort nur noch im Ganzkörperschleier das Haus verlassen dürfen. Das Gewand schränkt Sicht und Bewegungsfreiheit ein, es gleicht einem Gefängnis aus Stoff. Auf die Ankündigung folgte ein internationaler Aufschrei. Der Erlass war provokativ und völlig überflüssig. Die Burka ist keine Erfindung der Taliban. In vielen Teilen des Landes gehen Frauen ohne Burka nicht aus dem Haus – sofern es ihnen überhaupt erlaubt ist, das Haus zu verlassen. Warum ein Gesetz erlassen, das ungeschrieben seit Generationen gilt?

Ganz einfach, weil sie es können. Die selbsternannten Gotteskrieger haben eine Weltmacht gedemügt und bloßgestellt. Von den hehren Motiven, mit denen die USA und ihre Verbündeten den Krieg rechtfertigten, ist nicht viel übrig geblieben. Der überhastete Abzug ist zum Sinnbild westlicher Scheinheiligkeit geworden. Nun herrscht ein Terrorregime, mit dem der Westen nicht verhandeln will, es aber auch nicht ignorieren kann. Zu viel Elend würde die Aufmerksamkeit wieder auf Afghanistan lenken, Fragen von Schuld und Verantwortung aufwerfen. Niemand hat ein Interesse daran, Bilder von hungernden Kindern zu produzieren. Das ist verständlich, aber verschlimmert das Problem. Wir helfen dem Taliban-Regime zu überleben und opfern dafür die Frauen.

Das System der Taliban ist perfide. Indem der Erlass nicht Frauen selbst, sondern ihre männlichen Angehörigen bei Verstößen bestraft, macht es alle Männer in Afghanistan zu Komplizen der Taliban. Sie sind für das Verhalten ihrer Frauen verantwortlich, müssen dafür sorgen, dass die weiblichen Angehörigen die Regeln der Taliban befolgen. Der Erlass beraubt Frauen jeglicher Autonomie, gibt ihnen keine Chance mehr, sich gegen­ die Vorschriften aufzulehnen oder bei Widerstand ins Gefängnis zu gehen. Das Gesetz entmenschlicht Frauen, degradiert sie zu Eigentum ihrer männlichen Verwandten. Es schränkt nicht nur die Freiheit von Frauen ein, es gibt vor allem Männern in der Gesellschaft uneingeschränkte Macht.

Kaum eine Frau in Afghanistan wird sich einer Regel widersetzen, wenn am Ende nicht sie selbst, sondern ihr männlicher Vormund dafür bestraft wird. Wenn es doch eine Frau wagen sollte, wird sie wahrscheinlich keine Märtyrerin für Frauenrechte, sondern nur ein weiteres Opfer von häuslicher Gewalt. Afghanistan galt auch vor der Herrschaft der Taliban als eines der schlimmsten Länder für Frauen weltweit. Frauen werden von männlichen Angehörigen geschlagen, verstümmelt, mit Säure überschüttet und in Brand gesetzt. Als ein guter Ehemann gilt allein ein Mann, der seine Frau nicht grundlos schlägt.

Die Taliban machen es einem leicht, Afghanistan zu vergessen. Sie begehen keine Massaker und ziehen auch nicht plündernd oder vergewaltigend durch das Land. Sie schränken Rechte ein. Die internationale Staatengemeinschaft fordert, das zu unterlassen. Die Taliban unterlassen es, dieser Forderung nachzukommen.

Quelle          :           TAZ-online            >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —      Afghanistan collage, from left to right: 1. Bamyan province, 2. The Salang Pass between Parwan and Baghlan provinces, 3. Band-e Amir National Park in Bamyan province, 4. River in Nuristan province.

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von DL-Redaktion am 5. Juli 2023

„Krieg und Frieden“
Der Angst zum Trotz: Rückkehr nach Russland

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Aus Moskau XENIA BABICH

Mein Bekannter, der Moskau im vergangenen September über Kasachstan Richtung Tbilissi verlassen hatte, gab damals seine ganzen Ersparnisse für Flugtickets aus.

Immerhin ging es ihm darum, der Mobilmachung Russlands zu entfliehen. Ein halbes Jahr später kehrte er jedoch zurück. Ich habe davon nur erfahren, weil wir uns zufällig auf einer Geburtstagsfeier gemeinsamer Bekannter trafen. Auf Social Media tut er alles, damit es so aussieht, als halte er sich weiter nicht in der russischen Hauptstadt auf.

Über seinen Umzug und seine Rückkehr erzählte er, dass er Georgien liebe und den Mut der Georgier bewundere, die gegen das Ausländische-Agenten-Gesetz auf die Straße gegangen waren. Aber er könne nicht länger dort bleiben, da er in Moskau leben wolle. Als die russischen Behörden bekannt gaben, dass die Grenzen für diejenigen geschlossen würden, die eine Vorladung zur Einberufung bekommen haben, schrieb er mir, dass er einen Job in Moskau suche und zu Vorstellungsgesprächen gehe. Er war immer gegen Putins Krieg. Auch jetzt beteuert er, dass er ihn ablehne. Dennoch ist er zurückgekommen.

Ein paar Wochen später erfuhr ich, dass ein anderer Bekannter, der vor der Mobilmachung geflohen war, ebenfalls wieder in die russische Hauptstadt zurückgekehrt ist, aus dem georgischen Batumi. Er versuche, nicht groß an seine Emigration zu denken und zu leben wie in der Zeit davor, sagt er; in Bars und Cafés gehen und sich mit Freunden treffen.

Es sind Männer im wehrpflichtigen Alter, die jetzt zur „Risikogruppe“ gehören und jeden Tag einberufen werden könnten. Aber sie sagen mir auf Nachfrage, dass sie jetzt einfach „nicht darüber nachdenken“ und sich stattdessen Arbeit suchten, durch die Straßen ihrer geliebten Stadt liefen und ihre Freunde treffen wollten. Und nur leise miteinander über Politik sprächen.

Noch im Februar 2023 hatten russische Beamte erklärt, dass 60 Prozent derer, die wegen des Krieges das Land verlassen haben, zurückkehren würden. Auch wenn bis heute darüber keine genaue Zahlen oder statistischen Erhebungen veröffentlicht wurden, ist der Trend im Sommer 2023 klar: Die Zahl der Rückkehrer aus anderen Ländern wächst – trotz des Risikos der Mobilmachung, trotz neuer repressiver Gesetze, trotz schwieriger Wirtschaftslage in Russland.

Quelle         :          TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Putin wurde gestärkt

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Juli 2023

Die Wagner-Revolte wurde gefeiert – und falsch interpretiert

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von                :         Seymour Hersh /   

Der inner-russische Aufstand, der nicht stattgefunden hat, stärke die Position Putins. Das sagen Informanten von Geheimdiensten.

upg. Aufgrund seiner Kontakte zu Geheimdiensten schätzt US-Investigativjournalist Seymour Hersh die Revolte des Wagner-Chefs Prigoschin anders ein als grosse Medien. Im Folgenden eine gekürzte Version des Beitrags auf seiner Substack-Webseite. Mit der Darstellung von Seymour Hersh ergänzt Infosperber, was bereits aus grossen Medien zu erfahren war.

Die anhaltende Katastrophe in der Ukraine geriet einige Tage aus den Schlagzeilen, weil diese dominiert waren von der «Revolte» Jewgeni Prigoschins, dem Chef der Söldnergruppe Wagner. Angeblich bedrohte Prigoschin Putins Macht.

Eine Schlagzeile in der «New York Times» lautete: «Revolte wirft brennende Frage auf: Könnte Putin die Macht verlieren?». Und «Washington Post»-Kolumnist David Ignatius meinte: «Putin blickte am Samstag in den Abgrund – und blinzelte.»

[Red. In Brüssel meinte die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock: «Wir sehen massive Risse in der russischen Propaganda. Die Moderatorin von ARD/WDR ergänzte: «Die Schwäche Putins könnte für die Ukraine durchaus eine Chance sein.» In der Schweiz titelte Ulrich Speck in der NZZ: «Die Rebellion deckt Putins Schwäche auf – das wird den Niedergang Russlands auf der internationalen Bühne beschleunigen.»]

Aussenminister Antony Blinken, der vor Wochen stolz verkündete, in der Ukraine keinen Waffenstillstand anzustreben, trat in der CBS-Sendung Face the Nation mit seiner eigenen Version der Realität auf: «Vor sechzehn Monaten dachten die russischen Streitkräfte, sie würden die Ukraine als unabhängiges Land von der Landkarte tilgen […] Jetzt mussten sie Russlands Hauptstadt Moskau gegen Söldner verteidigen, die Putin selbst geschaffen hat […] Das ist eine direkte Herausforderung an Putins Autorität […] Diese zeigt echte Risse.»

Interviewerin Margaret Brennan liess Blinken ohne direkte Gegenfragen reden. Blinken wusste dies – warum wäre er sonst in der Sendung aufgetreten. Er fuhr fort: «In dem Masse, in dem dies [die Revolte Progoschins] eine echte Ablenkung für Putin und die russischen Generäle darstellt, die mit der Gegenoffensive in der Ukraine beschäftigt sein müssen, glaube ich, dass dies den Ukrainern noch mehr Möglichkeiten eröffnet, vor Ort erfolgreich zu sein.»

Der Wagner-Putsch war ein schnell verloschenes Strohfeuer

Hat Blinken an dieser Stelle für Joe Biden gesprochen? Glaubt der Präsident, der das Sagen hat, das ebenfalls?

Heute wissen wir, dass der Aufstand des chronisch labilen Prigoschin innerhalb eines Tages im Sande verlief. Er flüchtete nach Weissrussland, wo ihm keine Strafverfolgung droht. Seine Söldnerarmee wurde in die russische Armee integriert. Es gab weder einen [ernst zu nehmenden] Marsch auf Moskau noch eine nennenswerte Bedrohung für Putins Herrschaft.

[Es wurde nie darüber informiert, wie viele Jeeps oder Panzer bis 200 Kilometer vor Moskau fahren konnten, obwohl dies auf Satellitenbildern ersichtlich sein musste.]

Die Washingtoner Kolumnisten und Korrespondenten für nationale Sicherheit verlassen sich offensichtlich zu stark auf offizielle Hintergrundgespräche mit Beamten des Weissen Hauses und des Aussenministeriums. Angesichts der veröffentlichten Ergebnisse solcher Hintergrundgespräche scheinen diese Beamten nicht in der Lage zu sein, die Realität der letzten Wochen oder das Desaster der Gegenoffensive des ukrainischen Militärs zu erkennen.

Im Folgenden möchte ich einen Blick auf die tatsächlichen Vorgänge werfen, die mir von einer sachkundigen Quelle in US-Geheimdienstkreisen mitgeteilt wurden.

Putin geht gestärkt aus diesem Konflikt hervor

Entscheidend ist, dass sich Putin jetzt in einer viel stärkeren Position befindet. Bereits im Januar 2023 war ein Showdown absehbar zwischen den Generälen, die von Putin unterstützt werden, und Prigoschin, der von Extremisten unterstützt wird. Es ist der alte Konflikt zwischen «besonderen» Kriegskämpfern, den Spezialeinheiten (SF), und einer grossen, langsamen, schwerfälligen und phantasielosen regulären Armee.

Die Armee gewinnt immer, weil sie über die notwendigen Mittel verfügt, die einen Sieg, sei es offensiv oder defensiv, möglich machen. Am wichtigsten ist, dass sie die Logistik kontrollieren.

Die SF sehen sich selbst als wichtigste Offensivkraft. Solange die Gesamtstrategie offensiv ist, toleriert die grosse Armee die Hybris und das öffentliche Schenkelklopfen der SF, weil diese bereit sind, ein hohes Risiko einzugehen und einen hohen Preis zu zahlen.

«Wagner-Mitglieder waren die Speerspitze der ursprünglichen russischen Ukraine-Offensive. Sie waren die ‹kleinen grünen Männchen›. Als sich die Offensive zu einem umfassenden Angriff der regulären Armee ausweitete, unterstützte diese die Wagner-Mitglieder. Eine erfolgreiche Offensive erfordert einen hohen Aufwand an Männern und Ausrüstung.»

Strategieänderung von der Offensive zur Defensive

Doch in der Zwischenzeit änderten die grosse Armee und Putin langsam ihre Strategie von der offensiven Eroberung zur Verteidigung dessen, was sie bereits hatten. Eine erfolgreiche Verteidigung erfordert einen sparsamen Umgang mit den Mitteln. Das hiess für die Wagner-Einheiten, in der folgenden Zeit der Neuausrichtung widerwillig in den Hintergrund zu treten. Prigoschin, kein schüchternes Wesen, wollte darauf seine Streitkräfte verstärken und seinen Sektor stabilisieren.

Prigoschin weigerte sich, auf Verteidigung umzustellen und setzte die Offensive gegen die Stadt Bachmut fort. Dort lag der Knackpunkt. Anstatt eine öffentliche Krise heraufzubeschwören und Prigoschin vor ein Kriegsgericht zu stellen, hielt Moskau einfach die Ressourcen zurück und liess Prigoschin seine Personal- und Feuerkraftreserven aufbrauchen. Prigoschin protestierte öffentlich, doch er war zum Aufgeben verdammt.

Die Medien berichteten nicht darüber, dass Wagner vor drei Monaten von der Bachmut-Front abgezogen und zur Demobilisierung in eine verlassene Kaserne nördlich von Rostow am Don [im Süden Russlands] gebracht wurde. Die schwere Ausrüstung wurde grösstenteils umverteilt. Die Truppe wurde auf etwa 8000 Mann reduziert. Von diesen gingen dann 2000 in Begleitung der örtlichen Polizei nach Rostow [und nahmen die Stadt kurz in Beschlag].

Putin stellte sich voll und ganz hinter die Armee, die es zuliess, dass Prigoschin sich lächerlich machte und nun in der Versenkung verschwindet. Und das alles, ohne militärisch ins Schwitzen zu geraten oder Putin in eine politische Pattsituation mit den Fundamentalisten zu bringen, die glühende Verehrer Prigoschins sind. Das scheint ziemlich schlau zu sein.

Informations-Diskrepanz zwischen den Geheimdienstfachleuten und dem Weissen Haus – und der Presse, die sich als Regierungsorgan versteht

Es besteht eine enorme Diskrepanz zwischen der Einschätzung der Lage durch Fachleute der US-Geheimdienste und dem, was das Weisse Haus und die Washingtoner Presse der Öffentlichkeit vorgaukeln, indem sie die Aussagen von Blinken und seinen Falken-Kohorten unkritisch wiedergeben.

Die aktuellen Statistiken über die Kampfhandlungen, die mir zugetragen wurden, deuten darauf hin, dass die Aussenpolitik der Regierung Biden in der Ukraine gefährdet sein könnte. Sie werfen Fragen über die Beteiligung des NATO-Bündnisses auf, das die ukrainischen Streitkräfte mit Ausbildung und Waffen für die derzeitige Gegenoffensive versorgte. Ich erfuhr, dass das ukrainische Militär in den ersten zwei Wochen der Gegenoffensive nur 44 Quadratmeilen des zuvor von der russischen Armee gehaltenen Gebiets eroberte, einen Grossteil davon auf offenem Gelände. Im Gegensatz dazu kontrolliert Russland 40’000 Quadratmeilen ukrainischen Territoriums. Mir wurde gesagt, dass sich die ukrainischen Streitkräfte in den letzten zehn Tagen keinen nennenswerten Weg durch die russischen Verteidigungsanlagen bahnen konnten. Sie haben nur zwei weitere Quadratmeilen des von Russland besetzten Gebiets zurückerobert. Bei diesem Tempo, so sagte ein informierter Beamter scherzhaft, würde Selenskys Militär 117 Jahre brauchen, um das Land von der russischen Besatzung zu befreien.

Grossoffensive der ukrainischen Streitkräfte erst im Spätsommer?

«Ukrainische Offensive kommt trotz westlichen Waffen nur langsam voran», titelte die NZZ am heutigen 3. Juli. Sie zitiert den österreichischen Generalstabsoffizier Markus Reisner, der Anzeichen dafür sieht, dass sich die Ukrainer zunächst konsolidieren, um im Spätsommer noch einmal eine neue Offensive zu starten.

Mehrere Videos würden den «katastrophalen Verlauf der ukrainischen Angriffe» dokumentieren, schreibt der verteidigungspolitische Redaktor der NZZ in Deutschland, Marco Seliger. Die Ukrainer könnten sich gegen Angriffe aus der Luft zu wenig wehren und hätten nach Angaben der niederländischen Dokumentationsplattform «Oryx» bisher 13 Prozent ihrer Leopard-Kampfpanzer und 22 Prozent der amerikanischen Bradley-Panzer verloren.
Die russische Armee habe ausgedehnte Minenfelder und gestaffelte Verteidigungelinien errichtet. Seliger schildert dramatische Folgen: «Soldaten, teilweise verletzt, verlassen die Panzer, geraten unter Feuer und suchen Deckung in Gebieten ausserhalb der [geräumten] Minengasse. Dort geraten sie in Felder aus Antipersonenminen. Sie sterben qualvoll mit abgerissenen Gliedmassen, während ihre Kameraden kaum helfen können, weil sie sich dazu selbst in das Minenfeld begeben müssten.»

Hoffnung bringe den Ukrainern von den USA versprochene weitere 30 Bradley- sowie 25 Radpanzer vom Typ Stryker. Und Rheinmetall wolle bis Anfang nächsten Jahres im Auftrag der Niederlande und Dänemarks 14 weitere Leopard-2A4 an die Ukraine liefern. Die deutsche Regierung beabsichtige, in den kommenden Monaten bis zu 100 ältere Kampfpanzer von Typ Leopard-1 in die Ukraine zu schicken.

Gibt es ein Aufwachen – im Weissen Haus und in der Presse?

Die Washingtoner Medien scheinen in den letzten Tagen das Ausmass der Katastrophe langsam zu begreifen. Doch es gibt keine öffentlichen Anzeichen dafür, dass Präsident Biden und seine ranghohen Berater im Weissen Haus und die Mitarbeiter des Aussenministeriums die Situation realisieren.

Putin hat nun die fast vollständige Kontrolle über die vier ukrainischen Oblaste Donezk, Cherson, Lubansk und Saporischschja, die er am 30. September 2022, sieben Monate nach Beginn des Krieges, öffentlich annektiert hat. Der nächste Schritt, vorausgesetzt, es geschieht kein Wunder auf dem Schlachtfeld, liegt in Putins Hand. Er könnte einfach stehen bleiben und abwarten, ob die militärische Realität vom Weissen Haus akzeptiert wird und ob ein Waffenstillstand angestrebt und formelle Gespräche über das Ende des Krieges aufgenommen werden.

Im April nächsten Jahres stehen in der Ukraine Präsidentschaftswahlen an. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky könnte sich zurückhalten und diese abwarten – wenn sie denn überhaupt stattfinden. Selensky erklärte, dass es keine Wahlen geben werde, solange das Land unter Kriegsrecht steht.

Bidens politische Probleme im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr sind akut und offensichtlich. Am 20. Juni veröffentlichte die Washington Post einen Artikel auf der Grundlage einer Gallup-Umfrage unter der Überschrift «Biden sollte nicht so unbeliebt sein wie Trump – aber er ist es». In dem Artikel zur Umfrage hiess es, Biden habe «fast universelle Unterstützung innerhalb seiner eigenen Partei, praktisch keine von der Oppositionspartei und schreckliche Zahlen bei den unabhängigen Wählern». Wie frühere demokratische Präsidenten kämpfe Biden damit, «jüngere und weniger engagierte Wähler anzusprechen». Allerdings hatte die Umfrage offenbar keine Fragen zur Aussenpolitik der Regierung gestellt.

Die Demokraten verlieren ihre klassische Anhängerschaft, wenn sie nicht auf die Finanzierung dieses Krieges verzichten

Die drohende Katastrophe in der Ukraine und ihre politischen Auswirkungen sollten ein Weckruf für jene demokratischen Kongressmitglieder sein, die den Präsidenten unterstützen, aber nicht damit einverstanden sind, in der Hoffnung auf ein Wunder viele Milliarden guter Gelder in die Ukraine zu stecken.

Die Unterstützung der Demokraten für den Krieg ist ein weiteres Beispiel für die zunehmende Abkehr der Partei von der Arbeiterklasse. Es sind die Kinder der Arbeiterklasse, die in den Kriegen der jüngsten Vergangenheit kämpften und möglicherweise in jedem künftigen Krieg kämpfen werden. Diese Wählerschicht hat sich in zunehmender Zahl abgewandt, da sich die Demokraten den intellektuellen und wohlhabenden Klassen annähern.

Es wäre wahrscheinlich klug von Joe Biden, offen über den Krieg und seine verschiedenen Probleme für die USA zu sprechen. Er sollte erklären, warum die geschätzten mehr als 150 Milliarden Dollar, die seine Regierung für die Ukraine bisher aufwendete, nicht besser anderweitig hätten ausgegeben werden sollen.

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Übersetzung aus dem Englischen: Erich Becker/upg

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Oben      —        Wladimir Putin und Jewgeni Prigoschin (2010)

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Geist aus der Flasche

Erstellt von DL-Redaktion am 1. Juli 2023

Prigoschins Aufstand hat gezeigt,
wie fragil das scheinbar stabile autoritäre System Putins ist.

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Von Sarah Pagong

Prigoschins Aufstand hat gezeigt, wie fragil das scheinbar stabile autoritäre System Putins ist. Eben weil es auf einem ständigen Ausgleichen verschiedener Machtgruppen basiert. Die Elitenkonkurrenz, die das System eigentlich in der Balance hält, hat sich gegen das System gewendet.

Am 24. September 2011 kündigte Wladimir Putin seine erneute Kandidatur für die Präsidentschaft an. Es ist der Beginn einer autoritären Wende in Russland, die das Land in den Folgejahren immer repressiver und immer diktatorischer werden lässt.

Dmitri Medwedjew, der vier Jahre lang das Präsidentenamt bekleidet hatte, trat nicht wieder an. Er galt als Vertreter der liberal orientierten Gruppen in Russlands Elite; jemand, der Russland vermeintlich nach innen modernisieren wollte, nach außen Ausgleich mit den USA suchte und der den aggressiven Einfluss von Russlands Sicherheitsdiensten ausbalancieren konnte. Im September 2011 wurde deutlich, dass er nur ein Instrument des Machtsystems des zurückkehrenden Präsidenten Putin war. Die vermeintliche Alternative war Schall und Rauch.

Dieses Machtsystem basiert auf der Konkurrenz unterschiedlicher Eliten und Interessengruppen. Informelle Netzwerke binden diese Personen an das System: persönliche Beziehungen, die Möglichkeit, finanziell zu profitieren, oder schlicht Komplizenschaft. Jede dieser Gruppen und Personen erfüllt einen Zweck für das System Putins und den russischen Staat. Sie kontrollieren Ressourcen oder Medien, sie mehren Putins persönlichen Reichtum oder mimen eine vermeintliche Opposition oder Alternative. Jewgeni Prigoschin war Teil dieses Systems. Im Unterschied zu Medwedjew jedoch drohte die Konkurrenz zwischen Prigoschin und anderen Teilen der Elite in letzter Zeit das System zu sprengen.

Prigoschin verbrachte zu Sowjetzeiten neun Jahre im Gefängnis. Er war verurteilt worden für Raub und Diebstahl. 1990, in den Zeiten des Umbruchs, kam er frei. In den Wirren der neunziger Jahre verkaufte er Hotdogs und gründete Restaurants. Reich wurde er durch staatliche Cateringaufträge, die ihm den Namen „Putins Koch“ einbrachten.

Er hat diesen Reichtum eingesetzt im Dienste des Systems. Prigoschin finanziert Trollfrabriken in Sankt Petersburg, und er hat die Gruppe Wagner zu dem gemacht, was sie heute ist: einem privaten Militärunternehmen, das russische Interessen in der Ukraine, im Nahen Osten und in Afrika mit immenser Brutalität durchsetzt. Mit engen Verbindungen zur extremen Rechten und guten Kontakten zum russischen Staat agiert die Gruppe Wagner dort, wo Russland offiziell nicht eingreifen kann oder will.

Das Militärunternehmen erfüllt somit eine Funktion für den russischen Staat. Prigoschin hat es dabei nicht versäumt, seine eigene Macht und Bedeutung im russischen System zu steigern und sich neue Geldquellen zu sichern. Die Gruppe Wagner war immer auch ein Instrument der Ressourcenabschöpfung in ihren Zielländern. Der Einsatz für russische Interessen in Ländern wie Mali, Sudan oder Syrien kostet Prigoschin Geld, bringt ihm aber auch neuen Reichtum in Form von Gold oder Silizium.

Die Verbindung zwischen dem Machtsystem und Prigoschin war eine Symbiose, eine informelle Beziehung zu beiderseitigem Vorteil. Putin hat stets darauf geachtet, dass keine der Elitengruppen und -personen zu mächtig wird. Die Stabilität wurde gewahrt durch Konkurrenz zwischen den Eliten: um Ressourcen, Aufmerksamkeit, Informationen. Putin garantiert und symbolisiert dieses System als oberster Schiedsrichter.

Der Streit zwischen Prigoschin und der Führung des Verteidigungsministeriums, vor allem Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow, stellte genau solch eine Rivalität dar. Sie hat sich jedoch unter dem Einfluss von Russlands Krieg gegen die Ukraine radikalisiert. Für Prigoschin und die Gruppe Wagner war der Krieg eine Chance auf mehr Macht und Einfluss. Gleichzeitig hat der Krieg den Bedarf an Ressourcen für dieses Machtstreben – militärische Ausrüstung, Munition, Personal – potenziert. Es reicht nicht mehr für alle. Putin hat diese Radikalisierung lange laufen und Prigoschin mit seinen zunehmend spitzen Kommentaren gewähren lassen. Letztlich hat diese Radikalisierung das System zu sprengen gedroht.

Die Elitenkonkurrenz, die das System eigentlich in der Balance hält, hat sich gegen das System gewendet.

Das Ergebnis ist ein für alle sichtbares Moment der Schwäche und des Kontrollverlusts des russischen Staats. Einmal mehr zeigt sich, dass scheinbar stabile autoritäre Systeme fragil sind. Sie basieren auf einem ständigen Ausgleichen verschiedener Machtgruppen. Diese Balance ist anfällig, da sie auf informellen Arrangements aufbaut und nicht auf allgemein anerkannten und rechtsstaatlich durchgesetzten Regeln. Diese Schwäche hat sich am Wochenende des 23./24. Juni an drei Faktoren gezeigt: einem Verlust der Kontrolle über Information sowie einem über Teile des Territoriums und in mangelndem Strafvermögen.

Der Kreml und Putin verloren am Freitagabend die Kontrolle über die Information und das Narrativ. Prigoschin hat sich über soziale Medien und vor allem Telegram in den letzten Monaten einen eigenen Zugang zur russischen Bevölkerung geschaffen. Er ist nicht abhängig von staatlichen oder staatlich kontrollierten Medien, sondern er spricht die Menschen direkt, unmittelbar und auf authentisch wirkende Weise an. Der russische Staat konnte die Nachrichten über die Kontrolle von Rostow am Don und den anschließenden Vorstoß der Gruppe Wagner Richtung Moskau nicht kontrollieren oder gar leugnen. Putin war in einem Dilemma: Sagt er nichts, überlässt er Prigoschin das Feld. Äußert er sich, verleiht er Prigoschin weitere Reichweite und dessen Handeln Bedeutung. Er musste sich für Letzteres entscheiden, zu deutlich war das Schweigen wahrzunehmen. Die Rede Putins, mit der er am Samstagmorgen schließlich reagierte und die Prigoschin als Verräter brandmarkte, hat den Wagner-Chef in seinen Aussagen noch radikalisiert. Er griff Putin nun persönlich an. Die sich überhitzende Elitenkonkurrenz entwickelte sich von der Stütze des Systems nun endgültig zu dessen größtem Problem.

Das Machtsystem Russlands verlor auch die Kontrolle über Teile seines Territoriums. Die Gruppe Wagner konnte gegen nur begrenzten Widerstand Rostow am Don kontrollieren, einen zentralen Logistikknotenpunkt für den Krieg gegen die Ukraine, und über Woronesch weiter Richtung Moskau vordringen. In den Medien verbreiteten sich statt Bildern einer gezielten und massiven militärischen Antwort seitens des Staats vor allem solche von Baggern, die die Schnellstraße Richtung Moskau aufrissen. Das Ende dieses Aufstands wurde schließlich nicht militärisch herbeigeführt, sondern durch einen vom belarussischen Präsidenten vermittelten Deal. Der Brandmarkung Prigoschins als Verräter folgte nicht etwa eine machtvolle Reaktion, sondern eine Verhandlung, die dem Systemsprenger einen Kompromiss unterbreitete.

Den dritte Kontrollverlust bildet das unmittelbare Ausbleiben einer existenziellen Strafe. Das Machtsystem hat Kontrolle – neben der Belohnung von Gefolgschaft – auch immer über die Bestrafung von Abtrünnigen ausgeübt. Die zahlreichen getöteten, ins Exil getriebenen und in Lagern sitzenden Jour­na­lis­t:in­nen und Oppositionellen sind Zeugen solcher Strafen. Prigoschin jedoch hat genau dieses Schicksal zunächst einmal nicht ereilt. Sein „Marsch auf Moskau“ wurde nicht ultimativ bestraft – auch wenn berechtigte Zweifel bleiben, ob Prigoschin nicht doch noch einen hohen Preis zahlen wird. Die Verhandlung bescherte dem belarussischen Präsidenten Lukaschenko dagegen ein unerwartetes Comeback. Er und Belarus bleiben von Russland abhängig, aber der Aufstand hat ihm nicht nur die Gelegenheit geboten, sich medienwirksam als Vermittler darzustellen, sondern auch als dem russischen Staat und der Sicherheit des Lands verschriebenen Verbündeten, der in der Krise zur Hilfe eilt.

Seit dem letzten Wochenende hat das Machtsystem Risse. Die Idee eines omnipotenten russischen Staats, eines allmächtigen russischen Präsidenten hat auch vorher nicht der Wahrheit entsprochen, aber nun ist die Sache für alle erkennbar, innerhalb und außerhalb Russlands. Putins Politik, seine Handlungen, seine Worte werden nun auf Anzeichen von Schwäche geprüft werden. Anstatt sich auf den Nimbus der Macht verlassen zu können, wird er stetig versuchen müssen, ihn wiederherzustellen.

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von DL-Redaktion am 1. Juli 2023

Grübelei über Prigoschin à la chinoise

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Nichts erregt die Gemüter rund um die Welt heute mehr als Jewgeni Prigoschins kurzlebige Rebellion gegen den Kreml. Das gilt auch für China. Scheinbar unaufgeregt gab eine Außenamtssprecherin in Peking zu verstehen, Peking sei für eine schnelle Wiederherstellung der Ordnung in Russland. Kein Wort zu Wladimir Putin, Xi Jinpings gutem Freund. Kein Glückwunsch, dass die unverschämte Rebellion niedergeschlagen wurde. Der klare Subtext: Egal wie, Hauptsache, es stört uns in China nicht.

Daraufhin erregen sich die Gemüter umso buntscheckiger: „Egal wie, geht schon mal gar nicht“, schrieb einer, der mit dem Prinzip in China hochzufrieden ist, schließlich „herrscht bei uns die Doktrin: Immer beherrscht die Partei die Gewehre, niemals umgekehrt. Jetzt seht ihr, was passiert, wenn die Gewehre die Partei beherrschen würden. Wie dumm sind die Russen?“

Und ein anderer schießt zurück: „Wie naiv bist du? Versuch mal, unsere Soldaten nicht zu bezahlen, da wirst du sehen, was daraus wird. Es geht ums Geld. Wie heißt es noch einmal: Mit Geld kannst du nicht alles machen. Ohne kannst du nichts machen. Nichts, du Idiot. Prigoschin will mehr Geld.“

Der Dritte wirkt etwas ausbalancierter: „Wichtig ist aber: Was wird daraus? Wird die Ukraine die Rebellion zu ihrem Nutzen ausschlachten, die Krim zurückholen? Wenn ich Selenski wäre: Ich würde es tun.“ Ihn ermutigt der Vierte: „Na dann, mach unserer Führung den Vorschlag, wir Chinesen sollen versuchen, die Schwäche von Putin auszuschlachten – wie wäre es damit, Wladiwostok zurückzuholen? Das liegt gut 8.000 Kilometer weit weg von Moskau und dürfte Putin wesentlich weniger wehtun als Prigoschin. Der Bursche war schon mal wesentlich näher dran.“

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Ein Fünfter protestiert: „Ach, unsre Schlafmützen da oben. Die haben noch nicht mal bemerkt, dass Putin in der Krise zuerst Nordkorea und Kasachstan angerufen hat, nicht unser Politbüro? Der beste Freund von Putin ist China ja nicht. Der Zar kann sich auf uns nicht verlassen. Und wir sollten uns selbst auch nicht allzu ernst nehmen – der Russen wegen schon mal gar nicht.“ Von allen ist der Sechste der Tollkühnste. Er fragt, was passieren würde, „wenn inmitten eines sagen wir Krieges gegen Taiwan auch bei uns so einer daherkommt und verlangt, den Verteidigungsminister und Generalstabschef einen Kopf kürzer zu machen, quasi so ein Prigoschin à la chinoise?“

Keiner antwortet auf ihn, oder keine Antwort auf ihn, wie auch immer sie aussehen mag, schafft es, im chinesischen Internet zu erscheinen. Nur hörbarer kocht die Gerüchteküche um den angeschlagenen Kremlchef. „Wenn der Großkaiser Putin keinem mehr befehligen kann?“ „Würde der Großkaiser nun doch seinen Verteidigungsminister abservieren?“ Und: „Weiter kommt er in der Ukraine dennoch nicht?“ Hier entsteht der Eindruck, dass es schlecht aussieht für Putin und seinen Krieg. Vielsagend ist, dass kein Kommentar wegen ablehnender Haltung gegenüber Putin zensiert wird, obschon der doch ausdrücklich ein guter Freund von Xi Jinping sei.

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Diplomatische Reisegeste

Erstellt von DL-Redaktion am 30. Juni 2023

Lange hatten afrikanische Po­li­ti­ke­r:in­nen die Ukraine als Bauernopfer abgetan.

Ein Debattenbeitrag von Alex Veit

Ein Besuch in Kyjiw weist auf einen Sinneswandel. Der erfolgte nicht ohne Druck. Die USA haben deutlich gemacht, dass sie die Geduld mit der russlandfreundlichen Politik Pretorias verlieren.

Dass die Friedensmission afrikanischer Staatschefs in der Ukraine und in Russland am vergangenen Wochenende viel erreichen würde, hatte kaum jemand erwartet. Und tatsächlich gab es am Ende wenig Konkretes zu berichten außer dem Versprechen aller Seiten, weiter im Gespräch zu bleiben.

Die Friedensreise der Staatschefs war vor allem eine diplomatische Geste: Die Bahnfahrt von Polen nach Kyjiw signalisierte die verspätete afrikanische Anerkennung der ukrainischen Perspektive. Lange hatten hochrangige Po­li­ti­ke­r:in­nen etwa aus Südafrika die Ukraine als bloßes Bauernopfer in einem größeren Konflikt zwischen Russland, China und dem Westen abgetan. Im Februar 2022 verurteilten in der UN-Generalversammlung gerade mal 28 von 55 Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union (AU) den russischen Überfall, während sich eine große Minderheit enthielt oder nicht zur Abstimmung erschien. Einige wenige Staaten lehnten die Resolution sogar ab und stellten sich damit offen an die Seite Russlands. Seit Februar 2022 hatte nur ein einziges afrikanisches Staatsoberhaupt Kiew besucht, aber viele andere sind nach Moskau gereist.

Die diplomatische Reisegeste versammelte nun gleich sieben hochrangige Politiker, um eine neue afrikanische Geschlossenheit zu vermitteln, und vielleicht auch um Wiedergutmachung für frühere Versäumnisse zu leisten. So reisten jetzt sowohl der derzeitige Vorsitzende der Afrikanischen Union (AU) und Präsident der Komoren, Azali Assoumani, und die Staatsoberhäupter und Vertreter von sechs weiteren afrikanischen Staaten nach Kyjiw. Drei dieser Staaten – Südafrika, Republik Kongo und Uganda – haben sich bei den verschiedenen Abstimmungen in der UN-Generalversammlung konsequent enthalten. In Kyjiw und anschließend in St. Petersburg stellte die afrikanische Delegation nun jedoch einen 10-Punkte-Plan vor, in dem sie sich zur internationalen Norm der staatlichen Souveränität bekennt und diese Anerkennung auch von den Kriegsparteien einfordert. Entsprechend unwirsch reagierte Putin, der seinen Gästen ins Wort fiel, auf die Vorschläge.

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Auch sonst hat die russische Seite viel dafür getan, die Besucher zu verprellen. Als diese gerade in Kyjiw angekommen waren, schoss das russische Militär mehrere Raketen auf das Stadtzentrum ab. Die afrikanische Delegation musste in einen Schutzraum flüchten. Während des anschließenden Treffens mit Putin in St. Petersburg stellte dieser klar, dass er das Schwarzmeer-Getreideabkommen im Juli auslaufen lassen will. Das Abkommen regelt die Ausfuhr ukrainischen Weizens. Durch den Wegfall des Abkommens würde die Ernährungssicherheit besonders in Nordafrika weiter eingeschränkt.

Nun ließe sich einwenden, dass eine siebenköpfige Gruppenreise für eine bloße Geste nicht nur einen übertriebenen Aufwand darstellt, sondern dass insbesondere Südafrika nicht aus freien Stücken zu der Einsicht gekommen ist, die eigene Haltung zum Krieg korrigieren zu müssen. Die USA haben in den letzten Wochen deutlich gemacht, dass sie die Geduld mit der russlandfreundlichen Politik Pretorias verlieren: zunächst beschuldigte der US-Botschafter in Südafrika das Land, ein sanktioniertes russisches Schiff in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit Waffen beladen zu haben. Wenig später forderten Kongressabgeordnete, den Ausschluss Südafrikas aus dem lukrativen AGOA-Handelsabkommen zu prüfen, das Südafrika bevorzugten Zugang für seine Exportprodukte auf dem amerikanischen Markt gewährt. Manche fragten, warum Südafrika unter Druck gesetzt, während Indiens Staatschef in Washington besondere Ehre zuteil wird – obgleich die Russland-Politik beider Länder durchaus vergleichbar ist. Die Antwort liegt nahe: Südafrika ist das wirtschaftlich schwächste Glied des BRICS-Staatenbündnisses, zu dem neben Indien auch China, Russland und Brasilien gehören. Der amerikanische Druck wegen der südafrikanischen Russland-Politik zielt letztlich auf den großen Rivalen China und den Zusammenhalt des BRICS-Bündnisses.

Ohnehin steht Südafrika durch seine Gastgeberrolle beim nächsten BRICS-Gipfel Ende August in Johannesburg unter Druck. Die Entscheidung, ob und wie Putin am Gipfel teilnehmen kann, obwohl ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen ihn vorliegt, schiebt Pretoria seit Wochen vor sich her. Dass im afrikanischen 10-Punkte-Plan auch die Rückkehr der durch Russland entführten ukrainischen Kinder zu ihren Familien gefordert wird, stellt eine indirekte Verurteilung dieser Verbrechen Putins und eine Anerkennung der Begründung des Haftbefehls dar.

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Oben           —       President Joe Biden delivers remarks at the Summit for Democracy Virtual Plenary on Democracy Delivering on Global Challenges, Wednesday, March 29, 2023, in the South Court Auditorium of the Eisenhower Executive Office Building at the White House. (Official White House Photo by Adam Schultz)

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Revoltierende Soldaten

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Juni 2023

PUTINS BRÖCKELNDE HEIMATFRONT

Von Alexeï Sakhine und Lisa Smirnova

Was die Drohnen über dem Kreml bedeuten, weiß man nicht. Für den Hausherrn bedrohlicher ist die Stimmung im Land. Während die Siegeszuversicht sinkt, wächst das Misstrauen gegenüber den Eliten und die Kritik am System Putin, die jedoch aus unterschiedlichen Richtungen kommt und nicht unbedingt friedliebend ist.

Auf den ersten Blick scheint das russische Staatsschiff dem Sturm standzuhalten, den der Kreml mit dem Überfall auf den ukrainischen Nachbarn ausgelöst hat. Mehr als ein Jahr nach Kriegsausbruch befindet sich die russische Wirtschaft zwar in der Rezession, aber das Minus von 2,1 Prozent für das BIP 2022 bedeutet noch keinen Zusammenbruch. Und glaubt man den Umfragen auch staatsunabhängiger Meinungsforschungsinstitute, ist eine Mehrheit der Bevölkerung weiterhin für eine Fortsetzung der „Spezialoperation“.1

Allerdings werden die Risse in der russischen Gesellschaft stetig tiefer. Und erstaunlicherweise sind sich Menschen sehr unterschiedlicher politischer Orientierung in einem Punkt zunehmend einig: Unabhängig von ihrer Einstellung zum Krieg misstrauen immer mehr Russinnen und Russen den „Eliten“. Dieses Phänomen war bereits vor Februar 2022 zu beobachten, nun nimmt es an Bedeutung weiter zu.

In einem Klima der Angst, das sich laufend verstärkt, ist es sehr schwierig, der Gesellschaft den Puls zu fühlen. Angesichts dessen mag ein Blick auf die methodischen Anmerkungen der unabhängigen Meinungsforschungsinstitute zu ihren Ergebnissen hilfreich sein. Was sagt uns zum Beispiel der starke Rückgang der Antwortquoten? Laut einem Institut für Marketingstudien und Meinungsumfragen namens „Rus­sian Field“ antworten aktuell nur noch 5,9 bis 9,3 Prozent der Befragten auf alle die „militärische Spezialoperation“ betreffenden Fragen. Das entspricht nur einem Drittel bis einem Viertel der vor Kriegsausbruch üblichen Quote.2

Bei einer im Februar 2023 durchgeführten Umfrage bat Russian Fields die Teilnehmenden, sich entweder für Maßnahmen zur Verstärkung der Offensive oder für Frieden auszusprechen. Nur 27 Prozent der Befragten unterstützten eine Eskalation der Kämpfe, während sich 34 Prozent Schritte in Richtung Frieden wünscht

Zwischen Ultranationalisten und Kriegsmüden

Dabei kann man deutlich drei Gruppen unterscheiden: Die „Kriegspartei“, der 25 bis 37 Prozent der Befragten zuzurechnen sind, befürwortet die Verfolgung Protestierender, verurteilt Deserteure und ist bereit, Einschränkungen in der Sozialpolitik zugunsten militärischer Ziele in Kauf zu nehmen. In dieser Personengruppe sind ältere Bürgerinnen und Bürger sowie Menschen mit höherem Einkommen überproportional vertreten.

Zur „Friedenspartei“ am anderen Ende des Spektrums zählen 10 bis 36 Prozent der Befragten, bei denen es sich vor allem um junge Russinnen und Russen sowie sehr arme Personen handelt. Zwischen diesen beiden Extremen befinden sich diejenigen, die eigenen Angaben zufolge zu keiner klaren Meinung kommen oder die widersprüchliche Antworten geben. Viele Menschen aus dieser dritten Gruppe lehnen zwar eine militärische Eskalation ab, vertrauen aber der offiziellen Position der Behörden.

Die Kriegspartei nutzt die sozialen Netzwerke als Sprachrohr – darunter die Plattformen von Gruppen, die man als „Ultranationalisten“ bezeichnen könnte. Sie kann sich derzeit noch uneingeschränkt äußern, löst aber bei der politischen Führung eine gewisse Beunruhigung aus. So erklärte im Februar der Duma-Abgeordnete Oleg Matwei­tschew von der Präsidentenpartei Einiges Russland: „Einen liberalen Maidan müssen wir nicht fürchten, denn die Liberalen sind alle geflohen.“ Die einzige Gefahr für den Staat sei „ein ultra­na­tio­na­lis­ti­scher, leicht links eingefärbter Maidan und entsprechende Debatten über die Korruption.“4

Seit Beginn der Invasion füttern sogenannte Kriegsberichterstatter – Anhänger der extremen Rechten mit militärischen oder paramilitärischen Befugnissen – die sozialen Netzwerke mit Nachrichten über die militärischen Operationen. Der Bekannteste unter ihnen ist Igor Strelkow, ein früherer FSB-Geheimdienstoffizier mit monarchistischen Überzeugungen. 2014 eroberte er an der Spitze einer Einheit russischer Freiwilliger die Stadt Slawiansk im ukrainischen Donbass. Zwar hat Moskau die Separatisten militärisch unterstützt, aber ihre Anführer sind aufgrund ihrer Unberechenbarkeit und ihres Fanatismus auch dem Kreml nicht geheuer.5 Strelkow musste deswegen den Donbass verlassen. Heute beklagt er auf seinem Telegram-Kanal, dass der Kreml den ukrainischen Feind nicht hart genug bekämpft. Telegram nutzen fast 1 Mil­lion Menschen. Nach den militärischen Rückschlägen im Herbst 2022 prangerten Strelkow und andere radikale Na­tio­na­lis­ten die Fehler des Putin-Regimes an. Sie kritisierten die schlechte Organisation des militärischen Nachschubs, die Schwäche der Rüstungsindustrie, die Inkompetenz und Bestechlichkeit der Generäle und eine mediokre Führungselite, die im Luxus schwelge, während das Vaterland in Gefahr sei. Und sie mutmaßen, ein Teil von Putins Entourage wolle sich heimlich mit dem Westen aussöhnen, selbst wenn das die Kapitulation bedeuten sollte.

„Wenn sie Russland in diesem Krieg aufgeben, können wir ihren lieben Partnern aus dem Westen wahrscheinlich nichts anhaben“, schrieb Strelkow am 3. Februar 2023. „Aber wir werden alles tun, um sie selbst dann zu kriegen.“ Er bezweifelt, dass die Regierung den Krieg gewinnen wird. Noch weiter geht Maxim Kalaschnikow, ein Verbündeter Strelkows und Stalin-Bewunderer: „Es wird unvermeidlich zu einer großen Umwälzung kommen. Die da oben wissen das und machen sich Sorgen. Unser Ziel ist es, diese Umwälzung dann in einen nationalen, patriotischen Sieg umzumünzen.“6

Der Zorn der nicht zum eigentlichen Herrschaftssystem gehörenden Patrioten hat mittlerweile auch die loya­len Anhänger des Kriegslagers erfasst, was den Kreml enorm beunruhigt. Der Chef der Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, dessen Privatmiliz in der Ukraine kämpft und der mit den Generälen der Armee rivalisiert, spricht offen über Probleme wie soziale Ungleichheit, Korruption und Unfähigkeit innerhalb der Militärhierarchie.

Doch Prigoschins öffentlicher Aktivismus hat das Präsidialamt verärgert, das ihm mittlerweile den Zugang zu den russischen Gefängnissen verwehrt, wo er unter den Häftlingen Freiwillige für die Front rekrutiert hatte. Der neue Generalstabschef Waleri Gerassimow reduzierte außerdem den Munitionsnachschub für die Gruppe Wagner. Doch Prigoschin revanchierte sich rasch: Er wies seine Kämpfer an, Videos nach Strelkow-Art zu drehen, in denen der Militärführung und den Beamten Verrat vorgeworfen wird. In einem dieser Clips steht ein Söldner vor mehreren Leichen und sagt: „Hört auf mit dem Unfug. Lasst uns kämpfen, lasst uns unser Vaterland verteidigen.“7

Die Wut auf das Regime hat auch die Soldaten und Offiziere in den Schützengräben erfasst. Im Rahmen der Ende September 2022 verkündeten Mobilisierung wurden nach offiziellen Angaben 320 000, nach unabhängigen Schätzungen 500 000 Soldaten eingezogen.8 Die Zahl dürfte sich angesichts der im April 2023 von der Duma verabschiedeten Vorschriften noch erhöhen: Diese sehen eine elektronische Einberufung, ein Ausreiseverbot für Einberufene sowie das Einfrieren des Im­mo­bi­lien­ver­mö­gens von Exilrussen vor.

Die Mobilisierung hat vor allem die ärmsten Regionen getroffen – insbesondere die Kleinstädte und Dörfer rückständiger Provinzen, also die traditionellen Wahlhochburgen Putins. Die Behörden beriefen zunächst Reserveoffiziere und Reservisten mit militärischer Spezialausbildung ein: Männer mittleren Alters mit niedrigem oder mittlerem Einkommen aus Regionen fern von Moskau. Sie zählen mehrheitlich zu den „Neutralisten“, also jener gesellschaftlichen Gruppe, die den Krieg nicht aus militaristischer Überzeugung, sondern aus Loyalität unterstützt. Sie tragen mittlerweile die Hauptlast der Kampfeinsätze.

Quelle          :       LE MONDE diplomatique          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —         Владимир Путин на заседании Государственной Думы был утвержден Председателем Правительства Российской Федерации

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PRIGOZHIN via PUTIN

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Juni 2023

PRIGOZHINS MEUTEREI GEGEN MOSKAU

Quelle       :    RATIONALGALERIE

Autor: Uli Gellermann

Von der Washington Post angekündigt

Es war ausgerechnet die Washington Post (s.Link), die im Mai behauptete, dass der Inhaber des Söldnerunternehmens, das unter dem Namen „Wagner-Gruppe“ bekannt ist, der aktuellen ukrainischen Regierung strategische Unterlagen der russischen Armee angeboten haben soll. In einem Krieg der Oligarchen – der Chef der Wagner-Gruppe Yevgeny Prigozhin gehört auch zu dieser einflußreichen Gruppe in Russland – spielt Geld nicht nur eine Rolle für den Waffenkauf, sondern auch für die jeweilige Loyalität. Es ist denkbar, dass die Ukraine-Oligarchen Prigozhin einfach genug für den Seitenwechsel geboten haben: Seine Truppe marschiert jetzt gegen Russland.

Kapitalisten kennen kein Vaterland

Schwer vorstellbar ist, dass die russische Regierung die Information ignoriert hat. Doch offenkundig war sie vor der Ankündigung der Washington Post einer Meuterei gegen die russische Militärführung nicht informiert genug, um rechtzeitig vorbeugende Maßnahmen zu treffen. Dieser Mangel wiegt um so schwerer, als Prigozhin seit seinen Sankt Petersburger Tagen in der Umgebung von Wladimir Putin verortet wurde: Er erhielt eine Reihe von Staatsaufträgen, unter anderem lieferte er Essen an die Russische Armee. Die Meuterei Prigozhins bestätigt die marxistische Erkenntnis, dass Kapitalisten kein Vaterland kennen, ihre Heimat ist der Profit. Die Meuterei, da darf man sicher sein, war nicht billig.

Ukraine als Aufmarschgebiet gegen Russland

Bisher gelang es Wladimir Putin, den Ukraine-Krieg unter der Flagge der Nation zu führen. Tatsächlich soll der Krieg die nationalen Interessen sichern. Denn solange es den USA und ihrer NATO gelingt, die Ukraine als Aufmarschgebiet gegen Russland zu formieren, solange ist die internationale Position Russlands erheblich geschwächt. Diese Schwäche würde sich auf Dauer auch auf die russischen Handelsbedingungen auswirken, von der Verteidigungsfähigkeit des Landes ganz zu schweigen.

Vorbereitung eines Putsches gegen die russische Regierung

Prigozhins Meuterei muß als Vorbereitung eines Putsches gegen die russische Regierung gewertet werden. Die erfahrenen britischen Imperialisten lassen Prigoschins Meuterei durch ihr Verteidigungsministerium als „die größte Herausforderung für den russischen Staat in jüngster Zeit“ einschätzen. Wladimir Putin selbst bestätigt diese Wertung, wenn er sagt, der Aufstand sei „genau die Art von Schlag gewesen, der Russland 1917 zugefügt wurde, als das Land den Ersten Weltkrieg führte, aber der Sieg wurde ihm genommen. Intrigen, Streitereien, Politik hinter dem Rücken der Armee und des Volkes führten zum größten Schock: der Zerstörung der Armee und dem Zusammenbruch des Staates, dem Verlust riesiger Gebiete. Am Ende – die Tragödie des Bürgerkriegs.“

Niederlage Russlands wäre ein schwerer Schlag für freie Nationen

In den nächsten Tagen und Wochen wird sich das Schicksal Russlands entscheiden. Und mit ihm die Frage, ob Europa komplett unter die Stiefel der USA gerät. Falls die Russen den Kampf gegen die USA nicht gewinnen würden, kann das auch die Chinesen nicht unberührt lassen: Ein Sieg der USA würde das internationale Kräfteverhältnis zugunsten der westlichen Kräfte verschieben. Für die Handlungsspielräume aller Nationen, die ihre Selbstständigkeit, ihre Freiheit und Unabhängigkeit schätzen, wäre eine Niederlage Russlands ein schwerer Schlag.

https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/05/14/prigozhin-wagner-ukraine-leaked-documents/

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Grafikquelle :

Oben      —       Prime Minister Vladimir Putin looked over the factory’s production chain and was shown new vending machines that accept cards. The factory’s director, Yevgeny Prigozhin, remarked that they are produced by companies that previously manufactured slot machines. „They have been retrofitted,“ Prime Minister Putin said. „It’s very good and useful.“ He asked Leningrad Region Governor Valery Serdyukov whether the parents of school students are satisfied with the meals. The governor replied that it took some time for them to get used to the new meal system but all issues have been resolved and the students are satisfied. Mr Prigozhin said that his factory does not use frozen food products or preservatives. The cost of an adult meal produced by Concord is 32 roubles.

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Klimaproduktion Bewegung

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Juni 2023

Die Überschneidungen von nomadischem Land und nomadischer Arbeit im Zeitalter des Sesshaftwerdens

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Quelle        :     Berliner Gazette

Von          :       · 20.06.2023

Das Schicksal nomadischer Kulturen offenbart den Geist des (Staats-)Kapitalismus besonders deutlich: Die erzwungene Eingliederung der Nomaden in soziale Strukturen, die die Sesshaftigkeit privilegieren, ist eng mit der Enteignung von Land und Arbeit verbunden. Der zerstörerische Charakter dieses Systems zeigt sich in der Verarmung der ehemaligen Nomaden sowie dem Erosion ihrer Werte und Praktiken, die andere, nachhaltige Formen der Arbeit und der Klimaproduktion ermöglichen würden, wie die Künstlerin und Forscherin Shuree Sarantuya in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe „Allied Grounds“ argumentiert und dabei auf die Kämpfe nomadischer Völker in China, Russland und der Mongolei eingeht.

Die Fabel „Drei kleine Schweinchen“ erzählt die Geschichte von drei Schweinen und einem großen bösen Wolf, der ihre Häuser angreift. Der Wolf zerstört die Häuser der ersten beiden Schweine, die aus Stroh und Stöcken gebaut sind, aber er kann das Haus des dritten Schweins, das aus Ziegeln besteht, nicht zerstören. Die Ideologie, die der Fabel zugrunde liegt, ist glasklar: Sie unterstützt die Standardisierung von Konzepten wie Obdachlosigkeit und entwertet die nomadische Logik, der zufolge Nomaden niemals obdachlos sein können, weil ihr Zuhause immer mit ihnen reist. Darüber hinaus bemäntelt die Ideologie der Fabel das rassische Kapitalozän, das durch die Ausbeutung von Arbeit und Natur als Werkzeuge der Assimilierung die Umwandlung von Weideland in unhaltbare Lebensräume und Industrien ermöglicht hat. So arbeiten Ex-Nomad*innen in großem Umfang in arbeitsintensiven Sektoren wie der mineralgewinnenden Industrie, dem Anbau/Pflanzung und militärischen Diensten, weil sie sich dadurch finanzielle Unabhängigkeit und Integration in eine sesshafte Gesellschaft versprechen.

Dies ist der toxische Rahmen, in dem sich die Kämpfe von noch Nicht-Sesshaften, ethnischen Minderheiten und indigenen Gemeinschaften abspielen. Die letzten nomadischen Völker Süd-, Zentral- und Nordasiens leben heute in Jurten, Tipis oder Holzhütten und nutzen moderne Technologien, um Komfort und Modernität zu erreichen. Diese Techno-Nomaden können mobil und autonom sein, mit ununterbrochenen Verbindungen zur menschlichen und nichtmenschlichen Welt. Die nomadische Landmobilität basiert auf einer geschickten Wahrnehmung der Ökosphäre und ihrer Ressourcen. So gründen nomadische Völker ihre Ehrfurcht (vor bewohnbarem Land) auf ihr Wissen um die Kommunikation zwischen den Arten und eine indigene Wahrnehmung der tiefen Zeit.

Das Nebeneinander von nomadischen und sesshaften Gesellschaften konnte durch die herrschende Klasse instrumentalisiert werden: Erfolgreich konnten immer wieder Ängste vor der „Unmoderne“ geschürt und Assimilationspolitik, Monokulturwirtschaft, Umweltrassismus und neokoloniale Probleme gefördert werden. Wenn wir uns mit den Konflikten der letzten nomadischen oder ehemals nomadischen Völker Chinas, der Mongolei und Russlands befassen, müssen wir ihre komplexe Geschichte der Sesshaftwerdung und Kolonisierung durch kommunistische und sozialistische Bewegungen im letzten Jahrhundert verstehen.

Landverlust und kulturelle Assimilierung in der Inneren Mongolei

Die Innere Mongolei, eine 1947 vom kommunistischen Regime Chinas eingerichtete autonome Region, blickt auf eine lange Geschichte von Konflikten zwischen nomadischen Hirten und sesshaften Bäuer*innen zurück. In diesem Konflikt ist die Enteignung und Einfriedung von Land eng mit kultureller Assimilation verbunden, wie nach der Besatzung durch Japan im Zweiten Weltkrieg deutlich wurde, als die Region zu einem Testgebiet für die Integration von Han-Chinesen und Mongolen wurde.

Die Innere Mongolei ist nicht nur für ihre Viehzucht bekannt, sondern auch für ihre riesigen Kohlevorkommen. Im Jahr 2011 führte die Ausweitung einer Kohlemine auf Weideland zu Protesten und Demonstrationen der Hirten in Bayannuur. Die Frustration und die Angst, ihr Land zu verlieren, motivierten auch 2020 Proteste, als die chinesische Regierung plante, das Weideland in Bairin Left Banner in ein Naturschutzprojekt umzuwandeln.

Später im selben Jahr wurde im Rahmen der „Zweisprachigen Erziehung der zweiten Generation“ der Mongolischunterricht an den Schulen der Inneren Mongolei verboten. Nach Angaben des südmongolischen Menschenrechtsinformationszentrums wird das Verbot im September dieses Jahres in Kraft treten; es verbietet den Lehrer*innen auch die Teilnahme an und die Organisation von Unterricht. Die systematische Assimilierung nomadischer, indigener und ethnischer Minderheiten durch die Auslöschung von Ökosystem und Kultur, vor allem von Sprache und Religion, findet nicht nur in der Inneren Mongolei statt, sondern auch in Gemeinschaften wie den Uiguren (und anderen muslimischen Gemeinschaften) und den Tibetern.

Die Bodendegradation in der Inneren Mongolei ist in erster Linie auf den übermäßigen Ressourcenverbrauch zurückzuführen, der durch immer exzessivere Produktionszyklen verursacht wurde, begleitet von Bevölkerungszuwachs und der Abkehr von der nomadischen Viehwirtschaft. Andererseits hat die Innere Mongolei laut der Bewertung der Landdegradation zwischen 2000 und 2020 eine Netto-Landdegradation von Null erreicht. Untersuchungen über die Auswirkungen des vom Wind verwehten Staubs zeigen, dass die Innere Mongolei über ein Ökosystem verfügt, das die Ausbreitung von Staub verhindert und als ökologische Barriere gegen die Bodendegradation wirkt.

Derweil haben Überkultivierung, Bergbau und Industrialisierung die nomadischen Völker in eine Wettbewerbswirtschaft gedrängt, in der der niedrigste Preis das Rennen macht. Die traditionell abgelegenen Minderheitengruppen sind heute in städtischen Gebieten konzentriert, wo sie aufgrund von Umweltrassismus und erzwungener Integration eine Monowirtschaft betreiben.

Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in der postkolonialen Mongolei

Nach dem Ende der Kolonisierung durch die Qing-Dynastie im Jahr 1911 kam die Äußere Mongolei bis zur demokratischen Revolution von 1990 unter sowjetische Kontrolle. Diese friedliche Revolution führte dazu, dass die Mongolei ein Mehrparteiensystem einführte, das die Beteiligung mehrerer politischer Parteien an der Regierung des Landes ermöglichte.

Das unerbittliche Streben nach Akkumulation durch die Oberschicht und die Mächtigen hat jedoch zu einer korrupten Wirtschaft und zur Ausbeutung derjenigen aus der Arbeiter*innenklasse geführt, die von Lohn zu Lohn oder von Schulden zu Schulden leben. Die Produktion von Raum bringt diese Ungleichheiten zum Ausdruck und verschärft sie noch: Während die ländlichen Gebiete außerhalb der Hauptstadt immer noch unterentwickelt sind, abgesehen von einigen wenigen Shangri-La-artigen Gemeinden, die sich um die Rohstoffsektoren herum ansiedeln, ist die Hauptstadt selbst eine neoliberale Mischung aus Jurtensiedlungen und hyperurbanen Gebieten, die einem „umgedrehten Topf“ ähnelt (ein mongolisches Sprichwort, das bedeutet, dass man in der Hölle unter einem riesigen Topf festsitzt).

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Im Dezember 2023 kam es in Ulaanbaatar (Mongolei) zu Protesten gegen die so genannte „Kohlemafia“, die 380.000 Tonnen Kohle für den Export nach China gestohlen hatte. Die Menschen brachten ihre Frustration mit gewalttätigen Ausbrüchen, friedlichen Demonstrationen und Sitzstreiks bei minus 25-30 Grad zum Ausdruck. Sie kritisierten die Staatsbeamt*innen und gaben ihnen die Schuld an der gestohlenen Zukunft der Mongolei.

Während die Menschen in der Mongolei geduldig auf die Verfolgung der Kohlediebe warten, stellt sich eine dringende Frage: Wen machen wir für die Nutzung unethischer fossiler Brennstoffe zur Energieversorgung der größten Umweltverschmutzer*innen der Welt verantwortlich? Im Rahmen des Engagements der Mongolei für die Ziele der nachhaltigen Entwicklung der Vereinten Nationen will das Land bis 2030 eine Milliarde Bäume in von Wüstenbildung betroffenen Regionen pflanzen. Dank der Spende der Unternehmen des Bergbaukonglomerats im Süden der Mongolei sind die Menschen gespannt auf die neuen Beschäftigungsmöglichkeiten, die das Milliarden-Baum-Projekt mit sich bringen wird.

Einige Gemeinschaften, die sich an den Rhythmus ihrer Umgebung angepasst haben, sehen sich jedoch mit den unbotmäßigen Anforderungen des rassischen Kapitalismus und dem Fehlen einer nachhaltigen Infrastruktur konfrontiert. Auf der Suche nach Stabilität und einem sicheren Einkommen sehen sich viele Ex-Nomad*innen mit der harten Realität der Armut oder sogar einer Rückkehr in die Zeiten der Kolonialherrschaft konfrontiert. Nomadisches Wissen und Traditionen werden als unvereinbar mit einem System angesehen, das Arbeit und Ressourcen in unhaltbarem Maße ausbeutet. Der Zusammenprall zwischen nomadischer Existenz und den Erfordernissen des rassischen Kapitalismus wirft Fragen nach der Vereinbarkeit verschiedener Lebensweisen und der Dringlichkeit des Widerstands gegen ein einzigartiges Arbeits- und Produktivitätsmodell auf.

Koloniales Erbe und Umweltkämpfe in Nordasien

Russlands Kolonisierung Nordasiens nahm im 19. und 20. Jahrhundert ihre endgültige Form an. Nomadische Stämme, die von Jagd, Viehzucht und Fischfang lebten, konnten nun mit Hilfe der Transsibirischen Eisenbahn ihren Übergang zu einer sesshaften Lebensweise durch Bergbau, Metallurgie, Maschinenbau, Holzfällerei und Landwirtschaft finanzieren. Es wurden Institutionen geschaffen, um die lokale Kultur, den Glauben und die Heilpraktiken auszurotten. Gleichzeitig schuf die russische Regierung Schutzgebiete für die indigenen Völker. Die nicht nachhaltigen Methoden der Klimaproduktion führen jedoch zu Umweltkatastrophen, die alle Ökosysteme rund um Nordasien und die arktischen Regionen betreffen.

Die teilweise militärische Mobilisierung der russischen Bevölkerung im Jahr 2022 erforderte hohe Einberufungsquoten in den Reihen ethnischer Minderheiten wie den türkischen, mongolischen, paläo-sibirischen und muslimischen Gemeinschaften. Die autonomen Regionen Russlands setzen sich aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammen, darunter nomadische (halbnomadische) und indigene Völker. In diesen Regionen und Krais gibt es sesshafte Siedlungen, die ein Überbleibsel der sowjetischen Moderne sind. In Gebieten wie Dagestan, Jakutien und Burjatien hat die Kombination aus Kriminalisierung von Kriegsgegnern und wirtschaftlicher Instabilität dazu geführt, dass die meisten Männer vor der Wahl stehen, entweder zu fliehen oder sich dem Militär anzuschließen, um an den laufenden Kriegsanstrengungen teilzunehmen. Diese einheimischen Männer Russlands und ihre Arbeitskraft werden im Zusammenhang mit dem Kriegsdienst geschätzt oder sogar als möglicher Sündenbock benutzt, wenn ein Kriegsverbrechen zu verantworten ist. Die heutigen rassistischen Regierungen und Institutionen, die rassifizierte und oft marginalisierte Gruppen in Kriegen einsetzen, erinnern uns nicht zuletzt daran, dass während des Ersten (und später des Zweiten) Weltkriegs Afroamerikaner im Militär dienten, um als Musterbürger in die Gesellschaft integriert zu werden.

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Es liegt auf der Hand, dass diese Art des Bevölkerungsmanagements auch eng mit der Enteignung und Einhegung von Land verbunden ist – und Russlands aktueller Angriffskrieg erinnert nur allzu deutlich an den Wert, den Land (hier als „Territorium“ valorisiert) seit der Wirtschafts-, Finanz- und Nahrungsmittelkrise von 2007 erlangt hat. Die Quintessenz ist, dass das heutige Wirtschaftswachstum eine homogene Zivilisation begünstigt, die einen immensen Wert auf Arbeitskräfte legt, die bereit sind, sich und/oder ihr Land zu opfern.

Wert aller Wesen, Dinge und Entitäten

Staatliche Rohstoffkonzerne üben einen großen Einfluss auf die so genannten ländlichen Gebiete Nordasiens aus. Eine Verwaltung, die den Wert von unbebautem Land missachtet, hat die Anhäufung von Macht auf Kosten ethnischer Minderheiten, nomadischer Gruppen und indigener Arbeiter*innen durchgesetzt und damit deren Rechte untergraben und ihre Lebensweise bedroht. Untersuchungen am Bolshoe-Toko-See haben ergeben, dass die Spuren der industriellen Tätigkeit selbst in den entlegensten Gebieten Russlands zu finden sind. Die durch kapitalistische Aktivitäten verursachte Umweltzerstörung beeinträchtigt die lokalen Gemeinschaften, die biologische Vielfalt und die langfristige Nachhaltigkeit des Landes. Ohne einheimische Praktiken der Rekultivierung und des ethischen Konsums werden die biotischen und abiotischen Wechselwirkungen irreparabel gestört, sowohl in der menschlichen Zeit als auch in der Zeit der Globalisierung.

Das Streben nach Wirtschaftswachstum, das oft auf Kosten von Randgruppen und der Umwelt geht, ist ein zentrales Politkum, das die zerstörerischen Folgen der Globalisierung und die Erosion kultureller Identitäten aufzeigt, die immer mit alternativen Arbeitsmodellen und dem Umgang mit der Umwelt verbunden sind. Dieser Prozess der Zerstörung und Erosion wird als unvermeidlich dargestellt, auch aufgrund imaginärer äußerer Bedrohungen. Die Geschichte „Die drei kleinen Schweinchen“ ist ein Beispiel für diese Tendenz. Der aggressive Wolf ist das Tier, das eine Gefahr von außen darstellt, nicht von innen. Und wir sollen das instinktive Bedürfnis verspüren, uns vor diesem räuberischen Außenseiter zu schützen, was den Wunsch widerspiegelt, Sicherheit und Schutz in unserem Zuhause zu finden. Aber leben heutzutage nicht sogar Vögel in ihren Vogelhäusern, weil sie ihr Territorium verloren haben und die Städte immer weiter wachsen?

In ehemaligen Nomadenländern und -gemeinschaften betonen kritische politische Stimmen, wie wichtig es ist, alternative Modelle zu begrüßen, die indigenes Wissen, ökologische Nachhaltigkeit, ethisches Ressourcenmanagement und gesellige Arbeitsweisen in den Vordergrund stellen. Indem wir indigene Praktiken der gegenseitigen Fürsorge, der Symbiose und der Regeneration zusammenführen, können wir eine „gaianische“ Ethik der nachhaltigen Arbeit fördern: eine, die die Verbundenheit verschiedener Welten anerkennt und wertschätzt. Um dies zu erreichen, müssen wir transnationale Allianzen bilden, die das vorherrschende Paradigma der Moderne in Frage stellen und die Folgen einer fremdenfeindlichen Politik angehen, die viele Gemeinschaften in eine Grenzsituation gebracht hat. Im unerbittlichen Streben nach Hypermodernität ist es wichtig, innezuhalten und die Integration indigener Perspektiven zu berücksichtigen. Aus einer solchen Haltung heraus können wir uns bemühen, eine neue Beziehung zu unserem Planeten zu entwickeln, indem wir den Wert aller Wesen, Dinge und Entitäten anerkennen und lernen wertzuschätzen. Dies ist eine Aufgabe, die wir alle bewältigen müssen. Denn, wenn wir im Zuge dessen unsere Rolle als Arbeiter*innen neu bewerten, ebnet dies den Weg für eine nachhaltige Klimaproduktion.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist ein Beitrag zur Textreihe „Allied Grounds“ der Berliner Gazette; die deutsche Version finden Sie hier. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen „Allied Grounds“-Website. Schauen Sie mal rein: https://allied-grounds.berlinergazette.de

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Oben       —       Chanten-Mädchen sammeln Beeren; früher nur zum eigenen Verzehr, heute auch zum direkten Verkauf.

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Juni 2023

„Krieg und Frieden“
Einreiseverbot in Georgien: Franz Kafka lässt grüßen

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Aus Jerewan Filipp Dzyadko

Nur noch zwei Schritte, dann wäre ich zu Hause, bei meiner Familie. Doch der Grenzer sagt: „Ihnen wird die Einreise verweigert.“ Ohne Angabe von Gründen. Herzlich willkommen, nicht zu Hause, sondern in der Welt von Franz Kafka.

Georgien ist eines der Hauptziele russischer Migranten. Nach dem 24. Februar 2022 kamen überstürzt Zehntausende, die Putins Krieg nicht unterstützen. Auch ich habe mit meiner Familie ein Jahr lang in Georgien gelebt. Und erlebte dann für 24 Stunden so etwas wie der Protagonist im Spielberg-Film „Terminal“, gespielt von Tom Hanks. Als Bürger einer osteuropäischen Diktatur ist dieser gezwungen, auf einem Flughafen zu leben. Er wird dort als „unerwünschtes Element“ bezeichnet.

Ich kam von einer Dienstreise aus Berlin zurück. Bei der Passkontrolle in Tbilissi hieß es, es gäbe einen „Systemfehler“. Das Foto aus meinem Pass wurde irgendwem per WhatsApp geschickt. 23 Stunden verbrachte ich daraufhin in einer Arrestzelle, um dann zu hören: „Einreise verweigert“. Immer öfter können Menschen aus Russland nicht mehr nach Georgien einreisen. Vielleicht möchte das Land nicht als Hort von Putin-Gegnern gelten. Vielleicht liegen dort Listen des russischen Geheimdienstes aus. Oder die Regierung der Kaukasusrepublik weiß schlicht nicht, wie sie mit der neuen Realität umgehen soll.

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Mir wurde gleich am Flughafen vorgeschlagen, ich solle mir doch ein Flugticket „irgendwohin“ kaufen. Ich kaufte dann eins ins benachbarte Armenien, um in der Nähe meiner Familie zu sein, die in Georgien blieb. Und ich dachte: Wo sollen wir jetzt eigentlich neu anfangen? Meine Frau, meine Tochter, die das Schuljahr in ihrer georgischen Schule beenden muss.

Warum ich nicht einreisen durfte? Jemand meinte, es sei vielleicht wegen meines Romans „Radio Martyn“. Darin geht es um einen oppositionellen Piratensender und die Giganten, die Putins Welt und seine Propaganda zerstören. Eine andere Vermutung: Vor zehn Jahren war ich aktiv im „Koordinierungsrat der Opposition“. Oder: Weil mein Bruder Chefredakteur des oppositionellen russischen TV-Senders Doshd ist. Was immer auch die Erklärung sein mag, meine Einstellung zu Georgien ändert das nicht: Ich werde das Land weiter lieben. Denn ein Staat und die Menschen, die darin lieben, sind zwei unterschiedliche Dinge.

Quelle        :        TAZ-online         >>>>>     weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Der Westen wie der Osten

Erstellt von DL-Redaktion am 18. Juni 2023

Der westliche Doppelstandard rechtfertigt Russlands Krieg nicht

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Quelle      :        INFOsperber CH.

Von      :     Andreas Zumach / 

In Leserspalten wird die Abspaltung des Kosovo zitiert, um die Abspaltung der Krim und des Donbas zu rechtfertigen.

Im Kosovo habe es im Gegensatz zum Donbas nicht einmal eine Volksabstimmung gegeben, wird gesagt. Das ist richtig. Doch einige Darstellungen und Schlussfolgerungen sind falsch.

Der Gewaltkonflikt, der seit 2014 im Donbas stattfindet, ist ein Bürgerkrieg zwischen den ukrainischen Regierungstruppen und russisch-stämmigen Milizen und Sezessionisten. Russland unterstützt sie mit Waffen, Munition und Söldnern.

Die Beobachterberichte der OSZE belegen, dass bis zur russischen Invasion beide Seiten etwa gleich stark beteiligt waren an kriegerischer Gewalt, Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht sowie am Nichteinhalten beziehungsweise Nichtumsetzen der Abkommen Minsk 1+2. Auch die Zahl der Opfer war laut OSZE auf beiden Seiten etwa gleich hoch.

Es wird immer wieder kolportiert, der Internationale Gerichtshof in den Haag (IGH) habe im Jahr 2010 «die Unabhängigkeit Kosovos bestätigt». Zwar stellten dies viele westliche Medien und Regierungen damals so dar. Doch der IGH hatte sich überhaupt nicht zum völkerrechtlichen Status des Kosovo geäussert, sondern lediglich auf Bitten der UNO-Generalversammlung in einem Rechtsgutachten, das völkerrechtlich nicht verbindlich ist, festgestellt, dass «die einseitige Unabhängigkeitserklärung durch die Provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung des Kosovo» nicht gegen das Völkerrecht und gegen die Resolution 1244 des UNO-Sicherheitsrates verstosse (Siehe LTO: «Was der IGH wirklich entschied»).

Der IGH hat es unterlassen zu entscheiden, wie weit das in der UNO-Charta enthaltene Recht auf Selbstbestimmung der Völker geht und unter welchen Bedingungen ein Recht auf Sezession besteht.

Es bleibt deshalb im Fall Kosovo offen, ob es sich völkerrechtlich um einen unabhängigen Staat handelt. Eine einseitige, gegen nationales Recht verstossende Unabhängigkeitserklärung wie im Kosovo oder auf der Krim oder im Donbas hat laut diesem Gutachten nur eine innerstaatliche Bedeutung, aber vorerst keine völkerrechtliche Wirkung.

Lediglich 108 der 193 UNO-Mitglieder haben eine Eigenstaatlichkeit des Kosovo anerkannt. Auch vier EU-Staaten, nämlich Spanien, Griechenland Zypern und Malta haben das bis heute nicht gemacht.

Anders als es die NATO-Staaten dem Kosovo zubilligten, lehnen sie ein Selbstbestimmungsrecht der russischsprachigen Minderheit in der Ukraine ab und entsprechend auch ein Recht auf eine Sezession.

Einmischung von Drittstaaten in Sezessionsbestrebungen

Für Drittstaaten, die sich in den Prozess einer Sezession einmischen, sieht es völkerrechtlich wie folgt aus.

Im Fall von Kosovo verstiessen Nato-Staaten gegen das Völkerrecht, als sie Serbien ohne Beschluss des UN-Sicherheitsrats bombardierten. Über 12’000 Menschen kamen dabei ums Leben. Wirtschaftliche Sanktionen und andere Massnahmen gegen die völkerrechtswidrig handelnden Nato-Staaten wären legitim gewesen. Doch kein Land hat solche Massnahmen ergriffen.

Zwischen den Fällen NATO/Serbien/Kosovo ab 1998 und Russland/Ukraine/Donbass ab 2014 kommen eine Reihe spezifischer Unterschiede hinzu, die einer Analogie entgegenstehen.

Russland hatte und hat keine Schutzverantwortung für die russischstämmigen oder -sprachigen Bevölkerungen im Donbas, auf der Krim oder sonstwo in der Ukraine. Deshalb verstösst Russland gegen das Völkerrecht sowohl mit dem seit Februar 2022 geführten Angriffskrieg gegen die Ukraine als auch mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 und mit der Unterstützung der russischstämmigen Milizen und Sezessionisten im Donbas.

Richtig ist, dass der seit Februar 2022 geführte russische Krieg gegen die Ukraine kein Präzedenzfall war für die Anwendung militärischer Gewalt in Europa nach 1990 sowie für die gewaltsame Veränderung von Grenzen – wie von westlichen Medien und PolitikerInnen fast unisono behauptet. Der Präzedenzfall war vielmehr der NATO-Luftkrieg gegen Serbien im Jahr 1998 und die Abspaltung des Kosovo.

Der doppelte Standard des Westens ist keine Rechtfertigung für Russland

Autoren auf Infosperber haben über die Kritik an diesem NATO-Luftkrieg gegen Serbien sowie an anderen völkerrechtswidrigen Kriegen und Kriegsverbrechen westlicher Staaten wie etwa in Irak oder Afghanistan immer wieder informiert – ebenso wie über die Kritik an der Selektivität und den doppelten Standards, mit denen westliche Regierungen die seit 1945/48 universell gültigen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen anwenden (siehe weiterführende Informationen).

Doch alle notwendige Information und Kritik zu den Völkerrechtsverstössen und Kriegsverbrechen westlicher Staaten darf nicht dazu führen, die Verstösse und Verbrechen Russlands oder anderer Länder zu relativieren, zu verharmlosen, zu rechtfertigen oder gar zu leugnen. Wer das tut, ist mitverantwortlich für die Schwächung der universellen Normen.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Oben      —     Straßenszene in Belgrad (1999)

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Unten     —        Picture: <a href=“http://stephan-roehl.de/“ rel=“nofollow“>Stephan Röhl</a>

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Kolumne FERNSICHT Israel

Erstellt von DL-Redaktion am 17. Juni 2023

Verhängnisvoller Bruderkuss unter Erzfeinden

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Von Hagan Dagan

Im Nahen Osten wird es nicht langweilig. Während sich die Augen der Welt auf das Drama in der Ukraine richten, verändert sich zwischen dem Mittelmeer und dem Persischen Golf die geopolitische Landkarte.

Iran entwickelt sich Schritt für Schritt zur Atommacht. Aktuell sieht es nicht so aus, als würde das noch jemand verhindern können. Die zweifellos beeindruckenden Operationen des Mossad konnten die iranische Kernentwicklung allenfalls verzögern. Ähnlich auch die Kontrollen der Internationalen Atomenergie-Organisation.

ExpertInnen gehen davon aus, dass Iran in erschreckend kurzer Zeit in der Lage sein wird, eine Atombombe herzustellen. Die USA und Europa streben nach einer Wiederaufnahme der Atomvereinbarungen, und offenbar gibt es an dieser Front einen deutlichen Fortschritt. Wobei Staatsoberhaupt Ajatollah Ali Chamenei jüngst bekanntgab, dass selbst eine Wiederaufnahme der Verhandlungen Iran nicht daran hindern werde, das Atomforschungsprogramm fortzusetzen. Teheran könnte so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: das Ende der wirtschaftlichen Sanktionen und trotzdem Fortschritte auf dem Weg zur Atombombe.

Überraschend kommt das jüngste Kooperationsabkommen zwischen Teheran und Riad. Saudi-Arabien und Iran sind erbitterte Feinde, die um die Vorherrschaft und Einfluss im Nahen Osten ringen. Der Krieg im Jemen – in dem Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi gegen die schiitischen Huthi-Rebellen stützten, die praktisch als ein verlängerter Arm Teherans fungieren – gehört dazu. Saudi-Arabien verhedderte sich in dem Krieg, der Riad Milliarden Dollar kostete und der schwere Schäden unter anderem an der Ölinfrastruktur hinterließ, ohne dass es gelang, die verhältnismäßig überschaubaren gegnerischen Truppen zu schlagen. Ein klares Schwächezeichen. Das andauernde Blutvergießen, gepaart mit der kalten Schulter, die die USA – eigentlich ein Verbündeter – Riad zeigten, brachte den energischen Regierungschef, Kronprinz Mohammed bin ­Salman, zu einer dramatischen Kehrtwende: Er reichte dem Erzfeind die Hand zum Frieden. Inzwischen flirtet bin Salman auch mit den Chinesen. Mit Verpflichtungen zu tra­di­tio­nel­len Bündnissen nimmt es der Kronprinz offensichtlich nicht so genau.

Was den Iran betrifft, so mögen dem Kooperationsabkommen ein langfristiges Kalkül zugrunde liegen oder politische Intrigen. Vermutlich aber war es reiner Pragmatismus. Iran agiert hier nicht aus Verstocktheit und Eifersucht, sondern als ein Land, das Chancen ergreift. Die internationalen Sanktionen haben der Wirtschaft Irans schweren Schaden zugefügt, dazu kommen die inländischen Proteste. Die Annäherung an Saudi-Arabien und in der Folge vielleicht an weitere Golfstaaten stärkt das Land und führt zu mehr Stabilität. Und sie ist eine sicherere Karte, als sich im Krieg gegen die Ukraine an der Seite Russlands zu positionieren.

Quelle         :        TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Kolumne-Fernsicht-Japan

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Juni 2023

Die Abtreibungspille in Japan ist nur ein Teilerfolg

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Von  : Priyanka Borpujari

Welches Land ist wirklich fortschrittlich, wenn es darum geht, Frauen zu erlauben, über ihren eigenen Körper zu entscheiden? Dass ich hier von „erlauben“ spreche, sagt ja schon alles:

In Japan wurde nun, nach jahrzehntelangen Kampagnen, jetzt ein Medikament zugelassen, das den Abbruch einer Schwangerschaft in frühem Stadium herbeiführt. Japan ist eines der wirtschaftlich fortgeschrittensten Länder der Erde. Wenn es um sichere Methoden zur Beendigung einer Schwangerschaft geht, hinkt es aber ziemlich hinterher. Bisher sind dort nur Abtreibungen mittels gynäkologischem Eingriff erlaubt, und das auch nur, wenn der Ehemann oder Partner zustimmt.

Die USA drohen ja schon länger mit dem Streit um das Medikament Mifepriston weiter in viktorianische Verhältnisse zurückzudriften. Und auch in Japan können die Pillen mit Mifepriston und Misoprostol erst nach einer ärztlichen Konsultation erworben und eingenommen werden, sie kosten umgerechnet 570 Euro. Ein gynäkologischer Eingriff kostet mindestens ebenso viel. Und, wenig überraschend, die Krankenkasse in Japan übernimmt die Kosten nicht.

Doch selbst bis hierher war es ein mühsamer Weg: 12.000 Stellungnahmen wurden online gesammelt, bevor das Gesundheitsministerium aktiv wurde. Und auch jetzt ist noch nicht klar, ab wann die Abtreibungspille verfügbar sein wird. Das japanische Gesetz zu Schwangerschaften verlangt, dass der Partner einer Abtreibung zustimmen muss, es sei denn, er ist unbekannt oder kann seine Haltung nicht mitteilen. Das gilt auch bei einem medikamentösen Abbruch. Selbst unverheiratete Frauen müssen die Zustimmung eines Mannes vorweisen – so patriarchal ist die japanische Gesellschaft geprägt.

In Japan fordern viele auch einen besseren Zugang zu einer Verhütung durch die „Pille danach“. Vor ihrer Verabreichung ist bisher die Zustimmung eines Arztes nötig, und sie muss vor den Augen eines Apothekers eingenommen werden.

Es gibt bis heute kaum ein Land, in dem nicht versucht wird, Kontrolle über die Körper von Frauen und ihre Reproduktionsfähigkeit auszuüben. In Irland, wo ich lebe, wurden Schwangerschaftsabbrüche erst vor fünf Jahren gesetzlich zugelassen. Protestiert wird aber weiter: Weil sie nur bis 12 Wochen nach der Empfängnis erlaubt sind. Außerdem müssen drei Tage zwischen der Genehmigung durch einen Arzt und dem Eingriff selbst verstreichen. Im Notfall müssen Frauen für eine Abtreibung weiterhin per Flugzeug in ein anderes Land reisen.

Andererseits ist in Indien, dem Land meiner Geburt, Abtreibung bis zur 20. Schwangerschaftswoche erlaubt, was unter besonderen Umständen bis zur 24. Woche verlängert werden kann. Doch noch ist nicht dafür gesorgt, dass alle Frauen ausreichend über Wege und Mittel informiert sind, um eine Schwangerschaft abbrechen zu können.

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Wahlen in der Türkei

Erstellt von DL-Redaktion am 1. Juni 2023

Urnengang im Kartenhaus

Ein Debattenbeitrag von Cem-Odos Güler

Erdoğan hat ein fragiles Finanzsystem mit starken Abhängigkeiten geschaffen. Die wirtschaftliche Dauerkrise erhöht auch den Druck auf die Demokratie.

Recep Tayyip Erdoğan dürfte in einem Punkt richtiger liegen, als er selbst denken mag. Als der türkische Präsident in der Nacht zu Montag seinen Wahlsieg verkündete, sagte er, seine Mitbürger hätten bei der Abstimmung „ihren Willen an den Urnen verteidigt“. Immer wieder hat er in seiner Kampagne den demokratischen Willen der Türkei betont, und man muss sagen, dass er recht behalten hat – entgegen seiner eigenen Politik, die Opposition im Land systematisch zu schwächen.

Es scheint paradox: In der Türkei wählt eine Mehrheit erneut Erdoğan, einen religiös-nationalistischen Präsidenten, der das Land zuletzt in eine massive Wirtschaftskrise geführt hat. Der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu kämpft sich auf 48 Prozent der Stimmen. Das ist angesichts der geschwächten Rechtsstaatlichkeit in der Türkei und einer massiven Denunziationskampagne gegen ihn ein Erfolg.

Genau hierin zeigt sich auch der demokratische Wille in der Türkei, den Erdoğan eigentlich meinen sollte: Trotz ihrer systematischen Benachteiligung ist die Opposition der Regierung bei einer Wahl so gefährlich geworden wie in den vergangenen 20 Jahren nicht. Das ist angesichts der hohen Erwartungen, die durch Prognosen über einen Sieg der Opposition beflügelt wurden, zwar ein schwacher Trost für die Menschen in der Türkei. Doch die demokratischen Institu­tio­nen im Land haben sich als bemerkenswert resilient erwiesen.

Das zeigt sich an der hohen Wahlbeteiligung mit über 86 Prozent am 14. Mai und noch 84 Prozent bei der Stichwahl am Sonntag. Die Be­ob­ach­te­r*in­nen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bezeichneten die Wahlen als „gut organisiert“. Kritik äußerte die Organisation dagegen wiederholt an den ungleichen Wettbewerbsbedingungen und „einem ungerechtfertigten Vorteil des Amtsinhabers“ etwa wegen einer klaren Benachteiligung der Opposition in den Medien des Landes und „den anhaltenden Beschränkungen der Meinungsfreiheit“.

Wahlbetrug unwahrscheinlich

Trotzdem haben auch die Oppositionsparteien bis zuletzt keinen Einspruch gegen das Wahl­ergebnis erhoben. Die CHP von Kemal Kılıçdaroğlu hatte nach eigenen Angaben anderthalb Jahre an der Wahlvorbereitung gearbeitet und dabei auch die parteiinterne Wahlbeobachtungsmission massiv verstärkt. Im Vorfeld der Stichwahlen bezeichnete die CHP ihre Anstrengungen diesbezüglich als „sehr erfolgreich“. Man muss davon ausgehen, dass die Türkei wirklich so abgestimmt hat, wie es das Ergebnis zeigt.

Der Alltag in der Türkei wird derzeit von einer massiven Wirtschaftskrise bestimmt, für deren Fortgang viele Menschen im Land Erdoğan verantwortlich machen, darunter durchaus auch seine eigenen Wähler*innen. Nach seiner Wiederwahl verlor die türkische Lira erneut an Kraft: Der Wechselkurs zum Euro liegt bei inzwischen etwa 22 zu 1, noch 2017 waren 4 Lira etwa 1 Euro wert.

Wer Schulden im Ausland hat, und das trifft auf die privatwirtschaftlichen Unternehmen in der Türkei in großem Maße zu, muss diese Verbindlichkeiten immer teurer bezahlen. Mit schuldenfinanzierten Ausgaben wird die Wirtschaftsleistung weiter aufrechterhalten. Erdoğan übt dafür auch Druck auf die Zentralbank aus, damit sie den Leitzins niedrig hält und Unternehmen günstige Kredite aufnehmen können.

Die Auswirkungen dieser Geldpolitik sind in der Türkei überall zu spüren: an dem Run auf Sachwerte, an den massiven Preissteigerungen bei Immobilien, an den stark gestiegenen Lebensmittelpreisen. Die Inflation vernichtet die Kaufkraft der Menschen, dennoch wird die Konjunktur des Landes durch ein massives Kreditprogramm weiter aufgeheizt. Die National-Religiösen haben in der Türkei ein fragiles Kartenhaus geschaffen, das bei dem leisesten Stoß in sich zusammenzufallen droht.

Erdoğan hat sich unentbehrlich gemacht

Was passiert, wenn die Nachfrage vollends einbricht? Was passiert, wenn die Vereinigten Arabischen Emirate als einer der größten Gläubiger der Türkei ihre Kreditvergabe überdenken? Erdoğan hat sich in dieser fragilen Wirtschaftsordnung unentbehrlich gemacht: Er verteilt die auf Pump finanzierten Konjunkturgewinne in Form von Mindestlohnsteigerungen und Rentenerhöhungen. Diese Geldspritzen verpuffen wegen der Inflationsrate zwar direkt wieder, schaffen aber kurzzeitige Linderungen, die besonders vor den Wahlen auf Zuspruch stoßen.

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Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte   

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Die ungleichen Partner

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Mai 2023

Der Krieg hat China und Russland zusammenrücken lassen.

VON    :       SUSANNE WEIGELIN-SCHWIEDRZIK

Doch unter der Oberfläche zeigen sich grundverschiedene Weltbilder. Europa sollte die strategischen Chancen nutzen. In der Volksrepublik China wird interessengeleitet entschieden. Radikale Kehrtwendungen sind jederzeit möglich.

Am 10. und 11. Mai 2023 fanden in Wien unter strenger Geheimhaltung Gespräche zwischen dem amerikanischen Sicherheitsberater Jake Sullivan und dem für internationale Fragen zuständigen Mitglied des Politbüros der KP Chinas, Wang Yi, statt. Sullivan und Wang Yi redeten an diesen beiden Tagen insgesamt über acht Stunden miteinander. Chinesischen Berichten zufolge hat Wang Yi das Angebot wiederholt, ein Entgleisen der Konkurrenz zwischen den beiden größten Wirtschaftsmächten in einen offenen Konflikt zu vermeiden – anknüpfend an die zwischen Xi Jinping und Präsident Biden getroffenen Vereinbarungen in Bali.

Seit dem Zwischenfall um den „Spionageballon“ im Februar 2023 waren die Gesprächskanäle zwischen den USA und der Volksrepublik China eingefroren. Die chinesische Seite betrachtete den Abschuss des Ballons als völlig unangemessen: Er zeige, dass Washington in einer Krisensituation nicht bereit sei, mit China einen Weg zu beschreiten, der rational, angemessen und lösungsorientiert sei. Mehrere Versuche der amerikanischen Seite, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, scheiterten, bis schließlich Anfang Mai der amerikanische Botschafter in Peking von Außenminister Qin Gang empfangen wurde.

Peking lässt Washington zappeln, denn in Peking meint man zu wissen, warum US-Außenminister Antony Blinken so dringend mit der chinesischen Seite verhandeln möchte: China soll helfen, die große Verlegenheit, in der die Biden-Regierung steckt, zumindest abzuschwächen, auf keinen Fall aber zu verschärfen. Es ist die lodernde Finanzkrise in den USA und – damit verbunden – das schwindende internationale Vertrauen in den US-Dollar als Leitwährung.

In Peking weiß man, dass man hier einen wichtigen Hebel in der Hand hält. Wenn man sich nur genügend Zeit lässt, werden die USA nicht anders können, als ihre Politik gegenüber China zu ändern. Die Tatsache, dass seit geraumer Zeit allenthalben US-amerikanische Staatsanleihen verkauft werden, bereitet der Regierung Biden erhebliche Probleme und erschüttert das amerikanische Finanzsystem. Sollte China aus seinen immer noch großen Beständen weiter amerikanische Staatsanleihen verkaufen und seine Dollarreserven schneller als bisher abstoßen, würde dies die Krise in den USA erheblich verschärfen und gleichzeitig die schwelende Vertrauenskrise gegenüber dem Dollar als internationale Leitwährung vertiefen. Andersherum würde ein Verzicht auf weitere Veräußerungen von US-Staatsanleihen oder der Ankauf weiterer Staatsanleihen die Situation in den USA entspannen. Blinken wollte deshalb bereits im Februar nach China reisen, aber seit dem Abschuss des chinesischen Ballons klopft er vergeblich an die Türen des chinesischen Außenministeriums.

File:The President of Russia arrived in China on a state visit. 02.jpg

In der Zwischenzeit hat sich Peking an Moskau angenähert. Chinas Staatsführung sieht sich offenbar gezwungen, von der Wunschvorstellung einer einvernehmlichen Lösung mit den USA, ja einer erhofften geteilten Verantwortung bei der Führung der Welt Abstand zu nehmen. Die logische Konsequenz waren Xi Jinpings Reise nach Moskau und seine offen bekundete Freundschaft mit Wladimir Putin, der sich als Bewunderer des chinesischen Entwicklungsmodells bereitwillig den wirtschaftlichen Plänen öffnete, die Xi Jinping im Gepäck hatte.

China fühlt sich vom Westen, insbesondere von den USA, bedroht und bereitet sich auf eine früher oder später einsetzende – und von beiden Seiten betriebene – Abkoppelung seiner Wirtschaft vom Westen vor. Die vielen Projekte, die im Zuge der „Neuen Seidenstraße“ entstanden sind, haben Chinas Einfluss auf den Globalen Süden vermehrt, aber wirtschaftlich nur bedingt einen positiven Effekt gehabt. Nun stellt man sich in Peking vor, dass Russland nicht nur viele der Rohstoffe liefern wird, die man für die chinesische Wirtschaft benötigt. China kann sich auch als Modernisierungsmotor in Russland betätigen. So, wie das Engagement der europäischen, japanischen und amerikanischen Wirtschaft seinerzeit nicht nur China, sondern auch den jeweiligen Ländern genutzt hat, so soll Chinas Engagement für die Modernisierung Russlands der chinesischen Wirtschaft einen neuen Wachstumsschub ermöglichen.

Chinas neue Allianz mit Russland hat also nichts mit ideologischer Übereinstimmung zu tun. Ganz im Gegenteil zu dem, was man in Brüssel und Berlin wertegeleitete Außenpolitik nennt, wird in China interessengeleitet entschieden. Radikale Kehrtwendungen sind jederzeit möglich. Chinas Eintreten dafür, dass der Ukrainekrieg so schnell wie möglich endet, ist auch in diesem Sinne zu verstehen. Sein sogenannter Friedensplan ist deshalb auch eine Interessenbekundung: Nur wenn der Krieg baldmöglichst endet, kann China damit beginnen, seine Modernisierungspläne für Russland umzusetzen.

Auch befürchtet es bei einem längeren Krieg, dass die bisherige Resilienz des wirtschaftlichen und politischen Systems in Russland ausgelaugt wird und Russland womöglich in eine Systemkrise hineinschlittert. Diese wäre für China höchst bedrohlich, würde doch ein mögliches Auseinanderbrechen Russlands dem Westen die Möglichkeit eröffnen, durch seinen Einfluss auf die dann eventuell entstehenden Staaten in der russischen Peripherie bis an die chinesische Nordgrenze vorzustoßen. Xi Jinping hat seit dem letzten KP-Parteitag wiederholt Reden gehalten, in denen er von der „Einkreisung“ Chinas durch den Westen gesprochen hat: ein Horrorszenario für die chinesische Führung, die in Xinjiang, Tibet, Hongkong und Taiwan Destabilisierungsversuche des Westens zu erkennen meint. Aus chinesischer Sicht ist es also dringend geboten, Russland so weit zu unterstützen, dass es nicht auseinanderbricht.

Aber klar ist: Strategisch sind Russland und China nur bedingt auf einer Linie. Sie sind sich einig in ihrer Gegnerschaft zu den USA und ihrer Forderung nach einer sogenannten Demokratisierung des Systems der internationalen Beziehungen. In der Frage der zukünftigen Weltordnung sprechen beide von „Multipolarität“. Doch zeigt sich, dass ihre Vorgangsweise nicht wirklich abgestimmt ist. Während sich Chinas KP die Führung in der Welt am liebsten mit den USA teilen würde – und die wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen so weit wie möglich aufrechterhalten möchte –, meldet Wladimir Putin mit dem Angriff auf die Ukraine den Anspruch Russlands an, als Dritter im Bunde Weltmacht zu sein.

Putin macht immer wieder deutlich, dass man die Weltordnung grundsätzlich infrage stellen muss. Er agiert als klassischer Revisionist und betont stärker als Xi Jinping die Notwendigkeit der Neuordnung der Welt im Sinne der Multipolarität. Auch an der Frage der Stationierung von Atomwaffen gibt es deutlich Unterschiede in der Haltung Pekings und Moskaus. Während Xi Jinping bei seinem letzten Besuch in Moskau meinte, sich mit Putin darauf geeinigt zu haben, dass keinerlei Nuklearwaffen außerhalb des jeweils eigenen Landes stationiert werden dürften, veranlasste Putin einen Tag nach der Abreise Xis, dass auf dem Boden von Belarus ein Raketensystem stationiert werde, das mit Nuklearwaffen bestückt werden kann.

Anders sieht das Kalkül der politischen Führung Chinas aus. Sie sieht die Möglichkeit und Notwendigkeit, das System der internationalen Beziehungen schrittweise von innen her umzugestalten. Dabei stört Russlands revisionistischer Eifer, und der Krieg in der Ukraine hat in diesem Sinne China einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Chinas schöne neue Welt ist eine Welt, in der die USA China als Weltmacht auf Augenhöhe anerkennen und sich die Welt mit China teilen. Der Westpazifik wird von China kontrolliert und damit der gesamte Warenverkehr zwischen Asien, dem Nahen und Mittleren Osten sowie Europa. Den Ostpazifik dürfen die USA beherrschen. In allen anderen Teilen der Welt gibt es in diesem Szenario lebhafte Konkurrenz, die von den beiden Supermächten so weit kontrolliert werden muss, dass diese nicht in eine kriegerische Auseinandersetzung ausartet. In dieser Zukunftsvision hat Russland keine Weltmachtfunktion. Es wird in den zweiten Rang eingeordnet – dort, wo man auch Europa, Japan und Indien sieht.

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Unten      —       Председателем КНР Си Цзиньпином.

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Mai 2023

Symbolschwere Gruppenbilder mit und ohne Dame

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Das erste Fotopaar der Tage rund um den 19. Mai 2023: In Hiroshima posieren Staatsoberhäupter der sieben Industrienationen für ein Gruppenfoto. Im Hintergrund ein Blick auf einen ruhigen See.

In Xi’an tun die Staatsoberhäupter der fünf zentralasiatischen Staaten mit Chinas Parteichef Xi Jinping in der Mitte dasselbe; auf einer Bühne, gesäumt von Staatsfahnen, im Hintergrund eine traditionelle chinesische Malerei, die schroffe Bergketten im Wolkenmeer zeigt. Steht das symbolisch für sieben maritime Na­tio­nen plus die EU gegenüber einer neuen Weltmacht mit fünf kontinentalen Nachbarn als potenziellen Verbündeten?

Das zweite Fotopaar: Die G7- SpitzenpolitikerInnen, zwei Frauen sind dabei, sitzen um einen runden Konferenztisch, dicht an dicht, auf Holzstühlen. Drei Männer, Joe Biden, ­Fumio Kishida und Emmanuel Macron, drehen sich zur Kamera und spenden so alle zusammen einem imaginären Publikum hinter der Kamera ihr pflichtbewusstes Lächeln.

Zum Vergleich: eine geräumige runde Tischreihe mit sechs schweren, wohlgepolsterten Sofas, ebenso geräumig voneinander getrennt. Frontal in die Kamera, also in eine imaginäre Weltöffentlichkeit, blickt nur Xi Jinping, Chinas starker Mann. Alle fünf Staatsführer sitzen mit dem Rücken zum Publikum. Niemand sieht ihre Mimik, vielleicht nur angedeutet, wie sie ihren Blick auf Xi richten. Steht das symbolisch für ein demokratisch gleichberechtigtes Miteinander gegenüber einem ehrerbietigen Audienzkreis?

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Das dritte Fotopaar: hier ein Arbeitsessen zu Abend – jede und jeder hat seine und ihre Portion vor sich, zu sehen sind noch Mikrofone –, da eine lange Tischreihe, reichlich gedeckt, Blumengesteck und allerlei Leckerbissen, im Hintergrund ein weitläufiger Vorhof, wo für die Tischgäste Tänze und Lieder dargeboten werden. Wie der chinesische Begleittext berichtet, sind die Darbietungen allemal in der Pracht der Tang-Dynastie, die nach offizieller Geschichtsschreibung die Blütezeit der chinesischen Zivilisation repräsentiert – mit blühendem Handel durch die Seidenstraße, deren Anrainer alle zentralasiatischen Staaten heute sind. Sie sind Geldempfänger aus Peking für das Projekt der chinesischen Weltstrategie One Belt One Road. Auch diesmal klingelte es wieder vielversprechend in der Kasse: 26 Milliarden Dollar als Darlehen, wenn die fünf in Zentralasien Pekings Willen Folge leisten.

Was die Fotos erzählen, mag der Fantasie eines jeden Einzelnen überlassen bleiben. Und: Peking will offiziell noch nicht gelten lassen, der Gipfel in Xi’an sei eine Gegendarstellung zu Hiroshima. Dennoch ist der Kontrast unübersehbar: In Hiroshima dreht sich alles darum, Russlands Aggressionskrieg bald zu beenden. Der Verlierer ist Moskau. Kein Wort davon in Xi’an. In Hiroshima betonten die G7 den Entschluss, auch Chinas erpresserischem Vorgehen gegen wirtschaftlich schwächere Staaten entgegenzutreten. Genau das wird in Xi’an dargeboten, wenn auch versüßt mit feudalem Prunk. Mit einer vielsagenden Fußnote: In Xi’an ist Chinas Verbündeter Russland abwesend. Moskau hat bis dato nie gefehlt, wenn es um Zentralasien, also um Russlands Hinterhof ging. Nutzt China Russlands Schwäche aus, um die eigene Einflusssphäre auszuweiten als ein neuer Hegemon, dem sich der Westen stellen will?

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Staatswohl vor Aufklärung

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Mai 2023

Die Vierte Gewalt betreut die Heimatfront

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Renate Dillmann

Seit Beginn des russischen Kriegs in der Ukraine arbeiten die deutschen Mainstream-Medien unermüdlich daran, die nötige moralische Unterstützung für die Regierungs-Linie zu erzeugen – mit Erfolg.

Ohne es bislang mit grossen und praktisch störenden Protesten zu tun zu bekommen, liefert Deutschland immer mehr und immer schwerere Waffen direkt in ein Kriegsgebiet und rüstet seine Bundeswehr mit viel Geld zur drittstärksten Armee der Welt auf.Kritische Nachfragen gelten allenfalls dem Zaudern des Kanzlers bei den „notwendigen“ Waffenlieferungen in die Ukraine und der Frage, ob die Hundert Milliarden für die „Zeitenwende“ nicht viel zu knapp gerechnet sind. Pazifismus und die früher üblichen Bedenken gegen Aufrüstung und eine offen militante Aussenpolitik sind in der deutschen Öffentlichkeit mittlerweile völlig out.

Auch die durchaus harten finanziellen Folgen, die massiv steigende Preise als Folge der deutschen Sanktions- und Verschuldungspolitik für abhängig Beschäftigte hierzulande bedeuten, werden von der Bevölkerung geschluckt. Die Gewerkschaften handeln zurzeit eine Reallohnsenkung nach der anderen aus.

Die Medien haben massgeblich zu dieser Haltung der deutschen Bevölkerung beigetragen. Werfen wir einen prüfenden Blick auf ihre Leistungen im letzten Jahr.

Verwandlung von Gründen in Schuldfragen

Der vielleicht wichtigste Schritt in der Herstellung eines nationalen Konsens war die Durchsetzung des Narrativs von der Alleinschuld Russlands. Nun ist das nicht ganz so einfach in einem Konflikt zwischen zwei oder sogar mehreren beteiligter Parteien; wenn Kinder im Sandkasten streiten, ist sofort jedem klar: „Zum Streiten gehören immer zwei!“

Die Medienprofis der deutschen Öffentlichkeit konnten sich für ihre Deutung allerdings erstens auf die anti-kommunistischen beziehungsweise heute anti-russischen Reflexe (J. Schillo Telepolis, 24.2.2023) zumindest der westdeutschen Bevölkerung verlassen, die sie nur wach kitzeln mussten. Zweitens verwandelten sie die Frage nach den Gründen für den Krieg in der Ukraine (R. Dillmann Overton, 24.3.2023) in die nach den Schuldigen – auch das ist den meisten Zeitgenossen (leider) eine alltägliche Gewohnheit.

Und darauf hatten sie dann auch eine klare Antwort parat: Es wurde derjenige für „verantwortlich“ erklärt, der den ersten Schuss in diesem Krieg abgegeben hatte. Und er sollte nun auch für alles verantwortlich sein – auch für das, was die westlichen Staaten ihm entgegensetzten. Um es konkret zu machen: Die heftig gestiegenen Energiepreise und die zweistellige Inflation sind dieser Logik nach nicht Resultat der Sanktionen, die die deutsche Regierung gegen Russland in Gang gesetzt hat und auch nicht einer Staatsverschuldung, mit der der laufende Krieg und die Aufrüstung der Bundeswehr zur drittgrössten Armee der Welt ohne grosses Federlesen finanziert werden. Verantwortlich dafür ist alleine „Putin“.

Moralisierende Sprachregelungen

Unsere Journalist*innen weisen gerne darauf hin, wie schwer es die russischen Kolleg*innen haben, denen die Verwendung bestimmter Worte vorgeschrieben wird, zum Beispiel ist die Bezeichnung „Krieg“ in Russland verboten und zieht strafrechtliche Konsequenzen nach sich. Umso bemerkenswerter ist angesichts dessen die freiwillige Uniformität der hiesigen Mainstream-Medien: Der russische Präsident Putin gilt als Aggressor. Er habe aus heiterem Himmel und ohne ersichtliche Gründe (mehr dazu später) einen „brutalen völkerrechtswidrigen Krieg“ begonnen – wobei der Vorwurf vom „brutalen völkerrechtswidrigen Krieg“ über Monate hinweg täglich wiederholt wurde, damit er sich auch wirklich in allen Köpfen festsetzte.

Eine Erläuterung dessen, was ein völkerrechtswidriger Krieg ist, hielten die deutschen Medien mithin für überflüssig. Dass es sich dabei um Kriege ohne UN-Mandat handelt (nur nebenbei gesagt: an Kriegen mit Mandat ist demnach gar nichts auszusetzen!) und dass dementsprechend die westlichen Kriege der letzten dreissig Jahre in Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak allesamt völkerrechtswidrig waren, fiel vornehm unter den Tisch. Gleiches gilt für die Tatsache, dass „Brutalität“ ein allgemeines Kennzeichen des Kriegführens ist und die westlichen Kriege natürlich nicht minder „brutal“ waren (für den Afghanistan- und den Irak-Krieg nennt das Bundeswehr-Journal bereits 2015 1,3 Millionen Tote).

In Moskau sitzt in der Darstellung fast aller deutschen Nachrichten übrigens gar keine Regierung, sondern ein „Regime“; Vladimir Putin firmiert nicht als Präsident, sondern als „Machthaber“, im Bildzeitungs-Jargon: als „Kreml-Tyrann“, obwohl er gewählt wurde – auch wenn hiesige Journalisten an dieser Wahl eine Menge auszusetzen haben mögen. Umgekehrt gibt es Staaten, die nicht einmal ansatzweise Wahlen zulassen, ohne als Regime tituliert zu werden, Saudi-Arabien etwa oder Katar. In wiederum anderen Staaten gibt es demokratisch gewählte Regierungen, die der Westen nicht will und gegen die er deshalb einen Putsch fördert und diplomatisch anerkennt (Beispiele aus jüngerer Zeit: Ägypten 2013, die Ukraine 2014 und – nicht erfolgreich – in Venezuela 2018).

Der Begriff Regime soll ausdrücken, dass die so bezeichneten Regierungen aus Sicht der jeweiligen Journalist*innen oder Publikationen nicht zur Herrschaft legitimiert sind. Eine Begründung für diese Einschätzung wird dabei nicht immer mitgeteilt. Zumindest mitgedacht ist allerdings die Aussage, dass die Regierenden in „Regimes“ nicht von ihrer Bevölkerung gewollt sind, dass diese daher vermutlich mit Unterdrückung, Repression, diktatorischen oder autoritären Massnahmen herrschen. Sie seien also, trotz eventuell formell demokratischer Wahlen, nach Auffassung der hiesigen Medien letztlich undemokratisch. In diesem Wording steckt eigentlich so etwas wie ein halber Aufruf zur Revolution, zum Umsturz – allerdings nicht, weil man so viel Mitleid mit der dort ausgebeuteten Arbeiterklasse oder den unterdrückten Massen hat, sondern weil diese Staaten der hiesigen Politik irgendwie in die Quere kommen.

Dass der russische Präsident Putin sein Vorgehen als „militärische Spezialoperation“ bezeichnete, wurde von den deutschen Medien sofort als ideologischer und zynischer Versuch der Vertuschung enttarnt. Dies steht im Gegensatz zu den eigenen Sprachregelungen von der „humanitären Intervention“ in Jugoslawien und dem Afghanistan-„Einsatz“, die ohne Zögern von deutschen Journalist*innen mitgetragen wurden (bis 2010 der deutsche Verteidigungsminister Guttenberg begann, von Krieg zu sprechen). Im Fall des russischen Kriegs wusste jede*r Journalist*in sofort, dass eine solche Wortschöpfung eine unfassbare Verharmlosung des Sachverhalts darstellt, ausgegeben, um das Volk zu beruhigen – was in der Tat die verharmlosende Seite am Ausdruck „militärische Spezialoperation“ ist – und um vor der Welt moralisch besser dazustehen.

Dämonisierung des Gegners

Die diplomatische Ansage, die der russische Präsident seinen westlichen Kontrahenten damit gemacht hat – nämlich die, dass Russland nur begrenzte Kriegsziele verfolgt – wollten die Medienprofis hierzulande allerdings nicht herauslesen. Stattdessen lancierten sie die Vorstellung, dass der „Massenmörder Putin“, wie ihn die Bildzeitung im März 2022 bezeichnete, sich gerade anschicke, ganz Europa zu erobern, wenn man ihn nicht stoppen könne. Putin wurde als der „Wahnsinnige im Kreml“ vorgestellt, der demnächst auch „über uns“ (dabei soll man natürlich an harmlose Bürger in ihren Vorgärtchen denken und nicht etwa an Staaten, die sich in ihrer geopolitischen Konkurrenz an den Kragen gehen) herfallen werde und „jegliche menschliche Grenzen“ (Annalena Baerbock, BZ 9.3.2022) überschreite. So wurde Panik vor einem unberechenbaren Feind geschürt. Gleichzeitig sollte sich das Publikum nicht davon beirren lassen, dass Reportagen über den Dilettantismus der russischen Armee, die maroden Sowjet-Panzer Marke Uralt und fehlende Munition liefen. Die standen nämlich dafür, dass der Westen zweifellos siegen würde…

Das Russland-Bild der demokratischen freien Medien in Deutschland ist seit Kriegsbeginn also wieder sehr schlicht – um es vornehm auszudrücken. Wie der Journalist Johannes Schillo schreibt: Der alte Feind ist auch der neue (Telepolis, 29.3.2022 Entsprechend kriegen „die Russen“ die erneuerte Feindschaft zu spüren. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen darf gesagt werden, dass sie im „kulturellen Sinn“ „keine Europäer“ seien, „auch wenn sie europäisch aussehen“ (so die Politologin Florence Gaub bei Markus Lanz im März 2022). Im Spiegel räsonierte Juno Vai (Spiegel, 29.6.2022) über die Gewaltaffinität der Russen, die „in wohliger Trägheit Verantwortung abgeben“ und so „zum Objekt, zur Verschiebemasse, zum Kanonenfutter“ würden – offenbar im Unterschied zu den zwangsrekrutierten ukrainischen Männern.

Das sind rassistische Aussagen, weil sie politisch-gesellschaftliche Tatbestände naturalisieren beziehungsweise kulturalisieren und damit als unveräusserliche Eigenschaften der Menschen ausgeben. „Die Russen“ werden so aus dem Kollektiv der Europäer*innen ausgegrenzt – fast möchte man ihnen wünschen, dass sie gar nicht dazugehören wollten. Zu guter Letzt wird an ihnen noch entdeckt, dass sie besonders zur Unterordnung neigen würden, angeblich im Unterschied zu anderen Völkern. Letzteres „entdeckt“ eine deutsche Journalistin natürlich nur, weil sie es eigentlich gut fände, wenn die russischen Untertanen den Krieg ihres Staats nicht so brav mitmachen würden wie es die ukrainische, amerikanische oder deutsche Bevölkerung tut, sondern stattdessen ihren Chef zum Teufel jagten. Dass es der Russen-Community in Deutschland nicht sonderlich gut geht, seit der öffentliche Diskurs so aussieht, sei nur am Rande erwähnt.

Das von der Bundeszentrale für Politische Bildung herausgegebene Magazin „Fluter“, das sich mit der Ukraine beschäftigt, thematisiert unter der Überschrift „Was ist hier passiert?“ die „Verbrechen, die von den russischen Truppen begangen werden“ (Heft 86, März 23). Nichts findet sich hingegen zu den selbstverständlich gleichzeitig stattfindenden ukrainischen Kriegsverbrechen, nichts über das, was die Asow-Brigade und ähnliche Truppen von 2014 an im Donbass angerichtet haben (dokumentiert etwa in dem Film „Leben und Sterben im Donbass“). Nach den eigenen Kriterien der bpb ist das ein massiver Verstoss gegen das „Überwältigungsverbot“ bzw. das Gebot einer kontroversen Darstellung. Denn was in der Politik kontrovers verhandelt wird, muss in der politischen Bildung auch kontrovers dargestellt werden. So verhetzt man die Jugendlichen gegen Russland und die Russen…

De-Kontextualisierung

Natürlich wusste man in den deutschen Redaktionen trotzdem, dass die Behauptung einer alleinigen Verantwortlichkeit Putins für den Konflikt nicht stimmt. Schliesslich hatte man ja selbst die Nachrichten der letzten Jahre und Jahrzehnte geliefert. Aber jetzt, in der Berichterstattung über den laufenden Krieg, war man nicht bereit, den Zusammenhang herzustellen zwischen all den Fakten, die in den eigenen Archiven schlummern: Das Versprechen an Gorbatschow zu Beginn der 90er Jahre, die Nato „not an inch“ nach Osten auszudehnen und die folgende Nato-Osterweiterung um 14 Länder und 1000 km; der von den USA finanzierte Euro-Maidan-Protest zum Putsch gegen die gewählte ukrainische Regierung (2013) und den Reaktionen darauf mit Gründung der Volksrepubliken und dem Referendum auf der Krim, weil Russland um die Sicherheit seiner Schwarzmeer-Flotte fürchtete (2014); der Kampf der Ukraine gegen die separatistischen Republiken mit 14.000 Toten; die stetige Aufrüstung des Landes durch die westlichen Staaten – welche Angela Merkel als den eigentlichen Zweck von „Minsk II“ eingestanden hat; die Ankündigung Selenskyjs, dass sein Land in die Nato eintreten und eventuell wieder über Atomraketen verfügen wolle; die Zurückweisung aller russischen Beschwerden und Sicherheitsbedenken durch die Mitglieder der Nato usw. usf.

Gleichgültig, wie man die einzelnen Punkte bewertet, wird jedenfalls klar, dass einige essentielle Dinge zwischen Russland und der Nato umstritten sind, und das seit Jahrzehnten. Eine solche Zusammenfassung des Stands der Auseinandersetzung hatte in der medialen Darstellung des Ukraine-Kriegs aber vom ersten Tag an keinen Platz. Und zwar nicht, weil in der Aufregung keine Zeit mehr war, nun auch noch eine komplizierte Vorgeschichte miteinzubeziehen. Wäre das so gewesen, hätte man ja geradezu dankbar sein müssen, für diejenigen (wenigen) Stimmen, die diese Vorgeschichte ergänzen wollten. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall: Alle, die es gewagt haben, in dieser Zeit an die oben genannten Fakten auch nur zu erinnern, sahen sich harten Angriffen ausgesetzt, von denen „Putin-Versteher“ noch eine der harmlosen Varianten war.

Der Hinweis auf die existierenden Konflikte und die Vorgeschichte inklusive der russischen Beschwerden gegenüber der Nato wurde als Relativierung der feststehenden und ständig laut verkündeten Alleinschuld Putins aufgefasst. So etwas durfte im Land der Meinungs- und Pressefreiheit nicht sein, wer gegen das »Nato-Narrativ« verstiess, bekam das zu spüren: Diejenigen, die diese Linie nicht widerspruchslos mitmachen, wurden nach allen Regeln der demokratischen Kunst öffentlich bedrängt, vom Verfassungsschutz und den neu geschaffenen Stellen für „Desinformation“ beobachtet, finanziell und in ihren Wirkmöglichkeiten geschädigt – und zwar ganz ohne gerichtliche Entscheidungen und ohne nennenswerte Protesten in der „lebendigen Zivilgesellschaft“.

Was berichtet wird, was nicht

Hinzu trat eine ausgesprochen selektive Berichterstattung. Für deutsche Redaktionen sind nämlich keineswegs alle brutalen Kriege auf dem Erdball gleich wichtig. Auch wenn gerne mit einem humanistischen Entsetzen über die „zivilen Opfer“ gesprochen wird – ein Entsetzen, das sich allerdings niemals auf junge Männer in Uniform bezieht – ist festzuhalten: Es gibt global noch weitere Kriege von grosser Brutalität und mit horrenden Opfern unter der Zivilbevölkerung, die auf ein relativ geringes Medien-Interesse stossen, darunter etwa der seit 2015 laufende Jemen-Krieg, bei dem bislang nach offiziellen Zahlen 500.000 Menschen getötet wurden und den das UN-Flüchtlingshilfswerk als „die grösste humanitäre Katastrophe weltweit“ bezeichnet. Im Unterschied zum Ukraine-Krieg scheint sich über diese Opfer in Deutschland weniger „Fassungslosigkeit“ einzustellen – vielleicht, weil dieser Krieg von Saudi-Arabien mit deutschen Waffen geführt wird und sich gegen iranischen Einfluss in der Region richtet?

Und auch Kriegsverbrechen gibt es natürlich vor allem da, wo man sie sehen will. Im Ukraine-Krieg finden sie deshalb auf russischer Seite stat. Im Fall von „Butscha“ wurde ein solches Verbrechen zufällig genau zu dem Zeitpunkt festgestellt, als sich die ukrainische Seite bereit zeigte für Friedensverhandlungen mit Russland, was zu diesem Zeitpunkt im Westen, insbesondere in Grossbritannien, nicht erwünscht war. Während russische Medien (so sie noch zu uns durchdringen; die deutsche Ausgabe von Russia Today etwa wurde de facto verboten) ebenso wie Human Rights Watch oder Amnesty International Meldungen über die ukrainische Kriegsführung bringen, die ebenfalls auf Kriegsverbrechen hinweisen, hat die deutsche Presse in dieser Frage nichts zu melden.

Dabei gehören Brutalität und Grausamkeiten zum Kriegführen naturgemäss auf allen Seiten notwendig dazu und die ukrainischen Nazi-Bataillone haben ihre Absicht, das „russische Böse“ in ihrem Land auszulöschen, längst offen ausgesprochen. Aber Nazis in der Ukraine (jedenfalls in nennenswerter Zahl oder mit Einfluss in Regierung oder Armee) wollten die deutschen Medien sowieso nicht mehr bemerken, seit der Krieg läuft.

Im Unterschied zur innenpolitischen Situation im „autoritären Russland“ interessierte die Lage in Hinblick auf die Nazis in der Ukraine die Medien ebensowenig wie der repressive Umgang mit der Opposition. Weder wurde – im Unterschied zum Fall Assad in Syrien – gegen die Volksrepubliken der Vorwurf erhoben, dass ein Präsident „das eigene Volk bombardiert“ (so geschehen in Donezk und Lugansk). Noch informierten deutsche Nachrichten darüber, dass die Bezeichnung der militärischen Aktionen Kiews gegenüber den Volksrepubliken als „innerukrainischer Konflikt“ oder „Bürgerkrieg“ zum Straftatbestand erhoben wurde und die Ukraine unliebsame Oppositionelle per Interpol in ganz Europa verfolgen lässt, etwa den Videoblogger Anatolij Scharij in Spanien (R. Lauterbach Junge Welt, 21.5.2022).

Präsident Selenskyj, der „Diener des Volks“, dessen Wahl der Oligarch Kolomoiskyj organisiert hat – was der Süddeutschen Zeitung 2019 noch ein paar kritische Bemerkungen wert war – gilt den deutschen Medien seit Kriegsbeginn als strahlender Held im Military Look und selbstverständlich lupenreiner Demokrat. Berichte darüber, dass Selenskyj Mitte Mai 2022 elf Oppositionsparteien und ihre Zeitungen verboten hat (die Kommunistische Partei der Ukraine hatte dieses Schicksal bereits 2015 ereilt) und die Bevölkerung per Einheitssender gegen alles Russische aufhetzen lässt, suchte man in den Mainstream-Medien vergebens. Ebenso fehlen Informationen darüber, dass auch nur die theoretische Erörterung eines Waffenstillstands als „Infragestellung der territorialen Integrität der Ukraine“ gilt, auf die nach dem bei Kriegsbeginn neugefassten Artikel 110 des Strafgesetzbuchs drei Jahre Haft und Konfiskation des Vermögens als Mindeststrafe stehen – insofern kein Wunder, dass keine politische Partei oder Gruppierung offen für einen Waffenstillstand eintritt. (R. Lauterbach Junge Welt 15.5.2023).

Bemerkenswert ist auch, dass Vorfälle wie die Sprengung der Nordstream-Pipelines, die ansonsten als staatsterroristische Akte grosse Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden, ziemlich unter den Teppich gekehrt wurden. Nach einigen Tagen mit abstrusen Meldungen wie der, dass Russland seine eigenen Pipelines in die Luft gesprengt habe, gaben sich die deutschen Journalist*innen weitgehend damit zufrieden, dass die Ermittlungen laufen und das „Staatswohl eine weitere Auskunft unmöglich macht“ (Staatssekretärin Baumann und Staatssekretär Graichen auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei, Oktober 2022). Der Hinweis auf einen (staats-)terroristischen Akt rechtfertigt normalerweise öffentliche Empörung und praktische Vergeltungsmassnahmen. Das ist in diesem Fall, wo höchstwahrscheinlich deutsche Verbündete am Werk waren, offenbar nicht so. Und dass Staatswohl vor Aufklärung geht, wurde von der freien Presse in Deutschland ohne weitere Beschwerden akzeptiert.

Währenddessen lieferte der us-amerikanische Investigativjournalist und Gewinner des Pulitzer Preises Seymour Hersh fundierte Informationen darüber, dass der US-Geheimdienst CIA die Sprengung gemeinsam mit norwegischen Einsatzkräften vorbereitet und die US-Regierung dann die Ausführung angeordnet habe. Ob dies nun wahr ist oder nicht: Bemerkenswert ist auf alle Fälle, dass weder die öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen noch die Bildzeitung es für nötig gehalten haben, ihr deutsches Publikum über die Enthüllungen auch nur zu informieren. Die Tagesschau und das Heute Journal brachten die Nachricht lediglich in ihren Online-Auftritten – und das gleich unter den Überschriften „Faktencheck“ beziehungsweise „Verschwörungstheorie sollte vermieden werden“. (Der „Faktencheck“ des ARD-Journalisten bestand übrigens darin, die Dementi von CIA und US-Regierung zu zitieren. Wenn die Angeklagten die Sache abstreiten, gilt das also im ARD-Faktencheck als »Fakt«– jedenfalls, wenn es um die USA geht.)

Die Standpunkte auswärtiger Regierungen und Konfliktparteien zu dokumentieren, etwa Putins Reden zum Ukraine-Krieg, aber auch die der indischen oder der südafrikanischen Regierung zu ihrer Ablehnung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland – hält die deutsche Presse weitgehend für überflüssig. Dabei wäre die Zeichnung eines vollständigen Bildes von einer um Aufklärung und sachliche Beurteilung bemühten Presse unbedingt zu erwarten – zumal angesichts der Bedeutung dieses spezifischen Kriegs. Aber offenbar ist eine Berichterstattung, welche auch die gegnerische Partei mit ihren Überlegungen und Beschwerden zu Wort kommen lässt und den Leser*innen und Zuschauer*innen damit eine umfassende, kontroverse und globale Urteilsbildung erlaubt, nicht gewollt.

Emotionalisierung

Dafür hat die Kriegsberichterstattung mit dem Ukraine-Krieg im deutschen Journalismus ein Mass an Emotionalisierung hervorgebracht, das den Opfern westlicher Kriege in den letzten dreissig Jahren nicht zuteil wurde. Seit dem ersten Tag bemühen sich die Medien Abend für Abend, dem Publikum die Brutalität dieses Krieges anhand drastischer Bilder und menschlicher Schicksale eindringlich nahezubringen: Bombardierte Häuser in ukrainischen Städten, Menschen, die in U-Bahn-Schächten Schutz suchen, Interviews mit Ukrainer*innen, die russische Angriffe verfluchen und nach westlichen Waffen verlangen. „Angesichts dieser Bilder“ – so soll man sich denken und so wird es ab und an auch explizit ausgesprochen – ist jedes weitere Räsonieren über die Ursachen des Krieges und die Interessen der Konfliktparteien überflüssig. Hier geht es nur noch um eines: Hilfe für diese armen Menschen – und die besteht fraglos in immer mehr Waffen. Genau das sagen die betroffenen Ukrainer*innen, ob Soldaten oder Zivilist*innen, ja selbst in die Kameras.

Dass nur hundert Kilometer südöstlich ebenso Häuser bombardiert, Menschen getötet und ins Elend gestürzt werden, dieses Mal eben von der ukrainischen Armee, zählt nicht für eine Berichterstattung, die sich selbst als ausgewogen bezeichnet. Ebensowenig kommt vor, dass mit Sicherheit auch eine Menge Menschen in der Ukraine die Lage anders sehen.

»Unsere« Frontreporter konnten in diesem Krieg übrigens zum ersten Mal seit Weltkrieg Nr. 2 ihren Gefühlen freien Lauf lassen, ohne auf irgendeine friedensbewegte Political Correctness Rücksicht zu nehmen: Die militärischen Leistungen der ukrainische Soldaten wurden überschwänglich gelobt und die »unseres« 1A-deutschen Kriegsmaterials mit viel Stolz als buchstäblich umwerfend präsentiert.

Fazit

Als Fazit lässt sich feststellen: Würde man die Leistung der deutschen Medien im Ukraine-Krieg an Zielen wie Informationsweitergabe und nüchterne Aufklärung messen, wäre die Bilanz düster. Das erlaubt einen Rückschluss: Journalist*innen in Deutschland sehen ihre Aufgabe mehrheitlich offensichtlich darin, eine Parteinahme für die Nato-Linie und die unbedingte Verurteilung Russlands zu erzeugen. Das wiederum sollte man als Lehrstück über die Funktion der Medien in der Demokratie auffassen. Mit ihrer parteilichen und moralisierenden Berichterstattung tun Journalist*innen alles dafür, eine loyale Heimatfront herzustellen.

Faktizität, Rationalität, Kontroversität und Logik werden von den Medienschaffenden in Kriegszeiten geopfert für die „gute Sache“. Mögen sie in Friedenszeiten die Regierung kritisch am Massstab von Erfolg und Anstand bei der Ausübung ihrer Ämter beobachten, sind sie im Krieg ganz um die ideologische Unterstützung „ihrer“ Nation bemüht. Und genau darin sind sie die „Vierte Gewalt“. Die Frage im Anschluss müsste nun übrigens heissen: Warum wird ihnen das eigentlich alles geglaubt…?

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Oben        —        Panzer der ukrainischen Armee, September 2022.

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Der Ukraine Krieg

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Mai 2023

Schwelende Vernichtung

Atomic bombing of Japan.jpg

Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki 

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von   :  Jean-Pierre Dupuy

Zwanzig Jahre lang beschäftige ich mich nun als Philosoph mit der atomaren Frage, ohne jedoch den Status eines Experten oder Spezialisten zu beanspruchen.

Im Allgemeinen denke ich seit meiner Begegnung mit dem Werk von René Girard Ende der 1970er Jahre über eine Geschichte und eine Philosophie der Gewalt nach. Dies führte unweigerlich dazu, mich mit der Frage der Katastrophen und des Bösen zu befassen, vor allem mit jenen Gefahren, die auf der zukünftigen Menschheit lasten, seien es nun der Klimawandel, das Risiko, dass fortschrittliche Technologien wie Nanobiotechnologie, synthetische Biologie oder die Entschlüsselung des menschlichen Genoms ihren Schöpfern aus den Händen gleiten, und natürlich der Atomkrieg.Der Atomkrieg lieferte mir die Matrix für jene Form des Katastrophismus, den ich als „rational“ oder „aufgeklärt“ bezeichnete. Er definiert ein Verhältnis zur Zukunft, das ich „Zeit des Entwurfs“ nannte. Gemäss dieser Zeitauffassung ist es legitim, mögliche katastrophale Ereignisse so zu betrachten, als ob sie zwangsläufig eintreten werden, sobald die Spieleinsätze ungeheuerlich sind und jedes menschliche Mass überschreiten. Was daran schwer begreiflich ist und was ich in dem Buch, das wir gleich lesen werden (1), ausführlich zu illustrieren versuche, ist, dass dieser Nezessitarismus kein Fatalismus ist. Es steht uns nämlich frei, durch unser Handeln das betreffende Ereignis ad vitam aeternam hinauszuzögern. Allerdings müssen wir es für unausweichlich halten, sonst wäre die Motivation, es von uns fernzuhalten, nicht ausreichend. Es ist kein Widerspruch, die Unausweichlichkeit des Kommenden und seine Unbestimmtheit in einem zu denken.

Der Atomkrieg hat seine eigene Syntax, die sich den Intentionen der Akteure aufzwängt

Es zeigt sich, dass die nukleare Frage dazu führt, einige der wichtigsten und schwierigsten Fragen jenes Bereichs der Philosophie, der als Metaphysik bezeichnet wird, erneut zu stellen. Der Übergang zur Abstraktion und zur apriorischen Begründung wird durch eine sehr einfache und in Wahrheit erschütternde Tatsache unerlässlich. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Thomas C. Schelling, dessen Schriften zur formalen Spieltheorie einen bedeutenden Einfluss auf die Nukleardoktrin ausübten, stellte sie mit den folgenden denkwürdigen Sätzen dar, als er seine Rede zur Entgegennahme seines Preises am 8. Dezember 2005 in Stockholm eröffnete: „The most spectacular event of the past half century is one that did not occur. We have enjoyed sixty years without nuclear weapons exploded in anger.“ (2)

Heute, nach mehr als fünfzehn Jahren, ist diese Feststellung immer noch aktuell. Dieses Zitat wird oft in Erinnerung gerufen, aber in der Regel wird vergessen, was Schelling direkt danach hinzufügt: „In 1960 the British novelist C. P. Snow said on the front page of the New York Times that unless the nuclear powers drastically reduced their nuclear armaments thermonuclear warfare within the decade was a ,mathematical certaintyʻ (3). Nobody appeared to think Snow’s statement extravagant.“ Die Kopplung von Notwendigkeit und Unbestimmtheit zeigt sich also durchaus als ein Paradoxon, über das nachzudenken lohnt.

Dieses Vorwort zu dem bereits veröffentlichten Buch anlässlich seiner Neuauflage hinzuzufügen, war in theoretischer Hinsicht nicht verpflichtend. Die historischen Situationen und Ereignisse, die ich darin beschreibe und analysiere, sind in erster Linie dazu da, um Konzepte zu veranschaulichen. Was über die Krise in der Ukraine geschrieben und gesagt wird, fällt gewöhnlich fast ausschliesslich in den geopolitischen Bereich.

Diese Dimension ist wesentlich, aber sie ist nicht die einzige. Als vorhandene Möglichkeit hat der Atomkrieg seine eigene Syntax, die sich den Intentionen und Entscheidungen der politischen Akteure aufzwängt. Der psychologische Aspekt spielt bei Putin zweifellos eine Rolle, ebenso wie bei Trump in der Nordkorea-Krise. Die Bedeutung der Ukraine für die russische Geschichte und Kultur ist nicht ausser Acht zu lassen, genauso wenig die Rolle, die die Vereinigten Staaten innerhalb der Militärführung der NATO spielen.

Doch wenn sich die nukleare Eskalationsspirale in Bewegung setzt, werden die vermeintlichen Akteure zu fieberhaft zappelnden Marionetten – Kräften unterworfen, die sich ihrer Kontrolle entziehen, obwohl sie selbst es waren, die sie hervorbrachten. Noch wähnen sie ihre Gewalt beherrschen zu können, doch es ist die Gewalt, die sie nach ihren eigenen Gesetzen manipuliert. Mit diesem Aspekt befasst sich das Buch im Wesentlichen, wobei die Ukraine-Krise nur eine besondere Fallstudie darstellt.

Unter den gegebenen Umständen wäre es jedoch schwer begreiflich, wenn ich dieses Vorwort nicht dazu nützen würde, eine zumindest grobe Analyse der aktuellen Ereignisse zu geben, die der Methode entspricht, die mich beim Schreiben dieses Buches geleitet hat.

Mit Ausnahme der Experten, die zu wissen vorgeben, dass die aktuelle Krise unter keinen Umständen zu einem nuklearen Konflikt führen kann, der wiederum einen dritten Weltkrieg auslösen könnte, treibt die Menschen auf der ganzen Welt die Frage um, wie wahrscheinlich ein solches Szenario ist. Wird Putin eine Atombombe auf eine ukrainische Stadt abwerfen, um Präsident Selenskyj endlich zum Einlenken zu bringen? Um zu verdeutlichen, dass dieses Szenario nicht unwahrscheinlich ist, lässt es sich mein Stanford-Kollege Scott Sagan – einer der wichtigsten Denker auf diesem Gebiet, der nicht zögert, Putin als den „gefährlichsten Mann der Welt“ zu bezeichnen – nicht nehmen, daran zu erinnern, dass die Vereinigten Staaten 1945 auf diese Weise Japan unterworfen haben (4). Wird der russische Präsident so weit gehen, eine europäische Hauptstadt ins Visier zu nehmen, um die NATO dafür zu bestrafen, dass sie immer schwerere und ausgeklügeltere Waffen an die Ukraine liefert? Ist er aufgrund seiner zahlenmässigen Überlegenheit bereit, seine ballistischen Interkontinentalraketen auf die einzig andere grosse Atommacht, die Vereinigten Staaten von Amerika, abzufeuern?

Um diese Fragen zu beantworten, muss ich eine Vorfrage aufwerfen, die Thomas C. Schelling im Jahr 2005 stellte: Wie erklärt sich, dass seit dem 9. August 1945, dem Tag der Zerstörung von Nagasaki, noch keine Atombombe abgeworfen wurde, um die Zivilbevölkerung auszurotten? Wüssten wir den Grund dafür, könnte uns dies vielleicht einen Hinweis geben, warum es möglich ist, dass dieses geheimnisvolle Wunder fortwirkt. Gibt es eine gute Fee, die über die Menschheit wacht und sie daran hindert, sich selbst zu zerstören, wozu sie jetzt, wenn man so sagen darf, dank der Bombe fähig ist?

Ich stosse hier auf ein methodisches Problem. Das vorliegende Werk beschäftigt sich mit der Lösung dieses Problems. Es ist allgemein üblich, die Lektüre eines Buches mit seinem Vorwort zu beginnen. Ich sehe mich daher verpflichtet, am Anfang zu wiederholen, was daraufhin folgen wird. Das Ironische an der Sache: Diese zeitliche Inversion hat genau die gleiche Form wie jene „Zeit des Entwurfs“, die ich als Lösung anbiete, um die Paradoxien der nuklearen Abschreckung aufzuklären. Ich werde dafür sorgen, dass diese Wiederholungen wie ein Gaumenkitzler Appetit auf gehaltvollere Speisen machen.

Ist die enorme Gewalt der Atombombe nicht Grund genug, jeden davon abzuschrecken, auch nur an ihren Einsatz zu denken? Ist es nicht die Masslosigkeit selbst, die das Prinzip der Abschreckung prägt? Wer könnte ein Interesse daran haben, eine Eskalation in Gang zu setzen, aus der alle als Verlierer hervorgehen würden? Diese Ideen sind seit 1945 stets gegenwärtig gewesen und haben nach wie vor eine unbestreitbare Überzeugungskraft.

Wie wir später noch sehen werden, hat man versucht, sowohl die Sprengkraft der Waffen als auch die Reichweite der Trägerraketen zu reduzieren, in der Hoffnung, die nuklearen Verwüstungen an jene eines herkömmlichen Krieges anzugleichen, bevor man begriff, dass es vielmehr die sogenannten „taktischen“ Waffen und Raketen sind, die verbannt werden müssen. In der Tat verleitet ihre relativ geringe Sprengkraft (5) dazu, sie auf dem Schlachtfeld wie herkömmliche Waffen einzusetzen, was darauf hinausläuft, in die nukleare Gewaltspirale zu geraten, die dazu bestimmt ist, wie wir apriorisch herleiten werden, nach dem Äussersten zu streben, das heisst nach gegenseitiger Vernichtung. So wie die Explosion einer A-Bombe dazu dient, den thermonuklearen Prozess im Kern einer Wasserstoffbombe in Gang zu setzen, ist der Einsatz taktischer Atomwaffen auf dem Schlachtfeld der sicherste Weg, ballistische Interkontinentalraketen aus ihren Silos zu fahren, obwohl sie den atomaren Frieden einzig durch ihr blosses Vorhandensein sichern sollen.

Diese Erklärung, die auf dem Nutzen – dem Nutzen jedes Einzelnen sowie der Allgemeinheit – beruht, wird allerdings durch die Geschichte bestraft. Die Tragik der Menschheitsgeschichte besteht darin, dass sie sehr oft genau jene zerstört, die sie vorantreiben, obwohl jeder von ihnen dabei nur seine Interessen verfolgen wollte. Wir werden später sehen, dass taktische Atomwaffen tatsächlich für eine Zeit lang zumindest teilweise verbannt wurden, heute jedoch wieder mehr denn je präsent sind.

Eine ganz andere Erklärung für das Ausbleiben eines Atomkriegs lautet: Wir sind knapp mit dem Leben davongekommen! Glück, reines Glück, also der Zufall war es, der uns vor dem Schlimmsten bewahrt hat. Historiker des Atomzeitalters reihen unzählige Zwischenfälle aneinander, die eine fatale Eskalation hätten auslösen können, es aber nicht taten: schlechte Kommunikation zwischen den wichtigsten Akteuren, Fehldeutungen, unüberlegte Risikokalkulationen, Wutausbrüche etc.. Jedes Mal wäre das Entsetzliche um ein Haar Wirklichkeit geworden.

Einige dieser Fälle werden in dem Buch analysiert. Die relative Schwäche dieser Erklärung besteht darin, dass wir nicht wissen, ob der angebliche Zufall die Systemstörung verursacht oder aber die Katastrophe verhindert hat. Ausser man geht bei dieser Reihe von Beinahe-Katastrophen von einer wundersamen gemeinsamen Ursache aus, kann man mit Recht annehmen, dass es der Zufall müde werden wird, immer Kopf zu werfen, und zwangsläufig der Moment kommen wird, in dem Zahl herauskommt, ja, dass dies sogar schon längst hätte geschehen müssen.

Der Leser mag sich wundern, dass ich die einfachste, offensichtlichste und häufigste Antwort auf die von mir gestellte Frage noch nicht erwähnt habe: Es war der Erfolg der nuklearen Abschreckung, die den Atomkrieg verhindert hat. Nach dieser Interpretation hätte der Besitz eines Nuklearwaffenarsenals nur einen Zweck: andere Atommächte davon abzuhalten, ihr eigenes Arsenal einzusetzen, und falls sie sich darüber hinwegsetzen als Erster anzugreifen, indem mit unermesslichen Vergeltungsmassnahmen und gegebenenfalls mit einem nichtnuklearen Angriff gedroht wird, der die vitalen Interessen der Nation gefährden würde. Ein grosser Teil dieses Buches stellt im Grunde genommen diese Behauptungen zur Diskussion. Was diese Frage zu einem wahrhaft philosophischen Rätsel macht, ist, wie ich bereits erwähnt habe, das Fehlen einer empirischen Grundlage und die Notwendigkeit, auf A-priori-Argumente zurückzugreifen.

Die vorwiegend amerikanischen Philosophen und Strategen, die über dieses Thema debattierten, kamen zu dem Schluss, dass Abschreckung nur dann funktionieren kann, wenn die beteiligten Akteure – sagen wir die Staatsoberhäupter zweier in Konflikt stehender Atommächte – Grund zu der Annahme haben, dass ihr Rivale irrational handelt (6). Die Schwierigkeit der nuklearen Abschreckung besteht darin, dass die aufgestellten Vergeltungsdrohungen unglaubwürdig sind. Wenn die Abschreckung scheitert, wird die angegriffene Macht dann mit ihrer Drohung Ernst machen und eine selbstmörderische Eskalation auslösen? Muss man verrückt sein oder dies vorgeben, um glaubwürdig zu sein? Von der Antwort auf diese Frage hängt ab, wie belastbar das Gebäude der Abschreckung ist.

Wie dem auch sei, ein wichtiger Grund, daran zu zweifeln, dass sich die Praxis der Abschreckung in den gesamten fast acht Jahrzehnten in einem erheblichen Masse auf das Ausbleiben eines Atomkriegs ausgewirkt hat, ist die Tatsache, dass diese Praxis meistens nicht stattfand. Das ist eine These, die in diesem Buch vertreten wird. In ihrer reinen Form bedeutet Abschreckung, auf das zu verzichten, was den Streitkräften ihre Legitimität verleiht: die Verteidigung. Nur indem man dem Gegner zeigt, dass man nichts unternimmt, um seine Raketen aufzuhalten – etwa durch einen Raketenschutzschild –, kann man ihn davon überzeugen, dass man nicht als Erster angreifen wird. Würde man das tun, hätte der Gegner freie Hand, seine Drohung mit unermesslichen Vergeltungsmassnahmen dank der Fähigkeit zum Zweitschlag auszuführen (7). Keiner greift als Erster an und im Grunde ist das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens erreicht. Aber für die Streitkräfte, deren wichtigste Aufgabe die Verteidigung der Nation darstellt, ist der Preis zu hoch, als dass sie diese aufzugeben bereit wären. In diesem Buch werden mehrere ergreifende Fälle analysiert, in denen das Prinzip der Abschreckung über Bord geworfen wurde.

Destruction of Hiroshima

Wozu haben Nuklearwaffen also bisher gedient, das auch nur im Entferntesten mit dem Ausbleiben eines Atomkriegs zu tun hätte? Die Antwort, die ich vorschlage, ist sehr paradox (8): Sie dienten zur Vorbereitung eines Erstschlags. Im Nuklearbereich wird ein Angriff als „Präemption“ bezeichnet. Man kommt dem anderen zuvor, man reagiert auf einen möglichen Angriff, als ob er bereits stattgefunden hätte. Die Antwort geht der Frage voraus: Dieser zeitlichen Inversion wird man das gesamte Buch über immer wieder begegnen. Es sind, wie ich sagen werde, vorgreifende Vergeltungsmassnahmen. Was auch immer die Nukleardoktrin als solche erklärt, so kann man behaupten, dass sowohl die sowjetischen und später die russischen als auch die amerikanischen Staatsoberhäupter die Entscheidung, als Erster zuzuschlagen, nie aus ihrem Handlungsrepertoire ausgeschlossen haben.

Jemanden von dieser Handlungsbereitschaft zu überzeugen, versteht sich ebenso wenig von selbst wie das Spiel mit der Abschreckung. Auch in diesem Fall stellt sich ein Glaubwürdigkeitsproblem. Ein Erstschlag wird nicht ausreichen, um den Gegner zu neutralisieren, und er wird weiterhin zum Gegenschlag fähig sein: Man muss ihm also zeigen, dass man den beigebrachten Schlag überstehen (engl. ride out) und den Schaden begrenzen kann, dass man also weiterhin uneingeschränkt fähig bleibt, mit einem weiteren Gegenschlag zu antworten. Das kann eine grosse Herausforderung sein. Die Vereinigten Staaten und Russland hatten und haben weiterhin ein ambivalentes Verhältnis einem Bestandteil der Nukleardoktrin gegenüber, der den gekünstelten und irreführenden Namen Escalate to De-Escalate erhalten hat. Ihre diesbezüglich unschlüssige und unklare Haltung veranschaulicht das Dilemma zwischen Abschreckung und Präemption, in dem sich die beiden nuklearen Supermächte befinden. Da dieses Thema einen direkten Einfluss auf die Ukraine-Krise hat, verdient es in diesem Vorwort einige erklärende Worte.

Die Idee der Eskalation zum Zwecke der Deeskalation findet sich bereits in Thomas C. Schellings Buch The Strategy of Conflict (9) und hat mehrere Generationen von Strategen beeinflusst. Die ab den 1960er Jahren von Robert McNamara empfohlene Doktrin eines stufenweisen Gegenschlags, das Konzept eines begrenzten Atomkriegs sowie der „Eskalationsdominaz“ oder „-kontrolle“ (escalation control) etc. sind allesamt Variationen derselben Idee. Dieser Begriff lässt sich am einfachsten mit der Logik einer Auktion veranschaulichen: Man treibt den Preis so lange in die Höhe, bis die anderen nicht mehr mitgehen können. Man erhöht die Gefechtsintensität mit nichtnuklearen (sogenannten „konventionellen“) Streitkräften bis zu dem Punkt, in dem der Übergang in die Phase eines Atomschlags unvermeidlich erscheint, um den Konflikt zu beenden und ihn gleichzeitig zu gewinnen. Genau das ist die besagte Deeskalation.

In dem Buch finden sich Argumente, die nicht nur auf die Hohlheit dieser Idee schliessen, sondern auch auf die Gefahren, in die man bei ihrer Umsetzung geraten würde. Der preussische General Clausewitz – Autor des Buches Vom Kriege – begriff, dass es in der Theorie kein letztes Wort gibt, das einen gewaltsamen Prozess beendet. Für ihn ist es der „Nebel des Krieges“, das heisst alle logistischen und sonstigen Schwierigkeiten, die zumeist verhindern, dass es zu einem fatalen Ende, also zur gegenseitigen Vernichtung kommt. Wir werden sehen, dass es im Falle eines Atomkrieges dieselben Schwierigkeiten sind, die das Streben nach dem Äussersten vielmehr beschleunigen.

Sowohl amerikanische als auch russische Kriegsstrategen protestieren kopfschüttelnd und beten das Credo der nuklearen Abschreckung herunter: Man schreckt einen begrenzten Angriff nicht ab, indem man auf sehr glaubwürdige Weise mit einem begrenzten Gegenschlag droht. Man schreckt ihn ab, indem man die Wahrscheinlichkeit der gegenseitigen Vernichtung auf einem niedrigen Level hält. Die Eskalation zum Zwecke der Deeskalation stellt für die Generalstäbe in der Praxis nach wie vor eine Verlockung dar. In ihren inoffiziellen Debatten ist diese Idee besonders unter russischen Kriegsstrategen präsent. Um sich auf ein Zitat zu beschränken: „Unsere konventionellen Präzisionswaffen sollten in der Lage sein, den Streitkräften und Stützpunkten der NATO genügend Verluste zuzufügen, um sie dazu zu bringen, ihre Aggression zu beenden oder die konventionelle Kriegsführung einschliesslich einer Offensive mit Bodentruppen auf die höchste Stufe zu steigern. Dies wäre wiederum die Rechtfertigung Russlands, auf einen nuklearen Erstschlag mit taktischen Waffen zurückzugreifen.“ (10)

Am Ende dieses Überblicks kann man nur eine negative Bilanz ziehen. Die Tatsache, dass wir einem dritten Weltkrieg mit interkontinentalen Nuklearraketen noch einmal entgangen und überdies keine Atomwaffen mit begrenzter Schlagkraft auf dem Schlachtfeld explodiert sind, erscheint wie ein Wunder.

Das Buch bietet gleichwohl eine fundierte Erklärung für die komplexe Tatsache jenes „Ereignisses, das nicht eingetreten ist“ (Thomas C. Schelling). Es sollte nicht überraschen, dass wir dafür auf eine Form der Metaphysik zurückgreifen, die man – entsprechend der gleichnamigen Theologie – als negativ bezeichnen könnte. Im Augenblick wissen wir jedoch genug, um eine Antwort auf die Frage zu wagen, von der wir ausgegangen sind: Ist es möglich, dass die Ukraine-Krise zu einem Atomkrieg führt, und in welchem Grade ist dies wahrscheinlich?

Am 1. und 2. Februar 2019 fanden zwei Ereignisse statt, die zumindest in Frankreich von der öffentlichen Meinung unbemerkt blieben und aus denen die aktuellen Geschehnisse zu einem grossen Teil hervorgegangen sind. Die Staatsoberhäupter von Amerika und Russland, zuerst Donald Trump und am nächsten Tag Wladimir Putin, gaben bekannt, dass sie ein 1987 in Washington von ihren Vorgängern Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichnetes Abkommen auflösen würden, wonach die beiden Unterzeichner alle landgestützten Marschflugkörper und ballistischen Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 km aus ihrem jeweiligen Waffenarsenal verschrotten. Der Vertrag hatte den irreführenden Namen INF (für „Intermediate-Range Nuclear Forces“, also nukleare Mittelstreckensysteme). Er war sogar sehr irreführend, wie wir noch sehen werden, da er keine Atomwaffen, sondern eine bestimmte Art von Raketen verbot, unabhängig davon, ob sie einen nuklearen Sprengkopf enthielten oder nicht. Der Rücktritt der USA von diesem Vertrag wurde am 2. August 2019 offiziell.

Es sei an die Geschichte erinnert, die zu diesem Doppelbeschluss geführt hat. Zwischen 1976 und 1987 sorgte die sogenannte Euroraketenkrise für Angst und Schrecken in Europa. Im März 1976 stationierte die Sowjetunion in ihrem europäischen Teil SS20-Raketen mit einer Reichweite von etwa 5.000 km, die also Westeuropa, aber auch China und Japan erreichen konnten.

Angesichts dieser militärischen Aggression geht US-Präsident Jimmy Carter vorerst davon aus – gemäss den Grundprinzipien der Abschreckung –, dass seine strategischen Atomwaffen und ballistischen Interkontinentalraketen ausreichen werden, um die Sowjetunion von einem Überraschungsangriff auf Europa abzuhalten. Doch der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt drängt auf ein Eingreifen der USA. Im Dezember 1979 trifft der NATO-Gipfel einen Doppelbeschluss: Druck auf die Sowjetunion auszuüben, damit sie ihre SS20 abziehen, und falls die Verhandlungen scheitern, innerhalb von vier Jahren amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland zu installieren: die Pershing II.

Es folgt eine verwirrende Zeit, in der berühmt gewordene Sätze fallen. Die deutschen Pazifisten, unterstützt von der Kommunistischen Partei, erklären, sie seien lieber „rot als tot“. Präsident Mitterrand, der sich im Namen des Kräftegleichgewichts für die Stationierung von Euroraketen ausspricht, entgegnet daraufhin mit der feinsinnigen Bemerkung, dass „die Pazifisten im Westen und die Raketen im Osten sind“. Schliesslich werden die Pershings im November 1983 in Deutschland stationiert.

Mit der Machtübernahme von Michail Gorbatschow im März 1985 ändert sich die geopolitische Situation grundlegend. Reagan und Gorbatschow treffen sich im Oktober 1986 in Reykjavik und und stehen kurz vor einer Einigung über den Grundsatz der allgemeinen Abrüstung. Das Treffen scheitert aus Gründen, die wir zu gegebener Zeit analysieren werden. Aber die Entspannung ist da und wird im Folgejahr, am 8. Dezember 1987, im INF-Vertrag umgesetzt. Es ist dieser Vertrag, den Trump und Putin im Februar 2019 aufkündigten.

In der nuklearen Welt ist die Rationalität eins mit dem Wahnsinn

Natürlich beschuldigte jeder der beiden Partner den anderen, unaufrichtig zu sein und seit langem gegen den INF-Vertrag zu verstossen. Beide konnten gute Argumente ins Feld führen. Donald Trump wurde dafür verspottet, dass seine Politik in jeglichem Bereich nur darin bestand, alles rückgängig zu machen, was sein Vorgänger Barack Obama veranlasst hatte, doch in diesem Punkt war er sein würdiger Nachfolger. Bereits 2014 zeigte sich die amerikanische Regierung besorgt darüber, dass die Russen einen Marschflugkörper stationiert hatten, der in allen Punkten den Systemen entsprach, die der INF-Vertrag untersagte. Die Russen hatten diese Rakete bereits 2008 getestet, ohne dies zu verheimlichen, wie die Tatsache zeigt, dass sich Putin 2013 offen darüber beklagte, dass Russland, durch den Vertrag eingeschränkt, in Asien von Ländern umgeben sei, in erster Linie von China, denen es freistand, sich mit nuklearen Mittelstreckensystemen auszurüsten. Nach einer langen Bedenkzeit, wie eine angemessene Reaktion aussehen könnte, beschloss Amerika daher den Vertrag zu beenden.

Für Russland war es wiederum ein Leichtes, der USA, die beispielsweise glaubte, in Osteuropa Raketenabwehrsysteme installieren zu können, Betrug vorzuwerfen. Abgesehen davon, dass diese Abwehrschirme nicht nur gegen den ABM-Vertrag verstiessen, konnten sie ohne Weiteres in Angriffswaffen umgewandelt werden. Nebenbei bemerkt gab es 1987 keine bewaffneten Drohnen, die dazu fähig sind, denselben Zweck wie Raketen zu erfüllen.

Die NATO entschied für ihren Teil, dass Russland für die Verletzung des Vertrags voll verantwortlich war und er von daher keinen Rettungsversuch verdiente. Eine seltsame Position, die sich auch Frankreich zu eigen machte, wenn man bedenkt, dass der Frieden in Europa und die Sicherheit der NATO mehr als dreissig Jahre grösstenteils dank dieses Vertrags bewahrt wurden. Aber wir werden lernen, dass man in einer atomaren Welt, in der Vernunft und Wahnsinn eins sind, nicht vorschnell die Guten von den Bösen trennen darf.

Dies ist der Hintergrund, vor dem sich die jüngsten Ereignisse einordnen und vielleicht auch verstehen lassen, darunter Putins Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren und sie anzugreifen, während er diejenigen, die sich ihm in den Weg stellen, mit seinen Atomraketen zu vernichten droht.

Dieser Schilderung muss ein Hinweis auf die Kräfteverhältnisse hinzugefügt werden. Mit Ende des Kalten Krieges 1989 kam es zwischen Washington und Moskau zu einer dramatischen Umkehrung des Kräfteverhältnisses, was die Aufteilung von konventionellen und nuklearen Waffen betrifft. Vor 1989 war die Überlegenheit der Sowjetunion bei konventionellen Waffen offensichtlich und die Vereinigten Staaten versuchten, ihren Rückstand durch die Entwicklung ihres Nukleararsenals auszugleichen.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR interessierte sich das Pentagon, stolz auf den Sieg der „freien Welt“, also der liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft, auch für andere Gebiete, z. B. für regionale Konflikte, bei denen sich konventionelle Waffen als effektiver erwiesen als Atombomben. Zur gleichen Zeit baute Putin in Russland sein Nukleararsenal aus.

Nun hat Amerika im Verhältnis gesehen generell nicht nur Atomwaffen, sondern vor allem taktische Atomwaffen vernachlässigt. Die Doktrin lautete: Konventionelle Waffen auf regionalen Schlachtfeldern und bei einer erforderlichen Eskalation zum Zwecke der Deeskalation strategische Atomwaffen, die von ihren Interkontinentalraketen getragen werden. Im Jahr 2022 hat Amerika nur noch hundert Nuklearsprengköpfe in Europa, verteilt auf fünf Länder: Deutschland, die Niederlande, Belgien, Italien und die Türkei.

Russland hat vielleicht zwanzigmal mehr Nuklearsprengköpfe, viele davon in jener von Polen und Litauen eingeschlossenen Exklave Kaliningrad, einem strategischen Standort wie er im Buche steht. Es mutet wie ein tragisches Augenzwinkern der Geschichte an, dass Immanuel Kant, der Verfasser der Abhandlung Zum ewigen Frieden, zu Zeiten des preussischen Staates in dieser Stadt, die damals Königsberg hiess, sein ganzes Leben verbracht hat; von dort stammen auch die Eltern von Hannah Arendt, der Autorin von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.

Wladimir Putin ist stolz auf die Überlegenheit seines taktischen Nuklearwaffenarsenals, auf das es unter den gegenwärtigen Umständen ankommt. Noch beunruhigender ist, dass er glaubt, viel besser als die USA darauf vorbereitet zu sein, einen nuklearen Schlagabtausch mit ihr zu überstehen (ride out). Wir haben gesehen, dass dies die notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Präemption ist, das heisst für den Schritt, als Erster anzugreifen.

Wie haben die beiden nuklearen Supermächte vor diesem Hintergrund 2019 auf die gegenseitige Zurückweisung des INF-Vertrags reagiert? Ich erinnere daran, dass dieser Vertrag die Beschränkung von Raketen vorschrieb, unabhängig davon, ob sie nukleare Sprengköpfe trugen oder nicht. Die Vereinigten Staaten und die NATO erkannten sofort die Chance, Raketen mit geringer und mittlerer Reichweite in Europa zu stationieren, allerdings ohne nukleare Bestückung. Dabei hatten sie nicht mit der Antwort Russlands gerechnet. Putin forderte die Vereinigten Staaten und die NATO mehrfach dazu auf, ein Moratorium für die Stationierung solcher Raketen mit nuklearer Bestückung in Europa zu verhängen. Diese Forderung blieb so unbeachtet, dass der französische Präsident Emmanuel Macron, obwohl er die Forderung Russlands entschieden ablehnte, diese Worte fand: „Hat das Ausbleiben des Dialogs mit Russland den europäischen Kontinent sicherer gemacht? Ich glaube nicht.“ (11)

Eine technische Frage ist hierbei von erheblicher Bedeutung: Vor Erreichung ihres Ziels ist es unmöglich zu bestimmen, ob eine ballistische Rakete einen nuklearen Sprengkopf trägt oder nicht. Angesichts dieser Unbestimmtheit hat Russland beschlossen, jede Rakete, die sich ihrem Hoheitsgebiet nähert, als nuklearen Angriff zu behandeln. Seiner erklärten Doktrin zufolge stellt dies für Russland einen ausreichenden Grund dar, seine eigenen Atomraketen abzuschiessen, noch bevor die feindlichen Raketen den Boden erreichen. Dies sollte Amerika, das im Glauben war, freie Hand zu haben, um seine konventionellen und nuklearen Raketen wieder in Europa zu stationieren, zum Nachdenken bringen. Ich erinnere daran, dass all dies geschah, kurz bevor Putin beschloss, in die Ukraine einzumarschieren.

Im ersten Kapitel des Buches lernen wir einen ähnlichen Fall kennen, aus dem der Schluss zu ziehen sein wird, dass es im Atomzeitalter von nun an angezeigt ist, alle Alarmsignale, die von Überwachungssystemen gemeldet werden, ganz gleich, ob es sich dabei um einen Fehlalarm handelt oder nicht, so zu behandeln, als ob sie echt wären. Das ist eine wesentliche Eigenschaft des von mir vertretenen Katastrophismus. Sobald eine Katastrophe grösseren Ausmasses möglich erscheint, muss man so tun, als ob sie einträte.

Dieses apokalyptische Szenario ist offensichtlich möglich, da alles darauf ausgerichtet ist, dass ein beliebiger Fehler oder Zufall die Katastrophe ins Rollen bringen kann, zum Beispiel ein „Rauschen“ im System, eine schlechte Kommunikation oder verbale Entgleisung, die, durch den Teufelskreis der Kränkung ausgelöst, zu Groll und dann zur Tat führt. Gemäss der oben genannten Regel gilt es, alles so zu betrachten, als ob die Katastrophe eintreten würde und auf dieser Grundlage alles zu tun, damit sie nicht eintritt.

A buddha temple after bombing, September 24, 1945

Dies also ist die Lehre, die ich aus dem Fall der Ukraine ziehe und die im Einklang mit den theoretischen Entwicklungen steht, die in diesem Buch zu finden sind. Die allgemeine Regel lautet wie folgt: Angesichts mehrerer für möglich gehaltener Szenarien ist es notwendig, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen, unabhängig davon, ob es die Zukunft auch derart prägen wird (12), um zu erreichen, dass es nicht eintritt. Ich gebe zu, dass ich die Frage, die die Menschen heute umtreibt, nicht vollständig beantwortet habe: Wird Putin seine Atomraketen auf eine ukrainische oder europäische Stadt abfeuern? Wie so häufig in der Philosophie habe ich die Frage noch einmal neu formuliert.

Emmanuel Macron war zweifellos ungeschickt, als er am 3. Juni 2022 betonte, dass man Russland nicht kränken solle. Die Äusserung erregte insofern Anstoss, als dass man sie auf ihren psychologischen und moralischen Gehalt bezog und in dem Sinne interpretierte: Die Gemütsverfassung des Aggressors gehe nur diesen selbst etwas an. Der französische Präsident hätte besser sagen sollen, dass die Weltordnung der schlechten Laune eines führenden Politiker ausgeliefert sei. Dies hätte ihre extreme Fragilität verdeutlicht. Geschickt formuliert hätte man von ihrer „strukturellen Instabilität“ gesprochen.

Meine Analyse hat die geopolitische Dimension des Problems fast völlig ausgeklammert. Es liegt mir fern, ihre Bedeutung herunterzuspielen. Ich wollte einfach nur zeigen, welch entscheidende Macht dieses Werkzeug, in vorliegendem Fall ein Werkzeug der Zerstörung, besitzt: die Atomwaffe. Dieses Werkzeug ist nicht neutral; ganz gleich, ob jene, die damit operieren, gute oder schlechte Absichten haben, es bleibt ein grundsätzliches Übel.

Ich schreibe dies, während Amerika wieder einmal gewohnheitsgemäss um die Opfer einer Massenerschiessung trauert, die das Leben von neunzehn Kindern im Alter von nur zehn Jahren forderte (13). Der Mörder war achtzehn Jahre alt. Ein Teil Amerikas kommt zu der Schlussfolgerung, dass der Zugang zu Schusswaffen erweitert und nicht eingeschränkt werden muss. Gewalt wird die Gewalt besiegen. Sie allein kann vor Geisteskrankheiten und dem radikalen Bösen schützen, das in anderen wohnt.

Diejenigen, die diesen Diskurs führen, sind blind für die Entscheidungsautonomie, die eine Schusswaffe in gewisser Weise mit sich bringt. Es sieht ganz so aus, als würde der Besitz einer Waffe bedeuten, den freien Willen aufzugeben. Zum Abschluss dieses Buches werden wir alle Faktoren vorfinden, um zu dem Urteil zu gelangen, dass der blosse Besitz von Atomwaffen eine moralische Abscheulichkeit darstellt.

Anmerkungen

(1) Es handelt sich bei diesem Text um das Vorwort, das Jean-Pierre Dupuy unter dem Titel „Guerre en Ukraine: l’anéantissement en filigrane“ anlässlich der Neuauflage seines Buches La Guerre qui ne peut pas avoir lieu: Essai de métaphysique nucléaire in der Reihe Points verfasst hat (Éditions du Seuil: Paris 2022). Der Essay war erstmalig 2018 im Verlag Desclée de Brouwer erschienen. A.d.Ü.

(2) Thomas C. Schelling: „An Astonishing Sixty Years: The Legacy of Hiroshima“. Prize Lecture, December 8, 2005. Online verfügbar: https://www.nobelprize.org/uploads/2018/06/schelling-lecture.pdf.

(3) Snow schrieb „mathematische Gewissheit“. Als Theoretiker der „zwei Kulturen“ ist er gewiss ein mächtiger Geist, doch vermutlich wenig in Metaphysik bewandert, sodass man ihm diese Verwechslung zwischen Notwendigkeit als einer ontologischen und Gewissheit als einer epistemischen Kategorie durchgehen lassen kann.

(4) Scott Sagan, „The World’s Most Dangerous Man. Putin’s Unconstrained Power Over Russia’s Nuclear Arsenal“, in: Foreign Affairs, 16. März 2022.

(5) Ihre Sprengkraft kann bis zu zwanzigmal höher sein als die von Little Boy, der Bombe, die Hiroshima zerstörte.

(6) Kritiker der nuklearen Abschreckung bringen meist die gegenteilige Behauptung vor. Es wird hervorgehoben, dass die nukleare Abschreckung ein abstraktes Konstrukt sei, das die völlige Rationalität der Akteure erfordere. Da diese Bedingung in der Praxis nicht erfüllt werde, zieht man den Schluss, dass das Konzept der nuklearen Abschreckung als solches abzulehnen sei.

(7) Mit dem im Mai 1972 von Richard Nixon und Leonid Breschnew unterzeichneten ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile) nahm dieser teilweise Verteidigungsverzicht konkrete Formen an. Mit dem Start der Strategic Defense Initiative durch Ronald Reagan im Jahr 1983, besser bekannt unter dem bildhaften Ausdruck „Krieg der Sterne“, sollte er hinfällig werden.

(8) Vieles gelehrt hat mich das für den Atomkrieg wegweisende Buch The Doomsday Machine. Confessions of a Nuclear War Planner (Bloomsbury Publishing: London 2018), welches der hervorragende Rational-Choice-Theoretiker Daniel Ellsberg über seine Erfahrungen verfasste.

(9) Harvard University Press: New York 1960.

(10) Alexei Arbatov, „Reducing the Role of Nuclear Weapons“, Vortrag im Rahmen des Kolloquiums „Eine Welt ohne Nuklearwaffen“, Oslo, 26.-27. Februar 2008, Hervorhebung des Verfassers (eigene Übersetzung).

(11) Nachrichtenagentur Reuters, Aerospace and Defense, 28. November 2019, zit. n. Brennan Deveraux, „Why Intermediate-Range Missiles are a Focal Point in the Ukraine Crisis“, War on the Rocks, 28. Januar 2022 (eigene Übersetzung).

(12) Diese gekünstelte Formulierung hat eine Funktion: mich daran zu hindern, auf den Begriff der Wahrscheinlichkeit zurückzugreifen, der hier, wie ich zeigen werde, keine Gültigkeit besitzt.

(13) Es handelt sich um den Amoklauf an der Robb Elementary School in der Kleinstadt Uvalde im US-Bundesstaat Texas, bei dem am 24. Mai 2022 neunzehn Schulkinder und zwei Lehrerinnen erschossen wurden. A.d.Ü.

Aus dem Französischen von Martin Alexander Sieber

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlags Éditions du Seuil

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —   Atombombenabwurf mit einer Boeing B-29 Superfortress auf Hiroshima und Nagasaki am 6. and 9. August 1945.

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Mai 2023

Stichwahl in der Türkei: Wahlkampf gegen Geflüchtete

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Kolumne von Fatma Aydemir

Auch die Opposition betreibt in der Türkei Hetze auf Geflüchtete. Kemal Kılıçdaroğlu hofft auf diese Weise, in der Stichwahl besser abzuschneiden.

Können in einem undemokratisch regierten Land demokratische Wahlen abgehalten werden? Bei den am nächsten Wochenende in die Stichwahl gehenden Präsidentschaftswahlen in der Türkei gibt es immer noch Hoffnungen auf einen Regierungswechsel – auch wenn die Voraussetzungen für die Kandidaten alles andere als gleich sind. Im April sollen laut einer Erhebung im Staatsfernsehen TRT dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan rund 32 Stunden Sendezeit gewidmet worden sein – dem Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu dagegen 32 Minuten.

Dass die Pressefreiheit im Land seit Jahren schon dramatisch eingeschränkt wird, hat zur Folge, dass es zudem kaum Zugänge gibt zu kritischen, faktenbasierten Nachrichten in der eigenen Sprache über die politische Realität im Land. Wie überall auf der Welt wirken sich natürlich auch in der Türkei vor allem Social-Media-Bubbles auf das Wahlverhalten vieler Bürger_innen aus.

Doch im Gegensatz zu manchen anderen Ländern, existiert so gut wie keine unabhängige Presse mehr, an der Fake News und Propaganda abgeglichen werden könnten. Sprich: Fake News sind die News. Kritische Berichterstattung ist dagegen – sobald sie ein größeres Publikum erreicht – ein Fall fürs Gericht.

Dass Propaganda sich am besten durch dokumentierte Zahlen und Fakten zerlegen lässt, daran glaubt in der Türkei also niemand mehr. Und so verstrickt sich auch die Opposition zunehmend in frisierten Wahrheiten im Zuge plumper Wahlversprechen, die bei der Stichwahl am 28. Mai ins Gewicht fallen könnten.

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In einer Rede am Donnerstag etwa versprach Kı­lıç­dar­oğlu, er werde, sollte er im zweiten Wahlgang gewählt werden, „alle Flüchtlinge nach Hause schicken. Punkt.“ Im Satz vorher behauptete er, Erdoğan habe 10 Millionen Geflüchtete ins Land gelassen, eine Zahl, die die ohnehin rassistische Stimmung in der Gesellschaft weiter anheizen soll. Fakt ist: Die ­UNHCR geht von derzeit 3,9 Millionen Geflüchteten aus, die in der Türkei leben sollen, allein 3,6 Millionen von ihnen aus dem Nachbarland Syrien. Sicherlich wird es eine Dunkelziffer undokumentierter Geflüchteter geben, 10 Millionen erscheint aber unrealistisch.

Seit Jahren schon wendet sich der Unmut der Bevölkerung über Wirtschaftskrise, Korruption und Arbeitslosigkeit mehr gegen geflüchtete Menschen, als gegen die politisch Verantwortlichen für diese Probleme. Die Rhetorik der Opposition verbindet nun das Potenzial dieser rassistischen Grundstimmung mit der Kritik an der AKP-Regierung: Erdoğan hat euch die Flüchtlinge gebracht, ich werde euch von ihnen befreien, geht der Duktus.

Es geht um 5,1 Prozent

Quelle         :         TAZ-online       >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten      —   Ein 80 km von Aleppo entferntes Flüchtlingslager in der Türkei (September 2012)

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Wahlen in der Türkei

Erstellt von DL-Redaktion am 19. Mai 2023

„Ich bin doch jetzt Deutscher“

Von Volkan Agar

Warum hat der türkische Präsident Erdoğan bei der Wahl fast die Hälfte aller Stimmen bekommen? Lebenswege geben Aufschluss, in der Türkei und hier.

Ein deutschtürkischer Freund, einer, der noch als sogenannter Gastarbeiter in dieses Land kam, ist vergangenes Wochenende in die Türkei gezogen – einen Tag vor den Wahlen dort.

Vor seiner Abreise fragte ich ihn, wen er wählen würde. „Ich bin doch jetzt Deutscher. Ich kann da nicht mehr wählen“, antwortete er. Denn kurz vor seinem Wegzug hatte er endlich die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen. Und weil die doppelte Staatsbürgschaft für türkeistämmige Menschen noch immer ein bloßes Versprechen ist, musste er die türkische abgeben. Über Jahrzehnte hatte er ohne Wahlrecht in Deutschland gelebt. Und nun, an seinem ersten Tag zurück in der Türkei, konnte er wieder nicht wählen.

Zwei Fragen werden in Deutschland nach der ersten Runde dieser Türkei-Wahl leidenschaftlich diskutiert: Warum hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan trotz seines Versagens angesichts der riesigen Probleme im Land – Wirtschaftskrise, Erdbebenkatastrophe, Korruption, fehlende Rechtsstaatlichkeit – fast die Hälfte aller Stimmen bekommen? Und warum fällt sein Stimmanteil unter Deutschtürken sogar noch größer aus?

Von 2,8 Millionen Türkeistämmigen waren in Deutschland etwa anderthalb Millionen wahlberechtigt. Von diesem Recht hat die Hälfte (48,7 Prozent) Gebrauch gemacht. Davon haben 65,5 Prozent, zwei Drittel, also knapp 480.000 Menschen Erdoğan gewählt. Nicht die Deutschtürken haben Erdoğan gewählt; aber eben sehr viele. Warum?

Psychologische und klassenpolitische Aspekte

Wenn man nach Antworten sucht, trifft man in der deutschen Debatte auf drei Erklärungen, deren Verfechter sie meistens so vortragen, als seien sie alleingültig:

1. Viele türkeistämmige Menschen brächten mit der Wahl Erdoğans Unmut über mangelnde Akzeptanz in Deutschland zum Ausdruck. Sie nähmen dessen Angebot eines vermeintlich echten Zuhauses an. Die Wahlentscheidung sei Protest.

2. Gast­ar­bei­te­r:in­nen und ihre Nachkommen wählten Erdoğan, weil sie aus konservativen, proletarischen, wenig gebildeten Milieus in ländlichen Regionen stammten.

3. Entscheidend seien nationalistische, islamistische und rassistische Ideologien, die unter Deutschtürken dominierten. Eine Erklärung, die auf soziologische Faktoren oder Diskriminierungserfahrungen abhebe, relativiere das Problem.

Türkei als Projektionsfläche

Wenn ich mich nun entscheiden müsste – und was die Debatte mir als Deutschtürken vermittelt, erzeugt den Eindruck, dass ich das muss –, würde ich sagen: Alle drei sind Teil der Antwort. Psychologische und klassenpolitische Aspekte gehen jedoch in diesem Erklärungswettbewerb unter.

Dass in der Türkei viele Menschen einen Präsidenten wählen, der ihnen geschadet hat, ihre alltägliche Lebensqualität beeinträchtigt und das auch in Zukunft tun wird, was sie auf rationaler Ebene wissen; dass es Erdoğan-Wähler:innen in Deutschland, für die die Türkei ja mehr Projektionsfläche als Alltag ist, schwerfällt, ihre Wahlentscheidung in Worte zu fassen – diese Tatsachen deuten doch darauf hin, dass es psychologische Beweggründe gibt, die im Verborgenen bleiben. Wenn es darum geht, irrationales Handeln zu erklären, dann hilft ein psychoanalytischer Blick, der untersucht, was ins Unbewusste verbannt wurde, weil Menschen es bewusst nicht bewältigen konnten – und was sich oft in Form menschenfeindlicher Ideologie gegen als anders markierte Menschen, aber, wie die Wahl zeigt, auch gegen sich selbst und die eigenen Interessen richten kann.

Was unterscheidet das Leben eines Erdoğan-wählenden ehemaligen Arbeiters, der in den 1960ern aus Anatolien nach Duisburg migriert ist, um dort in den Stahlwerken von Thyssenkrupp bis zur Arbeitsunfähigkeit zu schuften, vom Leben eines kemalistischen Finanzbeamten, der seine Rente im bourgeoisen Teil Istanbuls mit Blick auf den Bosporus verbringt? Welche Erfolge, Enttäuschungen, Bestätigungen und Kränkungen haben sie erlebt? Mit welchen politischen Entwicklungen und Kräften in den Herkunfts- und Zielländern verbinden sie Erlebnisse?

Quelle         :      TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —       Das darf nicht sein! Darum nur CDU Abbildung: Deutscher Michel sägt am eigenen Ast – Applaudierende Sowjetsoldaten Kommentar: Bedrohung von Freiheit, Sicherheit, Wohlstand Kalter Krieg Plakatart: Motiv-/Textplakat Auftraggeber: Verantw.: Landesgeschäftsstelle der CDU Westfalen, Dortmund Drucker_Druckart_Druckort: Lensingdruck, Dortmund Objekt-Signatur: 10-001: 603 Bestand: Plakate zu Bundestagswahlen (10-001) GliederungBestand10-18: Plakate zu Bundestagswahlen (10-001) » Die 3. Bundestagswahl am 15. September 1957 » Motivplakate Lizenz: KAS/ACDP 10-001: 603

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Der neue „Cold War 2.0“.

Erstellt von DL-Redaktion am 17. Mai 2023

KALTE KRIEGER IM SILICON VALLEY

Von Evgeny Morozov

Der Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China spitzt sich zu. In Washington beschwören manche bereits einen „Cold War 2.0“. Denn große Bedeutung kommt dem Wettlauf um die künstliche Intelligenz zu. Das Pentagon knüpft immer engere Bande zu den Tech-Giganten – die aus dem Hype um KI Kapital zu schlagen wissen.

Der Kalte Krieg ist vorbei“, verkündete 1988 die Werbebroschüre für ein merkwürdiges neues Computerspiel von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs: „… fast“. Dazu eine Zeichnung des Kreml mit ein paar geometrischen Figuren im Vordergrund. Die Broschüre wirbt für die „Sowjetische Herausforderung“ und verkündet: „Ausgerechnet jetzt, wo die Spannungen zwischen Ost und West allmählich nachlassen, landen die Sowjets einen Volltreffer gegen die USA.“

Der Volltreffer heißt „Tetris“.

In goldenen, kyrillischen Lettern prangt der Name des Kultspiels auf leuchtend rotem Grund: Тетрис – wobei das Wort statt mit einem „s“ mit Hammer und Sichel endet. Die Idee für das Werbeheftchen, das heute im National Museum of American History in Washington ausgestellt ist, kam von Spectrum HoloByte, dem US-Vertrieb des Spiels. Spectrum HoloByte bot das gesamte Motivrepertoire des Kalten Kriegs auf, um Tetris in Ronalds Reagans Amerika zum Erfolg zu machen – von russischer Volksmusik bis zu Bildern sowjetischer Kosmonauten. Schon damals wussten einige im Silicon Valley, wie man mit dem Kalten Krieg Kasse macht.1

Wir spulen vor ins Jahr 2023. Gil­man Louie, der damals CEO von Spectrum HoloByte war, ist heute eine Schlüsselfigur im „Cold War 2.0“. So nennen manche in Washington den fortschreitenden Wirtschaftskrieg zwischen China und den USA. Eine entscheidende Arena in diesem Kampf sind die Spitzentechnologien, und dabei geht es heute nicht mehr um Tetris, sondern um künstliche Intelligenz.

Louie, der eine amerikanische Bilderbuchkarriere hinlegte, wurde in den frühen 1980er Jahren als Entwickler von Flugsimulationsspielen bekannt.

Vom Spieleentwickler zum Sicherheitsberater

Die Spiele waren so erfolgreich, dass die US-Luftwaffe zu Louie Kontakt aufnahm. Ende der 1990er Jahre war Louie dann Chef des CIA-eigenen Investmentfonds In-Q-Tel, der auf Investitionen im Hightech-Sektor spezialisiert ist. Aus dem berühmtesten Investment, das In-Q-Tel einging, entstand die Technologie, die später Google Earth ermöglichte.

Als die Trump-Regierung davor warnte, dass die Vereinigten Staaten im Technologiewettlauf unterliegen könnten, tauchte Louie erneut an zentraler Stelle auf. Er wurde Mitglied der National Security Commission on Artificial Intelligence, eines hochkarätig besetzten Beratergremiums unter dem Vorsitz des ehemaligen Google-Chefs Eric Schmidt.

Innerhalb weniger Jahre entstand aus der Zusammenarbeit mit Schmidt eine enge Partnerschaft – so eng, dass Louie inzwischen CEO des 2022 gegründeten America’s Frontier Fund (AFF) ist, hinter dem ebenfalls Eric Schmidt steht. Der AFF ist ebenso wie In-Q-Tel eine Nonprofitorganisation und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Washington dabei zu helfen, „den globalen Technologiewettbewerb des 21. Jahrhunderts für sich zu entscheiden“.

Der Fonds inszeniert sich selbst als eine Art Wunderwaffe und verspricht, „die produzierende Industrie neu zu beleben, Arbeitsplätze zu schaffen, die heimische Wirtschaft anzukurbeln und das amerikanische Heartland [den Mittleren Westen] aus seiner Erstarrung zu befreien“. Auf der eindrucksvollen Liste der Vorstandsmitglieder stehen unter anderem ein ehemaliger CEO von IBM und einer von Trumps Nationalen Sicherheitsberatern.

Die Gründung des AFF ist eine Reaktion auf Chinas wachsenden Einfluss im sogenannten „Deep Tech“-Bereich, also bei künstlicher Intelligenz und Quantencomputing. „Spitzentechnologien entstehen nicht in der Garage“, verkündet der AFF auf seiner Web­site und verabschiedet sich damit vom Mythos des tüftelnden Unternehmergenies, der im Silicon Valley weit verbreitet ist.

Ironie der Geschichte: Ausgerechnet Gilman Louie, der den Kalten Krieg 1.0 für die Vermarktung von Tetris nutzte, nutzt heute den Kalten Krieg 2.0, um den KI-Hype zu befeuern. Oder vielleicht auch umgekehrt, im heutigen Washington lässt sich das nicht mehr

so genau auseinanderhalten. Fest steht nur eines: Der Hype wird konsequent zu Geld gemacht.

Der alte Tetris-Slogan lässt sich im KI-Zeitalter natürlich nicht mehr verwenden. Heute ist die Botschaft: „Der Neue Kalte Krieg ist da. Fast …“. Das kommt bei vielen in den USA gut an – bei den Tech-Konzernen ebenso wie bei Rüstungsunternehmen und bei den Thinktanks, die außenpolitisch für einen harten Kurs werben.

Jenseits aller Rhetorik sind gewisse ideologische Verschiebungen unverkennbar. Die neuerdings um sich greifende Angst, ihr Land könnte den KI-Wettlauf gegen China verlieren, hat Amerikas politische Eliten ganz offensichtlich aus ihrem Schlummer im Wunderland der freien Märkte aufgeschreckt. Diese Eliten reden inzwischen so, als fühlten sie sich nicht mehr den Dogmen des Washington Consensus (Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung) verpflichtet. Bei manchen hört es sich gar so an, als hätten sie die Seiten gewechselt und folgten jetzt dem „Beijing Consensus“.

In Foreign Affairs, dem Lieblingsorgan des außenpolitischen Establishments der USA, erschien kürzlich ein Essay2 , in dem für einen starken Staat argumentiert wird, der die KI nach Kräften pushen soll. Die Autoren, Eric Schmidt und Yll Bajraktari, rechnen auch mit den politischen Irrtümern der Vergangenheit ab: Sie tadeln Washingtons frühere Faszination für die Globalisierung, weil die USA sich dadurch von „strategischen Überlegungen“ habe ablenken lassen, und sie monieren die Orientierung der Risikokapitalbranche an kurzfristigen Gewinnen.

Stattdessen wird in dem Artikel leidenschaftlich für „Beihilfen, staatlich abgesicherte Kredite und Abnahmeverpflichtungen“ geworben. Sie seien die richtigen Instrumente, um Washingtons langfristige Tech-Ziele zu erreichen. Ausgezahlt werden sollen diese Beihilfen natürlich durch Organisationen wie den AFF, denn die wüssten im Unterschied zu herkömmlichen Risikokapitalfonds, wie man das Geld so investiert, dass es langfristigen Interessen zugutekommt.

Stellenweise erwartet man, der Artikel werde im nächsten Absatz eine stramm organisierte Industriepolitik fordern. Dazu können sich Schmidt und Bajraktari aber doch nicht durchringen, denn „Industriepolitik“ sei und bleibe, so heißt es im Text, ein „belasteter Begriff“. Die überarbeitete Version des Washington Consensus zeichnet sich offensichtlich vor allem dadurch aus, dass man mehr staatliche Zuwendungen an die Privatwirtschaft fordert und dabei die Angst ausnutzt, die USA könnten den nächsten Kalten Krieg verlieren.

Die Argumente sind meist so gestrickt, dass sie sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft Anklang finden. Ökonomische und geopolitische Überlegungen müssen ineinandergreifen. Die intensive Förderung von KI wird als Möglichkeit verkauft, den USA zu neuer Größe zu verhelfen, nach außen wie nach innen. Letzteres soll durch die massive Unterstützung neuer KI-basierter Branchen geschehen.

Manche glauben, mit diesem neuen Konsens halte der „Post-Neoliberalismus“ Einzug, aber in Wahrheit gleicht er aufs Haar dem „militärischen Keynesianismus“ aus der Zeit des Kalten Kriegs, als man höhere Militärausgaben für das Mittel der Wahl hielt, um die Sowjetunion zu besiegen und Amerikas wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern.

Drei Jahrzehnte neoliberaler Staatskunst lassen sich allerdings nicht so leicht ausradieren. Offensichtlich kann man nicht einfach zurück in die Tage des Kalten Kriegs, als öffentliche Gelder beinahe unbegrenzt einer Handvoll Rüstungsunternehmen zuflossen. Heute sind schlanke Prozesse und Unternehmergeist gefragt, und für Generäle des US-Militärs ist es nicht gerade eine Traumvorstellung, sich als Silicon-Valley-Start-up neu zu erfinden. Das Pentagon scheut sich sogar, einen eigenen Risikokapitalfonds nach dem Vorbild von In-Q-Tel aufzulegen und die vom US-Kongress dafür bereitgestellten Gelder anzunehmen.3 Vielleicht ist das der Grund, warum der AFF als private Firma gegründet werden musste.

Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Bande zwischen dem Pentagon und dem Silicon Valley enger werden. Vor kurzem schuf das US-Verteidigungsministerium sogar den neuen Posten des Chief Digital & AI Officers – und besetzte ihn mit Craig Martell, der früher beim Fahrdienst-Vermittler Lyft für das maschinelle Lernen verantwortlich war. Die US-Tech-Unternehmen arbeiten sich immer weiter in die Budgets des militärischen Beschaffungswesens vor – daran ändern auch die moralischen Bedenken ihrer Beschäftigten nichts.

Der Google-Mutterkonzern Alphabet legte zwar nach Protesten seiner Ingenieure die Pläne zur Mitarbeit an dem umstrittenen Pentagon-Projekt „Maven“ ad acta, bei dem es um automatische Bilderkennung geht, gründete aber gleich darauf eine Tochtergesellschaft mit dem harmlos klingenden Namen Google Public Sector, die Cloud-Dienstleistungen für militärische Zwecke anbietet.

Alphabet ist kein Einzelfall. Das Know-how des Silicon Valleys bei Cloud Computing und maschinellem Lernen ist und bleibt unverzichtbar für die Pläne des Pentagon. Das gilt insbesondere für die Vision, ein System aufzubauen, das die Daten von Boden- und Luftsensoren aus allen Bereichen der Streitkräfte zusammenführt. Mit Hilfe von KI sollen diese Daten so verarbeitet werden, dass das Militär wirkungsvoller und besser koordiniert reagieren kann. Zu diesem Zweck erteilte das Pentagon Ende 2022 den vier Tech-Giganten Microsoft, Google, Oracle und Amazon den Auftrag, für 9 Milliarden US-Dollar die Cloud-Infrastruktur für dieses kühne Vorhaben zu entwickeln.

Anders als in den Zeiten des Kalten Kriegs ist jedoch keineswegs ausgemacht, wie viel von diesem Geld nach der keynesianischen Trickle-down-Theorie bei der Normalbevölkerung ankommt. Im KI-Bereich fließt das Geld für Arbeitskosten in die Taschen der Staringenieure – und da geht es um ein paar hundert, nicht um Mil­lionen –, oder es landet bei den vielen schlecht bezahlten Vertragsfirmen, die dabei helfen, die KI-Modelle zu trainieren. Die meisten dieser Firmen sitzen nicht einmal in den USA: OpenAI engagiert Dienstleister in Kenia, die dafür sorgen, dass sein beliebter Chatbot ChatGPT keine anstößigen Bilder und Texte auswirft.

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Beim Cloud Computing ist zudem nicht klar, welcher Nutzen von seinem Ausbau zu erwarten ist. Datenzentren zu bauen, ist teuer – und ein positiver Effekt für die Wirtschaft ist nicht erwiesen. Klar ist nur, dass dadurch tendenziell die Grundstückspreise steigen. Problematisch sind auch die ökologischen Kosten von KI und Cloud Computing. Der Glaube an den Multiplikationseffekt des vielen Geldes, das in die militärischen KI-Anwendungen gepumpt werden soll, könnte sich als Illusion erweisen.

Es kann also sein, dass der Kalte Krieg 2.0 nicht die Rückkehr zum „militärischen Keynesianismus“ bedeutet. Sofern die KI nicht die ersehnte „technologische Singularität“ hervorbringt – also die KI selbst technologische Innovationen erzeugt –, wird Keynes nicht auf einen Schlag wieder lebendig, nur weil man noch mehr Geld in der Tech-Branche pumpt. Vielleicht erleben wir eher einen bizarren neuen „militärischen Neoliberalismus“, der durch noch mehr Staatsausgaben für KI und cloudbasierte Dienste die Ungleichheit weiter verschärft und die Aktionäre der Tech-Giganten noch reicher macht.

Kein Wunder, dass manche dieser Aktionäre auf einen Neustart des Kalten Kriegs erpicht sind. Tatsächlich hat niemand so viel dafür getan, dieses neue Narrativ und den dazugehörigen ideologischen Konsens zu festigen, wie der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt.4 Schmidt, dessen Vermögen rund 20 Milliarden US-Dollar beträgt, ist in Washington eine Institution, seit er 2008 für Barack Obama Wahlkampf gemacht hat.

Von 2016 bis 2020 hatte er den Vorsitz im Defense Innovation Advisory Board des Pentagon, für das er hunderte von US-Militärstützpunkten in aller Welt besuchte. Anschließend wechselte er an die Spitze der National Security Commission on Artificial Intelligence, die in ihrem Abschlussbericht 2021 davor warnte, die USA seien im KI-Bereich nicht ausreichend vorbereitet, um mit China konkurrieren zu können. Neuerdings ist Schmidt Mitglied einer Regierungskommission, die sich mit Sicherheitsfragen im Bereich Biotechnologie beschäftigt.

Quelle         :  LE MONDE diplomatique        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   An Aerial view of Meta’s Main Headquarters with the famed sign in view. Taken on a DJI Mavic 3 Classic; screenshotted from a video.

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Hoffnung im Südkaukasus

Erstellt von DL-Redaktion am 14. Mai 2023

Armenien und Aserbaidschan

Ein ESSAY – VON TOBIAS PIETZ

Es könnte das Ende des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan einleiten: Ab Sonntag verhandeln die Staats- und Regierungschefs beider Staaten.

Auf einmal geht alles sehr schnell: Nach den Gesprächen Anfang Mai zwischen den Außenministern aus Armenien und Aserbaidschan in den USA wird ab Sonntag der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, ein Treffen mit dem armenischen Premierminister Nikol Paschinjan und dem aserbaidschanischen Staatspräsidenten Ilham Alijew in Brüssel ausrichten. Es könnte ein zentraler Schritt hin zu einem wirklichen Friedensvertrag noch in diesem Jahr werden.

Am 1. Juni stoßen dann Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron dazu, wenn sich Alijew und Paschinjan wie geplant in Moldau beim Summit der Europäischen Politischen Gemeinschaft erneut treffen. Die EU hat sich seit letztem Jahr in eine überraschend zentrale Position gespielt. Ob beabsichtigt oder nicht, in dieser Position trägt sie aktuell die Hauptverantwortung für eine Annäherung der Konfliktparteien – und wird dieser Verantwortung hoffentlich gerecht.

Wenn man bedenkt, wie viele gefährliche und gewalttätige Zwischenfälle es allein in diesem Jahr bereits auf lokaler Ebene, vor allem im Grenzgebiet der beiden Länder, gegeben hat, ist das eine bemerkenswert positive Entwicklung. Zuletzt wurden am vergangenen Donnerstag bei Schusswechseln mit großkalibrigen Waffen in der Region Sotk ein aserbaidschanischer Soldat getötet und vier armenische Militärangehörige verletzt.

Bereits am 23. April hatte Aserbaidschan einen Kontrollpunkt auf der einzigen Straße errichtet, die die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Bergkarabach in Aserbaidschan mit Armenien verbindet – dem Latschin-Korridor – und ignorierte damit auf eklatante Weise ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs, der Baku aufgefordert hatte, die seit vergangenem Dezember bestehende Blockade der Enklave zu beenden.

Furcht vor neuer Offensive

Schon vor Sperrung des Latschin-Korridors war es Anfang April zu einem Zusammenstoß zwischen armenischen und aserbaidschanischen Einheiten an der Grenze gekommen, bei dem sieben Soldaten zu Tode kamen. Den Ernst der Lage machte auch der deutsche Leiter der EU-Mission in Armenien (EUMA), Markus Ritter, in einem aktuellen Interview mit der Deutschen Welle deutlich: „Viele Armenier glauben, dass es eine Frühjahrsoffensive von Aserbaidschan geben wird. Wenn dies nicht geschieht, ist unsere Mission bereits ein Erfolg.“

Die Beobachtungsmission EUMA besteht, sobald sie voll einsatzfähig ist, aus 100 unbewaffneten Mitarbeiter:innen, von denen etwa 50 als Be­ob­ach­te­r:in­nen tätig sein werden. Baku beschwerte sich mehrfach über die Mission als potenzielles Störelement für den Dialogprozess zwischen den beiden Ländern und hat bis heute auch die Anwesenheit der Be­ob­ach­te­r:in­nen im armenisch-aserbaidschanischen Grenzgebiet nicht offiziell akzeptiert.

Armenien hingegen hofft, dass die Mission allein durch ihre Präsenz im Grenzgebiet die Zahl der Zwischenfälle reduzieren und trotz ihrer überschaubaren Größe wie eine Art Schutzschirm wirken könnte. Um weitere Spannungen mit Baku zu vermeiden, informieren die Mission und der EU-Sonderbeauftragte Toivo Klaar Aserbaidschan im voraus über geplante Routen für Beobachtungsfahrten im Grenzgebiet.

Die Beilegung des jahrzehntelangen Konflikts zwischen den beiden ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan würde weitreichende geopolitische Konsequenzen mit sich bringen. Zur Erinnerung: Im Herbst 2020 eskalierte der Konflikt zum zweiten Karabach-Krieg. Aserbaidschan gelang es, große Teile des zuvor von Armenien besetzten Gebiets zurückzuerobern. In diesem Krieg verloren schätzungsweise 7.000 Soldaten ihr Leben, bis Russland im November 2020 einen Waffenstillstand vermittelte.

Russischer Einfluss geht zurück

Beide Länder vereinbarten, dass ein Kontingent russischer Friedenstruppen den Waffenstillstand in dem Teil Karabachs überwachen sollte, den Aserbaidschan bis dahin nicht zurückerobert hatte. Ein wichtiges Ziel dieser Friedenstruppen war es auch, durch die Kontrolle des Latschin-Korridors zwischen Armenien und Karabach, der wichtigsten Versorgungsroute zwischen der Enklave und Armenien, weitere Eskalationen zu verhindern.

Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine geht die Bedeutung der russischen Friedenstruppen vor Ort zurück. Das birgt die Chance für mehr europäischen Einfluss in der Region. Im März und August 2022 gelang es Aserbaidschan erneut, in begrenztem Umfang zusätzliches Gebiet in Karabach zu gewinnen. Mit dem Angriff auf armenisches Territorium am 13. und 14. September eskalierte der Konflikt weiter.

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Mehr als 300 Menschen wurden getötet und etwa 7.600 mussten aus den Regionen Gegharkunik, Vayots Dzor und Syunik fliehen. Armenien wandte sich daraufhin noch im September mit dem Hilferuf an die EU, eine zivile Mission zu entsenden, die die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan überwachen sollte.

Kurz darauf, am Rande des ersten Treffens der Europäischen Politischen Gemeinschaft am 6. Oktober, trafen Präsident Alijew und Premierminister Paschinjan zusammen und bekräftigten nicht nur die Souveränität und territoriale Integrität des jeweils anderen Landes, sondern einigten sich auch auf einen Prozess zur Demarkierung der gemeinsamen Grenze. Eine zweimonatige europäische Beobachtungsmission, die EU Monitoring Capacity (EUMCAP), sollte dies unterstützen.

Gefährliche Mission

Bereits zwei Wochen später trafen 40 Be­ob­ach­te­r:in­nen vor Ort ein. Als EUMCAP am 19. Dezember 2022 endete, hinterließ die EU eine Planungsmission zur Vorbereitung einer dauerhaften zivilen EU-Mission. Die neue EU-Mission in Armenien (EUMA) nahm Ende Februar 2023 in einem im Vergleich zu EUMCAP deutlich erweiterten Einsatzgebiet entlang der gesamten Grenze Armeniens zu Aserbaidschan ihre Arbeit auf.

Neben der Patrouillenarbeit hat sie die Aufgabe, lokale Kommunikationskanäle und Deeskalationsmechanismen zwischen den Konfliktparteien aufzubauen. Außerdem wird sie die Demarkation der Grenze weiterführen und trilaterale Gespräche zwischen der EU, Armenien und Aserbaidschan zur Lösung des Konflikts unterstützen. Die EUMA hat ein Mandat für zwei Jahre und hat ihren Hauptsitz in Yeghegndsor, mit Außenstellen in Kapan, Goris, Jermuk, Martuni und Ijevan.

Russland betrachtet die Mission als Versuch, den russischen Einfluss in der Region zu verdrängen. Tatsächlich ist die russische Präsenz vor Ort bislang noch enorm, denn zusätzlich zu den 2.000 Friedenstruppen in Karabach hat Russland fast 3.000 Militärs und Grenzschutzbeamte des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) in Armenien stationiert, die unter anderem die Staatsgrenze zum Iran kontrollieren.

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Intransparente Demokratie

Erstellt von DL-Redaktion am 10. Mai 2023

Kritik am Weltdachverband der Journalisten

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Von Caspar Staller

Der Deutsche Journalistenverband (DJV) steigt aus dem Weltdachverband der Journalisten aus. Letzterem wird Korruption vorgeworfen.

Der Deutsche Journalisten Verband hat seine Mitgliedschaft in der Internationalen Journalisten-Föderation gekündigt. Das gab der DJV in einer Pressemitteilung von Montag bekannt. Die wichtigsten Gründe für den Schritt seien „Intransparenz“ und „undemokratisches Verhalten“, heißt es darin. Damit wird der DJV in sechs Monaten aus dem journalistischen Weltdachverband aussteigen, in dem Organisationen aus fast allen Ländern der Welt dabei sind.

Nur fast alle Länder der Welt. Der DJV ist nicht das erste Mitglied, das dem IFJ den Rücken kehrt. Bereits im Januar beschlossen die Journalistenverbände Finnlands, Norwegens, Dänemarks und Islands, ihre Mitgliedschaft im IFJ aufzugeben. Die nordischen Verbände warfen dem IFJ „korrupte Aktivitäten“, undemokratische Praktiken und unethisches Finanzgebaren vor.

Konkret wehrten sie sich dagegen, dass russische Journalisten weiterhin Mitglied im IFJ sein konnten, obwohl deren Verbände nicht unabhängig seien und in von Russland besetzen Gebieten in der Ukraine eigenen Journalistenverbände aufgebaut hätten.

Bei einem Kongress in Oman soll es zu finanziellen Unstimmigkeiten gekommen sein. Der Kongress wurde großteils von der Regierung Omans und örtlichen Unternehmen finanziert, obwohl die Presse im Land am Persischen Golf als unfrei gilt.

Die Gründe für den Austritt des DJV sind ähnlich gelagert, sagt Hendrik Zörner, Pressereferent des DJV, der taz. „Wir kritisieren seit vielen Jahren den Mangel an Transparenz, daran hat sich nichts geändert.“

Es gebe keine nachvollziehbaren Informationen über die Verwendung von Mitteln, die der Dachverband von seinen Mitgliedsverbänden überwiesen bekomme. Das sei eigentlich eine normale Rechenschaft, die der DJV den eigenen Mitgliedern schulde und in Form eines Finanzberichts jährlich den Delegierten des DJV-Verbandstags auch vorlege.

Internationale Zusammenarbeit weiterhin wichtig

Die Russische Journalistenunion wurde im Februar aus dem IFJ ausgeschlossen. Doch Zörner kritisiert, dass erst die Austritte der nordischen Kollegen den Dachverband dazu bewegt habe. „Erst nach diesen Austritten sah sich der IFJ bemüßigt, Konsequenzen zu ziehen. Wir wollten das schon früher, weil es in Russland keine freien Medien gibt und diese Organisation eine staatlich gelenkte Organisation ist.“

Was das Fass zum Überlauf gebracht habe, sei das undemokratische Gebaren am jüngsten Kongress in Athen gewesen: Da hätte der DJV-Vertreter keine schriftlichen Anträge stellen können – „ohne Angabe von Gründen“. Dem DJV sei die internationale Zusammenarbeit aber weiterhin wichtig, die man nun im europäischen Verband weiterverfolgen werden.

Wer weiterhin im IFJ verbleibt, ist die Deutsche Journalisten Union (DJU) von Verdi. Matthias von Fintel, Bereichsleiter Medien und Publizistik sagte der taz: „Wir können die Gründe für den Austritt nicht nachvollziehen.“ Die Kritik an den Beratungen in Athen seien so nicht stichhaltig. Auch die Vorwürfe der finanziellen Intransparenz teilt die DJU nicht. Themen spreche man lieber „intern“ an.

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Putinscher Imperialismus

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Mai 2023

Warum die Linke die Ukraine unterstützen muss

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von DL-Redaktion am 9. Mai 2023

„Krieg und Frieden“
Eine kleine, gefährliche Minderheit

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Aus Almaty NIKITA DANILIN

„Wer wollte mit mir reden? Ich bin für Putin, ich unterstütze Russland, wenn ihr damit irgendwelche Probleme habt, dann lasst uns rausgehen!“, spricht uns ein Barbesucher an.

Mein Kollege und ich haben für eine Reportage in der kasachischen Hauptstadt Almaty nach Russen gesucht, die vor der Mobilmachung geflohen sind. Vor einer Bar hat uns einer der Gäste erzählt, er kenne Menschen, mit denen wir sprechen können. Fünf Minuten später kommt ein adrett gekleideter Typ auf uns zu. Er sieht aus wie Anfang, Mitte 20. Leider war es ganz und gar nicht einer derer, nach denen wir gesucht hatten.

„Kommen Sie aus Russland?“, fragt mein Kollege. „Nein, ich bin Kasache, in Almaty aufgewachsen und ich unterstütze Russland. Und wenn euch das nicht passt, sagt Bescheid!“ Hinter dem jungen Putinisten tauchen fünf seiner Freunde auf. Glücklicherweise können wir eine Schlägerei vermeiden. Aber bis zu diesem Augenblick hatten wir nicht mal daran gedacht, dass so ein Mensch aussehen könnte, der den Krieg unterstützt. Es war irgendwie bequemer zu denken, dass es vor allem die fernsehschauenden Rentner in Kasachstan seien, die die russische Propaganda unterstützen. Seit dreißig Jahren sehen Kasachen russisches Fernsehen, das jetzt den Personenkult um Putin propagiert und den Einmarsch in die Ukraine rechtfertigt. Auf Petitionen, die ein Sendeverbot für russisches Fernsehen fordern, hat die kasachische Regierung bisher nicht reagiert.

Aber denken Sie nicht, dass Russland in Kasachstan nur von alten Sowjetnostalgikern aus dem Norden des Landes unterstützt wird. Auch bei jungen Menschen aus dem Süden des Landes gibt es diese Haltung. Erst kürzlich erregte ein Bewohner der südkasachischen Großstadt Schymkent in den sozialen Medien Aufsehen, weil er sich ein Putingesicht mit der Aufschrift „Imperator“ hat tätowieren lassen. Auch einzelne kasachische Fußballfans machen keinen Hehl aus ihrer prorussischen Einstellung.

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Das kommt wahrscheinlich daher, dass die russische Propaganda schon so weit in die sozialen Netzwerke vorgedrungen ist. Es nützt also nicht, die russischen Fernsehsender „einfach abzuschalten“. Ein Glück sind die Kasachen, die das blutige Putin-Regime unterstützen, in der Minderheit. Aber diese Minderheit ist ziemlich gefährlich. Nicht selten betrachten ihre Vertreter kasachische Gebiete als Teil Russlands und Putin als ihren Präsidenten. Separatistische Ideen sind bei ihnen deshalb besonders verbreitet.

Quelle       :        TAZ-online       >>>>>        weiterlesen

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Oben     —      Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Krieg in der Ukraine

Erstellt von DL-Redaktion am 8. Mai 2023

Tag des Krieges

Ein Debattenbeitrag vonAlexander Friedmann

Putin instrumentalisiert den Krieg gegen Nazideutschland für seinen irrsinnigen Angriff gegen die Ukraine. Der „Tag des Sieges“ steht in neuem Licht.

Vor einem Jahr, am Vorabend des sowjetisch-russischen „Tages des Sieges“ am 9. Mai, mangelte es in Deutschland nicht an düsteren Szenarien. Die aggressive Rhetorik russischer Machthaber lieferte einen günstigen Nährboden dafür. Der „Tag des Sieges“ über Nazideutschland, so hieß es, würde zum „Tag der Abrechnung“ mit dem Westen. Eine Kriegserklärung an die Nato sei nicht ausgeschlossen.

Bereits unter Leonid Breschnew in den späten 1960er Jahren wurde der „Tag des Sieges“ zum wichtigsten Feiertag der UdSSR. An diese Tradition knüpft Wladimir Putin an und nutzt den Sieg im Zweiten Weltkrieg für die Abgrenzung vom Westen wie auch für die Rechtfertigung seiner revanchistischen Pläne. Seit Jahren sprechen Re­gime­kri­ti­ke­r*in­nen vom „Siegeswahn“, der die Russische Föderation jedes Jahr Anfang Mai packt.

Heute wird von einem neuen „Vaterländischen Krieg“ gesprochen, wobei die Ukraine und ihre westlichen Partner als „moderne Nazis“ gelten. Im Mai 2022 war die deutsche Gesellschaft von den dramatischen Ereignissen überrumpelt und zutiefst schockiert: Die Bilder aus Butscha und Mariupol enthüllten so erschreckende Kriegsverbrechen, wie man sie im Europa des 21. Jahrhunderts nicht mehr für möglich gehalten hatte.

Umso befremdlicher wirkten die Menschen, die – in erster Linie aus der ehemaligen UdSSR stammend und von der russischen Propaganda indoktriniert – in deutschen Städten die Politik des Kreml-Chefs im Kontext des „Tages des Sieges“ feierten. Am 9. Mai 2022 hatte Putin wenig Grund zur Freude: Moskau hatte weder militärische Erfolge zu vermelden, noch hatte man Kiew in drei Tagen eingenommen, wie zuvor verkündet.

Feier ohne Flugschau

Die „spezielle Militäroperation“ in zwei Wochen abzuschließen, erwies sich als fatale Fehleinschätzung. Auch die Feierlichkeiten auf dem Moskauer Roten Platz verliefen nicht nach Plan: Die Flugschau wurde abgesagt – angeblich wegen Unwetter. Die Militärparade fand zwar statt, jedoch konnte Putin mit seiner hölzernen Rede das Publikum wenig begeistern. Mit scheinhistorischen Argumenten wollte er seinen Ukraine-Feldzug rechtfertigen. Eine Generalmobilmachung blieb allerdings aus.

In Deutschland atmete man erleichtert auf. Ein blutiges Kriegsjahr ist seitdem vergangen. Die russische Sommeroffensive 2022 brachte den Besatzern noch gewisse Landgewinne. Ihre Frühjahrsoffensive 2023 verpuffte hingegen. Noch Ende September 2022 hat Moskau zwar die Gebiete Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk annektiert.

Die ukrainischen Offensiven, die zur Rückeroberung der Gebietshauptstadt Cherson und etlicher Gebiete im Raum Donezk und Charkiw führten, konnte die russische Armee jedoch nicht verhindern. Der Untergang des Raketenkreuzers „Moskau“ und der Anschlag auf die Krim-Brücke deckten Russlands eklatante Schwächen auf. Enttäuscht und wütend hat Putin einiges ausprobiert, um den Kriegsverlauf zu ändern. Generäle an der Spitze der Armee wurden ausgetauscht.

Ebenso fand eine extrem unpopuläre Teilmobilmachung statt. Der Kreml ließ ukrainische Städte zerstören, während die berüchtigte Wagner-Gruppe im Raum Bachmut grausam wütete. Die russische Propaganda wurde radikaler und schlachtete den Sieg über Nazideutschland weiter aus: Auf der Tagesordnung standen nun die „Entukrainisierung“ der Ukraine und die „Entnazifzierung“ Europas.

Nato hält an Ukraine-Hilfe fest

Durch den Abtransport von ukrainischen Kindern ins russische Hinterland und durch Angriffe auf das ukrainische Energiesystem wollte der Kreml den Widerstandswillen der Ukraine brechen. Und Putin gab die Hoffnung auf die Schwäche des „dekadenten Westens“ nicht auf, der die Ukraine – beeindruckt durch Atomwaffendrohungen – doch im Stich lasse. Seine Pläne gingen indes bisher nicht auf. Im Mai 2023 steht die von der Nato aufgerüstete ukrainische Armee vor ihrer wohl wichtigsten Schlacht.

Die Ukraine ist inzwischen ein EU-Beitrittskandidat und hat gute Aussichten, spätestens nach dem Krieg in die Nato aufgenommen zu werden. Russland ist hingegen international weitgehend isoliert, zunehmend von China abhängig und wird zudem von einem Diktator geführt, gegen den der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl erlassen hat. Sollte Putin tatsächlich auf die Anklagebank gebracht werden, könnte er keine milde Strafe erwarten.

Quelle         :      TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Oben     —   Private houses in Ovruch city (Ukraine, Zhytomyr Oblast) after a rocket strike during Russian invasionEmergency service of Ukraine reports about 30 destroyed houses, 5 of which are completely ruined.

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Nazis welcome

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Mai 2023

Wie der Krieg um die Ukraine der deutschen Querfront Zulauf verschafft.

Tribute to White Power

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von Tomasz Konicz

Sie geben sich keine Mühe mehr. Die Ausreden und Ausflüchte, mit denen Deutschlands national gesinnte Sozialisten ihr Abdriften in den Nationalsozialismus legitimieren, werden immer durchsichtiger. Es sind nur noch lästige Pflichtübungen, die lieblos abgespult werden.

Sowohl Wagenknecht wie Lafontaine haben im Vorfeld der Realsatire, die anlässlich des ersten Jahrestages des Ukraine-Krieges als „Friedenskundgebung“ vermarktet wurde, missverständlich klargemacht, dass dabei Nazis willkommen seien. Lafontaine sprach sich im Vorfeld generell gegen den Ausschluss von „Rechten“ bei Demonstrationen oder Streiks, da dies eine „unsinnige Diskussion“ sei. Die debile Ausrede, mit der diese offizielle Kollaboration mit dem Faschismus legitimiert wird, verweist darauf, dass man bei Großveranstaltungen ja keinen „Gesinnungstest“ bei allen Teilnehmern durchführen könnte – als ob das irgendwer fordern würde und es bei einer klaren, bislang selbstverständlichen Abgrenzung gegen rechts überhaupt notwendig wäre.1

Ähnlich argumentierte Wagenknecht. Gegenüber dem Querfrontorgan der sogenannten Nachdenkseiten erklärte die altgediente Querfront-Tante der „Linkspartei“, dass auf der Kundgebung jeder willkommen sei, der „ehrlichen Herzens“ für „Frieden und gegen Waffenlieferungen demonstrieren möchte“.2 Nur die Nazi-Fahnen sollten doch bitte diesmal zu Hause belieben, da sie auf einer „Friedenskundgebung nichts zu suchen“ hätten. Was für ein braun anlaufendes Milieu sich bei den Nachdenkseiten zusammenrottet, machte schon das Stichwort (von einer Frage kann kaum die Rede sein) klar, auf das Wagenknecht reagierte. Die Redaktion erreichten „zahlreiche Leserzuschriften“, hieß es, die „die Gretchenfrage in Bezug auf die Teilnahme von AfD-Mitgliedern“ stellten und sich fragten „ob es in dieser existenziellen Frage von Krieg oder Frieden nicht geboten sei, mit den Kräften aller politischen Lager zusammenzuarbeiten“.

Nazis welcome, also. Und die nahmen die Einladung gerne an. In einem launigen Bericht der neurechten Sezession des Götz Kubitschek hieß es etwa, dass man auf der Kundgebung zwar nicht „als Nazi“ identifiziert wurde, aber zugleich viele Leser traf und „dutzendmal“ herzlich gegrüßt wurde.3 Die Sezession-Autorin Ellen Kositza fühlte sich auf der Querfront-Demo der Linkspartei-Prominenz inmitten der eigenen Leserschaft sauwohl – bei einer Stimmung, die „insgesamt so heiter wie harmlos“ war. Beifall und Anerkennung Kositzas fanden die Redebeiträge Wagenknechts („mitreißende Rednerin“) und des sich „staatstragend“ gebenden Brigadegenerals a.D. Erich Vad, der „außerdem Sezession-Autor“ sei. Für Heiterkeit unter den Kundgebungsteilnehmern sorgten laut Kostiza schließlich einige feministische Floskeln, die Alice Schwarzer bei ihrer Rede zum besten gegeben habe, wobei die Sezession deren fehlende Abgrenzung gegen rechts erwähnte. Für Schwarzer sei die „Unterscheidung zwischen links und rechts“ heutzutage „äußerst kompliziert“, da der „Frontverlauf ist längst ein anderer“ sei. Wen wunderst – bei all den Rechten und Rechtsextremen im Publikum und auf der Bühne. In Leserbriefen an die Sezession lobten AfD-Männer die Redebeiträge, wie auch die „halbfreundlichen“ Reaktionen kommunistischer „Uraltesel“, denen gegenüber sich der Rechte zu erkennen gegeben habe.

„Nazis raus!“ Dies absolute zivilisatorische Minimum, der minimale, aus dem Schwur von Buchenwald geformte Konsens all dessen, was in der BRD noch Teil der Linken ist, wurde anlässlich dieser Kriegskundgebung bewusst und offen gebrochen und aufgekündigt. Faktisch handelt es sich um das letzte Verpuppungsstadium, um die finale braune Form einer regressiven und schlicht reaktionären Postlinken, die den Gang nach rechts 2014 mit den Friedensmahnwachen antrat, um ihn über Flüchtlingskrise und die Pandemie-Schwurbelei bis zur jetzigen Karikatur einer rechtsoffenen „Friedensbewegung“ fortzusetzen. Kräfte, die bewusst Schulter an Schulter mit Nazis marschieren und demonstrieren, können selbst bei großzügigster Interpretation nicht mehr als links bezeichnet werden. Damit hätte sich die Sache eigentlich erledigt, der Ausschluss dieser – um es mal vorsichtig zu formulieren – „rechtsoffenen“ Kräfte aus der Linken wäre reine Formsache. Nur, dies ist offensichtlich nicht der Fall. Im Gegenteil, die offene Kollaboration der alten Linken mit der Neuen Rechten löste einen Reflex der Normalisierung dieser evidenten Querfront aus, der vom Linke-Parteiapparat, dem orthodoxen, konservativ-reaktionären Spektrum der Linken und dem medialen Umfeld der Querfront getragen wurde.

Wieso nicht mal mit Nazis? Dies scheint das neue Motto des in offenen Zerfall übergehenden „linkskonservativen Spektrums“, wie es von Wagenknecht in ihrem letzten Machwerk bezeichnet wurde, (siehe Konkret 06/21),4 zu sein. Es ist nicht nur die aus verkürzter Kapitalismuskritik geborene Affinität zur Neuen Rechten. Hinzu kommt der Opportunismus in Gestalt des um seine Posten und Pfründe besorgten Parteiapparats, der sich angesichts einer Kette von Wahlniederlagen vor dem Abgrund befindet. Da ohne die Wagenknecht-Querfront die „Linkspartei“ totsicher aus den meisten Parlamenten fliegen würde, soll nun die Querfront in der Linken „normalisiert“ werden. Die Abspaltung wird von der Querfront inzwischen offen als Druckinstrument gegenüber der um Pöstchen und Gelder besorgten Restpartei eingesetzt, um weitere Spielräume zu gewinnen. Auch im besagten Nachdenkseiten-Interview spekulierte Wagenknecht über die Gründung einer eigenen Partei. Kurz nach der Demo kündigte die über alle Parteiausschlussverfahren erhabene Wagenknecht gar an, künftig nicht mehr für die „Linkspartei“ antreten zu wollen. Die rot-braunen Kräfte, die offen die Parteigründung erwägen,5 haben jetzt – abgesehen von einzelnen Fällen handzahmer Pseudokritik – Narrenfreiheit. Dies schlich aus opportunistischem, wahltaktischen Kalkül der Parteiführung.

Ein ganzer Parteiapparat samt medialem Umfeld bangt um seine Posten und Einkünfte angesichts immer neuer Wahlniederlagen – und scheint aus blanker Existenzangst heraus vor nichts mehr zurückzuschrecken. Mitunter werden schlicht schon die Fühler ausgestreckt in Richtung einer etwaigen national-sozialen Parteineugründung. In die Bewerbungsschlange der linken Naziversteher und Opportunisten, die in der Demo in Berlin partout keine Querfront sehen wollten, obwohl Rechte auf der Bühne wie im Publikum zuhauf zu finden waren, reihten sich u.A. ein: die „Kommunistische Plattform“6 der Linkspartei, das sozialdemokratische Blättchen Jacobin der Ines Schwerdtner,7 das posttrotzkistische Parteinetzwerk Marx21,8 der Linke-Studentenverband SDS,9 die Konkret-Autorin Carmela Negrete, die das Lafontaine-Buch ins „Ami go home“ ins Spanische übersetzt, die Parteivorstandsmitglieder Thies Gleiss und Christine Buchholz (witzigerweise für Antifa zuständig)10 sowie – last but not least – der RLS-Funktionär Ingar Solty, der in einem bizarren Elaborat für die nationabolschewistische Putin-Postille junge Welt, die schon mal auf Nazidemos verteilt wird, sich faktisch für die Entwaffnung der Ukraine aussprach (Solty Ukraine-Texte gleichen inzwischen öffentlichen Bewerbungsschreiben an Frau Wagenknecht).11

Ach ja, das rechtsextreme Compact-Magazin Jürgen Elsässers veröffentlichte im Vorfeld der „Friedenskundgebung“ Ausschnitte eines Interviews mit dem sehr „rechtsoffenen“ Linkspartei-Politiker Dieter Dehm,12 der „als Vertrauter von Sahra Wagenknecht“ gelte und von 2005 bis 2021 für die Linkspartei im Bundestag saß. (Kostprobe: Die Anti-Hitler Koalition des 2. Weltkrieges, war das nicht auch eine Art Querfront?). Um das Bild zu komplettieren: Selbstverständlich ist das Parteiausschlussverfahren gegen Dehm gescheitert.

Nazis for Palestine? NO WAY!

Naziversteher – das könnte bei einigen dieser Prachtexemplare des Sozialismus deutscher Prägung noch ein Understatement sein: Isabelle Casel, Wagenknechtlerin und Sprecherin des BAG „Frieden und Internationale Politik“, redete bei einer parteiinternen Diskussion über die Wagenknecht-Kundgebung geschichtspolitischen Klartext: Man solle ihr nicht mit „Hitler“ kommen, denn es sei nicht richtig gewesen, während des Zweiten Weltkrieges „ganz Deutschland mit seiner Zivilbevölkerung in Schutt und Asche zu legen mit den Bombardierungen der Alliierten sogar noch nach Kriegsende“, so Casel. Es habe auch damals „Kriegsverbrechen auf ALLEN Seiten“ gegeben und Gewalt führe ohnehin nie zu einer Lösung. Es ist ein deutscher Pazifismus, der traditionell sich nie um Tatsachen oder Kausalitäten schert – und den die Sezession nicht hätte besser auf den Punkt bringen können.

Es sind nicht nur nationalbolschewistische Kampfblätter wie die junge Welt und Querfront-Organe wie die Nachdenkseiten oder Telepolis, in denen die dort als „Linke“ verkauften Querfrontler nun partout keine Querfront sehen wollten. Das nationasoziale Wagenknecht-Lager schaffte es in den vergangenen Jahren, im linken Medienumfeld eine stabile mediale Einflusssphäre aufzubauen, die auch den Freitag13 und die rechtsoffene14 Berliner Zeitung15 umfasst – in beiden Medien konnten Wagenknechtler anlässlich der Berliner Kundgebung für Wagenknecht und die „Friedensquerfront“ fleißig Werbung machen. Hinsichtlich massenmedialer Multiplikatoren steht das national-soziale Wagenknecht-Lager bereits jetzt besser dar als die Restpartei.

Der durch die Krise befeuerte Krieg, der ja tatsächlich die Gefahr eines verheerenden Großkrieges in sich trägt, bietet – nach den Anläufen mit Pandemieschwurbelei – der Querfront die perfekte ideologische Grundlage für ihren endgültigen Durchmarsch nach rechts. Die Reste der deutschen Linken werden im Krieg zwischen den Fronten zerrieben.16 Es ist ein Dammbruch, getriggert durch den Ukraine-Krieg, bei dem offensichtlich weite Teile der deutschen Linken kollabieren und in Nationalsozialismus oder grünennehmen Linksliberalismus abdriften.17 Linker Opportunismus, Ignoranz gegenüber der Weltkrise des Kapitals, die daraus resultierende verkürzte Kapitalismuskritik und entsprechende Ideologiebildung haben zu Ausbildung dieses anachronistischen Zuges in der vergangenen Dekade beigetragen.

Inzwischen ist evident, dass die Querfront als eine Art linker „Einstiegsdroge“ in die Wahnwelt der Neuen Rechten fungierte. Ihr Erfolg beruht darauf, rechte Ideologie in linke Rhetorik zu verpacken. Objektiv fungiert die Querfront als ein reaktionärer Transmissionsriemen, der einerseits rechtes Gedankengut in linke und progressive Milieus hineinträgt, und andrerseits der Neuen Rechten immer neues, verblendetes Menschenmaterial zuführt. Dass viele in Regression befindliche Linke subjektiv in dem Spektrum aus anderer Motivation heraus aktiv werden, etwa um die „Menschen dort abzuholen, wo sie stehen“, ändert nichts an der objektiven Funktion der Querfrontstrukturen. Entscheidend ist somit nicht, was diese postlinken Kräfte wollten, sondern was sich objektiv gesellschaftlich vollzieht.

Mitunter wird der Weg nach rechts – in den Nationalsozialismus als die spezifisch deutsche Form faschistischer Krisenideologie – auch bewusst eingeschlagen. Eben deswegen gibt sich auch die Querfront kaum noch Mühe bei der pseudolinken Maskierung ihrer rechten Umtriebe, da sie eine entsprechende braune Nachfrage in den eigenen Reihen bedient. Und es sind nicht zuletzt die Wahlergebnisse der „Linkspartei“, die eindrucksvoll belegen, dass es sich beim Gerede vom „Abholen“ der Rechten, mit dem die Querfront hausiert, um bloße Ideologie handelt, um die auch in der Linken krisenbedingt ansteigenden Ressentiments zu bedienen.

Erschien leicht gekürzt in Konkret 04/2023


1  https://www.oldenburger-onlinezeitung.de/nachrichten/lafontaine-gegen-ausschluss-von-rechten-bei-demonstrationen-100951.html

2  https://www.nachdenkseiten.de/?p=94067

3  https://sezession.de/67188/friedensdemo-mit-wagenknecht-und-schwarzer-in-berlin

4  https://www.konicz.info/2021/06/29/schreiben-wie-ein-internettroll/

5  https://www.spiegel.de/politik/deutschland/sahra-wagenknecht-gruendet-sie-eine-neue-partei-a-0041fb0b-a740-453f-b9e7-264a6e1a9109

6  https://www.jungewelt.de/artikel/446060.eine-querfront-kennt-ihre-f%C3%BChrer.html

7  https://jacobin.de/artikel/neue-alte-friedensbewegung-friedensdemo-berlin-sahra-wagenknecht-alice-schwarzer-linkspartei-ines-schwerdtner/

8  https://www.marx21.de/aufstand-fuer-den-frieden-friedensbewegung-nicht-alleine-lassen/

9  https://linke-sds.org/aktuelles?

10  https://christinebuchholz.de/2023/02/26/friedensbewegung-nicht-alleine-lassen-als-antikriegs-partei-wieder-handlungsfaehig-werden/

11  https://www.jungewelt.de/artikel/445935.linker-bellizismus-knoten-im-kopf.html

12  https://www.compact-online.de/diether-dehm-ueber-querfront-in-compact-3-2023/

13  https://www.freitag.de/autoren/katharina-koerting/demonstrationen-in-berlin-gegeneinander-fuer-den-frieden

14  https://www.zeit.de/kultur/2022-10/berliner-zeitung-kulturchef-viktor-orban

15  https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/der-frieden-muss-vernichtet-werden-li.320792

16  https://www.konicz.info/2022/04/26/krisenimperialismus-und-krisenideologie/

17  https://www.untergrund-blättle.ch/politik/europa/telepolis-kritik-ukraine-politik-7014.html

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KOLUMNE-Fernsicht-Indien

Erstellt von DL-Redaktion am 6. Mai 2023

In Indien schreiben sie jetzt die Geschichtsbücher um

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Kolumne Fernsicht von  : PRIYANKA BORPUJARI

Das selektive Ausradieren der indischen Vergangenheit wurde lange vorbereitet – mit dem Ziel, die muslimische Bevölkerung auszugrenzen. Nun passiert es wirklich, und zwar in den Lehrbüchern für Geschichte. Nicht einmal mehr erwähnt wird dort nun das vom 16. bis zum 19. Jahrhundert existierende Mogulreich.

Dessen bedeutende Rolle für die Herausbildung einer „indischen Kultur“ soll fortan unterschlagen werden, denn man wolle doch die Arbeitsbelastung der Schulkinder senken. Aber wer ließ dann den Tadsch Mahal bauen, jenes prächtige Marmormausoleum aus dem 17. Jahrhundert, das auf jeder Tourismusbroschüre abgebildet ist? Das bleibt nun der Fantasie überlassen.

All das ist ein weiterer Schritt, um den rechtsgerichteten Hindufundamentalismus, auch Hindutva genannt, systematisch durchzusetzen. Die extrem rechte Hinduorganisation Rashtriya Swayansevak Sangh (RSS), die die ideologische Vorarbeit für die Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) macht, versucht schon lange, Indien als einen Staat für Hindus allein darzustellen. Niemand hat die Unruhen von 2002 nach einem Attentat auf einen Zug in Godhra im Bundesstaat Gujarat vergessen, als Mus­li­m:in­nen verbrannt, getötet und vergewaltigt wurden. Damals war ­Narendra Modi als Chief Minister der Regierungschef Gujarats. Sein Schweigen und seine Untätigkeit angesichts der Ausschreitungen waren vielsagend, sein Name kam in mehreren Petitionen vor, die Gerechtigkeit einforderten. Seit 2014 ist er Indiens Premierminister. In den neun Jahren seither hat fortgesetzte Gewalt gegen Mus­li­m:in­nen dazu gedient, seine Agenda des Hindu­staats zu fördern. Es überrascht kaum, dass auch die Godhra-Unruhen aus den Lehrbüchern getilgt worden sind.

Auch der Satz, dass Mahatma Gandhi „überzeugt war, dass jeder Versuch, Indien zu einem Staat nur für Hindus zu machen, Indien zerstören würde“, bleibt Schulkindern vorenthalten. Gandhi wurde bekanntlich von dem RSS-Anhänger Nathuram Godse erschossen. Muslime, die sich am Unabhängigkeitskampf gegen das britische Kolonialreich beteiligten, finden sich in den Lehrbüchern ebenso wenig wie Muslime, die an der Ausarbeitung von Indiens Verfassung beteiligt waren.

Über die Jahre sind von den Mogulherrschern erbaute Orte umbenannt worden. Die Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya im Jahr 1992 wurde damit gerechtfertigt, dass sie auf dem Gelände eines Hindutempels stehe. Es war ein entscheidendes Vorhaben der RSS auf dem Weg weg von einem säkularen Indien hin zu einem rein hinduistischen Staat.

Quelle      :        TAZ-online        >>>>>       weiterlesen

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Kolumne * FERNSICHT-China

Erstellt von DL-Redaktion am 4. Mai 2023

Warnung an den Westen

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Xi Jinping hegt unverhohlene Abneigung gegen den Westen und seine Werte. Chinas Demütigungen in der Vergangenheit liefern den Treibstoff für die Politik.

Im Bezug auf den Sturz des Kommunismus hat sich der Glaube an dessen friedlichen Charakter in unseren Köpfen verfestigt. Natürlich war es in Rumänien anders, wo die Agonie der UdSSR mit einem Putsch endete, aber im Allgemeinen waren die Veränderungen in Mittel- und Osteuropa sanft. Oder?

Die Erinnerung spielt uns einen Streich. Vor drei Jahrzehnten stürmten sowjetische Truppen den Fernsehturm in Vilnius. Die Litauer wollten ihre Souveränität verteidigen, was die Russen verhindern wollten. 14 Menschen wurden getötet.

All dies wurde in den letzten Tagen in Erinnerung gerufen, als ein Interview des chinesischen Botschafters in Frankreich, Lu Shaye, durch die Medien ging. Darin deutete er an, dass die Krimfrage nicht so einfach ist, wie die Ukraine und ihre Verbündeten es gerne hätten. Nach internationalem Recht, so der Diplomat, verfügen die Länder der ehemaligen Sowjet­union nicht über die volle Souveränität.

In Mittel- und Osteuropa nehmen wir die Wiedererlangung der Souveränität vor 30 Jahren todernst. Wenn jemand die Existenz der Staaten unserer Region untergräbt, laufen nicht nur den Balten, sondern auch den Polen unangenehme Schauer über den Rücken. Vor allem, wenn solche Äußerungen aus einem der mächtigsten Länder der Welt kommen – China. Peking hat relativ schnell ein Dementi abgegeben. Dennoch wird der Vorfall in den Ländern unserer Region nicht so schnell vergessen werden.

Erstens, weil chinesische Diplomaten nicht für zufällige „Zungenspritzer“ bekannt sind. Außerdem hat hier keine zufällige Figur gesprochen. Der Botschafter in Frankreich gehört zur ersten Liga der chinesischen Diplomatie, und außerdem kam die Erklärung kurz nach dem Freundschaftsbesuch von Emmanuel ­Macron und Ursula von der Leyen in Peking. Diese Erklärung zeigt, dass all die Bemühungen der Verteidiger demokratischer Werte, China auf ihre Seite zu ziehen, dort abprallen.

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Zweitens, weil die Erklärung des chinesischen Botschafters eindeutig näher an der Linie Wladimir Putins liegt als an der irgendeines europäischen Politikers. Allzu oft betrachten demokratische Politiker die Despoten zu ähnlich wie sich selbst. Spätestens aber seit der „Appeasement“-Politik Chamberlains gegenüber Hitler sollten wir uns dessen bewusst sein.

Drittens: Die Untergrabung der litauischen, lettischen und estnischen Souveränität durch den chinesischen Botschafter ist eine Politik des Achselzuckens vor der bestehenden internationalen Ordnung. Deshalb sollte man sich von dem anschließenden Dementi nicht täuschen lassen. Auch hier wurde ein Versuchsballon losgelassen – genau wie bei den chinesischen Ballons, die vor Kurzem „versehentlich“ über Nordamerika flogen.

Quelle      :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Krieg, die Linke und wir

Erstellt von DL-Redaktion am 3. Mai 2023

Waffenstillstand jetzt oder Rückzug der russischen Armee?

Eldorado dos Carajás massacre

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von    :     AG Internationalismus der Interventionistischen Linken

Die Antikriegspraxis der deutschen Linken lässt derzeit zu wünschen übrig, so die Autor*innen dieses Artikels.

Was es braucht, sei die Analyse von Ursachen des Krieges sowie Versäumnissen der Linken und die Entwicklung neuer Strategien, die es schaffen, kommende Kriege zu verhindern. Waffenlieferung und Aufrüstung seien davon klar kein Teil.

Die Logik des Krieges ist ein Schwarzes Loch. Die Idee der Nation ist sein Prinzip, seine Gravitation. Alles, was sich nicht umstandslos auf der »richtigen Seite« der Kriegsparteien einreihen lässt, wird von dieser Schwerkraft an sich gezogen und verschluckt. Zwischenräume gibt es nicht. Die Logik des Krieges braucht die Nation als Grundlage ihres Seins. Sie dehnt sie gleichzeitig in ihren verschiedenen Dimensionen aus und radikalisiert sie: als historischer Mythos und als existentielle (Not-)Gemeinschaft. Sie mobilisiert die reaktionärsten Fraktionen des Kapitals, des Staatsapparates und der Zivilgesellschaft für Aufrüstung und nationale Wirtschaftsinteressen.

Wenn sich Teile der ukrainischen Linken dazu entschlossen haben, sich in den Selbstverteidigungskampf der ukrainischen Nation einzugliedern, dann konstituieren sie sich dadurch als Teil eben dieser ukrainischen Nation und verunmöglichen gleichzeitig andere Kämpfe um Befreiung, mit anderen Worten: Sie heben den Klassenkampf in der Form der Nation auf. Aus dem Gravitationszentrum des Schwarzen Lochs dringt nichts mehr nach aussen, die Linke droht eine Gefangene im Ereignishorizont des Schwarzen Lochs zu werden.

Parteiverbote, Verbote von kritischen Medien, der Abbau von Arbeiternehmer* innenrechten und die Zwangsrekrutierung der männlichen Bevölkerung zwischen 18 und 60 Jahren werden von der ukrainischen Regierung mit dem Kriegszustand und seinen Notwendigkeiten begründet, dem sich Teile der ukrainischen Linken unterworfen haben. Die hilflose Bitte von Vitalyi Dudin, dem Vorsitzenden von Sotsyalnyi Rukh (Soziale Bewegung) per Brief an den ukrainischen Präsidenten Selenskyi gerichtet, doch bitte gegen die Arbeitsmarktreform Einspruch zu erheben, die eben jener doch selbst initiiert hatte, ist ein Beispiel für die unwiderstehliche Schwerkraft des Schwarzen Lochs. Nicht nur in der Ukraine, auch für uns Linke in den indirekt beteiligten Staaten, werden durch die Fortdauer des Kriegs die Kampfbedingungen verschlechtert. Im globalen Süden stellt sich nicht nur die Frage nach der Verschlechterung der Kampfbedingungen, sondern jene nach dem nackten Überleben für Millionen von Menschen, die besonders vom anhaltenden Wirtschaftskrieg betroffen sind und sich daher bewusst nicht an diesem beteiligen wollen.

Krieg und Faschismus

Teile der ukrainischen Linken begründen ihren Schritt der Unterordnung unter die Nation mit dem Argument, es würde ihre Kampfbedingungen in der Zukunft verbessern. Zweifellos wollen weite Teile der Bevölkerung und erst recht die emanzipativen Strömungen in ihr nicht in einer russischen Besatzungszone leben oder gar Teil von Neurussland werden. Wer könnte das nicht nachvollziehen?

Aber die verzweifelte Hoffnung, aus dem Ende des Krieges als gestärkte oder gar als irgendwie gleichberechtigte Kraft hervorzugehen, scheint uns eine zutiefst unrealistische Einschätzung zu sein. Das enge und sich gegenseitig bedingende Verhältnis von Krieg und Faschismus zeigt sich auch in diesem Konflikt; und das nicht nur an dem aggressiven Angriffskrieg des russischen Regimes, sondern auch daran, dass auf beiden Seiten Naziverbände kämpfen, aber auch und vor allem an den innenpolitischen Konsequenzen auf beiden Seiten.

Auch auf Seiten der Ukraine können wir die Tendenz beobachten, dass ein nationalistischer Geschichtsrevisionismus und seine Narrative immer robuster auftreten, die Form der Staatsdoktrin annehmen und mit dem Nazikollaborateur Stepan Bandera als dem ukrainischen Volkshelden ihren pointiertesten Ausdruck finden. Wir befürchten, dass die Rückwirkungen dieser Prozesse der Faschisierung auf die Subjektivitäten beider Seiten fatale Folgen zeigen, eine gepanzerte, nationale, gegen jeden politischen Pluralismus gerichtete Volksgemeinschaft zurücklassen werden und Perspektiven der linken Opposition und gar Emanzipation auf lange Zeit versperren.

Sich dem Lagerdenken widersetzen

Wir teilen deshalb die Einschätzung, dass ein Parteiergreifen für eines der kriegsführenden Lager ein fataler Irrweg ist. Eine emanzipatorische, globale Linke muss sich dem Lagerdenken widersetzen, um nicht in den Gravitationsraum des Schwarzen Lochs zu gelangen. Deshalb ist die Frage, die wir uns stellen müssen: Wie können wir Formen der Solidarität und der aktiven Beihilfe entwickeln, die erstens quer zu dieser Lagerdichotomie liegen und die zweitens diejenigen Menschen zum Ausgangspunkt der Überlegungen und Anstrengungen nimmt, die unter dem Kriegsregime leiden und unter ihm sterben: die ausgebombte Zivilbevölkerung, die in Kellern und den U-Bahnschächten Schutz suchen muss ebenso wie diejenigen jungen Männer, die sich aus Angst Rekrutierungstrupps der ukrainischen Armee in die Arme zu laufen, nicht mehr aus ihren Wohnungen trauen.

Waffenstillstand jetzt oder Rückzug der russischen Armee?

Neben dieser Perspektive der zu den Kriegslagern querliegenden Solidarität und Beihilfe stellt sich zweitens die Frage danach, was eine progressive Forderung im Russland-Ukraine-Krieg sein kann: Ist es, wie die Autor*innen vom Russian Socialist Movement vor Kurzem auf dem iL-Debattenblog geschrieben haben, »heuchlerisch«, wenn ein Friedensappell nicht den kompletten Rückzug aus dem ukrainischen Territorium fordert, sondern zu einem Waffenstillstand aufruft?

Aus der Perspektive der russischen Genoss*innen ist die Argumentation nachvollziehbar. Wenn Deutschland ein anderes Land überfallen würde, würden wir natürlich auch alle den sofortigen, bedingungslosen Rückzug fordern, in der Hoffnung, dass die Heimatfront gegen den Aggressor kippt und so ein Ende des Krieges näher rückt. Aber wir sind nicht in Russland und unser direkter Einfluss auf das russische Regime ist gleich null. Trotzdem unterstützen wir den Einsatz der russischen Genoss*innen für einen breiten Protest gegen den Krieg und das Ende des Putin-Regimes.

Aber unser Einsatz hier in Deutschland muss ein anderer sein, weil wir eine andere Rolle und Perspektive haben als die innerrussische Opposition gegen Putin. Wir müssen uns die Frage stellen, was eine Alternative zu einem langandauernden Abnutzungs- und Stellungskrieg ist. Unserer Ansicht nach kann das nur die Forderung und der entsprechende Druck auf die deutsche Regierung sein, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln für einen sofortigen Waffenstillstand einzusetzen und in einem zweiten Schritt den Konflikt einzufrieren, z.B. durch die Unterstützung der entsprechenden Initiativen aus Brasilien oder China. Dass ein Waffenstillstand und das Einfrieren des Konflikts nicht gleichbedeutend mit Frieden ist, ist uns klar. Aber es wäre ein wichtiger Schritt, der das grosse Sterben beenden würde. Vielleicht würde er nicht lange halten, wie die Kritiker*innen des Vorschlags behaupten. Wir wissen es nicht. Aber wenn nur die begründete Möglichkeit besteht, dass das Sterben beendet wird, müssen wir es versuchen.

Das ist aus unserer Sicht die fortschrittliche Alternative dazu, weiterzukämpfen und zu sterben, bis eine Partei endgültig gewonnen hat. Das ist keine realistische Perspektive für ein baldiges Ende des Krieges. Über die wahren Ausmasse des Sterbens, so zumindest unsere Vermutung, wird noch viel Entsetzen herrschen, falls einmal annähernd realistische Zahlen der Todesopfer auch auf ukrainischer Seite veröffentlicht werden sollten. Nicht ohne Grund werden sie von der ukrainischen Regierung geheim gehalten. Auch wenn russische Genoss*innen diese Ansicht nicht teilen, plädieren wir dafür, dem grossen Sterben so schnell wie möglich ein Ende zu setzen. Andersherum müssen sich Positionen, die Waffenlieferungen befürworten, die konkrete und ehrliche Frage beantworten, wann die Forderungen denn erfüllt sind? Wie viele und welche Waffen braucht es für einen wie auch immer gearteten »Sieg« über Russland? Schusswaffen? Panzer? Taktischen Einsatz von Atomwaffen? Oder auch: Wie viele Menschenleben ist der »Sieg« – oder die »Verbesserung der Kampfbedingungen« – wert?

Die Ursachen des Konflikts verstehen können

Drittens müssen wir die Anstrengung unternehmen, die Ursachen des Konflikts besser zu verstehen. Eine Perspektive von Teilen der Linken, die den Krieg am 24.02.2022 beginnen lässt und ihn auf die Irrationalität und den Vernichtungswahn der Person Putin reduziert, müssen wir energisch widersprechen. Sie vergisst die banale Einsicht, dass im vorherrschenden kapitalistischen Weltsystem der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Auch kann eine Perspektive, die die Pathologie Putins als Kriegsgrund anführt, sich konsequenterweise gar nicht zu materiellen Ursachen und der Frage durcharbeiten, ob dieser Krieg vermeidbar gewesen wäre.

Die Verweigerung gegenüber einer umfassenden moralischen Mobilmachung des öffentlichen Diskurses, an dem sich auch Teile der Linken beteiligen, gehört zu der Verweigerung des Lagerdenkens. Wenn allein schon die grundlegende kritische Frage angegriffen wird, welche Rolle denn die NATO in der Entwicklung des Konflikts gespielt hat und diese als Pro-Putin-Parteinahme verunglimpft, werden die Spielräume des kritischen Denkens offensichtlich kleiner. Was einmal als Methode des historischen Materialismus bekannt war, wird freiwillig an der Eingangsgarderobe des NATO-Lagers abgegeben.

Unevolution

Dieser schmerzhafte Prozess der theoretischen Selbstentwaffnung der Linken beraubt sie des kritischen Instrumentariums, die historischen Bedingungen zu analysieren, die eben zu diesem Krieg geführt haben. Und neben einer ganzen Reihe von Faktoren muss in einer solchen Analyse natürlich auch die Rolle der NATO kritisch betrachtet und benannt werden. In diesem Kontext sei nur ganz kurz auf Robert F. Kennan, Aussenpolitikexperte und Vertreter der Realistischen Schule in den Internationalen Beziehungen hingewiesen, der schon 1997 in der New York Times die NATO-Ostexpansion als »fateful error« beschrieben hat, der zu einer Stärkung der nationalistischen, anti-westlichen und militärischen Tendenzen in Russland führen sowie negative Effekte auf die Entwicklung der russischen Demokratie haben werde.

Die kommenden Kriege

Die Ursachenanalyse ist von zentraler Bedeutung, weil sie zugleich eine Analyse unserer eigenen strategischen Versäumnisse und Unfähigkeiten der Vergangenheit ist. Positiv gewendet: Nur sie kann zum Ausgangspunkt einer neuen Strategieentwicklung werden und eine Richtung vorgeben, wie die kommenden kriegerischen Auseinandersetzungen, auf die sich das zunehmend chaotisierende Weltsystem ohne Zweifel zubewegt, in Zukunft verhindert werden können. Dazu gehört auch ein konsequenter Widerstand gegen die sich zunehmend panzernden Kriegsregime und die Entwicklung einer Perspektive, die vielleicht am besten als die Neuerfindung einer globalen Friedenspolitik bezeichnet werden kann und die die Reproduktion der imperialen Lebensweise im globalen Norden als einer der wesentlichen Triebkräfte der aggressiv-imperialistischen und extraktivistischen Regime kritisiert und angreift.

Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine, schreibt der spanische Autor Raúl Sánchez Cedillo. Dem müssen wir leider zustimmen. Wir sehen die in der neueren Geschichte einmaligen Aufrüstungsprogramme, auch in Deutschland, und wissen: Diese Waffen werden produziert für die kommenden und bereits geäusserten Machtansprüche, für die Sicherung der Rohstofftransfers in den globalen Norden, zur Sicherung der EU-Aussengrenzen, zur Bekämpfung der interimperialistischen Konkurrenz, kurz: für die kommenden Kriege. Die Herausforderungen für eine globale friedenspolitisch ausgerichtete und mit der Klimagerechtigkeitsbewegung zusammen agierende Linke sind gewaltig. Der nächste grosse Konflikt ist schon in Sichtweite und erreicht immer neue Eskalationsstufen: Der westliche Block ringt mit China um die globale Vorherrschaft.

Ersatzhandlungen der Linken

Vor dem Hintergrund dieser monströsen Aufgabe können wir es nur als bitter bezeichnen, dass eine aktuelle Antikriegspraxis der deutschen Linken quasi nicht existiert. Sie entwickelt weder ein eigenes nachvollziehbares Deutungs-, noch ein massenkompatibles Aktionsangebot. Sie versucht auch nicht den Sprung ins Handgemenge, wie er möglich gewesen wäre, bei der Friedenskundgebung am 25. Februar in Berlin. Diese war nicht unproblematisch, wie alleine die Organisatorinnen und einige Passagen aus dem Aufruf zeigen. Dennoch erscheint uns das Beschimpfen von der Seitenauslinie dieser von der Zusammensetzung her sich nicht wesentlich von jedem x-beliebigen Ostermarsch unterscheidenden Veranstaltung bei gleichzeitiger Verweigerung jedes eigenen Deutungs- und Aktionsangebots, als die schlechteste aller möglichen Verhaltensweisen einer sich selbst als emanzipatorisch verstehenden Linken zu sein.

Handlungsmöglichkeiten der iL

Die Auseinandersetzung mit Krieg und Aufrüstung wird nicht mit einem Ende des Krieges in der Ukraine enden. Wir können uns ein Wegschauen oder ein Nichtssagen bei diesem global-gesellschaftlich so relevanten Thema nicht leisten. Es braucht eine den aktuellen Herausforderungen gewachsene Friedensbewegung, und diese erreichen wir nur, wenn wir uns in der aktuell bestehenden Friedensbewegung, die wirklich viel zu wünschen übrig lässt, einbringen, sie mitgestalten und kritisieren, kurz: Indem wir intervenieren!

Eine konkrete Möglichkeit bietet sich mit den Ostermärschen Anfang April, an denen wir uns massiv beteiligen sollten. Eine rechte Vereinnahmung des Friedensthemas verhindern wir nicht durch süffisante Twitter-Kommentare, sondern indem wir den Nazis den Raum auf den Demos gar nicht erst geben – denn, wie vielerorts richtig beschrieben wird: Auch die Rechten bespielen das Thema. Das bedeutet aber nicht, dass es per se ein rechtes Thema ist, diese Dynamik kennen wir ja nun schon zu Genüge von Sozialprotest etc. Diese Gefahr verschärft sich massiv durch die Zersplitterung der Linken an dem Thema, so dass Rechte mit viel mehr (falscher) Klarheit auftreten können. Der effektivste Weg, eine massive recht Agitation im Themenfeld des Friedens zu verhindern, ist es eben, Rechte zu verdrängen und Analysen zu bieten, die für ihre Narrative keinen Stoff bieten. Wir müssen unsere eigenen Inhalte deutlich sichtbar setzen. Eine Kampagne für die Unterstützung von Deserteur*innen im Rahmen der Ostermärsche und darüber hinaus wäre ein Beispiel von vielen hierfür.

In Zeiten des Kriegs vor der Haustür und der konkreten globalen Kriegsgefahr ist die Wiedererstarkung einer linken Friedensbewegung so wichtig wie nie – lasst uns dafür gemeinsam kämpfen!

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Neue alte Weltordnung?

Erstellt von DL-Redaktion am 2. Mai 2023

No one wins, one side just loses more slowly.“

Es wird immer Einer daseun, welcher sich alles nimmt. 

Quelle       :        Scharf  —  Links

Von     :        Tomasz Konicz

Kann das staatskapitalistische China die abgetakelten USA als Hegemon beerben? The Wire.

Glaubt mensch den Deklarationen russisch-chinesischer Gipfeltreffen und westlichen Einschätzungen, dann wird das 21. Jahrhundert durch eine Ära chinesischer Hegemonie bestimmt werden. Bei ihrem Moskauer Kriegsgipfel Mitte März sprachen sich Putin und Xi für eine „gerechte multipolare Weltordnung“ aus, die der Ära der US-Hegemonie ein Ende bereiten würde.1 Ein britischer Regierungsreport warnte hingegen vor einer Welt der „Gefahr, Unordnung und Teilung“, die Peking in offener, „epochenformender Herausforderung“ der liberalen, „regelbasierenden Weltordnung“ kreiere.2 Wobei es eigentlich auch britischen Analysten schwerfallen müsste, die krisengeplagte spätkapitalistische Welt anders als durch “Gefahr, Unordnung und Teilung” geprägt zu sehen. Bei solchen Einschätzungen handelt es sich offensichtlich um simple Projektionen. Doch das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie vollkommen falsch wären – wie ja ein flüchtiger Blick auf das Gemetzel in der Ukraine und das Säbelrasseln um Taiwan illustriert.

Das Gerede von einer multipolaren Weltordnung ist somit einerseits Ideologie all jener autoritären Staaten der Semiperipherie, die sich vermittels imperialistischer Macht- und Kriegspolitik darum bemühen, die erodierenden USA zu beerben, um auf regionaler oder globaler Ebene eine ähnliche Vormacht oder Dominanz zu erringen, wie sie Washington in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts innehatte. Die Zunahme regionaler zwischenstaatlicher Konflikte ist gerade Ausdruck dieser sehr reellen multipolaren Weltunordnung in einer globalen Krisenphase, in der es faktisch keinen Welthegemon mehr gibt. Ob es nun russische Imperialisten, iranische Mullahs, türkische Neoottomanen oder deutsche Vollazis und Querfrontler sind – es ist vor allem der Neid auf die im Zerfall begriffenen Machtmittel Washingtons, der dieses letzte Stadium des Antiamerikanismus motiviert. Und dies gilt vor allem für den US-Dollar. Der Greenback als – vor allem auf dem Ölhandel beruhende – Weltleitwährung verschaffte Washington die Option, sich im Wertmaß aller Warendinge zu verschulden, um etwa seine Militärmaschinerie zu finanzieren. Wenn hingegen ein Erdogan die Geldpresse anwirft, dann steigt einfach die Inflation.

Deswegen sorgen die jüngsten währungspolitischen Abmachungen zwischen China, Russland und etlichen Staaten der Semiperipherie für Aufsehen. Mitte März propagierte Regierungschef Xi bei einem Staatsbesuch in Riad eine Umstellung des Ölhandels mit Saudiarabien auf den chinesischen Yuan, um der „zunehmenden Umwandlung des Dollars zur Waffe“ zu begegnen.3 Riad soll den symbolischen Schritt zur Abwicklung eines Teils seines Ölhandels mit Peking ernsthaft erwägen. Im kriegsführenden Russland ist angesichts westlicher Sanktionen der Yuan zur meistgehandelten Währung aufgestiegen.4 Ähnliche bilaterale Währungsdeals konnte Peking mit Brasilien,5 Pakistan6 und Venezuela7 abschließen. Auf dem letzten BRICS-Treffen im Februar wurde gar der Aufbau eines alternativen Währungssystems für „Schwellenländer“ diskutiert.8 Die Financial Times warnte bereits im März, dass die westlichen Funktionseliten sich auf eine „multipolare Währungsweltordnung“ vorbereiten sollten – was den Verlust des „außerordentlichen Privilegs“ Washingtons, sich in der Weltleitwährung zu verschulden, bedeuten würde.

Diese verstärkten Absetzbewegungen vom Dollar sind einerseits auf die US-Sanktionen gegen Russland beim Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine zurückzuführen, da dabei erstmals russische Auslandsguthaben eingefroren wurden (Lawrow sprach vom „Diebstahl“), was von allen Regimes, die perspektivisch damit rechnen müssen, in Konflikt mir Washington zu geraten, aufmerksam registriert wurde. Doch kann diese Tendenz zur De-Dollarisierung und De-Globalisierung nur vor dem Hintergrund des imperialen Abstiegs der USA und des historischen Krisenprozesses voll verstanden werden. Hiernach erst wird klar, wieso China nicht in der Lage sein wird, die Vereinigten Staaten als Hegemon zu beerben.

Giovanni Arrighi hat in seinem faszinierenden Werk ‚Adam Smith in Beijing‘ die Geschichte des kapitalistischen Weltsystems als eine Abfolge von Hegemonialzyklen beschrieben. Eine aufstrebende Macht erringt in einer auf der warenproduzierenden Industrie geprägten Aufstiegsphase eine dominierende Stellung innerhalb des Systems, nach einer Signalkrise geht diese Hegemonialmacht in den imperialen Abstieg über, in dem die Finanzindustrie an Bedeutung gewinnt, um schließlich von einem neuen, über größere Machtmitte verfügenden Hegemon abgelöst zu werden.

Und diese Abfolge kann sowohl im Fall Großbritanniens wie der USA empirisch nachvollzogen werden. Das englische Empire, das im Rahmen der Industrialisierung im 18. Jahrhundert zur ‚Werkstatt der Welt‘ aufstieg, wandelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Weltfinanzzentrum, bevor es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den ökonomisch aufsteigenden USA abgelöst wurde, die wiederum ihre ‚Signalkrise‘ während der Krisenphase der Stagflation in den 70ern erfuhren. Hiernach setzte die Deindustrialisierung und Finanzialisierung der USA ein, die zu einer ökonomischen Dominanz des US-Finanzsektors führte. Die Verschuldung des absteigenden Hegemons beim imperialen Aufsteiger, die Arrighi ebenfalls thematisierte, kann sowohl im Fall Großbritanniens gegenüber den USA, als auch den Defizitkreislauf der Vereinigten Staaten gegenüber China festgestellt werden.

Der Dollar errang seine Weltstellung somit im Rahmen des fordistischen Nachkriegsbooms, als der Marshall-Plan im verwüsteten Europa auch die Hegemonie der Vereinigten Staaten zementierte. Und es war gerade diese lang anhaltende Phase fordistischer Expansion, die das ökonomische Fundament der US-Hegemonie bildete. Mit dem Ende des Nachkriegsbooms in der Stagfaltionsphase, der Finanzialisierung und der Durchsetzung des Neoliberalismus wandelte sich die ökonomische Grundlage des westlichen Hegemonialsystems: Die sich immer weiter verschuldenden USA wurden in der systemischen Überproduktionskrise zum „Schwarzen Loch“ des Weltsystems, das durch seiner Handelsdefizite die Überschussproduktion exportorientierter Staaten wie China und BRD aufnahm – um den Preis voranschreitender Deindustrialisierung. Peking und Berlin hatten somit allen Grund, die US-Hegemonie und den Dollar als Weltleitwährung zu tolerieren, da ohne den amerikanischen Absatzmarkt Chinas Aufstieg zur neuen „Werkstatt der Welt“ nicht möglich gewesen wäre.

Der an seiner eigenen Produktivität erstickende, zunehmend auf Pump laufende Spätkapitalismus kettete im Rahmen dieser Globalisierung der Defizitkreisläufe und der damit korrespondieren Blasenökonomie die „Produktionsstandorte“ und Defizitstaaten aneinander, doch zugleich nahm das Konfliktpotenzial aufgrund sozioökonomischer Zerfallsprozesse immer weiter zu. Diese Krisentendenz wurde ganz konkret in Donald Trump personifiziert, der von einer erodierenden weißen Mittelschicht gewählt und mittel Protektionismus die USA reindustrialisieren wollte – und somit ungewollt de Abstieg des Dollars, der gerade aufgrund der Defizite des Dollarraumes akzeptiert wurde, noch beschleunigte. Eigentlich gibt es seit Trump keine US-Hegemonie mehr. Die Vereinigten Staaten halten ihre Stellung nur noch vermittels nackter Dominanz, vor allem aufgrund ihres Militärisch-Industriellen-Sektors, der das wahre Rückgrat des Dollars bildet – und eben dies lässt eine militärische Auseinandersetzung zwischen China und den USA wahrscheinlich werden. Die USA stehen global ähnlich mit dem Rücken zur Wand, wie es der russische Imperialismus am Vorabend des Ukraine-Kriegs im postsowjetischen Raum tat. Dies wurde auch am derzeitigen Bankenbeben evident, das ausgerechnet an US-Staatsanleihen getriggert wurde.9

Der krisenbedingt zunehmende Protektionismus scheint somit der Weltleitwähurng Dollar den Rest zu geben. Und dennoch wird das 21. Jahrhundert aufgrund der sich entfaltenden sozioökologischen Weltkrise des Kapitals keine Epoche chinesischer Hegemonie mit sich bringen können. Der Yuan wird den Dollar nicht beerben. Die von der Dominanz der Warenproduktion geprägte hegemoniale Aufstiegsphase der Volksrepublik erfolgte im Rahmen der besagten globalen Defizitkreisläufe, bei denen die Verschuldungsdynamik im Westen die Nachfrage für die chinesische Exportwirtschaft generierte – und sie endete mit dem Krisenschub von 2008. Mit dem Platzen der Immobilienblasen in den USA und Europa gingen die extremen chinesischen Exportüberschüsse zurück (mit Ausnahme der USA), während die gigantischen Konjunkturpakete, die Peking damals zur Stützung der Wirtschaft auflegte, zu einer Transformation der chinesischen Konjunkturdynamik führten: der Export verlor an Gewicht, die kreditfinanzierte Bauwirtschaft, der Immobiliensektor bildeten fortan die zentralen Triebfedern des Wirtschaftswachstums.

Somit hat China offensichtlich seine ‚Signalkrise‘, die den Übergang zu einem finanzmarktgetriebenen Wachstumsmodell markiert, schon 2008 hinter sich gebracht. Chinas Wachstum läuft somit ebenfalls auf Pump, die Volksrepublik ist ähnlich hoch verschuldet wie die absteigenden westlichen Zentren des Weltsystems. Die chinesische Defizitkonjunktur bringt noch weitaus größere Spekulationsexzesse hervor als es in den USA oder Westeuropa der Fall war, was die Verwerfungen auf dem absurd aufgeblähten chinesischen Immobilienmarkt 2021 evident machten. Ökonomisch hat der hegemoniale Abstieg der Volksrepublik aufgrund der globalen Systemkrise bereits eingesetzt, obwohl sie ihre Hegemonialposition geopolitisch noch gar nicht erringen konnte.

Was immer zählt in der Politki ist der persönliche Reichtum der Machthaber ! Und so hat der Westen allen gezeigt, wie es geht !

Dieser Mangel eines neuen Leitsektors, eines massenhaft Lohnarbeit verwertenden Akkumulationsregimes in der Warenproduktion, in dem sich die innere Schranke des Kapitals manifestiert, bildet den großen Unterschied zwischen dem gegenwärtigen China und den USA am Ende des 2. Weltkrieges. Dies wird gerade hinsichtlich der außenpolitischen Ambitionen Pekings evident, wo mit der „Neuen Seidenstraße“ ein ehrgeiziges globales Entwicklungsprojekt initiiert wurde, das sich am Vorbild des Marshall-Plans orientierte – und das der Volksrepublik die erste internationale Schuldenkrise bescherte.10 Von den rund 838 Milliarden US-Dollar, die Peking bis 2021 zum Aufbau eines auf China zentrierten Wirtschafts- und Bündnissystem in Entwicklungs- und Schwellenländern investierte, sollen nach dem Ausbruch des aktuellen Krisenschubs (Pandemie und Ukraine-Krieg) rund 118 Milliarden ausfallgefährdet gewesen sein.11

Da ist kein globaler Konjunkturfrühling in Sicht, sondern nur Überschuldung und Inflation.12 China wirkt somit aufgrund seiner im In- und Ausland einstürzenden Schuldentürme, als ob es schon vor dem Erringen der Hegemonie im Abstieg befindlich wäre. Hinzu kommt die äußere, ökologische Schranke des Kapitals, da die Volksrepublik im Zuge ihrer staatskapitalistischen Modernisierung zum größten Emittenten von Treibhausgasen Aufsteig, was aufgrund der drohenden Klimakatastrophe einen ähnlichen Entwicklungsweg für weitere Länder des globalen Südens zum reinen ökologischen Irrsinn macht (Und zugleich wäre es schlicht pervers, dem aus den Zentren heraus dem globalen Süden Verzicht zu predigen). Der historische Hegemonialzyklus des kapitalistischen Weltsystems wird somit überlagert von dem sozioökologischen Krisenprozess des Kapitals, er tritt mit ihm in Wechselwirkung und lässt Chinas hegemonialen Aufstieg und Zerfall ineinander übergehen.

Ein Hegemonialsystem, bei dem ja die Stellung des Hegemons toleriert würde, ist aufgrund der sich immer stärker manifestierenden inneren und äußeren Schranken des Kapitals, aufgrund der ökonomischen und ökologischen Doppelkrise nicht mehr realisierbar. Imperialismus in der gegenwärtigen Krisenphase, in der die historische Expansionsbewegung des Kapitals in eine Failed States hinterlassende Kontraktion umgeschlagen ist, läuft auf Abschottung und reinen Ressourcen-Extraktivismus hinaus. Die Abschottung gegenüber den sozioökonomischen Zusammenbruchsgebieten, die keine Rolle mehr spielen als Absatzmärkte, geht mit dem brutalen Kampf der Staaten um die abschmelzenden Rohstoffe und Energieträger einher, die der stotternden Verwertungsmaschine zugeführt werden müssen.13

Hier ist eindeutig eine historische Tendenz zu feststellbar. Das Bestreben zur direkten Kontrolle der Kolonien und Schutzgebiete im 19 Jahrhundert, in der Epoche englischer Hegemonie, ging im 20. Jahrhundert in den informellen Imperialismus über, wie in Washington vermittels Umstürzen und Installierung abhängiger Regimes praktizierte. In der Endphase des kapitalistischen Weltsystems scheint imperialistische Herrschaft auf bloße Aufrechterhaltung infrastruktureller Extraktionswege hinauszulaufen, durch die Ressourcen und Energieträger aus den ökonomischen und ökologischen Zusammenbruchgebieten in die verbliebenen Zentren befördert werden sollen.

Was sich im gegenwärtigen Krisenimperialismus entfaltet,14 ist somit eine Logik des last man standing, bei der die Krisenfolgen auf die Konkurrenz abgewälzt werden. Diese inzwischen bis zum offenen Krieg reichende Machtkämpfe zwischen den Staatssubjekten exekutieren den objektiv voranschreitenden Krisenprozess. Es ist ein geopolitischer Machtkampf auf der untergehenden spätkapitalistischen Titanic, bei dem es faktisch keine Gewinner mehr gibt. Deswegen sind auch alle scheinbaren Allianzen so brüchig, wie es zuletzt an den Absetzbewegungen der EU gegenüber den USA in der Taiwan-Frage offensichtlich wurde.15

Und dennoch ist vor dem Hintergrund der sozioökologischen Krise das Ringen zwischen dem russo-chinesischen Eurasien und dem Ozeanien der Vereinigten Staaten, bei dem Ukraine und Taiwan einen akuten und einen potenziellen Brennpunkt bilden, durchaus auch als ein Kampf zwischen Zukunft und Vergangenheit zu begreifen. Es ist ein Kampf zwischen der untergehenden Ära neoliberalen Kreisverwaltung und dem drohenden Zeitalter offen autoritärer Herrschaft,16 bei der autoritäre Formierung und sozialer Zerfall in Wechselwirkung stehen, wie es geradezu paradigmatisch an der russischen Staatsoligarchie und Mafiaherrschaft sichtbar ist.17 Die Krise treibt die erodierenden spätkapitalistischen Staatsmonster förmlich in die Konfrontation, sodass die Entladung der anwachsenden autodestruktiven Tendenzen des Kapitals in einem Großkrieg durchaus möglich ist.

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https://konicz.substack.com/

1 https://www.n-tv.de/politik/Xi-und-Putin-wollen-gerechtere-Weltordnung-article23996962.html

2 https://www.aljazeera.com/news/2023/3/14/russia-china-creating-world-of-danger-disorder-division-uk

3 https://www.globaltimes.cn/page/202212/1281416.shtml

4 https://www.bloomberg.com/news/articles/2023-04-03/china-s-yuan-replaces-dollar-as-most-traded-currency-in-russia#xj4y7vzkg

5 https://www.globaltimes.cn/page/202303/1288326.shtml

6 https://www.aa.com.tr/en/energy/invesments/pakistan-china-agree-to-trade-in-yuan/22190

7 https://www.aa.com.tr/en/energyterminal/finance/venezuela-opts-to-use-chinese-yuan-for-oil-trade/763

8 https://www.ft.com/content/02d6ab99-ea36-41c4-9ad3-9658bb1894a7

9 https://www.konicz.info/2023/03/19/die-silicon-valley-bank-als-das-schwaechste-glied/

10 https://www.ft.com/content/ccbe2b80-0c3e-4d58-a182-8728b443df9a

11 https://www.konicz.info/2022/10/18/china-mehrfachkrise-statt-hegemonie-2/

12 https://www.ft.com/content/049aef43-4f03-45a1-bf65-749cd44921cc?emailId=af7e811c-648b-4ffa-b140-d7980fc81974&segmentId=22011ee7-896a-8c4c-22a0-7603348b7f22

13 https://www.konicz.info/2021/10/14/ddr-minus-sozialismus/

14 https://www.konicz.info/2022/06/23/was-ist-krisenimperialismus/

15 https://www.nbcnews.com/news/world/macron-europe-china-taiwan-usa-outrage-rcna79090

16 https://www.konicz.info/2022/05/24/eine-neue-krisenqualitaet/

17 https://www.konicz.info/2022/05/25/rackets-und-rockets/

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Oben       —    Former German Chancellor Gerhard Schröder as an oligarch in oil and gas of Russian companies Gazprom and Rosneft.

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KOLUMNE – GRAUZONE

Erstellt von DL-Redaktion am 16. April 2023

Freiheit für den Journalisten Evan Gershkovich!

Von Erica Zingher

Einst verließen die Eltern von Evan Gershkovich, jüdische Emigranten, die Sowjetunion in der Hoffnung auf ein besseres Leben Richtung Amerika. Sie nannten ihren heute 31-jährigen Sohn Evan. Das klang wie Iwan, aber sah nicht russisch aus.

Vor über zwei Wochen nun wurde der Journalist Evan Gershkovich in Jekaterinburg im Ural unter dem Vorwurf der Spionage vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB festgenommen. Der FSB wirft ihm vor, versucht zu haben, „geheime Informationen zu beschaffen“. Gershkovich soll zur Söldnertruppe Wagner, der russischen Privatarmee, recherchiert haben. Jetzt sitzt der Reporter in Untersuchungshaft im berüchtigten Moskauer Lefortowo-Gefängnis. Ihm drohen bis zu 20 Jahre Haft.

Mit Mitte 20 beschloss Gershkovich nach Russland zu ziehen, um künftig über das Heimatland seiner Eltern zu berichten. Er arbeitete zunächst für die englischsprachige Moscow Times, anschließend für die französische Nachrichtenagentur AFP und im vergangenen Jahr für das Wall Street Journal.

Gershkovich berichtete während der Coronapandemie über die Zustände in Krankenhäusern, sprach mit russischen Medizinstudenten, die versuchten die Flut an Covid-Patient:innen zu behandeln. In seinem letzten Text, den er zusammen mit einem Kollegen schrieb und der kurz vor seiner Festnahme erschien, berichtete der Reporter über den Niedergang der russischen Wirtschaft.

Hervorragender Reporter

Freunde beschreiben Gershkovich als witzigen, gutherzigen Menschen – und hervorragenden Reporter. Als einen, der es als seine berufliche Pflicht ansah, auch nach dem 24. Februar 2022 weiter aus Russland zu berichten; einen, der sich privilegiert fühlte, dies tun zu können, während russische Kol­le­g:in­nen es nicht mehr konnten. Für sie war es unmöglich geworden, in ihrer Heimat zu arbeiten. Die meisten flohen ins Exil.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch ausländische Jour­na­lis­t:in­nen die Repressionen des russischen Regimes zu spüren bekommen würden. Klar, wenn kaum noch einheimische Jour­na­lis­t:in­nen da sind, die man drangsalieren kann, sucht man sich neue Opfer.

Gershkovichs Verhaftung ist eine klare Botschaft des russischen Regimes an westliche Medien und Journalist:innen: Seid euch gewiss, ihr könntet die nächsten sein! Wir können euch willkürlich verhaften! So wird Angst gesät, die Kor­re­spon­den­t:in­nen mundtot machen soll. Schritt für Schritt wird Russland zu einer Blackbox, in der die russische Führung frei drehen kann, ohne dass es jemand mitbekommt.

Dass Gershkovich unschuldig ist, ja die Vorwürfe gegen ihn mehr als dubios sind, ist irrelevant. Womöglich wird das russische Regime den Journalisten als Verhandlungsmasse benutzen und einen möglichen Gefangenenaustausch anstreben, wie schon im Falle der US-Basketballerin Brittney Griner. Entscheidend sein wird also nicht, Gershkovichs Unschuld zu beweisen, sondern, wen man im Tausch anbieten kann. Verlangen könnte Russland erneut Wadim Krassikow, der wegen des „Tiergartenmordes“ in Deutschland in lebenslanger Haft sitzt. Ihn auszuliefern, hatte Deutschland damals jedoch abgelehnt.

Journalismus ist kein Verbrechen!

Quelle        :         TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Oben     —    Leichen werden vom Sonder­kommando verbrannt, fotografiert von Alberto Errera, August 1944

Häftlinge des Sonderkommandos in Auschwitz beim Verbrennen von Leichen. Heimlich aufgenommenes Foto des Widerstandes – wahrscheinlich von „Alex“, einem jüdisch-griechischen Häftling des Sonderkommandos.

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Unten        —         Peace dove, Conversion of Dove peace.png

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von DL-Redaktion am 15. April 2023

Die Doppelzüngigkeit des Emmanuel Macron

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Ganze 72 Kampfflugzeuge plus zehn Kriegsschiffe aus China zählte das Verteidigungsministerium in Taipeh. Diese waren dabei, Taiwan zu umkreisen, als Übung für Chinas Strategie, die Insel in einigen Jahren anzugreifen.

Nun regt sich in Europa die politische Öffentlichkeit auf, wie Frankreichs Präsident Emmanuel ­Macron ­Europa die Leviten liest, sich nicht durch „andere Großmächte“ – also die USA – in Konflikte wie den rund um Taiwan verwickeln zu lassen.

Annalena Baerbock indes versuchte jetzt während ihres Besuchs in China zu beschwichtigen: Die französische Chinapolitik spiegele „eins zu eins“ die europäische Chinapolitik wider, meinte sie auf ihrer ersten Station in der Hafenstadt Tianjin, aber das waren nur diplomatische Beteuerungen.

Chinas Militärmanöver gegen Taiwan wie Macrons Mahnung an Europa, sich herauszuhalten, fanden kurz nach dem Ende von ­Macrons Chinabesuch statt. So wollte Peking dem Zauderer aus Frankreich eine Chance geben, sich in Chinas „innere Angelegenheiten“ gar nicht erst einzumischen. Die Botschaft: Ihr Europäer könnt uns als die einzige Großmacht, die die USA herausfordert, so oder so nicht das Wasser reichen, also lasst das gleich sein. So oder so ähnlich klang denn auch Emmanuel Macron: Wenn die Europäer allein schon den Krieg in der Ukraine nicht händeln könnten!

Die bittere Ironie ist: Frankreich war es, das sich längst in – wenn auch scheinbar andere – „innere Angelegenheiten“ Chinas eingemischt hatte. Paris war in Europa an erster Stelle, 2018 seine „Indo-Pazifik-Strategie“ aus der Taufe zu heben und so mit der amerikanisch-japanischen Strategie gleichen Namens von Europa aus zu korrespondieren. Dem Vorbild folgte später Berlin. Frankreich entsandte seinen Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ in das umstrittene Südchinesische Meer, um mit den USA, Japan, Australien, Kanada und Indien bewaffnet Patrouille zur Sicherung freier Handelswege zu fahren, klar gegen Chinas Expansionspolitik gerichtet, die das Südchinesische Meer als Chinas Binnensee beansprucht. Anfang 2022 folgte Deutschland auch diesem Vorbild mit der Fregatte „Bayern“.

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Haben sich zuerst Franzosen, dann alle anderen Europäer in die Strategie der USA, in Konflikte nur unfreiwillig verwickeln lassen, die sie so gar nicht sahen? Wohl kaum. Denn europäische Großmächte, allen voran Frankreich und Deutschland, haben längst kundgetan, wie interessiert sie an einer Indo-Pazifik-Konzeption als einer die Zukunft sichernden Geopolitik sind: Indien, der Subkontinent mit bald mehr und weitaus jüngerer Bevölkerung als das alternde China, winkt schon mit einem Marktvolumen, das Europa für Jahrzehnte überlebenswichtige Aufträge sichert. Indes hat Frankreich mit allen vier Teilnehmern der sogenannten Quad – USA, Japan, Indien und Australien – den sicherheitspolitischen 2-plus-2-Mechanismus (Verteidigungs- und Außenministertreffen in festen Intervallen) eingerichtet; in vollem Bewusstsein, gegen wen der Block gerichtet ist. Ähnliches passiert auch zwischen Berlin und Tokio sowie Berlin und Canberra.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von DL-Redaktion am 13. April 2023

„Krieg und Frieden“
Kein Kinderspiel

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Aus Minsk Janka Belarus

Zu den  Verhältnissen von Belarus und Ukraine. Belarus und die Ukraine üben sich in wechselseitiger Einschüchterung. Mit Großplakaten an der Grenze setzen sie die Gegenseite unter Druck.

Schon seit Längerem beschwert sich Belarus darüber, dass ukrainische Grenzschützer das angrenzende Gebiet verminen und obszöne Gesten zeigen. „Frage: Warum musste eine weitere Reihe von Minen auf dem Weg platziert werden?“, heißt es in einer offiziellen Mitteilung. Ja, warum eigentlich? Vielleicht, weil seit mehr als einem Jahr Krieg herrscht und der Sabotageakt belarussischer Partisanen an einem russischen Kampfflugzeug eine Welle von Verhaftungen und Repressionen nach sich zog?

Es ist nicht erstaunlich, dass gerade an Orten wie der Grenze der Informationskrieg eskaliert. Die Menschenrechts-Website Gulagu.net berichtet, dass Russland Söldner nach Belarus schickt, um Anschläge zu begehen. Diese sollen Minsks Machthaber Alexander Lukaschenko zwingen, sich am Krieg gegen die Ukraine zu beteiligen. Die Söldner würden vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB und vom Verteidigungsministerium kontrolliert. Sie sollen bereit sein, sich ukrainische Uniformen anzuziehen und in Belarus Sabotageakte zu begehen.

Die Ukrainer verstärken derweil die Grenze zum nördlichen Nachbarn. Sie zeigen nicht nur offen Panzerabwehrgräben und Minenfelder, sondern nutzen auch Mittel der psychologischen Kriegsführung. Große Plakatwände haben sie an der Grenze aufgestellt, mit Appellen an Lukaschenkos Armee. Und neben der blau-gelben ukrainischen weht die weiß-rot-weiße nunmehr verbotene belarussische Flagge.

Minsk hat darauf so geantwortet, dass das Regime an fünf Grenzübergängen ebenso propagandistische wie kreative Meisterwerke aufgestellt hat, mit doppeldeutigen Aufschriften. Auf einem dieser Plakate sieht man die ukrainische Hauptstadt Kyjiw und durch ein Vergrößerungsglas einen amerikanischen Soldaten vor dem Hintergrund einer US-Flagge. Darauf steht in riesigen Lettern: „Wir helfen der Ukraine, die wahren Okkupanten zu finden.“

Im belarussischen Fernsehen beschwerte sich Sergej Pawlow, offizieller Vertreter des Grenzregiments von Mosyr, dass die Ukrainer „eine Attrappe eines erhängten Soldaten in russischer Uniform mit dem Namen Valera aufgestellt haben. Sie gaben an, dass es sich dabei um einen Wehrdienstleistenden handele, der bei Kyjiw getötet worden sei.“ Pawlow sagte, dass dies angeblich die belarussischen Grenzschützer „einschüchtere“ und „psychologischen Druck“ auf sie ausübe.

Quelle         :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen 

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Oben     —      Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Keine klare Ansage

Erstellt von DL-Redaktion am 12. April 2023

Es ist irritierend, wie Emmanuel Macron Chinas Staatschef hofiert.

Die Männer zeigen schon wie sie die EU auf Distanz halten

Ein Schlagloch von Jagoda Marinic

Macron besucht Xi Jinping. Dort wird fröhlich mit Kohle geheizt, hier predigt man den Einbau von Wärmepumpen. Die Aushöhlung der politischen Haltung führt bei vielen Bürger-innen zu euner Art Nihilismus.

In welcher aller Welten leben wir gerade? Ich weiß es nicht mehr, und dabei bin ich beruflich ständig mit dem Einordnen von politischen Ereignissen beschäftigt. Wie ist das alles wohl für Leute, deren Beruf nichts mit Politik und Medien zu tun hat, nichts mit Demokratie oder Verwaltung, die einfach mitkommen müssen.

Allein die Debatte über die Wärmepumpen: Noch bevor die Bevölkerung inhaltlich über Vor- und Nachteile aufgeklärt werden konnte, spielt die Ampelkoalition ihre Billigseifenoper, sticht Informationen durch, es kommt zur Panikmache und zu Falschinformationen. Weite Teile der Beobachter des politischen Berlins stürzten sich auf die Rivalität zwischen Christian Lindner und Robert Habeck.

Man hobbypsychologisierte darüber, wer beim Kanzler höher in der Gunst stünde. Die meisten Bürger werden nach Wochen der Debatte den Unterschied zwischen Wärmepumpe und Klimaanlage noch immer nicht kennen. Was sie interessiert, ist, wie sie das alles bezahlen sollen. Aber diese Angst ist vielen, die über das Thema berichten, zu profan. Das überlässt man der Bild, und die dreht den Angstregler ordentlich auf.

Doch auch die politischen Beobachter, die wirksame Klimapolitik fordern und Maßnahmen wie den Einbau von Wärmepumpen als richtigen Weg in die Zukunft bejubeln, verstehe ich nur bedingt. Ihre Zustimmung ist mir einfach zu national. Ja, wir müssen handeln. Doch angesichts der Herausforderung der Klimakrise dienen solche nationalen Debatten doch nur dem eigenen guten Gewissen.

Alleingang löst das globale Problem nicht

Rechte instrumentalisieren die teuren Maßnahmen und mobilisieren, indem sie behaupten, Deutschland wolle nun im Alleingang den Planeten retten und der Steuerzahler solle das alles bezahlen. Populismus, ja, doch er greift. Natürlich hat jedes Land seine eigene Klimapolitik umzusetzen, aber das globale Problem wird der Einbau von Wärmepumpen eben nicht lösen.

Je länger wir auf diese Art debattieren, je mehr sich Bürgerinnen und Bürger in die Opferrollen retten aus finanzieller und intellektueller Überforderung oder einfach nur Erschöpfung, desto instabiler wird unsere Demokratie. Teile der geplanten Maßnahmen sind in Zeiten von Inflation zu teuer, die Wut der Deutschen entlädt sich durch den Zulauf zu rechten Parteien, die weder die Klimakrise noch die Demokratie ernst nehmen.

Zugegeben, alle, die etwas von der Dimension der Klimakatastrophe verstehen, sagen an dieser Stelle: Wenn der Planet für den Menschen nicht mehr bewohnbar ist, wird auch keine Demokratie helfen. Mag sein. Doch den Planeten ernsthaft zu retten, würde internationale Bündnisse erfordern, auch das wissen die Bürger. Wo bleibt die ernst zu nehmende internationale Agenda, das funktionierende globale Bündnis?

In den Armen eines Autokraten

Die Autokraten sind leider wieder auf dem Vormarsch und Klimabündnisse werden immer schwieriger, selbst wenn sich Länder wie China gerne ein Klimaschutzprofil verpassen würden, sprechen die Fakten eine andere Sprache. In welcher aller Welten wacht man auf, wenn En-Marche-Macron plötzlich ein James-Bond-artiges Video von seinem Besuch in China auf seinem offiziellen Twitter-Account verbreitet?

Wer sieht nicht wie klein die EU ist – im Vergleich zu Asien ?

Er marschiert darin geradewegs in die Arme eines autoritären Herrschers, spricht von einer Faszination zwischen China und Frankreich und nennt arschkriecherisch – oh, pardon, höflich natürlich – China zuerst. Es ist eine der großen Perversionen der PR-Möglichkeiten unseres Social-Media-Zeitalters, dass man zwielichtige politische Vorhaben mit weichgespülter Bildsprache vermitteln kann, die auf emotionaler Ebene funktioniert.

Wir sollten an dieser Stelle daran erinnern, dass Macron zuletzt seine Rentenreform auf einem weniger demokratischen Weg durchgesetzt hat – und trotzdem im Amt geblieben ist. In weiten Teilen der deutschen Berichterstattung zeigte man weniger Verständnis für die Wut der Franzosen als für Macrons autoritären Führungsstil. Die Sicherheit Europas hängt nun also davon ab, wie fest unsere Umarmung mit Xi Jinping ist.

Letzterer wird in Macrons Video gleich heroisierend mitinszeniert, als hätte eines der mächtigsten Länder Europas nichts in der Hand, um einem nach Corona angeschlagenen China auf Augenhöhe zu begegnen. Wie sollen Bürger, die nach einem Achtstundentag in der Gebäudereinigung, der Pflege oder nach sonstiger harter Arbeit nach Haus kommen, noch entschlüsseln, was derzeit richtig ist?

Quelle          :        TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Oben     —       Visit of Ursula von der Leyen, President of the European Commission, to China

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Pro und Contra des Labor

Erstellt von DL-Redaktion am 10. April 2023

Pro und Contra Laborhypothese: Der Kampf um die Deutungshoheit

Quelle      :        INFOsperber CH.

Martina Frei /   

Nach neuen, brisanten Aussagen zugunsten der Laborthese bedienten andere Wissenschaftler die Medien mit Contra-Informationen.

Ob das Coronavirus Sars-Cov-2 aus einem Labor oder von Tieren stammt, wurde von Pandemiebeginn an mehr als politische denn als wissenschaftliche Frage behandelt. Der Hergang zeigt auch, wie vorsichtig Medien sein sollten. Im Folgenden eine Chronologie aufgrund der neusten «Erkenntnisse».

Die Akteure

Robert Redfield, Virologe und bis Januar 2021 Leiter der grössten US-Gesundheitsbehörde «Centers for Disease Control and Prevention» (CDC).

Florence Débarre, Evolutionsbiologin am «Centre national de la recherche scientifique» und der Sorbonne-Universität in Paris. 

George F. Gao, Virologe und Immunologe. Bis Juli 2022 Direktor des chinesischen Zentrums für Krankheitskontrolle und
-prävention, dem Pendant zu den CDC in den USA. 

Anthony Fauci, Arzt und Immunologe. Bis Dezember 2022 Direktor des Instituts für Infektionskrankheiten und Allergien (NIAID) an der grossen US-Forschungsinstitution «National Institutes of Health». 

Kristian G. Andersen, Professor in der Abteilung für Immunologie und Mikrobiologie am Scripps Research Institute in La Jolla, Kalifornien. Gehörte zum engen Kreis der Wissenschaftler, die sich zu Beginn der Pandemie, am 1. Februar 2020, mit Anthony Fauci austauschten.

Robert F. Garry, Professor für Mikrobiologie und Immunologie an der Tulane-Universität in New Orleans. Gehörte ebenfalls zum engen Kreis der Wissenschaftler, die sich am 1. Februar 2020 mit Anthony Fauci austauschten.

Edward C. Holmes, Virologe und Evolutionsbiologe an der australischen Universität Sydney. Holmes erachtete das Pandemievirus anfangs als «nicht übereinstimmend mit Erwartungen der Evolutionstheorie». Zusammen mit Andersen und Garry veröffentlichte Holmes im März 2020 einen wichtigen Leserbrief in «Nature Medicine».

Jeremy Farrar, Wissenschaftler und langjähriger Direktor des «Wellcome Trust», mit rund 38 Milliarden eine der weltweit grössten gemeinnützigen Stiftungen, die Gesundheitsforschung und -forscherInnen finanziert (Infosperber berichtete). Farrar organisierte die Videokonferenz mit Anthony Fauci und den Wissenschaftlern am 1. Februar 2020. Farrar wird im zweiten Quartal 2022 Leiter Wissenschaft bei der WHO.

Die Chronologie

Seit Monaten versucht ein US-Untersuchungsausschuss herauszufinden, woher das Pandemievirus stammt. Für den 8. März 2023 lud der Ausschuss den Virologen Robert Redfield vor, den früheren Leiter der US-Gesundheitsbehörde «Centers for Disease Control and Prevention» (CDC). Die CDC sind mit ihren 10’000 Mitarbeitern auch für Infektionsausbrüche zuständig. Redfield gehörte zur US-Coronavirus-Taskforce. Wer seine früheren Äusserungen kannte, konnte sich ungefähr ausrechnen, was er am 8. März aussagen würde.

Während Redfields Termin näherrückte, durchforstete Tausende Kilometer entfernt die französische Evolutionsbiologin Florence Débarre die Gisaid-Datenbank. In dieser grossen Datenbank hinterlegen viele Forscher Informationen zum Erbgut von Grippe- und Coronaviren.

Dabei stiess Débarre am 4. März 2023 auf bisher unbekannte Gen-Daten. Sie sei bei ihrer Forschung zufällig darüber gestolpert, sagte sie dem Wissenschaftsmagazin «Science». Unterstellungen, sie sei irgendwie anders zu diesen Daten gekommen, wies sie scharf zurück. Die Gen-Daten stammten von Proben, die chinesische Wissenschaftler von Januar bis März 2020 am Fischmarkt in Wuhan gesammelt hatten.

«Dieses Virus sah für mich konstruiert aus.»

Robert Redfield, Virologe, früher Leiter der CDC und Mitglied der US-Coronavirus-Taskforce

Redfields brisante Aussagen vor dem Ausschuss

Am 8. März sagte Robert Redfield unter Eid vor dem Untersuchungsausschuss aus: «Basierend auf meiner Analyse der Daten kam ich [zu Beginn der Pandemie – Anm. d. Red.] zur Überzeugung und glaube das auch heute noch, dass Covid-19 wahrscheinlicher das Resultat eines Laborunfalls war als das Ergebnis eines natürlichen Überspringens.»

Das Virus habe an einer wichtigen Stelle einen menschlichen Gencode enthalten, führte Redfield aus. «Das war sehr beunruhigend für mich. Dieses Virus sah für mich konstruiert aus.» Das habe er zu Beginn der Pandemie auch Anthony Fauci, dem WHO-Direktor Tedros Ghebreyesus und Jeremy Farrar gesagt, dem damaligen Direktor des «Wellcome Trust».

Ein weiteres Indiz für Redfield: Anders als Sars- und Mers-Viren, die nie gelernt hätten, sich von Mensch zu Mensch zu verbreiten, sei das Pandemievirus nach Redfields Dafürhalten von Beginn weg «zu ansteckend» für Menschen gewesen.

Redfield hatte nach eigenem Bekunden darauf gedrängt, beide Hypothesen zum Ursprung mit grösster Ernsthaftigkeit zu untersuchen. Doch weil Faucis Team nur ein Narrativ gewollt habe und er, Redfield, einen anderen Standpunkt vertrat, sei er weder in wichtige Videocalls noch in E-Mails eingebunden worden, in denen Fauci und Farrar sich mit verschiedenen Wissenschaftlern über die Herkunft des Virus austauschten (Infosperber berichtete mehrmals).

Krasser Widerspruch zu Fauci

Dass er in diese Unterredungen nicht einbezogen worden sei, habe ihn «total enttäuscht» und auch verärgert, bekannte Redfield vor dem Untersuchungsausschuss. Er habe von diesen geheimen Diskussionen zwischen Fauci und anderen Wissenschaftlern erst erfahren, als dies mit Hilfe des Öffentlichkeitsgesetzes ans Licht kam.

Es gehöre zur Wissenschaft, dass Debatten gefördert würden, damit die Wissenschaft schliesslich die Wahrheit finde, so Redfield. In diesem Fall aber sei a priori beschlossen worden, nur eine Sichtweise zu bringen und jeden, der damit nicht einverstanden gewesen sei, ins Abseits zu stellen.

Der frühere CDC-Direktor gab weitere klare Statements ab: Die «National Institutes of Health» (NIH), wo Anthony Fauci das NIAID leitete, förderten Redfield zufolge die «gain of function»-Forschung – auch in Wuhan. «Ich denke, es gibt keinen Zweifel», sagte Redfield vor dem Ausschuss. Damit widersprach er Anthony Fauci, der ebendort unter Eid vor einiger Zeit das Gegenteil behauptet hatte. Somit steht nun die Frage im Raum, ob Fauci einen Meineid leistete. Bei der «gain of function»-Forschung werden Mikroben so verändert, dass sie neue Eigenschaften erwerben, also zum Beispiel ansteckender oder gefährlicher werden.

Drei «sehr ungewöhnliche» Vorgänge

Es sei klar, so Redfield, dass im Labor in Wuhan im September 2019 ein «bedeutsames Ereignis» stattfand. In früheren, normalen Zeiten habe er mit George Gao, seinem chinesischen Amtskollegen, dem Direktor des chinesischen CDC, in gutem Austausch gestanden. Doch dann sei dieser unkomplizierte, informelle Austausch plötzlich nicht mehr möglich gewesen.

File:Wuhan Institute of Virology main entrance.jpg

Damals seien drei Dinge in dem Labor in Wuhan passiert, die Redfield als «sehr ungewöhnlich» bezeichnet: Erstens wurden Informationen zum Erbgut von Coronaviren in einer Datenbank gelöscht. Zweitens sei das Labor in Wuhan der militärischen Kontrolle unterstellt worden, während es zuvor der zivilen Kontrolle unterstanden habe. Drittens sei das Belüftungssystem im Labor erneuert worden.

«Fox News» und andere Medien verbreiteten Redfields Aussagen sofort. In Schweizer Medien las man nichts davon.

Verfechter der Hypothese vom natürlichen Ursprung suchen in den Daten

Am 9. März 2023, dem Tag nach Redfields Anhörung, realisierte Débarre nach eigenen Angaben, wie bedeutsam die Daten seien, die sie in der Datenbank entdeckt hatte. Dem Magazin «Science» zufolge suchte sie sofort Unterstützung bei einer Gruppe von westlichen Wissenschaftlern, die stark die Hypothese vom natürlichen Ursprung vertreten.

Eiligst machten sie sich zusammen in den chinesischen Daten, die sie von der Gisaid-Datenbank heruntergeladen hatten, auf die Suche. Gelänge es, einen tierischen Zwischenwirt zu finden, wäre das Rätsel, woher das Virus stammt, gelöst.

Zwei Tage nach Redfields Anhörung, am 10. März 2023, stimmte das US-Repräsentantenhaus einig wie selten mit 419 zu null Stimmen für einen Gesetzentwurf. Dieser verpflichtet die US-Geheimdienstkoordinatorin, sämtliche Informationen über die Herkunft von Sars-CoV-2 offenzulegen, insbesondere zu den Verbindungen zum Labor in Wuhan. Ob der US-Präsident dieses Gesetz unterschreiben würde, war zu diesem Zeitpunkt offen.

Nun gelangten die Neuigkeiten der Evolutionsbiologin Florence Débarre und ihrer Kollegen an die Öffentlichkeit.

Die Gen-Daten, die sie analysierten, gehören zu einer wissenschaftlichen Arbeit, die Redfields chinesischer Amtskollege George Gao, der frühere Leiter des chinesischen CDC, zusammen mit KollegInnen bereits im Februar 2022 auf einem sogenannten Preprint-Server veröffentlicht hatte.

Für die einen «nichts Neues», für die anderen die Bestätigung

Das chinesische Team wartete darauf, dass Gutachter ihr OK zur Publikation im Wissenschaftsmagazin «Nature» gaben. Mindestens ein Gutachter bestand darauf, dass Gaos Team alle Rohdaten offenlege. Gegenüber dem Wissenschaftsmagazin «Science» sagte Gao, diese Daten seien nichts Neues.

Das Fazit seiner Arbeit: Man habe keinen tierischen Wirt für Sars-CoV-2 gefunden. Es sei daher nicht auszuschliessen, dass das Virus durch Menschen oder über gefrorene Waren in den Markt in Wuhan eingeschleppt wurde. Um die mögliche Herkunft des Virus zu ergründen, sei mehr internationale Koordination nötig.

«The Atlantic» erhält Informationen zugespielt

Débarre und ihre Kollegen lasen aber etwas anderes aus den Daten heraus: Sie entdeckten in einer Probe sowohl Marderhund-Erbgut als auch Sars-CoV-2-RNA. Daraus schlossen sie, dass der Marderhund vermutlich mit Corona infiziert war – er könnte ihrer Ansicht nach also der gesuchte Zwischenwirt sein, von dem das Virus auf den Menschen übersprang.

Noch bevor Débarre und Co. irgendetwas Wissenschaftliches veröffentlichten, das die Fachwelt hätte prüfen können, erhielt die Laienpresse Informationen: «Eine neue Analyse von genetischen Sequenzen, die vom Markt gesammelt wurden, zeigt, dass Marderhunde, die illegal dort verkauft wurden, das Virus Ende 2019 möglicherweise in sich trugen und ausschieden.» Das sei bisher «der stärkste Hinweis», dass die Pandemie von einem Tier ausging und nicht durch einen Laborunfall verursacht wurde, schrieb «The Atlantic» am 16. März 2023.

Am 18. März zog die WHO nach, die von Débarres Kollegen laut eigenen Angaben am 11. März informiert wurde. Laut der WHO würden die Daten zeigen, dass auf dem Markt Tiere waren, die für Sars-CoV-2 empfänglich seien und die eine Ansteckungsquelle für Menschen «gewesen sein könnten».

Am 20. März 2023 veröffentlichten Débarre und ihre KollegInnen schliesslich ihre Sicht der Dinge: «Die seit Beginn der Pandemie angesammelten Daten weisen gesamthaft klar auf einen tierischen Ursprung des Virus hin.» Die Argumente für diese Hypothese stünden in starkem Kontrast zu den fehlenden Beweisen für irgendeine andere Entstehungsgeschichte. Auf die von Robert Redfield und anderen Wissenschaftlern vorgebrachten Indizien für die Laborhypothese gingen sie nicht ein.

«Wissenschaft beruht auf Beweisen und Fakten, nicht auf Spekulation. Insbesondere kann man nicht in den Medien übertreiben, um die Öffentlichkeit und Politiker in die Irre zu führen.»

George F. Gao, ehemaliger Leiter der chinesischen Gesundheitsbehörde CCDC

George Gao, der frühere Leiter des chinesischen CDC, bezeichnete Débarres Analysen als «irreführend»: «Wissenschaft beruht auf Beweisen und Fakten, nicht auf Spekulation. Insbesondere kann man nicht in den Medien übertreiben, um die Öffentlichkeit und Politiker in die Irre zu führen», so Gao gegenüber der Non-Profit-Organisation «U.S. Right To Know». Er forderte die Gruppe um Débarre auf, sich zu beruhigen und «anständige Wissenschaft» zu machen.

Am 21. März 2023 meldete sich die Datenbank Gisaid zu Wort. Denn Analysen mit den Daten anderer Wissenschaftler vorzunehmen und diese eigenen Analysen zu veröffentlichen, noch bevor die chinesischen «Eigentümer» ihre wissenschaftliche Arbeit publiziert haben – das ist nicht die feine Art. Einige Benutzer hätten einen unvollständigen Teil der chinesischen Daten heruntergeladen, teilte Gisaid mit und meinte damit Débarre und ihre Kollegen. Gisaid rügte sie: «Vorzeitige Diskussionen von wissenschaftlichen Daten in den Medien drohen das öffentliche Vertrauen in die wissenschaftliche Forschung zu untergraben.»

Chinesische Proben belegen «überhaupt nichts»

Medial war das Ganze jedoch ein Riesenerfolg für Débarre und ihre Kollegen. Denn obwohl weiterhin nichts bewiesen ist, berichteten Dutzende Medien über ihren Befund: Der Marderhund wurde als möglicher Zwischenwirt gehandelt. Deutschsprachige Medien zitierten weitherum den Virologen Christian Drosten: «Diese vorläufige Analyse chinesischer Daten bestätigt meine stets favorisierte Hypothese.»

Aussagen wie jene des deutschen Virologen Alexander Kekulé vom 23. März 2023, die chinesischen Proben würden «überhaupt nichts» belegen und einige seien sogar von einer Reinheit, die fast zu gut sei, kamen zu spät und wurden demgegenüber viel weniger zitiert.

Potenzielle Interessenkonflikte blieben unerwähnt

Unerwähnt blieben in fast allen Berichten über Débarres Neuigkeit ihre Co-Autoren. Eine ganze Reihe von ihnen unternahm im Februar 2022 mit geleakten chinesischen Daten schon einmal eigene Analysen. Ihr Fazit bereits damals: Die Hypothese vom natürlichen Ursprung sei viel plausibler als die Laborhypothese.

Finanziell gefördert werden etliche der Co-Autoren von den «National Institutes of Health», vom «Wellcome Trust» oder zum Beispiel von Anthony Faucis früherem Institut NIAID. Die lange Liste ihrer potenziellen Interessenkonflikte war in den grossen Medien kein Thema.

Drei Namen stechen unter den Autoren hervor: Kristian G. Andersen, Professor in der Abteilung für Immunologie und Mikrobiologie am Scripps Institute in Kalifornien. Robert F. Garry, Professor für Mikrobiologie und Immunologie an der Tulane-Universität in New Orleans. Und Edward C. Holmes, Virologe und Evolutionsbiologe an der australischen Universität Sydney. Alle drei hatten am 1. Februar 2020 an dem Videocall mit Anthony Fauci teilgenommen.

Andersen war es, der Ende Januar 2020, zu Beginn der Pandemie, in einer E-Mail an Anthony Fauci noch schrieb: «Einige Eigenschaften [des Virus] sehen (potenziell) fabriziert aus.» Und: «Ich finde, das Erbgut [des Virus] ist nicht vereinbar [inconsistent] mit dem, was man von der Evolutionstheorie her erwarten würde.»

Auch Holmes und Garry befanden noch am 2. Februar 2020, das Coronavirus sei «nicht übereinstimmend mit Erwartungen der Evolutionstheorie». Damals schrieb Garry, er könne nicht verstehen, wie SARS-CoV-2 sich auf natürliche Weise herausgebildet haben könne.

In den folgenden zwei bis vier Tagen änderten Andersen, Holmes und Garry ihre Meinung diametral. Nun schlug Andersen vor, in einem Fachbeitrag zu schreiben, das Virus sei «konsistent mit natürlicher Evolution». Der Entwurf wurde angeblich schon am 4. Februar 2020 verfasst. Am 17. März 2020 erschien dieser Beitrag in «Nature Medicine». «Wir glauben nicht, dass irgendein Labor-basiertes Szenario plausibel ist», hielten Andersen, Holmes und Garry dort bereits zu einem Zeitpunkt fest, als noch überhaupt nichts klar war. Trotzdem beeinflusste ihr Artikel die öffentliche Meinung massgeblich: Der Laborursprung wurde daraufhin in grossen Medien als die weniger wahrscheinliche Hypothese oder sogar als Verschwörungstheorie gehandelt.

«Teil eines Narrativs, das sie erschufen» – oder plötzliche, neue Erkenntnisse?

Seinen plötzlichen Sinneswandel innerhalb weniger Tage erklärte Andersen später gegenüber der «New York Times» damit, dass er sich das Virus nochmal genauer besehen habe. Auch Garry relativierte später und sagte, er habe in den anfänglichen Diskussionen den «advocatus diaboli» gespielt. Die Gruppe um Fauci hätte diverse Informationen ausgetauscht und es sei ihnen sehr schnell klar geworden, dass das Pandemievirus natürlichen Ursprungs sei.

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Am 8. März 2023 bezeichnete Redfield den von Andersen, Garry und Holmes mit-verfassten Artikel in «Nature Medicine» vor dem Untersuchungsausschuss als «inakkurat, […] Teil eines Narrativs, das sie erschufen».

Mittlerweile haben Gao und seine KollegInnen eine überarbeitete Version ihrer Publikation auf einen chinesischen Preprint Server hochgeladen und «Nature» veröffentlichte eine vorläufige Version ihres Artikels – worauf eine der Ko-Autorinnen von Débarre diesen auf Twitter sofort als «sehr fehlerhaft» brandmarkte.

In ihrer Kernaussage bleiben die chinesischen Wissenschaftler dabei: Die Proben können keine Infektionen mit Sars-CoV-2 bei Tieren beweisen. Um die mögliche Herkunft des Virus zu ergründen, brauche es mehr internationalkoordinierte Anstrengungen.

Heftige Vorwürfe an die chinesischen Wissenschaftler

Von Débarre, ihren Kollegen und anderen westlichen Wissenschaftlern, aber auch von der WHO hagelte es Kritik: Die chinesischen Wissenschaftler hätten diese wichtigen Daten sofort zugänglich machen müssen, anstatt sie jahrelang zurückzuhalten. «Unentschuldbar» sei die mangelnde Offenlegung, zitierte «Der Spiegel» eine WHO-Epidemiologin.

Was nicht erwähnt wird: Wichtige Informationen über die Anfänge der Pandemie, die in US-Archiven schlummern, wurden bisher nicht oder erst auf juristischen Druck hin offengelegt. Und selbst wenn sie offengelegt werden mussten, waren viele Stellen geschwärzt oder Hunderte von Seiten einfach weiss (Infosperber berichtete).

Die E-Mail-Korrespondenz zwischen Fauci, Andersen und den anderen am Videocall vom 1. Februar 2020 beteiligten Wissenschaftlern beispielsweise kam nur dank des Öffentlichkeitsgesetzes ans Licht. Und just zu dem Zeitpunkt, als diese E-Mails publik wurden, löschten sich Andersens frühere Tweets angeblich plötzlich von selbst. Im Artikel von Débarre betonen Andersen und alle anderen Autoren hingegen, sie seien Befürworter des offenen Datenaustausch unter Wissenschaftlern.

Vielleicht kommt nun mehr Licht ins Dunkel

Der – vorerst – letzte Akt in diesem Hin und Her: Am 20. März unterzeichnete US-Präsident Biden das nach der Anhörung Redfields vorgeschlagene Gesetz. Dieses verpflichtet die Leiterin des US-Geheimdiensts, «so viele Informationen wie möglich» zum Ursprung des Virus öffentlich zu machen. Dafür hat sie 90 Tage Zeit.

Noch ist aber offen, welche der bisher geheimen Informationen die US-Regierung wann offenlegen wird.

Ursprung im Wuhan-Labor käme sowohl USA als auch China ungelegen

Beim Sars-Ausbruch von 2003 gelang es rasch herauszufinden, dass das Virus von Fledermäusen über Zibetkatzen auf den Menschen übersprang. Beim Sars-CoV-2-Ausbruch von 2019 dagegen ist auch nach drei Jahren und mehr als 80’000 gesammelten Proben offen, woher das Virus kam. 

China behauptet, das Pandemievirus stamme von ausserhalb des Landes. Die USA dagegen behaupten, Sars-CoV-2 stamme aus China. 

Politisch wäre es für die USA am besten, wenn das Pandemievirus in China von Tieren auf den Menschen übertragen worden wäre. Dann träfe die USA keinerlei Mitschuld. Würde sich hingegen die Laborhypothese bestätigen, dann stünden auch die USA in der Mit-Verantwortung, weil sie die virologische Forschung in Wuhan massgeblich finanzierten. Auch die EU förderte Forschung am Institut für Virologie in Wuhan.

Weder China noch die USA haben also ein Interesse daran, dass sich die Hypothese bestätigt, dass Sars-CoV-2 aus einem Labor in Wuhan stamme. 

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Oben      —   Dr. Robert R. Redfield, director of the Centers for Disease Control and Prevention, joined by President Donald J. Trump and Vice President Mike Pence, along with members of the White House Coronavirus Task Force, addresses his remarks at a coronavirus update briefing Wednesday, April 8, 2020, in the James S. Brady Press Briefing Room of the White House. (Official White House Photo by D. Myles Cullen)

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2.) von Oben       —    Wuhan Institute of Virology is a research institute by the Chinese Academy of Sciences in Jiangxia District, south of the Wuhan city, Hubei province, China.

Author Ureem2805         /    Source     :    Own Work      /       Date   :    12 December 2016

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Unten        —                Redfield (rechts) während der Pressekonferenz der COVID-19-Task-Force am 29. Februar.

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Finnland in der NATO

Erstellt von DL-Redaktion am 7. April 2023

Ein weiterer historischer Fortschritt in der Einkreisung Russlands

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von        :        Manfred Henle

Finnland und Schweden haben auf dem NATO-Gipfel im Juni 2022 in Madrid ihre Vollmitgliedschaft in der NATO beantragt.

1. NATO-Beitritt Finnlands löst Triumphgefühle aus

Finnland und Schweden haben auf dem NATO-Gipfel im Juni 2022 in Madrid ihre Vollmitgliedschaft in der NATO beantragt. Die NATO hat diese perspektivische NATO-Erweiterung umgehend begrüsst und das Aufnahmeverfahren eingeleitet. Und nun ist es fast vollbracht! Finnland immerhin ist seit Dienstag den 4.April 2023 Vollmitglied in der NATO. Diese gelungene militante NATO-Norderweiterung im Zuge der unaufhaltsamen militärisch-nuklearen Einkreisung der Russischen Föderation löst wahre Triumphgefühle in den Herzen der NATO-Regisseure aus:

Es ist eine historische Erweiterung der Allianz – um ein Land, das jahrzehntelang stolz war auf seine militärische Neutralität. Das eine immerhin 1.300 Kilometer lange Grenze mit Russland teilt. Und das allein deshalb schon eine Armee mitbringt, die sehr viel leistungsfähiger ist als die mancher alteingesessener Nato-Staaten. Finnland wird damit das 31. Mitglied der Militärallianz. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg spricht von einem historischen Tag. (ZDF heute, 3.4.2023)1

Das ist er, der Geist der Zeitenwende: Er gratuliert sich selbst dazu, eine Armee hinzu gewonnen zu haben, die an ersehnter militärischer Gewalt wenig Wünsche offen lässt und, wie erfreulich, sogar manch alteingesessenen NATO-Staat in den Schatten stellt. Wahrlich ein „historischer Tag“ für die kollektive NATO-Gewaltbereitschaft und Gewalt.

2. Ein Loblied auf die kollektive Gewaltbereitschaft

Die jahrzehntelang gepflegte militärische Neutralität Finnlands in Gestalt des Zurückhaltens einer NATO-Vollmitgliedschaft inmitten der seit Jahr und Tag betriebenen militärisch-strategischen Integration Finnlands in die NATO und faktisch längst geschaffene Interoperabilität mit der NATO, war längst hinfällig: Hinfällig angesichts der Vollendung der militärisch-nuklearen Einkreisung (Kern-) Russlands; ein echtes Hindernis angesichts des mit der Zeitenwende definitiv eingeläuteten NATO-Krieges gegen die Russische Föderation mittels der Ukraine und der ukrainischen Bevölkerung als lebendige NATO-Säule und menschliche NATO-Ressource. Deshalb verdient die NATO-Vollmitgliedschaft Finnlands nichts als ungeteiltes Lob seitens der NATO-Regisseure und NATO-Kriegsplaner:

Die Streitkräfte an der neuen Nordflanke gelten als gut ausgebildet, trainiert und motiviert. Finnland hat die Wehrpflicht für Männer nie abgeschafft und verfügt bei 24.000 aktiven Soldaten über 900.000 ausgebildete Reservisten. Im Verteidigungsfall würden Heer, Marine und Luftwaffe auf 280.000 Frauen und Männer anwachsen können […] Finnland hat anders als andere nach dem Kalten Krieg seine Investitionen in die Armee nicht reduziert“, lobte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg das neuste Mitgliedsland. (dw, 3.4.2023)2

Eingestandermassen: Mit dieser akkumulierten kollektiven, „historischen“ Gewaltbereitschaft und Gewalt ausgestattet lässt sich der NATO-Krieg gegen die Russische Föderation noch ganz anders planen und exekutieren als zuvor: Eine perspektivisch hinzu gewachsene lebendige, menschliche NATO-Ressource von 280.000 Frauen und Männer in Heer, Marine und Luftwaffe, eingeplant und verplant im gegenwärtigen Krieg, wie in den zukünftigen NATO-Kriegen mit globaler Reichweite – mindestens, wie oftmals von den hohen Damen und Herren betont, bis in den Indo-Pazifik hinein, vorzugsweise unter Deutscher (An-) Führerschaft:

Deutschland intensiviert sein sicherheitspolitisches Engagement im Indo-Pazifik. Die Präsenz der Luftwaffe ist ein Signal der Unterstützung unserer Wertepartner vor Ort und ein Zeichen an die Weltgemeinschaft zur Stärkung der regelbasierten internationalen Ordnung.Deutschland wirkt aktiv an der Gestaltung der internationalen Ordnung im Indo-Pazifik mit. Wichtigste Ziele für den indo-pazifischen Raum sind der Erhalt der regelbasierten internationalen Ordnung und die Stärkung des Multilateralismus in einer freien und offenen Region. In den im September 2020 von der Bundesregierung veröffentlichten Leitlinien zum Indo-Pazifik ist unter anderem auch ein verstärktes Engagement der Bundeswehr im Indo-Pazifik vorgesehen. (BMVG, 18.8.2022)3

Für solch ausgreifende Kriegsplanungen ist nochmals und ausdrücklich lobend festzuhalten:

Finnland hat anders als andere nach dem Kalten Krieg seine Investitionen in die Armee nicht reduziert“, lobte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg das neuste Mitgliedsland […] So bringt die Luftwaffe zum Beispiel 60 moderne Kampfjets in die Verteidigung des NATO-Gebiets ein. (dw, 3.4.2023)

Ungeachtet der öffentlich kommunizierten Klarstellungen über den ausgreifenden geostrategisch-globalen Nutzen einer NATO-Vollmitgliedschaft Finnlands und auch Schwedens hält die 4. Gewalt in den NATO-Ländern ihrem längst verinnerlichten Feindbild und ihrer Feindbildpflege gemäss an folgendem Ammenmärchen fest um es als nicht weiter hinterfragbare öffentliche Meinung unantastbar zu machen: Putin ist schuld: „Finnland grenzt an den Aggressor Russland“ (dw, 3.4.2023); somit scheint ja wohl klar: „Der Beitritt erfolgt als Reaktion auf Russlands Invasion der Ukraine.“ (ZDF heute, 3.4.2023)

Welche Konsequenzen die NATO-Vollmitgliedschaft Finnlands und Schwedens zeitigen, scheint gleichermassen keiner näheren Betrachtung wert zu sein. Dazu komprimiert und auszugsweise einige Hinweise, die andernorts bereits ausführlich dargelegt wurden.4

3. Gesicherte Konsequenzen einer Vollmitgliedschaft im NATO-Klub

So, wie die NATO die globale Einkreisung (Kern-) Russlands auf immer erweiterter Eskalationsstufe vorantreibt und den „Krieg gegen Russland“ (Baerbock) radikalisiert, beendet sie definitiv jeglichen Schutz, jegliche Sicherheit für die berühmten „Menschen im Land“, respektive auf dem europäischen Kontinent. Denn speziell mit der NATO-Vollmitgliedschaft Finnlands eröffnet sich der NATO eben diese schöne Perspektive:

Bald könnten in Finnland an der Grenze zu Russland Atomwaffen stationiert werden, sofern der Antrag des Landes auf Beitritt zur NATO genehmigt wird […] Nuklearraketen in Finnland an der russischen Grenze dürften wohl weit weniger als eine Minute nach Moskau benötigen. Das ist eine höchst kurze Vorwarnzeit […] es könnte bald Realität werden […] Nach Angaben der in Helsinki erscheinenden Zeitung Iltalehti enthält der Gesetzentwurf zum Beitritt […] keine Ausnahmeregelung für Atomwaffen […] Aussenpolitischen Insidern zufolge könnten demnach NATO-Atomwaffen durch finnisches Hoheitsgebiet verlegt oder dort stationiert werden. Darüber hinaus gibt es keine Beschränkungen für die Einrichtung von NATO-Stützpunkten im Land […] (exxpress, 31.10.2022)5

File:Flags of Finland and NATO.jpg

Das NATO-Nuklearideal, Russland jede Erst- oder Zweitschlagskapazität zu nehmen und seine nicht nur nukleare Kapitulationsurkunde zu signieren, wäre doch allen Ernstes erreicht. Bei einer für die NATO in Aussicht stehenden Vorwarnzeit von knapp 1 Minute beim nuklearen Erstschlag drängt sich aber doch die Frage auf:

Was sagt Russland zu einem Nato-Beitritt der skandinavischen Länder? Kurz nach den Ankündigungen der beiden Länder sprach der russische Präsident Wladimir Putin mit dem Uno-Sicherheitsrat über einen möglichen Nato-Beitritt von Finnland und Schweden. An einem Treffen der Staats- und Regierungschefs der ehemaligen Sowjetstaaten sagte Putin, dass Schwedens und Finnlands möglicher Nato-Beitritt an sich Russland nicht bedrohe. Anders sieht es bei einer Aufrüstung der beiden Staaten aus. «Die Ausweitung der militärischen Infrastruktur auf dieses Territorium wird unsere Antwort hervorrufen», drohte Putin am Montag […] Zuvor sagte der Kreml, er sehe die Absicht Finnlands für die Nato-Mitgliedschaft als Bedrohung. Die Entscheidung der Regierung sei ein feindlicher Akt, der Russlands Sicherheit gefährde […] Putin hatte seine Entourage davor bereits angewiesen, die Sicherheit der westlichen Flanke Russlands mit Blick auf die Nato-Aktivitäten zu stärken.6

Die Verabschiedung der jahrzehntelang gepflegten schwedischen und finnischen Neutralität im Rahmen ihrer Zugehörigkeit zum westlichen (NATO- und EU-) Lager ist inmitten der Zeitenwende eine unmissverständliche, auch nuklear-erstschlagsbereite Feindschaftserklärung gegenüber Russland. Die erklärte Beendigung der nicht unmittelbar gegenüber Russland gerichteten, neutralistisch orientierten Russlandpolitik der faktischen NATO-Länder Finnland und Schweden hat sich denn auch umgehend die reziproke, herzliche Feindschaft Russlands zugezogen: „ein feindlicher Akt“ (Putin). In den Worten des russischen Aussenministers S.Lawrow:

Russian Foreign Minister Sergei Lavrov said on Wednesday that Moscow would be forced to take unspecified measures on its border if Finland joins Nato, news agency Reuters reports. Lavrov said Finland had long been a model of friendly relations, according to Reuters, but that the Nordic country had now changed its rhetoric towards Moscow. The Russian FM added that Russia would have to take „appropriate measures on our borders.7

Dass die Radikalisierung der globalen Einkreisung (Kern-) Russlands auf immer erweiterter Eskalationsstufe im „Krieg gegen Russland“ (Baerbock) mittels der Ukraine und den perspektivischen Vollmitgliedern Finnland und Schweden den gesamten europäischen Kontinent in Richtung eines kontinentalen Kriegsschauplatzes, eines möglicherweise wahren Euroshimas zuspitzt, dem sich früher oder später kein Land, keine Region, kein Bauernhof mehr entziehen kann, wird wohl früher oder später Ergebnis der von der NATO konsequent verfolgten Durchsetzung seiner Zeitenwende gegenüber Russland sein.

4. Zur totalitären Ideologie des Schutzes und der Sicherheit

Angesichts der unmissverständlichen öffentlich kommunizierten Klarstellungen über den Nutzen einer NATO-Vollmitgliedschaft Finnlands und Schwedens, sowie angesichts der Klarstellungen der Russischen Föderation hinsichtlich seiner Einkreisung durch eine NATO-Vollmitgliedschaft beider Länder, gehört ins Reich der Ammenmärchen die alberne, inmitten des europaweiten demokratischen Meinungspluralismus geltende totalitäre Ideologie, demnach der Beitritt Schwedens und Finnlands in die NATO deren „Schutz“ und „Sicherheit“ erhöht:

„Schweden und Finnland seien ‚heute sicherer als vor ihrem Aufnahmeantrag‘ beteuert Stoltenberg zudem stets – ein weiterer verklausulierter Hinweis darauf, dass die Nato die Beitrittskandidaten verteidigen würde […].“ (SZ, 10.1.2023)8 Am von der NATO selbst ins Spiel gebrachten, schon mal im Gedanken antizipierten „Verteidigungsfall“, der mit dem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens konkret drohende Gestalt annimmt, halten NATO und die 4. Gewalt in den NATO-Ländern unbeirrt fest; ebenso am für die Öffentlichkeit bestimmten Ammenmärchen: „Dieser Beitritt, so Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Tag vor Beginn des Treffens, „macht Finnland sicherer und unsere Allianz stärker“.(ZDF heute, 3.4.2023)

Dementsprechend hat Russland reagiert:

Russland hält trotz massiver Kritik aus dem Ausland an seinem Plan fest, strategische Atomwaffen im Nachbarland Belarus zu stationieren. „Solch eine Reaktion kann natürlich russische Pläne nicht beeinflussen“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Montag in Moskau. (Suttgarter Nachrichten, 27.3.2023)9

Es geht also voran im „Krieg gegen Russland“ (Baerbock) und der Verwandlung des europäischen Kontinents in einen kontinentalen Kriegsschauplatz.

Fussnoten:

1 Unter: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/nato-treffen-finnland-beitritt-stoltenberg-ukraine-krieg-russland-100.html

2 Unter: https://www.dw.com/de/nato-finnland-st%C3%A4rkt-den-norden/a-65217359

3 Unter: https://www.bmvg.de/de/aktuelles/bundeswehr-zeigt-flagge-im-indo-pazifik-5479566

4 Vgl. Manfred Henle, 13.3.2023, Finnland und Schweden wollen in die NATO – Warum, unter: https://www.untergrund-blättle.ch/politik/europa/finnland-schweden-nato-beitritt-vollmitgliedschaft-7555.html

5 Unter: https://exxpress.at/gefahr-eines-3-weltkriegs-finnland-erlaubt-nato-stationierung-von-atomwaffen/

6 So die NZZ, 13.2.2023, unter: https://www.nzz.ch/international/nach-dem-entscheid-zum-nato-beitritt-von-finnland-folgt-jetzt-schweden-ld.1683660#subtitle-warum-wollen-die-skandinavischen-l-nder-jetzt-einen-beitritt-zum-milit-rb-ndnis-first; vgl. Auch Lawrow:

7 Yle News, 18.1.2023, unter: https://yle.fi/a/74-20013479

8 So die SZ, 10.1.2023, vgl. unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/nato-schweden-finnland-1.5729501

9 Unter: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.massive-kritik-an-plaenen-russland-haelt-an-stationierung-von-atomwaffen-in-belarus-fest.551c211a-fd29-49cd-8cc1-28dfe6f01f11.html

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Die Volksrepublik China

Erstellt von DL-Redaktion am 2. April 2023

Die chinesische Auffassung von Demokratie

In Schland durfte von der FDP  nur „Hoch auf den gelben Wagen“ gesungen werden.

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Während der Westen der VR China jegliches Demokratieverständnis schlichtweg abspricht, erläutern und veröffentlichen hochrangige Experten des ältesten und heute wieder sehr lebendigen Kulturstaates der Welt auf einem Forum des Central South University’s Human Rights Centers die Besonderheiten der chinesischen Demokratie.

Ein Blick in die chinesische Verfassung erleichtert das Verständnis. Dort wird schon in der Präambel eine ‚demokratische Diktatur des Volkes‘ skizziert. Im Kapitel I. Art. 1 steht dann: „Die Volksrepublik China ist ein sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht“.

Seit 40 Jahren hat sich in China viel getan, um zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt zu werden. Dringend Zeit also für eine aktuelle Bestandsaufnahme in Sachen Demokratie chinesischer Art (DCA). Alle Experten sind sich darin einig, dass das Wesentliche des chinesichen Demokratie der Respekt und die Wahrung der Menschenrechte ist. Chen Youwu, Dekan der Guangdong University of Technology’s School of Law sieht die DCA pragmatisch als Mittel zur Realisierung eines Gemeinwohls für die chinesische Bevölkerung von 1,4 Mrd Menschen, also zur koordinierten, friedvollen Entwicklung von Zivilisation, Menschen, Natur und materiellen Gütern.

Aus chinesischer Sicht ist Demokratie demnach ein Gesamtprozess (whole-process), der auch international gelten sollte. Die Rolle der Komunistischen Partei ist eine Besonderheit der DCA und in diesen Gesamtprozess eingebunden. Dabei geht die Macht im Staat vom Volke aus, denn neben der CPC sind im Volkskongress noch weitere acht Parteien und andere Interessengruppen vertreten und werden gehört.

Aus Unwissen über oder Desinteresse an chinesischer Kultur und Geschichte übersehen wir, dass die CPC (Communist Party of China) China von Unterdrückung und Ausbeutung durch westliche Demokratien befreit und wieder zu Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein entwickelt hat. Seit der Gründung 1949 hat China mehrere Reformen hinter sich gebracht und sich bemerkenswert entwickelt.

Ein großer Unterschied zwischen der DCA und anderen Demokratieformen ist ihr sozialer Charakter und ihre stetige Entwicklung. Für China gibt es gewichtige historische und soziale Gründe, einen eigenen demokratischen Weg einzuschlagen, der sich von westlichen Demokratien deutlich unterscheidet. Andere Länder, andere Sitten, also Gegebenheiten, die aus unserer Sicht nicht verständlich oder ungewöhnlich sind, haben tief wurzelnde Bedeutung und sind nur im Kontext des Landes und seiner Geschichte zu verstehen. Die Werte asiatischer Gesellschaften können ohne tiefere Kenntnis asiatischer Zivilisationen nicht verstanden werden. Umso wichtiger ist es gerade bei den aktuellen Veränderungen in der Welt, sich ehrlich mit der Kultur und Geschichte Chians zu beschäftigen, bevor man voreielige Beurteilungen abgibt.

Demokratie gibt es bei der Diversität der Staatsformen und Kulturen auf unserer Welt nicht in nur einer Art und Weise. Die westliche Denke, ihre Demokratie mit Gewalt durchzusetzen und anderen Ländern aufzuzwingen ist falsch, denn ein Volk will stets eine Politik, die seine Probleme löst. Es gibt kein Monopol auf Demokratie und ihre Definition. Alle Menschen haben das Recht, ihre Volksherrschaft (Demokratie) so zu gestalten und fortzuentwickeln, dass alle sich in kulturtypischer Weise an der politischen Willensbildung beteiligen können. Die DCA als Gesamtprozess ist da neu.

Urheberrecht
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Oben       —     伟大历程 辉煌成就——庆祝中华人民共和国成立70周年大型成就展

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KOLUMNE-Fernsicht-Indien

Erstellt von DL-Redaktion am 1. April 2023

Es gibt eine Chance für Homo-Ehen in Indien

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Kolumne Fernsicht von  : PRIYANKA BORPUJARI

Vor zwei Jahren kostete das Coronavirus in Indien eine halbe Million Menschen das Leben. Damals, als die Leichenhallen überfüllt waren, konnte vielleicht nur ein Mitglied der Familie die Verstorbenen zum Krematorium geleiten. Doch wer sollte den letzten Weg mit ihnen machen?

Verkehrsunfälle sind in Indien eine vergleichbare, wenn auch meist vernachlässigte Epidemie. Wer wäre für Sie der Notfallkontakt? Bei Verheirateten würde man erwarten, dass der Ehepartner benachrichtigt wird. In Indien werden die Krankenhausbeschäftigten dies allerdings dann nicht tun, wenn ihr Partner oder ihre Partnerin das gleiche Geschlecht wie Sie haben. Er oder sie dürfte auch keine Entscheidungen für Sie fällen. So wird nicht nur für den Fall eines Ablebens deutlich, dass die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe benötigt wird, herbeigesehnt wird – als rechtlicher Hebel zur Umwälzung des Status quo.

Nun eröffnet sich die Chance, dass die Homo-Ehe genauso wie die Ehe für heterosexuelle Paare durch die indische Justiz und das Parlament anerkannt wird. Auf den Weg gebracht wurde dies, als an mehreren lokalen Gerichten Petitionen eingereicht wurden. Nun hat der vorsitzende Richter des Obersten Gerichts in Indien gefordert, dass alle Petitionen gemeinsam dem höchsten Gericht vorgelegt werden. Er heißt Dhananjaya Chandrachud, und er hat bereits das Recht auf Privatsphäre anerkannt, hat „unnatürliche sexuelle Handlungen“ entkriminalisiert und hat Frauen unabhängig von ihrem Familienstand das Recht auf eine Abtreibung zugesprochen. Die lokalen Petitionen nahmen Bezug auf bestehende Gesetze. Einige dieser Gesetze sollen nur geringfügig umformuliert werden, bei anderen soll eine freiere Interpretation ermöglicht werden.

Die Ehegesetze in Indien hängen im Wesentlichen von der Religion der Eheschließenden ab. Das Ehegesetz für Hindus erlaubt eine Heirat „zwischen zwei Hindus“ und geht nicht auf deren Geschlecht ein, sodass eigentlich die Option für gleichgeschlechtliche Ehen von Hindus besteht. Sollten diese erlaubt werden, müsste dies automatisch auch Homo-Ehen unter dem „Special Marriage Act“ zulassen. Er regelt Ehen zwischen Partnern unterschiedlichen Glaubens. Ein anderes Gesetz, der „Citizenship Act“, ermöglicht es indischen Staatsbürgern im Ausland, den Status eines „Overseas Citizen of India“ zu erlangen. Dies gilt auch für deren nichtindische Ehepartner, und im Wortlaut des Gesetzes wird nicht spezifiziert, welches Geschlecht die Ehepartner haben müssen. Also könnte das Oberste Gericht auch für diese Personengruppe gleichgeschlechtliche Ehen legalisieren.

Rechtsgerichtete Hindus kritisieren diese Petitionen und sagen, dass die Justiz dies nicht für die Gesellschaft entscheiden könne. Aber der große juristische Erfolg von 2018, als das Oberste Gericht „unnatürliche sexuelle Handlungen“ – gemeint war damit vor allem Homosexualität – entkriminalisierte, ist Grund genug für Hoffnung. Im April soll über die Petitionen verhandelt werden.

Quelle          :         TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Rückendeckung von links

Erstellt von DL-Redaktion am 30. März 2023

Auch die Politik der Ukraine ist streckenweise zu kritisieren.

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Ein Debattenbeitrag von Anastasia Tikhhomirova

Das Recht zur Selbstbestimmung und zur Verteidigung besteht dennoch unbesehen. Prekarisierte Menschen werden aufgefordert zu frieren, anstatt dass man die Übergewinnsteuer einführt.

Oft heißt es in linken Kontexten, dass sich Waffenlieferungen an die Ukraine und linke Positionen ausschließen. Doch gibt es eine ganze Reihe von Gruppen, die Ukrai­ne­r*in­nen weder Solidarität noch das Recht auf Selbstverteidigung versagen wollen. Die Berliner Gruppe Right to Resist UA, die ins Leben gerufen wurde, weil die Ak­ti­vis­t*in­nen die mangelnde Solidarität von Linken in Deutschland mit Ukrai­ne­r*in­nen entsetzlich fanden, gehört dazu. Sie orientiert sich an den Positionen der ukrainischen Sozialisten Socialny Ruch, bei denen sich der Historiker Taras Bilous engagiert.

Er kritisiert seit Beginn der russischen Komplettinvasion regelmäßig die Ignoranz der westlichen Linken gegenüber Russlands imperialen Ansprüchen. Anstatt die Welt nur in geopolitischen Lagern zu sehen, müssten sozialistische In­ter­na­tio­na­lis­ten jeden Konflikt auf der Grundlage der Interessen der arbeitenden Menschen und ihres Kampfes für Freiheit und Gleichheit bewerten, findet Bilous. Er kämpft zudem an der Front und plädiert für Waffenlieferungen. „Auch wir stellen uns gegen das kapitalistische System, in dem mit Krieg Profit gemacht wird“, betont Aktivist Ian von Right to Resist. Man trete nicht generell für Waffenlieferung ein. „Unsere Forderungen dürfen aber nicht realitätsfern werden.“

Als Reaktion auf das „Friedensmanifest“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht verfasste Right to Resist ein eigenes Statement. Darin heißt es, dass ein Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine nicht zu einem Ende des Krieges führen würde. Im Gegenteil würde dies eine Ausweitung der russischen Besatzung, also Vergewaltigungen, Deportationen und Hinrichtungen, bedeuten, die auf andere postsowjetische Staaten übergreifen könnte. Die Gruppe demonstriert regelmäßig in Berlin mit anderen linken Gruppen, wie der russländischen „Feminist Antiwar Resistance Berlin“, den antikolonialen Voices of Indigenous Peoples of Russia oder Good Night Imperial Pride, eine Solidaritätskampagne für antiautoritäre Genoss*innen, die für die Befreiung der Ukraine von der russischen Invasion und Besatzung kämpfen.

Gleichzeitig ist aus einer linken Perspektive kritikwürdig, dass es ukrainischen Männern im wehrfähigen Alter nicht gestattet ist, zu fliehen. Flucht vor Krieg ist ein Menschenrecht, das seit Kriegsbeginn mindestens 45.000 Männern und einigen trans Personen verweigert wurde. In Artikel 65 der ukrainischen Verfassung heißt es, dass die Verteidigung der Unabhängigkeit und territorialen Integrität der Ukraine die Pflicht der Bürger ist. Allerdings wird nirgendwo die geschlechtsspezifische Dimension dieser Pflicht erwähnt. Während sich Männer strafbar machen, wenn sie dieser Pflicht nicht nachkommen, ist für ukrainische Frauen der Dienst in den Streitkräften ein erst seit kurzem bestehendes Recht, für das ein Teil der feministischen Bewegung seit langem kämpft. Aktuell sind mehr als 38.000 Frauen in den Streitkräften, etwa 5.000 von ihnen an der Front.

Die Gruppe Radical Aidforce fährt nahezu wöchentlich in die Ukraine und ermöglicht Liefer- und Evakuierungsfahrten bis an die Frontlinien. Die Ak­ti­vis­ten*­in­nen hegen grundsätzliches Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen. Festzuhalten ist, dass eine Unterstützung des ukrainischen Widerstandes nicht gleichbedeutend mit einer Unterstützung der Nato sein muss, insbesondere mit Blick auf andere internationale Konflikte, in die die Nato involviert ist. Ein interna­tio­nales, demokratisches Sicherheitssystem muss her. Darüber zu debattieren, wird jedoch erst nach Wladimir Putins Untergang und dem Sieg der Ukraine über den russischen Imperialismus möglich sein.

Робоча поїздка Президента України на Миколаївщину та Одещину 50.jpg

Sorge bereiten vielen Linken zudem die anhaltende Inflation und die neoliberale Antwort der Ampelregierung darauf. So werden prekarisierte Menschen aufgefordert, zu frieren und zu sparen, anstatt eine adäquate Antwort auf das Versagen der deutschen Energiepolitik infolge des jahrelangen Appeasements gegenüber Russland zu finden, die Übergewinnsteuer einzuführen und Reiche zu besteuern. Nicht wenige linke Gruppierungen demonstrieren deshalb seit Monaten zusammen in einer Querfront mit rechten und esoterischen Gruppen gegen eine Unterstützung der Ukraine und für Frieden mit Russland.

Auf bundespolitischer Ebene stellt sich der Bundesarbeitskreis Bytva (ukrainisch für Kampf) dagegen. Er wurde gegründet, um sich mit Linken im osteuropäischen Raum zu solidarisieren und gleichzeitig Antworten auf die neoliberale Politik zu finden. Die ukrainischstämmige Linkenpolitikerin und Mitglied des BAK Bytva Sofia Fellinger kritisiert, dass „aktuell eine große Aufrüstungskampagne unter dem Mantel der vermeintlichen Ukraine-Solidarität gefahren“ werde.

Quelle       :        TAZ-online          >>>>>           weiterlesen

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Oben     —     Selenskyj bei einer Ansprache im März 2022

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Ein Jahr Ukraine –

Erstellt von DL-Redaktion am 30. März 2023

20 Jahre Irakkrieg – Warum der Globale Süden dem Westen nicht traut

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Legal, illegal? Scheißegal

Erstellt von DL-Redaktion am 30. März 2023

Kanzler Scholz gibt den Watschenmann

Quelle      :      Ständige Publikumskonferenz der öffentlichen Medien e.V.

Von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Für die Rolle bestens geeignet / Zensur und Selbstzensur kaschieren das deutsche Elend, derweil die Rechtsstaatlichkeit schwindet

Deutschland, der Pausenhof: Big Joe knallt dem Olaf ein Ding an den Nischel, so einen Wumms hält kein Gasrohr aus. Olaf sieht Sterne und Streifen. Aber er versichert den Umstehenden: „Unsere Partnerschaft ist enger und vertrauensvoller denn je.  Big Joe bestellt den Olaf wenig später zu sich nach Übersee und flüstert ihm was. Die ARD-aktuell aber macht daraus einen „Besuch bei Freunden“.  Manipulation gehört eben zur Tagesschau wie Mattscheibe zur Caren Miosga. Drei Tage später heißt es aus Hamburg, Big Joe habe dem Olaf überhaupt keine reingehauen, sondern, ganz anders, einige pro-ukrainische Rüpel hätten mit einem Segelboot Knallfrösche in Olafs Badewanne … Man verzeihe uns das Geschnodder, es soll darauf aufmerksam machen, dass die USA eine intellektuelle Flugverbotszone über unser Land verhängt haben; deshalb liefern unsere Leit- und Konzernmedien Nachrichten vom hier dargestellten informationellen Gehalt.

Unser Gemeinwesen verkrüppelt unter solcher Deutungshoheit zusehends zu einem protofaschistischen US-Protektorat. Widerstandskräfte dagegen entwickeln sich erst allmählich. Konkrete Erfahrungen mit realem Faschismus hat in Deutschland nur noch ein sehr kleiner Kreis von Hochbetagten, die Hitlers Drittes Reich erlebt haben. Die Jüngeren müssen erst selbst dahinterkommen, wo welche Gefahrenquellen für unseren Rechtsstaat sprudeln.

Seine Verächter zeichnen sich durch ihren abgrundtiefen Zynismus und US-Konformismus aus. Selbstbestimmte Persönlichkeitsentfaltung, unabhängige Meinungsbildung, freies Denken und Reden sind ihnen zuwider. Ihr Ideal ist der Angepasste, der sich ihren Vorgaben unterordnet und ihnen besinnungslos nachbetet. Die einst übliche Todesstrafe fürs Abhören von „Feindsendern“ brauchen sie für ihre Zwecke nicht mehr. Mit von elektronischer Datenverarbeitung unterstützter Zensur sowie mit Agitation und Propaganda in Dauerschleife gelingt es schon jetzt, ein vollkommen verzerrtes Weltbild als Realität auszugeben und mehrheitlich akzeptabel zu machen. Rechtsnihilismus und Willkürjustiz unterstützen den Erfolg.

Kein Nachrichtentag vergeht, ohne dass wir vom brutalen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu hören kriegen. Wer diese USA-NATO-EU-Sichtweise öffentlich infrage stellt, ein Ende der gigantischen Waffenlieferungen an die Ukraine und die Aufnahme von Verhandlungen mit Russland fordert, lernt schnell deutsche Staatsanwälte kennen. Die nennen soviel kritischen Widerspruch gegen die „herrschende“ Meinung nämlich

Billigung eines Angriffskrieges, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“.

Das gilt als Straftat und wird mit bis zu drei Jahren Haft oder Geldstrafe geahndet. Entsprechende Urteile sind bereits ergangen.

Deutsche Gerichte berücksichtigen nicht, dass der globale Süden, die Mehrheit der Weltbevölkerung, sich nicht an der westlichen Sanktionspolitik beteiligt. Zudem lassen die deutsche Justiz (und füglich auch die konformistische Tagesschau) außer Acht, dass sich Russland bei seiner militärischen Aktion gegen die Ukraine – ob zu Recht oder Unrecht bleibt offen – auf Art. 51 der UN-Charta beruft; dieser Artikel betrifft die Selbstverteidigung und schließt sogar eine präventive (=vorbeugende) Selbstverteidigung nicht aus.

Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, ist angeblich blind und wird meist mit verbundenen Augen dargestellt. Ihre deutsche Ausgabe gibt sich hingegen als offen einäugig. Sie setzt durch, dass die Masse der Bevölkerung das Geschehen in der Ukraine nicht einmal mehr von beiden Seiten betrachten kann: von der NATO-transatlantischen und von der russischen Seite – der Beleg unserer zunehmenden Unfreiheit.

Ex-Kanzlerin Schamlos und Kanzler Tunichtgut

Das lässt sich exemplarisch auch am Umgang mit dem Eingeständnis der Altkanzlerin Merkel sowie der vormaligen Staatspräsidenten Poroschenko (Ukraine) und Hollande (Frankreich) aufzeigen. Alle drei gaben bekanntlich aus freien Stücken zu erkennen, das völkerrechtlich abgesicherte Minsk-II-Abkommen mit voller Absicht gebrochen und Putin hintergangen zu haben. Sie wollten den seit Mitte 2014 von Kiew geführten Bürgerkrieg gegen die ukrainischen (russischsprachigen) Donbass-Provinzen nicht beenden lassen (das Abkommen sah dafür enge Fristen von wenigen Monaten vor), sondern – vertragswidrig – der Ukraine jede Menge „Zeit geben“ zu hemmungsloser Hochrüstung. Sie kalkulierten Russlands militärische Reaktion und brachen somit einen völkerrechtlich gültigen Vertrag.

Schon Monate vor Russlands Invasion hatten sie bis ins Detail geplant, womit sie ihren schon mehr als zehn Jahre geführten Wirtschaftskrieg zu verschärfen gedachten; die Angeberei des Merkel-Nachfolgers und vormaligen Vizekanzlers Scholz im Bundestag verrät alles:

„…Sanktionen …, die ihresgleichen suchen. Über Monate hinweg haben wir sie bis ins kleinste Detail vorbereitet …. Weltweit haben wir für Unterstützung geworben.“

Sie wussten, was kam. Sie hatten es ja genau darauf angelegt.

ARD-aktuell berichtete über diesen Skandal mit keinem Wort. Wenn schon einäugige Justiz, dann erst recht tendenziöser Qualitätsjournalismus.

Keine offizielle Instanz in Deutschland regt sich darüber auf, dass Ex-Kanzlerin Merkel in ihrem „Zeit“-Interview zugleich einen mehrfachen Verfassungsbruch schamlos eingestand: Das Grundgesetz bindet nämlich alle staatlichen Organe an die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“. Zugleich verbietet es „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören“. Offen bleibt die Frage, ob außerdem noch ein strafbarer Fall von Friedensverrat vorliegt.

Reden wir lieber über den regierenden Kanzler Scholz und seine infantile Außenminister-in Baerbock. Beider Rechtsverständnis reicht ebenfalls nicht so weit, dass sie sich um eine Wiederbelebung des Minsk II-Abkommens bemühten. Im Gegenteil, sie verweigern Gespräche mit Moskau und konterkarieren das, was die UN-Generalversammlung gerade erst wieder beschlossen hat:

„Die Generalversammlung fordert nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel.“ 

Mit Ignoranz und Arroganz setzen sie vielmehr auf weitere Waffenlieferungen an die Ukraine, auf grundgesetzwidrige Kriegsbeteiligung mittels Ausbildung ukrainischer Soldaten an deutschen Angriffswaffen und auf völkerrechtswidrige Sanktionen. Im Gegensatz zu aller Berliner Heuchelei dient diese Politik den USA und deren Ziel, den Krieg zu verlängern.

Das Einzige, was man Kanzler Scholz zugutehalten kann:

Er hat sich noch nicht öffentlich bei den Amis für ihren Terroranschlag auf die Nord-Stream-Gasleitungen bedankt.

Aber das kann ja auch noch kommen.

Legal, illegal? Scheißegal

Man sollte eigentlich meinen, die UN-Charta sei auch in Art. 2, Absatz 4 unmissverständlich:

„Alle Mitglieder unterlassen … jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“,

doch machte man dann die Rechnung ohne den Wirt. Nach Auslegung der USA ist in der Charta lediglich die „militärische Gewalt“ gemeint. Der globale Süden beharrt hingegen darauf, das Gewaltverbot gelte auch für Wirtschaftssanktionen. Wird hier Haarspalterei betrieben? Das kann nur jemand meinen, der nicht wahrhaben will, dass Sanktionen eine ebenso existenzvernichtende, für Millionen Menschen tödliche Gewaltform darstellen können wie die militärische Gewalt.

Damit auch das endlich geklärt ist: Baerbocks großmäulige Ansage, die Sanktionen würden (sollten) „Russland ruinieren“ ist eine Missachtung des Völkerrechts. Ein Ausdruck vollendet selbstherrlicher Ignoranz. Denn laut UN-Charta ist nur der UN-Sicherheitsrat und niemand sonst ausdrücklich befugt, zur zwischenstaatlichen Streitbeilegung und zur Sicherung des Friedens schwerwiegende Sanktionen zu verhängen.

Mit hasserfülltem Aktionismus verfügte die EU allein in den ersten zwei Monaten nach Beginn der russischen Militäroperation sage und schreibe 3913 Sanktionen. Per Verordnung, ohne gesetzliche Grundlage, auf rechtlich äußerst fragwürdiger Basis.

Dass diese überschäumende Sanktionitis ihren gegen Russland gerichteten Zweck verfehlt, ist das Eine; das Andere aber, dass sie inzwischen die deutsche Wirtschaft massiv schädigt. Das führte selbst in Baerbocks Ministerium zu Nebenwirkungen:

„Bei vielen Mitarbeitern hat sich ein enormes Maß an Frustration und Fremdscham angehäuft … zunehmendes Unverständnis über die Art und Weise der Sanktionspolitik ohne jede Rücksichtnahme auf deutsche Interessen …

Ob die Sanktionen mit dem in Deutschland geltenden Recht vereinbar sind, ist längst nicht so eindeutig geklärt, wie die führenden Politiker und ihre journalistischen Wasserträger uns weismachen wollen. Beabsichtigt war, die russische Bevölkerung dazu zu bringen, den innenpolitischen Druck auf ihre Führung zu verstärken, um deren Außenpolitik zu ändern. Das Gegenteil ist eingetreten. Putin wird von 80 Prozent der Russen unterstützt. Logisch und rechtlich geboten wäre es folglich, die Sanktionen aufzuheben.

Über Berge von Leichen

Doch weder mit Logik noch mit rechtsstaatlichem Bewusstsein ist unsere Ampelregierung sonderlich gesegnet. Vielmehr treibt sie der gleiche krankhafte Wille, die Widersacher der USA zu vernichten, wie ihn Washington gegenüber Kuba, Venezuela, Irak, Iran und derzeit in schlimmster Form gegenüber Syrien auslebt. Da gehen die Scholz-Regierung und die Biden-Aministration Arm in Arm – und zwar über Berge von Leichen.

Menschenleben zählen nicht, entgegen dem frommen Schein auch keine ukrainischen. Waffen liefern für den Krieg, auf dass er bald zu Ende gehe? Gegenfrage: Kennen Sie in der vieltausendjährigen Geschichte der Menschheit auch nur einen einzigen Fall, dass ein Krieg mittels Waffenlieferungen beendet wurde?

Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der abgestorbenen Sowjetunion, politischer Vater auch der DDR-Selbstaufgabe und einst der Deutschen Lieblingsrusse:

„Die deutsche Presse ist die bösartigste überhaupt.“

Sie ändert sich nicht und garantiert damit, dass sich auch in unserem politischen Alltag nichts Wesentliches ändert. Gleiches gilt für die EU und den gesamten „Werte-Westen“: Ihre „regelbasierte Ordnung“ ist ein orchestrierter Bruch des Völkerrechts. Menschenverachtende Willkür. Gäbe es außerhalb der bewussten Medien (Internet-Portale, Blogs, einige kleine Tages- und Wochenzeitungen) tatsächlich einen distanziert-kritischen, um Wahrhaftigkeit und um Aufklärung bemühten Journalismus, dann gingen die Massen heute nicht nur zu Arbeitskämpfen auf die Straße, sondern regelmäßig auch gegen politische Korruption und gegen Kriegstreiberei.

Die Pest der Zensur

Mit ihr weiß unsere politische und gesellschaftliche Elite allerdings gut umzugehen und dem Volkszorn vorzubeugen. Mit Zuckerbrot (Journalisten schmieren, sie mit gut dotierten Posten und Privilegien korrumpieren) und Peitsche: Maulkorb und Strafandrohung, von Staats wegen.

Über die Informationsfreiheit heißt es in Art. 11 der Charta der Europäischen Union:

„Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet.“

Das Entsprechende in unserem Grundgesetz Art. 5:

Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Diese Grundrechte sind das Papier nicht mehr wert, auf dem sie gedruckt stehen. Bereits bevor Russland in den Ukraine-Krieg eingriff, verweigerten deutsche und europäische Behörden RT Deutsch die Sendeerlaubnis, obwohl RT bereits eine europaweit geltende, von Serbien ausgestellte Sendelizenz hatte. Die russische Nachrichtenagentur „Sputnik“ wurde ebenfalls gesperrt. Ausgerechnet EU-Kommissionspräsidentin v. d. Leyen, selbst unter Korruptionsverdacht und geübt in schamloser Lüge, durfte sich da hervortun:

„Als Sprachrohre Putins haben diese Fernsehkanäle seine Lügen und Propaganda erwiesenermaßen aggressiv verbreitet.“ Man solle ihnen „keine Bühne mehr zur Verbreitung dieser Lügen geben.“

Tobias Schmid, Direktor der Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen sah für das Vorgehen allerdings keine Rechtsgrundlage:

„Die Europäische Kommission ist gefordert, eine gesetzgeberische Lösung zu finden.“

Mit anderen Worten: Das Verbot war rechtswidrig. Und das ist es bis heute.

Die Bundesnetzagentur gab sich zur Durchsetzung der Zensurmaßnahmen her. Auch sie handelte rechtswidrig, wenn man eine grundlegende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beachtet:

„Dem Einzelnen soll ermöglicht werden, sich seine Meinung auf Grund eines weitgestreuten Informationsmaterials zu bilden. Er soll bei der Auswahl des Materials keiner Beeinflussung durch den Staat unterliegen. Da die Informationsfreiheit … auch dazu bestimmt ist, ein Urteil über die Politik der eigenen Staatsorgane vorzubereiten, muss das Grundrecht vor Einschränkungen durch diese Staatsorgane weitgehend bewahrt werden.

Die Informationsfreiheit wurde … verfassungsrechtlich garantiert, um die ungehinderte Unterrichtung auch aus Quellen, die außerhalb des Herrschaftsbereiches der Staatsgewalt der Bundesrepublik bestehen, zu gewährleisten. Wenn die Informationsquelle an irgendeinem Ort allgemein zugänglich ist, mag dieser auch außerhalb der Bundesrepublik liegen, dann kann auch ein rechtskräftiger Einziehungsbeschluss nicht dazu führen, dieser Informationsquelle die Eigenschaft der allgemeinen Zugänglichkeit zu nehmen.“

Diese vorbildliche Entscheidung stammt allerdings aus einer Zeit, als Politiker und Richter noch bemüht waren, „Demokratie zu wagen“.

Zwei staubige Brüder

Hatten wir eingangs des Kanzlers charakterlos schleimige Bemerkungen zitiert, so wollen wir hier mit vergleichbar Geistreichem von ihm fortfahren. Scholz:

„Niemand steht über Recht und Gesetz“.

Um Legendenbildungen vorzubeugen: Er bezog das auf Putin, nicht auf sich selbst.

Ein klassischer Fall von Cum-Ex-Gedächtnislücke. Doch bei diesem folgenlosen Vorwurf wollen wir es nicht belassen. Scholz habe am neuesten Märchen über die Nord-Stream-Gasröhren mitgestrickt, behauptet der weltbekannte Investigativ-Journalist Seymour Hersh; er habe beim Tête-à-Tête mit US-Präsident Biden in Washington vereinbart, dessen Täterschaft zu vertuschen. Beide hätten die CIA und den BND beauftragt, eine Tarngeschichte für die Zerstörung der Nord-Stream-Röhren zu erfinden und sie zu lancieren.

Heraus kam dabei die Story von ukrainischen Segelbootfahrern als angebliche Nord-Stream-Bombenleger. Die Tagesschau behauptete sogar, nicht die Einflüsterung der Geheimdienste, sondern eigene Recherchen der ARD hätten zu dieser „Spur“ geführt. Das klang so großmäulig wie unglaubwürdig.

Sollte Hersh mit seiner Behauptung Recht haben, Scholz sei Mitwisser der fiesen Geschichte, dann gehörte der Kanzler wegen eines Bündels von Straftaten vor den Richter, unter anderem wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung und Strafvereitelung im Amt.

Was aber macht ein deutscher Bundeskanzler heutzutage, wenn er mit schändlich unterwürfigen Aussagen gepatzt hat? Zieht er sich ins Trappistenkloster zurück und legt ein Schweigegelübde ab? Aber nicht doch! Entgegen seiner Pflicht, selbst aktiv zur Konfliktbewältigung beizutragen, tut er so, als sei sein geopolitischer Widerpart ein Schwachkopf – und lässt schnellstmöglich die nächste Sottise raus:

“Es ist wichtig, dass Putin versteht, dass er seine Truppen zurückziehen muss“.

Man nennt das verbale Vorne-Verteidigung. Die Tagesschau bringt derart hohle Phrasen garantiert im O-Ton und kommentarlos auf den Schirm, statt sie als Realsatire zu brandmarken. Das Publikum lässt es sich ja gefallen. Noch.

Quellen

https://www.tagesschau.de/inland/scholz-washington-105.html
https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/scholz-biden-111.html
https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-9971.html
https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-56347.html
https://dejure.org/gesetze/StGB/140.html
https://www.infosperber.ch/freiheit-recht/buergerrechte/russlandversteher-in-berlin-mit-2000-euro-bestraft/
https://www.bundestag.de/resource/blob/414640/44a2b7337d3b8fd94962639cb365c9c8/WD-2-049-07-pdf-data.pdf
https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-21-vom-30-november-2022.html
https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzler-olaf-scholz-2019954
https://www.zeit.de/2022/51/angela-merkel-russland-fluechtlingskrise-bundeskanzler
https://lxgesetze.de/gg/24
https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_26.html
http://stgb-online.de/verrat.html
https://www.un.org/depts/german/gv-notsondert/a-es11-1.pdf
https://www.wallstreet-online.de/nachricht/16690507-scholz-kuendigt-kontinuierliche-waffenlieferungen-ukraine
https://www.bundestag.de/resource/blob/892384/d9b4c174ae0e0af275b8f42b143b2308/WD-2-019-22-pdf-data.pdf
https://www.tagesschau.de/ausland/scholz-kampfpanzer-leopard-ukraine-101.html
https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/un_charta_666.html
https://www.mpil.de/files/pdf1/vrz.gewaltverbot.pdf
https://www.rnd.de/politik/ukraine-krieg-baerbock-ueber-sanktionen-das-wird-russland-ruinieren-RZDYS2DEPRK5OST7ZGGRZ6UN4I.html
https://unric.org/de/un-aufgaben-ziele/frieden-und-sicherheit/
https://de.statista.com/themen/9109/sanktionen-gegen-russland/#topicOverview
https://www.nachdenkseiten.de/?p=95404
https://verfassungsblog.de/wirtschaftssanktionen-gegen-russland-und-ihre-rechtlichen-grenzen
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1293274/umfrage/umfrage-zu-den-zustimmungswerten-fuer-wladimir-putin-in-russland/
https://www.tagesspiegel.de/politik/russland-gorbatschow-deutsche-presse-ist-die-boesartigste-ueberhaupt/1512810.html
https://uebermedien.de/82771/landesregierung-will-veroeffentlichte-preistraeger-noch-mal-veroeffentlichen/
https://fra.europa.eu/de/eu-charter/article/11-freiheit-der-meinungsaeusserung-und-informationsfreiheit
https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_5.html
https://www.tagesschau.de/inland/rt-de-rundfunklizenz-101.html
https://www.tagesschau.de/investigativ/hr/verbot-russische-staatssender-101.html
https://www.deutschlandfunk.de/putin-medien-propaganda-russland-europa-eu-kommission-sender-100.html
https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Fachthemen/Digitalisierung/Internet/Netzneutralitaet/DNSsperren/start.html
https://www.fallrecht.de/bv027071.html#080
https://www.berliner-zeitung.de/news/scholz-zu-putin-haftbefehl-niemand-steht-ueber-recht-und-gesetz-li.329010
https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-56079.html
https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__129a.html
https://dejure.org/gesetze/StGB/258a.html
https://www.tagesschau.de/ausland/scholz-cnn-103.html

 Anmerkung der Autoren:

Unsere Beiträge stehen zur freien Verfügung, nichtkommerzielle Zwecke der Veröffentlichung vorausgesetzt. Wir schreiben nicht für Honorar, sondern gegen die „mediale Massenverblödung“ (in memoriam Peter Scholl-Latour). Die Texte werden vom Verein „Ständige Publikumskonferenz öffentlich-rechtlicher Medien e.V.“ dokumentiert: https://publikumskonferenz.de/blog

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Oben     —   Protest von FridaysForFuture und Anderen, sowie Ankunft der Verhandlungsteilnehmenden an der Messe Berlin zum letzten Tag der Sondierungsgespräche für eine Ampelkoalition.

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Xi Jinping in Moskau

Erstellt von DL-Redaktion am 26. März 2023

Eine bessere Welt durch geteilte Zukunft

Putin-Xi meeting (2023).jpg

Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Die Begenung von Xi Jinping und Vladimir Putin in Moskau war so spektakulär, dass sie von den parteihörigen Medien nicht unter den Teppich gekehrt werden konnte. Also gab es wilde Spekulationen und Phantasien über das Warum der Begegnung, ohnerichtig hinzuhören oder nachzulesen, was dort wirklich gesagt und getan worden ist. Man krallte sich lieber und wie immer an eigene Vorurteile.

Entgegen der westlichen Behauptung, dass bei dem Treffen das Thema Ukraine kaum oder nur am Rande angesprochen worden sei, haben Xi und Putin eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet und veröffentlicht, wonach die Krise in der Ukraine durch Dialog gelöst werden soll. Putin bekräftigte seine Bereitschaft, so schnell wie möglich einen Dialog mit der Ukraine aufzunehmen, und Xi betonte zum wiederholten Mal,dass er immer für einen Dialog eingetreten ist. Warum schweigen die westlichen Medien über dieses wichtige Ergebnis der Begegnung?

Über das eigentliche Thema der Begegnung schweigen sich die Politik und Medien ganz aus oder äußern sichnur verächtlich: die Friedenspolitik von Xi Jinping. Nachder Ankündigung auf der MünchnerSicherheitskonferenz und der Veröffentlicheung der GSI (Globale Sicherheitsinitiative) am 24. Februar und vo rdem Hintergrund der diplomatischen Vermittlung zwischen Iran und Saudi-Arabien demonstrierte Xi ohne Umschweif die schon deutlich gewordene Multipolarität der Weltordnung im Gegensatz zur Hegemonie der USA. China positioniert sich klar für eine bessere Welt durch eine geteilte Zukunft aller Menschen und Völker.

Anders als die USA, die jedes Problem und jeden Konflikt mit Waffengewalt angegangen und dann jämmerlich gescheitert sind, will China der Menschheit zu einer friedvollen, geteilten Zukunft verhelfen und kann das auch durch Taten belegen. Alle Realisationen im Rahmen der alten und der neuen Seidenstrasse sind friedvoll und zum Nutzen beider Vertragspartner. Die markantesten Beispiele in Europa sind Duisburg und Piräus als zukunftsrächtige Infrastrukturmaßnahmen zum Wohl der lokalen und regionalen Volkswirtschaft.

Sehen wur hier das wirkliche Foto aus Moskau ?

Das ist für China der Lösungsansatz für dieHerausforderungen in unserer Welt und für eine bessere Zukunft durch konzertierte Aktionen einer internationalen Gemeinschaft. „Das gemeinsame Interesse derMenschheit ist eine in Frieden geeinte und nicht geteilte und volatileame Welt“, sagt Xi seit nunmehr zehn Jahren. Und keiner im Westen hörte hin.So nutzt Xi die Bühne in Moskau, um deutlich zumachen, dass China mit befreundeten Staaten einen harmonischen Gegenpol zur Hegemonie der USA und ihrer Vasallen im Weltgeschehen bildet. Dabei ist das Leitmotiv einer Menscheit mit geteilter Zukunft so neu nicht, wenn man an Karl Marx mit seiner Aufforderungdenkt: Bürger aller Länder vereinigt euch! Und die Forderung nach Harmonie ist der chinesischen Kultur seit Konfuzius eigen. Die Gedanken dieser beidenAutoren sind heute Grundsäulen chinesischer Politik. Seit Moskau ist klar, dass die Weltornung nur noch multipolarkonzertiert wird und hoffentlich für eine bessere Welt mitgeteilter Zukunft.

Urheberrecht
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Oben       —      President of the People’s Republic of China Xi Jinping meets with President of Russia Vladimir Putin at the official welcoming ceremony in the Grand Kremlin Palace in Moscow.

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von DL-Redaktion am 25. März 2023

Bei aller Verbitterung Mut und Hoffnung nicht verlieren

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Kaum hatte der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen gegen Wladimir Putin verhängt, schon machte sich Chinas KP-Chef Xi Jinping auf nach Moskau zum Freundschaftsbesuch.

Mit Chinas Unterstützung für Putin wird die Internationale Gemeinschaft erst recht keine Chance haben, den Haftbefehl jemals umzusetzen. Es wäre ohnehin eine Weltpremiere, auf die wir wohl lange warten müssen.

Doch nicht nur Putin drohen die Richter. Auch gegen den Ex-Präsidenten der USA, Donald Trump, steht vermutlich ein baldiges Verfahren an. Ein gefundenes Fressen für die KP-Propaganda. China werde niemals das westliche Modell, darunter unabhängige Justiz, kopieren. Man kenne eine bessere Demokratie, bei der das Volk von Anfang bis Ende demokratisch lebe. Seltsam nur: Gewählt wird niemals. Nicht ein Gericht, sondern die Partei bestimmt, wer aufgrund welchen Verbrechens mit welchem Strafmaß verurteilt wird. Noch wissen wir nicht, was Trump bevorsteht. Sicher ist jedoch, dass Xi davon wenig erfahren möchte, schon gar nicht am eigenen Leibe.

Doch die Welt ist unbezwingbarer, als Autokraten es sich offensichtlich einbilden. Noch so mächtig mögen diese Männer in der Vergangenheit gewesen oder noch immer sein. Einer grundmenschlichen Beurteilung, ob sie Verbrechen begangen haben oder nicht, entkommen sie nicht. Nicht einmal in dieser verunsicherten Welt, wo so viele schon davon reden, dass es nicht nur keine Kategorie „richtig“ oder „falsch“ mehr gebe, sondern auch kein „faktisch“ oder „fake“. Trump wie Putin sind verrufen auch für ihre Dreistigkeit, Tatsachen zu verdrehen: Aus Aggression gegen die Ukraine wurde laut Putin ein Feldzug gegen den Faschismus und gegen eine Osterweiterung der Nato. Aus blanker Missachtung der Rechtstaatlichkeit durch einen Massenmob gegen das legitime Parlament wurde laut Trump ein „patriotischer“ Aufstand derer, die fürchteten, ihnen würde ihr Land genommen werden. Nun wird klar, dass dieser Dreistigkeit Einhalt geboten werden sollte. Wichtiger noch: Der Dreistigkeit wird Einhalt geboten.

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Nicht, dass die pure Moralität obsiegt. Eine politische Realität erzwingt den Etappenerfolg. Putin erleidet auf dem Schlachtfeld in der Ukraine Niederlagen. Mittlerweile positioniert sich in Europa Russlands letzter slawischer Bruder Serbien gegen Moskau und liefert Raketen an die Ukraine, um die Aggressoren zurückzuschlagen. In Asien ist es Pakistan, das die Ukraine mit Militärhilfe unterstützt.

Quelle         :       TAZ-online            weiterlesen

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Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Besser gewappnet sein

Erstellt von DL-Redaktion am 20. März 2023

Europa muss es besser machen als China:

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Kohlemine in der Inneren Mongolei; 2005

Ein Debattenbeitrag von :    ELEONORA EVI, SANDRA DETZER, JORIS THIJSSEN, MARIE-PIERRE VEDRENNE

Echte Partner-schaften bilden und Industrien vor Ort aufbauen. Die EU-Kommission stellt ein neues Gesetz über kritische Rohstoffe vor. Ziel ist es, Krisen vorzubeugen sowie unabhängiger und nachhaltiger zu wirtschaften.

Wir alle in der Europäischen Union haben eine Vorstellung von Öl- und Gaskrisen. Die Älteren erinnern sich an die Ölkrise 1973, als arabische Länder ihre Öllieferungen einstellten. Die Jüngeren erleben gerade, wie Russland im Zuge des Angriffskrieges gegen die Ukraine Gas als Waffe einsetzt. Aber wer von uns hat je an eine Nickel-, Lithium- oder Kobalt-Krise als möglichen historischen Einschnitt gedacht? Was wäre, wenn uns China oder einige afrikanische Länder diese Metalle nicht länger lieferten? Spannen wir dann wieder Rettungsschirme und fragen uns, wie wir so naiv in sichtbare Abhängigkeiten geraten konnten?

Damit solche Krisen erst gar nicht entstehen, muss Europa für die Zukunft besser gewappnet sein. Darum ist es richtig, dass die EU-Kommission in Person von Binnenmarktkommissar Thierry Breton jetzt sein neues Vorhaben vorstellte: ein europäisches Gesetz über kritische Rohstoffe. Es soll uns helfen, über ausreichend kritische Rohstoffe wie Nickel, Lithium, Kobalt oder seltene Erden zu verfügen, damit nie ein europäisches Windrad oder eine europäische Solaranlage aus Rohstoffmangel keinen Strom liefert.

Noch kennen wir es nicht anders. Mangel an diesen kritischen Metallen, die wir meist in weiterverarbeiteter Form aus China beziehen, gab es bisher nicht. Das ist allerdings auch der Grund, warum wir in Europa nicht auf eine Rohstoffkrise vorbereitet sind.

Das neue europäische Gesetz markiert deshalb einen echten Neustart. Zum ersten Mal gibt sich Europa eine gemeinsame Strategie für kritische Rohstoffe. Es geht hier um elementarste Vorkehrungen für die eigene Sicherheit und den Klimaschutz.

Gerade für den Ausbau von Sonnen- und Windenergie als vorherrschende Energieträger ebenso wie für die Elektromobilität brauchen wir große Mengen kritischer Rohstoffe. Um sie über Jahre zuverlässig zu beschaffen, gibt uns der Raw Materials Act die nötigen Regeln. Das neue Gesetz schafft ein gemeinsames Verständnis für die Bedeutung kritischer Rohstoffen für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaften. Es führt zu einem gemeinsamen Handeln der europäischen Akteure für sichere und diversifizierte Lieferketten. Es soll uns auf hohe ökologische und soziale Standards bei Bergbau und Weiterverarbeitung verpflichten.

Um damit erfolgreich zu sein, muss das Gesetz echte Partnerschaften zwischen den Ländern des Globalen Südens und der EU ermöglichen. Mit Investitionen in die Infrastruktur und die weiterverarbeitende Industrie vor Ort können wir echte Win-win-Situationen schaffen. Dabei sollte das Gesetz auch im Ausland hohe Umweltstandards und menschenwürdige Arbeitsplätze sicherstellen.

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Wer lernt Heute noch das lügen – wird auch Morgen noch betrügen. Die Luft in der EU wird besser, da der Dreck in China anwächst?

Europa muss seine strategische und industrielle Unabhängigkeit stärken. Es muss in der Lage sein, Wertschöpfungsketten für den Abbau und die Nutzung von Ressourcen innerhalb Europas zu schaffen. Das erfordert eine Reform der nationalen Gesetze, um kluge Bergbau-Regeln für die Einhaltung unserer Umweltambitionen umzusetzen und gleichzeitig bei der Rohstoffsouveränität voranzukommen. Mehr Unabhängigkeit müssen wir auch durch die Wiederverwendung von Rohstoffen gewinnen, die bereits im Umlauf sind. Das Gesetz setzt hier die richtigen Ziele: 10 Prozent der benötigten kritischen Rohstoffe sollen bis 2030 innerhalb der EU gefördert werden, 15 Prozent recycelt und 40 Prozent in der EU veredelt werden. Um diese Ziele zu erreichen, muss unser gesamter europäischer Industrieapparat in die Umgestaltungen einbezogen werden. Nur dann können wir Rohstoffe direkt in Europa nachhaltig nutzen, verarbeiten und wiederverwenden.

In der Vergangenheit verfügte bei der Rohstoffbeschaffung jedes europäische Land über seine eigenen Methoden. In Paris und Rom ließ man alte Verbindungen spielen, in Berlin vertraute man der Kraft der eigenen Großunternehmen. Das alles wird nun nicht mehr reichen.

Vor Ort in Ländern wie Simbabwe und dem Kongo haben chinesische Staatsunternehmen bereits umfangreich investiert und wollen es auch in Zukunft tun. Das ist grundsätzlich zu begrüßen, denn auch China investiert damit in Energiewende und Klimaschutz. Doch wir Europäer müssen hier nicht nur mit China gleichziehen, sondern es besser machen: Nämlich indem wir die weiterverarbeitende Industrie, die sich heute oft in China befindet, vor Ort aufbauen. Nicht umsonst hat Simbabwe gerade den Export von unverarbeiteten Lithium verboten. Das Land wartet auf die Investoren vor Ort.

Quelle         :        TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben     —     Kohlemine in der Inneren Mongolei; 2005

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KOLUMNE * ERNSTHAFT ?

Erstellt von DL-Redaktion am 19. März 2023

Sollen Friedens­forscherInnen Waffenlieferungen fordern?

Wirkt vielleicht ein jeder Schanbel zu klein für Waffen ?

Eine Kolumne von Ulrike Winkelmann

Sie müssen verzeihen, dass ich an dieser Stelle manchmal Dinge wiederverwerte, die ich anderswo eingesammelt habe. Unsereins kommt ja selten raus, da beschäftigt es einen länger, wenn ExpertInnen Einblicke in ihre Arbeit geben – so geschehen in einem taz-Videotalk, den ich jüngst mit der Friedensforscherin Ursula Schröder hatte.

Schröder ist Direktorin des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg, und sie sagt, dass die Ukraine mehr Waffen vom Westen braucht. Sie ist damit in ihrer Berufsgruppe nicht allein: Die vier großen deutschen Friedensforschungsinstitute traten bei der Präsentation ihres Friedensgutachtens im vergangenen Juni geschlossen dafür ein, die Ukraine militärisch zu unterstützen.

Ich fragte, ob dadurch nicht Menschen enttäuscht würden, die denken, dass die Friedensforschungsinstitute zur Erforschung des Friedens und nicht für Waffenforderungen da sind. Schröder antwortete: „Es ist mein Job, Dinge zu verkomplizieren, wenn sie nicht einfach sind.“ Angriffskriege könnten es nötig machen, Frieden mit Waffengewalt herzustellen. „Wir haben nicht die gleiche Situation wie in den 80ern, als sich zwei hochgerüstete Blöcke gegenüberstanden, bei denen dann gefordert wurde, beide abzurüsten“ – was ja bis heute unterschreibbar sei, ergänzte sie.

Doch regt sich innerhalb der Friedensforschung Widerspruch dagegen, dass die Institute den Zeitenwende-Kurs der Bundesregierung so deutlich mittragen. In der Zeitschrift „Wissenschaft und Frieden“ versammelten sich jüngst irritierte Stimmen. Den HerausgeberInnen fiel dazu leider kein anderer Titel als „Quo vadis, Friedensforschung?“ ein, doch die Texte zeigen gut, wie es dem Antimilitarismus gerade geht.

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„Eine kritische Friedensforschung stellt die Kriegslogik und ihre vernunftwidrigen Konsequenzen in Frage“, schreibt Jürgen Scheffran. Das Dossier bietet viel Theorie über Krieg und Frieden anderswo und in der Vergangenheit – hat aber auch für den akuten Fall der Ukraine eine Idee: das Konzept der sozialen Verteidigung, gemeint sind zivile Widerstandsformen, Streik, Verweigerung, Untergrundorganisationen. Olaf L. Müller formuliert rückwirkend: „Wenn sich die Ukraine bereits unmittelbar nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 entschieden auf eine zivile Verteidigung gegen einen weitergehenden Überfall vorbereitet hätte“, wenn sie nicht in die Nato gewollt hätte, „wenn sie ihren Widerwillen gegen Fremdherrschaft aus Moskau durch millionenfache Demonstrationen mit Slogans wie ‚Ihr seid nicht willkommen‘ gezeigt hätte“ und der Westen all das auch finanziell unterstützt hätte, „dann hätte Putin seinen Truppen vielleicht keinen Einmarsch befohlen“.

Hm, vielleicht. Sehr vielleicht.

Quelle         :        TAZ-online        >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben      —    Peace dove, Conversion of Dove peace.png

Unten       —     Ulrike Winkelmann bei einer öffentlichen Diskussion im April 2013

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China zeigt es der Welt?

Erstellt von DL-Redaktion am 17. März 2023

Wie man trotz schärfster Gegensätze wieder ins Gespräch kommt

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Quelle       :        Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Ohne viel Tamtam und Gedöns hat China ein Kunststück an Diplomatie vollbracht, indem es am 10. März 2023 in Peking die beiden seit 40 Jahren zutiefst zerstrittenen Staaten Iran und Saudi-Arabien dazu gebracht hat, wieder diplomatische Beziehungen aufzunehmen.

Prompt fühlen sich die USA in ihren Interessen und hegemonialen Ambitionen bedroht, müssen das Abkommen aber grundsätzlich anerkennen. Selbst wenn man davon ausgehen kann, dass China in der Golfregion wirtschaftliche Interessen hat, muss man doch neidlos feststellen, dass China hier zum ersten Mal ein Beispiel für sein Denken und Handeln in Sachen friedlicher Koexistenz der Völker geliefert hat, an dem sich anderen Länder messen lassen müssen, insbesondere die USA.

Dies zumal bei der extrem religiös beherrschten Politik der beiden Golfstaaten und der geradezu laizistischen Trennung von Staat und Religion in China. Dieser Erfolg in der internationalen Diplamatie zeigt, dass die Global Security Initiative (GSI) von China keineswegs ein Traumschloss ist, sondern sich zwar langsam aber sicher weltweit durchsetzen wird, damit alle Völker bei allen kulturellen und politischen Unterschieden in der Zukunft wieder friedlich miteinander leben können.

Dieses chinesische Kunststück ist auch deshalb so bemerkenswert, weil die USA die Konflikte zwischen diesen beiden Golfstaaten immer wieder geschürt haben. China geht es nicht um gut und böse, sondern um Ausgleich, Sicherheit sowie Stabilität undist sich sehr bewusst, dass da noch ein langer Weg zu gehen ist. Das aber kann China nicht erschüttern, denn dort ist der Weg das Ziel (Konfuzius).

Solche Denke ist den ‚Westmächten‘ aber fremd, und so ziehen unsere ‚Experten‘ oft aus chinesischen Aktivitäten und Aussagen die falschen Schlüsse. So z.B. aus den Aussagen und Beschlüssen des soeben beendeten Volkskongresses. Lauthals und voreilig plärren unsere Politiker und die ‚Leitmedien‘ von der kriegerischen Aufrüstung Chinas und übersehen naiv, dass die ‚Große Mauer‘ im ältesten Kulturstaat der Welt ein Sinnbild für Verteidigung und Sicherheit ist. In diesem Sinne wird verständlich, wenn Xi Jinping das Militär zu einer ‚Großen Mauer‘ aus Stahl entwickeln will, um sein Volk und die Errungenschaften seines Landes vor westlichen Aggressoren zu schützen und „um wirksam die nationale Souveränität, Sicherheit und Entwicklungsinteressen zu sichern“.

Es geht China also keineswegs um Krieg gegen Dritte à la USA. Ganz im Gegenteil beschwört Xi die friedliche Wiedervereinigung mit Taiwan, und der neuen Regierungschef Li Qiang forderte den Ausbau der Zusammenarbeit mit den USA, weil China und die USA zusammenarbeiten können und müssen. Dass sie das können, haben die USA selbst bewiesen, als sie vor 40 Jahren China mit Aufträgen nur so überschüttet haben und von chinesischen Erzeugnissen gar nicht genug haben konnten. Nun ist aber aus dem damaligen Lehrling und Werkbänkler ein Meister geworden, was die USA lange einfältig übersehen haben und jetzt mit ihrem hegemomialen Denken nicht vereinbaren können. Für das erstarkte China gilt klar und langfristig: „Sicherheit ist das Fundament für Entwicklung, und Stabilität ist die Vorbedingung für Wohlstand“. Vor diesem Hintergrund kann man nur hoffen, dass China noch viele diplomatische Kunststücke gelingen.

Urheberrecht
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Oben       —   Großflächige Darstellung des Obersten Führers Xi Jinping bei den Militärweltspielen 2019 in Wuhan

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Es gibt die Wahrheit.

Erstellt von DL-Redaktion am 16. März 2023

Es gibt Stolz. Es gibt Mut. – Kontertext:

Quelle      :        INFOsperber CH.

Von      :     Nika Parkhomowskaia und Inna Rozowa /

Wo bleibt die russische Opposition gegen Krieg und Putin?

Am 10. März 2023 veröffentlichte die berühmte russische Rocksängerin Zemfira, die sich derzeit im französischen Exil befindet und ein modernes, europäisch geprägtes Russland verkörpert, ihren neuen Song «Motherland». Der Hauptgedanke dieses Liedes ist, dass niemand gezwungen werden kann, sein/ihr Heimatland zu lieben. Unmittelbar danach wurde sie von «Patrioten», die eine totale russische Invasion der Ukraine unterstützen, als Verräterin beschimpft, und Parlamentsmitglieder forderten die Beschlagnahmung ihrer Moskauer Wohnung und ihrer zwei Autos.

Nun ist die Forderung, denen, die den Krieg kritisiert und das Land verlassen haben, ihre Immobilien zu entziehen, keineswegs neu, und die schärfsten Propagandisten drohen auch damit, den Exilierten, die sich dem Regime weiterhin widersetzen, die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Der besonders grimmige Ex-Präsident Medwedew versucht sogar, sie mit physischer Gewalt einzuschüchtern.

Doch die russischen Journalisten, Künstler und Politiker, die sich inzwischen in der ganzen Welt niedergelassen haben, vertreten weiterhin ihre Positionen. Viele von ihnen wurden als «ausländische Agenten» bezeichnet, was bedeutet, dass sie automatisch in ihren sozialen und menschlichen Rechten eingeschränkt werden. Jegliche Zusammenarbeit mit russischen Institutionen oder etwa die Unterrichtung russischer Kinder via Zoom ist ihnen verunmöglicht. Viele von ihnen werden auch immer wieder in absentia mit Geldstrafen belegt oder wegen Diskreditierung der russischen Armee verurteilt. Das heisst: sie werden verurteilt, weil sie die Wahrheit sagen und nicht der offiziellen Linie des Kremls folgen.

Nicht erst seit gestern

Diejenigen, die in Russland bleiben, befinden sich jedoch in einer viel gefährlicheren Lage. Jede Äusserung gegen den Krieg kann zur Verhaftung und zu Prozessen führen. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass die Verfolgung wegen der Teilnahme an Versammlungen und Mahnwachen nicht erst heute begonnen hat, sondern bereits seit mehr als zehn Jahren stattfindet. Es gab in den letzten Jahren nicht nur die riesigen Protestkundgebungen gegen die gefälschten Parlamentswahlen im Jahre 2011, sondern auch Hunderte von anderen Demonstrationen, von denen am ehesten noch die Proteste gegen die neue Amtszeit von Präsident Putin anno 2012 in Erinnerung geblieben sind.

Diese Demonstrationen führten zu Verhaftungen und langjährigen Haftstrafen. Die Situation wird dadurch verschärft, dass die Justiz in Russland bekanntlich abhängig und ungerecht ist: Man kann leicht für etwas verurteilt werden, das man gar nicht begangen hat, und kein Anwalt kann einen in diesem Fall schützen. Die meisten Menschen in Russland haben wirklich Angst davor, verhaftet zu werden, denn die Polizei verhält sich sehr aggressiv, und jeder weiss, dass in russischen Gefängnissen Folterungen vorkommen, die zwar offiziell verboten, aber in der Realität weit verbreitet sind. Verhaftet zu werden ist gefährlich für Leib und – manchmal – Leben. Es bedeutet zumeist, unter sehr schlechten Bedingungen existieren zu müssen.

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Es gibt andere Gründe Menschen umzubringen !

In letzter Zeit haben die russischen Behörden begonnen, Kinder von ihren Eltern zu trennen: So haben die Medien viel über den Fall Alexey Moskalev berichtet. Der Arbeitslose aus einer Kleinstadt unweit von Moskau schrieb in den sozialen Medien gegen den Krieg, und seine 13-jährige Tochter malte ein Bild mit der Aufschrift «Kein Krieg». Die Lehrerin zeigte sie an, und nun befindet sich das Mädchen in einem Waisenhaus, während ihr Vater in Haft ist.

Geld und Propaganda

Der Staat bestraft seine Bürger nicht nur, er provoziert sie auch. Und er erkauft sich Loyalität, indem er denjenigen, die am Krieg teilnehmen, hohe Gehälter zahlt – viele Menschen in Russland hatten nie die Möglichkeit, mit ehrlicher Arbeit so viel Geld zu verdienen wie nun mit Krieg. Die traurige Wahrheit ist, dass das Land in Arm und Reich gespalten ist, und einige Menschen ziehen aus Armut in den Krieg und nicht weil sie kriegsbegeistert sind oder etwas gegen die Ukraine haben. Um ihre Moral zu heben, setzen die Behörden massive Propaganda ein, auch in den nationalen Fernsehkanälen. Die Vorstellung, dass Russland ein altes, spirituelles Land sei, das die «wahren» Werte bewahre und gefährliche Feinde bekämpfen müsse, wird den Menschen erfolgreich eingepflanzt. Diese verrückten Ideen sind beliebt, denn leider ist Russland in seinem Kern immer noch sehr patriarchalisch. Während fast alle unabhängigen Medien geschlossen sind und Youtube als alternative Informationsquelle ständig Gefahr läuft, komplett verboten zu werden, sind die Menschen – vor allem diejenigen, die nicht in der Lage sind, selbst zu denken – bereit, jeden Unsinn zu glauben.

Die Macht des Faktischen

Alle Soziologen erklären jedoch, dass von denjenigen, die im Lande bleiben, mindestens 20 Prozent den Krieg nicht unterstützen. Wenn man bedenkt, wie gross Russland ist, bedeutet das, dass nicht weniger als 20 Millionen Menschen gegen den Krieg sind. Sie protestieren nicht unbedingt offen – sowohl aus Angst als auch aus dem Gefühl heraus, dass es absolut nutzlos ist –, schliesslich war in den Jahren der Putin-Regierung keine der Demonstrationen erfolgreich.

Wer politische Situationen, wie sie heute in Russland herrschen, aus Erfahrung kennt, kann das verstehen. Der litauische Ex-Premierminister Andrius Kubilius beispielsweise, der fest an die demokratische Zukunft Russlands glaubt, sagt, dass selbst das freiheitsliebende Litauen sich nicht gegen das Sowjetregime stellen konnte, weil das System zu stark war. Dennoch finden die Menschen Mittel und Wege, um ihre Haltung zu aktuellen Ereignissen zum Ausdruck zu bringen. So begannen die Russen nach dem Bombenanschlag auf ein Gebäude voller Menschen im ukrainischen Dnipro, Blumen niederzulegen – zunächst an den Denkmälern, die mit der Ukraine in Verbindung stehen, und dann an Gedenkstätten, die mit politischen Repressionen im ganzen Land in Verbindung gebracht werden. Die Behörden versuchten, diese unschuldigen Aktionen zu verbieten und leiteten einige Verwaltungsverfahren ein, aber es entstanden immer wieder spontane Gedenkstätten. Mit Grund singt Zemfira in ihrem neuen Lied: «Es gibt die Wahrheit. Es gibt Stolz. Es gibt Mut.»

Aus dem Englischen übersetzt von Felix Schneider 

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Grafikquellen        :

Oben      —     ‚Chain of Protest‘ in Moscow by Fair Elections Movement / White Ribbons

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Hungary-Serbia border barrier

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DIE ERDE BEBT

Erstellt von DL-Redaktion am 15. März 2023

– UND WAS MACHT ERDOĞAN?

von Ariane Bonzon

Während sich der türkische Präsident mit der Nothilfe sichtlich schwertat, war die Opposition sofort zur Stelle. Sie organisierte schnelle Unterstützung, wo staatliche Stellen versagten, und kritisierte sehr vernehmlich die Baupolitik. Trotzdem könnte der Langzeitherrscher auch diese Katastrophe überstehen.

Am 6. Februar 2022 erschütterten zwei gewaltige Erdbeben die Türkei und Syrien. In zehn türkischen Provinzen und in den vor allem von Kurden besiedelten Regionen in Nordsyrien gab es mehr als 50 000 Tote (Stand 6. März), von denen viele nicht mehr identifiziert werden konnten. Fast 2 Mil­lio­nen Menschen verloren ihr Zuhause, viele blieben mehrere Tage ohne Hilfe. Ganze Stadtviertel sind zerstört, die Bewohner auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Infrastruktur ist in weiten Gebieten schwer beschädigt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan spricht von der „Katastrophe des Jahrhunderts“.

Nach dieser Katastrophe stellt sich allerdings auch die Frage nach der politischen Verantwortung Erdoğans und nach dem diplomatischen Einfluss, den sein Land künftig genießen wird. Wenige Monate vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai haben diese Fragen besonderes Gewicht.

Erdoğan hat allen Grund, eine Niederlage zu fürchten. Denn dann müsste er sich, nach 20 Jahren an der Macht, mitsamt seiner Entourage für zahllose in den letzten zehn Jahren begangene Verletzungen des Rechtsstaats verantworten und mit Anklagen wegen Betrug und Korruption rechnen. „Er­do­ğan weiß, dass er wegen Verrat und Unterschlagung vor dem obersten Gerichtshof landen wird, wenn er verliert“, erklärt Bayram Balci, Politikwissenschaftler am Centre de recherches internationales (Ceri).

Auch wenn der Präsident vor dem 6. Februar in Umfragen hinter den potentiellen Kandidaten der Republikanischen Volkspartei (CHP, Mitte-­links, laizistisch) zurücklag, stand es für ihn gar nicht so schlecht – obwohl klar war, dass Erdoğans großspurige Ankündigungen – 2023 sollte die Türkei zu den zehn stärksten Wirtschaftsmächten der Welt aufsteigen, mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 25 000 US-Dollar pro Einwohner – nicht eintreffen werden.

Alles offen vor den Wahlen

Anfang Oktober 2022 erreichte die Inflation mit über 83 Prozent ihren Höchststand, bei Lebensmitteln stiegen die Preise sogar um 93 Prozent. Im letzten Jahrzehnt ist das BIP um 1903 US-Dollar auf 9327 US-Dollar gesunken, und auf der Weltrangliste der 50 größten Volkswirtschaften stand das Land 2021 auf Platz 19.

Aber der Präsident hatte noch ein paar Trümpfe im Ärmel. Im September 2022 versprach er, 500 000 Sozialwohnungen zu bauen; vier Monate später kündigte er die Erhöhung des Mindestlohns um 50 Prozent an. Damit legte er in den Umfragen ein paar Prozentpunkte zu. Eine weitere populäre Maßnahme war die Abschaffung des Mindestalters für den Renteneintritt. Bisher wurde fast 2 Millionen türkischen Beschäftigten eine Rente auch dann verwehrt, wenn sie die nötigen Beitragsjahre vorweisen konnten.

Erdoğans offensive Außenpolitik im Kaukasus und in Afrika oder die Bombardierung der autonomen Kurdengebiete in Nordsyrien wird auch nur im Westen kritisch gesehen. In der Türkei stößt diese Politik eher auf Zustimmung; auch die Oppositionsparteien sind mit Ausnahme der Demokratischen Partei der Völker (HDP, links, für kurdische Autonomie) dafür.

Konsens besteht auch hinsichtlich der Entscheidung, die Millionen syrischen Flüchtlinge abzuschieben, die einst als „Gäste“ kamen und nun unerwünscht sind.1 Und dass die Türkei erkennbar davon profitiert, dass sie die Sanktionen gegen Russland nicht mitmacht, stellt viele Wählerinnen und Wähler ebenfalls zufrieden. Vor dem 6. Februar war der Wahlausgang zwar keineswegs sicher, aber Erdoğan hatte durchaus eine Chance – zumal im Hohen Wahlausschuss (YSK) vor allem regimefreundliche Richter sitzen und das Fernsehen „fast ausnahmslos unter Kontrolle der Regierung steht“2 .

Und nun? Das zerstörerische Erdbeben hat auch die türkische Gesellschaft erschüttert. 14 Millionen Menschen sind unmittelbar betroffen. Tagelang saß das ganze Land vor dem Fernseher, in dem rund um die Uhr und live über die Such- und Rettungsarbeiten berichtet und zu Spenden und Hilfen aufgerufen wurde. Zwei Tage nach der

Katastrophe sprach der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu in einer nüchternen und sehr ernsten Videoansprache den Opfern seine Anteilnahme aus, prangerte zugleich aber die Inkompetenz der Behörden an und auch die Desinformationskampagnen der Regierung. Am Ende erklärte Kılıçdaroğlu, es gebe einen großen Verantwortlichen für die Katastrophe, und das sei Er­do­ğan: „Zwanzig Jahre lang hat seine Regierung das Land nicht auf ein Erdbeben vorbereitet.“

Dieser Frontalangriff bedeutete eine radikale Wende. Damit brach der CHP-Vorsitzende die ungeschriebene Regel, an die sich seine Partei in der Vergangenheit im Namen der nationalen Einheit bei jedem Attentat und jeder militärischen Auslands­ope­ra­tion gehalten hatte, aber auch bei dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 oder bei der Verfolgung und Verhaftung kurdischer HDP-Abgeordneter in den vergangenen Jahren.

Die Opposition hat sehr rasch auf die Katastrophe reagiert, stellt der Sozialgeograf und Turkologe Jean-François Pérouse fest, der seit 1999 in Istanbul lebt. Sie eröffnete umgehend die Diskussion über den Umgang mit der Krise und das hyperzentralisierte Machtsystem, über die Günstlingswirtschaft und das Schneckentempo der Armee beim Einsatz in den Katastrophengebieten. Der Istanbuler CHP-Bürgermeister Ekrem İmamoğlu fuhr sofort ins Katastrophengebiet. In der schwer betroffenen Region Hatay habe die CHP mit beispielhafter Effizienz geholfen, berichtet Pérouse, und „quasi anstelle des Staats die Infrastruktur wiederhergestellt“.

Auch Selahattin Demirtaş, der frühere Co-Vorsitzende der prokurdischen HDP3 , der sich seit November 2016 in Edirne in Untersuchungshaft befindet, hat aus dem Gefängnis heraus den Staatspräsidenten für die nationale Katastrophe verantwortlich gemacht. Und darüber hinaus eine Wahlempfehlung für den CHP-Kandidaten Kılıçdaroğlu ausgesprochen. Sollte die kurdische Basis der HDP auf ihren Vorsitzenden hören, könnte das Erdoğans Wahlniederlage besiegeln.

Für den Präsidenten geht es jetzt vor allem darum, von seiner politischen Verantwortung abzulenken und sich als „Retter“ und „Organisationsgenie“ zu inszenieren. Nur wenn ihm das gelingt, kann er noch auf einen Wahlsieg hoffen. Das ist auch das Leitthema von Erdoğans PR-Feldzug, für den er alle staatlichen Ressourcen mobilisiert.

Bei seinem ersten Besuch im Erdbebengebiet sprach er zuerst von der Hand des Schicksals, gegen das der Mensch machtlos sei, und gab lediglich „Lücken“ zu, da man „unmöglich auf so eine Katastrophe vorbereitet sein“ könne. Erst nach drei Wochen, am 27. Februar, hat sich Erdoğan in Adiyaman wegen der verspäteten Rettungseinsätze entschuldigt: „Wegen der verheerenden Auswirkungen der Beben und des schlechten Wetters konnten wir in Adiyaman in den ersten Tagen nicht so arbeiten, wie wir wollten. Dafür bitte ich um Entschuldigung.“

Quelle     :     LE MONDE diplomatie-online

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Grafikquellen          :

Oben     —        Aid collected in Eyüpsultan, Istanbul for the 2023 Gaziantep-Kahramanmaraş earthquakes

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Aufbegehren im Iran

Erstellt von DL-Redaktion am 9. März 2023

 Die Ruhe vor dem Sturm im Iran

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Fukushima-Atom-Unfall

Erstellt von DL-Redaktion am 8. März 2023

12 Jahre danach – Was haben wir daraus gelernt?

Dort, wo die Nieten schwitzen – werdem keine Einfälle blitzen. Weiter so… 

Quelle         :     Mitwelt Stiftung Oberrhein

Von      :      Axel Mayer

Vor 12 Jahren, am 11. März 2011, begann mit dem Tōhoku-Erdbeben die Atomkatastrophe von Fukushima. In vier der sechs Reaktorblöcke gab es extrem schwere Unfallabläufe, teilweise mit Kernschmelzen und ein massives Entweichen von Radioaktivität. Es war einer dieser typischen schweren Atomunfälle, ein Katastrophenablauf, mit dem die Betreiber im Vorfeld nicht gerechnet hatten.

Glück im Unglück war ein gnädiger Wind, der in den Anfangstagen die extreme Radioaktivität aufs Meer hinaustrug und nicht in die nahe Metropolregion Tokio mit ihren 37 Millionen Menschen.

Wenige Monate nach den Kernschmelzen in den Atomanlagen von Fukushima Daiichi trafen der Betreiber Tepco und die japanische Regierung die Vereinbarung, den geschmolzenen Kernbrennstoff binnen eines Jahrzehnts aus den zerstörten Meilern zu bergen, doch wie so viele Versprechungen des japanischen „atomaren Dorfes“ ist dies nicht geschehen. Erfolgreich war allerdings die verharmlosende Nach-Unfall-PR, die heute Krisenkommunikation genannt wird.

12 Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima sind die Entschädigungen für die tatsächlichen Opfer der Katastrophe minimal. Doch ein Gericht in Tokio ordnete die Zahlung von 13 Billionen Yen (94,6 Milliarden Euro) Schadensersatz für die Aktionäre des Atomkonzerns an. (Eine Milliarde sind tausend Millionen). Es gibt wenige Urteile, die besser die „Westlichen Werte“ aufzeigen, für die Japan und der Westen leider immer mehr stehen.

Die Atomunfälle von Fukushima und Tschernobyl kamen viele Millionen Jahre zu früh. In einer alten, bundesweit verteilten Broschüre der deutschen Atomkonzerne stand sinngemäß: „Wenn die Vormenschenaffen im Alt-Tertiär vor 50 Millionen Jahren 20 Kernkraftwerke gebaut und seither betrieben hätten, dann hätte man einen solchen Unfall mit Kernschmelze und Freisetzung von Radioaktivität vielleicht einmal registrieren können“. Die alten, falschen Versprechungen von der hundert Prozent sicheren Atomkraft aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts werden auch 2023 wieder gemacht und Ängste vor einem Blackout durch den Atomausstieg gezielt geschürt …

Die internationale Atomlobby war nach Fukushima und Tschernobyl für kurze Zeit ein wenig in Deckung gegangen. Aufgegeben hat sie ihr profitables Geschäft nicht. Das globale atomare Dorf, die alten mächtigen Seilschaften funktionieren immer noch. Die atomar-fossile Lobby lässt die zukunftsfähigen Energien und die Energiewende bekämpfen, denn Strom aus Wind und Sonne ist schon lange kostengünstiger als Strom aus neuen Kohle- und Atomkraftwerken.

In Deutschland kämpfen einflussreiche Lobbygruppen und Parteien immer noch mit Angstkampagnen gegen die Abschaltung der letzten AKW und auch neue, wieder einmal 100 % sichere Atomkraftwerke werden geschickt ins Gespräch gebracht.

Nur die Vor-Fukushima Durchsetzungsstrategien wurden geändert. Mit den makaber-erfolgreichen Strategien, mit denen die Gefahren des Klimawandels und von Asbest heruntergespielt wurden, werden jetzt die Folgen des Reaktorunfalls verharmlost. Es sind nicht so sehr die Betreiber-Konzerne der alten AKW noch die neuen Atom-Start-Ups mit ihren gefährlich-unreifen Reaktor-Konzepten, die Laufzeitverlängerung und neue AKW fordern, sondern scheinbar unabhängige Bürgerinitiativen und Tarnorganisationen wie die Nuclear Pride Coalition. Die alte Gefahrtechnologie Atomkraft soll nach dem Willen der Strategen im Hintergrund mit dem Klimaschutz-Argument grüngewaschen werden. So wie die Verantwortlichen des bisher letzten Weltkrieges auf Wunderwaffen setzten, so setzen die Verantwortlichen im aktuellen, erneut verloren gehenden Krieg gegen Klima und Natur auch auf die Wunderwaffe Atomkraft.

Wenn jetzt nach Fukushima „sonnenarme“ Länder wie Saudi-Arabien, Jordanien, Türkei, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate teure AKW bauen wollen, dann geht es nicht in erster Linie um Energie oder Klimaschutz, denn Strom aus Wind und Sonne ist schon lange günstiger als Strom aus neuen Atomkraftwerken. Es geht um Proliferation, um zukünftige „Atomkraftwaffen“ und Macht. Jedes neue Land, das über Atomkraftwaffen verfügt, erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges und des damit verbundenen atomaren Winters. So könnte die Atomkraft tatsächlich einen makabren Beitrag gegen den Klimawandel und zur globalen „Abkühlung“ leisten. Der Neubau von AKW und der weltweite AKW-Export (nicht nur in Spannungsgebiete) sind ein globales Selbstmordprogramm.

Was haben wir aus der Reaktorkatastrophe von Fukushima gelernt? Mit den Unfällen von Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima wurden wieder einmal die realen Gefahren dieser nicht menschengerechten Technologie aufgezeigt und der Ausstieg aus der gefährlichen und teuren Atomkraft eingeleitet. Und andererseits sind die alten atomaren Seilschaften mit geschickten neuen Durchsetzungsstrategien und atomarem Greenwash immer noch aktiv, um AKW-Gefahrzeitverlängerung und neue Atomanlagen durchzusetzen.

Der Kampf gegen Apokalypse-Blindheit, Klimakatastrophe, Artenausrottung, gegen die Wachstumsreligion und gegen globale Zerstörungsprozesse, der große Streit für eine umweltfreundliche Technik und eine menschengerechte Zukunft steht auch 12 Jahre nach Fukushima noch ganz am Anfang.

Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein, (Alt-) BUND-Geschäftsführer, Bauplatzbesetzer 1975 in Wyhl

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Grafikquellen      :

Oben      —       Meeting with Fukushima Decontamination Team and staff from the JAEA Fukushima office. Hotel Sunroute Plaza, Fukushima. 9 October 2011. Copyright: <a href=“http://www.iaea.org/NewsCenter/Multimedia/Imagebank/index.jsp“ rel=“nofollow“>IAEA Imagebank</a> Photo Credit: Giovanni Verlini / IAEA

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Unten      —     Chainreaction carries on? 1986 Chernobyl – 2011 Fukushima – ???? Tihange Protest banner about the neclear katastrophe in Fukushima (Japan). Used at the protest march at 11th march 2017 in Essen, Germany

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KOLUMNE – GRAUZONE

Erstellt von DL-Redaktion am 5. März 2023

Falsche Friedenstauben für den Müll

Eine politische Grauzone  der Vergangenheit ?

Von Erica Zingher

Zum Jahrestag des Angriffskriegs auf die Ukraine verbreitete Russland Desinformation. Die angebliche geplante Provokation in Transnistrien fiel aus.

Die Angst ging rum zum Jahrestag des russischen Angriffskriegs in der Ukraine: Droht eine nächste Front, drüben in Transnistrien, in Moldau? Jedenfalls hatte dies das russische Verteidigungsministerium behauptet. Kyjiw plane eine bewaffnete Provokation in Transnistrien, eine False Flag Operation, die man als russischen Angriff inszenieren wolle. Ukraines Präsident Selens­ki gab direkt Entwarnung. Die Ukraine greife keine souveränen Staaten an, sagte er. „Wir respektieren die Unabhängigkeit anderer Staaten. Transnistrien ist Moldau.“ Die moldauischen Behörden riefen dazu auf, ruhig zu bleiben. Und der transnistrische „Präsident“ Wadim Krasnoselski verkündete, man wisse von keinem geplanten Angriff – sobald sich das ändere, werde Krasnoselski höchstpersönlich die Menschen im Land informieren. Nicht mal der belarussische Machthaber Lukaschenko glaubte den Mist: Dass „die Ukrainer durchdrehen“ und eine weitere Front eröffnen, halte er für unwahrscheinlich. Schließlich sei das zu ihrem Nachteil.

Ich saß mit Corona in meiner Wohnung und beobachtete fiebrig, wie deutsche Medien auf diese Nachricht angesprungen waren. Klickt sich halt gut. Was auffiel: wenige fundierte Einordnungen oder Wissen über die tatsächlichen Verhältnisse in Transnistrien, geschweige denn die Lage in Moldau.

Russlands Strategie war also aufgegangen. Während Transnistrien die Aufmerksamkeit hat, ist in der Hauptstadt Chișinău die Destabilisierung des Landes, ein Baustein russischer hybrider Kriegsführung, in vollem Gange. In Moldau ist diese Form der Einflussnahme ein alter Bekannter. Dabei nutzt Russland die sowieso vorhandenen innenpolitischen Kämpfe und Probleme Moldaus aus, da muss es gar nicht viel mehr tun als sich zurücklehnen und zusehen.

Die Interessen pro-russischer politischer Kräfte in Moldau überschneiden sich praktischerweise mit denen Russlands. Erstere, allen voran die Șor-Partei, deren Anführer Ilan Șor zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde, weil er beim größten Korruptionsskandal des Landes 2014 rund eine Milliarde US-Dollar aus den drei größten moldauischen Banken verschwinden ließ, ein Oligarch auf der Flucht, der sich in Israel versteckt, will die Macht zurückerlangen – oder einfach nur dem Gefängnis entgehen. Die Șor-Partei versucht mit aller Kraft, die Bemühungen der pro-westlichen Regierung gegen Korruption im Land zu torpedieren. Tja, und Russland will genau diese Regierung geschwächt sehen. Da haben sich also zwei gefunden.

Es gibt Faktoren, die sind viel gefährlicher als 1.500 verarmte und unmotivierte russisch-transnistrische Soldaten. Moldau hat mit zahlreichen Krisen gleichzeitig zu kämpfen: energiepolitisch (weil lange Zeit abhängig von russischem Gas), wirtschaftlich (hohe Inflation), gesellschaftlich (Proteste).

Seit Monaten ruft die Șor-Partei zu Protesten auf, lässt Demonstranten bezahlen, aus dem ganzen Land in Bussen ankarren und nutzt die Armut dieser Menschen für ihre politischen Zwecke aus. Erst diese Woche fanden die größten Proteste seit Langem statt. Die Demonstranten riefen „Nein zum Krieg“ und „Nieder mit Maia Sandu“. Sie trugen Friedenstauben aus Papier, die später im Müll landeten.

Quelle       :          TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —    Leichen werden vom Sonder­kommando verbrannt, fotografiert von Alberto Errera, August 1944

Häftlinge des Sonderkommandos in Auschwitz beim Verbrennen von Leichen. Heimlich aufgenommenes Foto des Widerstandes – wahrscheinlich von „Alex“, einem jüdisch-griechischen Häftling des Sonderkommandos.

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Unten        —         Peace dove, Conversion of Dove peace.png

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Vermitteln, nicht einmischen

Erstellt von DL-Redaktion am 3. März 2023

Die Ukraine ist wichtiges Transitland der Seidenstraße

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Ein Debattenbeitrag von Nora Sausmikat

Chinas lange erwartete „Friedensstrategie“ für den Ukrainekrieg ist zugleich eine Umformung der UN-Charta nach chinesischem Verständnis.

Am 24. Februar, dem Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine, veröffentlichte das Außenministerium der VR China ein Zwölf-Punkte-Papier zu Chinas Position in diesem Aggressionskrieg. Noch kurz nach Beginn der Invasion gab es international die Hoffnung, China könnte seinen Einfluss auf Russland entscheidend für Vermittlungen und Frieden nutzen.

Denn China gilt als Russlands wichtigster Verbündeter. Der Aggressionskrieg gegen die Ukrai­ne ist auch Zeichen eines offenen Kampfes der politischen Systeme. Schon kurz nach dem russischen Überfall bat der ukrainische Botschafter in Japan China um ein Einlenken.

Seit 12 Monaten also wartet die Welt auf Chinas Friedensinitiative – nun erscheint dieses Zwölf-Punkte-Papier.

Was es nicht ist? Es ist keine klare Position des offiziellen Chinas zu dem Aggressionskrieg. Es ist weder eine eindeutige prorussische Stellungnahme noch ein klares „Machtwort“ in Richtung Russland, den Angriffskrieg zu stoppen.

Was es ist? Es ist ein diplomatisches Symbol für die Weltbühne, welches die Zutaten internationaler Diplomatie im chinesischen Sinne auslegt und für die Kriegssituation mit neuer Bedeutung füllt.

China verteidigt seit Langem das Konzept der staatlichen Souveränität, sprich das Recht souveräner Staaten, frei von ausländischer Einmischung zu sein. Dies sei der „Garant für Frieden, Sicherheit und Wohlstand“. Dieses Verständnis „staatlicher Souveränität“ geht jedoch weit über die in der UN-Charta enthaltenen entsprechenden Verbote der unerlaubten Gewaltanwendung und Bewaffnung oder Finanzierung von Rebellenbewegungen hinaus. Für China ist dieser Grundsatz des Völkerrechts gleichbedeutend mit „Nichteinmischung“. Denn China bezeichnet bereits bloße Kommentare zu seiner Innenpolitik – ganz zu schweigen von Kritik an seiner Menschenrechtsbilanz – routinemäßig als eine unzulässige Form der „Einmischung“ in seine staatliche Souveränität. Diese Haltung versucht China auf der Weltbühne der Diplomatie zu etablieren. Das ist höchst gefährlich, speziell wenn es um Verbrechen ­gegen die Menschlichkeit und andere völkerrechtliche Vergehen geht – wie derzeit von Russland in der Ukraine begangen. Eine geschlossene internationale Reaktion auf von Russland begangene Gräueltaten in der Ukraine, die laut Völkerrecht eindeutig gegeben sind, wird so auch seit einem Jahr durch prorussische chinesische Haltung verhindert.

Das Zwölf-Punkte Papier ist eine aus chinesischer Sicht logische Konsequenz der seit 10 Jahren massiv vorgenommenen Umformung universeller Spielregeln auf nationale Befindlichkeiten. Beispiel Menschenrechte: Die Betonung der staatlichen Souveränität, der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und des Rechts auf wirtschaftliche Entwicklung als ein über allen anderen Rechten stehendes Menschenrecht droht das gesamte internationale Menschenrechts­system sowie Normen zu Transparenz und Rechenschaftspflicht zu schwächen. Die Idee von universellen Menschenrechten, die über die nationale Souveränität hinausgehen und die internationale ­Gemeinschaft als Ganzes betreffen, lehnt China ab.

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Im Zwölf-Punkte Papier betont China die Bedeutung der territorialen Souveränität aller Länder. Ein kleiner Unterschied zur staatlichen Souveränität mit großen Folgen. Dies kann heißen, dass dies eine Anerkennung russisch annektierter Gebiete als russisch nach sich zieht. Letztlich können hier auch Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Änderung des Status Taiwans nach sich ziehen. Es kann aber auch heißen – dies ist eher unwahrscheinlich –, dass China den Einmarsch in ein souveränes Land wie die Ukraine am Ende doch noch verurteilt.

Was das Zwölf-Punkte Papier auch ist: ein Angebot Chinas als Vermittler, ein Aufruf zu Dialog und Kompromissen – unter den Prämissen eines umgedeuteten Völkerrechts. China spricht sich für einen Waffenstillstand und die Wiederaufnahme von Friedensgesprächen aus.

Die zwölf Punkte spiegeln darüber hinaus pragmatische Interessen Chinas wider: Lieferketten sollen wieder sicher funktionieren, der eurasische Kontinent muss dafür stabil gehalten werden, und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen soll die Sanktionen gegen Russland stoppen. Dialog und Verhandlungen seien die einzige Lösung, nicht Sanktionen. Es darf nicht vergessen werden: Die Ukraine ist wichtiges Transitland der Seidenstraße und wichtiger Militär- und Getreidelieferant Chinas. Konkret benennt Punkt 9 des Zwölf-Punkte Plans die Getreide-Schwarzmeer-Initiative, die es gelte fortzusetzen.

Quelle    :          TAZ-online           >>>>>       weiterlesen

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Oben       —   Übersicht der wichtigsten Projekte, die im Rahmen der Belt and Road-Initiative vorangetrieben werden und wurden. Quelle: Infrastrukturatlas 2020, Urheber: Appenzeller/Hecher/Sack, Lizenz: CC BY 4.0[102]

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KOLUMNE * Red Flag

Erstellt von DL-Redaktion am 28. Februar 2023

Erdbeben in Türkei und Syrien: – Alleingelassen

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Kolumne von Fatma Aydemir

Die türkische Regierung beschlagnahmt Hilfsgüter, die deutsche Regierung macht Visa kaum erreichbar. Wie können wir den Menschen jetzt helfen?

Fast drei Wochen ist nun das erste von einer Reihe verheerender Erdbeben in der Türkei und Syrien her, noch immer gibt es Menschen, die auf der Straße ausharren müssen. Betroffene aus der Südosttürkei bitten auf Social Media verzweifelt um Zelte, weil die Nächte so kalt sind draußen. Auch ihre Toten scheinen bislang nicht alle geborgen zu sein. Die türkische Regierung aber weist alle Vorwürfe zurück. „Schufte“ nannte Erdoğan kürzlich im Fernsehen jene Betroffenen, die behaupteten, der staatliche Katastrophenschutz helfe ihnen nicht.

Derweil häufen sich Berichte über beschlagnahmte Hilfsgüter. Die Regierung in Ankara wolle die Verteilung zentral organisieren, heißt es, in der Praxis aber verzögert das die Ankunft von Lebensmitteln, warmer Kleidung und Unterkünften in den betroffenen Gebieten. Das Gegenteil von gut ist auch nicht gut gemeint, sondern gleichgültig. Recherchen legen nahe, dass kurdische und alevitische Dörfer systematisch benachteiligt werden bei der Verteilung. Die Zivilbevölkerung ist somit in weiten Teilen des Gebiets auf sich allein gestellt und versucht, an den Verwaltungen und Beschlagnahmungen vorbei zu helfen. So gut wie es eben mitten in einer schweren Wirtschaftskrise geht.

Um mich herum beobachte ich immer mehr Menschen in der Diaspora, die mit relativ kleinen, aber originellen Initiativen versuchen, Geld zu sammeln, weil auch hier die bloße Spendenbereitschaft mit der steigenden Inflation sinkt. Mal wird für einzelne Orte gesammelt, zu denen ein direkter Kontakt besteht, mal für Vereine, die versuchen an die schwerer zugänglichen Orte beispielsweise in Nordsyrien zu gelangen.

KüFas (Küchen für alle) werden aus dem Boden gestampft, Konzerte organisiert, Märkte veranstaltet, Fundraiser-Partys geschmissen, T-Shirts gedruckt, Schreib-Coachings gegen Spenden angeboten. Aus der Ferne mag sich ein drei- bis vierstelliger Betrag, der mit so einer Initiative bestenfalls zustande kommt, nichtig anfühlen angesichts der großflächigen Verwüstung. Bedenkt man aber, dass der monatliche Mindestlohn in der Türkei bei 425 Euro liegt, kann wirklich jeder Euro eine warme Mahlzeit für jemanden bedeuten.

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Immer noch strenge Auflagen

Was kann man aber derzeit mehr tun, als Geld rüberzuschicken? Die Bundesregierung machte den syrischen, türkischen und kurdischen Communitys Hoffnungen, als nach dem ersten Erdbeben Visa-Erleichterungen angekündigt wurden. Viele Betroffene haben Verwandtschaft in Deutschland, bei der sie unterkommen könnten, bis es wieder bewohnbare Häuser und eine lebenswerte Infrastruktur gibt. Ernüchterung folgte, als die „Erleichterungen“ konkreter wurden, die alles sind, bloß nicht leicht: Für syrische Staatsbürger_innen ist es praktisch immer noch unmöglich, Visa zu beantragen, wenn sie nicht in der Türkei leben.

Für alle anderen hat das Visa-Verfahren derweil immer noch strenge Auflagen für Bürgschaften (500 Euro pro Gast pro Monat müssen vom Einladenden über die eigenen Fixkosten hinaus garantiert werden). Es bleibt auch die bürokratische Auflage, eine hier im Amt erstellte Verpflichtungserklärung im Original per Post in die Türkei zu senden, damit dort überhaupt ein Antrag gestellt werden kann.

Quelle         :       TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Eine wehende rote Fahne

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Unten      —       Rescatistas buscando sobrevivientes en el sitio de un edificio derrumbado en Hama, Siria, el 6 de febrero de 2023.

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Eine Kriegs-Erklärung

Erstellt von DL-Redaktion am 27. Februar 2023

Abweichende Bemerkungen zur Weltlage

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So –  wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von      : Renate Dillmann

Seit dem 24.2.2022 führt Russland Krieg in der Ukraine. Seitdem sind viele Menschen ums Leben gekommen – Menschen mit russischer oder mit ukrainischer Staatsangehörigkeit, Zivilisten und vor allem Soldaten. Warum gibt es diesen Krieg? Wofür sind diese Menschen gestorben?

Vermutlich wird am Jahrestag des Kriegsbeginns in den Mainstream-Medien erneut mit ausgestrecktem Zeigefinger auf „Putin“ als den alleinigen Verantwortlichen gedeutet. Einen Schuldigen zu benennen ist allerdings alles andere als eine Erklärung zu liefern.Das soll im Folgenden versucht werden. Dazu sind einige grundsätzliche Überlegungen zur modernen Staatenkonkurrenz nötig – ebenso wie eine Betrachtung des konkreten Falls.

Kapitalismus, Staatenkonkurrenz und Krieg

Moderne Staaten leben nicht davon, fremde Territorien zu erobern, sondern davon, ein möglichst grosses Wirtschaftswachstum zustande zu bringen. Ihre Aussen- und Geopolitik bezieht sich deshalb im Prinzip gleich auf die gesamte Welt. Insbesondere für die erfolgreichen und wichtigen Staaten gilt: Kein Stückchen Erde ist für sie uninteressant, keine Insel, keine Schifffahrtspassage, kein Punkt im erdnahen Weltraum wird ausser Acht gelassen – einen Standpunkt des „Geht uns nichts an“ gibt es in ihrer Aussenpolitik einfach nicht.

Seit 1990 kann man von einer weltweit gültigen Geschäftsordnung sprechen: Im Prinzip herrscht freier Austausch von Waren und Kapital auf dem gesamten Globus und in ihrer Souveränität anerkannte Nationalstaaten konkurrieren untereinander um den Nutzen aus diesem globalen Geschäft. Im Völkerrecht haben sie sich dazu verpflichtet, ihre „internationalen Streitigkeiten“ (von deren Fortexistenz also ausgegangen wird) nach Möglichkeit friedlich auszutragen bzw. die Vereinten Nationen über die erforderlichen Massnahmen entscheiden zu lassen. Diese „Ordnung“ der Welt im Geist weltweit freier kapitalistischer Konkurrenz ist einerseits das Resultat der Entkolonialisierung, die die USA noch zusammen mit der Sowjetunion gegenüber den ehemaligen Kolonialstaaten, insbesondere England und Frankreich, durchgesetzt haben. Und sie ist das Resultat des Kalten Kriegs, an dessen Ende sich der „totgerüstete“ kommunistische Ostblock selbst aufgelöst hat.

Das Ende des Kalten Kriegs – den westlichen Bevölkerungen wurde stets die Existenz des kommunistischen Störenfrieds als Grund für den Unfrieden auf der Welt genannt – hat allerdings nicht für ein Ende des weltweiten Aufrüstens gesorgt, schon gar nicht bei den Nato-Staaten, die ihr Militärbündnis nach der Auflösung des Warschauer Pakts keineswegs ad acta gelegt haben. Das ist auch kein Wunder. Die nun „endlich“ weltweit geltende Geschäftsordnung, die ihrerseits Resultat gewaltsamer Auseinandersetzungen ist, bringt aus sich heraus permanent harte Gegensätze zwischen den Staaten zustande und ist kein Verhältnis wechselseitigen Vorteils, keine win-win-Situation, wie gerne behauptet wird. Handel und Kapitalverkehr zwischen kapitalistischen Nationen dienen schliesslich dazu, dass sich aneinander bereichert wird. Auch wenn es Phasen gibt, in denen davon geschwärmt wird, dass Handels- und Investitionsverträge allen Beteiligten von Nutzen sind und es für alle aufwärts geht – letztendlich werden die Erfolge eines Landes auf Kosten eines anderen errungen; das zeigt sich spätestens auf der Ebene der Konkurrenz der Währungen.

Die Klagen westlicher Politiker und Journalisten darüber, dass China einen ungeheuren Aufstieg als Wirtschaftsnation hinlegt, bieten übrigens ein gutes Beispiel. Während ja ansonsten gerne lauthals betont wird, dass die Entwicklungsländer sich durch Teilnahme am Weltmarkt aus ihrer Lage herausarbeiten sollen, um so Hunger und Unterentwicklung hinter sich zu lassen, ist de facto kein westliches Land froh darüber, dass China – früher einmal das „grösste Entwicklungsland der Welt“ – genau das geschafft hat und zu den führenden Staaten dieser Erde aufsteigt. Die Befürchtungen über die weiteren Konsequenzen von Chinas neuen Fähigkeiten, die jede Woche lauter werden, zeigen ziemlich deutlich: Deren Erfolg nimmt „uns“ (der BRD, den USA usw.) etwas weg, geht auf „unsere“ Kosten.

Geostrategische Konkurrenz: ohne absichernde Gewalt kein erfolgreiches Geschäft

Schon an den internationalen Absprachen, die dem Handeln der Unternehmer vorausgehen, ist ersichtlich, dass das länderübergreifende und weltumspannende Geschäft nicht ohne Gewalt auskommt. Staatliche Souveräne zwingen sich wechselweise zur Anerkennung ihrer Existenz und handeln – unter Einsatz aller ihnen zur Verfügung stehenden Erpressungsmittel – die Bedingungen des globalen Geldverdienens aus: Das ist die schöne „regelbasierte Weltordnung“, die nach Ansicht der USA unbedingt gegen Angriffe geschützt werden muss, so der US-Verteidigungsminister Esper auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2020. Wenn auf dieser Basis „friedlich“ gehandelt wird, macht das das Schiessen natürlich keineswegs überflüssig. Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler hat diesen Zusammenhang im Mai 2010 in einem Interview mit dem Deutschlandradio ausgesprochen:

„Meine Einschätzung ist aber, dass wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Grösse mit dieser Aussenhandelsorientierung und damit auch Aussenhandelsabhängigkeit wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg. […] Es wird wieder Todesfälle geben. […] Man muss auch um diesen Preis am Ende seine Interessen wahren. […]“

Während Horst Köhler für seine Bemerkungen im Jahr 2010 als Bundespräsident noch zurücktreten musste, sind seine Gedanken inzwischen (wenn vielleicht auch noch nicht ganz in „der Breite der Gesellschaft“, so doch) an ihrer Spitze angekommen. Die Verantwortlichen für die deutsche Sicherheitspolitik sprachen die Verknüpfung von aussenwirtschaftlichen Interessen der Nation und militärischen Sicherheitsfragen schon lange vor der „Zeitenwende“ von Olaf Scholz offen aus. „Wohlstand und Volkseinkommen sind in Deutschland in hohem Masse abhängig von funktionierenden Rahmenbedingungen – in Europa und in der Welt. Deutschland ist eng in internationale Handels- und Investitionsströme eingebunden. Unser Land ist in besonderem Masse auf gesicherte Versorgungswege, stabile Märkte sowie funktionierende Informations- und Kommunikationssysteme angewiesen. Diese Abhängigkeit wird weiter zunehmen.“ („Weissbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ 2016)

Das deutsche Staatswesen und seine wirtschaftlichen Interessen brauchen eine Armee, die überall auf der Welt die „Verantwortung“ für funktionierende Rahmenbedingungen übernehmen muss. Dass das „Weissbuch“ Deutschlands weltweite Gewinninteressen dabei als „Abhängigkeiten“ fasst, mag logisch etwas zweifelhaft sein, ist aber die durchaus übliche Selbstdarstellung auf dem Feld der internationalen Politik. Die hat gleichzeitig den überaus schönen Effekt, dass die „Abhängigkeiten“ eines Landes und damit die Notwendigkeiten, zu intervenieren und zu „verteidigen“ umso mehr wachsen, je erfolgreicher seine Wirtschaftsunternehmen auf dieser Erde tätig sind und andere Nationen von sich abhängig gemacht. Kein Wunder also, dass sich die USA, die wirtschaftsmächtigste Nation der heutigen Welt, die mit Abstand teuerste Armee leisten, überall Stützpunkte (an die 1000 weltweit) unterhalten und meist mehrere Kriege gleichzeitig führen, während andere „Fälle“ schon (bzw. noch) mit Wirtschaftskriegen, in denen man sämtliche Wirtschaftsbeziehungen nun als Waffen nutzen kann, zur „Vernunft“ gebracht werden.

Die ganze Gewalttätigkeit und Aggressivität der heutigen Weltordnung ist eben nicht – wie es in der Presse oft dargestellt wird – Ausdruck egomanischer, durchgeknallter Politiker. Sie ist vielmehr Ausdruck dessen, in welchem Umfang unversöhnliche Gegensätze die Wirtschaftsinteressen kapitalistischer Staaten bestimmen – also von Akteuren, die alle dasselbe wollen, nämlich Geld aneinander verdienen und sich dabei mit ihren Interessen unvermeidlich in die Quere kommen.

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Die „regelbasierte Weltordnung“ und ihre Störenfriede Dass eine solche Welt ständig „geordnet“ werden muss, ist also kein Wunder. Und ebenso wenig, dass die ständige (Wieder-)Herstellung dieser Ordnung das Werk der Macht ist, die erstens von der weltweiten Konkurrenz ökonomisch am meisten profitiert, weil sie mit ihrem Dollar bei fast jedem Geschäft mit-verdient und die zweitens dank ihrer überlegenen Militärmacht in der Lage ist, die Durchsetzung der Gleichung von Recht und US-amerikanischem Nutzen zu erzwingen. Für die USA, die sich diese globale Geschäftsordnung in zwei Weltkriegen und einem Kalten Krieg erkämpft hat, stellen Störungen der für sie sinnreich eingerichteten Ordnung ein absolutes Ärgernis dar.

  • Ein solcher Störfall liegt vor, wenn ein Rohstoff-reiches Land seine Bodenschätze dem Zugriff us-amerikanischer kapitalkräftiger Konzerne entreisst und unter nationale Regie stellt, um mehr beim Verkauf zu verdienen und davon nationale Entwicklungsprojekte zu fördern. Die Liste der deshalb von Wirtschaftskriegen, Putschs oder regelrechten Kriegen betroffenen Länder ist lang (Iran 1953, Guatemala 1954, Chile 1973, Irak 2003, Libyen 2011); dazu kommen einige gescheiterte oder noch nicht beendete Versuche in Venezuela, Bolivien, schon wieder der Iran …
  • Dass Staaten der Konkurrenz auf dem Weltmarkt nicht gewachsen sind und darüber ruiniert werden, kann vom Standpunkt der Weltmacht weitere Eingriffe nötig machen. Negative, zerstörerische Resultate – das Verhungern des Volks, seine massenhafte Flucht, der Zusammenbruch von Währung und Staatsgewalt – sind vor Ort hinzunehmen, ohne dass sich dagegen gewehrt werden soll. Das zu erzwingen, gehört zur „Verantwortung“, die die führenden kapitalistischen Nationen für die Geschäftsordnung übernehmen, die ihnen nutzt.
  • In Afghanistan, einem für das weltweite Geschäft eher unbedeutenden Land, haben die USA mit ihrem „war on terror“ exemplarisch gezeigt, was passiert, wenn man Feinde der USA und ihrer Weltordnung unterstützt (Feinde, die sie übrigens selbst als Mittel im Kampf gegen die Sowjetunion ausgerüstet hatten).

Die wichtigste Art von Störfällen, zumindest aus us-amerikanischer Sicht, ist allerdings anderer Natur. Es sind selbstverständlich die Staaten, denen es als Teilnehmer in dieser Weltordnung gelungen ist, zu ernsthaften Konkurrenten der amerikanischen Hegemonie zu werden.

Deutscheuropa, Russland und China

Da ist erstens das EU-Projekt. Dessen ökonomische Führungsmacht Deutschland hat ihren wirtschaftlichen (Wieder-)Aufstieg nach dem 2. Weltkrieg zwar bisher im Bündnis mit und untergeordnet unter die USA vollzogen. Für die USA waren die europäischen Nato-Partner und die BRD als Frontstaat unverzichtbar beim Niederringen der UdSSR, von dem Deutschland mit dem Zugewinn an Volk, Territorium und Macht in besonderer Weise profitiert hat. Mit ihrem Binnenmarkt, einer Gemeinschaftswährung, die dem Dollar Konkurrenz macht, und ihrer Ausdehnung ist die EU allerdings inzwischen zu einem Staatenbündnis geworden, dessen Entwicklung in Washington mit wachsendem Misstrauen betrachtet wird. Die amerikanischen Think-tanks haben praktisch in den letzten Jahren einiges initiiert, um das Euro/EU-Projekt zu stören – von den US-hörigen Osteuropäern bis zur Förderung des englischen Brexits.

Da ist zweitens Russland, dessen aus westlicher Sicht wunderbarer ökonomischer Ausverkauf und staatlicher Zerfallsprozess unter Jelzin von seinem Nachfolger Putin gestoppt wurde. Unter dessen Präsidentschaft hat sich das Land ökonomisch und politisch konsolidiert – wenn es im Aussenhandel auch vor allem vom Verkauf seiner Rohstoffe und Waffen lebt. Auch wenn Russland damit kein ernsthafter ökonomischer Konkurrent der USA ist, betreibt es heute (erneut) eine aktive Aussenpolitik, die den westlichen Interessen an einigen Stellen der Welt in die Quere kommt – in Zentralasien (den Ex-Sowjetrepubliken), in Syrien, in Libyen, in Mali. Vor allem aber stösst den USA unangenehm auf, dass das Land aus Sowjetzeiten über eine Atomstreitmacht verfügt, die ihrer eigenen gewachsen ist, und das in diesem Sinne tatsächlich souverän (= militärisch nicht ohne weiteres erpressbar) ist.

Da ist drittens und vor allem das kapitalistisch gewendete China als neu aufsteigende ökonomische wie politische Grossmacht. Dieses Land wird aufgrund von Grösse und Bevölkerungszahl die USA in absehbarer Zeit als wichtigste kapitalistische Macht auf dem Globus ablösen. Und es bezieht mit seinen aussenwirtschaftlichen Initiativen in Asien, Afrika und Südamerika, inzwischen auch in Zentralasien und Südeuropa (Stichwort: Neue Seidenstrasse), viele Staaten mit Geschäfts- und Kreditangeboten auf sich und arbeitet damit aktiv an einer „multipolaren Weltordnung“. Das setzt allerdings voraus, dass seine Entwicklung zur kapitalistischen Grossmacht ungestört weiter verläuft, was die USA deshalb mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen, ökonomisch wie politisch. Gegen diese Rivalen verteidigen die USA zurzeit ihre bisherige Sonderstellung als Welt- und Weltordnungsmacht: Eine zweite Macht auf Augenhöhe dulden sie in ihrer Weltordnung, die sie schliesslich zu ihrem Nutzen eingerichtet haben, erklärtermassen schlicht nicht. Nebenbemerkung: Man kann hier erneut sehen, ein wie anspruchsvolles (um nicht zu sagen „aggressives“) Ziel „Verteidigung“ ist… Die Mittel, die sie dafür einsetzen, reichen von ökonomischen bis zu politisch-militärischen. Sie greifen zentrale Momente an, aus denen diesen Staaten ihre Macht beziehen: den chinesischen Warenhandel, den russischen Rohstoffexport, die deutsch-russischen Energie- und sonstigen Geschäfte – und sie zögern nicht, dafür wesentliche Momente ihres „freien Welthandels“ zu instrumentalisieren oder ausser Kraft zu setzen (aggressive Schutzzollpolitik, Kampf gegen wichtige ausländische Unternehmen wie VW und Huawei). Sie bedrohen Russland und China mit ihren Allianzen (Nato, Aukus) und sie versuchen, sich das deutsche Europa dauerhaft unterzuordnen bzw. es durch die neuen Nato- und EU-Staaten Osteuropas zu spalten. Kein Wunder, dass sie dabei auf Widerstand treffen – auch ihre Konkurrenten „verteidigen“ sich dabei selbstverständlich nur: ihre besonderen ökonomischen Interessen wie ihren Willen zum Aufstieg nämlich.

Nicht nur Russland will den Ukraine-Krieg

Russland wehrt sich mit dem Krieg in der Ukraine, der übrigens ebenso völkerrechtswidrig ist wie der Nato-Krieg in Jugoslawien, der Afghanistan- und der Irak-Krieg, gegen eine weitere Ost-Ausdehnung der Nato. Putin hatte zuvor in unzähligen diplomatischen Initiativen Respekt für die russischen Sicherheitsinteressen verlangt, die ein weiteres Heranrücken westlicher Armeen und Raketenbasen und ein Infragestellung der russischen Schwarzmeer-Flotte nicht erlauben – ein Verlangen, dessen Berechtigung von einigen westlichen Militärs durchaus begriffen wird, wie die Stellungnahmen von Harald Kujat, Erich Vad und Jacques Baud belegen. Nachdem die westlichen Staaten darauf nicht eingegangen sind und eine Nato-Mitgliedschaft der seit 2014 massiv mit westlichen Waffen aufgerüsteten Ukraine kurz bevorstand, hat Putin den laufenden Krieg begonnen – als „militärische Spezialoperation“, d.h. mit angekündigt begrenzter Reichweite und Dauer. Heute besteht das unmittelbare russische Kriegsziel wohl in der Sicherung der Donbass-Republiken sowie der Krim und der dort stationierten Schwarzmeer-Flotte.

Wenn Russland sich damit durchsetzen könnte, wäre das allerdings – auf einer höheren Ebene – gleichzeitig ein Durchbrechen des Weltgewaltmonopols, wie es die USA für sich in Anspruch nehmen: Nur sie dürfen ungestraft Krieg führen auf der Welt und nur sie erlauben anderen Staaten, so etwas ungestraft zu tun. Nur sie dürfen Grenzen verschieben, Separatisten ins Recht setzen oder verbieten.

Insofern stellt dieser Krieg in der Tat einen Anschlag auf die geltende unipolare Weltordnung dar – ein Grund dafür, dass ihn viele Länder insbesondere aus dem globalen Süden keineswegs verurteilen und sich auch nicht an den geforderten Wirtschaftssanktionen beteiligen, die ihre miserable Lage in der Weltmarktkonkurrenz noch weiter verschlechtern würden.

Die USA nutzen diesen Krieg gleich mehrfach. Sie schädigen Russland durch einen Stellvertreterkrieg auf dem Territorium der Ukraine und „bis zum letzten Ukrainer“ militärisch massiv. Durch den parallel geführten (und ebenfalls völkerrechtswidrigen) Wirtschaftskrieg versuchen sie, die ökonomischen Grundlagen Russlands zu attackieren – den Handel mit Öl, Gas und Waffen.

Sie schlagen ihrem guten „Freund und Alliierten“ Deutschland seine bislang vorteilhafte Energie-Versorgung mittels russischem Öl und Gas aus der Hand, schrecken dabei auch vor staatsterroristischen Akten nicht zurück und verderben ihm – aus ihrer Sicht möglichst dauerhaft – sein Russland-Geschäft sowie seine (zeitweise) guten diplomatischen Beziehungen zu Moskau, die ihm auch eine gewisse Distanz zur verlangten Unterordnung unter die US-Politik erlaubt haben. Sie stellen ihren Hauptrivalen China vor die Gretchenfrage, ob es dem neuen „Paria“ der Weltordnung weiter die Stange halten will und dafür erneut ökonomische Boykott-Massnahmen riskiert. Das in den letzten Jahren zustande gekommene Bündnis zwischen China, dem wichtigsten ökonomischen Rivalen, und Russland, dem wichtigsten militärischen, war nämlich aus US-Sicht untragbar – ebenso übrigens, wie es ein „eurasischer Wirtschaftsraum“ gewesen wäre, in dem die EU und Russland friedlich-produktive Beziehungen entwickelt hätten.

Die einzige Einschränkung dieser Kriegspolitik, die zurzeit scheinbar ohne jede Furcht vor einer nuklearen Eskalation eine „rote Linie“ nach der anderen überschreitet, stellt bei US-Militärs und -Medien die Frage dar, ob die an und für sich nützliche Schädigung Russlands nicht zu viele Mittel bindet. Eigentlich werden die ja für Wichtigeres gebraucht und China soll nicht schon wieder Nutzniesser einer weiteren Krise sein.

Grossbritannien nimmt den Ukraine-Krieg als Chance, sich durch seine forsche militärische Unterstützung der Kiewer Regierung (die auch die Verhinderung eines „zu frühen“ Friedensschlusses mit den Russen durch Boris Johnson einschloss) als die wirkliche europäische Führungsmacht jenseits der EU in Szene zu setzen – so etwa nach dem Motto: Ein potentes Militär hat das alte Empire immer noch und kann durch diese Machtentfaltung das „deutsche Europa“, mit dem London seit dem Brexit in einer neuen Konkurrenz steht, möglicherweise im seinem Sinne neu ordnen. Kein Wunder, dass dabei erneut die alten Bündnislinien (mit Polen gegen Deutschland) zum Zug kommen.

Die aufstrebende Grossmacht EU und ihre deutsche Führungsmacht wollen nicht hinnehmen, dass Russland sich seiner weiteren Einkreisung entgegenstellt und sich herausnimmt, dafür Gewaltmittel einzusetzen. Das ist der Kern von Baerbocks Behauptung, man sei in einer „neuen Welt“ aufgewacht, in der wieder Krieg in Europa geführt werde. „Krieg in Europa“ gab es selbstverständlich auch schon vorher wieder – ob in Nordirland oder Jugoslawien, nur wurde er da von den „richtigen“ Mächten geführt. Russland dagegen soll das nicht erlaubt sein; ihm steht das Recht auf Kriegführen auf diesem Kontinent nicht zu. Deshalb „muss“ das Land in seine Schranken gewiesen werden.

Insofern will die EU, will Deutschland diesen Krieg – als erfolgreiche Verteidigung der Ukraine gegen Russland, an deren Ende ein russisches Staatswesen stehen soll, das nicht mehr in der Lage ist, Krieg zu führen und das dann idealiter in seine Einzelteile zerfällt. Zugleich ist das ein – weiterer – Versuch der EU wie Deutschlands, sich im Rahmen der Kriegsbeteiligung zu profilieren und von den USA zu emanzipieren.

Gleichzeitig wird innerhalb der EU die sowieso schon immer vorhandene Konkurrenz darum, wer in ihr das Sagen hat, an einem neuen Gegenstand ausgetragen: Wer macht Russland am entschiedensten, forschesten und rücksichtslosesten fertig? lautet der neue innereuropäische Wettbewerb. (Nebenbemerkung: Es ist doch aufschlussreich, was eine „Führungsmacht“ in der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten EU ausmacht!)

Das hat Folgen. Wie schon gesagt, schaden die Wirtschaftssanktionen Deutschland am meisten, weil es die profitabelsten Beziehungen zu Russland unterhielt (s.o.). Es musste im Zuge der westlichen Wirtschaftssanktionen den Zugriff auf die günstigen russischen Energielieferungen ebenso aufgeben wie einen Grossteil seines Russland-Geschäfts. Dass es sich die Sprengung der Nordstream-Pipeline durch seine Verbündeten bieten lassen muss, sorgt sicher nicht nur in Washington für Freude, sondern auch bei den EU-Partnern, vor allem in Warschau, das diese Pipeline immer aufs Schärfste bekämpft hatte. Militärisch liefert Deutschland massiv – und gleichzeitig steht die deutsche Regierung angesichts der stetigen Forderungen der osteuropäischen Staaten als ewiger „Zauderer“ da, der an „Führungskraft“ verliert. Aktuell versucht die deutsche Politik zwar, diesen Eindruck wieder umzudrehen angesichts dessen, dass nach dem vorherigen lauten Getöse inzwischen nur noch Deutschland Panzer zu liefern scheint. Es scheint allerdings fraglich, was damit aus der deutschen Kalkulation, sich keineswegs auf „gefährliche Alleingänge“ einzulassen, geworden ist.

Polen jedenfalls sieht sich, wie die Tagesschau bestürzt feststellt, inzwischen als das neue „Gravitationszentrum“ Europas, das gemeinsam mit den Balten die Eskalation gegen Russland vorantreibt. Und selbstverständlich ist sich auch Frankreich wieder schuldig, als stärkste Militärmacht der EU aufzutreten, an die eigene atomare Streitmacht zu erinnern und Selensky mit französischem Militärgerät zu beliefern…

Nicht zuletzt will die Ukraine selbst diesen Krieg. Zwar wird von diesem Land und seinen Bewohnern vermutlich nicht viel übrig bleiben, wenn es so weitergeht. Das hindert seine politische Führung allerdings überhaupt nicht, immer weitere „schwere Waffen“ zu fordern und Verhandlungen vor einem „Siegfrieden“ auszuschliessen, der, Stand heute, auch die Rückeroberung der Krim beinhalten soll (womit Russlands Schwarzmeerflotte und sein Zugang zum Mittelmeer attackiert wird).

Dieses Land führt hier eine Art verspäteten Staatsgründungskrieg gegen Russland – und dafür ist offenbar kein Opfer zu hoch. Das Leben der eigenen Bevölkerung ist jedenfalls nicht der Massstab, an dem Selensky seine Kriegsstrategie ausrichtet – und das russischer Soldaten und Bürger sowieso nicht, denn Russen hat „unser Held“ in Kiew längst zu einer Art von Untermenschen erklärt. Natürlich ist damit auch ein hartes Ausgrenzungs- oder Unterordnungsprogramm gegenüber den 30 Prozent ethnischer Russen in der ukrainischen Bevölkerung auf der Tagesordnung. Russische Sprache, russische Literatur und Musik wurden im letzten Jahr als kulturelle Waffen des Feindes ebenso verboten wie elf Oppositionsparteien (die Kommunistische Partei hatte es schon 2015 erwischt). Die Medien sind gleichgeschaltet; viele Kritiker der Regierung und des Maidan-Putsches von 2014 verhaftet. Dass fast die Hälfte der Bevölkerung die „ukrainische Heimat“ inzwischen verlassen hat, stört nicht, auch wenn nach der inzwischen siebten Mobilisierung (Männer bis 60 Jahre) das menschliche Material knapp wird. Denn die Mittel für diesen Krieg bezieht das ukrainische Militär aus der westlichen Waffenhilfe. Die eigene Bevölkerung und die eigene Wirtschaft sind als Basis der staatlichen Ansprüche wesentlich weniger ertragreich. Also muss sich die Ukraine mit ihrem Krieg vor allem weiterhin für die westlichen Staaten interessant machen: So viel Milliarden Dollar und so viel weltweite Aufmerksamkeit würde sie ohne den Gegner Russland jedenfalls nie bekommen.

Fazit

Der jetzt seit einem Jahr laufende Krieg in der Ukraine ist kein singulärer russischer Verstoss gegen das Völkerrecht, wie er von Seiten westlicher Regierungen und der Mainstream-Medien behauptet wird. Völkerrechtsverstösse dieser Art haben „westliche Staaten“ und ihre Verbündeten in den letzten dreissig Jahren in grosser Zahl begangen. Er ist auch kein Anschlag auf ein Prinzip namens Weltfrieden, das angeblich allen Staaten dieser Welt am Herzen liegt. Und er ist, wenn es noch zur Eskalation oder gar zum Nuklearkrieg kommt, auch kein tragischer Prozess, in den die Beteiligten wieder einmal „schlafgewandelt“ sind.

Nein, die Gründe für diesen Krieg, die beteiligten Staaten und die Strategien ihrer Regierungen liegen in der von den USA nach dem 2. Weltkrieg durchgesetzten „regelbasierten Weltordnung“ selbst.

Die Regel dieser Ordnung besteht darin, dass auf der ganzen Welt freier Handel und Kapitalverkehr zwischen souveränen Staaten stattfindet. Diese Konkurrenz um den Nutzen aus dem weltweit stattfindenden Geschäft enthält in sich notwendig die harten Gegensätze, die sämtliche Staaten dazu veranlassen, ihre ökonomische Konkurrenz bereits im Frieden (!) durch eine geostrategische zu ergänzen und dafür prophylaktisch nach Kräften aufzurüsten.

Im laufenden Krieg kämpfen Russland, die USA, Grossbritannien, das deutsche Europa mit all seinen inneren Widersprüchen und die Ukraine selbst um ihre Stellung in der internationalen Konkurrenz der Staaten – so etwas geht letzten Endes nicht anders als mit Krieg.

Dafür sterben die ukrainischen Soldaten, die russischen Soldaten und die betroffenen Zivilisten in der Ukraine. Und dafür werden die Menschen in allen beteiligten Kriegsparteien in Haftung genommen.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen          :

Oben        —   Erklärung des Kriegszustandes des Deutschen Kaiserreiches am 31 Juli 1914, der Beginn des Ersten Weltkrieges. Unterzeichnet von Kaiser Wilhelm II. im Neuen Palais in Potsdam. Gegengezeichnet vom Reichkanzler Bethmann-Hollweg.

Emblem of the Ministry of Defence of Ukraine.svg
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Unten        —      Авдеевка после обстрелов. Фото: ФБ Вячеслав Аброськин

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Krieg und Frieden im Land

Erstellt von DL-Redaktion am 26. Februar 2023

„Alles ein bisschen schizo“

Von Josef-Otto Freudenreich

Es gibt Menschen, die nicht an Panzer als Friedensbringer glauben. Sie finden sich auf der Ostalb und in einem kleinen Ort bei Tübingen, in der SPD und sogar bei den Grünen.

Ein Oberstleutnant aus Hamburg spricht auf einer Friedensmatinee in Aalen, zu der Leni Breymaier, eine linke Sozialdemokratin, Markenzeichen rote Brille, in die Räume der IG Metall einlädt. Eine gewagte Kombination, weil, was soll ein Soldat sagen, über dessen Kasernentor stand: Si vis pacem para bellum. Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.

Falko Droßmann, 49, Drei-Tage-Bart, sauber gezogener Scheitel, sagt: „Schauen Sie sich doch mal die Sponsorenliste der Münchner Sicherheitskonferenz an.“ Anfänglich hieß sie „internationale Wehrkunde-Begegnung“, womit ihr Zweck klarer definiert war. Und tatsächlich, dort trifft sich die Creme der Rüstungsindustrie: Lockheed Martin, Airbus, Rheinmetall aus dem Wahlkreis von Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Krauss-Maffei, Hensoldt, dazu noch Datensammler wie Google und Palantir, aber auch Goldman Sachs und die EnBW. Alles Profiteure eines langen Krieges, betont der Offizier. Die Spannung im Saal steigt.

Kurzer Ortswechsel. Am selben Tag verkündet in München Ursula von der Leyen, CDU, die Präsidentin der EU-Kommission, sie dächten daran, der Rüstungsindustrie subventionsmäßig unter die Arme zu greifen. Ähnlich wie der Pharmaindustrie zu Coronazeiten, als die Impfstoffe knapp waren. Dem Militär mangelt es derzeit an Munition, weniger an Geld. Laut Friedensforschungsinstitut Sipri sind die Rüstungsausgaben 2022 auf einem Rekordhoch angekommen: Spitzenreiter sind die USA mit 801 Milliarden Dollar, gefolgt von China mit 293 Milliarden, auf Platz fünf rangiert Russland mit 66 Milliarden Dollar, Rang sieben belegt Deutschland mit 52 Milliarden Euro.

Ein Offizier warnt vor der „Banalisierung“ des Kriegs

In Aalen überrascht der Gast aus Hamburg das Publikum mit der Bemerkung, es werde nicht glauben, „wie viele Unternehmer schon bei mir angeklopft haben“. Wegen künftiger Bauaufträge in der Ukraine.

Um das zu verstehen, muss man wissen, dass der Oberstleutnant seinen Beruf gewechselt hat. Er ist heute Politiker und sitzt seit 2021 für die SPD im Bundestag, dort im Verteidigungsausschuss. Und dennoch: Hier rührt keiner die Kriegstrommel, wie so viele in Medien und Politik, hier warnt einer vor der „Banalisierung“ des Krieges, vor einem leichtfertigen Umgang mit dessen Rhetorik, die Panzern Tiernamen gibt, den Tatbestand verschleiernd, dass sie Tötungsmaschinen sind. Der Oberstleutnant hat viele Auslandseinsätze hinter sich und wünschte sich, dass alle, die nach mehr Waffen riefen, einmal schauten, was sie anrichten. Außenministerin Annalena Baerbock, Grüne, gilt dabei sein besonderes Augenmerk.

Diese Überbietungsspirale, befeuert durch eine publizistische Begleitung, die Bellizisten für klug und Pazifisten für dumm hält, sei „schwer auszuhalten“, sagt Droßmann und verweist auf einen, der sich dieser Dichotomie zu entziehen versuche: Olaf Scholz. Der Kanzler sei noch der einzige, der mit Putin telefoniere, vielleicht noch Frankreichs Präsident Macron, betont er, auch im Hinblick auf die Zukunft. Deutschland müsse der „Motor einer Zusammenarbeit“ mit Russland sein – nach dem Krieg. Das hat die SPD einst Entspannungspolitik genannt.

Im Krieg geboren, im Krieg sterben? Nein!

Droßmann trifft den Nerv seines Publikums. Es will verhandeln, einen Waffenstillstand, den Krieg stoppen. Helmut Schmidt wird zitiert: „Lieber 100 Stunden verhandeln, als eine Sekunde schießen.“ Wie das heute geht, wer mit wem, zu welchem Preis, das weiß auch auf der Ostalb niemand genau, zumindest nicht hier unterm Dach der IG Metall, die den Frieden in ihrer Satzung hat, aber auch genau auf die Arbeitsplätze in den Waffenschmieden schaut. Die einstige Losung „Schwerter zu Pflugscharen“ hat es nicht zur Produktionsreife gebracht.

Der Älteste im Saal drückt aus, worum es letztlich geht. „Ich bin im Krieg geboren und will im Krieg nicht sterben“, sagt Alfred Geisel, und je länger er redet, um so eindringlicher wird seine Stimme. Er habe die Bombennächte im Zweiten Weltkrieg durchlitten, erzählt der 91-Jährige, erlebe heute, was er nicht für möglich gehalten habe, diesen „irrsinnigen Krieg“ in der Ukraine, der ihm wieder schlaflose Nächte bereite, und man rede nicht mehr über Diplomatie, nur noch über Panzer. Dieser „Wahnsinn“ müsse beendet werden, und zwar sofort. Was ist überzeugender? Sein persönliches Erleben oder die Analysen der Sofa-Strategen, die Putin zu Verhandlungen bomben wollen?

Brandt with Richard Nixon, 1971

Geisel war viele Jahre eine wichtige Figur in der Landespolitik. (Seine Tochter Sofie übrigens OB-Kandidatin in Tübingen anno 2022 gegen Boris Palmer.) Von 1972 bis 1996 saß er als SPD-Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag, 16 Jahre davon als Vizepräsident. Es war auch die Zeit der sozialliberalen Koalition und der Neuen Ostpolitik, die sich einen Wandel durch Annäherung auf die Fahnen geschrieben hatte, erkennend, dass Alles oder Nichts keine Option mehr war.

In Ellwangen war Willy Brandt ein Verräter

Auf der stockkonservativen Ostalb hat der Erkenntnisprozess länger gedauert. Im Juni 1973 stand Geisel vor dem Ellwanger Bahnhof, zusammen mit Willy Brandt, der das Kinderdorf „Marienpflege“ besuchen wollte. Statt einer Abordnung örtlicher Honoratioren und des Blasmusikvereins empfing sie ein Trupp junger Unionisten („Brandt an die Wand“), die den Kanzler als vaterlandslosen Gesellen und Verräter beschimpfte. Seitdem weiß Geisel, wie schwierig die Sache mit der Vernunft ist. (Ein weiteres Beispiel ist Stuttgart 21. Wegen des brutalen Wasserwerfereinsatzes am Schwarzen Donnerstag hat er 2010 seine Verdienstmedaille an der Pforte des Staatsministeriums von Stefan Mappus abgegeben.)

Quelle          :    KONTEXT: Wochenzeitung-online        >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben       —     Ein Portrait von Leni Breymaier. Sie sitzt mit rotem Oberteil und roter Brille auf einer Bank.

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2.) von Oben     —       

Brandt with Richard Nixon, 1971

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KOLUMNE-Fernsicht-China

Erstellt von DL-Redaktion am 25. Februar 2023

Nicht nur 99 Luftballons am Horizont

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Kolumne Fernsicht von  :  Shi Ming

Wer heute das alte Lied „99 Luftballons“ noch einmal spielt oder hört, dürfte einen leisen Anachronismus spüren: Wurden da nicht „General“ und „Kriegsminister“ verhöhnt, weil es ja nur „99 Luftballons“ sind, die da schweben am Horizont?

So viele sind es heute nicht. Bisher entdeckt und abgeschossen waren es vier, von denen sich kanadische und amerikanische Militärs in einem Fall nicht mal sicher waren, ob es sich um einen Luftballon handelt. Dennoch: Heute lacht kaum noch jemand. Ernst nehmen will man die schwebenden Objekte hoch in der Luft allemal. Sie seien bloß für Wetterdienste, behauptete Peking? Von wegen!

Der Nena-Anachronismus lässt sich so leicht nicht mehr herunterspielen auf so etwas wie seichte Ironie: Über unseren Horizont fliegen längst unzählige Objekte. Niemand weiß, wie viele Daten, verschlüsselt in was für einem KI-Deutungsmuster, sie an wen zu welchem Zwecke senden. Erst recht nicht, mit welchen Konsequenzen. Von diesen ominösen Objekten sind die paar Luftballons, von denen man zwei als „von China kommend“ identifiziert hat, „Opas“ aus Zeiten des Ersten Weltkriegs, wenn man sich ihrer als Spionageballons vergewissern kann. Kann man?

Wohl noch nicht ganz. Noch gehen Beschuldigungen und Dementi zwischen Washington und Peking hin und her. Chinas Außenamtssprecher bezichtigt die USA 10-mal der Verletzung des chinesischen Luftraums mit US-Luftballons allein im letzten Jahr – freilich ohne jeden Beweis. Noch hüllen die Europäer sich in vornehmes Schweigen. Und doch wird auch hierzulande, noch hinter vorgehaltener Hand, gemunkelt: Was nun, wenn die Chinesen Spionageluftballons 20 Kilometer auch über unsere Köpfe hinweg schweben lassen, um, wie die US-Militärs argwöhnen, unsere Militärbasen, sagen wir nahe dem an einen russischen Oligarchen verkauften Flughafen Hahn, auszuspionieren? Was nun, wenn diese Chinesen allen Dementi zum Trotz doch Wladimir Putin beim Aggressionskrieg gegen die Ukraine unterstützen würden – mit Daten gestohlen von jenen mysteriösen Ballons zum Beispiel?

Die Augen rechts und links da hinten stinkt es !

Lasst uns einen „Worst Case“ an die Wand malen: Haben nicht auch Chinesen bereits Supersonic-Raketen, gegen die westliche Militärs noch kein probates Mittel haben, um uns davor zu schützen? Noch weit entfernt von der beunruhigenden Tatsache, dass von den der Ukraine versprochenen Leopard-I-Panzern der deutschen Bundeswehr gleich Dutzende untauglich sind? Sind wir gegen irgendwelche „Generäle“ und „Kriegsminister“, verhöhnt in jenem Lied, gewappnet, wenn sie doch nicht nur Späßchen mit uns im Sinne haben, sondern es bitterernst meinen, siehe Putin?

Über paranoide „Kriegsminister“ lacht heute keiner mehr

Quelle       :         TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Vogelbeobachtung in Panama

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Krieg oder Frieden ?

Erstellt von DL-Redaktion am 24. Februar 2023

„Ein Regimewechsel ist nicht das Kriegsziel“

So stehen wir hier, als arme Thorn und sind genauso klug wie je zuvor

DAS  INTERVIEW FÜHRTEN STEFAN REINECKE  UND  ULRIKE WINKELMANN

Putin ist ein Gefangener seiner neoimperialen Idee, sagen die Osteuropa-Expert*innen Gwendolyn Sasse und Jörg Baberowski. Ein Streitgespräch über den Weg zum Frieden und die Rolle des Westens.

taz: Frau Sasse, Herr Baberowski, was haben Sie am 24. Februar 2022 gedacht?

Gwendolyn Sasse: Ich war über das Ausmaß der Invasion erstaunt. Putin hatte ja am 21. Februar eine Rede gehalten, die klar machte, dass eine Eskalation bevorsteht. Aber Luftangriffe auf Städte in der gesamten Ukraine – das konnte ich mir schwer vorstellen.

Jörg Baberowski: Ich war an diesem Tag wie gelähmt. Ich hatte den Angriff für unmöglich gehalten. Putin erschien mir immer als kühler Machttaktiker. Ich hatte mich getäuscht.

Viele erwarteten im März 2022, dass Putin die Unterstützung in Russland bald verliert.

Baberowski: Ja, auch in dieser Frage habe ich mich getäuscht. Das Regime öffnete die Grenzen, Hunderttausende verließen Russland. Das war ein geschickter Zug, um die Opposition zu schwächen – alle, die nicht einverstanden waren, sind gegangen.

Sasse: Es gab Anfang März durchaus beeindruckende Proteste, die radikal niedergeschlagen wurden. Russland ist ein autoritäres System mit einer atomisierten Gesellschaft. Der Wandel wird nicht aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Wenn in Russland etwas aufbricht, wird das in den Eliten passieren, im Militär oder im Sicherheitsapparat, dem die Kriegskosten – Menschenleben und wirtschaftliche Probleme – zu hoch erscheinen.

Baberowski: Einverstanden. Aber auch von der Elite sollte man sich nicht zu viel erhoffen. Wenn der Krieg verloren geht, wird Putin möglicherweise durch jemanden ersetzt, der noch härter und rücksichtsloser ist als er selbst. Mein Vertrauen darauf, dass liberale Eliten es besser machen werden, ist gering.

Sasse: Nicht liberaler, vielleicht sogar noch autoritärer, aber möglicherweise pragmatischer im Kostenkalkül.

Welchen Charakter hat dieser Krieg: Ist das ein Konflikt zwischen Demokratie und Diktatur? Oder ein Krieg zwischen zwei oligarchischen Systemen?

Sasse: Das ist kein Krieg zwischen zwei oligarchischen Systemen, sondern einer zwischen politischen Ordnungen. Ein wesentlicher Grund für den russischen Angriff ist, dass die Ukraine ein demokratisches oder doch ein sich demokratisierendes System ist. Das bedeutet eine Gefahr für das Regime in Russland. Deshalb hat Putin zu diesem extremen Mittel gegriffen. Dazu gehört die neoimperiale Machtprojektion. Beides ist untrennbar miteinander verbunden.

Also Diktatur versus Demokratie, Herr Baberowski?

Baberowski: Ich sehe es etwas anders. Dieser Krieg kommt aus dem Gegensatz zwischen Imperium und Nationalstaat. Die Ukraine darf in Putins neoimperialer Perspektive nicht selbstständig sein, weil er sie als Teil des verloren gegangenen Imperiums versteht. Putin ist ein Gefangener dieser Idee, und er glaubte zu Beginn des Kriegs, dass die Ukrainer nur darauf warteten, in das Imperium zurückzukehren. Das ist auch eine Frage der Generation. Putin und seine Gefolgsleute sind Sowjetmenschen, die mit der imperialen Idee aufgewachsen sind. Die meisten prominenten ukrainischen Politiker sind jünger, haben andere Erfahrungen gemacht.

Sasse: Ich halte „Diktatur versus Demokratie“ und „Imperium versus Nationalstaat“ nicht für Gegensätze, sondern für zwei Seiten des Gleichen. Die Ukraine hat 1991 die Unabhängigkeit gewählt und sich bewusst vom Imperium entfernt. Russland kann das als Kolonialmacht nicht zulassen.

Baberowski: Sergei Witte, Premierminister des Zaren Nikolaus II., schrieb in seinen Erinnerungen: Russlands Dilemma sei, dass es nicht Nation, sondern nur Imperium sein könne. Solange Russland Imperium sei, müsse es Integrationsleistungen erbringen, die seine Kräfte überstiegen. Darin sah Witte die Wurzel der Gewalt. Auch die russländische Föderation der Gegenwart ist ein Imperium, will und kann Nationalstaat nicht sein, weil sich seine politischen Eliten als Nachlassverwalter der Sowjetunion sehen. Russland muss sich vom Imperium verabschieden, so wie die Republiken der ehemaligen Sowjetunion sich von seiner Verteufelung verabschieden müssen. Erst wenn beide Seiten die Geschichte ruhen lassen können, eröffnet sich ein Weg ins Freie.

Olexi Danilow, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine, fordert: „Der wahre Sieg der Ukraine ist der Zerfall Russlands, sein Verschwinden als kohärentes Subjekt der Geschichte und Politik.“ Ist das ein legitimes Kriegsziel?

Sasse: Von ukrainischer Seite ist das eine legitime Formulierung. Allerdings ist es kein realistisches Szenario. Russland wird als Akteur nicht von der Landkarte verschwinden. In Mittel- und Osteuropa glauben manche, dass die russländische Föderation in Teile zerbrechen sollte. Aber der Westen teilt dieses Ziel nicht. Russland kann sich verändern, Teile könnten sich abspalten. Aber das kann man von außen nicht beeinflussen. Ein Paradox dieses Krieges ist: Er sollte Russland stärken – und jetzt gerät sogar sein Zerfall in den Bereich des Vorstellbaren.

Baberowski: Danilow formuliert ein Maximalziel. Er weiß selbst, dass es unerreichbar ist. Dieser Krieg wird irgendwann zu Ende gehen, und die Gegner von einst werden Nachbarn bleiben. Ein unkontrollierter, gewaltsamer Zerfall Russlands ist nicht im Interesse Europas, auch nicht im Interesse der Ukraine. Ich mag mir nicht ausmalen, was geschehen könnte, wenn Russland zerbräche, Warlords regierten, wenn interethnische Konflikte ausbrächen, Aserbaidschan und Armenien sich wieder in einen blutigen Krieg verwickelten oder Dagestan zerfiele. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass sich Russland von innen verändert.

Wie empfinden Sie die deutsche Debatte über den Krieg?

Baberowski: Mich verstört das patriotische Geschrei, das Lob des Krieges, das in Deutschland wieder angestimmt wird. Die Wehrdienstverweigerer und Pazifisten von gestern sprechen von Völkern, tapferen Männern, schwenken Fahnen. Ich mag mich an diese Sprache nicht gewöhnen.

Sasse: Übertriebenen Patriotismus sehe ich in Deutschland nicht. Westliche Akteure wägen jeden Schritt lange ab. Es kann keine Rede davon sein, dass Regierungen wie im Ersten Weltkrieg wie Schlafwandler in einen Krieg taumeln. Die deutsche Gesellschaft, hat erstaunlich empathisch auf diesen Krieg reagiert. Die Ukraine hat auf der mentalen Landkarte der Deutschen ja zuvor gar nicht existiert.

Im Westen denken einige, dass Russland den Krieg verlieren muss, bevor – wie mehrfach in der russischen Geschichte – ein Regime Change folgen kann. Ist das eine gute Idee?

Baberowski: Nicht jeder Regimewechsel bewirkt, was man sich von ihm verspricht. Der Zerfall des Zarenreichs führte in den Bürgerkrieg, dem zehn Millionen Menschen zum Opfer fielen, und er war der Geburtsort der bolschewistischen Diktatur. In den 1990er Jahren gab es zwar Anarchie, Kriminalität und Armut, aber auch den Versuch, den Wandel auf friedliche Weise zu bewältigen; es gab eine mehr oder weniger freie Presse, einen gewaltfreien Kommunikationsprozess zwischen dem Zentrum und der Peripherie. Es kommt darauf an, eine Situation herzustellen, in der sich solcher Wandel friedlich vollziehen kann.

Sasse: Es ist falsch, einen Regime Change in Russland jetzt als Kriegsziel zu definieren. Es geht darum, die Ukraine mit westlicher Unterstützung in die Lage zu versetzen, dass sie verhandeln kann. Die Debatte über einen Regimewechsel in Russland lenkt davon nur ab.

Was ist das Kriegsziel – die Grenze vom 23. Februar 2022 oder die Rückeroberung der Krim?

Baberowski: Die Ukraine will alle Gebiete zurückerobern, die seit 2014 annektiert worden sind. Das ist ein legitimes Kriegsziel. Die Rückeroberung der Krim aber würde zu ethnischen Säuberungen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen. Russland würde es als Angriff auf eigenes Territorium verstehen. Die westlichen Regierungen sollten dieses Ziel nicht unterstützen, sondern Waffenlieferungen mit der Bedingung verknüpfen, von Maximalforderungen abzurücken.

Und die Krim verloren geben?

Baberowski: Nicht unbedingt. Warum soll im Frieden nicht möglich sein, dass sich die politischen Verhältnisse ändern? Man kann im Frieden vielleicht erreichen, was jetzt nur mit großen Opfern möglich wäre.

Sasse: Diese Frage stellt sich momentan doch gar nicht. Wir müssen vielmehr daran erinnern, dass die ukrainische Seite nur Wochen nach dem 24. Februar sehr viel angeboten hat: Neutralität, Rückkehr zu den Grenzen des 23. Februar, die Krim sollte für 15 Jahre bleiben, wie sie ist, um dann erst darüber zu entscheiden. Das hat Moskau vom Tisch gewischt. Ich finde es völlig verständlich, dass weder Selenskyj noch die ukrainische Gesellschaft derzeit territoriale Konzessionen mittragen wollen.

Also gibt der Westen Kyjiw freie Hand?

Sasse: Die ukrainische Regierung hat die Ansätze zu Verhandlungen mehrfach dynamisch an das Kriegsgeschehen angepasst. Wir wissen nicht, wie der Krieg weitergeht. Jetzt schon zu fixieren, was man der Ukraine alles verbieten will, halte ich für falsch. Worüber man am Ende verhandelt, wird sich vielleicht in den nächsten Monaten zeigen.

Baberowski: Wir können diese Frage nicht nur moralisch beantworten, wir müssen mit ihr auch verantwortungsethisch umgehen. Der Krieg sollte so schnell wie möglich enden, Verhandlungen sollten so schnell wie möglich beginnen. Wir müssen uns vergegenwärtigen, was es bedeutet, sollte sich der Krieg noch um zwei oder drei Jahre fortsetzen. Eine ganze Generation von Männern wird auf den Schlachtfeldern zurückbleiben. Der Krieg verändert alle sozialen Beziehungen zwischen Menschen, er verändert das Leben fundamental. Nichts wird mehr sein wie zuvor, Millionen werden traumatisiert sein. Das kann auch nicht im Interesse der Ukraine sein.

Sasse: Zur Verantwortungsethik gehört auch: Warum fragen wir immer, was die Ukraine aufgeben muss, welche Territorien sie nicht zurückfordern soll? Ich weiß nicht, wie der Krieg weitergeht, und maße mir nicht an, der Ukraine vorzuschreiben, auf welche Gebiete sie verzichten muss. In all den Manifesten für Frieden findet sich kein Wort dazu, wie man denn Putin dazu bewegt, zu verhandeln. Die Forderungen werden nur an die Ukraine adressiert. Das ist einseitig.

Baberowski: Wir adressieren die Seite, auf die wir Einfluss haben.

Sasse: Aber zur Verantwortungsethik gehört ein realistisches Bild von den Gebieten, auf die die Ukraine verzichten soll. Auf der Krim herrscht seit 2014 ein repressives System, das nicht zu einer Befriedung geführt hat. Das Gleiche gilt für die besetzten Teilen des Donbass und die von Russland 2022 okkupierten Gebiete. Es ist problematisch, diese einfach auszuklammern.

Baberowski: Das stelle ich nicht in Abrede. Aber: Wenn der Krieg länger dauert, wenn es in der Ukraine zu Versorgungsengpässen kommt, die Zahl der Toten und Versehrten ins Unermessliche steigt, dann muss man sich fragen: Ist es diesen Preis wert? Kann man diese Opfer verantworten, wenn am Ende niemand siegen wird? Russlands Regime profitiert von diesem Krieg, weil es ihn nutzt, um seine Macht im Inneren auszuweiten. Unter Friedensbedingungen sind vielleicht auch die Möglichkeiten, Widerstand zu leisten, größer als im Krieg. Auch in der Ukraine wird der Moment kommen, an dem sich manche fragen: Lohnt es sich, diesen Krieg um jeden Preis fortzusetzen?

Sasse: Das Ziel der westlichen Unterstützung ist es, die Kalkulation der russischen Seite zu beeinflussen. Dieses Frühjahr wird entscheidend werden. Dann gibt es dank westlicher Waffenlieferungen immerhin die Möglichkeit, okkupierte Gebiete zurückzuerobern – und die russische Seite muss reagieren. Die Annahme, dass Russland selbstverständlich über mehr Ressourcen an Menschen und Material verfügt, ist erschüttert. Russland verbraucht schon jetzt enorm viel Ressourcen, hat hohe Kosten und kommt militärisch trotzdem nicht vorwärts. Wir reden nicht über Jahre, sondern über einen absehbaren, planbaren Zeitrahmen. Jetzt all dem vorzugreifen und von außen zu sagen: „Es reicht, jetzt sind die Kosten zu hoch“, erscheint mir willkürlich.

Baberowski: Russland hat seine Wirtschaft auf den Krieg ausgerichtet. Sie produziert in großer Zahl Panzer und Raketen, während die Ukraine Schwierigkeiten hat, ihren Nachschub an Munition zu organisieren und die Besatzungen für die Panzer auszubilden, die sie aus dem Westen erhalten hat. Es spricht daher viel für einen langwierigen Zermürbungskrieg. In der russischen Kultur des Krieges werden Strategie und Taktik durch Material und Masse, Rücksichtslosigkeit und Terror kompensiert. Ich fürchte, dass es nun wieder so sein wird.

Manche glauben, dass die Ukraine durch den Befreiungskrieg zur Nation wird. Ist das so?

Quelle         :         TAZ-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —       Before the meeting of the leaders of Russia, Turkey, Germany and France. From left: Federal Chancellor of Germany Angela Merkel, Vladimir Putin, President of Turkey Recep Tayyip Erdogan and President of France Emmanuel Macron.

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In Putins Hände

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Februar 2023

Wer Verhandlungen fordert, sollte auch erklären, ob er Russland noch mehr zugestehen möchte

Ein Schlagloch von Jagoda Marinic

Die Aufrufe, sofortige Friedensverhandlungen einzuleiten, verkennen den russischen Präsidenten. Putin ist nicht zu trauen.

Tagelang blickte die Welt nach München: Viele erhofften sich von der Sicherheitskonferenz klare Botschaften, wie es nach einem Jahr Krieg in der Ukraine weitergehen wird. Wirklich überrascht hat schließlich US-Präsident Joe Biden mit seiner Reise nach Kiew. Bilder, die ihn zusammen mit Wolodimir Selenski zeigen, gingen um die Welt. Selbst als Alarm ertönte, blieben die beiden Staatschefs wie unberührt unter freiem Himmel. Bidens Besuch in dem freiheitsliebenden Land, wie er sagte, stellte die Sicherheitskonferenz weitgehend in den Schatten.

Als ich anfing, diese Kolumne zu schreiben, hielt Russlands Präsident Wladimir Putin eine Rede zur Lage der Nation. Wenige Stunden später sollte Biden seine Rede an die Nation halten, und natürlich erinnert das an Zeiten des Kalten Krieges, natürlich liegt es nahe, dass Putin versuchen wird, Bidens Besuch als Zeichen zu deuten, der Westen führe einen Krieg gegen Russland – die Frage ist nur, wie sehr man sich von Putin beeindrucken lassen möchte. Er hat in seiner Rede gelogen und behauptet, der Westen habe „den Krieg losgetreten“, und Russland führe „keinen Krieg gegen das ukrainische Volk“.

Die Münchner Sicherheitskonferenz vor einem Jahr hat diese Militäroperation nicht zum zentralen Thema gemacht. Das Ende der Konferenz war am 20. Februar 2022. Vier Tage später überfiel Russland die Ukraine. Man kann davon ausgehen, dass bis zu vier Tage vor Beginn des militärischen Überfalls weite Teile des Westens Putins Zerstörungsgewalt unterschätzt haben. Sie haben selbst angesichts des historischen Militäraufgebots die Gefahr verdrängt und den Aggressor verharmlost. Hätte man die Ukraine bereits während des wochenlangen Aufmarschs der russischen Armee unterstützt, wäre die Botschaft an Russland vielleicht eine andere gewesen, abschreckend.

Ähnlich äußerte sich auch die finnische Staatschefin Sanna Marin. Das Wegsehen und die Untätigkeit des Westens hat Putin weder sanft gestimmt noch dazu gebracht, von seinen strategischen Zielen abzulassen. Es brauchte keine Drohgebärden. Russland begann seinen Angriffskrieg ganz ohne – das sollte man in Erinnerung rufen, wenn Putin nun wieder behauptet, der Westen habe den Krieg begonnen. Putin mag auf diplomatische Entwicklungen mit Krieg reagiert haben, doch in welcher Welt leben wir, wenn es als legitim erachtet wird, die Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes einzuschränken.

Letzte Woche wurden in Deutschland wieder prominentere Stimmen laut, die forderten, man müsse jetzt über Frieden verhandeln. Die meisten Namen sind hinlänglich bekannt, ein neuer Einwurf kam von Jürgen Habermas. Viele, die jetzt für einen Verhandlungsfrieden argumentieren, klammern aus, wie vieles von dem, was sie heute als Verhandlungsoption präsentieren, Russland bereits 2014 zugesichert und der Ukraine abgesprochen wurde. Welches Interesse sollte Russland haben, sich nach einem Jahr Kriegsführung mit dem Status quo von vor Kriegsbeginn zufriedenzugeben? Wer also fordert, man müsse jetzt mit Russland verhandeln, sollte auch erklären, ob er Russland noch mehr zugestehen möchte. Und wäre damit ein dauerhafter Frieden gewährleistet? Wohl kaum. Was, wenn gerade das Verhandeln und Nachgeben die Gewaltspirale nach oben treibt?

Proud of what 10

Nehmen Menschen, die für Verhandlungen – meist zu Ungunsten der Ukraine – argumentieren, so etwas wie die neusten Meldungen wahr. Wie ein Investigativkollektiv anhand von Dokumenten nachwies, die aus der Moskauer Präsidialversammlung geleakt wurden, plant Russland auch die Übernahme von Belarus bis zum Jahr 2030. Worauf stützen sich die, die jetzt Verhandlungen fordern, wenn sie in Putin einen verlässlichen Verhandlungspartner sehen?

Wenn man die Diskurse des letzten Jahres betrachtet, so entspricht der Vorwurf, man könne in der deutschen Öffentlichkeit nicht gegen die Unterstützung für die Ukraine sprechen, ohne geächtet zu werden, nicht den Tatsachen. Sicher, es wird manchmal brachial, doch die Verrohung des Diskurses lässt sich bei allen Themen feststelle. Selbst wer über stillgelegte Straßen in Berlin-Mitte schreibt, wird heute angeprangert. Merkwürdigerweise reagieren ausgerechnet jene, die von den Ukrainern fordern, diesen Krieg zu beenden, besonders empfindlich auf Widerspruch. Ihre Opferrolle setzt leider oft genau dann ein, wenn es um die konkrete Entwicklung eines Szenarios geht, wie der Verhandlungsfrieden herbeigeführt werden könnte. Vielen fehlt die Auseinandersetzung mit der Realität, die Russland seit einem Jahr gewaltvoll zu verändern versucht. Soll man um des Friedens Willen wirklich auf jede Forderung Russlands eingehen? Was ist mit dem Größenwahn Putins? Hier die Unterschätzung des russischen Staatschefs – es reicht ein Friedensangebot für den Frieden –, dort die paralysierende Überhöhung der Gefahr durch ihn: Am Ende führt er uns in den dritten Weltkrieg oder drückt den Atomknopf.

Quelle        :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben       —     Anti-war poster Stop Putin against his megalomania, with a cartoon from 2014 when Crimea was annexed by Russia.

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Das Leiden der Familien

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Februar 2023

Eine Kindheit im Luftschutzbunker

Von Anna Jikhareva

Lisa Dmitrijewa hatte ihr ganzes Leben noch vor sich, doch sie wurde nur vier Jahre alt. Das Mädchen mit Down-Syndrom kam gerade von der Sprachtherapie, die sie regelmäßig besuchte.

Zusammen mit ihrer Mutter überquerte sie einen belebten Platz im Zentrum von Winnyzja, einen Puppenwagen vor sich herschiebend, als mehrere russische Raketen einschlugen. Das Mädchen wurde bei der Explosion getötet, die Mutter kam schwer verletzt ins Krankenhaus.[1] An jenem Tag Mitte Juli 2022 starben in der zentralukrainischen Stadt, weit weg von der militärischen Front, 23 Menschen, darunter neben Lisa Dmitrijewa zwei weitere Kinder, 140 Personen wurden verletzt.

Ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine fordert dieser noch immer täglich Tote und Verletzte; weiterhin zerstören Raketen und Artilleriegeschosse Häuser und Kraftwerke, Träume und Hoffnungen. Neben den Kämpfen in der Süd- und Ostukraine beschießt die russische Armee seit Monaten auch gezielt die kritische Infrastruktur des Landes – mit der Absicht, die Menschen zu zermürben, wenn sie in dunklen Wohnungen ausharren müssen, ohne duschen oder sich aufwärmen zu können.[2] Zu den größten Leidtragenden dieses ständigen Ausnahmezustands gehören die ukrainischen Kinder. Auf diesen Opfern der russischen Invasion liegt in der internationalen Berichterstattung allerdings nur selten der Fokus.

Laut der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft sind zwischen vergangenem Februar und Ende Januar insgesamt 459 Kinder gestorben, 914 wurden verwundet, 353 bleiben gemäß der Polizei verschwunden.[3] Zwar decken sich die Zahlen der Vereinten Nationen weitestgehend mit diesen Angaben – doch weil etwa verlässliche Zahlen aus den von Russland besetzten Gebieten und den frontnahen Landstrichen fehlen, dürfte die Dunkelziffer wesentlich höher liegen, davon gehen auch die ukrainischen Behörden aus. Tausende Kinder haben Angriffe zwar selbst überlebt, aber ihre Eltern, Geschwister, Freund:innen oder das Zuhause verloren. Sie alle sind durch den Krieg gezwungen, viel zu schnell erwachsen zu werden.

Laut Unicef hat praktisch keines der sieben Millionen zurzeit im Land lebenden Minderjährigen gesicherten Zugang zu Elektrizität, Heizung und Wasser. „Diese Kinder sehen einem trostlosen Winter entgegen, zusammengekauert in Kälte und Dunkelheit, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie oder wann sie sich erholen können“, sagt Catherine Russell, die Direktorin des UN-Kinderhilfswerks, in einer Stellungnahme. „Abgesehen von den unmittelbaren Gefahren, die der Frost mit sich bringt, wird den Kindern auch die Möglichkeit genommen, zu lernen oder mit Freunden und Familie in Kontakt zu bleiben, wodurch sowohl ihre körperliche als auch ihre geistige Gesundheit stark gefährdet ist.“[4] Gerade die Auswirkungen auf die Psyche sind in diesem Alter oftmals verheerend; Unicef spricht von einer „drohenden mentalen Gesundheitskrise“: Anderthalb Millionen Kinder seien bereits von Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischem Stress und anderen mentalen Erkrankungen betroffen. Die Kyjiwer Psychologin Kateryna Goltsberg schildert dem „Spiegel“ verschiedene Symptome von Traumata: „Neben Verschwiegenheit und Apathie sind da Aggressionen und Ticks wie Augenzucken oder häufiges Räuspern. Manche entwickeln sogar Krankheiten wie Asthma oder Schuppenflechte. Damit Kinder schreckliche Erlebnisse verarbeiten können, müssen sie unterstützt werden.“[5]

»Kein Kind hat Zugang zu geregelter Bildung«

Neben den direkten Folgen des Krieges für die Gesundheit der Kinder schränkt er deren Recht auf Bildung ein. Wie alles andere sind auch die Bedingungen dafür in den letzten Monaten immer schwieriger geworden: Zehntausende Kinder können nicht mehr regelmäßig zur Schule oder in den Kindergarten gehen. Dies nicht zuletzt, weil über 3000 Bildungseinrichtungen im Land beschädigt und fast 500 komplett zerstört sind, wie das ukrainische Bildungsministerium auflistet.[6] „Kein ukrainisches Kind hat mehr Zugang zu geregelter Bildung“, schreibt Unicef. Auch dadurch wird einer ganzen Generation die Zukunft genommen.

Als der russische Angriffskrieg vor einem Jahr begann, war das Schuljahr in vollem Gang. Zuerst wurden Schüler:innen und Lehrer:innen für zwei Wochen in die Zwangsferien geschickt, alle Einrichtungen schlossen ihre Türen – doch als absehbar wurde, dass der Krieg so schnell nicht vorbei sein würde, nahmen viele den Unterricht wieder auf – online. Eine Praxis, die bereits während der Coronapandemie weit verbreitet war und deshalb mehr oder weniger funktionierte.[7] Dies war auch ein Grund dafür, dass Lehrkräfte und Kinder, die nach Beginn der Invasion aus dem Land flohen, weiter unterrichten und lernen konnten. Das Bildungsministerium fällte zudem Entscheide, damit keine Lücken bei den Leistungsnachweisen der Schüler:innen entstehen: Es wies die Schulen etwa an, alle Kinder automatisch in die nächsthöhere Klasse zu versetzen und die Jahresendprüfungen ausfallen zu lassen. Die Abiturprüfung fand zwar trotzdem statt, konnte aber nicht nur im Land selbst, sondern auch in dutzenden Städten in ganz Europa absolviert werden, wie die „Ukrajinska Prawda“ berichtet.[8] So sorgte die Behörde zumindest in dieser Hinsicht für Chancengleichheit. Zum neuen Schuljahr im September 2022 öffnete dann rund die Hälfte der Schulen und Kindergärten wieder die Türen – jene, die den vorgeschriebenen Luftschutzbunker im Gebäude bereits hatten oder über die Sommerferien neu einrichten konnten. Die restlichen Kinder müssen weiterhin mit Fernunterricht vorliebnehmen – doch aufgrund der Stromausfälle infolge der Angriffe auf die kritische Infrastruktur ist der Zugang dazu oft nicht mehr gewährleistet.

Verändert haben sich nicht nur die Rahmenbedingungen des Lernens, sondern auch der Inhalt: So gilt seit diesem Schuljahr in der Ukraine ein neuer Lehrplan. In der Grundschule wird etwa unterrichtet, wie man verschiedene Arten eines Luftalarms auseinanderhält, was man im Falle eines Angriffs tun soll, wie man einen Schutzraum einrichtet, Erste Hilfe leistet oder mit Angst umgeht. Immer wieder üben die Kinder im Unterricht, wie sie rasch in den Keller kommen, wo der Unterricht bei Luftalarm weitergeht. Und ab der fünften Klasse gilt in Fächern wie Literatur und Geschichte ein neues Programm, wie etwa die „taz“ berichtet.[9] So werde den jungen Menschen nun etwa beigebracht, dass die Sowjetunion ein imperialistischer Staat gewesen sei, und wie sich die Ukrainer:innen der Repression dieses Staates widersetzt hätten. Aus dem Programm gestrichen worden seien Werke von vielen russischen Autoren, etwa Anton Tschechow, Lew Tolstoi oder Fjodor Dostojewski. Eingang in den Schulstoff hätten dafür Goethe oder Adam Mickiewicz gefunden. Der Unterricht droht damit zu einem ideologischen Kampffeld zu werden – in den von Russland besetzten Gebieten ist er das bereits. Russland nutzt die dortigen Schulen schon längst für Propagandazwecke: Der Lehrplan wurde geändert, vor allem im Geschichtsunterricht lernen die Kinder nun nur noch das, was dem Kreml genehm ist. „Nach Moskaus Plänen sollen die Schulen vor allem eine zentrale Rolle in der ideologischen Indoktrination der Kinder übernehmen und sie zu ‚russischen Patrioten‘ und Putin-Unterstützern machen“, schreibt etwa die Bildungsexpertin Tatiana Zhurzhenko.[10]

Dass dies meistens nicht freiwillig geschieht, legen diverse Berichte nahe. Demnach üben die Besatzungsbehörden Druck auf Lehrer:innen aus, damit diese ihren Schüler:innen die russische Sicht auf die ukrainische Geschichte vermitteln. So berichtete der „Guardian“ über den Fall einer Lehrerin, die sich weigerte, für die Besatzer:innen zu arbeiten, und deshalb entlassen wurde.[11] „Stellen Sie sich vor: Ich habe mehr als 25 Jahre an dieser Schule gearbeitet. Am Tag meiner Entlassung bin ich allein hinausgelaufen, trug eine Topfpflanze und einen Beutel mit Gedichten, Tränen flossen mein Gesicht hinunter.“ Kurze Zeit später sei sie bei einem Elternabend als „Verräterin“ denunziert worden, weil sie die Schule verlassen hatte. Daraufhin floh die Lehrerin in von der Ukraine kontrolliertes Territorium. Etwa ein Drittel der Lehrkräfte hätten sich dagegen zur Kollaboration bereiterklärt, einige aus Enthusiasmus, andere aus Pragmatismus.

Ähnliche Berichte darüber, wie Druck auf Lehrkräfte ausgeübt wird, sind aus den besetzten Gebieten immer wieder zu hören; der ukrainische Ombudsmann für Bildung spricht von „hunderten“ solcher Einflussnahmen. „Sie zwingen Lehrer, nach russischem Lehrplan zu unterrichten, sie bringen russische Lehrbücher mit, in denen steht, Ukrainer und Russen seien ein Volk, russischer Imperialismus, das volle Paket.“[12] Wer sich in der Ukraine umhört, stößt aber auch auf immer mehr Erzählungen von Lehrer:innen, die nach der Rückeroberung besetzter Städte durch die ukrainische Armee als Kollaborateure verfolgt würden. Ukrainische Politiker:innen fordern harte Gefängnisstrafen für jene, die mit dem russischen Bildungssystem kooperieren oder kooperiert haben. Russische Medienberichte legen derweil nahe, dass Lehrer:innen für die besetzten Gebiete auf der von Russland 2014 annektierten Krim-Halbinsel oder in Russland selbst angeworben werden; die Rekrutierung soll allerdings eher schleppend verlaufen.[13]

Quelle        :        Blätter-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben       —     Station der Metro Kiew, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine (2022) in einen Luftschutzbunker umgewandelt wurde

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Unten         —     Refugee children and babies in a basement in Kropyvnytskyi

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Ein Ukraine – Tagebuch

Erstellt von DL-Redaktion am 22. Februar 2023

„Krieg und Frieden“
Russisch im Lokal: Wenn Sprache in Scham mündet

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Aus Warschau von Sandro Gvindadze

Kürzlich war ich in Warschau, um eine Freundin aus Belarus zu besuchen. Zusammen mit ihren Freunden gingen wir in ein ukrainisches Fischrestaurant, das gerade neu eröffnet worden war. Wir waren zu viert, wir hatten uns lange nicht gesehen. Jedenfalls sprachen wir ziemlich viel miteinander. Laut und auf Russisch. Wie immer.

Die Speisekarte war auf Ukrainisch. Mit der Kellnerin, die unsere Bestellung aufnahm, sprachen meine Freunde Polnisch. Sie antwortete auch auf Polnisch, aber man konnte hören, dass sie Ukrainerin war. Ich schwieg. Als die Kellnerin weg war, stockte unser Gespräch. Ich schaute mich um. Überall hingen Plakate zur Unterstützung der Ukraine, überall hörte man ukrainische Gespräche. Es schien, als sei unser Tisch, von dem gerade noch Gelächter und die russische Sprache zu hören gewesen waren, zufällig hierher geraten.

Zum ersten Mal im Leben fühlte ich mich schuldig, weil ich Russisch sprach. Ich hatte den Wunsch, mich vor allen zu entschuldigen. Vor jeden einzelnen Tisch zu treten und zu sagen, dass ich ein schlechter Mensch bin. Denn ich war aus Georgien hierher gekommen, in ihren Raum, und sprach in der Sprache, die ihnen und ihren Vorfahren jahrzehntelang aufgezwungen worden war. Und heute wird in dieser Sprache dazu aufgerufen, sie zu töten.

Wenn ich mit ukrainischen Geflüchteten in Georgien Russisch sprach, fühlte ich mich anders. Vermutlich, weil ich als Journalist einfach meine Arbeit machte.

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Während ich schweigend meine Muscheln aß, stelle ich mir weitere Fragen: Hätte ich dieses Schamgefühl auch, wenn Russisch meine Muttersprache wäre? Wie würde ich mich verhalten, wenn Georgien ein Nachbarland überfallen hätte?

Ich glaube, dass die meisten Russen diese negativen Gefühle nicht verstehen. Es geht ihnen nicht in den Kopf, warum ihre Rede die Georgier verärgern könnte. Dabei gibt es Ansätze von Problembewusstsein. Einige Russen etwa fragen Georgier zuerst auf Georgisch, ob sie lieber auf Russisch oder Englisch sprechen wollen. Auch ich tat was gegen meine sozialen Ängste: Auf Ukrainisch bestellte ich ein Bier. „Djakuju“, sagte ich extra laut, damit alle hörten, dass ich etwas Ukrainisch sprechen kann.

Als wir das Lokal verließen, hatte ich den Eindruck, dass meine Freunde ähnliche Gedanken hatten. Das ist ziemlich traurig. Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur Hunderttausende Menschen getötet und verletzt sowie Millionen Menschen ihr Zuhause genommen. Er hat auch die russische Sprache auf Jahrzehnte vergiftet.

Quelle      :          TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Anne Frank in 1940, while at 6. Montessorischool, Niersstraat 41-43, Amsterdam (the Netherlands). Photograph by unknown photographer. According to Dutch copyright law Art. 38: 1 (unknown photographer & pre-1943 so >70 years after first disclosure) now in the public domain. “Unknown photographer” confirmed by Anne Frank Foundation Amsterdam in 2015 (see email to OTRS) and search in several printed publications and image databases.

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Unten        —         

Castle Square in Warsaw

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Ein Vorschlag zum Frieden

Erstellt von DL-Redaktion am 21. Februar 2023

Ukraine: Versöhnung nach dem Beispiel der griechischen Tragödie

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Das Dionysostheater

Quelle      :        INFOsperber CH.

Nicolai Petro /   

Das Mitgefühl muss die Wut ersetzen. Eine Versöhnungskommission könnte wie anderswo die verfeindeten Gruppen befrieden.

upg. Kaum ein Nicht-Ukrainer kennt die Ukraine so gut wie Nicolai Petro, Professor an der US-University Rhode Island. Er kennt Russland und die Ukraine auch aus eigener Anschauung. Sein neustes Buch heisst «The Tragedy of Ukraine»*. Im Folgenden ein Essay, das er auf Englisch für De Gruyter verfasste.

Im klassischen Athen hatte die «Tragödie» eine therapeutische und heilende Funktion. Sie ermöglichte es den Athenern, sich mit ihren tiefsten Ängsten und ihrem Hass auseinanderzusetzen und durch einen Prozess der Katharsis, der Sinnesänderung, zu überwinden. Eine Versöhnungskommission könnte die Funktion der antiken Tragödie übernehmen und die Entwicklung in der Ukraine beeinflussen.

Die Aufführung von Tragödien wurde im fünften Jahrhundert v. Chr. zu einem wesentlichen Bestandteil des athenischen öffentlichen Diskurses. Dank dieser Institution konnten sich die Bürgern mit den politischen und sozialen Krisen der Zeit auseinandersetzen. Tragödien bildeten das schlagende Herz der athenischen Demokratie, wo das öffentlich zur Schau gestellt wurde. Die Rückbesinnung auf die staatsbürgerliche Funktion der Tragödie könnte auch heute ein wertvolles Instrument sein, um soziale und politische Spaltungen zu überwinden.

Der britische Kulturtheoretiker Raymond Williams definierte die Tragödie ähnlich wie die antiken Athener. Die Tragödie soll sich sich auf die politischen und sozialen Folgen von tragischen Handlungen konzentrieren. Nach Williams «liegt die Tragödie nicht im individuellen Schicksal…, sondern im allgemeinen Zustand eines Volkes, das sich selbst reduziert oder zerstört, weil es sich seines wahren Zustands nicht bewusst ist».

Beim «Zustand» geht es um unser gemeinsames Versagen als Menschen. Der Politikwissenschaftler Hans J. Morgenthau bezeichnete das Versagen als «Schwäche der menschlichen Vernunft, getragen von den Wellen der Leidenschaft. Diese Schwäche betrifft alle Menschen, Griechen und Perser, Amerikaner und Russen.» Wir sind allzu oft besessen von Gerechtigkeit, die oft mit Rache verwechselt wird. Der verständliche Wunsch nach Vergeltung macht uns blind für das Mitgefühl, das notwendig ist, um die Gesellschaft zu verbinden und ihre Wunden zu heilen.

Im Fall der Ukraine hat eine jahrzehntelange nationalistische Politik die Ost- und Westukrainer in Fragen der Sprache, der Religion und der kulturellen Zugehörigkeit gespalten und dabei die Bande der bürgerlichen Identität zerstört. Die destruktiven Erzählungen der beiden Seiten über die jeweils Andere heizte eine tragische Spirale an. Das förderte Konflikte im Namen der Gerechtigkeit.

Indem beide Seiten darauf beharrten, dass vor jedem Gespräch die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit korrigiert werden müssten, trugen beide Seiten unwissentlich dazu bei, dass ihre gegenseitige Tragödie fortbesteht.

Für die alten Griechen kommt es zu einer Tragödie, wenn der Einzelne nicht erkennen kann, wie sehr sein eigenes Handeln zur gegenwärtigen Lage beitrug. Sie sahen die Lösung darin, den Zusammenhang zwischen Handeln und Katastrophe ins Zentrum zu stellen und die Hybris zu entlarven, die Menschen (und Nationen) daran hindert, die wahre Bedeutung von Gerechtigkeit – nämlich Barmherzigkeit – zu begreifen.

Sie versuchten, dies erlebbar zu machen, indem sie auf der Bühne die Schrecken nachstellten, die aus dem unnachgiebigen Streben nach Rache resultieren. Die griechischen Dramatiker hofften so, das Publikum zur Katharsis zu führen, einer Reinigung von Emotionen, die so stark ist, dass sie Raum für Gefühle wie Mitleid und Mitgefühl schafft und anstelle der Wut treten.

Aristoteles glaubte, dass die Katharsis die Gesellschaft von der endlosen Wiederholung eines tragischen Drehbuchs befreien kann, indem sie den Zuschauern vor Augen führt, wie ihr fehlendes Mitgefühl sie ins Verderben führte.

Bei den öffentlichen Aufführungen an den jährlichen Bürgerfesten, den Dionysien, sollten die Tragödien den Bürgern die verheerenden Folgen von Entscheidungen der Politik vor Augen führen.

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Historische Rekonstruktion des Dionysostheaters in römischer Zeit

Man kann sich die klassische griechische Tragödie als eine Reihe von Dialogen vorstellen, welche die Bürger mit ihren eigenen tragischen Fehlern konfrontierten. Erst wenn die Bürger zu begreifen beginnen, wie ihre eigenen Handlungen den Hass der anderen schüren, können sie einen anderen Weg einschlagen.

Versöhnungskommissionen als moderne Form von Tragödien

Die athenische Polis war klein genug war, um fast jedes erwachsene Mitglied der Gesellschaft in diese bürgerlichen Rituale einzubeziehen. In der modernen Gesellschaft scheint es keinen Mechanismus zu geben, der dieselbe Funktion erfüllen kann. Doch ein vergleichbares Verfahren gibt es seit mehr als vierzig Jahren und wurde in über 50 Ländern eingeführt: Wahrheits- und Versöhnungskommissionen.

Wie die Dionysien der Antike versuchen solche Kommissionen, tiefe soziale Traumata zu heilen und soziale Versöhnung herbeizuführen. In meinem Buch* untersuche ich, wie solche Kommissionen Südafrika, Guatemala und Spanien veränderten. Jedes dieser Beispiele hat der ukrainischen Gesellschaft etwas zu bieten.

  • In Südafrika spielten die anglikanische Kirche und insbesondere Erzbischof Desmond Tutu eine Schlüsselrolle, damit es statt zu gewaltsamer Vergeltung zu Vergebung und Heilung kam.
  • In Guatemala trug die Kommission (vor Ort als Historische Aufklärungskommission bekannt) dazu bei, trotz des Widerwillens der Militärregierung eine nationale Diskussion über die umstrittene Völkermordgeschichte des Landes zu fördern.
  • In Spanien vereinbarte ein Pakt zwischen den politischen Parteien des Landes, die Vergangenheit buchstäblich zu vergessen (Pacto de Olvido). Das gab neuen demokratischen Institutionen Zeit, sich zu entwickeln. Diese brachten schliesslich eine Zivilgesellschaft hervor, die in der Lage ist, die Vergangenheit in einem neuen und konstruktiven sozialen Kontext aufzuarbeiten.

In vielen Ländern waren Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in der Lage, als Therapie ergreifende emotionale Zeugnisse aller Seiten zusammenzutragen, öffentlich zu präsentieren und die Öffentlichkeit so zu einer Katharsis zu führen – einer Läuterung des gegenseitigen Hasses, die eine Heilung der Gesellschaft ermöglicht. Dem einst feindlichen Anderen wurde seine Menschlichkeit zurückgegeben.

Die Ukraine ist durch jahrzehntelange interne Zwietracht zerrissen. Durch Interventionen von aussen wurde diese Zwietracht noch verschlimmert. Eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, die den Ängsten und dem Leid aller Seiten eine Stimme gibt, und die darauf abzielt, ein von allen geteiltesbürgerliches Konzept der ukrainischen Identität zu schmieden, das niemanden ausschliesst, könnte einen wertvollen Beitrag zu einem dauerhaften Frieden leisten.

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Übersetzung: Infosperber

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Grafikquellen        :

Oben      —    Das Dionysostheater

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Die Seelen sind erschüttert

Erstellt von DL-Redaktion am 19. Februar 2023

Erdbeben in der Türkei und in Syrien

Ein Artikel von Cem-Odos Güler

Fast zwei Wochen nach dem Erdbeben in Syrien und der Türkei harren die Überlebenden in Zeltstädten aus. Sie brauchen auch psychologische Hilfe.

Auf dem Sportplatz spielen Kinder Brennball. Betul Abras steht am Rand und deutet auf ein Mädchen mit dunkelblauem Kopftuch. „Sie war nach dem Erdbeben unter den Trümmern eingeschlossen“, erzählt Abras, eine Psychologin. Durch ein eingestürztes Haus krabbelnd habe die 13-Jährige ihre beiden Schwestern befreien können, die unter einer umgefallenen Tür eingeklemmt lagen. Bei ihrem 7 Jahre alten Bruder habe das Mädchen gesehen, wie ihm Blut aus dem Mund lief. Später stellt sich heraus, dass der Junge gestorben war. „Dieses Kind wird diese Bilder nie vergessen“, sagt Betul Abras. Wir befinden uns in der türkischen Stadt Kilis.

Mehr als 40.000 Menschen sind durch die beiden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ums Leben gekommen, ungezählte mehr wurden verletzt. Dazu kommen viele Wunden, die nicht auf den ersten Blick zu sehen sind: Hunderttausende Menschen sind seit den Beben am 6. Februar traumatisiert, darunter auch viele Kinder.

„Du bist raus“, ruft ein Junge beim Brennball einer Frau zu, die eine rote Weste trägt. „Ich habe dich getroffen.“ Die Frau arbeitet für das türkische Familienministerium und hat mit drei Kolleginnen das Spiel auf dem Sportplatz in Kilis organisiert. Sie sind als psychosoziale Ersthelferinnen im Einsatz und kümmern sich vor allem um die Kinder in den zahlreichen Erdbeben-Nothilfe-Camps in der südtürkischen Stadt. Kilis hat etwa 120.000 Einwohner*innen, der Ort und die gleichnamige Provinz waren auch von dem Erdbeben betroffen, doch sind weitaus weniger schwer beschädigt als die Provinzen Hatay, Kahramanmaraş oder Adıyaman. Zerstörte Häuser sind kaum zu sehen, dennoch leben hier viele Menschen in Camps, die von der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD errichtet wurden.

Der Stabilität der Häuser traut kaum noch jemand

Aus Angst vor möglichen Nachbeben kehren viele Be­woh­ne­r*in­nen von Kilis nicht in ihre Häuser zurück. Zu präsent ist die Erinnerung an das Beben von vor zwei Wochen, das für fast zwei Minuten die Erde erschütterte und in einem Gebiet, das halb so groß wie Deutschland ist, Menschen unter Schutt begrub.

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Was in der gesamten Erdbebenregion jetzt am meisten gebraucht werde, seien warme Unterkünfte, Medizin, Essen und Wasser für die Betroffenen, sagt die 34-jährige Betul Abras. „Das Zweite, was dringend benötigt wird, sind Angebote für eine psychologische Unterstützung.“ Abras arbeitet in Kilis für die Malteser.

Die Malteser sind schon seit mehr als zehn Jahren in der Südtürkei tätig, mit 18 Leuten in zwei Büros, eines in Gaziantep, eines in Kilis. Von hier aus haben sie in den vergangenen Jahren Hilfsaktionen für Syrien organisiert, sie arbeiten mit vier Partnerorganisationen zusammen, die dort etwa Krankenhäuser betreiben. Jetzt haben die Malteser die Zahl ihrer Mit­ar­bei­te­r*in­nen in der Südtürkei aufgestockt, um Hilfe für die in vom Beben betroffenen Gebiete zu organisieren. Auch die Hilfslieferungen nach Syrien sollen ausgebaut werden. Dafür hat die Organisation fünf Lastwagen von Deutschland aus auf den Weg gebracht, sie sind beladen mit Medikamenten, Heizgeräten, Decken und Zelten.

Viele der Kinder, die in dem Lager im Kiliser Sportkomplex herumrennen, sprechen Arabisch. Sie stammen aus dem benachbarten Syrien und leben seit Beginn des dortigen Krieges mit ihren Familien in der Türkei. Wie tausende andere haben auch sie durch das Beben ihre Häuser verloren, nur dürfte ihre Lage jetzt doppelt schwer sein: Viele Sy­re­r*in­nen arbeiten in der Türkei als Ta­ge­löh­ne­r*in­nen und haben außerdem keine türkische Staatsbürgerschaft. Ihr Auskommen in den nächsten Monaten ist höchst ungewiss.

„Hol deine Freunde und komm spielen“, sagt eine Mitarbeiterin des türkischen Familienministeriums zu Betul Abras‘ Nichte. Auch Abras haust derzeit mit ihrer Familie in dem Erdbeben-Camp im Sportkomplex von Kilis. Die türkische Katastrophenschutzbehörde prüft derzeit Wohnhäuser auf mögliche Risse und andere Schäden, die durch das Beben entstanden sein könnten. Bis diese Kontrolle erfolgt ist, möchten auch Betul Abras und ihre Angehörigen noch nicht zurück in ihre Häuser.

Etliche Menschen im Camp sind aus Maraş und anderen vom Erdbeben betroffenen Städten in das weniger beschädigte Kilis geflüchtet und wohnen jetzt hier im Sportkomplex, der Platz für etwa 2.500 Menschen bieten soll. Auch das Mädchen, das seine beiden unter der Tür eingeklemmten Schwestern befreien konnte, lebte in Maraş – mit seiner syrischstämmigen Familie in einem mehrstöckigen Haus, das beim Erdbeben einstürzte. Erst acht Stunden, nachdem die 13-Jährige ihre beiden Geschwister befreien konnte, drangen Helfer zu ihnen durch und beförderten sie nach draußen. Vater, Mutter, Großeltern, Tante und drei Cousins überlebten. Der kleine Bruder des Mädchens und zwei ihrer Cousins nicht.

Betul Abras, Psychologin beim Malteser-Hilfsdienst„Viele der Erwachsenen hier haben noch kein einziges Mal geweint, um vor ihren Kindern stark zu sein“

Beschäftigungen wie Spielen oder Malen seien dringend benötigte Ablenkungen für die Kinder, sagt Psychologin Abras. Sie habe für die Kleinen Buntstifte und Papier geholt, aus den Beständen ihrer eigenen Familie, und alle Kinder seien gleich ins Malen versunken. Mit solchen Tätigkeiten könnten sie beginnen, das gerade erst Erlebte zu verarbeiten. In der Traumabewältigung für Erwachsene gehe es eher darum, mit Panikattacken zurecht zu kommen. Dafür seien Gespräche wichtig, aber auch Atemübungen oder Momente der Ruhe. „Viele Erwachsene hier haben noch kein einziges Mal geweint, um gegenüber ihren Kindern stark zu sein“, sagt Abras. Andere aber könnten irgendwann nicht mehr an sich halten, dann breche es aus ihnen heraus.

In Iskendurun, einer Stadt in der vom Erdbeben besonders schwer getroffenen Provinz Hatay, ist die komplette Gesundheitsversorgung zusammengebrochen. Das Krankenhaus in dem Ort mit einst 250.000 Ein­woh­ne­r*in­nen hielt den Erschütterungen nicht stand. Etwa hundert Menschen starben in seinen Trümmern, nur drei konnten lebend gerettet werden. Nun arbeiten die Ärzte in Iskendurun bis auf Weiteres in Zelten, die an der Krankenhausruine aufgebaut wurden. Allerdings gibt es nur eine Notaufnahme, die auch bloß eingeschränkt funktionieren soll.

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Am südlichen Stadtrand von Iskendurun am Messegelände steht eine weitere große Zeltlandschaft auf einem Schotter-Platz. Hier hat die spanische Agentur für internationale Entwicklungszusammenarbeit (AECID) ein Feldkrankenhaus eingerichtet. „Die Krankenhäuser in Iskendurun verfügten über Kapazitäten für 1.000 Betten. Jetzt haben sie gar keine mehr“, sagt Roberto Arranz, der örtliche Leiter. In den rund 30 Zelten, die die Spanier aufgebaut haben, befinden sich ein Operationssaal, eine Orthopädie, eine Gynäkologie – und eine psychiatrische Einheit. Eine Psychiater und eine Psychologin kümmern sich hier um die seelische Gesundheit der Menschen.

„Noch während wir hier am vergangenen Freitag aufgebaut haben, ist das Team in das benachbarte Camp gegangen und hat Gruppentherapie-Runden für die vom Erdbeben betroffenen Menschen angeboten“, sagt Arranz. Zwischen 500 und 1.000 Menschen haben in dem Expo-Areal von Iskendurun nun eine vorläufige Unterkunft gefunden.

Quelle       :         TAZ-online        >>>>>          weiterlesen

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Oben      —       im Uhrzeigersinn von oben links: Gaziantep, Adıyaman, Zitadelle von Gaziantep, Diyarbakır, Provinz Hatay (2mal)

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2.) von Oben       —     Karte der Anatolischen Platte, mit der Ostanatolischen Verwerfung (englisch East Anatolian Fault).