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Archiv für die 'Religionen' Kategorie

Pandemie und Glaube

Erstellt von Redaktion am 29. Dezember 2021

Glauben zwischen Wirrungen und Unwägbarkeiten in der  Pandemie

Els Caballets of Olot 2008.jpg

Haben sich diese Steckenpferd-Reiter ihre Schwerter von der STIKO ausgeliehen?

Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

In einem Dialog ließ die Wochenzeitung Der Freitag die ehem. Landesbischöfin und Oberhaupt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann (MK), mit dem selbsternannten Philosophen und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, Michael Schmidt-Salomon (MSS), darüber diskutieren, welche Rolle Religion in einer Pandemie haben kann.

Es war eine unausgewogene Debatte zwischen weiblicher Einfühlsamkeit und männlicher Radikalität, zwischen Respekt und Rassismus. Während MSS auf seinem Dauer-Steckenpferd der strikten Neutralität des Staates gegenüber Religionen gerade auch im Falle einer Pandemie reitet, argumentiert MK dahingehend, dass Religion den Menschen in einer Krise helfen kann. Während MK den Menschen in seiner Hilflosigkeit und Suche nach Rat sieht, pervertiert MSS die von einem Viruswinzling ausgelöste, weltweite Pandemie und Krise in eine Strafe Gottes, ohne sich einzulassen, von welchem der tausenden von Göttern dieser Welt er da eigentlich spricht.

Es sei dahingestellt, ob Versammlung gleich Versammlung ist, aber Gläubige, die still und mit Abstand voneinander beten, sind mit einer tanzenden Gruppe in engem Körperkontakt sicher nicht vergleichbar. Insofern geht die Forderung von MSS nach strikter Gleichbehandlung/Schließung von Versammlungen grob an der Realität vorbei. Auch mit seiner Forderung, dass „der Staat im Wettbewerb der Religionen und Weltanschauungen als unparteiischer Schiedsrichter“ auftreten soll, um glaubwürdig zu sein, ist falsch gesprungen.

Bei unserer Gewaltenteilung ist nämlich streng unterschieden, wer die Regeln setzt und wer darüber richtet. Und dem verschwurbelten Wortgefecht von MSS über Religions- bzw. Weltanschauungsfreiheit setzt MK die eher nüchterne Bemerkung entgegen: „Religionsfreiheit heißt, mit oder ohne Religion zu leben.“ So einfach! Ja, und dann sind da ja noch – zwar etwas vom Thema weg – die religiösen Feiertage. Mit denen hat das Virus nämlich schon gar nichts am Hut.

Aber MSS will unbedingt am Karfreitag tanzen und begründet das mit seiner Vorstellung von „toleranter Gesellschaft“ und dem zynischen Hinweis, das er es ja auch ertragen müsse, „dass Christen die Hinrichtung eines Menschen als Erlösung feiern.“ Si tacuisses philosophus mansisses! (Hättest Du geschwiegen, wärst Du [vielleicht] ein Philosoph geblieben). Da hat MSS die Kerngeschichte der Christen wohl immer noch nicht richtig verstanden!? Diese „bewusste Provokation“ kontert MK souverän mit dem Hinweis, dass „tolerieren“ etwas anderes als nur erdulden [ist]. „Bei „tolerieren“ ist es wichtig, Respekt vor dem anderen zu haben. Nur so können wir in diesem Land zusammenleben.“

Margot Käßmann 2013-03-07.jpg

Eine eher verworrene Diskussion um evolutionären Humanismus und identitäre Bewegungen endet für MSS mit der brutal rassistischen Bemerkung: „Aber ein alter, weißer Mann kann auch mal im Recht sein und eine schwarze, behinderte Lesbe im Unrecht.“ Pfui Deifi! Dann doch lieber in einem moderaten Glauben als mit einem brutalen Humanismus leben. In den Wirrungen und Unwägbarkeiten dieser Pandemie strahlt Margot Käßmann Ruhe und Vertrauenswürdigkeit aus. Ganz im Gegensatz zu MSS, der die Pandemie (wieder einmal) zur Verteidigung seines humanistischen Bekenntnisses missbraucht, obwohl er mit Sicherheit kein geprüfter Humanist mit Zertifikat der Humanistischen Vereinigung ist.

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Grafikquellen      :

Oben       —    Els Cavallets (little horses) during the dance of the giants at 07.09.2008 (Great festival of Olot 2008 at the Placa Major)

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Vor allem Gedächtnistheater

Erstellt von Redaktion am 28. Dezember 2021

Festjahr für 1700 Jahre jüdisches Leben

Besuch von Frank-Walter Steinmeier in Israel, Juli 2021 (KBCD17 1).jpg

Mein Gott, Onkel Walter — Politiker Ehre für kalte Steine

IsraelKippa.jpg

Von Katja Sigutina

Derzeit läuft das Festjahr für 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Doch unterstützt werden vor allem Projekte für nicht jüdisches Publikum.

In blauer Farbe prangte ein beträchtlicher Davidstern seit Oktober 2020 auf den Straßenbahnen in Köln, daneben stand in großen Lettern: Schalömchen Köln. „Die Bahn ist ein klares Bekenntnis zu unseren jüdischen Kölnerinnen und Kölnern“, zitierte die Jüdische Allgemeine Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker zur Einweihung der Stadtbahnen. Es waren Vorboten des freudigen Festjahres, das auf uns zurollen sollte: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland.

Gefeiert werden sollte das Jubiläum eines Dekretes, das Kaiser Konstantin im Jahr 321 erlassen hatte. Das Gesetz erlaubte Juden, städtische Ämter zu bekleiden, und gilt als historischer Beleg für die jahrhundertelange Existenz von Jüdinnen und Juden in Mitteleuropa. Heute dient die Schrift als Anlass, die Geschichte und Kontinuität jüdischen Lebens in Deutschland zu feiern.

Ich stand dem Festjahr von Anfang an eher skeptisch gegenüber. Relativ früh erfuhr ich von dem Verein „321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e. V.“ und damit der Möglichkeit, Projektanträge für Förderungen zu stellen. Der Fonds sei sehr hoch und stünde dezidiert für jüdische Themen zur Verfügung, hieß es. Zu dem Zeitpunkt war ich die erste Vorsitzende von TaMaR Germany e. V., dem ältesten progressiv-jüdischen Verein für junge Erwachsene in Deutschland.

So informierte ich mich über die Förderbedingungen und bekam dabei den Eindruck, dass eine Projektförderung nur mit einer gewissen Außenwirkung möglich war – also für Projekte, in denen jüdisches Leben oder Themen einem (nichtjüdischen) Publikum präsentiert werden. Für Projekte von TaMaR Germany, die darauf abzielen, jüdische Safe Spaces auf- und auszubauen und bei denen die Bedürfnisse der jüdischen Teilnehmenden priorisiert werden, waren die Förderungen offenbar nicht vorgesehen.

Wer feiert hier was?

Dies verstärkte meine Skepsis bezüglich des Festjahres. 1700 Jahre, was soll das eigentlich bedeuten? Kann es überhaupt wirklich etwas bedeuten, in einem Land, das vor weniger als 100 Jahren die Shoah zu verantworten hatte? Für wen hat diese abstrakte Zahl eine Bedeutung, und wer feiert hier was? Ist es eine Feier für jüdisches Leben auf „deutschem Boden“, eine Feier des Über- oder Belebens? Der Rückkehr?

Anfang 2021 wurden die dem Festjahr gewidmeten Förderprojekte veröffentlicht. Beim Durchscrollen der Webseite wurde mir schnell deutlich, dass das Programm in der Tat überwiegend an ein nichtjüdisches Publikum adressiert war: Jüdisches Leben wird erklärend vorgestellt, Videoclips mit Puppen informieren niedrigschwellig über jüdische Feiertage. Nach dieser Feststellung sank mein Interesse an diesem Festjahr gegen null, es hatte nichts mit meiner Lebensrealität zu tun und tangierte nicht die Fragen, die mich oder mein jüdisches Umfeld beschäftigen.

Sicherheitsgefühl gesunken

Einige Monate später, im Mai, eskalierte die Situation im Nahen Osten und sie eskalierte in Deutschland, zunächst im Internet und wenig später auf der Straße. In dem Jahr, in dem 1.700 Jahre jüdisches Leben gefeiert werden, sank mein Sicherheitsgefühl und das vieler anderer auf ein neues Minuslevel. Wir mussten erleben, wie massenhaft delegitimierende Inhalte gegen Israel verbreitet wurden und sich insbesondere über soziale Medien eine als „Israelkritik“ tarnende Hetzkampagne entfachte. Dass über Jahrhunderte kultivierte, internalisierte antisemitische Tropen und jüdische Feindbilder Hintergrund und Treibkraft des Ganzen sind, wird und wurde nur von Einzelnen reflektiert, und was bleibt, bis heute, ist ein anhaltendes Entsetzen und ein tiefsitzendes Unruhegefühl.

File:Berlin Holocaust memorial, 21 May 2005.jpg

Nur bei Politiker-Innen können kalte Steine Emotionen erwecken. Mit Denkmalen sollten die barbarischen Geschehnisse für  jeden Betrachter wieder Sichtbar werden.

Der von der Melde- und Dokumentationsstelle antisemitischer Vorfälle RIAS Berlin kürzlich veröffentlichte Bericht für die erste Hälfte des Jahres 2021 bestätigt diesen Eindruck mit ihren Daten: „Allein im Mai dokumentierte das Projekt 211 antisemitische Vorfälle – so viele wie in keinem anderen Monat seit Beginn der systematischen Dokumentation antisemitischer Vorfälle in Berlin seit 2015.“ In der Analyse wird ein klarer Zusammenhang zwischen der hohen Anzahl antisemitischer Vorfälle und der zeitgleichen Eskalation im Nahostkonflikt deutlich.

Hohe Bedeutung der „Querdenker“

Die Auswertung belegt auch die Bedeutung der „Querdenker“-Demonstrationen als einen weiteren Herd für verstärkte antisemitische und Shoah-revisionistische Äußerungen. Sie verweist darauf, dass fast 15 Prozent aller antisemitischen Vorfälle im ersten Halbjahr in Bezug zu sogenannten Anti-Corona-Protesten stehen. Die „Querdenker“-Bewegung und die damit einhergehende Debatte darüber, ob es vertretbar sei, mit offen rechtsradikalen Gruppen und Nazis gemeinsam zu demonstrieren, entspannten das bereits erwähnte nagende Unruhegefühl nicht.

Waren die bisher beschriebenen Ereignisse Zustände, die mir bereits bekannt vorkamen, so kam es im Sommer 2021 zu einer, zumindest in meiner Wahrnehmung, Premiere in deutschen Feuilletons. Der jüdische Status des Autors Max Czollek wurde flächendeckend diskutiert. Ungeachtet der Tatsache, dass die Frage nach jüdischer Zugehörigkeit gemäß der Halacha bereits seit Jahrzehnten in jüdischen Gemeinden und Kreisen debattiert wird, war es doch besonders unangenehm zu beobachten, wie sich diejenigen, die vermutlich gerade erst zum ersten Mal von der Halacha hörten, schon heute zu Ex­per­t*in­nen stilisierten. Besonders deutlich wurde dies in den Kommentarspalten und auf sozialen Medien, aber auch in einzelnen Meinungstexten.

Altbekanntes Dominanzverhalten

Das außerordentliche Interesse und die Aufmerksamkeit, die der innerjüdischen Uneinigkeit bezüglich dieses Themas zuteil wurde, hatte zunächst einen frischen Anstrich, da es sich um eine real existierende jüdische Debatte handelte, an der nichtjüdische Menschen ein gesteigertes Interesse zeigten. Und das, obwohl es sich dabei ausnahmsweise einmal nicht um Israel, die Shoah oder Antisemitismuserfahrung handelte. Schnell blätterte das Neue ab und zeigte ein altbekanntes Dominanzverhalten, in dem die Nichtbetroffenen, in diesem Falle also nicht-jüdische Menschen, ihr vermeintliches Ex­per­t*in­nen­tum präsentierten. Es ist schlicht und ergreifend unangenehm, wenn nichtjüdische Deutsche bestimmen wollen, wer legitim jüdisch sei. Es weckt negative Erinnerungen.

Quelle        :          TAZ-online         >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Der Bundespräsident besucht Israel. Der Präsident von IsraelReuven Rivlinund der Bundespräsident von DeutschlandFrank-Walter Steinmeier nahm an einer Kranzniederlegungszeremonie im Yizkor-Zelt in Yad Vashem teil und besuchte die Fotoausstellung „Flashes of Memory“ im neuen Sammlungsgebäude des Museums. Donnerstag, 1. Juli 2021. Bildnachweis: Kobi Gideon / GPO.

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2.) von Oben      —          Kippa from Israel tapestry crocheted with single crochet stitches, inserting the hook under both top loops.

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Unten      —     Berlin, Deutschland: Holocaust-Mahnmal

Quelle: von mir selbst aufgenommen am 21. Mai 2005

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Diese eigenartigen Zeiten

Erstellt von Redaktion am 26. Dezember 2021

Ausblick auf Weihnachten 2022

Brrrr-schnatter –  Die Nadeln waren auch schon weicher und die kälte wärmer.

Von Arno Frank

Der Opel Omikron vom Schwager steht vor der Tür, wir husten uns an und am Tannenbaum hängen alte Schnelltests. Eine liebevoll-dystopische Vision.

Weihnachten 2020 war eine psychosoziale Katastrophe. Weihnachten 2021 wird sich anfühlen wie der zweite Teil von „Alien“ – ebenso heftig wie der erste Film, aber immerhin wissen wir nun, wo das Monster lauert und was es im Schilde führt.

In diesen eigenartigen Zeiten aber macht niemand keine Fehler. Früher oder später werden wir alle wieder miteinander reden und uns, wohl oder übel, folglich auf Weihnachten 2022 wieder freuen können müssen. Und sei es nur auf die altbekannten Monster, uns selbst und die bucklige Verwandtschaft.

Wir werden guten Gewissens mit dem Auto nach Hause fahren, zu den Eltern mit ihrem Obstgarten im Mittelgebirge. Der Zug ginge auch, die Maskenpflicht ist aufgehoben, die Taktung erhöht. Aber der Geschenke sind zu viele, das Auto mit dem geräumigen Kofferraum ist neu, duftet noch nach Grünheide und hat frische Lithium-Ionen-Akkus. Wir werden es unterwegs nur zweimal aufladen müssen.

Das Laden geht schnell. Wenn wir uns dabei nicht gerade zulächeln, erfreuen wir uns am erhebenden Blick auf die endlosen Reihen an Windrädern, die unsere Autobahnen säumen. Zwar ist es windstill, aber die Rotoren drehen sich dennoch. Weil uns inzwischen etwas fehlen würde, drehten sie sich nicht. Angetrieben werden sie halb vom Fahrtwind des Verkehrs, halb vom restlichen Kohlestrom – das war Teil des „Gute-Kompromisse-Gesetzes“.

Last Christmas? Verboten!

Wir sind schon fast am Ziel, da läuft im Radio schon wieder „Halt Dich an Deiner Liebe fest“, ich kann es nicht mehr hören. Du schaltest um, es läuft „Driving Home for Christmas“, da singen sogar die Kinder mit. Uns fällt auf, dass „Last Christmas“ dieses Jahr nirgendwo zu hören war. Niemand will an die letzten beiden Weihnachtsfeste erinnert werden, und so wird Kulturstaatsministerin Claudia Roth das Lied kurzerhand verboten haben.

Im Mittelgebirge liegt überall Schnee. Nicht weil es geschneit hätte, dazu ist es noch viel zu warm. Sondern weil die Hügel im Rahmen des „Frohe-Weihnachten-Gesetzes“ mit Schneekanonen beschossen werden. Die Regierung hat erkannt, wie wichtig es ist, auf die Stimmungen in der Bevölkerung zu achten.

Alles sei, wie es zwar früher nicht war, in der Erinnerung aber gewesen sein könnte. Ein erster Schritt in diese Richtung waren staatliche „Mikrozärtlichkeiten“, von den Schneekanonen über Prämien fürs Richtigparken (Sternchen in Flensburg) bis zu parfümierter Post vom Finanzamt.

Längst haben wir vergessen, wer wann welche Fakten leugnete. Wer mit wem nicht mal mehr telefoniert hat

Mama kommt uns auf der Treppe entgegen und knuddelt erst die Kinder, bevor wir uns alle anhusten. Das Husten vertreibt die bösen Geister des letzten Jahres. Papa steht in der Tür und ruft: „Da sind sie ja, unsere Leugner!“, und wir lachen herzlich. Längst haben wir vergessen, wer wann welche Fakten leugnete und wer mit wem nicht einmal mehr telefoniert hat. Was in der Vergangenheit passierte, bleibt in der Vergangenheit.

Papa will wissen, warum wir so lange gebraucht haben für die Fahrt. Du erklärst ihm, dass uns das Navi nördlich an Thüringen vorbeigeführt hat, weil die Grenzkontrollen an der A 9 und der A 71 zu lange gedauert hätte. Wir haben dafür Verständnis und gelernt, auch solche politischen Entscheidungen zu tolerieren, an denen wir nichts ändern können. Besser Separatismus als Spaltung, da sind wir uns einig und wünschen den neuen Machthabern in Thüringen alles Gute.

Die Schwester und der Schwager sind auch schon da, wir erkennen es an ihrem Opel Omikron in der Auffahrt. Seit das Automobil an Bedeutung verliert, greifen die Hersteller zu ironischen Typbezeichnungen. Der Schwager hatte eigentlich einen hyperhybriden Toyota Triage kaufen wollen, der allein vom guten Gewissen seines Fahrers angetrieben wird. Den Namen aber fand die Schwester dann doch daneben.

Sie arbeitet in einem Altenheim mit angeschlossenem Sanatorium und stand deshalb lange unter Stress. Jetzt steht sie in ihrem schlichten Schwarzen von Dior in der Küche und würzt die Weihnachtsgans, die Brille von Gucci in die Haare geschoben.

Es tut ihr sichtlich gut, dass der Staat nun weniger in die Prävention und mehr in die Pflege investiert. „Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts“, sagt sie und zieht ihre FFP2-Maske von Glööckler ganz keck unter die Nase. Nötig ist die Maske im Grunde gar nicht mehr, wie sogar Lothar Wieler einräumen musste („Macht doch, was ihr wollt!“). Die Schwester trägt sie nur als modisches Statement.

Die Phi-Variante aus Venezuela war wie die Sigma-Variante aus Kanada, also noch ansteckender als die gute alte Omikron-Variante aus Südafrika, aber nicht so tückisch wie die Chi-Variante aus Sachsen, die sich zur Überraschung seriöser Expertinnen tatsächlich mit einem Entwurmungsmittel für Pferde behandeln ließ.

Die aktuelle Psi-Variante aus Liberia hingegen ist kaum infektiös, angeblich mit Ebola verwandt, was manche Fachleute (für Rassismus) für rassistisch halten, andere Fachleute (für Tropenmedizin) aber nur ein müdes Schulterzucken entlockte. Laien allerdings waren über die Symptome einigermaßen beunruhigt. Infizierte haben zunächst leichtes Fieber, bluten dann aus den Augen, lallen Wirres und fallen endlich auf der Straße tot um.

Dieser für mitteleuropäische Verhältnisse eher drastische Anblick hatte im Herbst 2022 die Impfskeptiker dann doch skeptisch werden lassen, zugleich aber auch die Impfbereitschaft von Befürwortern gedämpft. Denn mit Fruit Dragees von Mentos lässt sich eine Infektion mit Psi auch ganz gut vermeiden. Mama meint, der Graben quer durch unsere Gesellschaft habe sich mit Süßigkeiten gefüllt. Deshalb stehen die Bonbons auch in der alten Porzellanschale von Oma Hildegard im Wohnzimmer immer bereit.

Die Tanne ist neben den Christbaumkugeln mit alten Schnelltests geschmückt, die sehen aus wie kleine Eiszapfen. „Alter Falter!“, sagt der Schwager, obwohl er genau weiß, wie ich diese Formulierung hasse. „Früher war mehr Lametta“, sagt die Schwester, aber der Witz ist irgendwie unpassend. War früher nicht gar kein Weihnachten?

Der Berg mit den Geschenken ist eher ein Gebirge, so lange haben wir uns schon nicht gesehen. Gesungen werden die alten Lieder, und Papa singt absichtlich falsch. Die Kinder packen ihre Geschenke aus und weinen ein wenig, weil sie im kommenden Jahr wieder „unter die Leute müssen“. Ein Leben ohne Corona, das sind sie nicht mehr gewohnt.

Quelle         :          TAZ-online           >>>>>          weiterlesen

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Oben          —        Bundeskanzlerin Deutschland Federal Chancellor Germany

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Wie Menschen riechen:

Erstellt von Redaktion am 25. Dezember 2021

Parfümiert Euch!

Von Doris Akrap

Muss man Körpergeruch aushalten wie Schamhaare? Nein! Parfum ist schon in der Weihnachtsgeschichte ein Geschenk des Himmels.

Gottes Sohn stinkt. Glauben Sie nicht? Stimmt aber. Jedenfalls wenn man der Bibel vertraut, der einzigen Quelle für die Behauptung, dass vor nunmehr auf den Tag genau 2021 Jahren der Heiland geboren wurde.

„Es riecht nach Weihnachten“, denkt und sagt jeder, der in christlichen Kontexten aufgewachsen ist, automatisch, bloß wenn es mal ein wenig nach Zimt, Nelke, einem Spritzer Apfel, einem Hauch Mandel und einem Krümel Lebkuchen riecht. Dabei dürfte es an Jesu Geburtstag im Stall zu Bethlehem im buchstäblichen Sinn tierisch gestunken haben, nach Ochs und Esel. Von lieblichem Weihnachtsduft, getränkt von Vanillekipferln, Glühwein, Marzipan, Tannenbaum und Kerzenwachs ist jedenfalls in der „Es begab sich aber zu der Zeit …“ -Story von Lukas keine Rede. Und auch nicht in der Reportage seines Kollegen Matthäus.

Dank der Recherchen von Matthäus wissen wir aber, dass einige Tage nach der Geburt von Gottes Sohn drei Sterndeuter auftauchten – dass wir die heute als „die Heiligen Drei Könige“ bezeichnen, geht auf mittelalterliche Fake News zurück – und Geschenke mitbrachten. Drei Dinge hatte die drei Jungs dabei: Gold, Weihrauch und Myrrhe. Mit Ausnahme des Goldes (damals so üblich) waren es also Duftstoffe (bis heute so üblich).

Weihrauch, das beim Verbrennen einen kräftigen, würzigen Geruch verbreitet und Myrrhe, das duftende Harz eines immergrünen Baumes, das damals multifunktional als Deo, Parfum und Raumspray (meist bei Beerdigungen) eingesetzt wurde. Bis heute ist Duftstoff beziehungsweise Parfum ein Weihnachtsgeschenkklassiker, und man tut ihm unrecht, wenn man es als fantasieloses Last-Minute-Präsent bezeichnet. Denn ganz offenbar war Parfum das erste Weihnachtsgeschenk in der Geschichte der Weihnachtsgeschenke.

Bauplan für den perfekten Geruch

Tausende Jahre beackerten Kohorten von Bibelexegeten, Historikern und Krippenbauern die Frage: Warum Myrrhe, warum Weihrauch? Sie lieferten sich große Interpretationsschlachten, wussten dies und jenes besser. Aber auf die naheliegende Antwort kam keiner von ihnen: um den Geruch von Ochs und Esel zu vertreiben. Hätte man schließlich einem nach Stall und Schweiß riechenden armen Schlucker abgenommen, dass er Gottes Sohn ist?

Der Schriftsteller Patrick Süskind ist einer der wenigen, der das olfaktorische Element in den Schöpfungsmythen erschnuppert hat. In seinem Roman „Das Parfum“ – der zu den weltweit am meisten verkauften deutschen Romanen zählt – lässt er seinen Antihelden Jean-Baptiste Grenouille erkennen, dass Gott den Menschen stinkend erschaffen hat.

Diese Erkenntnis treibt Grenouille dazu an, ebenfalls ein Schöpfergott zu werden. Aber ein perfekter. Einer, der den Fehler in Gottes Bauplan mit einem eigenen Bauplan für den perfekten Geruch übertrumpft (von Grenouille stammt auch der wunderbare Satz „Gott stinkt“).

Vertreibung der stinkenden Seelensorgen

Grenouille wird zum Mörder, um sein himmlisches Parfum zu kreieren. Die Puristen unter den Naseweisen erklären das so, wie Schöpfergott und Wissenschaftler es tun würden: Grenouille musste scheitern, so wie jeder scheitern muss, der meint, er könne es Gott gleich tun (Prometheus, Faust, Frankenstein).

Und die Verfechter der reinen Seele (Kulturprotestanten, Bioladen-Abonnenten, Aussteiger) würden sicher noch einwenden, dass man seinen Körpergeruch ohnehin nicht loswerden könne, da helfe auch kein Vollbad in Eau de Parfum. Es sind die gleichen Leute, die auch daran glauben, dass man zu seinem Körpergeruch stehen muss wie zu Schamhaar, familiärer Hypercholesterinämie und der Verfassung. Leute, die wie Schöpfergott und Wissenschaft nichts übrig haben für Versuchung und Verführung, für Illusionskunst und flüchtige Wahrheiten.

Das alles aber ist Parfum.

Wer es protestantisch-asketisch mag, wird Parfum immer für überflüssig, dekadent und unnatürlich halten. Wer so denkt, dürfte sich konsequenterweise aber weder die Haare kämmen noch die Zehennägel schneiden und maximal drei Mal in seinem Leben eine neue Unterhose kaufen.

Wer es lieber katholisch-grenzüberschreitend mag, kann gar nicht genug Flakons zu Hause rumstehen haben. Denn wer sich nicht ständig auf die Suche nach seinem wahren Ich oder seinem unverfälschten Selbst begeben oder sich mit seinem unvollkommenen Körper zufrieden geben will, nimmt ein paar Sprühstöße und vertreibt damit alle stinkenden Seelensorgen. Und wer auf die zunehmende Protestantisierung des Alltags (Scham, Moral, Verzicht, Mäßigung) und ein damit einhergehendes Leben mit angezogener Handbremse keinen Bock hat, sollte immer noch einen Sprühstoß extra auflegen.

Schutz vor Schnüfflern

Ob Atheist oder bibelfest, es gibt auch einen ganz praktischen Grund, sich in einen Geruch zu hüllen, der den des eigenen Körpers zu verdecken versucht: den Schnüffler. Also den Hund, beziehungsweise die Odorologie, die kriminalistische Methode der Täteridentifizierung mittels Körpergeruch.

Zuerst von den Niederländern Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt, wurde die Technik der „Geruchsdifferenzierung“ vor allem von der Stasi verfeinert, in der DDR der 1970er Jahre: man steckte Stofflappen mit dem Geruch eines Körpers in luftdicht verschlossene Glasbehälter. Auf diese Weise sollte ein Archiv aufgebaut werden, in dem jeder Staatsbürger mit einer Duftprobe vertreten sein sollte.

Quelle        :         TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Oben     —      Ausschnitt aus einer über Jahrzehnte entstandenen privaten Krippenlandschaft, ausgestellt im Stadtmuseum Mülheim-Kärlich

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KOLUMNE * ERNSTHAFT?

Erstellt von Redaktion am 24. Dezember 2021

Die Dämonen abschütteln

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Kolumne von Ulrike Winkelmann

Zu den Dingen, an die Leute um mich herum glauben, gehört: dass ein Sternbild etwas über den Charakter aussagt; dass ein Bernsteinkettchen dem Baby beim Zahnen hilft; dass Halbedelsteine je nach Sternzeichen Glück bringen; dass Mikrowellengeräte das Essen vergiften; dass Bachblütentropfen innere Kräfte ins Gleichgewicht bringen.

Wissen Sie noch, damals, als all dies zu den Schrullen gehörte, die wir aneinander dulden oder sogar irgendwie mögen konnten – nach dem Motto: Schließlich hat hier jeder sein Päckchen zu tragen? Anderswo stehen seit vielen Jahrhunderten Männer vor Altären und erzählen, eine Jungfrau habe ein Kind geboren.

Es gibt in Berlin ein Museum für surrealistische Kunst. Die Sammlung Scharf-Gerstenberg ist nicht besonders bekannt, und um die vielen feinen Kohlezeichnungen wirklich gut zu erkennen, muss man sich manchmal so weit vorbeugen, dass der Alarm lospiept und der Wärter mahnend um die Ecke schaut. Zu sehen sind Bilder von Abgründen, Dämonen, Albträumen; das ganze Museum ist eine große Anrufung des „Es könnte alles ganz anders sein, und zwar düsterer, als du denkst“. Wer sich die unwirklichen Kerker, die verzerrten Gesichter, die wüsten Landschaften angeschaut hat, fühlt sich vielleicht wirklich besser, wenn er danach sein Magnetarmband berührt. Andere testen lieber den Blaubeerkuchen im Museumscafé.

Es hätte so alles weiterhin seine wunderbarste magische Ordnung haben können, wenn nicht die Impffrage plötzlich dazwischengekracht wäre. Die Möglichkeit, uns mit Biontech, Moderna et al. vor Covid zu schützen, hat das Gewebe des Einverständnisses darüber, was Vernunft ist und wo sie hingehört, zerstört. Es ist eine Art pandemische Gretchenfrage – „Nun sag, wie hast du’s mit der Impfung?“ –, die seit Monaten auch Teile meines sozialen Umfelds durchpflügt.

Ulrike Winkelmann - Zukunft des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks (34715387826).jpg

Die Dialoge sind Schwerstarbeit. Dinge, die uns sonst zusammenhielten, tragen auf einmal zur Trennung bei. Das unter Freundinnen sonst geteilte Gut Feminismus etwa wird aufs Äußerste, sagen wir: strapaziert. Gemäß der fatalen Idee, dass Medizin auch nur eine Ausformung des Patriarchats sei, lassen sich viele Frauen lieber von Menschen ohne medizinische Ausbildung etwas über ihre Gesundheit erzählen als von Menschen mit medizinischer Ausbildung. Im Ergebnis fallen dann Sätze wie: „Ich kenne meinen Körper, der braucht/verträgt keine Impfung.“

Quelle      :        TAZ-online           >>>>>           weiterlesen

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Oben     —     Biblische Darstellung Buch change me! Kapitel 5

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Poetical – Correctness

Erstellt von Redaktion am 22. Dezember 2021

Eine pandemische Festtags-Geschichte

Kolumne von Lin Hierse

Es begab sich aber zu der Zeit, dass eine Empfehlung von Ex­per­t:in­nen ausging, dass alle Welt geimpft würde und es sofortige Kontaktbeschränkungen geben müsste. Diese Maßnahmen waren wichtig, da seit zwei Jahren eine furchtbare Pandemie wütete, eine kaum erforschte Virusvariante das Infektionsgeschehen beherrschte und niemand Kenntnis von einem besseren Mittel zu dessen Eindämmung hatte.

Und so sollte je­de:r losgehen, sich piksen zu lassen, zum Schutz der eigenen Gesundheit und auch für die Nächsten und Übernächsten. Da machte sich auf auch Marya, auf dass sie sich boostern ließe, allerdings ohne ihren Partner Jo, der war ein Impfverweigerer, und Marya hatte ihn deshalb verlassen, sie konnte sein Gerede von „Unterdrückung“ nicht ertragen. Außerdem war sie schwanger und sorgte sich um das Kind.

Als die Zeit kam, dass Marya gebären sollte, hatte sie große Angst, denn Hebammen gab es zu wenige, medizinisches Personal war so erschöpft, wie noch niemals jemand erschöpft gewesen war – die Regierenden hatten das Gesundheitssystem jahrelang kaputtgespart. Doch Marya hatte Glück, es fand sich ein Bett in einem Krankenhausflur, wo sie 30 Stunden kämpfte, bis sie ihr Kind im Arm halten konnte.

„Von was für einer Welt soll ich dir nur erzählen“, flüsterte Marya dem Säugling erschöpft ins Ohr, während sich auf den Straßen Menschen versammelten. Manche kleideten sich wie Hirten, klemmten sich Masken unters Kinn und trugen Schilder, auf denen geschrieben stand, sie kämpften gegen eine Diktatur. Oft gingen sie dabei gemeinsam mit solchen, die bei der Diktatur in diesem Land vor 80 Jahren begeistert mitgemacht hätten. Nicht selten fanden welche, dass damals „doch nicht alles schlecht gewesen ist“.

Andere wiederum mussten trotz des Gebots der Kontaktreduzierung lange Stunden unter vielen Menschen arbeiten, oder gleichzeitig Kinder betreuen und arbeiten, oder sich in ungeheizten Klassenzimmern dem hoch ansteckenden Virus aussetzen. Denn über allen Geboten lag in dieser Welt das Gebot, den heiligen Geist der Wirtschaft zu schützen.

Als Marya dann ihren Sohn erzählen wollte, wer denn der wahre Vater sei, wurde sie von der Erleuchtung überrascht:  „Der da Oben konnte es doch gar nicht gewesen sein, das war doch der Erfinder des Kondom und benutzte es auch, als er mir Beischlief.“

Quelle       :     TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Beispiel einer Freikrippe (Schwimmende Krippe in der Veldener Bucht auf dem Wörthersee)

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Unsere Weihnachtsmärchen

Erstellt von Redaktion am 21. Dezember 2021

Es gibt nur eine Lüge, die sich lohnt

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Von Benjamin Weber

Wir leben mit einer Lüge, meine Freundin, unsere Tochter und ich. Zwei von uns wissen das, eine nicht.

Dieses Weihnachten wird das letzte sein, an dem unsere Tochter glaubt, dass der Weihnachtsmann die Geschenke bringt. Das vermute ich zumindest. Sie ist sechs Jahre alt, und in der Schule kursiert eine unglaubliche Geschichte: „Der Weihnachtsmann, das sind in Wirklichkeit die Eltern.“ Die Theorie kommt immer mal wieder auf, und wir widersprechen auch nicht, wenn sie davon erzählt. Wir bleiben eher vage. Sollte sie konkret fragen, sind wir bereit, die Wahrheit zu sagen. Doch das hat sie noch nicht getan, und bis es so weit ist, halten wir die schöne Illusion aufrecht

Oder die Lüge. Denn, wenn man ehrlich ist, ist die Geschichte vom Weihnachtsmann nichts anderes. Ein großer Betrug, an dessen Ende womöglich eine große Enttäuschung steht. Wir Menschen lügen oft. Etwa zweimal pro Tag, sagen aktuelle Studien. Manchmal aus Höflichkeit, manchmal mit böser Absicht, manchmal liegt die Motivation zur Unwahrheit irgendwo dazwischen. Die Weihnachtslüge passt da nicht rein: Sie ist eine vorsätzliche falsche Erzählung mit dem Zweck, Kindern eine Freude zu machen. Ist das richtig so?

Wir haben lange diskutiert, vor fünf Jahren. Eigentlich war uns klar, dass wir in der Erziehung nicht mit Unwahrheiten agieren wollen. Religiös sind wir auch nicht – gute Argumente gegen den Weihnachtsfake.

Lebkuchen für den Weihnachtsmann

Andererseits hätte das bedeutet, dass unser Kind jedes Jahr um Weihnachten herum eine schwere Bürde hätte tragen müssen. Die Herausforderung nämlich, es besser zu wissen als die vielen Kinder, die an Weihnachten glauben, und dennoch nichts zu verraten. Oder am Ende das unbeliebte Kind zu sein, das die Wahrheit erzählt und die magischen Träume der anderen zerstört. Sehr viel Verantwortung für ein kleines Mädchen und ein gutes ­Argument für die Weihnachtslüge, fand ich damals.

Denn das andere große Argument liegt ja eh auf der Hand: die Freude. Das leichte Schaudern angesichts des großen Unbekannten, der einmal im Jahr vorbeikommt, weiß, wo das Kind wohnt und Geschenke dabei hat. Unsere Tochter malt ihm Bilder, schreibt ihm Briefe, stellt ihm Wasser und Lebkuchen vor die Tür. Denn da legt der rücksichtsvolle Weihnachtsmann die Geschenke ab, weil er gehört hat, dass unsere Tochter die Vorstellung unheimlich findet, wie er allein durch die Wohnung tappt. Es ist eine große Freude, bei all dem zuzuschauen. Ein Gänsehaut verursachender Zauber, auch für mich als Vater.

Neulich hat mich ein kürzlich Vater gewordener Bekannter um Rat gefragt. Weder er noch seine Freundin sind religiös. Was erzählt man, wer die Geschenke bringt? Soll man Weihnachten überhaupt feiern? „Ich weiß nicht, ob ich es übers Herz bringe, meinem Kind etwas zu schenken, weil Jesus an dem Tag geboren wurde und auch was bekommen hat“, schrieb er, und das konnte ich gut verstehen. Außerdem: Wenn man jetzt Weihnachten einführe, fand er, müsse man ja so konsequent sein und die großen Feste der anderen Religionen genauso feiern, Chanukka zum Beispiel oder das Opferfest oder Buddhas Geburt. Ich schrieb ihm, dass ich das grundsätzlich für eine gute Idee halte, bloß stressig in der Umsetzung vielleicht?

Der Vorteil vom Weihnachtsmann sei, so schrieb ich, dass er auch ohne den christlichen Hintergrund und so losgelöst von Religion funktioniere. Wenn jetzt jemand einwenden möchte, dass die Figur des Weihnachtsmanns, wie wir ihn heute kennen, auf den Coca-Cola-Konzern zurückgeht und unser Umgang mit dem Kapitalismus quasireligiöse Züge trägt, dann kann ich nur sagen: Touché.

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So ähnlich argumentiert hat letzte Woche ein katholischer Bischof auf Sizilien. „Den Weihnachtsmann gibt es nicht“, rief er während einer Messe, er sei nur ein Symbol für die Konsumgesellschaft. Blöd nur: In der Basilika waren auch Kinder anwesend. Träume zerplatzten. Viele der Eltern beschwerten sich anschließend über den unerwarteten Geheimnisverrat, sodass sich die Kirchengemeinde gezwungen sah, sich öffentlich dafür zu entschuldigen.

Gern wird gesagt, mit der Lüge vom Weihnachtsmann, die irgendwann auffliegen wird, sorge man dafür, dass die Kinder früh in ihrem Leben eine große Enttäuschung erleben, die sie in ihrem Grundvertrauen erschüttern kann.

Ich frage mich: Muss man es nicht andersherum betrachten?

Kinder sind nicht dumm, sie bekommen viele Sachen mit. Klimawandel, Rassismus, Ungleichheit, all das sind Themen, über die ich schon öfter mit meiner Tochter gesprochen habe. Nichts davon habe ich von mir aus angesprochen, nein, sie hatte Fragen. Von sich aus. Auch zur Pandemie: Natürlich bekommen die Kinder mit, dass Erwachsene längst geimpft sind und wieder in die Kneipe, zu Konzerten und ins Stadion dürfen, während ihre Geburtstage ausfallen, der Laternenumzug abgesagt wird und sie erst jetzt so langsam mit Impfstoff versorgt werden.

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IS – Mordprozess

Erstellt von Redaktion am 4. Dezember 2021

IS – Mordprozess – Völkermord, überall

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Ein Gastbeitrag von Thomas Fischer

Das Oberlandesgericht Frankfurt hat einen Gotteskrieger als Völkermörder verurteilt. Das gibt Gelegenheit zum Nachdenken: Welcher Krieg wird zurzeit eigentlich geführt, welches Recht vollzogen?

Von Herrn A. kennen wir einige Bilder. Sie zeigen einen Menschen, der sich eine Strafakte vor das Gesicht hält. Mal trägt er eine Jogginghose und ein Sweatshirt, mal ein Hemd und eine Jeans. Die Akte ist mal schwarz, mal rot. »Bild« mäkelt: »Feige versteckt er sich hinter einem Aktenordner.« Die Vorstellung dessen, was »Bild« unter Mut versteht, ist geeignet, Mitleid mit A. zu erzeugen. Aber das wollen wir hier beiseitelassen. Die Gattin von Herrn A. heißt Frau W. Sie stammt aus Lohne, hat intensiv verschönerte Fingernägel, hält sich ebenfalls eine Strafakte vor das Gesicht und wurde vom OLG München – nicht rechtskräftig – wegen Beihilfe zum versuchten Mord zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt.

Diese Bilder sind, das muss man zugeben, zwar groß und bunt, aber nicht wirklich spannend, wenn man einmal von den als Staffage abgebildeten Justizbeamten und Terroranwälten absieht, die sie sich vermutlich ausschneiden und aufheben, weil es biografisch bedeutsam ist, im »historischen Prozess« dabei gewesen zu sein. »Historisch« soll der Prozess sein, weil angeblich »weltweit erstmals« die systematische Verfolgung von Jesiden inmitten steht.

Ach ja! Wie viele Terroristengattinnen und gutmütige Kinderschlächter hat man beim OLG Frankfurt zwischen 1949 und 1989 abgeurteilt? Und wo sind all die übrigen fanatischen Mordgesellen und ihre Verbrecherliebchen geblieben? Die meisten, so nehme ich an, fristen eine schweigende Existenz als Schwarzweißbilder auf den Kommoden und in den Alben ihrer lieben Erben. Das kann man als gutes Zeichen deuten oder auch nicht. Vorbei! Reißen wir uns zusammen: Wenigstens nachträglich wollen wir das Gerechte tun. Jedenfalls an unseren Feinden, wenn sie uns in die Hände fallen.

Völkermord u.a.

Das OLG Frankfurt hat den Angeklagten A. schuldig gesprochen: des Völkermordes in Tateinheit mit einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Todesfolge, einem Kriegsverbrechen gegen Personen mit Todesfolge, Beihilfe zu einem Kriegsverbrechen gegen Personen in zwei tateinheitlichen Fällen sowie mit Körperverletzung mit Todesfolge.

Das klingt kompliziert, ist aber letzten Endes nur etwas unübersichtlich, weil die angewendeten Strafnormen recht anschaulich und daher etwas sperrig formuliert sind. Der »Völkermord« ist der hier im Vordergrund stehende Verbrechenstatbestand. Früher stand er ganz vorn im »Besonderen Teil« des Strafgesetzbuchs (§ 220 alter Fassung). Seit 2002 ist er, dem »Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs« folgend, im StGB zum Schatten verblasst, stattdessen in § 6 des damals neuen »Völkerstrafgesetzbuchs« (VStGB) gewandert. Weil die angewendeten Vorschriften sicher nicht allen Lesern geläufig sind, seien sie auszugsweise zitiert.

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Jagd auf Islamischen Staat

Erstellt von Redaktion am 23. November 2021

Dschihad im Herzen Afrikas

Zwei welche sich suchten um schließlich aus Afghanistan zu flüchten ?

Von Simone Schlindwein aus Kampala

Massaker im Kongo, Bomben in Uganda: Angst und Schrecken verbreitet die Rebellengruppe ADF. Nun bereiten die USA den Antiterrorkrieg vor.

Gespenstische Stille herrscht in Kampala. Ugandas sonst staugeplagte Hauptstadt ist wie leergefegt. Soldaten sperren die Straßen um die Regierungsgebäude ab, wo sich am 16. November zwei Selbstmordattentäter in die Luft sprengten.

„Terror von innen“, titelte Ugandas Boulevardzeitung Red Pepper. Staatschef Yoweri Museveni bezeichnet die Täter als „Schweine“. Vielen Ugandern ist der Schock anzumerken: Der „Islamische Staat“ (IS) hat sich zu den Anschlägen bekannt. Im ugandischen Kontext heißt das: die islamistische Rebellengruppe ADF (Vereinigte Demokratische Kräfte), die ursprünglich aus Uganda kommt und heute vor allem in der Demokratischen Republik Kongo wütet.

Die Täter seien „heimische Terroristen mit Verbindungen zu ADF“, sagte Polizeisprecher Fred Enanga und verkündete eine Jagd auf ADF-Schläferzellen. Die Bilanz: 34 Verhaftete, darunter sechs Kinder. Vier Verdächtige wurden von der Polizei erschossen, darunter ein Prediger. Dessen Familie sagt, das war „kaltblütiger Mord“.

Der IS nennt in seinem Statement als Täter „Abdul Rahman, der Ugander“ und „Abu Shahid, der Ugander“ sowie „Abu Sabr, der Ugander“. Die Explosionen hätten „über 30 ugandische Soldaten und Polizisten sowie einige Christen“ getötet. Das stimmt nicht – aber 27 der 37 Verletzten sind Polizisten. Eine Bombe explodierte direkt vor dem Polizeihauptquartier.

Die IS-Provinz „Zentralafrika“

Seit März bereits steht die ADF auf der Terrorliste der US-Regierung, ebenso die islamistischen Rebellen in Mosambik. Es heißt, beide Gruppen seien Teil des „Islamischen Staats – Provinz Zentralafrika“ (ISCAP), die der IS 2018 ausrief und die sich von Somalia über Mosambik bis nach Kongo erstrecken soll.

Schon im November 2018 war die US-Botschaft in Kongos Hauptstadt Kinshasa wochenlang geschlossen – wegen einer IS-Terrorwarnung. In Kampala baut die US-Regierung ihre Botschaft derzeit zu einem anschlagssicheren Bunker aus. Großbritannien und Frankreich warnten bereits im Oktober vor Terroranschlägen in Ugandas Hauptstadt.

Die ADF hat eine alte Geschichte. Sie entstand einst unter ugandischen Muslimen im Grenzgebiet zu Kongo. In den 1990er Jahren war sie für zahlreiche Anschläge in Uganda verantwortlich, 1995 zog sie sich unter ihrem Anführer Jamil Mukulu, der in Afghanistan trainiert worden war, in die Rwenzori-Berge entlang der Grenze zu Kongo zurück – ein Grund, dass Uganda 1998 im Nachbarland einmarschierte und fünf Jahre lang große Teile Kongos besetzt hielt.

Danach wurde es um die ADF relativ ruhig. Mukulu wurde 2015 in Tansania verhaftet und nach Uganda ausgeliefert. Er sitzt in Kampala im Hochsicherheitsgefängnis, krank und schwach. Seit Januar wird ihm der Prozess gemacht wegen Terrorismus. Derweil führt Kongos Armee im Ostkongo gegen die rund 1.500 verbliebenen ADF-Kämpfer einen Feldzug nach dem anderen, wobei immer wieder kongolesische Offiziere der Kumpanei mit den Rebellen verdächtigt werden.

Je mehr die Miliz in Bedrängnis gerät, desto brutaler wird ihre Vorgehensweise: nächtliche Überfälle auf Dörfer, Massaker an Zivilisten. Im Januar 2020 eroberte Kongos Armee in den Bergen an der Grenze zu Uganda das ADF-Hauptquartier „Medina“, benannt nach der heiligen Stadt in Saudi-Arabien. Laut Armee wurden dabei über 40 ADF-Kämpfer und fünf ihrer Kommandeure getötet. Die Soldaten fanden Gebetsbücher auf Arabisch.

Seitdem ist die ADF auf der Flucht und hinterlässt eine Blutspur durch zwei Provinzen des Ostkongo. Fast wöchentlich dokumentiert die UN-Mission im Kongo (Monusco) brutale Verbrechen. UN-Ermittler nennen in ihrem jüngsten Bericht rund 800 zivile ADF-Opfer innerhalb eines Jahres. Mitte November fand das Rote Kreuz in einem Dorf nahe der Stadt Beni 38 Tote, die Kehlen durchgeschnitten, einige lebendig verbrannt. Die ADF feiert diese Überfälle in Videos aus ihrem neuen Hauptquartier „Medina II“.

Eine junge, radikalisierte Kämpfergeneration

Einst galt die ADF unter Kongos zahlreichen Milizen als die geheimnisvollste. Ihre Anführer traten nie öffentlich auf. Das hat sich geändert. „Die ADF gibt es nicht mehr“, erklärte der neue ADF-Anführer Musa Baluku im September 2020 in einem Video. „Wir sind jetzt die Zentralafrikanische Provinz, eine von zahlreichen Provinzen des Islamischen Staates, der vom Kalifen und Führer aller Muslime regiert wird“.

Ermittler der UN-Expertengruppe, die die Einhaltung des Waffenembargos gegen Kongos bewaffnete Gruppen überprüft, haben über 45 Videos der ADF analysiert. „Sie zeigen eine klare Ausrichtung hinsichtlich des IS“, heißt es in ihrem Bericht vom Juni an den UN-Sicherheitsrat.

Eine direkte Befehlskette zum IS konnten sie jedoch nicht feststellen. Die Hinwendung zum Dschihad sei eher ein Instrument, um junge Rekruten anzuwerben. Die neue radikalisierte Generation macht die alte Miliz für neue Technologien fit. Im März meldete die UN im Kongo sogar Überwachungsdrohnen über dem ADF-Hauptquartier.

Ugandische Polizisten in Mogadischu, Somalia (51212239835).jpg

„Diese Entwicklung geht einher mit der Absorption ausländischer Kämpfer aus Tansania, Kenia und Burundi“, erzählt Dino Mahtani von der International Crisis Group, der die ADF seit Langem studiert. Seit Kongos Militäroperationen die ADF schwächten, suche sie Unterstützung bei den Shabaab-Rebellen in Somalia und Mosambik. Mathani nennt einen tansanischen ADF-Kämpfer namens Jundi. „Er war einer derjenigen, die 2019 die IS-Flagge ins ADF-Hauptquartier mitbrachten.“

Als Kommandant der jüngsten Anschläge in Uganda gilt ein 30-jähriger Ugander aus der jungen ADF-Generation: Meddie Nkalubo alias „Punisher“ (der Bestrafer). „Es ist wahrscheinlich, dass ‚Punisher‘ vom Kongo aus Anweisungen nach Uganda schickt“, so Mahtani. Auch im Zusammenhang mit vereitelten Anschlägen in Ruanda deuten die Beweise auf ihn. Dort nahm die Polizei im Oktober 13 Terrorverdächtige fest. Auf sichergestellten Laptops fanden die Ermittler Anleitungen zum Bombenbasteln – geschickt von „Punisher“ aus Kongo.

Ein US-Milliardär und eine verschwiegene Stiftung

Für Ugandas Präsident Museveni, der in 35 Jahren an der Macht schon viele Rebellen jenseits der ugandischen Grenzen bekämpft hat, ist die Sache jetzt ganz einfach. „Die Terroristen haben uns eingeladen, wir werden sie jagen“, erklärte er und fügte hinzu, er werde eng mit Kongo zusammenarbeiten, „das ist kein schwieriges Problem“.

Unter Kongos Präsidenten Felix Tshisekedi, seit 2019 im Amt, haben sich die einst schlechten Beziehungen zu Uganda verbessert. Die Geheimdienste beider Länder haben im kongolesischen Beni ein gemeinsames Operationszentrum aufgebaut, Verbindungsoffiziere entsandt. Vermittelt hat dies mutmaßlich der ehemalige Coca-Cola-Chef Howard Buffett. Der US-Milliardär engagiert sich mit seiner Stiftung für Naturschutz in Afrika, darunter der Virunga-Nationalpark im Ostkongo, der an Uganda und Ruanda grenzt. In den dichten Wäldern des Parks leben die vom Aussterben bedrohten Berggorillas – und Milizen wie die ADF.

Quelle        :      TAZ-online            >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      Bush mit Angela Merkel bei ihrem Antrittsbesuch

Foto des Weißen Hauses von Eric Draper, Direktor des Fotobüros des Weißen Hauses

Quelle: http://www.whitehouse.gov/news/releases/2006/01/images/20060113-1_d-0133-1-515h.html

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Unten     ––   Ugandische Polizisten, die im Rahmen der Mission der Afrikanischen Union in Somalia dienen, wachen und sichern am 29. Mai 2021 eine Straße in Mogadischu, Somalia. AMISOM Foto/Mokhtar Mohamed

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Die Linke Kritikunfähigkeit

Erstellt von Redaktion am 6. November 2021

Linke Kritikunfähigkeit und patriarchaler Rollback

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Quelle     :     Untergrundblättle – CH 

Von Elisabeth Voss

Ausgerechnet in der Corona-Krise, in der autoritäre Herrschaft und Profitwirtschaft deutlich sichtbar werden, scheint die gesellschaftliche Linke nichts Besseres zu tun zu haben, als sich in Grabenkämpfen genüsslich selbst zu zerlegen und die Kritik an Staat und Kapital der gesellschaftlichen Rechten zu überlassen.

Die Parole „Wir impfen euch alle!“, voller Hass gegen demonstrierende Corona-Massnahmekritiker:innen gebrüllt, ist für mich zum Symbol dieses Versagens geworden.Im Folgenden versuche ich, zu verstehen und aus feministischer Perspektive einzuordnen, was in dieser Corona-Krise passiert ist und immer noch passiert. Nicht als umfassende Analyse, sondern mit einem subjektiven Blick, vor allem auf Aspekte der Kommunikation. Dabei spreche ich nur für mich und beanspruche keine allgemeingültige Definitionsmacht.Wenn ich Begriffe wie „patriarchal“ oder „feministisch“ verwende, dann beziehe ich mich damit auf das Patriarchat als hierarchische Form sozialer Organisation. Es ist älter als der Kapitalismus, aber die Strukturen der historischen Männerherrschaft bestehen bis heute. Sie sind nicht unbedingt vom biologischen Geschlecht abhängig, Frauenbewegungen haben viele Rechte erkämpft, aber auch heute bekleiden überdurchschnittlich oft Männer machtvolle Positionen, und es sind meist Männer, die Gewalt- und Gräueltaten begehen, unter denen Frauen und Transpersonen leiden und gleichzeitig die Verantwortung aufgeladen bekommen, die Folgen auszuputzen. Eine Kanzlerin Merkel macht noch keinen Feminismus, relevanter finde ich den Ansatz der Stadtregierung in Barcelona, wo die Basisbewegung „Barcelona en Comú“ mit der Bürgermeisterin Ada Colau für eine Feminisierung von Politik angetreten ist.

Gewalt ist patriarchal

Die Gesellschaft ist nicht freundlicher geworden in diesen pandemischen Zeiten. Eine Mischung aus Angst und Empörung ist das Grundgefühl, Härte und Rücksichtslosigkeit lassen sich von allen Seiten beobachten. Zurecht fragten im Oktober 2020 Vertreterinnen des Kollektivs „Feministischer Lookdown“ im Züricher Radio LoRa: „Warum waren wir – Frauen aus der feministischen Bewegung und andere Menschen, die sich links oder kritisch oder feministisch verstehen – so rasch bereit, die Definition darüber, was uns heute geschieht, an männliche Expertengremien – und damit auch an den Staat – abzugeben? [1]

Das Schüren von Angst – der Angst vor dem Ersticken und der Angst davor, diesen qualvollen Tod Angehöriger verschuldet zu haben – war bereits im Frühjahr 2020 vom Innenministerium im Strategiepapier „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ erwogen worden, das in Auftrag gegeben wurde, um „‚weitere Massnahmen präventiver und repressiver Natur‘ planen zu können“, wie die WELT im Februar 2021 berichtete [2]. Eine Strategie des Ministeriums, dessen Minister Horst Seehofer sich an seinem 69. Geburtstag freute, dass 69 Menschen abgeschoben wurden.

Das Online-Spiel „Corona-World“ – öffentlich-rechtlich betrieben von ARD und ZDF – lädt ein: „Werde zum Helden der Coronakrise“. Zu „Helden“ assoziiere ich: männlich, kriegerisch und selbstgewiss, weil von höheren (eben heldenhaften) Motiven angetrieben. Einzelkämpfer (selten Kämpferinnen), die wissen wo es lang geht. Die nicht fragen, sondern anpacken. Das Spiel hetzt zu Gewalt (wenngleich nur am Computer) auf: „Schlüpfe in die Rolle einer Krankenschwester, die nach einem harten Arbeitstag einfach nur im Supermarkt einkaufen will. Aber Vorsicht! Überall lauern Infektionsgefahren. Nimm dich in Acht vor Joggern, Party People, Preppern und hochansteckenden Kindern. Schlage zurück, indem du deine Gegner desinfizierst. Hast du das Zeug, um Corona ein für alle Mal zu besiegen?“ [3] Während die Bundesregierung das Virus schnell zum Feind erklärt hatte, gegen den Krieg geführt werden müsse – was von links mit der Ausrottungsfantasie von Zero Covid aufgegriffen wurde – wird die Seuchenabwehr hier individualisiert.

Aber auch von massnahmekritischer Seite gibt es Übergriffiges, wenn beispielsweise Captain Future und seine Leute von der Freedom Parade ohne Masken durch einen Supermarkt oder einen Zug tanzen. Unabhängig von der Einschätzung der Sinnhaftigkeit von Masken ist es rücksichtslos und gewalttätig, in der Corona-Situation andere in Angst und Schrecken zu versetzen und ihnen grenz­überschreitend die eigene Körperlichkeit und den eigenen Atem aufzudrängen.

Matthias Laurenz Gräff. Triptychon "Der griechische Altar. Merkel und Schäuble als falsche Caritas".jpg

All dies verstehe ich als Ausdruck patriarchaler Haltungen von Dominanz und Rechthaberei. Auch die vorgeblichen Schutzmassnahmen verströmen nur zu oft den kalten Hauch von Autoritarismus und Ausgrenzung. Am meisten haben mich jedoch die verbalen Gewalttätigkeiten von Linken erschrocken.

Rechthaben genügt?

Hätte ich diesen Satz „Wir impfen euch alle!“ als Demobeobachterin nicht selbst mehrmals gehört, hätte ich nicht glauben wollen, dass Antifas eine solche Parole rufen. Sind das die gleichen Leute, die sonst so viel Wert auf Achtsamkeit legen, sich den Kopf zergrübeln über ihre Privilegien und sich akribisch um eine gewaltfreie und inklusive Sprache bemühen? Kann diese Konstruktion des „wir“ und „ihr“ nicht ebenso als Othering, als Konstruktion vom „Anderen“, verstanden werden, wie es oft zurecht menschenfeindlichen Ideologien vorgeworfen wird? Mit dieser verbalen Attacke wird anderen abgesprochen, überhaupt Gesprächspartner:innen, geschweige denn potenziell Verbündete zu sein. Da gelten auch keine minimalen Regeln höflicher Distanz mehr, wie sie zwischen politischen Gegnern üblich sein sollten, sondern die anderen werden zu Feinden gemacht, denen gegenüber keinerlei Respekt mehr erforderlich ist.

Dabei ist der Inhalt dieses Satzes keine Banalität. Egal wie mensch zum Impfen steht, stellt es doch in jedem Fall einen Eingriff dar, eine Überschreitung der körperlichen Grenze und das Einbringen einer körperfremden Substanz, deren Wirkungsweise zumindest langfristig noch nicht bekannt ist, nicht bekannt sein kann. Auch wenn es nur eine Parole ohne unmittelbare Wirkmächtigkeit ist (mittelbar kann sie durchaus auf Debatten um eine Impfpflicht einwirken), wirft sie doch alles, was in der Linken an Gewaltfreiheit und Respekt vor der Integrität einer jeden Person entwickelt wurde, über den Haufen. Es waren vor allem Impulse aus der Frauenbewegung, die linke Bewegungen für Grenzüberschreitungen verbaler und körperlicher Art sensibilisiert haben.

Die Parole „Wir impfen euch alle!“ scheint einen patriarchalen Rollback zu markieren, der sich in den Umgangsformen auf der linken reflect-Mailingliste [4] spiegelt, wo beispielsweise am 20. Januar 2021 ein:e User:in in autoritärem Befehlston schrieb: „Laber mich und andere nicht voll. Lockdown. Maske. Alle Impfen. Abwarten. Punkt.“ Solche Antworten fängt sich leicht ein, wer auf Widersprüche in den offiziellen Verlautbarungen zu Corona hinweist, gar abweichende wissenschaftliche Meinungen zitiert oder auch nur kritische Fragen stellt. Ganz schnell kommt dann auch der Vorwurf „Schwurbler“. Argumente scheinen nicht mehr nötig zu sein, es genügt zu behaupten, Recht zu haben, auch innerhalb linker Bewegungen, nicht nur im Umgang mit denen, die aus unterschiedlichsten Motiven auf Demos von Querdenken oder anderen Massnahmekritiker:innen mitlaufen.

Wobei unter den Demonstrierenden auch Linke sind, aber auch Leute, die bisher nicht auf Demos gegangen sind. Da sind nicht alle so gut informiert, recherchieren nicht permanent, und ihnen vorzuwerfen, dass sie rechte Aussagen oder Nazis nicht gleich erkennen können, hat auch einen Beigeschmack von bildungsbürgerlicher Überheblichkeit, abgesehen davon, dass es nicht nur eindeutig rechts oder links einzusortierende Auffassungen gibt, sondern viele Zwischentöne.

Corona als das absolut Böse

Verbale Übergriffigkeiten sind nicht neu, haben aber mit Corona zugenommen. Beispielsweise versuchte jemand im April 2021 auf der öffentlichen, mittlerweile streng moderierten Attac-Diskussionsmailingliste inmitten erbitterter Streitigkeiten auch Gemeinsamkeiten zu formulieren und schlug vor: „Übereinstimmung: Leben schützen und anerkennen, dass Corona deutlich gefährlicher ist als eine normale Grippe.“ Sogleich bekam er die Antwort: „Es ist ist keine Übereinstimmung von uns, dass Corona deutlich gefährlicher ist als eine normale Grippe. Das rhetorische Mittel Corona in einem Satz mit normaler Grippe zu setzen, kennst Du und es verharmlost die Situation und zieht indirekt einen Vergleich.“

Diese Unterstellung einer Intention kann schon für sich als verbale Gewalt verstanden werden. Dass Corona nicht mit der Grippe verglichen werden dürfe, erinnert an das Argumentationsmuster, der Holocaust würde verharmlost, wenn er mit anderen Völkermorden verglichen würde. Schon der Begriff „Coronaleugner“ kann Assoziationen zu „Holocaustleugner“ wecken. Wer Corona zum absolut Furchtbaren, Unvergleichlichen stilisiert, beansprucht eine nicht kritisierbare Position, schon Nachfragen gelten als Sakrileg. Insofern spiegelt sich in diesem kleinen Beispiel die kommunikative Verhärtung, die nicht nur innerhalb linker Diskurse, sondern in der ganzen Gesellschaft prägend geworden ist. Hinzu kommt, dass der Vorschlagende ein einfaches Listenmitglied war, während der Antwortende kurz darauf in den KoKreis, das geschäftsführende Gremium von Attac, also in eine nicht ganz machtlose Position gewählt wurde.

Während Linke sich streiten, wissen die Rechten ihre Chance zu nutzen, geben sich mal wieder „nicht rechts, nicht links“ und bauen an ihren Netzwerken. Insofern sind akribische Antifa-Recherchen und aufklärende Öffentlichkeitsarbeit wichtig und notwendig, wenn sie überprüfbare Fakten zusammentragen. Mitunter ähneln jedoch die Vorwürfe, die von linker Seite gegenüber Massnahmen-Skeptiker:innen geäussert werden, eher Verschwörungserzählungen als rationaler Kritik.

Verschwörungserzählungen und linke Kritik

Ingar Solty und Velten Schäfer haben Ende 2020 vier Eckpunkte zur Definition von Verschwörungserzählungen benannt [5], die ich im Folgenden kurz (ggf. verkürzend) benennen und an ihnen Vorwürfe von links gegen Massnahmekritiker:innen spiegeln werde:

Erstens seien „Verschwörungstheorien radikal simplifiziert und personalisiert“. Das lässt sich über linke Kritik ebenso sagen, wenn auf Fragen oder Argumente nicht mehr eingegangen wird, sondern diese pauschal als „Geschwurbel“ abgetan werden, und wenn es ausreicht zu behaupten, jemand stünde beispielsweise den Querdenkern nahe oder sei bei denen aufgetreten, um sich mit so jemandem nicht mehr inhaltlich auseinanderzusetzen, egal was diese Person äussert, sei sie auch fachlich noch so kompetent.

Zweitens „denken (sie) in Schwarz und Weiss und kennen keine Schattierungen.“ Auch dies findet sich in Kritiken von links. Es deutete sich bereits früher bei anderen heiklen politischen Themen an, aber nun, wo die Corona-Diskussionen hoch aufgeladen um existenzielle Fragen von Tod oder Leben geführt werden, scheint die Kultur des vorsichtig fragenden Abwägens von Ambivalenzen und Widersprüchen gänzlich verloren gegangen zu sein. Simplifizierende Parolen suggerieren stattdessen, es gäbe nur noch gut oder böse, falsch oder richtig – vielleicht ein Reflex auf das zunehmende Leben in digitalen Welten, deren Null-Eins-Null-Eins-Struktur sich unbewusst auch ins Denken und Fühlen einschreibt?

Drittens steht in ihnen „das Ergebnis jedweder gesellschaftlichen Debatte a priori fest.“ Das ist die klassische Haltung patriarchaler Rechthaberei, die im Grunde aus dem oben bereits Ausgeführten folgt.

„Und viertens gelangen sie stets zu einem apodiktischen Fazit. Sie wehren die Annahme ab, der Missstand sei veränderbar, erst recht innerhalb des gegebenen politischen Systems.“ Hier ist die Parallele nicht ganz so einfach zu ziehen. Jedoch sehe ich eine ähnlich fatalistische Haltung in der Stilisierung von Corona als das absolut Böse, in der aggressiven Abwehr von Vorschlägen zur selbsttätigen Stärkung des Immunsystems und der hilflosen Hoffnung auf die Rettung durch die Impfstoffe der Pharmaindustrie.

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Für Solty und Schäfer ist solches Verschwörungsdenken Ausdruck eines politischen Vakuums, „das durch die Schwäche einer antikapitalistischen Linken entsteht.“ Sie warnen: „Ganze soziale Felder schon bei Spuren ‚unreinen‘ Denkens abzuschreiben, ist aber nicht nur unpolitisch, sondern zeugt auch von geringem Selbstbewusstsein.“ Genau dies tun die Teile der Linken, die mit ihren feindlichen Attacken gegen Andersdenkende denen ähnlich werde, die sie kritisieren wollen.

Wo jedoch Kritik notwendig wäre, gegenüber den Mächtigen in Wirtschaft und Politik, zeigen sie oft eine erstaunliche Unfähigkeit oder Unwilligkeit. So wird Antifaschismus zur leeren Selbstdarstellung in der neoliberalen Konkurrenz um Aufmerksamkeit, bleibt ideologisch ohne real etwas zu bewirken. Mit Erich Fried lässt sich feststellen: „Ein Faschist, der nichts ist als ein Faschist, ist ein Faschist. Aber ein Antifaschist, der nichts ist als ein Antifaschist, ist kein Antifaschist!“

Sicher gibt es viele, die sich eher zurückziehen, das Corona-Thema meiden, um sich nicht zu zerlegen, wie es in Familien, Freundeskreisen und selbstorganisierten politischen Initiativen und Projekten viel zu oft geschehen ist. So sind vor allem die Lauten zu hören, und vielleicht ist es gar keine Mehrheit der Linken, die sich so aggressiv aufführt. Bedachtere Stimmen, die abwägen und nach wie vor ein breites Meinungsspektrum respektieren, gibt es ja durchaus auch. Sie sind allerdings viel weniger wahrzunehmen und haben sich vor allem nicht organisiert, um der zunehmenden Feindseligkeit, die letztlich nur den Mächtigen und den Rechten nützt, etwas entgegenzusetzen.

Respektvoll und gewaltfrei kommunizieren?

Wo sind die kulturellen Errungenschaften respektvoller und gewaltfreier Kommunikation geblieben, die seit vielen Jahren alternative Bewegungen geprägt haben? Ist nicht einer der wichtigsten Grundsätze eines gedeihlichen Miteinander, nicht über andere, sondern über sich selbst zu sprechen – aus der Erkenntnis heraus, dass es gar nicht möglich ist, in andere hineinzuschauen und Aussagen über deren Beweggründe zu machen? Beobachtungen des Verhaltens oder der Äusserungen anderer können aus Sicht der Betrachter:in formuliert werden und ermöglichen ein Gespräch zwischen Subjektivitäten. Wer sich jedoch verobjektiviert und Aussagen über die Intention einer anderen Person macht, begeht eine Form verbaler Gewalt und Grenzüberschreitung, denn über das eigene Innenleben kann nur jede:r selbst Auskunft geben. Warum nicht einfach nachfragen?

Selbstverständlich können solche Selbstauskünfte angezweifelt werden, aber das wäre dann eine Aussage über den eigenen Zweifel, und keinesfalls eine Tatsachenfeststellung über eine andere Person. Behauptungen über andere oder Vorwürfe, die Gesprächspartner:innen in eine Verteidigungsrolle drängen, haben in solidarischen Zusammenhängen nichts zu suchen. Konstruktive Kritik stellt die eigene Auffassung neben die Auffassungen anderer, ohne sich über diese zu erheben und die eigene Meinung als die einzig richtige darzustellen. Eine kooperative, feministische Haltung äussert sich meines Erachtens im Sowohl-als-Auch, das die Möglichkeit des eigenen Irrtums mitdenkt, während das Entweder-Oder aus der Gefühls- und Gedankenwelt patriarchal geprägter Konkurrenz entspringt.

Die heilige Inquisition – Wissenschaft oder Religion?

Im Umgang mit Corona zeigt sich auch, wie wenig geblieben ist vom Aufbruch der alternativmedizinischen Bewegung der 1970/80er Jahre, als ausgehend von der Auseinandersetzung mit der Rolle von Ärzt:innen im Nationalsozialismus auch die einseitige Orientierung auf Pharmaindustrie und Medizintechnik kritisiert wurde. Ganzheitliche Erfahrungs- und Naturheilkunde ergänzte die Schulmedizin, und in Selbsthilfegruppen fanden viele zu einem neuen, weniger entfremdeten Umgang mit sich selbst. Solche Erfahrungen von Selbstwirksamkeit waren etwas vollkommen anderes als das, was von neoliberaler Seite als Eigenverantwortung gefordert wird und nur die Kehrseite von entwürdigenden Sparprogrammen darstellt.

Heute scheint der Begriff „alternativ“ fast zum Schimpfwort geworden zu sein. Alternative Medien gelten als Organe zur Verbreitung von Fake News, und wenn bei Berichten über Querdenken-Demos Esoterikerinnen, Homöopathen, Anthroposophinnen und Impfskeptiker als Teilnehmende aufgezählt werden, dann schwingt zumindest unausgesprochen mit, es sei doch klar, dass die alle irgendwie verschwörungstheoretisch oder rechts seien, mindestens rechtsoffen.

Die Art und Weise, wie manche Linke heute auf Wissenschaftlichkeit beharren, die vermeintlich Eindeutiges festgestellt hätte, hat fast schon einen religiösen Charakter, denn wissenschaftliche Erkenntnisse sind vielfältig und widersprüchlich, ebenso deren Interpretationen durch Expert:innen aus medizinischen und anderen Fachgebieten. Widersprüche und kontroverse Diskussionen sind ein Nährboden zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse, das unterscheidet Wissenschaft von Religion.

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Politik und Religion sangen immer in einen Chor : “ Wir Glauben alles aber wir Wissen nichts – das ist der große Lebensbeschiss.

Wissenschaft ist oft hilfreich, aber sie ist nicht die Wahrheit, sondern interpretierbar und auch manipulierbar, und ihre Erkenntnisse sind nicht unabhängig davon, wer sie finanziert. Wenn diejenigen, die Unbotmässiges äussern, harsch zurechtgewiesen und belehrt werden, dann ist ein Hauch von heiliger Inquisition zu spüren. Dafür reicht es mitunter schon, auf die Bedeutung des Immunsystems für den Verlauf von Infektionskrankheiten hinzuweisen. Früher wurden naturheilkundige Hexen verbrannt.

Das Verbindende betonen

Einen Impuls zur Aussöhnung veröffentlichte im Juli 2021 eine Gruppe von 16 Expert:innen aus Deutschland und Österreich, darunter die Politikprofessorin Ulrike Guérot, der Begründer der Gemeinwohl-Ökonomie Christian Felber und der frühere Berliner Ärztekammerpräsident Ellis Huber, der in den 1970er Jahren den ersten Gesundheitsladen mitgegründet hatte und heute Vorstandsvorsitzender des Berufsverbandes der Präventologen ist. Sie möchten die Spaltung der Gesellschaft überwinden, indem sie die Corona-Krise analysieren und dazu beitragen, „die Ziele umfassende Gesundheit aller, Grundrechte und Demokratie, sozialer Zusammenhalt und nachhaltiges Wirtschaften besser in Einklang“ zu bringen [6].

Während ich schreibe, sind die Zapatistas aus dem mexikanischen Chiapas in Europa unterwegs auf einer „Reise für das Leben“, mit der sie Bewegungen „von links und unten“ vernetzen wollen, indem sie das Verbindende betonen und nicht das Trennende [7]. In der Selbstverwaltung und den Kämpfen der Zapatistas spielen Frauen und Transpersonen eine wichtige Rolle. Ihre Praxis ist eingebettet in eine Kosmologie des Lebens in der und mit der Natur. In ihrer Haltung des „fragend voran“ drückt sich das Bemühen um Resonanzbeziehungen aus, das sozialen Kämpfen einen gänzlich anderen Charakter verleiht als das hier beschriebene patriarchale Dominanzverhalten.

Dieser Artikel erschien im Herbst 2021 in:

Gerhard Hanloser, Peter Nowak, Anne Seeck (Hg): Corona und linke Kritik(un)fähigkeit. Kritisch-solidarische Perspektiven „von unten“ gegen die Alternativlosigkeit „von oben“. AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2021, 240 Seiten, 19 Euro: http://www.agspak-buecher.de/epages/15458842.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/15458842/Products/%22M%20356%22

Fussnoten:

[1] Transkript einer Sendung des Kollektivs „Feministischer Lookdown“ vom 25.10.2020 auf Radio Lora: https://www.feministischerlookdown.org/

[2] Anette Dowideit: „Dann schadet dies dem Ansehen einer faktenbasierten Bekämpfung“, Welt, 09.02.2021: https://www.welt.de/politik/deutschland/article225991449/Corona-Papier-Opposition-fordert-Aufklaerung.html

[3] ARD und ZDF: Corona World: https://www.playcoronaworld.com/

[4] Offener Infoverteiler von und für den Berliner Verein reflect! e.V.: https://www.reflect-online.org/verteilerregeln-und-faq/

[5] Ingar Solty und Velten Schäfer: Das verwilderte Denken. nd, 06.11.2020: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1144079.verschwoerungstheorien-das-verwilderte-denken.html

[6] Covid-19 ins Verhältnis setzen. Berlin/Wien, 7. Juli 2021: https://coronaaussoehnung.org/

[7] Ein Teil des Europas von unten und die EZLN: Eine Erklärung für das Leben. 01.01.2021: https://www.ya-basta-netz.org/europa-von-unten-und-ezln-zapatistas-reise/

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Der Staat und Religionen

Erstellt von Redaktion am 31. Oktober 2021

Antisemitismus und Islamophobie

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Das Deutsche Wesen wird nimmer genesen – Schon 1338 – im Blut tut nimmer gut.

Von Sabine Schiffer und Constantin Wagner

Juden- und Muslimhass existieren parallel und oft im gleichen Milieu. Trotz bestehender Unterschiede ist eine offene Vorurteilsforschung gewinnbringend für alle Minderheiten.

Mit dem Satz „Was unseren Vätern der Jud ist für uns die Moslembrut“ dokumentieren Rechtsradikale 2009 am KZ Mauthausen ihren Hass auf Muslime. Der Eindruck, dass Muslimhass den Judenhass abgelöst habe, ist jedoch falsch. Beide Ressentiments sind komplementär, beide existieren parallel und nicht selten im gleichen Ressentimentträger.

Nicht zuletzt der Anschlag in Halle vor zwei Jahren hat gezeigt, dass der Hass gegen Juden virulent ist und – was nicht so prominent im Fokus der Berichterstattung steht – oft einhergeht mit dem Hass auf Muslime. Nicht zufällig steuerte der Täter nach dem gescheiterten Anschlag auf die Synagoge einen Dönerimbiss an. Sein „Manifest“ wie auch die Gerichtsprotokolle bestätigen, dass sein rechtsradikales Weltbild von antimuslimischem Rassismus ebenso geprägt ist wie von antisemitischen Weltverschwörungsmythen.

Es besteht eine Schieflage in der Wahrnehmung. Die deutsche Geschichte hatte eine besondere Sensibilisierung für Antisemitismus zur Folge – und das ist gut so und noch lange nicht ausreichend. Aber das Außer-Acht-Lassen der islamophoben Komponente schafft ein reduziertes Framing, das der Problematik nicht gerecht wird. Zudem ist wichtig festzuhalten, dass Antisemitismus und Islamophobie nicht auf Rechtsradikale beschränkt sind. Während der Antisemitismus aufgrund sozialer Erwartungen in der Öffentlichkeit häufig weniger explizit vorgetragen wird, verrät er sich in Äußerungen und Meinungsumfragen.

Der Kampf um die Anerkennung von antimuslimischem Rassismus als vergleichbares Moment zur Spaltung der Gesellschaft hat noch einen weiten Weg vor sich. Der verallgemeinernde Verweis auf muslimische Attentäter oder Antisemiten trägt zur erschwerten Anerkennung der Gefahr bei, die sich durch Anschläge auf Moscheen und Personen zeigt und die nicht weniger virulent ist. Es ist deshalb ein Vergleich antisemitischer und antimuslimischer Diskurse angebracht.

Nicht selten wird mit dem Verweis auf die Problematik des „Islamophobie“-Begriffs von der Existenz des antimuslimischen Rassismus abgelenkt. Doch auch der im 19. Jahrhundert geprägte Begriff des „Antisemitismus“ trifft nicht das Phänomen, das er beschreiben will. Wilhelm Marr – Journalist und Begründer der Antisemitenliga im Kaiserreich – suchte mit der Bezeichnung den christlich geprägten Antijudaismus, der durch die Aufklärung diskreditiert schien, wissenschaftlich zu verbrämen. Dass er dafür einen Fachterminus der Sprachwissenschaft übernahm und aus der Sprachfamilie der Semiten nun allein die Juden fokussierte, führt bis heute zu dem Missverständnis, dass arabische Muslime – ebenfalls Semiten im linguistischen Sinne – glauben, sie könnten ja qua definitionem keine Antisemiten sein. Der Begriff ist also schief, aber inzwischen etabliert und akzeptiert– zumindest, was den Kern der Bedeutung anbelangt: Vorurteile, Hass und Gewalt gegen Juden als Juden. Kaum jemand würde versuchen, über die Kritik am Begriff Antisemitismus das Phänomen des Judenhasses zu bestreiten. Anders beim Islamophobie-Begriff, der in der internationalen Öffentlichkeit das repräsentiert, was die Wissenschaft im Deutschen korrekt als antimuslimischen Rassismus bezeichnet – davon ausgehend, dass sich langsam herumgesprochen hat, dass es keine Menschenrassen, aber Rassismus als ethnisierende Struktur gibt.

Wenn heute über Moscheebau und Muezzinruf gestritten wird, lohnt der Vergleich mit den Debatten um den Synagogenbau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Besonders heftige Abwehrreaktionen gegen Indizien der Gleichstellung der bis dato Unterprivilegierten zeigten sich auch rund um die sogenannte Emanzipa­tionsdebatte und die Anerkennung der Juden als Staatsbürger im preußischen Landtag Mitte des 19. Jahrhunderts. Es wurde darüber diskutiert, ob die langjährig Ausgegrenzten loyale Staatsbürger sein könnten, gar als Lehrkräfte auf die Kinder einwirken dürften und ob man nicht das Predigen auf Deutsch vorschreiben sollte, um die Inhalte besser kontrollieren zu können. Diese Momente des Misstrauensdiskurses haben tatsächlich einige wiedererkennbare Vergleichsmomente mit den sarrazinesken Abwehrreaktionen auf erfolgreiche Integration heute.

Sehr vergleichbar – wenn auch nicht gleichzusetzen – ist die Grundstruktur eines Misstrauensdiskurses: Stereotyp ausgewählte Fakten werden ständig wiederholt und als repräsentativ für eine ganze Gruppe verstanden, Beispiele für das Behauptete finden sich immer. Es entsteht ein kohärentes System, das wie ein Filter für die weitere Wahrnehmung wirkt und damit der Selbstbestätigung zuarbeitet. So lässt sich die Vorstellung von „Parallelgesellschaften“ konstruieren, die auch als „Staat im Staate“ – so das Bild aus dem antisemitischen Diskurs – gelesen werden können. Und wer aus den erwarteten Mustern ausbricht, etwa jüdische oder muslimische Gebräuche ablegt, die/der kann – ganz kohärent – mit dem Vorwurf der Verstellung belegt werden. Das einmal geschaffene geschlossene System an Vorstellungen kann, auch nach Phasen der Aufklärung und geglaubter Überwindung, immer wieder belebt werden unter Rückgriff auf längst widerlegte Falschbehauptungen.

Nicht nur Rechtsradikale sind antisemitisch und islamophob

An dieser Stelle zeigt sich aber auch ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen antisemitischem und antimuslimischem Diskurs: Während beide ins Verschwörungsmythische abgleiten, bildet der Antisemitismus bislang das Alleinstellungsmerkmal der omnipotenten Welterklärungsformel, die hinter allem auf den ersten Blick Unerklärlichen sofort jüdische Akteure vermutet. Und hierin liegt auch ein weiterer Unterschied in der Perspektivgebung: Dem Überlegenheitsgefühl Muslimen gegenüber steht auf der anderen Seite ein Unterlegenheitsgefühl den als besonders mächtig interpretierten Juden gegenüber; wofür einige aktuelle Verschwörungsmythen im Covid-19-Kontext ein weiteres Beispiel für strukturellen Antisemitismus abgeben. Die Angst vor einer Verharmlosung des Holocaust darf nicht dazu führen, dass der Maßstab für die Einschätzung von Bedrohungslagen zu hoch angelegt wird; und nicht dazu, dass man andere Abwertungsdiskurse neben dem Antisemitismus leugnet, wozu die Islamfeindlichkeit ebenso gehört wie Sexismus oder Homophobie, Antiziganismus, DDR- und Obdachlosenfeindlichkeit, wie dies der langjährige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, in seinem Plädoyer für eine Nutzbarmachung der Erkenntnisse aus dem gut erforschten antisemitischen Diskurs für eine offene Vorurteilsforschung – selbstverständlich ohne Gleichsetzung – anmahnt.

Quelle       :         TAZ-online           >>>>>         weiterlesen 

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Grafikquellen          :

Oben     —     Jews burned alive for the alleged host desecration in Deggendorf, Bavaria, in 1338, and in Sternberg, Mecklenburg, 1492; a woodcut from the Nuremberg Chronicle (1493)

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Unten     —     DITIB-Zentralmoschee Köln – April 2015

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E. Musk und sein roter Mars

Erstellt von Redaktion am 27. Oktober 2021

Kurs auf eine bessere Welt

Dragon V2 unveiling, Elon Musk (KSC-2014-2727).jpg

Den kleinsten Spinnern beanspruchten  schon immer die große Welt 

Ein Schlagloch von Mathias Greffrath

Der Science-Fiction-Roman „Red Mars“ beschreibt den Weg zum erstmaligen Sinken des CO2-Gehalts in der Atmosphäre. Das geht auch im echten Leben.

Im Jahr 2026 werden die ersten Kolonisten auf den Mars fliegen. So hat es sich der Science-Fiction-Romancier Kim Stanley Robinson vor achtundzwanzig Jahren ausgedacht, in seinem Roman „Red Mars“. Im wirklichen Leben wird 2026 die erste bemannte Rakete zum Mars starten. So will es jedenfalls Elon Musk, der im Jahr 2050 mit seiner Firma SpaceX die erste Stadt auf dem Roten Planeten bauen will – als Rettungsboot für eine verwüstete Erde. 2050 wiederum wird das Jahr sein, in dem zum ersten Mal die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre sinkt – jedenfalls in Kim Stanley Robinsons neuem Roman „Das Ministerium für die Zukunft“, der mir ein ebenso inspirierendes wie unruhiges Lesewochenende beschert hat.

Robinson skizziert in 108 Kapiteln, wie die Klimaziele von Paris erreicht, ja übertroffen werden könnten – aber auch, mit welchen Katastrophen wir auf dem Weg dahin zu rechnen haben, angefangen mit einer Hitzekatastrophe im Jahr 2025, in der auf einen Schlag zwanzig Millionen Inder sterben. Daraufhin streut die indische Regierung Schwefel in die Atmosphäre. Schließlich wird eine UN-Exekutivbehörde installiert, das „Ministerium für die Zukunft“, ausgestattet mit einem Mandat der Ungeborenen und sehr weitgehenden ­Vollmachten.

Mit Geo-Ingeneering, mit Geheimdiplomatie, dem Aufschwung von sozialen Bewegungen, vor allem mit einer neuen Weltwährung, deren Verrechnungseinheit die Kohlenstofftonnen sind, die nicht gefördert oder in die Erdkruste eingelagert werden („Carbon Quantitative Easing“), wendet sich das Blatt. Nach drei Jahrzehnten mit Klimakatastrophen, Ökoterrorismus und fehlschlagenden Experimenten beginnt 2050 der CO2-Gehalt der Atmosphäre zu sinken.

Es sei leicht, sagte Robinson in einem Interview mit dem Magazin Jacobin, sich die Regeln für eine andere, bessere Welt auszudenken; schwieriger schon, sich konkret den Weg aus unserer Misere hin zur neuen Ordnung vorzustellen. Diesen Versuch hat er unternommen. Und: alle Elemente seiner Anti-Dystopie existieren bereits: Drohnen, die Bäume säen, wo Menschen nicht hinkommen; Zentralbanker, die Milliardenkredite an Klimaschutz binden, Genossenschaften mit nachhaltiger Landwirtschaft. Vor allem aber wird das ganze Arrangement zusammengehalten durch ein auch emotional starkes Bekenntnis zur Herrschaft des Gesetzes. Robinson betrachtet das Pariser Abkommen als verpflichtendes Grundgesetz des 21. Jahrhunderts. Seine Heldin Mary Murphy sagt: „Am Ende läuft es alles auf Gesetzgebung hinaus, wenn es darum geht, eine neue Ordnung zu schaffen, die gerecht, nachhaltig und sicher ist.“ Gesetze, das soziale Werkzeug der Menschheit, so alt wie der Pflug. „Sonst haben wir nichts in der Hand.“

Elon Musk - Caricature (51085264062).jpg

Die Luftveränderung wirkt nach vielen Jahren

Am Ende läuft alles auf Gesetzgebung hinaus. Von heute bis 2050 sind es gerade mal sieben Legislaturperioden. Und gemessen an diesem monumentalen Roman kommen einem die Zielbestimmungen, die wir von den Koalitionsverhandlungen erwarten können, wie harmloses Aufwärmspiel für eine „Klimaregierung“ vor. Dabei liegt der Entwurf einer wirklichen Regierungserklärung vor. Am 9. Juni haben die Leopoldina und der „Rat für nachhaltige Entwicklung“ Angela Merkel ein 45-Seiten-Papier mit 14 Empfehlungen überreicht, einen großartigen strategischen Aufriss für den Übergang in ein neues Energiezeitalter gemäß den Zielen des Pariser Abkommens. Er berührt so ziemlich alle Dimensionen des Lebens in unserer Zivilisation: von einer globalen Rohstoffdiplomatie über die Umwälzung ganzer Industriezweige, die Lehrpläne an Schulen, die Digitalisierung des Alltags bis hin zu den Essgewohnheiten. Aber gelingen kann das nur, wenn es nicht allein von ökologischem, technischem und sozialem Enthusiasmus getrieben wird, sondern wenn aktive Bürger und Bürgerinnen mitmachen.

Quelle         :       TAZ-online          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben          —   SpaceX CEO and founder Elon Musk unveils the Dragon V2 during a ceremony for the new spacecraft inside SpaceX headquarters in Hawthorne, Calif. The spacecraft is designed to carry people into Earth’s orbit and was developed in partnership with NASA’s Commercial Crew Program under the Commercial Crew Integrated Capability agreement. SpaceX is one of NASA’s commercial partners working to develop a new generation of U.S. spacecraft and rockets capable of transporting humans to and from Earth’s orbit from American soil. Ultimately, NASA intends to use such commercial systems to fly U.S. astronauts to and from the International Space Station.

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Unten     —       <a href=“https://en.wikipedia.org/wiki/Elon_Musk“ rel=“noreferrer nofollow“>Elon Reeve Musk</a>, aka Elon Musk is the founder, CEO, CTO, and chief designer of SpaceX; early investor, CEO, and product architect of Tesla, Inc.; founder of The Boring Company; co-founder of Neuralink; and co-founder and initial co-chairman of OpenAI. Musk is one of the richest people in the world. This caricature of Elon Musk was adapted from a Creative Commons licensed photo from <a href=“https://www.flickr.com/photos/teslaclubbe/12270807823/„>Tesla Owners Club Belgium’s Flickr photostream</a>.

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Heimatgeschichte 1938

Erstellt von Redaktion am 27. Oktober 2021

– Der Tag nach der Reichskristallnacht

Graffiti on Jewish cemetery in Saarland.jpg

Wer das wohl geschrieben haben könnte ?

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Leonhard Schäfer

Den emigrierten, deportierten und ermordeten Mittelsinner Juden gewidmet

Es wurde der Versuch unternommen, eine kurze Geschichte aus der einst lebendigen jüdischen Gemeinde Mittelsinn zu erzählen, die Anfang 1938 etwa 10% der Gesamtbevölkerung ausmachte. Die Erzählung könnte sich so nach der Kristallnacht 1938 abgespielt haben. Zum geschichtlichen Verständnis dienen die zahlreichen Fussnoten. L.S.

Die Vorgeschichte zu dieser Schrift

Vor 20 Jahren etwa kam ich anlässlich eines Besuchs in meiner alten Heimat Obersinn auch auf den Judenfriedhof in Altengronau. Was ich dort vorfand, beeindruckte mich sehr, z. B. die Geschichte des Friedhofs, Grabsteine von Juden aus Mittelsinn, darunter der Nachname Strauß.

Als ich dazu Tante Rosa, ehemalige Mittelsinnerin fragte, erzählte sie mir einiges über die „Mittelsinner Juden“, auch über die Kristallnacht, die SA und die Plünderungen durch Einheimische. Auch dass ihr Vater für den jüdischen Nachbarn einiges versteckt hatte.

Von anderer Seite, erfuhr man wenig oder nichts, nur, dass Obersinner SA bei der Kristallnacht nicht „dabei war“. In der Fotosammlung meiner Eltern war eines mit Obersinnern in SA-Uniform. Auf einem anderen Foto glaubte ich einen Onkel in dieser Uniform zu erkennen.

Anderes erfuhr man als Kind oder Jugendlicher kaum oder nur „nebenbei“:

Von meinem Vater von jüdischen Händlern auf den Obersinner Markttagen, von meiner Mutter, dass ihre Mutter gegen den Willen eines (Stief-) Sohns immer noch von einem Mittelsinner Juden Lebensmittel geliefert bekam und die Geschichte vom „Davidle“.

Diese Zeit beschäftigte mich schon immer. So setzte ich mich nach vielen Jahren hin und schrieb die Kurzgeschichte von David und Markus Strauß, eine Hommage…

Meine Geschichte ist erfunden. Da ich keine Akteneinsicht in Mittelsinner Unterlagen und Archive hatte, ist meine Darstellung natürlich nicht „vollständig“. Dies sollte sie auch nicht sein. Allerdings fand ich über Internet sehr wertvolle und offenbar nicht bekannte Aktenhinweise, z.B. im Bundesarchiv und in Würzburger Gestapoakten.

Leonhard Schäfer

2021

Mittelsinn, 11.11.1938 1

Es treten vors Haus in der Judengasse (heute Fellenbergstrasse) : Markus Strauß 2, ehemals „Waren- und Produkthandel“,(zusammen mit Leopold Strauß Vorsteher der jüdischen Gemeinde) 3 verwitwet, seit kurzer Zeit in Ruhestand; sein Sohn David, aus Frankfurt, seit ein paar Tagen zu Besuch. David musste die (arische) Technikerschule verlassen und arbeitete in einer kleinen Fabrik als Elektromechaniker. Ende Oktober entlassen.

David: Sieh Dir das Desaster bei den Nachbarn an. Da liegen noch Trümmer auf der Strasse.Wir haben Glück gehabt. Die paar Scherben bei uns und die Vitrine im Laden zertrümmert, das ist nichts dagegen.

Markus: Aber am meisten schmerzt mich, dass sie die Synagoge zerstört haben, so eine Schande! Hoffentlich ist dem Lehrer Siegfried 4 nichts passiert! Die haben auch die Schule demoliert!

Die fremde SA war furchtbar. Das waren Bestien, das waren keine von hier 5. Einen habe ich aber erkannt, der ist aus Zeitlofs, der war im März schon dabei 6 7.

David: Da hättest Du vielleicht schon wegmüssen, wie viele andere. Ihr seid ja nur noch wenige hier. 8

Markus: Da war doch die Mame erst kurz gestorben…

David: Es war zwar keine Mittelsinner und Obersinner SA, aber Mittelsinner Bürger waren dabei. Ich konnte vom Fenster aus sehen, wie die Marie beim Gundersheimer geplündert hat! Die hat jede Menge Bettwäsche und Damast rausgeholt. Die war schon früh eine Nazi! 9

Nach einer Weile:

Gott sei Dank, dem Gundersheimer sein Sohn, der Helmut, der Herr Doktor, der ist jetzt wahrscheinlich schon in Amerika. Ja, was sollte er noch hier in Deutschland, nachdem sie ihn 35 von der Uni geekelt haben… Amerga, das hat er auch geschafft, weil da schon ein paar von der Salia10 waren.

Markus: Zum Glück warst Du oben, als die anfingen. Wenn Du runtergekommen wärst und was gesagt hättest, hätten sie Dich totgeschlagen. Ich hab mir schnell, als sie an die Tür pochten und „Juden raus“ brüllten, das EKII an die Jacke geheftet. Ich dachte nach den Erfahrungen vom März, das hilft.- Ob’s geholfen hat? Trotzdem hat mir ein Junger mit dem Schlagstock eins übergezogen. Es schmerzt noch, geht aber…Auf jeden Fall hat ein Mittelsinner gesagt: „Das ist ein alter Mann, lasst ihn in Ruhe. Der Laden ist zu.“

….Ich muss endlich das Ladenschild abnehmen.

David: Das war sicher einer von den Katholischen. Die sind ja selbst hier eine Minderheit…Na ja, auf alle Fälle ist unser Nachbar Filippi, auch Katholik, ein guter Mensch, da können wir was verstecken, hab das auch im März getan. Die ganze Familie war immer gut zu uns.

Markus: Als die SA sahen, dass der Laden leer war, sind sie nicht weiter ins Haus und haben nur die Vitrine kaputt gemacht und noch ein paar Fenster eingeschlagen.

David: Ob die auch zum Kühn sind? – Die alte Frau Kühn ist doch Volljüdin.

Markus: Die werden sich hüten, da sorgt schon der Ortsgruppenleiter dafür, dass beim grössten Mittelsinner Arbeitgeber nichts passiert!

Es ist zwar schon seit heute Morgen ruhig, gehen wir aber lieber rein.

Sie gehen in die Küche, die gleich hinter dem Laden ist.

Markus: Davidle, jetzt sagst du mir endlich, warum du „zufällig“ vor ein paar Tagen gekommen bist!

David: Davidle …hast Du immer gesagt, als ich klein war. Weisst Du noch, dass Du am Freitagabend immer geschimpft hast: Davidle, lass Dich wäsche, sonst geh ich in Lade un hol die Peitsch…

Markus lacht: Es Davidle war für alle es blonde Jüdje. Auch jetzt bist du noch dunkelblond und siehst gar net wie e Jidn aus…

The day after Kristallnacht.jpg

Aber offenbar warst Du wasserscheu!….und das zur Vorbereitung auf den Schabbes

David: Das waren noch Zeiten…Ich ging auch gerne mit Dir zu den Markttagen nach Obersinn. Du hattest den Klumpen mit den losen Bombons immer vorne auf dem Tisch und ich beobachtete, wie die Dorfbengel sich mit ihren Ellenbogen „zufällig drauf stützten“, um ein paar „Gutzjen“ kostenlos zu ergattern.

Aber die letzte Zeit ging der Markt schlecht und die Leute kauften immer weniger bei den Juden. Du sagtest dann immer: Eigepackt, de Moat wor schlacht!

Markus: Aber die Leute kauften nach wie vor „„bei de Jüde“ ein. Später ging man erst bei Dunkelheit in die jüdischen Geschäfte oder durch die Hintertür. Genauso beim Milchholen oder -bringen.

Einige haben uns nach wie vor die Treue gehalten. Die Käthie von Obersinn hat immer noch bis zum Schluss unser Mehl genommen. Ein oder zwei der ältesten Söhne (der Stiefsöhne… einer mindestens ist Nazi) hatte den Sack Mehl wieder vors Haus gestellt, aber die Käthie hat gesagt: Wir nehmen nach wie vor das Mehl vom Markus! Sie haben auch gerne unser Matzebrot genommen, das ich ihnen manchmal schenkte. Und die Tochter, die Luis, die ist auch zum Laubhüttenfest gekommen.

David: Das waren Ausnahmen.

Markus: Vielleicht. Die Nazis, auch die HJ hier wurde nach 36, wo es wegen der Olympiade in ganz Deutschland ruhig war und besonders eben nach dem Anschluss immer frecher: Neulich hat mich so einer gezwungen, ihm einen „Meerrettich“ abzukaufen, der in Wirklichkeit ein geschältes Stück Holz war. Sie wollen uns mürbe machen…Und unserem Lehrer sein kleine Bub, als der zugucke wollt, wie die Mittelsinner und Obersinner HJ in den Wiesen eine Übung abhielten, den hätten sie fast totgeschlagen. Schon ein Verbrechen…

David: Du hättest schon längst weggesollt.

Markus: Ich hab’s mir ja die letzte Zeit überlegt…. Ich geh ins Altersheim nach Würzburg oder Aschaffenburg, dort haben wir ja auch noch ein paar Verwandte…

Aber wenn man bedenkt? In der Weimarer Zeit gings uns gut!

David: Gut? Es ging erstmal nicht allen gut. Die Nazis und die Rechten sprachen schon damals von der „Judenrepublik“ und besonders während der Weltwirtschaftskrise: Verloren Arbeiter ihren Arbeitsplatz, dann war „jüdische Misswirtschaft“ dafür verantwortlich. Blieben Kriegskrüppel, -waisen und -witwen sozial schlecht versorgt, so trug die „Judenrepublik“ daran die Schuld. Büßten Händler oder Handwerker ihre Existenz ein, waren sie von „jüdischen Blutsaugern“ zur Strecke gebracht. Stöhnten kleine Bauern unter der Last der Hypotheken, die auf Haus und Feld lagen und sehr hohe Tilgungs- und Zinszahlungen verlangten- übrigens auch hier- waren sie Opfer „jüdischer Zinsknechtschaft“.

Markus: Aber hier war es ruhig.und es ging auch noch Anfang 33 . Da mupften nur ein paar Nazis auf, auch wenn es in Würzburg und Aschaffenburg anders aussah.11

Es kamen dort Ausschreitungen vor, die offenbar nicht der Parteilinie entsprachen. 12. Und später in Mittelsinn? Der Ortsgruppenleiter Sachs ist an sich ganz vernünftig. Die paar alte Nazis und SA-ler sind die Schlimmen, auch die von Obersinn. Trotzdem ging es..

Und dann: Ich war zuversichtlich. Du weisst selbst, dass Hitler und Göring gesagt haben: Wer im 3. Reich einen Frontsoldaten beleidigt, wird mit Zuchthaus bestraft.

David: Das hast Du ja jetzt gesehen

Markus: Ich hab mich drauf verlassen. Das schrieben ja auch die jüdischen Zeitungen und der CV 13 .

David: Ich weiss, du bist ja auch beim Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, bist stolz auf dein Eisernes Kreuz und liest immer deren Zeitung „Der Schild“.14

Markus: Klar, ich hab mich ja die ganze Zeit gefühlt wie ein Deutscher…Aber kommen wir endlich zu Dir…

David: Babbe, wie Du weisst, musste ich die Elektrofachschule in Frankfurt 1935 verlassen und hab in der kleinen Fabrik als Elektromechaniker gearbeitet. Es war an sich ein gutes Arbeitsklima dort; ich war zufrieden und habe durch einen Fernlehrgang abends noch Elektrotechnik gelernt. Durch den neuen Eigentümer, den Nazi, bin ja Ende Oktober entlassen worden. Ich hatte mich schon vorher entschlossen, abzuhauen: Was hält mich denn hier? Ich war an sich nur hierher gekommen, um dir Lebwohl zu sagen und wollte noch auch aufs Grab zur Mame aufn Jüdekirfich nach Altengronau. Aber das lasse ich jetzt nach diesen Vorkommnissen sein..

Markus: Du willst heimlich abhauen? Du hättest doch rechtzeitig emigrieren können. Nu, der Enkel vom Nachbarn Nathan war im Ausbildungslager der jüdischen Pionier-Organisation zur Schulung für Einwanderer und ist mittlerweile nach Palästina ausgewandert. Stand sogar in der Zeitung „Der Israelit“.15

David: Nee, wie Du weisst, nicht nur die Religion, aber besonders der ganze Zionismus-Kram, das ist nichts für mich. Ich war ja mal im Ferienlager der Machanot der Reichsvertretung der Deutschen Juden, aber da herrschte zionistische Hochstimmung. Ich hab mich an sich immer als Deutscher gefühlt. Und Auswandern nach Palästina liegt mir nicht und die von der Jewish Agency redeten immer nur von Alijah, der Einwanderung nach Palästina.16

Auswandern hatte ich schon längst vor. Ich geh aber woanders hin…Jetzt ist es durch den Grünspan17 nur noch schwieriger geworden…

Also, ich hab da einen Arbeitskollegen, der ist bei der SAP18 die noch im Untergrund aktiv ist. Ich war auch ein paarmal dabei. Zusammen mit Ehemaligen vom „Arbeiter-Turn- und Sportbund“ haben sie ein klandestines Netz aufgebaut, um u. a. ab und zu Leute aus dem Land zu schmuggeln. Nach Mainz komme ich leicht, dort sind Schiffer, die Genossen sind oder Nazi-gegner und die schippern bis Rotterdam. Von dort aus versuche ich nach England zu kommen.

Meinen alten Reisepass habe ich nicht abgegeben.Und das „J“ ist also noch nicht drin.19

Markus: Das ist gefährlich…Und wie willst Du von hier weg?

David: Mit dem Zug kann ich jetzt nach den Pogromen nicht einfach von hier nach Frankfurt. Das ist mir in diesen Tagen zu unsicher, ja gefährlich, auch wenn man mich aufgrund meines Äusseren nicht als Juden erkennt.

Ich kenn ja durch die häufigen Wanderungen mit unserem Jugendbund den Spessart ziemlich gut und weiss noch, wo Hütten sind. Zur Sicherheit nehme ich im Rucksack eine Decke mit. Ich wandere mindestens nach Lohr…

Markus: Ich hol auf alle Fälle heute Abend vom Filippi das Rad, das ich dort untergestellt habe…

David: Wart mal: …oder bis Aschaffenburg. Dort guck ich bei unseren Verwandten vorbei, wenn die Luft rein ist. Mit dem ersten Arbeiterzug, da falle ich nicht auf, fahre ich nach Frankfurt. Blaumann und schwere Schuhe habe ich auch hier. Ich ziehe mir nur eine Joppe über. Bevor ich an den Bahnhof komme, entledige ich mich des Rucksacks und hänge nur den Brotbeutel um wie ein Arbeiter eben. Meinen Firmenausweis habe ich auch noch. Im Zug les ich dann Völkischer Beobachter.

…Ich fahre aber nicht bis Frankfurt Hauptbahnhof, wo viele Ausweiskontrollen sind, sondern steige in Niederrad aus und dann mit der Tram weiter…

Markus: Haste Geld? Ich geb Dir welches.

David: Nein, brauchst du nicht, ich hab welches gespart.

Markus: Doch, doch, geb ich Dir. Nimm wenigstens als eiserne Reserve den wertvollen Ring und das Kettchen von der Mame mit, das kannst du Dir in die Jacke nähen…

David: Mach ich, danke. Und was hast du vor? Du solltest auch bald weg.

Markus: Ich habe schon mit den Altersheimen korrespondiert…

David: Gut so. Ich such jetzt meine Sachen zusammen…

Vor dem Schlafengehen verabschieden sie sich:

„Shalom, Babbe“ – „Shalom, Mazel tov, David!“

Am nächsten Morgen ist David weg.

____________________________

1) Ein Tag nach der „Reichskristallnacht“, auch Novemberpogrom genannt.

2) Einen Markus Strauß gab es wirklich. Den Sohn David habe ich erfunden. Es gab aber ein „Davidle“ in der jüdischen Gemeinde Mittelsinn.

3) 1932 waren Markus und Leopold Strauß Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Mittelsinn. Nach anderen Angaben war es 1933 Nathan Rosenthal. Letzterer und wahrscheinlich Leopold Strauß (Angaben unsicher) sind in der NS-Zeit umgekommen (Liste Yad Vashem).

4) Seit 1931 hatte Mittelsinn wieder eine jüdische Schule mit dem Lehrer Siegried Strauß.
(Wir wissen nicht, ob es der Gleiche ist wie der in Geroda geborene, lt. Bundesarchiv „umgekommen in der NS-Zeit“)

5) Es war bewusst keine Mittelsinner und Obersinner SA eingesetzt, sondern aus Brückenau. Ich glaube im jüdischen Friedhof in Altengronau auch von Zeitlofser SA gelesen zu haben

6) Bereits im März war es im „Altreich“ nach dem Anschluss Österreichs (12.3.) zu antijüdischen Unruhen gekommen, die auch in Mittelsinn dazu führten, dass jüdische Geschäfte demoliert, Fenster eingeschlagen und die Synagoge teilweise verwüstet wurden.

7) Aus dem Bundesarchiv- Stimmungsberichte NS- Zeit: 313: Regierungspräsident Unterfranken und Aschaffenburg Bericht für März 1938 Würzburg, 9.4.1938 BayHStA, StK 106681 Allgemeine politische Lage […] Bedauerlich sind die Ausschreitungen, die in einer Reihe von Orten anläßlich der Eingliederung Österreichs gegenüber Juden verübt wurden. So wurden den Juden in Adelsberg, Burgsinn Gemünden, Mittelsinn (BA Gemünden) Schaufenster und Fenster in Privatwohnungen und Synagogen eingeworfen… Wie sinnlos derartige Ausschreitungen sind, ergibt sich daraus, daß diese Schäden nicht etwa die Juden, sondern die deutschen Versicherungsunternehmungen treffen, da die Juden gegen solche Schäden in der Regel versichert sind.

8) Anfang 1933 lebten noch 105 Juden im Ort, viele aus dem Rhein-Main-Gebiet stammend. Nach den Ausschreitungen im März entschlossen viele, wegzuziehen (es sollen 70 gewesen sein), die meisten nach Frankfurt

9) Es kam dann doch zu Anzeigen gegen plündernde Bürger und es war offenbar auch einer aus Obersinn dabei:

Die erhalten gebliebenen Akten der Gestapo-Dienststelle in Würzburg (M 13) geben einen Überblick über die Ermittlungsverfahren und ggf. Gerichtsurteile, die wegen Anzeigen gegen Mittäter aus der Bevölkerung geführt wurden. 13488: Plünderung, 20 Tage Gefängnis (U-Haft-Anrechnung) -> Mittelsinn (Lkr. Gemünden am Main, 4 Tä-ter 9632: Plünderverdacht, Polizeihaft, Verfahren eingestellt (1938) -> Obersinn (Lkr. Gemünden am Main)

10) jüdische Studentenverbindung Würzburg

11) Regierungspräsident Unterfranken Halbmonatsbericht Würzburg, 6.4.1933 Kirchliche Lage, Bd. VI, S. 4 […] Die *Boykottbewegung gegen die jüdischen Geschäftsleute ist nach den bisherigen Meldungen in mustergültiger Manneszucht durchgeführt worden

12) Es gab im Laufe der Jahre 33-38 auch Verhaftungen und Verfahren besonders gegen SA-Angehörigen bei besonders schweren Übergriffen, Körperverletzungen und Totschlag, die aber dann meistens eingestellt wurden. Ausserdem gab es Spannungen zwischen dem Regierungspräsidenten von Unterfranken, Günder, (Nicht- Nazi) und dem Gauleiter Dr. Hellmuth (einem persönlichen Feind von Leo Weismantel): Aus Bundesarchiv: Ns-Stimmungsberichte: Regierungspräsident Unterfranken und Aschaffenburg Bericht für die zweite Hälfte September Würzburg, 7.10.1933 BayHStA, StK 106 680 Allgemeine politische Lage: Bedauerlicherweise mußten in Würzburg wieder in mehreren Fällen Eigenmächtigkeiten von Angehörigen der SA und SS festgestellt werden… Da die namentlich Festgestellten behaupteten, auf Weisung des Gauleiters der NSDAP Unterfranken gehandelt zu haben, wurde diese Stelle unter Hinweis auf die bestehenden Verbote von Übergriffen und Eigenmächtigkeiten ersucht, für strengste Einhaltung dieser Bestimmungen Sorge zu tragen… Auf eigenes Ansuchen wurde Günder zum 1. Dezember 1933 in den einstweiligen Ruhestand versetzt

13) Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV). Die Zeitung des „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ galt als Stimme des assimilierten, liberal-konservativen deutschen Judentums. Sie waren Anfang 1933 der Meinung, würde der Staat und seine Institutionen die Gefahr und den potentiellen Schaden für das Ansehen des Reichs im Ausland erkennen, würden die Nazi keine Pogrome zulassen. Als nach dem ersten Boykott jüdischer Geschäfte 1933 im Ausland zum Boykott deutscher Waren aufgerufen wurde sandte die Reichsvertretung der deutschen Juden einen Brief an Adolf Hitler. Darin verurteilte sie sowohl den Boykott jüdischer Betriebe als auch den geplanten internationalen antideutschen Boykott im Ausland.

14) Auch der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) sandte im Juli 33 ebenfalls Telegramm nach London und bat darin dringend, einen geplanten internationalen Kongress zum Boykott deutscher Waren abzusagen.

15) Die ersten Boykotte 1933 veranlassten vor allem den jungen jüdischen Bevölkerungsteil und den der Zionisten, sich auf eine Emigration vorzubereiten. Einige junge Leute durchliefen Hachshara – eine landwirtschaftliche Ausbildung auf Land, die von Zionisten für diejenigen, die nach Palästina auswandern wollte, organisiert wurde.

16) Die Zionistische Weltorganisation und das Reichswirtschaftsministerium schlossen 1933 das Ha‘avara-(Transfer-) Abkommen zur Auswanderung nach Palästina. Die Vereinbarung war innerhalb der jüdischen Bevölkerung, besonders der assimilierten Juden, sehr umstritten. Auch konnten sich die Auswanderung wegen der finanziellen Bedingungen nicht alle leisten. Von den etwas mehr als 500.000 deutschen Juden 1933 wanderte bis 1939 nach Palästina ca. 1/10 aus.

17) Herschel Grynszpan , auch Grünspan genannt, verübte am 7.November 1938 in Paris das Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Dem nationalsozialistischen Regime diente diese Tat als Vorwand, um schon lange beabsichtigte Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung und Einrichtungen in Deutschland durchzuführen (Reichskristallnacht)

18) Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, seit 1933 verboten

19) Durch die Verordnung über Reisepässe von Juden vom 5. Oktober 1938 (RGBl. 1, S. 1342) wurden alle deutschen Reisepässe von Juden für ungültig erklärt. Die mit Geltung für das Ausland gültigen Pässe wurden wieder gültig, wenn sie von der Passbehörde mit einem Merkmal versehen werden, das den Inhaber als Juden kennzeichnet, das rote J.

Urheberrecht
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Grafikquelle :

Oben      —     „The death of the Jews will end the Saarland’s distress.“

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KOLUMNE – AUFRÄUMEN

Erstellt von Redaktion am 22. Oktober 2021

War Hitler etwa kein Rassist?

Hallo  —-    HIER bin ich !

Von Viktoria Morasch

Rassismus gegen Weiße gibt es nicht, heißt es immer wieder. Das ist geschichtsvergessen – und eine Beleidigung für Millionen Mi­gran­t*in­nen.

Kurz nachdem Frank-Walter Steinmeier in der Ukraine der Opfer des Massakers von Babyn Jar gedacht hat, diskutiert man hierzulande wieder darüber, ob es Rassismus gegen Weiße gibt. 80 Jahre nach dem Überfall der Nazis auf die Sowjetunion – wir erinnern uns: ein rassenideologischer Vernichtungskrieg mit dem Ziel, „Lebensraum“ zu schaffen –, nach mindestens 24 Millionen sowjetischen Opfern, sagen Deutsche, die stolz darauf sind, ein paar Fetzen des sogenannten rassismuskritischen Diskurses mitgekriegt zu haben: Rassismus gegen Weiße? Hat es nie gegeben! Gratuliere zu dieser sagenhaft dummen Einsicht.

Rassismus gegen Weiße mag sich von dem gegen Schwarze unterscheiden, sehr sogar, aber es gab und gibt ihn. So kompliziert ist es leider. Und alle, die sich jetzt freuen, „Rassismus!“ rufen zu dürfen, wenn jemand sie Kartoffel nennt – einfach psssssssst.

Das Problem ist: Man ist zu faul, passende Begriffe zu finden und übernimmt welche aus den USA. Aber Menschen in Kategorien zu stecken, geht eh meistens schief, und wenn die dann noch aus einem anderen Kontext stammen, bringt das nichts als Verwirrung. Bestes Beispiel: Die Kategorie „weiß“. Mal ist eine Hautfarbe gemeint, mal eine Position im gesellschaftlichen Machtgefüge. Am Ende kommt etwas raus wie: Europäische Juden sind weiß, aber wenn sie eine Kippa tragen, sind sie es nicht. Wer soll damit was anfangen? Warum benutzen wir nicht Worte, die nicht auf Farben verweisen, um Klarheit zu schaffen? Weil es am Ende doch oft um Farben geht. Und um Augenformen und Haare.

Eine Studie mit Rassenkategorien

IsraelKippa.jpg

Die Uni Rostock brachte zusammen mit der MaLisa-Stiftung Anfang des Monats eine Studie heraus. Es ging unter anderem darum, wie gut „Menschen mit Migrationshintergrund und Schwarze Menschen/People of Colour“ in den Medien repräsentiert sind. Um das auszuwerten, legten die Wis­sen­schaft­le­r*in­nen eine Schautafel an, mit, man kann es nicht anders nennen, Rassenkategorien. „Südostasiatisch/Ostasiatisch (erkennbar an der Form der Augen)“ steht da zum Beispiel, Bilder entsprechender Asia­t*in­nen sind auch dabei. Dann machten die Wis­sen­schaft­le­r*in­nen den Fernseher an und schrieben denen, die sie sahen, munter ethnische Zugehörigkeiten zu. Die Kategorie „weiß“ vernachlässigten sie, weil: Eine Schwedin, nur so als Beispiel, erfahre in Deutschland keinen Rassismus. Eine Schwedin?

Quelle        :     TAZ         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Bundespräsident Steinmeier am 31. August 2017 bei einem Besuch in Münster.

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Der Wahnsinnige Hochmut

Erstellt von Redaktion am 20. Oktober 2021

Der Krieg in Afghanistan zeigt, dass die demokratische Kontrolle über kriegerische Einsätze viel zu schwach ist

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Grün-Braun ist die Uniform, Grün Braun bin auch ich, Grün Braun muss mein Mädel sein – gerade so wie ich.  (Musik Schwarz-Braun ist die Haselnuss     …….)

Ein Schlagloch von Ilija Trojanow

Die Aufarbeitung des Militäreinsatzes in Afghanistan wird gemieden wie ein heißes Eisen. Grund dafür ist die Angst vor bitteren Erkenntnissen.

Wie konnte es geschehen, dass wir Afghanistan so schnell wieder vergessen haben. Nicht das Land, das hat uns nie besonders interessiert, sondern den Krieg, an dem wir 20 Jahre lang beteiligt waren. Wie kann es sein, dass all jene, die militärische Interventionen für notwendig erachten, für ein legitimes Instrument der Außenpolitik, jetzt nicht hinterfragen, wie Hunderttausende Menschen sterben konnten und weit mehr als eine Billion Dollar ausgegeben wurde, mit dem Resultat, dass erneut die Taliban regieren. Wie kann es sein, dass wir als angeblich rationale, zivilisierte Gesellschaft nun unsere Annahmen und Wertigkeiten nicht einer grundsätzlichen Kritik unterziehen?

Die Antwort liegt auf der Hand: Eine solche Auseinandersetzung würde unsere Blindheit offenbaren, das ganze Ausmaß einer Tragödie, die an erster Stelle darin besteht, dass der „Westen“ oder die „USA und ihre Lakaien“ Afghanistan umfassend neu gestalten wollten, erschaffen im eigenen Bild, nach unserem Gleichnis. Sich dem Fiasko des Einsatzes zu stellen würde bedeuten, sich kritisch mit der eigenen ideologischen Anmaßung zu beschäftigen, was Fortschritt heißt und wie er erzielt werden kann. Jetzt wissen wir zumindest eines: nicht auf diesem ruinös destruktiven Weg. Wenn zukünftige Generationen auf diese Epoche zurückblicken, werden sie den gewaltigen Wahn westlicher Allmachtsfantasien klarer erkennen.

Um solche Katastrophen in Zukunft zu verhindern, ist es notwendig, einige der größten Fehler zu benennen, die eigentlich keine Fehler sind, sondern unserer politischen DNA seit dem Imperialismus eingeschrieben.

1. Als wäre das Präsidialsystem der Demokratie letzter Schluss, wurden gleich nach der Vertreibung der Taliban ein zentralistisches System und ein Staatsoberhaupt mit zu viel Macht installiert. Anstatt mit Blick auf die regionalen Unterschiede im Land eine Demokratisierung von unten zu fördern, lokal und kommunal, unter Berücksichtigung gewachsener Strukturen und mit Einbindung aller Menschen in einem Prozess der selbst gestalteten Ermächtigung.

2. Obwohl das ursprüngliche Ziel des militärischen Einsatzes die Vernichtung von al-Qaida war und große Teile der Taliban mit dieser Terrororganisation nichts zu tun hatten, wurden die Taliban von Anfang an dämonisiert und zu keiner der vermeintlich inklusiven Konferenzen eingeladen. 19 Jahre lang wurde weiter Krieg geführt, obwohl der ursprüngliche Kriegsgrund weggefallen war, gegen Kräfte, die keine Möglichkeit hatten, sich in eine pluralistischere Gesellschaft einzubringen.

German military Chaplains during a funeral service at ISAF.jpg

Freiwillig, unter der Begleitung religiöser Gesänge lassen sie sich in Kriege schicken, um sich  anschließend, wenn sie ihren Meister – den Tod gefunden haben, innerhalb einer politischen Stunde als Helden feiern zu lassen ? Als Beispiel des politischen Irrsinn in dieser Welt ?

3. Korruption und Gewalt. Nur eine Zahl sei genannt: Laut einer Studie der UNO zahlten Afghaninnen schon im Jahre 2010 Bestechungsgelder in Höhe von 2,5 Milliarden Dollar an Soldaten, Richter und Beamte, sogar an Lehrer und Ärzte. Unter den Taliban durften die Menschen wenig, unter der neuen Regierung mussten sie blechen. Zudem waren unter den einheimischen Verbündeten der internationalen Menschenrechtsmissionare jene brutalen Warlords, die das Land zuvor zugrunde gerichtet hatten.

4. Lügenschützenhilfe. Von Anfang wurde dieser Angriffskrieg (Pardon: „die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe“) begleitet von euphemistischen Exzessen. Je düsterer die Lage, desto mehr musste rhetorisch aufgerüstet werden. Auf der einen Seite die teuflischen Taliban, die unsere Zivilisation gefährden, auf der anderen die phänomenalen Fortschritte, für deren Absicherung es halt noch ein wenig Gewalt braucht. Ein propagandistisches Schneeballsystem, das zusammenbrechen musste, spätestens als die Zahl der Nato-Soldaten im Land die 100.000 überstieg, als sich Selbstmordattentate häuften, Drohnen Kinder zerfetzten und Bomben Hochzeiten in Beerdigungen verwandelten.

Quelle        :        TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     German Chancellor Angela Merkel on a visit with the German ISAF forces in Afghanistan. She is meeting with Major-General Hans-Werner Fritz, commander of the German forces in Afghanistan. origianl caption: A meeting was held between Gen. David H. Petraeus, commander, International Security Assistance Force, President of Afghanistan Hamid Karzai and Chancellor of Germany Angela D. Merkel, at Headquarters Regional Command North Dec. 18. ISAF RC North supports Afghanistan in creating a functioning government and administration structure, while preserving Afghan traditions and culture. (U.S. Navy photo/Mass Communication Specialist 2nd class Jason Johnston)

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Macht­demons­trationen

Erstellt von Redaktion am 17. Oktober 2021

Gebetsrufe und Glocken-Gebimmel sind überflüssige Macht­demons­trationen

Von Arno Frank

Religion ist bekanntlich wie ein Penis. Es ist okay, einen zu haben. Und es ist völlig in Ordnung, stolz darauf zu sein. Nur sollte man ihn – bitte, bitte – nicht in der Öffentlichkeit herausholen und damit herumwedeln.

Mit diesem zugegeben leicht agnostischen Gleichnis ist der Gedanke des Laizismus im Grunde auf den Punkt gebracht. Auf Köln, wo alles „kütt, wie et kütt“, lässt er sich leider nur begrenzt anwenden. Dort wird demnächst ein Muezzin zum Gebet rufen, diese Woche hat die Stadt Köln ihr Okay gegeben. Jodeln darf der zum Gebet Rufende nun freitags zwischen 12 und 15 Uhr, für maximal fünf Minuten.

Und in diesem speziellen Fall wird’s schnell politisch. Und knifflig. Denn mit dem Popanz islamistischer Überfremdung lassen sich allzu leicht Ängste schüren. In Frankreich, dem Mutterland des Laizismus, funktioniert das sehr gut. Die Identitäre Bewegung hat sich einen reaktionären Jux daraus gemacht, überraschte Bevölkerungen mit einem Gebetsruf am frühen Morgen aus dem Schlaf zu reißen. Per Lautsprecher und als Weckruf sozusagen. Damit auch der letzte christlich geprägte Alteuropäer erwacht und erkennt, was ihm noch blühen wird.

Was Reisende aus Marrakesch, Amman oder Srinagar kennen und lieben, werden sie am Rhein nur begrenzt erleben. Mit fünf Rufen am Tag, dem ersten bereits zum Sonnenaufgang, legt sich in muslimischen Ländern ein als exotisch empfundenes Gewebe aus Schallwellen über die Städte. Der Muezzinruf ist für die Phonetik, was das Minarett für die Architektur ist – eine Setzung.

In Deutschland setzen behördliche Verfügungen den Traditionen dieser jüngsten aller abrahamitischen Religionen enge Grenzen – nicht aus Xenophobie, ach was. Einfach, weil es Deutschland ist: Die Nachbarschaft muss „mittels Flyer“ darüber informiert werden, dass es diesen Muezzin gibt und was der macht. Es gibt eine Lautstärkeobergrenze.

Politisch ist auch die Moschee selbst, weil sie der „Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion“ (Ditib) – und damit Erdoğan – als Zentraltempel dient; mithin als kulturell-demografischer Fuß in der Tür einer allzu liberalen deutschen Mehrheitsgesellschaft. Schlimm. Andererseits sind rund 120.000 aller Kölnerinnen und Kölner muslimischen Glaubens. Schön, wenn die sich in ihrer Stadt zu Hause fühlen und ihre spirituellen Bedürfnisse befriedigen können.

Das alte Moscheegebäude hatte den Charme einer Kfz-Zulassungsstelle. Der Neubau krönt mit beinahe ökumenischer Eleganz das Lebenswerk des Kirchenbauers Paul  Böhm. Wer für Integration eintritt, kann sich darüber nur freuen. Es ist ein soziokultureller Fortschritt, eine Bewegung in Richtung einer progressiveren Gesellschaft.

Ein zivilisatorischer Fortschritt aber ist es nicht. Zumindest nicht aus laizistischer Sicht, die dem Glauben und seiner Ausübung eher gleichgültig gegenübersteht und auf einer Trennung zwischen Staat und Kirche, Öffentlichem und Privatem, Vernunft und Hokuspokus beharrt.

Das Übergreifen von Religion in den öffentlichen Raum hat eine lange Tradition. Wer das Leben der Menschen rhythmisiert, der hat es unter Kontrolle. Beobachten lässt sich das etwa an St. Peter in Zürich. Schon den Vorgängerbau zierten seit der Reformation gewaltige Zifferblätter von absurder Größe. Sie zeigten in alle vier Himmelsrichtungen an, was die Stunde geschlagen hat.

Max Weber hatte erkannt, dass „zwischen gewissen Formen des religiösen Glaubens und der Berufsethik“ gewisse „Wahlverwandtschaften“ erkennbar seien. Die protestantische Prädestination lehrt, dass geschäftlicher Erfolg von Gott gewollt ist. Die Pleite übrigens auch, Pech gehabt. Wer sich aber bemüht und pünktlich (!) sein Tagwerk verrichtet, zeigt Gottesfurcht und Geschäftstalent gleichermaßen. Daher die großen Uhren von St. Peter, daher überhaupt auch die Uhrmacherkunst helvetisch-calvinistischer Provenienz.

Glauben strahlt ab, auch wenn die christlichen Kirchen an Strahlkraft verloren haben. Wenn es neben Kuhglocken und dem Rauschen der Umgehungsstraße so etwas wie eine akustische Signatur der Provinz gibt, dann ist es das Gebimmel der Glocken. Vergessen ist der Sinn, dass das Morgenläuten an die Auferstehung, das Mittagsläuten an das Leiden und das Abendläuten an die Menschwerdung eines jüdischen Wanderpredigers aus Palästina erinnern soll.

Quelle        :       TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —      St.-Peters-Glocke im Kölner Dom (Dicker Pitter)

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Imperiale Nostalgie

Erstellt von Redaktion am 12. Oktober 2021

Vielfalt in Deutschland

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Was wird von einen Land erwartet, indem viele Politiker-Innen nie über die Mentalität des Ballermann hinausgekommen sind und in anderen Ländern die roten Teppiche kaum  verlassen haben !

Von Regina Römhild

Vom schwierigen Umgang weißer Männer mit den postkolonialen Realitäten im heutigen Deutschland.

Gleich zu Beginn der Sitzung war es wieder so weit: Ein gestandener Professor verkündete mit betont ironischem Unterton, dass er sich freue, hier als weißer, alter Mann noch mitreden zu dürfen. Zustimmung heischend schaute er in die Runde – und tatsächlich quälten sich einige der anwesenden Kolleginnen ein strategisches Lächeln ab. Denn in dem Meeting ging es um die Förderung von Diversität an der Universität.

Und wie so oft hielten wir es deshalb für ratsam, im Dienste der guten Sache trotz solcher eigentlich inakzeptabler Äußerungen stillzuhalten. Ich weiß nicht, wie häufig ich Varianten dieses Witzes, der gar nicht witzig ist, in den letzten Jahren gehört habe. Immer schwingt dabei die Überzeugung mit, dass es irgendwie unverständlich oder sogar ungehörig sei zu verlangen, dass man sich selbstkritisch mit strukturellen Privilegien, die ein tief in der Gesellschaft verwurzelter Rassismus und Sexismus so mit sich bringen, auseinandersetzen solle.

Das sehen Menschen, die im Visier dieser Diskriminierungen stehen, gemeinhin anders: Frauen* und Queers; Personen, die als nicht (ganz) weiß gelten und Menschen, die mit anderen, jenseits des europäischen Westens imaginierten Religionen und Kulturen assoziiert werden.

Gerade aus ihrer Perspektive zeigt sich deutlich, wie berechtigt es ist, auch mal die Haltung derjenigen kritisch zu betrachten, die sich in einer wie selbstverständlich privilegierten, scheinbar eindeutigen Position wähnen und von dort aus kopfschüttelnd über den als „Identitätspolitik“ kleingeredeten Widerstand der Anderen urteilen. Dass diese Privilegien heute tatsächlich herausgefordert werden, ist unübersehbar.

Prozesse einer Dekolonisierung alter Machtverhältnisse, die nicht nur weit weg, sondern auch vor der eigenen Haustür spürbar werden, sind manchen Grund genug, sich in ihren vermeintlich angestammten Vorrechten angegriffen zu fühlen. Formen der Selbstviktimisierung, der Stilisierung als nun selbst von Kolonisierung durch fremde Religionen, Kulturen und Geschlechter Betroffene, wurden zwar von der AfD und anderen in den Diskurs eingeführt, heute sind solche Positionen aber längst gängiger Stoff für Diskussionen im gesellschaftlichen Alltag bis in die Seiten der großen Zeitungen.

„Umgekehrter Rassismus“ als Kampfansage

Eine imperiale Nostalgie greift um sich, die offen oder verdeckt der Dominanzkultur einer kolonialen Moderne nachtrauert. Besonders eklatant zeigt sich die zunehmende Aggressivität weißer Selbstüberhöhung in Angriffen auf Wissenschaftler*innen, die zu Rassismus forschen. So geschehen etwa mit Maisha Maureen Auma oder Yasemin Shooman, zwei weithin anerkannten Kolleginnen auf diesem Gebiet.

Auma, Professorin für Kindheit und Differenz an der Hochschule Stendal, hatte in einem Interview beklagt, dass Universitäten weitgehend weiße Institutionen seien und die Zusammensetzung des wissenschaftlichen Personals an Hochschulen die postmigrantische Realität nicht im Mindesten abbildeten. Daraufhin bezichtigte der kulturpolitische Sprecher der AfD-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt Auma eines „Rassismus gegen Weiße“.

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Weiße Schakale verteilen Afrika

Yasemin Shooman, frühere Leiterin der Akademie des Jüdischen Museums und heutige Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), wurde wiederum der Verharmlosung eines solchen „Anti-Weißen-Rassismus“ beschuldigt. In einem Artikel wird Shooman implizit vorgeworfen, sie verteidige Angriffe auf Deutsche.

Der Autor Alan Posener bezieht sich auf einen Debattenbeitrag Shoomans für die Bundeszentrale für politische Bildung, in dem sie „deutschenfeindliche“ Beleidigungen zwar kritisierte, diese jedoch nicht als Form eines gesellschaftlich verankerten Rassismus gelten ließ – eine Einschätzung, die eine etablierte Position innerhalb der Rassismusforschung widerspiegelt.

Interessant ist, dass der Vorwurf der Deutschenfeindlichkeit vor allem an Mus­li­m*in­nen adressiert und gegen diese in Stellung gebracht wird. Der von Posener pauschal an Shooman festgemachte Vorwurf, wer immer sich mit antimuslimischem Rassismus beschäftige, spiele zudem den muslimischen Antisemitismus herunter, erkläre gar die Mus­li­m*in­nen zu den neuen Jü­d*in­nen und fördere die israelbezogene Judenfeindschaft, trägt zu einer geradezu demagogischen Simplifizierung der Sicht auf die Verhältnisse bei.

Es wird suggeriert, es handele sich bei diesen Auseinandersetzungen um einen Kampf, bei dem sich radikale Religionsfreiheit und islamistischer Terrorismus gegenüberstünden. Ein Kampf, in dem nur die eine auf Kosten der anderen Position eingenommen werden könne. Das ist eine pauschale, geradezu demagogische Simplifizierung der Verhältnisse, in der die Existenz von Kri­ti­ke­r*in­nen und einem moderaten Mainstream auf beiden dieser scheinbar eindeutigen Seiten unterschlagen wird.

Auch in Frankreich nimmt der Diskurs polarisierende Züge an, wenn etwa Präsident Emmanuel Macron nach dem islamistisch motivierten Anschlag auf den Lehrer Samuel Paty ganz unverhohlen eine „linke“, rassismuskritische Universitätskultur beschuldigte, den Hass auf „Weiße“ und „Frankreich“ zu befördern. Solcher Hass wird implizit generalisierend ‚den‘ Mus­li­m*in­nen unterstellt. Ebenso implizit und generalisierend wird ‚die‘ nicht-muslimische Gegenseite als säkular und tolerant imaginiert.

Gewaltgeschichten sind verflochten

Das ist eine Neuauflage kolonialrassistischer Fremd- und Selbstbilder, die ebenso pauschalisierende Gegenwehr provoziert und damit die existierenden Spielräume eines möglichen Dialogs immer weiter verkleinert. Vor diesem Hintergrund sind differenzierende Stimmen wie die von Yasemin Shooman unverzichtbar. Ihre Berufung in den Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit durch Innenminister Seehofer ist ein Zeichen, sich endlich auch mit den gegen Mus­li­m*in­nen gerichteten Ressentiments aus fundierter wissenschaftlicher Perspektive zu befassen.

Die reflexartig vorgebrachten Vorwürfe aus konservativen und rechten Kreisen, wonach es hier eine Schieflage in die andere Richtung gebe, nämlich zu wenig auf Kri­ti­ke­r*in­nen des Islamismus zu hören, sind ungerechtfertigt. Das Gegenteil ist der Fall, wie wir seit den gefühlt ewig verschleppten und einseitig verzerrten Ermittlungen zu den terroristischen Anschlägen des NSU wissen. Die Welle der gegen Mus­li­m*in­nen gerichteten Gewalttaten reißt indes keineswegs ab.

Das haben nicht zuletzt die Morde von Hanau deutlich gemacht. Kampagnen wie die gegen Yasemin Shooman tragen nur dazu bei, die diversen Formen extremistischer Gewalt und Rassismus gegeneinander auszuspielen – ohne die Verflechtungen dazwischen in den Blick zu nehmen.

Gerade jetzt, wo im Zuge des wieder aufgeflammten Israel-Palästina-Konflikts die Grenze zwischen Antisemitismus und Kritik an der israelischen Regierung in den Protesten vielfach verwischt und überschritten wird, spitzen sich die Attacken auf Kri­ti­ke­r*in­nen eines antimuslimischen Rassismus weiter zu. So zeigt der jüngste Fall der Journalistin Nemi El-Hassan, dass es immer schwieriger wird, sich in dieser politisch verminten Zone zu bewegen, ohne damit die eigene Karriere in der deutschen Medienlandschaft aufs Spiel zu setzen.

Quelle          :        TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben          —      Title: A troublesome egg to hatch / J.S. Pughe. Abstract/medium: 1 print : chromolithograph.

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Juhu, wir dürfen wählen

Erstellt von Redaktion am 8. September 2021

Wahlplakate zwischen Karneval und konkreter Poesie

Wahlplakat 2021 MLPD Obergiesing Muenchen-1.jpg

Wehe wenn sie losgelassen. Jetzt versprechen die Volksverräter alles das, was sie schon seit vielen Jahren hätten machen können, aber nicht gemacht haben.

Von Ilja Trojanow

Alle vier Jahre ein heiliger Augenblick der Teilhabe. Hitzige Debatten gepaart mit feierlicher Stimmung. Die AfD kann kein Deutsch. Die FDP liebt Dudenrein die Freiheit. Die CDU will machen.

Im späten Sommer auf dem Weg zu einem Literaturfest im Wiesbadener Burggarten, organisiert mit Enthusiasmus und ehrenamtlichem Engagement, fiel mein Blick auf ein Plakat: DER MENSCH MACHT’S. Der Satz ist so kryptisch, er hieß mich innehalten. Ansonsten stand nichts da, so als wäre ein eleganter Auslassungsapo­stroph Aussage genug. Wie gewitzt, dachte ich, den Passanten wird Fantasie abverlangt.

Für Anhänger der repräsentativen Demokratie sind Bundestagswahlen der entscheidende Moment der Meinungsfindung. Volkes Stimme kommt zu Wort. Alle vier Jahre ein heiliger Augenblick der Teilhabe. Hitzige öffentliche Debatten gepaart mit feierlicher Stimmung, müsste mensch annehmen. Ein Ringen um Wege aus der Sackgasse, den unsere Zivilisation eingeschlagen hat, müsste mensch hoffen. Die Kulmination eines diskursiven Prozesses, ohne den die Idee unseres politischen Systems keinen Sinn ergibt.

Stattdessen ein wenig Boulevardtheater in den Medien und Plakate im öffentlichen Raum. Welches Verständnis von Politik kommt in den Appellen der Parteien an die Bürgerinnen zum Ausdruck? Welche wichtigen Botschaften erstrahlen zwischen Asphalt und Mastleuchte? Die Antwort: „Der Mensch macht’s“.

Sofort brachen Assoziationen über mich herein: „Milch macht müde Männer munter.“ Des Weiteren: „Wer macht hier, hat gemacht, was ist hier ausgemacht?“ Oder einfacher: „Was macht die Macht?“ Ein gelungenes Plakat, zu Karnevalszwecken oder als Anregung zur konkreten Poesie. Es handelte sich allerdings um Werbung für den Bundestagskandidaten der CDU, einen gewissen Ingmar Jung, vor vier Jahren erfolgreich unterwegs mit „Jung macht’s einfach“.

Nun sollte gerade die Christlich Demokratische Union wissen, dass der Mensch denkt und Gott lenkt. Oder in passender Variation: „Der Mensch macht, Gott lacht.“ Wie soll die Zuversicht von „Der Mensch macht’s“ wenige Wochen nach der Flutkatastrophe verstanden werden – als Hybris oder als Eingeständnis humanen Versagens?

Werbung und Politik sind seit Längerem schwer auseinanderzuhalten. Das ist keine neue Erkenntnis und trotzdem betrüblich. „Wir machen ehrliche Politik!“ prangt im Süden der Republik in Großbuchstaben und blauer Farbe auf einem Breitwandposter an einer Kurve der Bundesstraße 10. Noch so ein Wahlkampfspruch, könnte mensch meinen, doch handelt es sich um Werbung eines Mobilfunkanbieters. Da denkt das Volkshirn doch gleich an „das Blaue vom Himmel“.

Unter diesem großspurigen Versprechen findet sich aber mehr konkrete Information als auf jedem Wahlkampfplakat, nämlich die Kosten für ein Monatsabo, bis auf den Cent genau beziffert. Das wirkt geradezu erfrischend konkret im Vergleich zu dem Plakat in der nächsten Kurve: „Respekt für dich“, gezeichnet Herr Scholz. So respektvoll wie „Hartz IV“ etwa?

Was haben Menschen nicht alles schon gelesen – bevor sie verwesen ?
Gebrochene Versprechen sind auch Verbrechen !

Auf dem Land, etwa im schönen schwäbischen Örtchen Schlat, sind die Plakate noch bescheidener. Ein netter älterer Herr schaut einen unverbindlich freundlich an – Hermann Färber: „Ihre Stimme im Bundestag“. Womit nicht anderes benannt wird als das Prinzip der parlamentarischen Demokratie, so als müsste dieses einem unkundigen Volk erst noch verklickert werden. Im Nachbardorf wird es endlich programmatisch. Eine junge Polizistin schaut streng, aber gerecht, den Autofahrerinnen und Fußgängerinnen ins Auge: „Mit Sicherheit. Deutschland gemeinsam machen“. Wir erkennen, bundesweit gilt: CDU = macht. Egal wie geschrieben.

Mit dem Thema Sicherheit ist bekanntlich leicht Heu machen, nicht nur in Tempo-30-Zonen. Am Ortsausgang hängt ein AfD-Plakat: „Security an den Grenzen statt im Supermarkt“. Da Birnen und Äpfel hierzulande seit den Germanen heimisch sind, müsste die AfD begreifen, dass sie sich nicht vergleichen lassen. Aber – sorry security – ein wenig enttäuschend ist es schon, dass just die AfD die deutsche Sprache verlernt hat.

Das Plakat von Herrn Lindner tönt hingegen dudenrein: „Aus Liebe zur Freiheit“. Unter der Lupe offenbart dieser Minimalsatz die zwei abgegriffensten Schlagworte der deutschen Sprache. Interessant sind ergo nur die Präpositionen. Einige Alternativen wären denkbar: „Durch Liebe mehr Freiheit“. Oder: „Zur Liebe, zur Freiheit“. Allesamt brauchbarer als die gewählte, denn es bleibt erschreckend unklar, was Herr Lindner aus Liebe zur Freiheit (wessen?) so alles zu tun bereit ist.

Quelle       :         TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Grafikquelle :

Oben      —     Wahlplakat der MLPD zur Bundestagswahl 2021, Obergiesing, München

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Debatte um „Vaterjuden“

Erstellt von Redaktion am 5. September 2021

Wer entscheidet, wer Jude ist?

Von Micha Brumlik

Um diese Frage ist in der jüdischen Community ein Streit entflammt. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Wer Jude war, hat sich oft verändert.

Die Frage, ob auch sogenannte „Vaterjuden“ „richtige“ Juden sind, ist erneut entbrannt. Der zuletzt mit einer brillanten Novelle hervorgetretene Autor Maxim Biller hatte dem jungjüdischen Aktivisten Max Czollek abgesprochen, jüdisch zu sein. Ins Kreuzfeuer geraten ist dabei auch der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, der – wie es seines Amtes ist – die traditionelle Sichtweise vertritt.

Dieses Problem hat schon vor mehr als zehn Jahren den Vizepräsidenten des Landesverbandes der israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, den zu früh verstorbenen Heinrich C. Olmer, nicht ruhen lassen. Er hat daher ein Buch vorgelegt, das zu den wichtigsten Beiträgen zur Sicherung jüdischer Zukunft nicht nur in Deutschland gehört.

Olmers Buch „‚Wer ist Jude?‘. Ein Beitrag zur Diskussion über die Zukunftssicherung der jüdischen Gemeinschaft“ wagte sich an die auch aktuell hoch umstrittene Frage: warum die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk nur durch die Abstammung von einer jüdischen Mutter oder durch eine formgerechte rabbinische Konversion erlangt werden kann, aber nicht, wie in biblischen Zeiten, durch einen jüdischen Vater. 2017 hat darauf folgend Ruth Zeifert – selbst Tochter eines jüdischen Vaters – eine anregende Studie unter dem Titel „Nicht ganz koscher. Vaterjuden in Deutschland“ vorgelegt.

Die Frage, wer Jüdin oder Jude ist und wer wie Jüdin oder Jude werden kann, geht über rein religiöse Belange weit hinaus. So hat der Staat Israel sein Rückkehrgesetz seit Langem den komplizierten Familienverhältnissen jüdischer Immigranten aus der Sowjetunion angepasst, so hat das Reformjudentum in den USA schon seit Langem beschlossen, dass Kinder jüdischer Väter „Bat- oder Bar Mizwah“, also religiös mündig werden können, sofern sie von ihren Vätern nicht nur gezeugt, sondern eben auch jüdisch erzogen worden sind.

Ansonsten ist Jüdin oder Jude, wer entweder von einer jüdischen Frau geboren wurde oder vor einem anerkannten Rabbinatsgericht förmlich konvertiert ist (nach warnenden Vorhaltungen sowie ausführlichem Studium von Tora, Talmud und Halacha sowie langjähriger, korrekter religiöser Lebensführung).

Bezüglich des komplexen Verhältnisses von Ethnizität und Religion im Judentum heißt das, dass man durch eine religiöse Zeremonie zur Angehörigen eines Ethnos werden kann, während Personen, denen jede Religiosität gleichgültig oder gar verächtlich ist, im religiösen Sinne sogar dann als Juden oder Jüdinnen gelten, wenn sie von einer areligiösen Mutter geboren wurden: sofern diese ihrerseits eine nachweislich jüdische Mutter hatte.

Historisch sind also zwei Fragen zu klären: Wann entstand das Judentum als Religion, und wann und unter welchen Umständen wurde die Matrilinearität als Kriterium der Zugehörigkeit zu dieser Religionsgemeinschaft durchgesetzt?

Western Wall, Jerusalem, (16037897867).jpg

Der amerikanische Gelehrte Shaye J. D. Cohen hat dieser Frage vor zwanzig Jahren eine bahnbrechende Monografie unter dem Titel „The Beginnings of Jewishness. Boundaries, Varieties, Uncertainties“ gewidmet, in der er zunächst nachweist, dass jüdische Frauen und Männer in der griechisch-römischen Antike vor dem Jahre 90 – abgesehen von ihren religiösen Bräuchen – in keiner Hinsicht von anderen Menschen zu unterscheiden waren und es zudem keine öffentlich nachprüfbaren Verfahren gab, um festzustellen, ob jemand zum Judentum konvertiert ist – sieht man einmal von der männlichen Pflicht zur Beschneidung ab.

Belege für das Matrilinearitätsprinzip finden sich zunächst in der Mischna, im Traktat „Qiddushin“ 3:12, wo es um die Legitimität von Kindern geht, die aus nicht zulässigen sexuellen Verbindungen hervorgehen, und im Traktat „Yevamot“ 4:13, wo es um die Stellung eines „Mamzers“, eines unehelichen Kindes, geht. Der Religionswissenschaftler Cohen hat sorgfältig nach möglichen Gründen für die Einrichtung des Matrilinearitätsprinzips gesucht: In der Hebräischen Bibel, im Buch Esra, finden sich Hinweise auf die Ungewissheit aller Vaterschaft, auf die Intimität des Mutter-Kind-Verhältnisses sowie auf Rückstände eines archaischen Matriarchats.

Cohen kommt zu dem Schluss, dass die wahrscheinlichste Lösung des Problems in einer stillschweigenden Übernahme römischer Rechtsgrundsätze durch die Rabbinen liegt, die den Status von Kindern unter allen Umständen dem Status ihrer Mütter zuordneten. Aber auch Cohen räumt ein, dass bis zur Zeit der Mischna, also bis Ende des zweiten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung, unter den Juden nur das Patrilinearitätsprinzip galt: „Why, then, did the rabbis break with previous practice! I do not know.“

Heinrich C. Olmer wagt einen anderen Schluss: Er geht davon aus, dass die Rabbiner nach dem gescheiterten Bar-Kochba-Aufstand im zweiten Jahrhundert die mütterliche Abstammung an die Stelle der väterlichen gesetzt hätten – aus pragmatischen Gründen, angesichts der Versklavung und Verschleppung jüdischer Männer. Ob es sich dabei um eine durch Quellen belegte Einsicht oder um eine Rückprojektion handelt, ist bis heute ungeklärt.

Quelle      :         TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

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Oben        —   Junge mit Kippa

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Der Elefant im Raum

Erstellt von Redaktion am 29. August 2021

Die Talibanisierung der Welt

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Von Ibrahim Quraishi

Mein Onkel Abu-­Gharb (ironischerweise bedeutet sein Name übersetzt: „Lieber Westen“) sagte neulich am Telefon:

„Ich bin Muslim, ein echter Gläubiger, der im Westen lebt. Ich bin hierher gezogen, weil ich selbstverständlich in Freiheit leben möchte, die mir die sogenannte Demokratie bieten kann. Noch wichtiger ist mir, die Freiheit zu haben, ein guter Muslim, eben ein guter Mensch zu sein: Ich protestiere gegen Israel. Ich setze mich für die Rechte der Palästinenser ein. Aber ich spreche mich nur ungerne gegen die Taliban, Isis oder gar al-Qaida aus, denn das ist nicht mein Ding. Ehrlich gesagt, sind alle Probleme dort drüben die Schuld des Westens. Die aus dem Westen haben sie geschaffen, sie haben uns kolonisiert und sie führen immer noch ihre Kreuzzüge gegen uns. Sie kontrollieren unser Öl und unser Volk, deshalb haben die USA Osama bin Laden erfunden, um ihren sogenannten Krieg gegen den Terror zu rechtfertigen. Aber am Ende kontrollieren eh die Juden alles. Schau dir doch Soros an!“

Ja, beschuldigt den Westen, den Kolonialismus, beschuldigt die, die uns angeblich hassen und den Islam zerstören wollen. Ja, auch dem Monster unter dem Bett können wir die Schuld geben.

Wir müssen endlich aufhören, den Elefanten im Raum zu ignorieren. Letzten Endes liegt die Verantwortung bei Millionen und Abermillionen passiver Gläubiger. Denjenigen, die sich in ihrem kollektiven Schweigen weigern, wenn es um islamischen Fundamentalismus geht, auf den Podien der Weltöffentlichkeit ihre Stimme zu erheben. Denjenigen, die immer Wege finden werden, um Frauenfeindlichkeit und Hass auf andere zu rechtfertigen, und die immer Ausreden für Intoleranz auf jeder nur denkbaren Ebene finden.

Diese unschuldigen Sym­pa­thi­san­t:in­nen wie mein Onkel finden immer Entschuldigungen für das Unerträgliche. Und es ist in der Tat ihnen, Leuten wie ihm, den Gläubigen des Islams und ihren linken, politisch-korrekten Freun­d:in­nen und den Po­li­ti­ke­r:in­nen zu verdanken, die ein solch unaufrichtiges Spiel der Beschwichtigung religiöser Intoleranz spielen, dass wir uns heute in einer so schrecklichen kulturellen und politischen Sackgasse befinden.

Stimmen gegen den Hass

Wir wissen nur zu gut, dass soziale Revolutionen nicht nur von politischen Parteien oder außerparlamentarischen Gruppen, Militärjunten, Stammesführern oder gar religiösen Kadern gemacht werden, sondern das Ergebnis massiver historischer Kräfte und tief verwurzelter, soziokultureller Frustrationen mit nicht enden wollenden Widersprüchen sind. Sie sind es, die bestimmte oder oft sogar große Teile einer Bevölkerung dazu bringen, sich gegen das Unerträgliche zu mobilisieren.

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Wann wird der Punkt erreicht sein, an dem die anhaltende Radikalisierung in praktisch allen islamischen Ländern von Marrakesch bis Jakarta gestoppt wird? Was ist unser Endspiel? Wenn wir millionenfach Gerechtigkeit für die Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen fordern, dann sollte es kein Problem sein, genau diese Stimmen zu bekommen, um gegen alle uns umgebenden Formen von Intoleranz und Hass zu protestieren.

Wo sind die mutigen muslimischen, die wütenden arabischen Stimmen, die Gerechtigkeit fordern gegen die Talibanisierung der gesamten muslimischen Welt? Wann ist es endlich erlaubt, sich gegen die ständige Instrumentalisierung des Islams zur Aufrechterhaltung von Hass und messianischer Gewalt zu wehren? Warum wird weiterhin endlos geschwiegen? Wann werden wir aufhören, im Namen der Religion zu töten? Schluss, aus, es reicht!

Frage des Überlebens

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Oben     —   This photo is caught from video that was recorded by RAWA in Kabul using a hidden camera. It shows two Taliban from department of Amr bil Ma-roof (Promotion of Virtue and Prevention of Vice, Taliban religious police) beating a woman in public because she has dared to remove her burqa in public.

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Petitionen gegen Abtreibung

Erstellt von Redaktion am 7. August 2021

Angriff der christlichen Fundis

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Von Anne Fromm, Luise Strothmann, Patricia Hecht und Sebastian Erb

Die rechtskonservative Plattform CitizenGo kämpft europaweit gegen Abtreibung und mehr LGBTIQ-Rechte. Ein Datenleak zeigt, mit wessen Geld.

Der Brief, den der russische Oligarch Konstantin Malofejew im Jahr 2013 bekommt, beginnt förmlich. „Ich danke Ihnen sehr für die Möglichkeit, Ihnen persönlich unsere Idee von CitizenGo zu präsentieren“, steht dort. Geschrieben hat ihn der spanische Antiabtreibungsaktivist Ignacio Arsuaga. Er braucht Geld. Und der Oligarch Malofejew hat Geld.

Konstantin Malofejew pflegt enge Kontakte zur russisch-orthodoxen Kirche und dem Präsidenten Wladimir Putin. Er organisiert Kongresse für Abtreibungsgegner*innen, Homosexualität setzt er gleich mit Sodomie. Die Demokratie lehnt er ab und hat beste Kontakte in die rechten Parteien Europas. Für Arsuaga ist er der perfekte Geldgeber. Der Aktivist will eine internationale Kampagnenplattform aufbauen, die gegen Abtreibung kämpft, gegen die Gleichstellung von Homosexuellen und gegen die Ehe für alle.

Er plant nicht irgendeine Plattform. CitizenGo soll „die einflussreichste internationale christlich inspirierte Mobilisierungswebsite“ werden, so schreibt es Arsuaga im April 2013 an Malofejew. Eine, die „nationale Regierungen, Parlamente und internationale Institutionen effektiv beeinflusst“. Er bittet um 100.000 Euro Anschubfinanzierung. Wenig später, so legen es interne Schreiben von CitizenGo nahe, steigt Malofejew ein.

Der Brief an Konstantin Malofejew ist eines von rund 17.000 Dokumenten, die die Enthüllungsplattform Wikileaks am Donnerstagabend veröffentlicht hat. Die taz und andere Medien in Spanien, Italien und Mexiko konnten sie vorab einsehen, prüfen und auswerten. Es handelt sich wahrscheinlich um Material, das ursprünglich von einer Hackergruppe stammt. Die begründete ihren Angriff auf CitizenGo damit, die Rechte von Schwulen, Lesben, Queers, trans und inter Personen (LGBTIQ) verteidigen zu wollen. Laut Aussage von CitizenGo auf ihrer Website hatten sich Ha­cke­r*in­nen im Jahr 2017 Zugang zu Ordnern des Präsidenten der Organisation, Ignacio Arsuaga, verschafft. Die Dokumente beinhalten Adresslisten, Finanzberichte und Strategiepapiere vom Anfang der 2000er Jahre bis 2017.

Rechtlich ist CitizenGo eine in Spanien eingetragene Stiftung. Die Plattform setzt sich für das Leben, die Familie und die Freiheit ein, so steht es auf der Website. Intern ist die Darstellung deutlicher – und martialischer. Die Organisation sieht sich in einem Kulturkampf, einem Kampf zwischen der Kultur des Lebens und der Kultur des Todes. In einem Kampf Gut gegen Böse.

Die Bösen, das sind für CitizenGo die Laizisten. Deren Ziel sei es, die Macht zu übernehmen, um einen neuen Totalitarismus aufzubauen. So kann man es in Strategiepapieren aus der Gründungszeit der Organisation nachlesen. Die Guten, das sind die wahren Christen, die den Kampagnen der globalen Linken etwas entgegensetzen. Deswegen will die Organisation Einfluss nehmen auf die Politik in der ganzen Welt. Sie hat vor, „eine Generation von konservativen Führern“ aufzubauen, national und international.

Die große Niederlage

Mit den Dokumenten über den Anfang von CitizenGo und Recherchen über das, was danach geschah, lässt sich das Bild einer Bewegung zeichnen, die in den vergangenen zehn Jahren profes­sio­neller und internationaler geworden ist. Es geht um Aktivist*innen, die weltweite Netzwerke von Ab­trei­bungs­geg­ne­r*in­nen knüpfen. Um eine Organisation, die die Daten von Fun­da­men­ta­lis­t*in­nen und LGBTIQ-Gegner*innen als Währung entdeckt und dabei das Gesetz bricht. Es geht um Verbindungen zu rechtsextremen Parteien. Und es geht um Einfluss auf das Europäische Parlament, das an den Gesetzen für 447 Millionen Menschen in Europa arbeitet.

Einen ersten Erfolg feiert CitizenGo schon wenige Monate nach der Gründung, Ende 2013. Das EU-Parlament soll über ein Papier abstimmen, in dem es sich dazu bekennt, dass allen Eu­ro­päe­r*in­nen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen und Sexualaufklärung zusteht. Dreimal steht das Papier zur Entscheidung, dreimal wird es abgelehnt. Das ist eine derbe Niederlage für viele Sozialdemokrat*innen, Linke und Liberale im Europaparlament.

Wie hat es eine gerade erst gegründete Organisation geschafft, das Parlament derart zu beeinflussen? Erstens ist CitizenGo nicht allein, sondern Teil einer Allianz fundamentalistischer Gruppen, die in dieser Zeit entsteht. Und sie testen etwas Neues: Sie fluten die Posteingänge der Abgeordneten mit E-Mails und starten Onlinepetitionen. Innerhalb kürzester Zeit sammelt CitizenGo Tausende Unterschriften gegen den Vorschlag. Diese Graswurzelmobilisierung ist für die europäische Rechte bis zu diesem Zeitpunkt beispiellos. Der härteste Gegenspieler von CitizenGo vergleicht den Effekt mit dem Schuss aus einer mächtigen Waffe.

„Wenn du eine große Kanone hast und sie zum ersten Mal abfeuerst, läuft jeder erst mal verängstigt weg“, sagte Neil Datta damals über die Wirkung der Petitionen. Datta, 50 Jahre alt, arbeitet mit seiner Organisation in Brüssel gegen die Pläne von CitizenGo. Er ist Experte für sexuelle Selbstbestimmung, ein Lobbyist der anderen Seite.

Neil Datta, Lobbyist für sexuelle Selbstbestimmung

„Wenn du eine große Kanone abfeuerst, läuft jeder erst mal verängstigt weg“

Datta leitet das Europäische Parlamentarische Forum. Es wird unter anderem von den Vereinten Nationen und der Bill & Melinda ­Gates Foundation finanziert. Das Forum vernetzt EU-Parlamentarier*innen zum Thema reproduktive Rechte; das sind Rechte, die sexuelle und körperliche Selbstbestimmung betreffen. Dazu gehören zum Beispiel die Geschlechtsidentität und auch Schwangerschaftsabbrüche.

Dass das Europäische Parlament 2014 gegen diese Rechte gestimmt hat, ist für Neil Datta eine seiner größten Niederlagen. Im Juni 2021 trifft ihn die taz zum Gespräch per Video. Den Aufstieg von CitizenGo beobachtet er genau, denn für ihn ist die Gruppe „der wichtigste gesellschaftliche Mobilisierer zu Antigenderthemen in Europa“.

Die taz hat mehrfach versucht, mit CitizenGo in Kontakt zu treten. Die Organisation hat nicht reagiert.

Die Macht der Rechten ist gewachsen

Im Frühjahr 2021 sieht es so aus, als könnten die Ab­trei­bungs­geg­ne­r*in­nen ihren Coup von 2013/2014 wiederholen. Wieder stimmt das EU-Parlament ab, dieses Mal geht es darum, dass alle Eu­ro­päe­r*in­nen­ frei­en Zugang zu Abtreibung und Sexualaufklärung haben sollen.

Das Papier, über das die Abgeordneten entscheiden werden, heißt Matić-Report – benannt nach dem kroatischen Sozialdemokraten Predrag Matić, der den Bericht in das Parlament eingebracht hat. Die Abstimmung ist für den Sommer geplant. Aus der Sicht von CitizenGo ist der Report ein weiterer Versuch des Bösen, die Herrschaft in Europa zu übernehmen.

Für die Be­für­wor­te­r*in­nen des Reports geht es ebenfalls um sehr viel. Auch wenn die Entschließung des Parlaments nicht bindend ist, so schafft sie doch ein Fundament für Politik. Sie kann sich auf Förderungen auswirken und auf Beitrittsverhandlungen. Einfach so werden sie den Bericht aber nicht durchkriegen. Sie müssen kämpfen.

Denn die Chancen von CitizenGo, Einfluss auf die europäische Politik und damit auf die Menschen zu nehmen, die in der Europäischen Union leben, sind dieses Mal ungleich größer als acht Jahre zuvor. Sie wirbt mittlerweile damit, mehr als „15 Millionen aktive Bürger“ zu vertreten. Überprüfen lässt sich die Zahl zwar nicht. Fest steht laut unseren Recherchen aber: Die Reichweite von CitizenGo ist gewachsen. Und: Europa hat sich verändert. In Polen ist Abtreibung de facto verboten. Ungarn macht Politik gegen queere und trans Menschen. Selbst in Deutschland führen immer weniger Frau­en­ärz­t*in­nen Abtreibungen durch. Vor der Abstimmung des Matić-Reports ist klar: CitizenGo wird alles tun, damit er abgelehnt wird.

Dass die Organisation solchen Einfluss auf die europäische Politik nehmen kann, liegt unter anderem daran, dass sie verschiedene Szenen der religiösen Rechten zusammenbringen kann. Gegründet wird CitizenGo 2012. Konservative Chris­t*in­nen aus der ganzen Welt treffen sich damals zum World Congress of Families in Madrid, einem jährlichen Szeneereignis der christlich-fundamentalistischen Bewegung gegen Abtreibung und gegen Rechte von LGBTIQ. Auf diesem Kongress, so wird es Ignacio Arsuaga, der Gründer von CitizenGo, später an den potenziellen russischen Geldgeber Konstantin Malofejew schreiben, „haben wir realisiert, wie wichtig es ist, dass wir das Graswurzellobbying für Pro-Life und Pro-Family besser koordinieren und unterstützen“.

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Der Influencer des A. Laschet ?

Der Spanier Arsuaga, Jahrgang 1973, ist Jurist, er hat für Kanzleien gearbeitet und eine Social-Media-Agentur gegründet. Mit zwei Freunden ruft er bereits Jahre zuvor die Initiative Hazte Oír ins Leben mit der sie ihren politischen Forderungen Gehör verschaffen wollten. Das Mittel schon damals: Onlinepetitionen. In Spanien läuft das sehr gut. Jetzt soll es noch größer werden, professioneller und vor allem: international. Ihr Name: CitizenGo.

Was Ignacio Arsuaga vorschwebt, ist eine Plattform, die unentwegt Petitionen lanciert und Unterschriften sammelt. Die Vorbilder sind eher linke und alternative politische Plattformen wie Avaaz und Change.org. Arsuaga ist ehrgeizig: Innerhalb von einem Jahr soll CitizenGo eine Million Mitglieder haben.

Er scheint Erfolg zu haben.

Ab 2013 tourt Arsuaga durch die Welt und stellt ausgewählten Leuten die Idee von CitizenGo vor. „Wir verteidigen kraftvoll die Werte des Lebens, der Familie und der Freiheit“, so steht es in einer Powerpoint-Präsentation. Für das Kuratorium gewinnen sie neben einem Vertrauten des russischen Oligarchen Malofejew einen Berater des Vatikans, einen Funktionär der christlichen Rechten in den USA – und den italienischen Politiker Luca Volonté, der bis 2013 Chef der EVP im Europarat war und sich von zwei aserbaidschanischen Politikern bestechen ließ.

Das Geld kommt aus Deutschland

Die Großspender geben den Anschub, das Fundament von CitzenGo werden Klein­spen­de­r*in­nen aus der ganzen Welt, viele von ihnen aus Spanien und Lateinamerika. Allein im Jahr 2020 hat die Organisation mehr als vier Millionen Euro Spenden eingesammelt.

Die Deutschen sind laut einer internen Präsentation besonders großzügig. Wer die Menschen sind, die für den Aufbau der deutschen Sektion spenden, lässt sich in einer Liste von 2015 nachlesen. Es ist vor allem das westdeutsche katholische Bürgertum, keine prominenten Namen: katholische Pfarrer, ein Mann, der kurz darauf in einem Kreisvorstand der AfD sitzt, ein Katholik, der in einem Leserbrief an die FAZ Polen dafür gratuliert, dass es Abtreibungen verbieten will. Mehr als 175.000 Menschen aus Deutschland werden Anfang 2016 als Mitglieder bei CitizenGo geführt, gut 3,2 Millionen Mitglieder weltweit.

CitizenGo wird Teil einer Szene, die sich erfolgreich vernetzt, vor allem international. Ihre Ak­teu­r*in­nen reisen durch die Welt, sprechen auf Konferenzen, organisieren Netzwerktreffen von Pro-Life-Vereinen. Auf Einladungen zu diesen Treffen stehen Hinweise wie „No journalists!“ oder „This meeting is strictly confidential“. Die Öffentlichkeit soll nicht merken, wie die sogenannte Lebensschutzbewegung wächst. Und: Diese Bewegung ist nicht allein. Die sogenannten Lebensschützer, bei denen sich christliche Fundamentalisten, Evangelikale und gemäßigte Konservative finden gehen mit Rechten und extremen Rechten eine Allianz ein.

Slogan auf dem „Bus der Meinungsfreiheit“, den CitizenGo auf Tour geschickt hat

„Stoppt übergriffigen Sexunterricht – schützt unsere Kinder“

Das Thema Geschlechterpolitik funktioniert dabei als Scharnier. Es ist anschlussfähig an die gesellschaftliche Mitte – darauf, dass „Gender­gaga“ irgendwie zu weit gehe, können sich viele einigen. Zum anderen ist Geschlechterpolitik ein Kernthema von Rechten. Eine rechte Politik ist ohne die Kontrolle des weiblichen Körpers nicht denkbar. Schließlich geht es dabei auch um Reproduktion und damit schnell um Bevölkerungspolitik.

CitizenGo erkennt, wie viele Menschen sich mit dem Thema ansprechen lassen, und macht sich das zunutze. Die Petitionen, die die Stiftung lanciert, berühren verschiedene Gesellschaftsbereiche. Eine richtet sich gegen Netflix, weil eine Zeichentrickserie dort angeblich Jesus verhöhnt. Eine andere unterstützt das umstrittene Anti-LGBTIQ-Gesetz in Ungarn, das die positive Darstellung von Schwulen und Lesben, trans und inter Personen in der Öffentlichkeit verbietet.

Der Brüsseler Lobbyist Neil Datta hat analysiert, woher das Geld kommt, das die antifeministische Bewegung in Europa investiert. Dafür hat er Finanzberichte zu 54 Organisation für die Jahre 2009 bis 2018 ausgewertet. 707,2 Millionen US-Dollar seien demnach in die Arbeit der Gruppen geflossen, Tendenz steigend. Das Geld russischer Oligarchen fließt genauso nach Europa wie das konservativer Chris­t*in­nen aus den USA mit Verbindungen zur Trump-Regierung. Aber: Der größte Teil des Geldes stammt aus der EU selbst.

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Mit dieser Finanzmacht werden Büros in der Nähe europäischer Institutionen finanziert, Kampagnen geplant und Jurist*in­nen bezahlt, die in Polen Gesetzesentwürfe mitschreiben oder progressive EU-Politik vor Gerichten anfechten.

33 Millionen Dollar für die Kampagnen

CitizenGo und seine spanische Vorgängerorganisation Hazte Oír gehören laut Dattas Zahlen zu den mächtigsten Finanziers von antifeministischen Kampagnen in der EU. Zwischen 2009 und 2018 haben die beiden Organisationen zusammen knapp 33 Millionen US-Dollar in ihre Kampagnenarbeit gesteckt.

Die Kampagnen von CitizenGo beschränken sich nicht auf das Internet. Im Jahr 2017 schickte die Stiftung einen orangefarbenen Bus durch europäische Länder. Der „Bus der Meinungsfreiheit“ machte halt in München, Köln und Berlin. An seiner Seite prangte der Spruch „Stoppt übergriffigen Sexunterricht – schützt unsere Kinder“, dazu das Logo von CitizenGo.

CitizenGo ist nach Dattas Einschätzung auch die Organisation innerhalb der antifeministischen Bewegung, die sich am erfolgreichsten internationalisiert und ihre Strategien an die Gegenwart angepasst hat. Früher haben überzeugte Chris­t*in­nen mit Gott argumentiert. Heute sind sie viel erfolgreicher, wenn sie ihre Aussagen säkularisieren. Heraus kommt eine Sprache, die nach der Verteidigung von Menschenrechten klingt, aber noch dieselben christlich-fundamentalen Ideen enthält. Pro-Life statt „gegen Abtreibung“. Pro-Family statt „gegen Ehe für alle“.

Quelle       :         TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Armin Laschet beim Programmausschuss der CDU Rheinland-Pfalz am 23. Januar 2021.

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2.) von Oben       —     Nathanael Liminski beim Grimme-Preis 2018, am 13.04.2018 in Marl.

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Laschet uns beten

Erstellt von Redaktion am 3. August 2021

Gyros statt Glamour

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Von Bernd Müllender

Der junge Armin Laschet. Kasperlespieler und Chorknabe, Ministrant im Dom und Bischofsgymnasiast: Über Armin Laschets katholische Herkunft und seine Netzwerke in Aachen.

Armin Laschet muss ein sehr umtriebiger Schüler gewesen sein. „Der hat ständig Infobriefe verfasst und war quasi der Informationsminister der Schule.“ Das erzählt Markus Reissen, der mit dem Kanzlerkandidaten der Union fünf Jahre lang bis zum Abitur gelernt hat. „Der Armin war engagiert, politisch immer sehr ehrgeizig, belesen und argumentativ schon als Jugendlicher richtig fit.“

Ein wenig war Laschet mit 18 oder 19, gerade in die CDU eingetreten, auch ein Blender oder anders gesagt, damals schon Politiker: „Wenn der mal weniger Bescheid wusste“, sagt Markus Reissen, „kriegte er es rhetorisch immer so rübertransportiert, dass alle dachten: Wow, der Armin, der hat es aber drauf.“

Äußerlich? Nichts Besonderes, sagt Reissen. Das hieß 1980/81: normal lange Haare. Armin Laschet, das zeigen Bilder von damals, trug eine Art Pilzkopf. Die braunen Haare hingen in den Nacken, vorne ragten die Fransen bis über die Augenbrauen, dazu Grübchen, spitzbübisches Lächeln, immer adrett gekleidet. Ein Sonnyboy, der um seine Wirkung weiß. „Auffällig klein“, so wie heute, sei der Schüler Armin damals nicht gewesen, sagt Reissen, „vielleicht war er früh ausgewachsen.“

Laschets Motto lautete schon ganz früh: „20 Prozent Sein, 30 Prozent Schein, 50 Prozent Schwein.“ So berichtet in der Laschet-Biografie „Der Machtmenschliche“ sein Jugendfreund Heribert Walz. Ein anderer Mitschüler aus der Oberstufe, Wolfgang Offermann, heute Öffentlichkeitschef bei der Aachener Caritas, erzählt: „Der Armin hat sich gern politisch gestritten“; zwar „fair, authentisch und beziehungsfähig, aber selten nachdenklich“. Stattdessen habe er „immer linientreu das Programm von Helmut Kohl mitgetragen“. Und: „Armin hatte eine klare Karriereplanung, das war immer spürbar.“

Schon im Bundestagswahlkampf 1982/83 war Armin Laschet mit 21 Vorredner bei dem Auftritt von Helmut Kohl in Aachen. Wie der frühere Bundeskanzler wird auch Laschet heute unterschätzt, und beide sorgen durch sprachliche Schönfärberei für ungewollte Komik: Kohl hatte nach einem Wahldebakel kundgetan, die CDU habe „eine Niederlage errungen“.

Laschet sah im März 2021 nach den zwei CDU-Desastern bei Landtagswahlen unter seiner neuen Parteiführung auch Positives: Die AfD sei „auf dem sinkenden Ast“.

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Armin Laschet wurde im Jahr 1961 drei Tage nach Aschermittwoch im katholischen Marienhospital der Bischofsstadt Aachen geboren. Der Kindergarten war katholisch, die Grundschule auch. Er war Messdiener im Dom, half in der Pfarrei und sang damals, Stimmlage Tenor, in einem katholischen Chor. Diesen beehrte er auch, weil er für Mitsängerin Susanne schwärmte, die Tochter des Chorleiters.

Der Besuch des weltlichen Rhein-Maas-Gymnasiums um die Ecke seines Elternhauses war fast schon eine unchristliche Zäsur. In der 9. Klasse blieb Armin Laschet sitzen und wechselte auf das Bischöfliche Pius-Gymnasium. Dort schmiss er bald die Karnevalssitzungen, spielte Theater und organisierte Benefizkonzerte. 1981, bei seiner Rede des Abijahrgangs, sprach er sich für Mädchenzugang an die Jungenschule Pius aus.

Die Kaderschmiede

Das Pius-Gymnasium ist so etwas wie Aachens Kaderschmiede. Es liegt im Südviertel, gleich neben dem Ortsteil Burtscheid, wo Laschet aufwuchs und mit seiner Frau bis heute lebt. Im Südviertel residieren die Reichen der Stadt, Nachfahren der alteingesessenen Industriedynastien oder Familien, die in den Nachkriegsjahren durch Grenzschmuggel mit Belgien zu Vermögen kamen. Stolz war man in Aachen in den 70er Jahren auf die höchste Porsche-Dichte Deutschlands.

Das Pius, sagt Mitschüler Offermann, „war schon zu unserer Zeit klar in der Hand der Jungen Union, von den Elternhäusern her und der Schulleitung, eine große Blase, kirchlich und politisch.“ Inzwischen hat das Pius das viel ältere Kaiser-Karls-Gymnasium als Eliteschule der Stadt abgelöst. Man erlebt das heute – wenn, stets nacheinander, die traditionellen Gottesdienste der Abiturklassen im Dom stattfinden: Erst ist das KKG dran, Eltern und SchülerInnen leger bis schick gekleidet; danach das Pius: Garderobe feierlich bis protzig.

Auf Armin Laschets Schule haben viele heute bekannte Leute ihr Abitur gemacht: etwa WDR-Fußballreporter Stephan Kaußen oder Karl Schultheiß, seit Jahrzehnten Strippenzieher der Aachener SPD. Auf dem Pius erwarb auch Thomas Kemmerich das Zeugnis der Reife, der FDP-Politiker, der sich im Februar 2020 von der AfD zum Kurzzeitministerpräsidenten in Thüringen wählen ließ.

Auch Aachens langjähriger CDU-Oberbürgermeister Marcel Philipp (2010 bis 2020), Sohn des noch langjährigeren deutschen Handwerkspräsidenten Dieter Philipp (1994 bis 2020), lernte auf dem Pius. Philipp junior zog sich im Vorjahr mit 49 Jahren nach Gerüchten über seine Ehe beziehungsweise eine angebliche homosexuelle Beziehung sowie Beförderungsmauscheleien aus der Politik zurück. Bei der Kommunalwahl 2020 wurde seine Partei in Aachen von einem grünen Tsunami weggespült. Sogar in Laschets Wohnbezirk Burtscheid, bis dato eine Bastion katholisch-schwarzen Denkens, holte eine Grüne das Ratsmandat.

Pius-Mitschüler Markus Reissen war in der Oberstufe Schülersprecher, Laschet einer seiner Stellvertreter. Gemeinsam belegten sie Leistungskurse in Geschichte und Englisch. „Wir waren beide katholisch engagiert und ja, damals fast ein bisschen befreundet.“ Ähnlicher katholischer Hintergrund, aber politisch weit auseinander, sagt Reissen, seit vielen Jahren bei der Katholischen Hochschulgemeinde Referent für Interreligiösen Dialog. „Gewählt habe und hätte ich den Armin nie.“ Im Geschichtsunterricht hätten sie sich „oft gestritten“ und sogar „richtig gezofft, wenn es um die Bundeswehr ging“, sagt Kriegsdienstverweigerer Reissen. Armeefreund Laschet wurde ausgemustert, er hatte Rücken.

Laschet verkauft sich als überzeugter Europäer. Ostbelgische Großeltern passen da gut. Der Opa optierte nach dem Krieg 1918 im wallonischen Nachbardorf Hergenrath für Deutschland, sonst wären die Laschets kaum nach Aachen gekommen. Nach Recherchen seiner Familie stammt Armin Laschet in etwa 50. Generation direkt von Kaiser Karl ab (den er zudem bewundert, wie auch Konrad Adenauer).

Sozialer Aufstieg

Laschet ist Bergmannssohn; Papa Heinz war Steiger auf der Steinkohlezeche Grube Anna im benachbarten Alsdorf. Während des Lehrermangels Anfang der 60er Jahre schulte er nach einem Konzept des damaligen CDU-Kultusministers Paul Mikat auf Quereinsteigerpädagoge um. Nachts schuftete Mikater Heinz Laschet unter Tage, tags machte er Fortbildung, wurde Lehrer, dann Leiter einer katholischen Grundschule. Eine Aufsteigerfamilie, alle vier Kinder studierten. Bis heute kommt der jetzt 86-Jährige regelmäßig zum Abendessen ins Haus von Sohn und Schwiegertochter.

Inwieweit Armin Laschets Vaterliebe psychologisch seine RWE-hörige Kohlepolitik beeinflusst, kann nur er selbst wissen. 2008 sagte er in einem Interview mit dem Magazin log-in der Gesellschaft für Informationstechnologie (mit Sitz in Aachen): „Lügen geht nicht. Aber wie man die Wahrheit verpackt, das ist ein weites Feld.“ Im Herbst 2018 schob seine NRW-Landesregierung den Mangel an Brandschutz der Baumhäuser im Hambacher Wald vor, um für RWE mit Tausenden PolizistInnen zu räumen. Später entpackte Laschet die Wahrheit, nicht ahnend, dass seine Worte auf einer CDU-Mitgliederversammlung heimlich mitgeschnitten wurden, die später per Twitter viral gingen: „Ich brauchte einen Vorwand, sonst kann man doch nicht tätig werden.“ Heute behauptet er kühn, Retter des Hambi zu sein.

Im Interview 2008 gab Armin Laschet einige private Dinge preis. Frage: „Können Sie beim Nichtstun nichts tun?“ Antwort: „Nein. Ich mache immer etwas nebenher. Selbst in die Badewanne nehme ich mir etwas zu lesen mit. Nichts zu tun – das gibt es bei mir eigentlich nicht.“ – Stört Sie das? „Nein.“ – Vollkommenes irdisches Glück? „Sonntagabend.,Tatort‘. Gyros. Weißbier.“

Laschet mag die Fälle aus Köln und Dortmund (klar, Nordrhein-Westfalen). 2020 durfte er mal in einem „Tatort“ mitspielen, die Rolle war ihm auf den Leib geschrieben: Ministerpräsident NRW.

Das Gyros holt Armin Laschet bis heute bei Joannis, in der Burtscheider Taverne Lakis. Burtscheid ist in seinem Kern ein kleinbürgerlich-biederer Stadtteil, die Laschets wohnen am Rande in einer Reihenhaussiedlung. In der kleinen Fußgängerzone trinkt der Kandidat gelegentlich ein Bier in der Burtscheider Quelle.

Dort bestellte er während des Lockdowns manchmal auch das Abendessen für die Familie: „Immer gutbürgerliche Küche“, berichtet eine Mitarbeiterin. Gegenüber, vor dem Abteitor unter roten Ziegeln, gibt Laschet gern seine Fernsehinterviews.

Die ZDF-Hitparade

Ulrike Overs kennt Armin Laschet noch aus der Burtscheider Grundschule. „Mit dem kleinen Armin verbinde ich meine Kindheit. Im Grundschulalter haben wir Kasperlestücke ausgearbeitet, Armin voran, und dann haben wir es den anderen Kindern vorgespielt. Wir sind im Pfarrkarneval aufgetreten, sehr kreativ alles.“ Und, sie lacht kurz: „Armin hatte einen Kassettenrecorder und ein Mikrofon, das war etwas Besonderes damals. Da haben wir die,ZDF-Hitparade‘ nachgespielt und nachgesungen, Jürgen Marcus oder Roy Black.“ Heute ist Laschet mit Peter Maffay befreundet.

„Der kleine Armin“, sagt Ulrike Overs, „war immer sehr offen und nie abgehoben.“ Abgehoben, ein Neunjähriger? „Doch, das geht. Glauben Sie mir, als Sozialpädagogin kann ich das beurteilen.“ Abgehoben also nicht, aber gewalttätig: Mit acht hat Armin seine spätere Frau mal verprügelt, wie diese neulich in einer Talkshow berichtete. Zu ihrer Mutter habe sie danach gesagt: „Das ist der ekelhafteste Junge, den ich kenne.“

Der Ekel verflog. Susanne, die erst Verprügelte und später Angebetete im Chor, erlag 1976 Armins Avancen. Da war Laschet 15. Die beiden heirateten 1985. Chorleiter Heinz Malangré wurde sein Schwiegervater.

Vom Juristen zum Chefredakteur

Das war beruflich der Durchbruch. Laschet konnte im Aachener Katholikenbiotop richtig durchstarten: Denn Malangré, gestorben 2017, war in Aachen ein einflussreicher Industrieller, Verleger und ebenfalls Herzblutkatholik. Zu seinem verlegerischen Portfolio gehörte auch die Kirchenzeitung des Bistums, wo Schwiegersohn Armin gleich nach dem Jurastudium (Abschluss nur 1. Staatsexamen) junger Chefredakteur wurde. Dann übernahm er die Verlagsleitung des katholischen Einhard Verlags – geschäftsführender Gesellschafter blieb: der Schwiegervater. Während des Studiums war Armin Laschet Mitglied zweier farbentragender katholischer Verbindungen, der Aenania München und Ripuaria Bonn.

Quelle      :       TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Oben     —     Armin Laschet beim Programmausschuss der CDU Rheinland-Pfalz am 23. Januar 2021.

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Die Nacht der Brandstifter

Erstellt von Redaktion am 27. Juli 2021

Gewalttätiger Konflikt in Äthiopien

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Von Ilona Eveleens

Früher lebten die Leute in Ataye friedlich zusammen. Jetzt ist der Ort zerstört. Wie ein lokaler Konflikt die Ethnien Äthiopiens auseinandertreibt.

taye ist ein typisches äthiopisches Städtchen im Hochgebirge mit einer Kirche in der Nähe einer Moschee, Grund- und Oberschulen und einem Krankenhaus. Die Durchgangsstraße, die Ataye durchschneidet, kommt aus Äthiopiens 300 Kilometer südlich gelegener Hauptstadt Addis Abeba und schlängelt sich mit unzähligen Kurven nach Norden in Richtung der Bürgerkriegsprovinz Tigray. Autos teilen sich die Fahrbahn mit Frauen, die zu Fuß gehen und schwere Lasten auf dem Rücken tragen, Männern zu Pferd und Herden von Schafen und Kühen.

In Ataye selbst sind derzeit aber kaum Menschen oder Tiere auf der Straße zu sehen und es ist ungewöhnlich still, wie in einer Geisterstadt. Die Straße wird hier auf beiden Seiten von ausgebrannten Häusern und Geschäften flankiert. Von einigen steht noch eine Mauer, von anderen nur noch das Fundament mit einer dicken Ascheschicht. Überall stapeln sich Wellblechhaufen, die einst Dächer waren. Nur die Kirche, die Moschee, die Schulen und das Krankenhaus sind den Flammen entkommen.

Ataye ist ein Beispiel dafür, wie bewaffnete Konflikte sich inzwischen in immer mehr Landesteilen Äthiopiens ausbreiten. Die internationale Aufmerksamkeit konzentriert sich auf Tigray, wo Äthiopiens Armee seit November 2020 gegen die dort herrschende TPLF (Volksbefreiungsfront Tigray) kämpft und vor wenigen Wochen geschlagen abziehen musste. Aber im Schatten dieses Konflikts brechen auch die anderen Konfliktlinien des Landes mit Gewalt auf.

Yeshamie Destage wird die Nacht des 16. April in Ataye nie vergessen. Die 60-Jährige aus der Volksgruppe der Amhara war gerade zu Bett gegangen, als sie Schüsse hörte. „Ich wusste, was das bedeutete, weil im März schon ein nahe gelegenes Amhara-Dorf angegriffen worden war“, sagt sie. „Ich zog mich schnell an und floh mit anderen Richtung Norden, denn das ist die einzige Straße, die nicht durch Oromo-Dörfer führt.“

Die meisten Einwohner sind geflohen

Ataye ist ethnisch gemischt. Sowohl Amhara als auch Oromo leben hier – die beiden größten Ethnien Äthiopiens, das als Bundesrepublik in ethnisch definierte Regionen gegliedert ist. Die Stadt liegt in der Amhara-Region, jedoch innerhalb einer abgegrenzten Sonderzone, in der überwiegend Oromo leben. In Ataye selbst leben beide Volksgruppen.

In der besagten Nacht im April kamen laut Augenzeugen Hunderte bewaffnete Männer von drei Seiten nach Ataye hinein. Ziel des Angriffs, erzählen Einwohner, waren die Amhara der Stadt. Zuvor hatten Sicherheitskräfte der Amhara einen Oromo-Ladenbesitzer getötet. Am Ende waren etwa 200 Menschen tot und mindestens 1.500 Gebäude in Brand gesteckt. Die meisten der 55.000 Einwohner flohen und sind bis heute nicht zurückgekehrt.

Yeshamie lief in der Aprilnacht 17 Kilometer zu Fuß nach Ber Gibi, wo die schwächsten Flüchtlinge in der Grundschule Aufnahme fanden – andere mussten weiterziehen. Die Witwe ist inzwischen nach Ataye zurückgekehrt, aber nicht in ihr Haus. „Davon ist nichts mehr übrig“, sagt sie mit zitternder Stimme. Sie hatte das Haus vom Staat gemietet, für umgerechnet 1,5 Eurocent. „Ich war arm, deshalb durfte ich so ein Haus mieten, aber jetzt habe ich gar nichts mehr. Ich kann nur hoffen, dass die Regierung neue Häuser bauen wird.“

Nun lebt die Yeshamie mit Dutzenden Frauen, Kindern und Babys in großen Zelten des UN-Kinderhilfswerks Unicef auf dem Fußballplatz der Oberschule in Ataye. In den Zelten ist es tagsüber heiß und nachts kalt. Die meisten Zeltbewohner haben nicht mehr als eine Matratze, eine Decke und eine Plastiktüte mit gespendeter Kleidung. Sie sind auf die Lebensmittelversorgung der lokalen Regierung angewiesen und klagen, dass diese nicht ausreicht. Manche bekommen Essen von der Familie geschickt, aber Yeshamie, die drei Kinder hat, bekommt nichts extra. Ihre Töchter leben weit weg und sind ebenfalls arm.

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Besser dran ist Abraham Kagnaw. Seine fünf Geschwister und seine Mutter, die in anderen Teilen der Amhara-Region leben, schicken gelegentlich Essen. „Ich war nach Ataye gekommen, weil meine Frau von hier ist“, sagt der 26-Jährige und läuft zum zweistöckigen steinernen Schulgebäude, wo er mit anderen Männern in den Klassenzimmern lebt – die Frauen müssen draußen in den Zelten bleiben, auch seine eigene Ehefrau.

Vor dem Angriff hatte Abraham einen Kiosk für gebrauchte Kleidung. Das brachte wenig ein, aber genug zum Leben. Nun ist nichts mehr übrig, sein Lagerbestand ist in Flammen aufgegangen und auch ihr gemietetes Zimmer liegt in Schutt und Asche. Abraham holt seinen Reisepass aus der Hosentasche. „Ich habe ihn mir schnell geschnappt, bevor ich geflohen bin“, erzählt er. „Vielleicht schaffe ich es, ins Ausland zu gehen, um Arbeit zu finden. In einer leeren Stadt kann man schließlich nichts verkaufen.“

Verantwortlich für das Flüchtlingslager ist der Gemeindebeamte Oumer Endris. „Es wird höchste Zeit, dass wir Äthiopier werden und aufhören, an unserem ethnischen Hintergrund festzuhalten“, sagt er. „Hier waren Oromo die Täter und Amhara die Opfer. An anderen Orten waren die Rollen umgekehrt verteilt. Die wahren Schuldigen sind die Politiker, die aus persönlichen Gründen junge Männer zu Gewalt gegen Rivalen aufstacheln.“

Die Hauptursachen der ethnischen Konflikte in Äthiopien sind lokale Meinungsverschiedenheiten über den Besitz oder die Nutzung von Land und Wasser sowie über den Zugang zu staatlichen Ressourcen. Oft wollen Angehörige einer Ethnie die anderen von knappen Ressourcen ausschließen. Schließlich lebt ein Drittel der über 110 Millionen Äthiopier von weniger als einem Euro am Tag, und vor allem auf dem Land ist die Armut groß.

Die Konflikte lodern heftiger auf als zuvor

Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed, Sohn einer Amhara-Mutter und eines Oromo-Vaters, hatte nach seinem Amtsantritt 2018 versprochen, ethnische Konflikte in Äthiopien zu beenden und alle Bevölkerungsgruppen gleichzubehandeln. Aber bisher ohne großen Erfolg: Die Konflikte lodern heftiger als zuvor auf, denn jetzt nehmen überall Scharfmacher die vermeintliche Verteidigung ihrer Ethnie selbst in die Hand.

Da jede Region ihre eigene, ethnisch rekrutierte Regionalarmee hat, können daraus leicht größere bewaffnete Konflikte werden. In Grenzgebieten zwischen zwei Regionen geht es oft darum, eine ethnische Gruppe ganz zu vertreiben, damit die andere das Gebiet übernehmen kann. Das scheint auch die Absicht in Ataye gewesen zu sein.

Quelle       :      TAZ -online           >>>>>           weiterlesen

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Alles mit amtlicher Wirkung

Erstellt von Redaktion am 14. Juli 2021

Die ultimative Marx-Widerlegung

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Eine politische Clownerie im Deutschen Alltag? Nachdem vor rund 150  Jahren in aller Ruhe sterben durfte?

Quelle     :     Untergrundblättle – CH 

Von Johannes Schillo

Extremismusforschung im Dienste der Staatssicherheit. Der deutsche Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ hat mit amtlicher Wirkung festgestellt, wie viel Marxismus im öffentlichen Diskurs zulässig ist.

Anfang Juli entschied der deutsche Bundeswahlleiter, dass die „Deutsche Kommunistische Partei“ (DKP) nicht zur Bundestagswahl zugelassen wird – aus rein formalen Gründen, wie es hiess. Die Entscheidung passt inhaltlich aber bestens zu den jüngsten Mitteilungen aus dem hochaktiven Staatssicherheitsapparat der BRD. So hatte der Staatssekretär des Innenministeriums (BMI) im Mai in einer Bundestagsdebatte die Beobachtung der linken Tageszeitung „Junge Welt“ (JW) durch den Verfassungsschutz verteidigt, was dann bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes im Juni bekräftigt wurde (siehe „Journalismus im Visier des Verfassungsschutzes“).

Wer sich auf Marx und Engels beruft, muss demnach aufpassen: Macht er sich deren Theorie als eine „Denkweise“ zu eigen und gelangt dann zum Befund einer „Klassengesellschaft“, ist er ein Feind der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, widerspricht z.B. mit der „Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde“. Dieses Verdikt über die Marxsche Theorie, das nur ein paar Irritationen bei Rechtsexperten, linken Journalisten und Wissenschaftlern hervorrief, steht übrigens als Fazit der Extremismusforschung seit längerem fest. Es wurde vom BMI-Vertreter jetzt nur griffig resümiert.

Die betreffende Forschung wendet sich – dem Abwehrgedanken der streitbaren Demokratie folgend – gegen Extremismus überhaupt. Die Ablehnung des Marxismus ist dabei nur ein Unterfall, der im Grunde durch die Subsumtion unters Extremismus-Schema erledigt ist. Dafür reicht ein formaler Kriterienkatalog, der die mangelnde Übereinstimmung mit Essentials des demokratischen Verfassungsstaates feststellen soll. Doch hat sich der ausgewiesene Extremismusforscher Prof. Armin Pfahl-Traughber, ehemals im Bundesamt fürs Verfassungsschutz tätig, 2014 in einer Publikation zum „Linksextremismus in Deutschland“ eigens die Mühe gemacht, auf die Theorie von Marx und Engels einzugehen, und damit dem Innenministerium die Vorlage geliefert.

Vorentscheidung getroffen

Pfahl-Traughbers Abrechnung nimmt sich die Theorie gesondert von Leninismus, Stalinismus etc. vor. Als „bekannteste Werke“ nennt sie neben zwei Schriften von Engels das Kommunistische Manifest, „Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie“, den 18. Brumaire und die „Kritik des Gothaer Programms“. Zu seiner Auswahl bemerkt der Autor: „Bereits aus den Titeln dieser Publikationen geht hervor, dass Marx/Engels mit polemischem Unterton für inhaltliche Positionen eintraten, für ihre Analysen der gesellschaftlichen Gegebenheiten aber auch einen wissenschaftlichen Anspruch erhoben.“ (PT 30)

Mit dem Hinweis auf Polemik wird hier ein Gegensatz zur Wissenschaftlichkeit suggeriert, der aber aus den Titeln nicht hervorgeht. Auch die Hauptwerke des Philosophen Kant tragen das Wort „Kritik“ im Titel und wollen damit gerade ihren wissenschaftlichen Anspruch zum Ausdruck bringen. Gemeint ist nicht mehr als die Ankündigung, dass sich der Autor die prüfende Beurteilung des betreffenden Gegenstandes zum Anliegen macht. Ob und in welchem Sinne der Anspruch eingelöst wird, muss sich an den vorgelegten theoretischen Leistungen erweisen. Ohne deren Sichtung lässt sich dazu nichts sagen. Pfahl-Traughber deutet aber mit seiner Feststellung schon die Vorentscheidung an, dass Wissenschaftlichkeit nur als die eine Seite des Marxismus gelten kann.

Deren Existenz wird anhand eines Zitates aus der „Deutschen Ideologie“ eingeräumt, wo Marx und Engels gegen die (jung-)hegelianische Spekulation die Notwenigkeit „wirklichen Wissens“ setzten. Das kommentiert der Extremismusexperte so: „Mit solchen Auffassungen bekannten sich Marx und Engels zu einem empirischen und positivistischen Wissenschaftsverständnis. Gleichzeitig verknüpften sie dieses mit ihren politischen und sozialen Grundpositionen, woraus sich eine innere Spannung und Widersprüchlichkeit ergab.“ (Ebd.)

Das ist ein Missverständnis, gegen das sich auch Vertreter einer positivistischen Position zur Wehr setzen dürften. Keine Schrift der beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus – vielleicht mit ein bis zwei Ausnahmen wie Engels‘ Frühwerk über die Lage der arbeitenden Klasse in England – tritt mit dem Anspruch an, eigenes empirisches Material zu präsentieren. Immer geht es darum, die gesellschaftliche Realität samt ihren vorfindlichen Widersprüchen zu erklären. Dafür werden dann zahlreiche Daten, Fakten, Berichte verwendet, die von Fachleuten oder offiziellen Stellen stammen, oft auch, wie die berühmten Berichte der Fabrikinspektoren im „Kapital“, von der Öffentlichkeit nicht gross zur Kenntnis genommen wurden.

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Dass Widersprüchlichkeit bei Marx und Engels erst durch das Einbringen von „Grundpositionen“ zustande käme, ist entweder ein Vorurteil oder ein Missverständnis dessen, was als „dialektische Methode“ bezeichnet wird. Für Voreingenommenheit spricht das anschliessende erste Resümee, das grosszügig einräumt: „Auch wenn im Marxismus die Ideologie mit der Wissenschaft einhergeht, sollte die Existenz von Letztgenanntem nicht ignoriert werden.“ (Ebd.) Na ja, wenn das eine mit dem andern einhergeht, ist dessen Existenz ja schon zur Kenntnis genommen. Im Grunde bleibt also nur die Vorentscheidung des Autors, den Marxismus als fragwürdiges Gebilde einzuführen; es wurde kein einziger Beleg für den ideologischen, d.h. unwissenschaftlichen Charakter vorgebracht.

Praxisbezug und Geschichtsverlauf

Mit dem Bemühen, diese These zu beweisen, fährt der Autor auch nicht fort, sondern wechselt die Ebene. Zunächst will er den „Anspruch des Marxismus als exklusives Modell der Gesellschaftsanalyse“ (PT 31) veranschaulichen, wozu als Erstes die Differenz zu den utopischen Sozialisten festgehalten wird. Marx und Engels sei es nicht darum gegangen, „den Entwurf einer späteren Idealgesellschaft zu zeichnen“. Dies ist einer der wenigen zutreffenden Sätze im Text; er wird aber gleich wieder durch die Feststellung verfälscht, dass die Utopisten politisch dasselbe wie der Marxismus gewollt hätten: „die Etablierung einer Gesellschaft von sozialer Gleichheit“. Ein Blick in die „Kritik des Gothaer Programms“ hätte den Autor darüber belehren können, dass es Marx um etwas anderes ging, nämlich um die Abschaffung der Klassenherrschaft, also der Indienstnahme der Lohnarbeit für die Verwertung des Kapitals, und dass er die sozialdemokratischen Gleichheits-Phrasen kritisierte, da sie sich am bürgerlichen Wertehimmel orientierten.

Pfahl-Traughber hält jedenfalls fest, dass Marx und Engels im „zukünftigen Weg vom Kapitalismus über den Sozialismus zum Kommunismus eine historische Notwendigkeit sahen“ (ebd.). Das kann man nicht bestreiten, Marx und Engels hielten diesen Weg für notwendig. Sie neigten auch dazu, vor allem im revolutionären Pathos des Manifests, den „Untergang“ der Bourgeoisie und den „Sieg des Proletariats“ für „unvermeidlich“ zu halten (MEW 4, 474). In dieser Prognose haben sie sich – wie in einigen anderen – getäuscht, während sie angeblich, so die Kommentierung der bürgerlichen Presse anlässlich des 150. Jubiläums des Manifests, im Blick auf die Globalisierung zu den hellsichtigsten Prognostikern der Neuzeit zählen.

Dazu ist jedoch anzumerken, dass bei Marx der Geschichtsoptimismus weder das erste noch das letzte Wort hat. Das Manifest hält gleich eingangs bei seiner – ebenfalls etwas apodiktischen und daher korrekturbedürftigen – Bestimmung der Geschichte „aller bisherigen Gesellschaft“ als „Geschichte von Klassenkämpfen“ (MEW 4, 462) fest, dass die erfolgreiche revolutionäre Umgestaltung geschichtlich nicht fest steht. Es gebe auch die Möglichkeit vom „gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“. Das ist übrigens in der Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert mit dem geflügelten Wort von der Alternative „Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei“ zum Ausdruck gebracht worden.

In der Kritik der politischen Ökonomie, die Marx begründet hat, ist die Berufung auf die Zwangsläufigkeit einer geschichtlichen Tendenz eine absolute Randerscheinung, im dritten Band des „Kapital“ fällt z.B. in einem Halbsatz eine Bemerkung, die in diesem Sinne ausgelegt werden kann (vgl. MEW 25, 260). Wenn sie die theoretische Leistung von Marx tangieren sollte, wäre das darzulegen. Das tut Pfahl-Traughber aber nicht. Mit seiner Thematisierung des Geschichtsoptimismus will er nämlich auf etwas anderes hinaus: Er nimmt Anstoss am Programm der sozialistischen Bewegung, die sich auf die Marxsche Theorie stützt, den Kapitalismus zu überwinden.

Das ist ein erstaunlicher Vorwurf. Dass die Bewegung die Notwendigkeit der Veränderung theoretisch untermauert, ist ja für sich kein Kritikpunkt, man müsste dies gerade als eine vernünftige Entscheidung bewerten. Denn so wird das Programm rational nachprüfbar – und ist nicht das Produkt einer weltanschaulichen (Glaubens-)Entscheidung. Dass dann eine Bewegung das Ziel, das sie sich gesetzt hat, in der Erwartung angeht, es zu erreichen, und dazu möglicher Weise Optimismus verbreitet, verwundert auch nicht. Die Hoffnung diskreditiert das Unternehmen nicht – genauso wenig, wie sie es beglaubigt.

Wenn übrigens ein moderner Politikwissenschaftler den Weg von der antiken Demokratie über die Neuzeit, die bürgerlichen Revolutionen und das „Jahrhundert der Extreme“ bis zum gegenwärtigen demokratischen Verfassungsstaat nachzeichnet und darin die Erfüllung der historischen Hoffnungen auf ein humanes Zusammenleben sieht – so der Standpunkt der Extremismusforschung –, dann geht das in Ordnung. Beim Marxismus aber nicht. Hier sollen die Konsequenzen, die aus der Theorie gezogen werden (können), diese disqualifizieren. Das Vorhandensein eines praktischen Interesses soll unvereinbar mit wissenschaftlicher Professionalität sein.

Unerhörter Wahrheitsanspruch

Im modernen akademischen Diskurs hätte man hier übrigens das Wertfreiheits-Postulat erwartet. Marx hat ja keine wertfreie Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse angestrebt, was nicht heisst, dass er aus einem voreingenommenen Standpunkt heraus die Welt betrachtet hätte. Die Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen hat er vielmehr darauf verwiesen – das Zitat aus der „Deutschen Ideologie“ wurde beigebracht –, dass sie von wirklichem Wissen auszugehen habe und nicht von einer idealistischen Bestimmung der Welt, wie sie zu sein hätte. Dass die Wertfreiheit bei Pfahl-Traughber nicht zum Thema wird, dürfte damit zusammenhängen, dass die Extremismusforschung selber wertbasiert auftritt und ihren Grundwert apodiktisch an den Anfang stellt, ja dass sie im Grunde nichts anderes als das Abziehbild der staatsschützerischen Wertung politischer Strömungen ist.

Pfahl-Traughber fährt statt dessen mit einer eigenartigen Kritik fort. Wegen der Überzeugung von einer historischen Notwendigkeit „handelt es sich beim Marxismus nicht um eine politische Theorie wie andere politische Theorien. Er beansprucht neben einer rationalen Begründung für seine Grundprämissen die wissenschaftliche Gültigkeit für seine Weltanschauung. Dadurch könnte es zu einer kritischen Prüfung der Kernaussagen des Marxismus kommen, sofern sie durch deren Formulierung realisierbar wäre. Aufgrund der Abstraktheit und Vieldeutigkeit zahlreicher Bestandteile dieser Lehre – von der ‚Arbeitswerttheorie‘ über die ‚Dialektik‘ bis zur ‚Entfremdung‘ – lässt sich ein solches Verfahren aber nicht umsetzen.“ (PT 31)

Dass Theorien einen gewissen Abstraktionsgrad aufweisen, ist kein exklusives Merkmal des Marxismus. Auch die Extremismusforschung, die ja mit zentralen Kategorien wie „Demokratie“ oder „Freiheit“ arbeitet, ist dadurch gekennzeichnet. Die beiden gehören übrigens zu den vieldeutigsten im politischen Kontext. Antiextremistisch orientierte Wissenschaftler verzichten aber nicht auf ihre Verwendung, sondern versuchen eben, sie für ihre Zwecke zu präzisieren. Es wäre daher gerade nachzuweisen, inwiefern sich die Bestandteile bei Marx einer rationalen Prüfung entziehen. Dafür müsste man sie allerdings erst einmal referieren…

Kapitulieren will Pfahl-Traughber vor der Aufgabe jedoch nicht ganz, er macht ein Zugeständnis. „Gleichwohl bleibt aufgrund der ideologischen Prägungen des Marxismus das wissenschaftliche Selbstverständnis existent: Es geht mit seinem exklusiven Erkenntnisanspruch mit einer Absolutsetzung eigener Auffassungen als allein wissenschaftlich und Negierung gegenteiliger Positionen als notwendigerweise unwissenschaftlich einher. Hierin kann ein bedeutender Gesichtspunkt zur extremistischen Rezeption des Marxismus gesehen werden.“ (PT 31f) Kann – muss aber nicht? Und müsste es nicht „trotz“ statt „aufgrund“ heissen? Auf jeden Fall steht der Vorwurf der Exklusivität im Raum. Der trifft in einem banalen Sinne zu – wie eben auch bei sonstiger Theoriebildung: Der betreffende Gegenstand wird erklärt, natürlich mit dem Anspruch, dass die Erklärung zutrifft und daher andere Positionen teilweise oder ganz negiert.

So verfährt z.B. der Extremismusforscher. Er orientiert sich am Verfassungsstaat, erläutert, worin dieser besteht, und zieht die Grenze zu extremistischen Auffassungen, denen generell ihre Gültigkeit abgesprochen wird. Sie sollen als Ideologien unter ein theoretisches und (in der streitbaren Demokratie auch) praktisches Verdikt fallen, somit ausgegrenzt werden. Die Grundprämisse Verfassungsstaat gilt übrigens absolut, ist nicht verhandelbar. Inwiefern man Letzteres bei Marx antrifft, wäre gerade nachzuweisen. In seinem Referat hat Pfahl-Traughber nichts Derartiges geleistet, sondern nur belegt, dass der Marxismus einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt und seine Erklärung der sozialen Welt mit einer Hoffnung auf tief greifende Veränderungen verbindet bzw. diese durch praktische Tätigkeit auf den Weg bringen will.

Soweit ist die Zurückweisung des Marxismus ein einziges Armutszeugnis des Experten. Die Sache ist allerdings noch nicht zu Ende. Es folgen drei kurze Kapitel, die der Darstellung von (1) „Dialektik und Materialismus als Grundlagen“, (2) „Gesellschaftsbild, Kapitalismus und Klassenkampf“ sowie (3) des „Kommunismus als Folge von Revolution und Sozialismus“ gewidmet sind. Nach einer Würdigung „unangemessener Kritik am Marxismus“ folgen dann vier „Einschätzungen“ des Marxismus. Immerhin – im Rahmen der Extremismusforschung schon ein ungewöhnlicher Aufwand, rund zehn Seiten einer solchen Widerlegung zu widmen! In ähnlich gelagerten Publikationen macht man das in der Regel kürzer ab, wenn man sich überhaupt Mühe gibt, einen Satz von Marx zur Kenntnis zu bringen. Im Folgenden kurz die Kritikpunkte der drei Kapitel.

Theoriegeschichte statt Theorie

Der Autor beginnt wiederum nicht mit der Prüfung einer sachlichen Aussage, die unhaltbar wäre, sondern mit einem theoriegeschichtlichen Resümee, die Herkunft des Marxismus aus der idealistischen Philosophie Hegels betreffend. Mit deren Prämisse – der Selbstbewegung des Begriffs, dem bestimmenden Charakter des (Welt-)Geistes – hat Marx in der Tat gebrochen, während er Hegels begriffliche Schärfe, die dieser in seiner dialektischen Logik demonstrierte, für die Analyse der gesellschaftlichen Bewegungsgesetze als vorbildlich ansah. Diese „Arbeit des Begriffs“ schätzte Marx als „Dialektik“.

Ob die Herkunft aus solchen Kämpfen mit der damals herrschenden Form der Philosophie für die Beurteilung der Marxschen Theorie erhellend ist, mag dahin gestellt bleiben. Auf jeden Fall führt es vom Thema ab. Zweifelhaft ist auch die daraus abgeleitete Widerspiegelungstheorie, die Pfahl-Traughber anschliessende referiert. Er belegt seine Behauptung, die Widerspiegelung sei für Marx von grundlegender Bedeutung, mit einem Zitat aus dem ersten Band des „Kapital“ (MEW 23, 27). Das Ideelle wäre nichts anderes „als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle“, heisst es da. „Umsetzen“ bzw. „Übersetzen“ ist allerdings etwas anderes als „Widerspiegeln“, mit den beiden erstgenannten Tätigkeiten wird eine subjektive Leistung der Individuen angesprochen und nicht der passive Zustand eines Reflektors, der die gegebenen Verhältnisse abbildet.

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Hätte Pfahl-Traughber den ganzen Absatz aus dem „Kapital“ zitiert, wäre auch klar geworden, was solche methodischen Hinweise und die Berufung auf den Materialismus meinen. Bei Marx heisst es: „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen…“ (ebd.).

Materialismus ist also bei Marx die Entscheidung, diese idealistische Prämisse zu verwerfen. Die philosophischen Fragen könnte man mithin als geschichtlichen Hintergrund abbuchen, der zu der entscheidenden Frage – was vom Erklärungswert der Kritik der politischen Ökonomie zu halten ist – nichts Wesentliches beiträgt, sondern ein geistesgeschichtliches Zusatzproblem aufmacht. Es ist aber bezeichnend, dass Pfahl-Traughber solche Umwege braucht, um die Seiten seiner knapp bemessenen Widerlegung zu füllen.

Zudem hätte ihm auffallen können, dass Marx an der besagten Stelle des „Kapital“ von der Darstellungsweise spricht, die ihm viel Kopfzerbrechen bereitet habe. Beim Forschungsprozess gehe es darum, sich „den Stoff im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht“ ist, fährt Marx fort, „kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffes ideell wider, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.“ Er geht also nicht von einer Setzung aus, sondern vom „Stoff“, von der wirklichen Welt, die durch die gedankliche Arbeit erfasst wird.

D.h., die Marxsche Theorie will explizit keine Weltanschauung sein, keine „Konstruktion a priori“. Sie will sich daran messen lassen, inwiefern sie die politökonomische Realität auf den Begriff bringt, das „Leben des Stoffes“, wie es heisst, „ideell widerspiegelt“, also der Wirklichkeit gemäss ist und nicht einen Standpunkt des Autors abbildet. Dies ist kein aparter Zugang, der eine eigene Zurichtung des Denkens bräuchte – ausser der Auf- und Durcharbeitung des „Stoffes“ ist nichts verlangt.

Kritik der politischen Ökonomie

Endlich kommt Pfahl-Traughber auf rund einer Seite zum eigentlichen Punkt, zur Kritik von Marx am Kapitalismus. Doch auch hier muss er – bevor er sich in rund 20 Zeilen dem Thema widmet – wieder auf methodische Fragen ausweichen, nämlich darauf, dass Marx bei der Gesellschaft die Basis vom Überbau trennt. Das tut er, und es ist keine gewagte gedankliche Operation. Bei der ökonomischen Basis einer Gesellschaft handelt es sich um das zentrale Thema, das zur Klärung ansteht, um die kapitalistische Produktionsweise. War Marx hier nun Ideologe? Oder hat seine Theorie Hand und Fuss? Das ist die Frage, um die sich alles drehen müsste. Die ideelle Bezugnahme auf die vorhandene ökonomische Basis, der „ideologische Überbau“, die Verkehrung des Verhältnisses in der idealistischen Philosophie etc. – all das sind Themen, denen man sich widmen kann oder auch nicht, die aber von der zentralen Frage wegführen.

Über die kapitalistische Basis erfährt man dann endlich von Pfahl-Traughber, dass hier Besitzer der Produktionsmittel, die man früher „Bourgeoisie“ nannte, den Arbeitern als abhängig Beschäftigten, dem früheren „Proletariat“, gegenüberstehen. Beide hätten für Marx „unvereinbare soziale Interessen“: „Erstere strebten eine Steigerung ihrer Gewinne auf Kosten der Arbeiter, diese eine Erhöhung der Löhne auf Kosten der Unternehmer an.“ (PT 34)

Nach so vielen Präliminarien findet man endlich eine inhaltliche Aussage. Es ist keine falsche Paraphrase, aber auch nicht gerade die Marxsche Theorie. Den Gegensatz von Arbeit und Kapital kennen ebenfalls die katholische Soziallehre oder das DGB-Grundsatzprogramm. Bei Marx geht dagegen die ganze theoretische Anstrengung darauf, die Notwendigkeit, die den unversöhnlichen, „antagonistischen“ Charakter dieses Gegensatzes hervorbringt, nachzuweisen. Ob das nun stimmt oder nicht, bleibt im Dunkeln. Für sich genommen hält die Aussage nur einen grundsätzlichen Sachverhalt der Wirtschaftsweise fest, in der sich Lohnarbeit und Kapital gegenüber stehen. Soweit müsste man dem Marxismus Realismus bestätigen, der sich jenseits ideologischer Vorannahmen und im Einklang mit Kritikern des Neoliberalismus befindet.

Was Pfahl-Traughber dazu beizusteuern hat, soll in voller Länge zitiert werden:

„Für Marx und Engels war der Wert einer Ware durch die in ihr enthaltene menschliche Arbeitskraft (‚Wertgesetz‘) bedingt. So könne jeweils mehr Wert geschaffen werden als für das Leben des Menschen notwendig sei. Den damit entstandenen Überschuss aus der Produktion (‚Mehrwert‘) eigne sich der Kapitalist einseitig an, d.h. es handle sich eigentlich um die Ausbeutung fremder Arbeit im eigenen Interesse.

In der Erzeugung dieses Mehrwerts sahen Marx und Engels ein Grundprinzip des Kapitalismus, erlaube dieses doch erst den Unternehmern möglichst hohe Profite zu erlangen. Die ständige Erhöhung der Produktion von Waren würde aber zu Absatzkrisen führen, könnten diese doch nicht mehr verkauft werden. Insofern käme es im Kapitalismus aufgrund dieser inneren Logik kontinuierlich zu Wirtschaftskrisen. In deren Folge würden einerseits immer mehr kleine und mittlere Unternehmen bankrott gehen und danach in den Besitz von grösseren Kapitalisten gelangen, wodurch eine Konzentration und Zentralisation des Kapitals vorangetrieben werde.“ (PT 34)

Das ist an Dürftigkeit nun wirklich nicht zu unterbieten. Es beginnt bei der Referierung des Wertgesetzes, das ja nicht von Marx und Engels in die politische Ökonomie eingeführt wurde, sondern auf der Arbeitswerttheorie der Vorläufer beruht. Marx revidierte die ursprüngliche Theorie.

Die entscheidende Grösse ist bei ihm die abstrakte Arbeit, denn in der konkreten Ausübung der menschlichen Arbeitskraft unterscheiden sich die Tätigkeiten und können in dieser Hinsicht nicht als Tausch-Äquivalente gleich gesetzt werden. Nur in der Abstraktion von den Unterschieden bilden sie Wert. Der ist das Ziel des Arbeitens in der Warenproduktion, der Gebrauchswert ist nur die lästige Bedingung, an die dieser ökonomische Zweck gebunden ist. Das „so“ im zweiten Satz des Referats ist überhaupt kein logischer Fortgang vom Wertgesetz zur Mehrwertproduktion, hier wird schlichtweg auf die Wiedergabe der Argumentation verzichtet.

Dass das Ganze Ausbeutung zum Inhalt hat, wird stattdessen in redundanten Formulierungen vermerkt. Wie sich der Prozess vollzieht – vom Einsatz einer Geldgrösse, die somit als Kapital fungiert, über einen zweckmässig organisierten Produktionsprozess (inklusive ständiger Produktivitätssteigerung) bis zu den Gesetzmässigkeiten der Akkumulation, der Zirkulation etc. – und wie Marx das entwickelt, fällt völlig unter den Tisch. Auf dieses Funktionieren des Kapitalismus bezieht sich aber die Marxsche Kritik. Pfahl-Traughber dagegen landet nach vier Sätzen bei der Krisenanfälligkeit, die dann auch noch mit der unabhängig davon bestehenden Tendenz zu Konzentration und Zentralisation (übrigens nicht nur von KMU) vermengt wird.

Das „Einerseits“ des letzten Satzes wird im nächsten Abschnitt zum Kommunismus fortgeführt, indem ein längeres Zitat aus dem ersten Band des „Kapital“ zum allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, das Überflüssigmachen von Arbeit und die daraus resultierende Verelendung betreffend, nachgereicht wird. Hieran haben Marx und Engels in der Tat ihre Hoffnung geknüpft, dass diese Produktionsweise, nach den Worten des Manifests, „ihre eigenen Totengräber“ (MEW 4, 447) produziert, die die Akkumulation des Elends nicht länger hinzunehmen bereit sind. Dass der Marxismus für dieses Vorhaben Partei ergreift – eine Tatsache, die schon mehrfach benannt wurde –, wird nun wiederum als besondere Erkenntnis festgehalten…

Die Nachlässigkeit bei der Wiedergabe und Kritik der Marxschen Theorie hat natürlich System. Pfahl-Traughber fährt im nächsten Abschnitt, der zum Resümee hinführt, mit der Feststellung fort, dass es ihm gar nicht darum gehe, „danach zu fragen, ob der Marxismus eine angemessene oder zutreffende Einschätzung politischer und sozialer Entwicklungen vornimmt“ (PT 35). Die Richtigkeit der Theorie interessiert ihn also nicht. Ob nun die Erklärung dazu, wie es „kontinuierlich zu Wirtschaftskrisen“ kommt, stimmt oder nicht, wird nicht weiter verfolgt. Statt dessen stehen „allein jene Aspekte der Theorie des Marxismus im Fokus, die als Bestandteile einer extremistischen Auffassung und Zielsetzung deutbar sind.“ (PT 34f)

Den ganzen Aufwand einer Referierung hätte man sich folglich schenken können, denn der Modus der Rezeption soll letztlich darüber entscheiden, ob der Marxismus aus dem wissenschaftlichen Diskurs auszugrenzen ist oder darin seinen Platz hat. Das Fazit lautet: „Eine demokratische und wissenschaftliche Rezeption von Marx und Engels nimmt einzelne Bestandteile von deren Lehren in den Blick, um in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit ihnen eine eigene Deutung sozialer Entwicklungen vorzunehmen. Eine extremistische und ideologische Rezeption von Marx und Engels sieht in deren Lehre eine allein richtige und inhaltlich umfassende Theorie, wobei von deren besonderer Bedeutung nicht abgewichen werden darf.“ (PT 36)

Extremismus, weil theoretisch unbescheiden

Das Ganze löst sich also wiederum in den Formalismus der Extremismustheorie auf: Diese konstatiert nur, dass Theoretiker von ihrer Position überzeugt sind und an deren Richtigkeit (bzw. „besonderer Bedeutung“ – eine erstaunliche Erweiterung!) festhalten, also im demokratischen Pluralismus einen Fremdkörper bilden.

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Das Verdikt trifft natürlich keinen Psychoanalytiker, Hirnforscher oder Evolutionstheoretiker, die auch ziemlich umfassende Erklärungen (sogar unter Einschluss der Natur) anzubieten haben, sondern nur diejenigen, die eine Kritik an Staat und Ökonomie vortragen. Und es trifft natürlich auch nicht die Extremismusforschung, die im demokratischen Verfassungsstaat – aufgeschlüsselt nach einem Dutzend Kriterien – das Nonplusultra der menschlichen Entwicklung seit den Anfängen in der antiken Demokratie sieht und von der Richtigkeit dieser Auffassung felsenfest überzeugt ist.

Das Fazit der Linksextremismus-Analyse ist also ganz einfach: Wer Marxens Ausführungen für richtig hält, ist ein Extremist; wer sich aus einer Distanz heraus auf sie bezieht und sie weiterentwickelt, revidiert, kritisiert etc., darf das im demokratischen Rahmen ungehindert tun. Das Ganze kommt ohne die Beanstandung der theoretischen Leistung aus, die Inhalte werden nicht als falsch nachgewiesen. Es wird nur dem Theoretiker Marx ein Absolutheitsanspruch zugeordnet, den dieser, auch nachweislich der beigebrachten Zitate, gar nicht hat. So macht sich die abschliessende negative Bewertung der Marxschen Theorie auch frei von der Beurteilung der Theoriefragmente, die vorher mehr schlecht als recht geliefert wurden.

Abschliessend tritt Pfahl-Traughber – nochmals bekräftigend – mit der durch nichts gedeckten Behauptung auf, Marx habe den Standpunkt des „absoluten Wissens“ eingenommen (PT 37). Dafür wird jetzt bezeichnender Weise nicht das vorausgegangene Referat bemüht, sondern ein neues Zitat aus dem Briefwechsel mit Engels beigebracht. Marx schreibt 1857 anlässlich eines Artikels, den er zur britischen Kolonie Indien verfassen soll, dass er nur ungesicherte Nachrichten über die Entwicklung des dortigen Aufstands besitze, sich dazu aber kurzfristig in der Presse äussern müsse.

Wegen der Unsicherheit der Informationslage sei es schwierig, die militärischen Massnahmen der Kolonialherren zu bewerten. Er habe daher seine Einschätzung vorsichtig formuliert – „augenblicklich ist es äusserst schwierig, die Kräfte beider Seiten abzuschätzen“, heisst es in dem Artikel über den „Stand der indischen Insurrektion“ (abgedruckt in: MEW 12, 252) –, also, wie er Engels schreibt, seine „Aufstellungen so gehalten, dass ich im umgekehrten Fall auch recht habe“ (MEW 29, 161). Soll heissen: dass seine Beurteilung des Kampfes zwischen Aufständischen und britischer Armee korrekt ist, unabhängig davon, wie sich die konkrete Situation in der Stadt Delhi entwickelt. Marx verweist dazu auf die indische Presse, die er studiert hat, die ihm aber nur Hinweise, keine Sicherheit gibt; im Artikel sind dann zahlreiche Quellen angegeben, auf die sich der zusammenfassende Bericht stützt.

Das Ganze hat also mit absolutem Wissen nicht das Geringste zu tun. Marx bekennt sich – ganz relativ – mit seiner Expertise dazu, dass er von der Nachrichtenlage abhängig ist. Unter dem Druck des Redaktionsschlusses will er so agieren – eine Notlage, die jeder Journalist kennt –, dass er sich mit seinem Artikel nicht blamiert. Pfahl-Traughbers Kommentar ist ein groteskes Missverständnis: „Hier geht es nicht mehr um die genaue Einschätzung von Entwicklungen, sondern die Rechtfertigung gegensätzlicher Bewertungen. Daraus konnten spätere kommunistische Diktaturen ein methodisches Instrument zur Legitimation ihrer Herrschaft entwickeln.“ (PT 37)

Kurzum: Marx, so Pfahl-Traughber, „beanspruchte eine Art exklusives Deutungsmonopol auf dieses Wissen [über das ‚wahre Wesen‘ des Menschen, d.A.], das sich aber einer genauen Begründung und kritischen Prüfung verweigerte.“ (PT 37) Der durch nichts bewiesene, nur beständig wiederholte Vorwurf eines Absolutheitsanspruchs reicht für die Verurteilung des Marxismus.

Fazit: Wer kritisiert, muss seine Kritik an den Gegebenheiten von Demokratie und Marktwirtschaft relativieren, dann darf er auch, so die letzte Klarstellung des Bundesinnenministers (vgl. JW, 16.6.21), Bestandteile der Marxschen Theorie verwenden!

Literatur

Armin Pfahl-Traughber, Linksextremismus in Deutschland – Eine kritische Bestandsaufnahme. 1. Aufl., Wiesbaden 2014 (zitiert als PT).

Marx Engels Werke, Berlin 1956ff (zit. als MEW).

Johannes Schillo (Hg.), Zurück zum Original – Zur Aktualität der Marxschen Theorie. Hamburg 2015.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquelle      :

Oben      —         Karl Marx Monument in Chemnitz

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3.) Oben      —     The “Marx-Engels-Monument” created by German sculptor Ludwig Erhardt (1924 — 2001) and placed in 1986 as a central part of Marx-Engels-Forum in Berlin-Mitte and the borough of the same name (but then East Berlin, capital of the G.D.R.). It depicts Karl Marx (sitting) and Friedrich Engels (standing).

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Unten     —      Karl-Marx-Allee in Berlin-Friedrichshain, photo made by de:Benutzer:Achim Raschka;

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Angriff im Berliner Exil

Erstellt von Redaktion am 9. Juli 2021

Attacke auf türkischen Journalisten

Hermannplatz3 Berlin Neukoelln.JPG

Von Gareth Joswig

Der türkische Journalist Erk Acarer wurde in Berlin von drei Männern überfallen. Der Erdoğan-Kritiker vermutet ein politisches Tatmotiv.

Der im Berliner Exil lebende türkische Journalist Erk Acarer ist am Mittwochabend vor seinem Wohnhaus in Berlin-Neukölln angegriffen worden. Er musste mit Kopfverletzungen ambulant im Krankenhaus behandelt werden, wie Acarer mit angeschwollenem Gesicht in einem Videostatement auf Türkisch am frühen Donnerstagmorgen erzählte. Mittlerweile gehe es ihm den Umständen entsprechend gut, heißt es in einem weiteren Statement nach dem Angriff.

Laut den Schilderungen von Acarer haben drei Männer ihn im Vorgarten seines Hauses in Neukölln überfallen und ihm vor den Augen seiner Frau direkt ins Gesicht geschlagen. Acarer sei hingefallen. Zwei Angreifer hätten weiter auf ihn eingeprügelt, während ein Dritter Schmiere gestanden habe. Einer der Männer habe geschrien: „Du schreibst nicht mehr!“

Der Erdoğan-kritische Journalist lebt aufgrund von Repressionen und Bedrohungen in der Türkei seit 2017 in Deutschland und geht beim Angriff von einem politischen Hintergrund aus. Noch am Mittwochabend hatte Acarer ein Bild seines blutenden Gesichts zusammen mit den Worten „Ich werde mich dem Faschismus nie ergeben“ getwittert. Er kenne die Täter.

Turk-Islamo-Faschism.jpg

Acarer berichtete immer wieder kritisch über die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan, zuletzt für die linke türkische Zeitung BirGün und den in Köln gegründeten Exilsender Arti TV. In der Türkei berichtete er unter anderem für Cumhuriyet, Sabah, Habertürk und Milliyet. Von September 2017 bis Juli 2020 war Acarer auch für die taz.gazete tätig, das mittlerweile abgeschlossenen Projekt der taz für politisch verfolgte türkischen Jour­nalist*innen.

Strafverfahren in der Türkei

Im Video sagte Acarer: „Das zeigt, dass alles, was ich über die islamistisch-faschistische AKP-MHP Regierung geschrieben habe, stimmt.“ Er habe zur ­Identität der Täter Vermutungen und Informationen. Allerdings habe die Polizei ihn gebeten, zunächst keine Namen oder Gruppierungen zu nennen, da dies die Ermittlungen erschweren könne.

Acarers Schwerpunktthemen sind islamistischer Terror und Fundamentalismus sowie der Krieg in Syrien. Er hat zudem ein Sachbuch über das Verhältnis zwischen der Türkei und dem IS veröffentlicht. In der Türkei laufen Strafverfahren gegen ihn, zudem sind offenbar Haftbefehle anhängig.

Im April wurde Acarer von Innenminister Süleyman Soylu auf Twitter beleidigt, nachdem er über die mutmaßliche Verwicklung von dessen Neffen in einen Millionen-Betrugsfall getwittert hatte. Ein anderer ranghoher AKPler, Kemalettin Aydın, empfahl daraufhin, den Journalisten „mit Strychnin einzu­schläfern“. Dazu twitterte Aydın ein Bild mit der chemischen Formel des Giftstoffs.

Der Angriff am Mittwochabend hätte auch schlimmer ausgehen können, vermutet Acarer in seinem Videostatement. Weil sich schnell Zeu­g*innen per Zuruf eingemischt hätten, seien die Täter geflohen. Der Welt schilderte Acarer, er gehe davon aus, dass die Angreifer Waffen gehabt und diese auch gezückt hätten, wenn die Nach­ba­r*in­nen sich nicht eingeschaltet hätten.

Quelle        —            TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

Cem Özdemir über Angriff auf Erk Acarer:

„Rote Linie längst überschritten“

Interview Sabine am Orde

Türkische Faschos fühlten sich hierzulande pudelwohl, sagt Cem Özdemir. Für den regimekritischen Journalisten Erk Acarer hätte es noch schlimmer kommen können.

taz: Herr Özdemir, der regierungskritische türkische Journalist Erk Acarer, der hier im Exil lebt, ist in Berlin angegriffen worden. Was wissen Sie über den Fall?

Cem Özdemir: Ich habe mit ihm, aber auch mit seinem Kollegen Can Dündar gesprochen, der ebenfalls am Fall des „Aussteigers“ und Ex-Mafia-Paten Sedat Peker arbeitet. Der lässt gegenwärtig eine Bombe nach der anderen platzen, die die Verwicklungen Ankaras in Drogen- und Waffenhandel, Auftragsmorde und Zusammenarbeit mit Islamisten dokumentieren. Darin dürfte wohl die Ursache für den Angriff liegen.

Acarer selbst geht von einem Angriff von Anhängern des türkischen Präsidenten Erdogan aus, das LKA ermittelt. Wie schätzen Sie das ein?

Erstmal hat Erk Acarer großes Glück gehabt, dass die Täter von ihren Waffen keinen Gebrauch machen konnten. Es hätte noch schlimmer kommen können. Es ist ein Zeichen, dass der Terror des Erdogan-Regimes auch nicht vor Deutschland halt macht.

Was heißt das für den Einfluss von Erdogan in Deutschland?

Quelle       :           TAZ-online          >>>>>          weiterlesen

Angriff auf türkischen Journalisten:

Verfolgt in Berlin

1. Mai 2011 Hannover Klagesmarktkreisel Transparent Alevitische Gemeinde in Hannover und Umgebung e.V. AABF alevi-hannover.de.jpg

Kommentar von Heso Ginzizr

Der türkische Journalist Erk Acarer ist tätlich angegriffen worden. Es zeigt: Wer Erdogans AKP kritisiert, kann sich nicht sicher fühlen.

Es gebe Momente, in denen sie mit Grauen auf die Türkei blicke und nicht glauben könne, was passiere, erzählte die Schriftstellerin Aslı Erdoğan im Interview mit der taz. Es war Erk Acarer, der das Gespräch mit der gefeierten türkischen Autorin führte. Zwei Menschen saßen sich im deutschen Exil gegenüber, nachdem sie beide wegen ihrer entschlossenen Haltung und ihrer Arbeit in der Türkei nicht mehr sicher waren.

Jetzt ist Erk Acarer in Berlin zur Zielscheibe geworden: Drei Männer kreuzten vor seiner Haustür auf, schlugen ihn nieder, verletzten ihn am Kopf. Es ist ein böser Traum für alle Jour­na­list*in­nen, die sich kritisch mit der türkischen Regierung, mit dem re­li­giö­sen Fundamentalismus in dem Land und dem Umgang mit Ale­vit*in­nen, Kurd*in­nen, Zazas und allen anderen zu Minderheiten erklärten Gruppen auseinandersetzen. Es ist bittere Realität für viele, bei jeder öffentlichen Äußerung, bei jedem Tweet, jedem Like auf Facebook zu zögern. Begebe ich mich damit in Gefahr? Bringe ich andere Menschen dadurch in Gefahr?

Quelle         :          TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Hermannplatz3 Berlin Neukoelln

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Verstörende Gleichgültigkeit

Erstellt von Redaktion am 8. Juli 2021

Von der linksbürgerlichen Islamismus Toleranz

DITIB-Zentralmoschee Köln - April 2015-7489.jpg

Die Deutsche Toleranz ist nie über den Ballermann hinausgekommen !

Eine Kolumne von Sascha Lobo

Von links kommen viele gesellschaftliche Fortschritte und menschenfreundliche Errungenschaften. In einem Punkt aber ist das Linksbürgertum unsensibel und teils ignorant: bei der Bedrohung durch Islamismus.

 

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Ein Herz für Verlierer

Erstellt von Redaktion am 25. Juni 2021

Ein Fußallkrimi mit Herz für Verlierer

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Das Herz von Leon Goretzka zeigt die TAZ über den Artikel.

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Aus München von Andreas Rüttenauer

Mit viel Glück kann sich die DFB-Elf gegen Ungarn für das Achtelfinale qualifizieren. Besonders ist das Spiel auch, weil es politisch aufgeladen ist.

Am Ende hatte die Liebe gewonnen. Das Herz, das Leon Goretzka den finsteren Gesellen in der ungarischen Fankurve zeigte, nachdem er gerade das die deutsche Fußballnation erlösende 2:2 erzielt hatte, knüpfte ein Band zwischen den beiden großen Geschichten, die dieses Spiel geschrieben hat. Gerade hatte der Mittelfeldspieler des FC Bayern München das Ausscheiden der Deutschen in der Vorrunde der Europameisterschaft durch seinen Treffer kurz vor Schluss der Partie verhindert, da erinnerte er noch einmal eindrucksvoll daran, dass dieses Spiel im Zeichen des Regenbogens gestanden hatte.

Das Herz, das er ausgerechnet jenen zeigte, die den ganzen Tag lang versucht hatten, durch ihr martialisches Auftreten, durch ihre Sprüche und ihre Drohgebärden München in Angst und Schrecken zu versetzen, war der versöhnliche Höhepunkt eines aufreibenden Tages. Das war so dramatisch, so kitschig fast, dass man glatt hätte vergessen können, wie elend der Auftritt der deutschen Mannschaft lange Zeit war.

Die hatte sich gewiss einiges vorgenommen und sinnierte am Nachmittag vor dem Anpfiff über den Matchplan gegen Ungarns weit hinten verteidigende Fünferkette, als sich im eigentlich so friedlichen und wohlstandsgrünen Münchner Stadtteil Haidhausen die ungarischen Fans versammelten, vor denen vor dem Spiel so sehr gewarnt worden war. Wie sie darauf reagieren würden, dass sich Deutschland an diesem Tag selbst zur Regenbogennation erklärt hat, war eine der spannendsten Fragen des Tages.

Im Biergarten des Hofbräukellers am Wiener Platz lief so manche Mass Bier durch die Kehlen der ungarischen Fans in ihren schwarzen T-Shirt-Uniformen. Wackere Aktivistinnen hatten sich vor dem Biergarten postiert und zeigten die Regenbogenfarben. Ein Großaufgebot der Polizei war nötig, um ihnen zu signalisieren, dass ihnen nichts passieren würde.

“Viktor! Viktor! Viktor!“, skandierten sie, als sie sich formierten, um sich auf den Weg ins Stadion zu machen. Rote und grüne Feuertöpfe sorgten für eine Atmosphäre, wie sie der Wiener Platz, wo sich sonst gut und teuer gekleidete Münchnerinnen und Münchner zum unvermeidlichen Aperol Sprizz nach Feierabend versammeln, vielleicht noch nie gesehen hat. Dass die ungarischen Fans das politische Spiel angenommen haben, das lief, seit Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter die Uefa aufgefordert hatte, die EM-Arena in den Regenbogenfarben als Protest gegen die homofeindliche Gesetzgebung Ungarns erstrahlen zu lassen, war schnell zu erkennen. Die Stadt München beflaggte das Rathaus mit Regenbogenfahnen, überall in der Innenstadt wurden bunte Winkelemente verteilt und sorgten für eine nie dagewesene Spieltagsstimmung in München.

„Deutschland, Deutschland, homosexuell“

“Deutschland – Pussy!“, riefen die wilden Männer, von denen nicht wenige T-Shirts mit dem Aufdruck “Hooligan“ trugen. Sie posierten noch einmal besonders aggressiv, bevor sie von der Polizei in die Busse verfrachtet wurden, mit denen man sie zum Stadion transportierte. “Deutschland, Deutschland, homosexuell!“, auch das riefen einige ungarische Fans und zeigten Stinkefinger in Richtung Polizei und natürlich den Dutzend Aufrechten, die mit Regenbogensonnenschirmchen oder bunten Fähnchen winkten. Dass die Polizei die Aktivistinnen aufgefordert hat, den Platz zu verlassen, weil man nicht für ihre Sicherheit sorgen könne, gehört zu den Tiefpunkten dieses Nachmittags.

Was das mit dem Spiel zu tun hat, das sich später entwickeln sollte, lässt sich nur schwer sagen. Auf jeden Fall haben alle Mitwirkenden an diesem Abend mehr als nur gespürt, dass da eine ganz besondere Spannung in der Luft lag. Die vielen Regenbogenfähnchen, die die Or­ga­ni­sa­to­r:in­nen der Münchner Pride Week auf den geschwungenen Wegen von der U-Bahn zur Arena verteilt haben, sorgten für eine in Fußballstadien selten gesehene Farbmischung. Die biedersten Schlandianer liefen mit FFP2-Maske in den Regenbogenfarben zum Stadion.

Die ungarischen Problemfans, die nicht über diese Pride-Meile ins Stadion geleitet wurden, sondern auf einem anderen Weg direkt in ihre Kurve, wandten dem Spielfeld den Rücken zu, als die deutsche Hymne erklang. Während der ungarischen Hymne lief ein Zuschauer im deutschen Trikot eine Regenbogenfahne schwenkend auf das Spielfeld und posierte sich vor denen, die am wenigsten zur politisierten Stimmung vor dieser Partie beigetragen hatte, den ungarischen Spielern. Der Applaus der meisten deutschen Fans war ihm gewiss.

Quelle       :        TAZ         >>>>>         weiterlesen

Vatikan gegen Antidiskriminierungsgesetz:

Der Anti-Anti-Papst

Pope Francis in March 2013.jpg

Mit Kreuz und Mütze stehe ich hier  – erschlag die Sünder-Innen mit meinen Brevier. Die Katholen erkennen nur Partys an ihren Altären der Welt als Glaubensgrundlage an, in der die Zeremonienmeister zum Umtrunk dem Wein als „Blut Jesus“ zuprosten, während das geduldig wartende Volk in langen Schlangen um ein Stückchen Brot anstehen muss, um dieses dann im Sinne eines  kannibalischen Ritus „als Leib Jesus“ hinunterschlingen müssen.

Aus Rom von Michael Braun

Ein neues Gesetz gegen homo- und transfeindliche Hassrede in Italien? Nicht mit dem Papst. Der greift doch glatt in die laufende Gesetzgebung ein.

Eigentlich sollte der Dienstag ein wunderschöner Tag für Italiens Ministerpräsident Mario Draghi werden. Schließlich war EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Rom gereist, um das grüne Licht der Union für Italiens Wiederaufbauplan in Höhe von 191 Milliarden Euro zu verkünden.

Doch stahlen andere Draghi und von der Leyen die Schau: die Prälaten des Vatikans. Sie stellten am selben Tag die Ampel für Italiens Regierung auf Rot, weil sie erbost sind über das neue Antidiskriminierungsgesetz, das gerade im Senat verhandelt wird. Zumindest einen Erfolg errang der Vatikan sofort: Am Mittwoch beschäftigten sich alle Zeitungen oft seitenlang mit der Attacke der Kurie.

Die reichte – das hat es noch nie gegeben – formalen Protest bei der Regierung ein, eine „Verbalnote“ ans Außenministerium. Angeblich sei das Konkordat zwischen Italien und dem Heiligen Stuhl verletzt, dessen letzte Version von 1984 stammt. Dort, so die Protestnote, sei die Freiheit der Kirche in ihrer Verkündigung ebenso geschützt wie die Lehrfreiheit an den katholischen Schulen des Landes.

Diese Freiheit sei nun durch das gerade im Parlament beratene Gesetz in Gefahr. Es sieht vor, jene strafverschärfenden Normen, die bisher bei Hasstiraden oder gewalttätigen Angriffen aus religiösen oder auch ethnischen Motiven greifen, auch auf verbale oder physische Angriffe auf Schwule, Lesben, Transsexuelle und Menschen mit Behinderung auszudehnen. Zudem soll mit dem Gesetzesvorschlag der 17. Mai zum Festtag gegen die Homo- und Transphobie erhoben werden, der auch an den Schulen begangen werden soll.

Die Franziskus-Ruhe ist vorbei

Dass das dem traditionellen Flügel der katholischen Kirche nicht schmeckt, liegt auf der Hand. Trotzdem rieben sich viele in Italien angesichts des offiziellen Vatikanprotests die Augen. Einen solchen, nie da gewesenen Schritt hätten sie nicht erwartet, nicht unter Papst Franziskus. Hatte der nicht bis dahin ungekannt versöhnliche Töne gegenüber Homosexuellen angeschlagen? Hatte er nicht explizit verkündet, auch sie hätten „das Recht, in einer Familie zu leben“, und wegen seiner sexuellen Orientierung dürfe niemand aus der Kirche „hinausgeworfen oder unglücklich gemacht werden“?

Quelle     :         TAZ          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben        —       Beleuchtung in Regenbogenfarben zum Christopher Street Day 2016

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3. von Oben  —

Links      —      Jarosław Kaczyński

Kancelaria Sejmu / Paweł Kula – Prezydent USA, Donald Trump w Polsce This file has been extracted from another file: Jarosław Kaczyński na wystąpieniu Prezydenta USA Donalda Trumpa w Polsce.jpg

Rechts      —    Recep Tayyip Erdoğan

Senat RP/Polish Senate – http://www.senat.gov.pl/k7/agenda/goscie/2009/090514/1.jpg

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Unten     —       Das Stundenbuch Maria Stuarts, das sie bei ihrer Hinrichtung bei sich trug

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Der Antisemitismusvorwurf

Erstellt von Redaktion am 20. Juni 2021

Beim Staat Israel gilt ein Kritikverbot

Staat : – Alles hört auf unser Kommando 

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Suitbert Cechura

Wer sich als Deutscher mit Bedenken zum Staat Israel und dessen politisch-militärischen Aktivitäten äußert, läuft rasend schnell Gefahr, als Antisemit abgestempelt zu werden. Denn immer wieder wird die Kritik an Israel mit einer rassistischen Kritik an Juden, mit Judenhass, gleichgesetzt.

Dann hören die Differenzierungen, die die Experten natürlich kennen (https://www.heise.de/tp/features/Der-ganz-normale-Antisemitismus-6058775.html?seite=all), sofort auf. In der hiesigen Öffentlichkeit wird dann der Unterschied zwischen der generellen Verurteilung von Juden – gleich Antisemitismus – und einer kritischen Beurteilung israelischer Politik oder der Räson dieses Staates – gleich Antizionismus – zielstrebig zum Verschwinden gebracht. So gerade in den letzten Wochen, als der Konflikt im Nahen Osten eskalierte und auf Deutschlands Straßen Demonstrationen und Kundgebungen stattfanden.

Warum das so ist, sollte man einmal genauer prüfen, und zwar ohne die prinzipielle Parteilichkeit, die bei dem Thema hierzulande vorgeschrieben ist.

Der Ausgangspunkt: Protest gegen eine Kriegspartei

Nach der Provokation Israels in der Al-Aksa-Moschee, der Behinderung palästinensischer Muslime bei ihrer Teilnahme am dortigen Gebet und der Vertreibung von Palästinensern aus ihren Häusern in Ost-Jerusalem kam es zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hamas. Dies löste auch eine Reihe von Demonstrationen in Deutschland aus – u.a. mit Aufmärschen und Steinwürfen vor Synagogen, mit Reden gegen Juden und mit dem Verbrennen von Israel-Fahnen. Dabei war aus der Presse wenig darüber zu erfahren, was Juden vorgeworfen wurde, man wurde vor allem über das Faktum von Hassreden informiert. Worauf sich gleich die Politiker zu Wort meldeten, so auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: „‘Judenhass – ganz gleich von wem, wollen und werden wir in unserem Land nicht dulden‘, sagte Steinmeier der ‚Bild‘-Zeitung. Nichts rechtfertige die Bedrohung von Jüdinnen und Juden in Deutschland oder Angriffe auf Synagogen in deutschen Städten.“ (tagesschau.de, 23.5.2021)

Unverkennbar war in der aktuellen Situation, dass sich der Protest gegen die Politik Israels im Nahen Osten richtete. Wer Steine auf eine Synagoge warf oder Kippaträger belästigte, gab dem natürlich eine besondere Wendung. Solche Demonstranten griffen Juden im Allgemeinen an, behandelten sie als Vertreter, ja als individuelle Verkörperungen des israelischen Staates. Zweifellos eine verrückte nationalistische Logik! Denn wie jeder wissen müsste, der sich mit dem Konflikt befasst, sind nicht alle Juden Parteigänger der betreffenden staatlichen Linie (https://www.heise.de/tp/features/Das-geschieht-nicht-in-meinem-Namen-und-alsJuedin-und-Deutsche-6052094.html), können also für die dortige Politik gar nicht haftbar gemacht werden. Und bekanntlich gibt es auch in Israel entschiedene Gegner des Kriegskurses.

Juden – wo auch immer auf dem Globus – als leibhaftige Vertreter Israels zu betrachten und Judentum mit der Parteilichkeit für diesen Staat gleichzusetzen, ist allerdings keine Erfindung einer blindwütigen Protestszene. Das beherrschen auch die Vertreter der hiesigen Politik, allen voran der Bundespräsident, der den Protest auf der Straße als Verbrechen identifizierte: „Unser Grundgesetz garantiert das Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Wer aber auf unseren Straßen Fahnen mit dem Davidstern verbrennt und antisemitische Parolen brüllt, der missbraucht nicht nur die Demonstrationsfreiheit, sondern begeht Straftaten, die verfolgt werden müssen“, erklärte er laut Tagesschau (tagesschau.de, 23.5.2021).

Aufschlussreich, wie das deutsche Staatsoberhaupt keine Unterschiede mehr zwischen nationalen Symbolen und wirklichen Menschen kennen will! Volk und Führung sind ihm eins. Dabei ist das Verbrennen einer Nationalflagge eindeutig ein politisches Signal, das auch überall auf dem Globus so verstanden wird: Es wird das Symbol einer (verhassten) Herrschaft angegriffen – wobei es durchaus vorkommen kann, dass es das der eigenen ist. So gab es in Deutschland nach der Wende eine „antideutsche Bewegung“, die gegen die Nationalideologie und ihre Symbole Sturm lief. Interessant ist ja auch, dass das Strafgesetzbuch nicht alle Flaggen-Verbrennungen in gleicher Weise als Straftat bewertet. Hier hat der Gesetzgeber schon zwischen Freund und Feind unterschieden.

Der Bundespräsident wollte aber im vorliegenden Fall gerade nicht differenzieren. Flaggenverbrennungen und antisemitische Parolen waren im gleich: als Straftaten nämlich. So folgte aus der Entdeckung des Antisemitismus auch nicht einfach die Aufforderung, sich mit der rassistischen Vorstellungswelt von Judenfeinden auseinanderzusetzen, sondern der Aufruf zur Solidarität – mit Israel! Vertreter der verschieden Parteien versammelten sich bei einer Gegenveranstaltung zu den Protesten auf einer Solidaritätskundgebung für Israel: „Vertreter von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat waren da, Olaf Scholz, Christian Lindner, Christine Lambrecht und Anton Hofreiter, Dietmar Bartsch und Reiner Hoffmann, der Chef des DGB. Cem Özdemir hielt eine exzellente, kurze Rede.“ („Massenhaft abwesend“, SZ, 22./23./24.5.2021)

Reuven Rivlin visit to Germany, March 2021 (GP7C6C 1).JPG

Wie die besagten Demonstranten, die Menschen nur als lebendes Nationalfähnchen ihres (wirklichen oder ideellen) Heimatstalls kennen, wollten auch die Vertreter aus Politik und Gewerkschaft keine Differenzierung zwischen Solidarität mit Israel und Solidarität mit Juden vornehmen. Denn wäre es deutschen Politikern mit ihrer Brandmarkung des Antisemitismus ernst gewesen, hätten sie nicht als Reaktion auf den kritisierten Judenhass zu einer staatlichen Solidaritätskundgebung aufgerufen. Wäre es ihnen um den Schutz von Juden gegangen, hätten sie zu einer Solidaritätsaktion für diese aufrufen können.

Oder zu einer antirassistischen Aktion! Da gäbe es nämlich in puncto Antisemitismus einiges zu tun – nicht nur am rechten Rand der bundesdeutschen Gesellschaft, wo die Judenfeinschaft ihre Heimat hat und zudem die meisten antisemitischen Straftaten ausgebrütet werden. Sondern auch in akademischen Kreisen, wo etwa das geistesgeschichtliche Erbe des Abendlands mit seinem judenfeindlichen Traditionsbestand (siehe Spengler, siehe Heidegger) voller Nachsicht aufbewahrt wird, während man beim Antizionismus keine Gnade kennt (siehe: Neues von der deutschen „Universitätshure“ https://www.heise.de/tp/features/Neues-von-der-deutschen-Universitaetshure-5075461.html).

Die führenden Vertreter der politischen Parteien und Vertreter der Gewerkschaften blieben bei ihrer Veranstaltung weitgehend unter sich, sie gingen aber selbstverständlich davon aus, dass es die Pflicht eines anständigen Deutschen sei, an solchen Aktionen teilzunehmen. Das Bekenntnis zu den Verbrechen an den Juden und die Parteinahme für Israel gehören nämlich seit Bestehen der Bundesrepublik zur hiesigen Staatsdoktrin, die Sicherheit Israels gilt als „Teil der Staatsräson meines Landes“ (Merkel). Demzufolge ist Solidarität mit Israel Pflicht eines jeden Deutschen, auch wenn viele Bürger dies anders sehen und sich im Rahmen der – natürlich weiter garantierten – Meinungsfreiheit ihr eigenes Urteil bilden dürfen.

Das deutsche Nationaldogma steht also fest. Doch auch hier sollte man sich nicht davon abhalten lassen, die Beschwörung der Verantwortung für Juden und den Staat Israel einmal genauer zu prüfen.

Wir Deutschen…

Die Beschwörung der besonderen Verantwortung der Deutschen gehört bei verschiedenen Anlässen zum politischen Ritual. Dann wird die Güte der Nation aufgerufen, die „dem Bösen“ eine grundsätzliche Absage erteilt (siehe https://www.heise.de/tp/features/Kulturkampf-von-rechts-4657804.html). Programmatisch vorgetragen wurde der Verantwortungsgedanke vom Bundespräsidenten anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung: „Ich wünschte, ich könnte heute sagen, dass wir Deutschen ein für alle Mal aus der Geschichte gelernt haben… Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten… Unsere deutsche Verantwortung vergeht nicht. Ihr wollen wir gerecht werden.“ (https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-01/frank-walter-steinmeier-israel-holocaust-gedenken-antisemitismus)

Wenn der Bundespräsident von „wir“ spricht, dann redet er nicht im Pluralis Majestatis, also von sich in der Mehrzahl, sondern bezieht von vornherein alle Deutschen mit ein – ob sie wollen oder nicht. Als Deutsche sollen sie Verantwortung tragen für das, was der Vorgängerstaat der Bundesrepublik Juden angetan hat. Dabei haben sich die meisten Deutschen ihr Deutschsein gar nicht ausgesucht. Sie sind in Deutschland von deutschen Eltern geboren worden, die nach der Geburt ihr Kind pflichtgemäß den Behörden meldeten. So wurden sie, bevor sie auch nur einen Gedanken fassen konnten, vom deutschen Staat als Untertanen verbucht. Nur wenige haben selber entschieden, Deutsche zu sein. Sie stellten einen Antrag auf Einbürgerung, was ihnen übrigens in der Regel nicht besonders hoch angerechnet wird. Man begegnet ihnen eher mit Misstrauen, sind sie doch Bürger mit Migrationshintergrund, also irgendein nationaler Sonderfall.

Unterm Verantwortungsgedanken werden sie aber – hier geht die Integration ruckzuck – selbstverständlich eingemeindet. Als Deutsche sollen sich alle Bürger zu Taten bekennen, an denen sie nicht beteiligt waren und die zu einer Zeit stattfanden, als sie noch gar nicht auf der Welt waren. Man muss sich eben für die Taten (und Untaten) der Nation verantwortliche fühlen. Aber nicht nur das! Selbst die späteren Ereignisse – dass es zu einer israelischen Staatsgründung in Palästina kam, dass dies zu kriegerischen Auseinandersetzung mit den Anrainern führte etc. – sollen jedem Deutschen Auftrag und Verpflichtung sein. Das ist schon ein bemerkenswertes Haftungsverfahren, das hier mit der deutschen Verantwortung für Juden und den Staat Israel praktiziert wird!

…tragen geschichtliche Verantwortung für…

Nicht nur die Art und Weise der Vereinnahmung, auch der Inhalt der Verantwortung, die eingeklagt wird, kann einem zu denken geben. Was soll ihr Inhalt sein? Wiedergutmachung? Nach 1945 hätte man den überlebenden Juden ein angenehmes Leben bereiten können, das wäre eine praktische Aufgabe gewesen. Die Wiedergutmachung unter Adenauer ging aber bekanntlich ganz andere Wege: Sie war eine Affäre von Staat zu Staat, mit eigenen Kalkulationen. Holocaust-Gedenken war in der unmittelbaren Nachkriegszeit jedenfalls nicht angesagt; es ging um politisch-diplomatische Maßnahmen zum staatlichen (Wieder-)Aufstieg.

Holocaust monument Berlijn.jpg

So  kalt wie Schrott und Stein – so sollten Volkes Tränen sein? 

Gefordert ist auch heute kein praktisches Anliegen, sondern eine Haltung. Deutsche sollen sich ganz grundsätzlich positiv gegenüber Juden oder Israel stellen, ganz unabhängig davon, ob sie einen Juden oder eine Jüdin kennen, was diese tun und denken oder was Israel politisch unternimmt. Judenfreundschaft statt -feindschaft ist aber kein vernünftiges Programm. Normalerweise entscheidet sich das Verhältnis zu einem anderen Menschen doch gerade an der Besonderheit der Person, also daran, was der oder die Betreffende im Blick auf Überzeugungen, Neigungen oder Interessen vorzuweisen hat. Die Frage danach soll hier aber keine Rolle spielen.

Hinzu kommt, dass der Schutz von Juden gleichgesetzt wird mit dem Schutz oder der Parteinahme für Israel, ganz so, als ob dies dasselbe wäre: „Wir bekämpfen den Antisemitismus! Wir trotzen dem Gift des Nationalismus! Wir schützen jüdisches Leben! Wir stehen an der Seite Israels!“ Das verkündet der höchste Vertreter der deutschen Nation, erklärt damit Anti-Antisemitismus und Parteinahme für Israel als identisch und gleichzeitig zum Bestandteil des deutschen Nationalismus. Auf diese Art und Weise tritt die deutsche Politik für das Existenzrecht Israels ein.

…das Existenzrecht des Staates Israel

Rechte werden bekanntlich von Staaten oder übergeordneten Mächten verliehen. Das Recht für die Schaffung des Staates Israels nahmen sich die Zionisten zunächst selber; sie erwarben Land und vertrieben die Palästinenser aus ihren angestammten Gebieten. Dass dies die Reaktion auf die massenhafte Vernichtung der Juden durch die Nazis gewesen sei, ist eine Legende, ein nationales „Narrativ“, dem schon die Chronologie widerspricht: Der Zionismus hat seine staatsgründerischen Aktivitäten früher begonnen und die Landnahme bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts in die Wege geleitet (https://www.lpb-bw.de/geschichte-israels).

Dabei erhielten die zionistischen Staatsgründer natürlich gewaltige Unterstützung von Staaten, die nach 1945 einiges zu bieten und zu sagen hatten – sonst wären sie (wie etwa die Palästinenser heute) auf dem Status einer nationalen Befreiungsbewegung verblieben, die mit Anklagen und Terrorakten auf sich aufmerksam macht. Dank der prominenten Unterstützer waren sie bereits bei der Gründung des Staates Israel 1948 in der Lage, einen Krieg mit mehreren arabischen Staaten, die das neue Staatsgebilde nicht dulden wollten, erfolgreich zu führen.

Von palästinensischer Seite wird das als nationales Unrecht, als „Nakba“, beklagt. Doch den heutigen Bewohnern Israels die Terrortaten ihrer Gründungsväter und -mütter zur Last zu legen, ist ebenfalls abwegig. Zudem könnte man einmal grundsätzlich fragen: Wie sollte denn ein Staat anders zustande kommen? Noch jede nennenswerte Staatsgründung ist Resultat eines landesweiten Gewaltaktes – sei es als Aufstand und Bürgerkrieg wie in Frankreich, USA, Russland oder China, sei es als Putsch wie in Ägypten, Myanmar oder Mali, sei es als Ergebnis eines verlorenen Krieges wie in Deutschland.

Die jetzigen Bewohner Israels sind genauso wenig für die Vertreibung und Terrorisierung der Palästinenser in der Vergangenheit verantwortlich zu machen wie die Nachfahren Nazideutschlands. Es macht jedoch einen Unterschied, ob man die Existenz des Staates Israels zur Kenntnis nimmt und damit die Tatsache, dass jetzt Israelis in Palästina leben, oder ob man, im Stil der Bundesregierung, kategorisch für das Existenzrecht Israels votiert. Wer eine erneute Vertreibung in Palästina verhindern will, muss sich um die Opfer der früheren Vertreibung kümmern, wenn ein friedliches Zusammenleben von Juden und Nichtjuden dort stattfinden soll. Dem steht jedoch der Staat Israel entgegen.

Nationalreligiöser Klartext: Der Judenstaat

Dabei ist weniger interessant, wie Israel entstanden ist. Entscheidend ist die Frage, wie es sich selber definiert, welche Rechte es für sich reklamiert und wie es aktuell handelt. In seinem Nationalstaatsgesetz (auch National- oder Nationalitätengesetz, https:/de.wikipedia.org/wiki/Nationalstaatsgesetz_(Israel); 23.5.2021) bezeichnet sich Israel als Staat des jüdischen Volkes. Dies ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.

Zum einen, weil der Staat Israel seine Bevölkerung glaubensmäßig sortiert und sich nur als Staat derer bezeichnet, die jüdischen Glaubens sind. Der Rest der Bevölkerung wird zwar nicht vertrieben, sondern damit im Prinzip „nur“ zu Bürgern zweiter Klasse erklärt. Das hat z.B. den ehemaligen deutschen Außenminister Sigmar Gabriel zu der Äußerung veranlasst, Israel sei ein Apartheitsstaat.

Zum anderen bezeichnet sich Israel als „Heimstatt aller Juden“, macht damit ungefragt alle Juden in der Welt zu ideellen Staatsbürgern Israels – ganz gleich, ob sie diese Heimstatt haben wollen oder nicht. Es ist eben eine staatliche Leistung, sein Volk zu definieren, und nicht eine Leistung der so angesprochenen Bürger. Es gibt ja auch nicht wenige Juden, die es sich verbitten, mit der Politik Israels in Verbindung gebracht zu werden; sie finden aber nur selten Gehör. In der Öffentlichkeit präsent sind dagegen – auf jeden Fall in Deutschland – die zahlreichen Vertreter jüdischer Organisationen außerhalb Israels, die wie Abgesandte dieses Staates auftreten.

Im Nationalstaatsgesetz ist der Siedlungsbau zudem als nationaler Wert gekennzeichnet und damit festgeschrieben, dass der israelische Staat den Siedlungsbau unterstützt und konsolidiert. Damit bringt er zum Ausdruck, dass er sich als unfertigen Staat betrachtet, dessen Grenzen keineswegs festliegen und der seine territoriale Ausdehnung weiter betreiben will. Die weitere Vertreibung von Palästinensern gehört damit – implizit und von „ultranationalistischer“ Seite auch offen ausgesprochen – zum Staatsprogramm. Jede Gegenwehr wird zum Sicherheitsrisiko erklärt, und das israelische Sicherheitsinteresse beansprucht, dass kein Staat in der Region sich diesen Ansprüchen widersetzen kann. Israel fordert so die Anerkennung als überlegene Macht in der Region.

„Die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands“

Wenn Außenminister Heiko Maas nach Israel reist und Israel Deutschlands uneingeschränkte Solidarität zusichert (SZ, 21.5.2021), dem Land jedes Recht zur Selbstverteidigung bescheinigt, dann stellt er klar, dass er an diesem Programm des israelischen Staates nichts zu kritisieren hat. Wenn er zudem das Recht auf Selbstverteidigung betont, dann ist jede Gegenwehr gegen die weitere Landnahme und Vertreibung Unrecht, also Terrorismus. Dabei streben die verschiedenen Palästinenserorganisationen nichts anderes an als das, was Israel behauptet: eine eigene Souveränität.

Zwar wird trotz ständiger Ausweitung der israelischen Siedlungen auf der Westbank offiziell immer noch von einer Zweistaatenlösung gesprochen – und auch die neue US-Regierung hat wieder etwas Unverbindliches in diesem Sinne verlauten lassen. Jeder Akt der Selbstbehauptung der Palästinenser in dieser Hinsicht wird aber als Unrechtsakt deklariert.

Israel betreibt so ständig seine Ausweitung, übt praktisch die Souveränität über ganz Palästina aus, gleichzeitig gilt der jetzige Zustand völkerrechtlich als vorläufig. Dabei befinden sich die Palästinenser unter der Oberhoheit Israels, das z.B. seine Grenzen mit einer Mauer (dem Menschheitsverbrechen des Ostblocks!) schützt und den Gaza-Streifen in ein Ghetto verwandelt. Diesem Gebilde fehlt jede Lebensgrundlage, so dass es völlig von Lebensmittellieferungen der UN abhängig ist. Die Autonomiebehörde in Ramallah bekommt Wasser oder Geld nach Gutdünken der Regierung des Staates Israel. Und Israel signalisiert mit jeder Handlung, dass es an diesem Zustand nichts zu ändern gedenkt und mit der Siedlungspolitik den Lebensraum der Palästinenser weiter einzuschränken plant.

Seit seiner Gründung befindet sich dieser Staat in Konfrontation zu seinen Nachbarn, hat Teile Syriens annektiert und definiert seine Sicherheitsinteressen so, dass er ungefährdet alle Nachbarn bedrohen kann. Dazu ist er nicht nur von den USA reichlich mit Waffen ausgestattet worden, sondern auch von Deutschland. So werden Nachbarn wie Syrien oder auch der Iran immer wieder terrorisiert, und israelische Luftschläge gelten selbstverständlich als vorbeugende Gefahrenabwehr.

Mit diesem dauerhaften Kriegszustand gefährdet der israelische Staat auch das Leben vieler Menschen, als deren Heimstatt er sich in Szene setzt. Dies alles wird von Seiten der deutschen Regierung mit ihrer Solidaritätsadresse abgehakt, Recht und Unrecht in bester Schwarz-Weiß-Manier auf die beiden Parteien verteilt. Dagegen zu protestieren, gilt dann als Anschlag auf Israel und sein Selbstverteidigungsrecht. Der Anspruch, dass der israelische Staat identisch ist mit allen Juden, die sich irgendwo auf dem Globus finden lassen, dass er also in deren Volksnatur verankert ist, wird nicht in Frage gestellt.

Wenn sich aber Demonstranten darauf beziehen und in der nationalistischen Logik weiterdenken, gilt das schlichtweg als Antisemitismus, als Ausdruck eines irrationalen Judenhasses, der – so die spezielle deutsche Nutzanwendung – unverkennbar aus einer fremden (muslimischen, arabischen…) Welt stammen muss: „importierter Antisemitismus“ eben, der in der mustergültig geläuterten deutschen Nation nichts zu suchen hat.

Zuerst erschienen bei telepolis

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„Sinn“ + Gesellschaftskritik

Erstellt von Redaktion am 17. Juni 2021

Sinnvolle Existenz als Maßstab des eigenen Lebens und der Gesellschaft

Über den Sinn seines Lebens sollt jeder selbst entschieden !! Politik oder Religion arbeiten hier höchst zerstörend.

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Meinhard Creydt

Immer wieder verlieren wir vor lauter dringlichen To-do-Listen die Frage „Was wollen wir eigentlich?“ aus den Augen. Dieser Artikel stellt Argumente vor, die „Sinn“ von Sonntagsreden, Religion und Esoterik unterscheiden.

Wer eine sinnvolle Arbeit oder Tätigkeit will, kann sich nicht allein an den unmittelbaren Bezug von Mensch zu Mensch halten. Bspw. wird Lehrern deutlich, dass sie keinem Kind gerecht werden können, wenn die Schülergruppe zu groß ist. Beschäftigte im Gesundheitswesen bemerken, dass Personalknappheit und die herrschenden Vorgaben zur Vergütung medizinischer Leistungen ihnen häufig die Arbeit schwer machen. Für sinnvolle Arbeiten und Tätigkeiten bedarf es geeigneter gesellschaftlicher Bedingungen, Formen und Strukturen.

„Sinn“ und Kritik

Tätigkeiten (z. B. in Dienstleistungen) bewirken etwas, ohne ein gegenständliches Produkt zu schaffen, wie dies bei Arbeiten der Fall ist. Sinnvolles Arbeiten oder Tätigsein setzt ein Bewusstsein voraus, das Ablehnenswertes ablehnt. Es orientiert sich an problemvermeidender Vorsorge und kritisiert Problemvermarktung. Bei ihr wird der Schaden des einen für den anderen zum Anlass, Reparaturdienste oder Kompensation anzubieten, ohne die Schadensursachen anzutasten. Arbeitende erleben die Kooperation mit Kollegen aus dem eigenen Bereich und aus Arbeitsgruppen aus anderen Bereichen als der eigenen Arbeit förderlich. Man möchte seine Arbeit „gut machen“, muss aber erfahren, dass dem durch die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Gruppen im Betrieb sowie durch die Konkurrenz zwischen Betrieben (z. B. in der Forschungs- und Entwicklungsarbeit) Grenzen gesetzt sind. Sinnvolles Arbeiten oder Tätigsein orientiert sich an gesellschaftlichen Lösungen im Unterschied zur gesamtgesellschaftlich viel aufwendigeren Produktion von Waren für das Privateigentum. Der individuelle Autoverkehr ist teurer und unökologischer als ein Verkehrswesen, in dem die Bahn und der öffentliche Personennahverkehr, öffentlich subventionierte (Sammel-)Taxis, car-sharing u. ä. den Vorrang haben.

Sinnvolle Arbeit und Tätigkeit bilden ein Kriterium, das sich schlecht verträgt mit vielen Vorgaben moderner Arbeits-, Dienstleistungs- und Verwaltungsorganisationen. Die Zweck-Mittel-Rationalität drängt Eigenwerte an den Rand. Die Menschen werden dann als Arbeitskräfte eingespannt. Das widerspricht häufig der Entfaltung der Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen als Moment des sinnvollen Arbeitens und Handelns. Eine große Länge der Handlungsketten führt zur „Distanz zwischen Handlungen und Handlungsfolgen“. Diese Distanz erreicht häufig ein Maß, das es nicht erlaubt, sie „kognitiv zu erfassen und wie auch immer politisch-moralisch zu beurteilen“ (Offe 1986, 114f.), von gesellschaftlicher Gestaltung ganz zu schweigen. Die hohe Arbeitsteilung und Spezialisierung führt zur Vereinseitigung der Individuen (Tunnelblick) und zu Scheuklappen der Aufmerksamkeit. Dass „‚immer jemand anders zuständig ist’“, hat zudem negative Effekte auf „Empathie, Vertrauen, Wohlwollen, Anteilnahme und Weitsicht“ (Offe 1996, 288). Vertikal wird es möglich, dass „jeder die Verantwortung nach oben abwälzen kann, auf höheren Ortes vorentschiedene Prämissen des eigenen Handelns“. Horizontal führt die Allgegenwart „abrufbaren Spezialisten- und Expertenwissens“ zur Verarmung eigener Kompetenzen (Ebd., 286).

Selbst ein bekannter Managementautor wie Reinhard Sprenger betont, wie wenig der Mangel an sinnvoller Arbeit durch Einkommen kompensierbar ist. Er berichtet, wie er nach 30 Jahren die Teilnehmer einer Managementausbildung, bei der er Trainer war, wieder traf. „Alle waren erfolgreich, verdienten ausnahmslos viel, im Einzelfall sehr viel Geld – aber keiner war richtig glücklich. Jedenfalls nicht über sein Berufsleben. […] Die Jobdesigns fokussieren sich fast ausschließlich auf eine Binnen-Rationalität, sind an Effizienz, Finanzzielen und Benefits orientiert. […] Niemand soll glauben, dass Unternehmen so etwas wie Arbeitsfreude entstehen lassen, wenn sie am liebsten ohne den ‚Umweg’ über den Kunden ihren Kapitalmarktwert erhöhen wollen […]. Wie einer der Teilnehmer sagte: ‚Dass wir wussten, dass wir mit unserer Arbeit das Leben unserer Kunden verschönern […] mein Gott, ist das lange her!’“ (Sprenger 2019).

„Sinn“ und Aufmerksamkeit für indirekte Folgen

„Die Frage nach dem ‚Sinn’ unseres Tuns, namentlich unseres Arbeitens“ ist zu beziehen auf „die antizipierende Frage: Was ist der Effekt des Effektes des Effektes der Verwendung des Produktteils, den ich mit-herstelle“ (Anders 1988, 389). Die zugrunde liegende Gesellschaftsdiagnose lautet: „Unser Arbeitsprodukt geht uns nichts mehr an. […] die unendlich breite Kluft zwischen unserer Tätigkeit und dem, was durch diese irgendwann irgendwo bewirkt wird, macht nun unser Leben […] tatsächlich sinnlos“ (Ebd., 364). Demgegenüber geht es darum, „aus dem Jetzt herauszutreten und uns in einen sehr breiten, oft unwahrnehmbaren, nur vorstellbaren, oft noch nicht einmal vorstellbaren, sondern nur denkbaren, Raum der Voraussicht und der Verantwortung hinein zu begeben“ (Ebd., 389).

Problematisch ist ein Handeln, das vermeintlich nur anderen dienen und ihnen etwas geben will, dann, wenn das so handelnde Individuum auf die Entwicklung eigener, es selbst erfüllender Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen verzichten muss. Gegenfixiert auf einen Altruismus, der die eigene Entfaltung zurückstellt, konzentrieren sich viele darauf, im Handeln ja „ihr Ding“ machen zu können – ohne Rücksicht auf Verluste für andere. Ein Beispiel dafür bilden solche Ingenieure, die sich gleichgültig gegenüber Zweck und Grund des Produktes und der sozialen Abwicklung der Produktion (z.B. Entlassungen) verhalten, wenn es ihnen nur selbst gelingt, eine für sie interessante Arbeitsaufgabe zu bekommen. Selbst bei der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen schafften es die sie entwickelnden Techniker und Wissenschaftler, sich auf den Reiz ihrer Arbeit zu konzentrieren. So z.B. Oppenheimer: „Wenn man etwas sieht, was einem ‚technically sweet’ erschein, dann packt man es an und macht die Sache, und die Erörterungen darüber, was damit anzufangen sei, kommen erst, wenn man seinen technischen Erfolgt gehabt hat. So war es mit der Atombombe“ (zit. n. Jungk 1963, 490).

„Sinn“ und die Aufmerksamkeit für problematische Voraussetzungen

Sinnvoll ist Arbeiten und Handeln nur dann, wenn es mit einem Bewusstsein davon verbunden ist, dass die Freude des Kunden oder Adressaten des Produkts oder der Dienstleistung über sie sich nicht gesellschaftlich problematischen Ursachen verdankt. In der bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie verdienen Anbieter daran, dass Missstände nicht behoben werden, sondern unter Fortbestand der jeweiligen Mängel eigene Güter oder Dienste angeboten werden, die Kompensation versprechen. Viele Produkte setzen einen problematischen Zustand von Fähigkeiten, Sinnen, Sozialbeziehungen und Reflexionsvermögen voraus und bestätigen und befördern ihn ihrerseits. Beispiele dafür sind die Bildzeitung, Zeitschriften, die sich den Schicksalen von Personen aus dem Hochadel und dem Showbusiness widmen, ein großer Anteil der Computerspiele, Pornographie u.a. Autofans genießen selbstbezogene Empfindungen, die ihnen infolge der Fahrgeschwindigkeit, dem Sound des Motors, dem Gefühl des Schwebens und Gleitens möglich sind. Nicht sinnvoll ist die Koalition von Arbeitenden, die auf die von ihnen verfertigten Hochleistungsautos stolz sind, mit Konsumenten, die an diesem technischen Spielzeug Freude finden, gegen ein anderes Verkehrssystem. (Vgl. zur Autokultur Creydt 2017, 98-101).

„Sinn“ und das Bewusstsein von den Verhältnissen zwischen Allgemeinem und Besonderen

Der Spezialist fokussiert sich darauf, die Schwierigkeiten seiner Aufgabe zu bewältigen. Damit meint er übergenug zu tun zu haben. Er blendet aus, was die gesellschaftlichen Ursachen und Gründe für die Nachfrage nach seiner Leistung und was deren soziale Konsequenzen sind. Jede Person solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Zudem gebe es ja auch Spezialisten für das Allgemeine: Politiker, Philosophen u. a. „Man hat gewisse Fragen den Menschen aus dem Herzen genommen. Man hat für hochfliegende Gedanken eine Art Geflügelfarm geschaffen, die man Philosophie, Theologie oder Literatur nennt, und dort vermehren sie sich in ihrer Weise immer unübersichtlicher, und das ist ganz recht so, denn kein Mensch braucht sich bei dieser Ausbreitung mehr vorzuwerfen, dass er sich nicht persönlich um sie kümmern kann“ (Musil 1981, 358f.)

Sinnvoll ist eine gesellschaftliche Ordnung, in der von den Zusammenhängen zwischen Allgemeinem und Besonderem ein angemessenes Bewusstsein existiert und die Gesellschaft entsprechend eingerichtet ist. Erforderlich wird ein Bewusstsein davon,

  • wie das jeweilige besondere Moment zur gesellschaftlichen Welt und zur für sie charakteristische Lebensweise und Lebensqualität beiträgt,

  • wie im Besonderen der positive oder negative Bezug auf anderes Besondere enthalten ist,

  • wie die allgemeinen, gesellschaftlich übergreifenden Inhalte und Strukturen im Besonderen anwesend sind,

  • wie die allgemeinen, gesellschaftlich übergreifenden Inhalte und Strukturen günstigenfalls das Besondere in einer Weise ermöglichen, derzufolge es nicht nur Mittel für anderes, sondern in sich selbst erfüllt ist und für sich gelingt.

Not-wendig ist die öffentliche Beratung und Erwägung. Sie hat eigene Institutionen zur Voraussetzung: Informationsinfrastrukturen, qualitative Indikatoren, Organisationen zur Beobachtung von Unternehmen und gesellschaftlichen Bereichen (wie Foodwatch, Lobbycontrol u.a.), eigene Formen der Bilanzierung der Wirkungen von Betrieben und Organisationen auf die Entwicklung der Lebensqualität.

Eine sinnvolle Existenz ist zu unterscheiden von einem Leben, das sich auf den Nahraum fixiert und keine Anliegen kennt, die über den Beruf, die Partnerschaft, die Familie, das Hobby und ähnliches hinausgehen. Der Dienst für die eigene Familie oder die eigene Gemeinschaft überwindet den individuellen Egoismus, nicht aber den kollektiven Egoismus sowie die Trennung zwischen der partikularen Binnenmoral und den über die eigene Gruppe hinausreichenden Belangen.

Sinnvolles Leben unterscheidet sich von einer Aufmerksamkeit, die im Horizont von Um-zu-Begründungen verbleibt. „Wir arbeiten, um Geld zu verdienen und uns und vielleicht unsere Familie zu ernähren. Wir essen, weil wir hungrig sind, schlafen, weil wir müde sind, gehen spazieren oder rufen einen Freund an, weil wir Lust dazu haben, lesen die Zeitung, um herauszufinden, was auf der Welt passiert“ (Nagel 1990, 80). All diese Rechtfertigungen und Erklärungen unseres Tuns betreffen Relationen zwischen Tätigkeiten und Zwecken, ohne nach dem Sinn dieser Zwecke zu fragen. Ein solches Bewusstsein verbleibt in der Pragmatik des Alltagslebens. In ihr reicht es, „dass es sinnvoll ist, wenn ich am Bahnsteig bin, bevor der Zug abfährt, oder wenn ich die Katze nicht vergesse. Mehr brauche ich nicht, um in Gang zu bleiben“ (Ebd., 81).

Therapeutische oder quasireligiöse Sinnangebote

Diejenigen therapeutischen oder quasireligiösen Sinnangebote, die die Wahrnehmung der objektiven Sinnleere überspielen, machen nicht deren Ursachen zum Gegenstand, sondern „behandeln statt die effektive Sinnlosigkeit nur das Gefühl der Sinnlosigkeit“ (Anders 1988, 367), „so als wäre dieses Gefühl das eigentliche Unglück, nur dessen Beseitigung erforderlich; so als wäre der Zahnschmerz die Krankheit“ (Ebd., 365). Es geht dann darum, ein Sinn-Gefühl auch dort zu schaffen, wo faktisch der Sinn fehlt. Ignoriert wird, dass die „Sinnlosigkeit ein völlig berechtigtes Gefühl, ein Zeichen von unbeschädigter Wahrheitsbereitschaft, um nicht geradezu zu sagen: ein Symptom von Gesundheit“ darstellt (Ebd., 369f.).

Schon Lessing hat in seiner Ringfabel, „an die Stelle der Wahrheit des Geglaubten die subjektive Wahrhaftigkeit des Glaubenden gesetzt.“ Entsprechend ist für viele „alles schon in Ordnung, wenn nur überhaupt geglaubt wird, gleich ob die Dogmen ‚Trinität’ oder ‚klassenlose Gesellschaft’ heißen. Das bedeutet: statt Glauben an bestimmte Inhalte bejaht er den Glauben an den Glauben. Nämlich den Glauben an dessen Überleben fördernde Leistung“ (Ebd., 370f.). Es handelt sich um den „Sieg des Glaubens als seelischer Tätigkeit über den Glauben als inhaltliches Credo“ (Ebd., 371). Wir haben es dann zu tun mit einem „Glauben, dessen wir zu sehr bedürfen, um ihn den Chancen eines Examens zu unterwerfen“ (Nestroy, Notizen aus dem Nachlass). Leicht zieht man es dann vor, den „Unbegreiflichkeiten des Lebens […] einen Sinn beizulegen“, als sich darum zu bemühen, deren „Unsinn“ zu überwinden (Brecht, zit. n. Grimm 1979, 176).

Manche Sinnangebote bieten einen höheren Trostgrund auf, um mit der schlechten Lage zu versöhnen. „Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie“ (Nietzsche II, 944). Nicht sinnvoll ist es jedoch, aus Protest dagegen das Kind („Sinn“) mit dem Bade auszuschütten. „Wo die Menschen der Gleichgültigkeit ihres Daseins versichert sind, erheben sie keinen Einspruch; solange sie nicht ihre Stellung zum Dasein verändern, ist ihnen eitel auch das Andere. Wer das Seiende unterschiedslos und ohne Perspektive aufs Mögliche der Nichtigkeit zeiht, leistet dem stumpfen Betrieb Beihilfe“ (Adorno 1975, 390).

„Sinn“ und Helfersyndrom

Sinn kann sich nicht auf etwas beziehen, das in sich widersprüchlich ist. Ein Beispiel dafür ist das Vorhaben, Sinn durch Hilfe für andere zu erreichen. Erstens dienen die Bedürftigen nun als Mittel für die Sinnstiftung des Helfenden. Um die Bedürftigen geht es dann nur indirekt bzw. vermittelt. Die Hilfe für sie soll der Existenz des Helfenden Sinn verleihen. Gewiss hat tatsächliche effektive Hilfe für Bedürftige ihren Wert. Eine solche Hilfe bezieht sich auf die Hilfsbedürftigen jedoch „nicht allein um der Wohltätigkeit willen, sondern um ihnen zu nutzen“ (Baggini 2009, 81). Ein zweites Problem besteht darin, dass bei mancher Hilfe der Hilfeempfänger nicht unabhängig vom Helfenden werden darf. Sinnvolles Leben im Horizont der Sinnstiftung durch Hilfe für andere ist nur dem Helfenden, nicht dem Hilfeempfänger möglich. Drittens fordert der moralische Imperativ „Hilf den Armen“ zu Spenden auf und nicht dazu, die Armut selbst zu überwinden.

„Wir sind unglücklich aus Enttäuschung darüber, dass Freiheit und Wohlstand unserem Leben keinen Inhalt und kein Ziel geben. […] Inmitten von Überfluss führen wir ein unerfülltes Leben“

(Bruno Bettelheim 1964, 7). Gewiss erfreut sich die große Mehrheit der Bevölkerung gegenwärtig nicht materieller Sorglosigkeit. Gleichwohl gehört der Mangel an Sinn nicht zu dem, was wir ein Luxusproblem nennen können. Er stellt die Lebensqualität auf andere Weise als sog. materielle Sorgen in Frage und ist nicht gegen sie auszuspielen.

„Sinn“ und relevante soziale Auseinandersetzungen der Gegenwart

Viele Arbeitende wollen mit ihren Fähigkeiten und Qualifikationen etwas gesellschaftlich Sinnvolles schaffen. Mit der Landwirtschaft Befasste merken, dass die Vorgaben der Kapitalverwertung der Landwirtschaft nicht gut tun. Die jährliche Demonstration zur grünen Woche in Berlin mit 25.000 Teilnehmern bildet ein auffälliges Zeichen dafür, wie sich dieser Gegensatz bereits heute politisch artikuliert. Ärzte nehmen Anstoß daran, an den Folgen einer Wirtschaftsweise herumdoktern zu müssen. Sie verursachen eine solche Schwächung und Belastung der menschlichen Physis und Psyche, welche mit deren natürlicher Anfälligkeit und Endlichkeit keineswegs zu verwechseln sind. Ökonomiekritik findet sich dann auch in den Programmen von kritischen Fraktionen in den Ärztekammern (z.B. in Berlin die „Fraktion Gesundheit“). In der Bevölkerung ist die Aufmerksamkeit groß für den Unterschied, ob jemand seine Arbeit primär deshalb macht, weil er sich für sie interessiert oder weil er finanziell an ihr interessiert ist.

Kritische Debatten über den Sinn von Produkten betreffen z. B. das Auto in privatem Eigentum. Auch breite Abschnitte der Unterhaltungs- und Tourismusindustrie werden von einer Minderheit der Bevölkerung kritisiert. Die Produkte der Lebensmittelindustrie und der Landwirtschaft sind Thema einer breiten kritischen Öffentlichkeit. Viele Menschen haben ein Bewusstsein davon, dass die Lebensmittelindustrie Lebensmitteln gezielt Salz, Zucker und Fett zusetzt, damit künstlich die Verzehrneigung aktiviert und massiv gesundheitsschädliche Stoffwechselstörungen begünstigt.

Unter den Erwerbstätigen gibt es bei einer starken Minderheit ein Bewusstsein für den Gegensatz zwischen den Motiven dafür, die eigene Arbeit gut zu machen, und Zeit und Energie vergeudenden Hierarchien und Machtspielen.1 Für das Aufgezählte gilt frei nach Wilhelm Busch: „Sinn, und dieser Satz steht fest, ist der Unsinn, den man lässt“ (Marquard 1986, 33).

Sinnvoll ist eine Arbeit oder Tätigkeit, in der die arbeitende oder tätige Person in der Arbeit bzw. Tätigkeit ihre Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen entfaltet und mit ihrem Produkt oder ihrer Dienstleistungen sich so auf deren Abnehmer oder Adressaten bezieht, dass sie damit dazu beiträgt, deren menschliche Vermögen zu entwickeln.

„Sinn“ und Gesellschaftskritik

Grob lassen sich drei verschiedene Ansätze der Gesellschaftskritik unterscheiden. Ein funktional argumentierender Ansatz arbeitet heraus, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem bestimmte von ihm selbst beanspruchte Funktionen nicht erfüllt, also „intrinsisch dysfunktional und notwendig krisenhaft“ ist (Jaeggi 2013, 323). Eine „moralische oder gerechtigkeitsorientierte“ Kritik fokussiert sich auf die ungleiche Weise, in der Individuen am Reichtum partizipieren. Die ethische Gesellschaftskritik thematisiert das jeweilige „Welt- und Selbstverhältnis“ in einer Gesellschaftsform (Ebd., 341). Sie arbeitet heraus, dass das Leben in der modernen bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie trotz aller materiellen Vorteile verarmt, „sinnlos oder leer ist“ (Ebd.). Das haben wir in diesem Artikel skizziert.

Literatur

Adorno, Theodor W. 1975: Negative Dialektik. Frankfurt M.

Anders, Günter 1988: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2. München

Baggini, Julian 2009: Der Sinn des Lebens. München

Bettelheim, Bruno 1964: Aufstand gegen die Massen. Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft. München

Creydt, Meinhard 2017: Die Armut des kapitalistischen Reichtums und das gute Leben. München

Grimm, Reinhold 1979: Brecht und Nietzsche. Frankfurt M.

Jaeggi, Rahel 2013: Was (wenn überhaupt etwas) ist falsch am Kapitalismus? In: Rahel Jaeggi, Daniel Loick (Hg.): Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis. Berlin

Jungk, Robert 1963: Die Zukunft hat schon begonnen. Reinbek bei Hamburg

Marquard, Odo 1986: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart

Musil, Robert 1981: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg

Nagel, Thomas 1990: Was bedeutet das alles. Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie. Stuttgart

Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. Ed. Schlechta. Darmstadt 1997

Offe, Claus 1986: Die Utopie der Null-Option. In: Peter Koslowski u.a. (Hg.): Moderne oder Postmoderne. Weinheim

Offe, Claus 1996: Moderne ‚Barbarei’. Der Naturzustand im Kleinformat. In: Max Miller, Hans-Georg Soeffner (Hg.): Modernität und Barbarei. Frankfurt M.

Sprenger, Reinhard 2019: Warum Sie Ihren Job verachten. In: Wirtschaftswoche, H. 18, 26.4.2019, S. 93

1Die Überschrift einer Titelgeschichte in der Illustrierten Stern (H. 40/2010) lautete: „Karriere? Das tue ich mir doch nicht an! Warum gut ausgebildete Frauen das Spiel der Männer um Macht und Status nicht mitmachen.“ Die Antworten auf diese Frage beschränken sich bei den im Artikel vorgestellten Frauen nicht auf einen Ausstieg aus der Erwerbsarbeit zu„gunsten“ einer durch den Partner bezuschussten Existenz. Vielmehr geht es um Frauen, die weiter erwerbstätig sind. Ihren Karrierevorbehalten lassen sich Motive entnehmen, die zu einer Dissidenz passen, an die sich politisch anknüpfen lässt. „Wirklich genießen konnte Beate Ramsauer ihre Führungsposition trotzdem nicht. Sie fand die ständigen Machtspiele der Kollegen zermürbend. Zu diesen Spielen gehörte es, Termine beim Vorgesetzten zu überziehen, damit der des Kollegen platzte. Oder zu spät ins Meeting zu kommen, um dann die Diskussion an sich zu reißen. ‚50% meiner Zeit gingen für Politik drauf, dabei wollte ich doch inhaltlich arbeiten’, sagt Beate Ramsauer“ (Ebd., 58).

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KOLUMNE – AUFRÄUMEN

Erstellt von Redaktion am 29. Mai 2021

Hauptsache, alles so wie immer

Auch Stroh kann nicht immer wieder gedroschen werden, von den paar Körnern wird dann kaum einer satt. Stroh und Politiker  – das passt fast immer !

Von Viktoria Morasch

Unsere Kolumnistin traut der deutschen Debatte über den Nahen Osten nicht. Sie hört interessiertes Schweigen und viel desinteressiertes Sprechen.

Wahrscheinlich kennen Sie dieses Gedankenspiel, es wird in sozialen Netzwerken gern geteilt und ist bestimmt älter als das Internet: Wenn deine Enkelkinder dich eines Tages fragen, was du gegen ____ getan hast, was wirst du ihnen antworten? In die Lücke lässt sich der Klimawandel setzen, der Umgang mit Geflüchteten an Europas Grenzen, die Unterdrückung der Ui­gu­r:in­nen in China. Oder, wie zuletzt: die Gewalt zwischen Israelis und Palästinenser:innen.

Mich trifft dieses Gedankenspiel, jedes Mal. Was werde ich meinen Enkelkindern sagen über den Krieg im Nahen Osten? Soll ich darüber sprechen und schreiben, muss ich? Kann ich?

Ich finde keine Worte und stoße überall auf Hemmungen, meine eigenen und die von anderen. Ich höre interessiertes Schweigen und sehr viel, was ich für desinteressiertes Reden halte. Ganz ehrlich, den meisten, die in den letzten Wochen über den Nahostkonflikt gesprochen haben, traue ich nicht. Mein Misstrauen fängt bei der Frage an, ob sich die Sprechenden bewusst sind darüber, dass Israel und der Gazastreifen echte Orte sind mit echten Menschen, die echte Dinge erleben. Dass auch Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen mehr sind als schnell ansteigende Zahlen, obwohl wir ihre Geschichten viel zu selten erfahren. Dass es leicht ist, aus der Ferne radikale Lösungen zu fordern und sich selbst dabei gut aussehen zu lassen.

Vor allem traue ich den Viel­spre­che­r:in­nen in Deutschland nicht, weil Antisemitismus hier am liebsten dann zum Thema gemacht wird, wenn man ihn an Abschiebungen knüpfen kann. Schon erstaunlich, wie wenige Gedankensprünge es braucht, um von einem Krieg in 4.000 Kilometer Entfernung zur Frage zu gelangen, wen man hier rauswerfen könnte und wie. Noch leichter werden Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen zu ewigen Unruhestifter:innen, die ihren Kindern nichts als Hass predigen. Hauptsache, alles so wie immer.

Wie sehr interessieren sich diejenigen, die sich hierzulande schnell und laut positionieren, zum Beispiel dafür, dass die extreme Rechte in Israel immer stärker wird? Wie sehr für die politische Kritik linker Jüdinnen und Juden? Für die Rechte von Palästinenser:innen, wenn sie nicht von Israelis, sondern der Hamas beschnitten werden?

Quelle         :         TAZ        >>>>>        weiterlesen

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Thinktank „Ordo Iuris“

Erstellt von Redaktion am 27. Mai 2021

Eine Denkfabrik zum Fürchten

Von Joanna Schild

Juristen – Hinter dem Backlash für Frauen- und LGBTQ-Rechte in Polen steckt der erzkonservative Thinktank „Ordo Iuris“. Sein Einfluss wächst

Die aufgebrachte Menge skandiert: „Ordo Iuris, wypierdalać!“ (Ordo Iuris, verpisst euch!) Versammelt hat sie sich in der Zielna-Straße 39 in Warschau, vor dem Hauptsitz der ultrakonservativen Juristenvereinigung „Ordo Iuris – Institut für Rechtskultur“. Mit dem gotisch-romanischen Turm hebt sich das Gebäude von den benachbarten Neubauten ab. Nach den Protesten prangt am historischen Gemäuer der skandierte Slogan als Graffiti. Weitere Botschaften auf dem Gehsteig, darunter „Ihr habt Blut an den Händen“, verbalisieren an diesem Abend Ende Oktober die geballte Wut darüber, dass trotz massiven Widerstands eines der strengsten Abtreibungsgesetze in Europa weiter verschärft wurde. Seit der Verkündung durch das Verfassungsgericht ist die Spaltung der Bevölkerung zwischen liberal-progressiver und katholisch-traditionalistischer Wertegemeinde größer denn je. Und sie wird von den Regierenden stets aufs Neue angeheizt.

Neben der rechtspopulistischen Regierung und der erzkonservativen katholischen Kirche gibt es einen dritten wichtigen Akteur, der diesen reaktionären Wind fördert. Es ist die Juristen-Denkfabrik Ordo Iuris, die 2016 den Gesetzesentwurf für ein vollständiges Abtreibungsverbot vorlegte und das jüngste Urteil des Verfassungsgerichts als eigenen Erfolg verbucht. Leider scheint mit dem De-facto-Verbot von Abtreibungen nicht das Ende der reaktionären Agenda in Sicht. Ordo Iuris will die Istanbul-Konvention, also das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, durch eine „Konvention über die Rechte der Familie“ ersetzen. Ein entsprechender Antrag wird derzeit im Sejm, einer der beiden Kammern des Parlaments, debattiert.

Jerzy Kwaśniewski, der Präsident der Stiftung, die sich dem „Verteidigen der christlichen Werte“ verschrieben hat, wurde beim Ranking des US-amerikanischen Magazins Politico unter die 28 Menschen in Europa gewählt, die die europäische Politik und ihre Regeln im Jahr 2021 prägen werden. Im Vorwort stellt die Redaktion klar: „Wichtig ist der Grad des Einflusses, nicht ob er gut oder böse ist.“ Ungewöhnlich, dass ein in Europa weitgehend unbekannter Kopf einer ebenso wenig bekannten Organisation in einer Rangordnung mit Politgrößen wie Ursula von der Leyen, Angela Merkel oder Jens Stoltenberg auftaucht? Genau darin liegt die Brisanz des Phänomens Ordo Iuris. Seit der Gründung im Jahr 2013 konnte der Thinktank seinen Wirkungsgrad und Einfluss in höchste politische Sphären Polens und darüber hinaus ausbauen.

Der Anti-Gender-Klebstoff

An dieser Stelle ist ein kleiner Sprung in die Zeit notwendig, in der sich die Rechte neu zu erfinden beginnt. Mitte der 1990er Jahre als im Zuge der Welt-Frauenkonferenz in Peking (1995) der Begriff „Gender“ erstmals in internationale Beschlüsse aufgenommen wird, sind heftige Proteste die Folge. Einer der ersten, der den Begriff „Gender-Ideologie“ verwendet, ist Josef Ratzinger, auch bekannt als Papst Benedikt XVI. Die Angst vor der Zerstörung der „natürlichen Heterosexualität“, der Abschaffung der Geschlechter und damit der Auflösung des bürgerlichen Familienmodells als Basis des Staates werden seitdem von vielen befürchtet. Bereits mit Beginn der Nullerjahre formt sich also die sogenannte Anti-Gender-Bewegung gegen die Gleichstellung der Geschlechter, Gender Mainstreaming sowie gegen die sexuelle Selbstbestimmung und fungiert fortan als das symbolische Bindeglied der antifeministischen milieuübergreifenden Vernetzung und politischen Emotionalisierung innerhalb des rechten Spektrums. Dabei greift die Bewegung auf „religiöse Denk- und Argumentationsfiguren zurück, um mittels dieser einen autoritären Absolutheitsanspruch für sich zu begründen. All dies vollzieht sich – mal mehr, mal weniger offensichtlich – in vielen sich bislang demokratisch und liberal verstehenden Gesellschaften Europas und prägt derzeit das Regierungshandeln etwa der EU-Staaten Polen und Ungarn“, ist im Vorwort zum Sammelband Anti-Genderismus in Europa. Allianzen von Rechtspopulismus und religiösem Fundamentalismus zu lesen. Die Religionssoziologin Kristina Stoeckl, eine der Autor*innen, gibt in ihrem Aufsatz Konservative Netzwerke über Konfessionsgrenzen hinweg einen genauen Einblick in die Genese und die Entwicklung einer Organisation, dessen Gründung auf einen US-Amerikaner und einen Russen zurückreicht. Dabei analysiert sie insbesondere die interreligiöse Dimension. Die Rede ist vom weltweiten, antifeministischem Netzwerk World Congress of Families (WCF), dessen Konferenzen bereits seit 1997 jedes Mal in einem anderen Land stattfinden. Stoeckl beobachtet einen „Aktivismus, der einer »konservativen Ökumene« zwischen rechten und fundamentalistischen Gruppen innerhalb der unterschiedlichen, christlichen Konfessionen den Weg bereite“. Interessant ist dabei, „dass die Gegner*innen von sexuellen und reproduktiven Rechten sich zunehmend auf die gleiche Art und Weise zu organisieren beginnen, wie sie dies der von ihnen kritisierten „Gender-Lobby“ vorwerfen: transnational, über Kultur-, Länder- und Konfessionsgrenzen hinweg und mit dem Ziel, internationale Organisationen und politische Akteur*innen in nationalen Kontexten in ihrem Sinne zu beeinflussen“.

Ungefähr hier scheint der ultrakonservative Backlash in seiner zunehmend professionalisierten und strukturierten Form den Anfang zu nehmen. Es besteht unter anderem darin, das universelle Verständnis der Menschenrechte anzugreifen und an die eigenen Wertvorstellungen anzupassen. Dabei wird im Laufe der Zeit immer deutlicher, dass Antifeminismus und Anti-Genderismus eine ungewöhnliche Einigungskraft quer durch die sehr unterschiedlichen Lager des rechten Spektrums mit sich bringen: von Rechtsaußen, christlich-fundamentalistischen Kreisen, „besorgten Eltern“ bis hin zu den Bürgerlich-Konservativen.

Die vernetzte religiöse Rechte

Eine große, gut vernetzte Menge an Anti-Gender-NGOs und -Akteuren gibt es schon länger. Die Finanzierung und tatsächlichen Ziele vieler dieser Gruppen sind oft intransparent, dank wachsender wissenschaftlicher Aufmerksamkeit kommt aber mehr Licht in den Bereich. Einer, der dafür sorgt, ist Neil Datta vom Europäischen Parlamentarischen Forum für sexuelle und reproduktive Rechte. „Ihre zunehmende strategische, transnationale Präsenz und der Zugang dieser Organisationen zu europäischen Institutionen, wo sie mit demokratischen Instrumenten, wie Gesetzesentwürfen, Petitionen oder Referenden, gegen bestimmte Menschenrechte Lobbying betreiben, könnte die demokratische Ordnung gefährden“, sagt er. 18 Gesetzesinitiativen gegen Abtreibung und Gleichstellung sexueller Minderheiten werden dem informellen, geschlossenen Netzwerk Agenda Europe zugeschrieben. Datta untersuchte dieses Netz, das über 100 Organisationen und Politiker*innen aus rund 20 europäischen Ländern verbinden soll, darunter auch US-amerikanische Akteure, spezialisiert auf politisches Lobbying, gerichtliche Prozessverfahren und Bürgerinitiativen.

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Die theoretische Basis für den Umbau der vorherrschenden Rechtsordnung und Gesellschaft bildet das Manifest Wiederherstellung der natürlichen Ordnung, in dem gleich zu Beginn die Notwendigkeit eines von Gott gegebenen „Naturrechts“ so dargelegt wird: „Echte moralische Grundsätze basieren nicht auf subjektiven ‚Werten‘, sondern auf objektiven Wahrheiten – und deshalb ist es nicht nur legitim, sondern auch notwendig, sie denen aufzuzwingen, die sie nicht akzeptieren.“ Unverhohlen wird eine Kampfansage an liberale Gesellschaften formuliert, die „Akzeptanz von Scheidung, Empfängnisverhütung, Abtreibung, Homosexualität, Leihmutterschaft usw. hat tiefgreifende Auswirkungen nicht nur auf die direkt Beteiligten, sondern auch auf die Gesellschaft insgesamt. Diese als bloße ‚private Angelegenheiten‘ zu akzeptieren, in denen jeder seine eigenen Entscheidungen treffen sollte, bedeutet zu akzeptieren, dass diejenigen mit den niedrigsten moralischen und kulturellen Standards die Standards der Gesellschaft festlegen“.Die Forderung nach Umgestaltung der Menschenrechte entlang der Vorstellungen eines „Naturrechts“ erfüllt für viele ultrakonservative Akteur*innen, darunter auch Ordo Iuris, eine Art Kompassfunktion.

Brasilianische Wurzeln

Um die Wurzeln von Ordo Iuris zu ergründen, ist ein größerer Sprung notwendig, und zwar ins Jahr 1960 nach Brasilien. Der katholische Publizist und Politiker Plinio Corrêa de Oliveira gründete damals die TFP (Tradition, Familie und Privateigentum), er trat für eine antiegalitäre, antiliberale und totalitär-katholische Kultur und Politik ein. TFP ist eine religiöse und soziale Bewegung zugleich, historisch gesehen oft nah an südamerikanischen Diktaturen und mit Verbindungen zu rechtsextremen Akteuren. Unter anderem wurde der Organisation Indoktrination von Minderjährigen und kultähnlicher Charakter vorgeworfen. Der Name ist gleichzeitig Doktrin. Man möchte zu einer idealisierten Version der mittelalterlichen Ordnung zurückkehren. 1995, nach dem Tod von Oliveira, kam es zur Spaltung der brasilianischen TFP und der TFP-Gruppierungen anderer Länder. Neil Datta untersuchte die Aktivitäten des europäischen TFP Netzwerks, das NGOs in mindestens zehn europäischen Ländern hat und derzeit in Estonien, Kroatien, Litauen, den Niederlanden und der Slowakei expandiert. Die unterschiedlichen Filialen sind häufig nicht durch einen gleichen Namen oder das charakteristische Löwen-Logo als Teil des selben Verbands erkennbar. Aufschlussreicher ist die Zusammensetzung der jeweiligen Vorstände, die meist aus den selben, wenigen Personen bestehen. Oft werden die internationalen, nicht als Teil des Netzwerks erkennbaren Ableger als „Partnerorganisationen“ angeführt. Diese verbreiten medial gleiche oder leicht abgeänderte Inhalte und suggerieren eine breite zivilgesellschaftliche Aktivität und damit auch einen entsprechenden gesellschaftlichen Rückhalt.

Im katholisch geprägten Polen fand das TFP-Netzwerk Ende der 90er-Jahre das perfekte Klima für seine Tätigkeit. Journalistischen Recherchen zufolge scheint das Fundraising der Non-Profit-Organisation mittels Massenversand von religiösen Medaillons, Marienbildern und christlichen Publikationen so erfolgreich, dass es die Gründung immer weiterer Filialen möglich macht. Etwa im Jahr 2012 startet die katholische Kirche in Polen eine Anti-Gender-Kampagne. Bischöfe und Priester entwickeln eine aggressive Rhetorik gegen Feminismus und Homosexualität. Ein Jahr später gründet einer der beiden polnischen TFP-Ableger die Denkfabrik Ordo Iuris. Als der oppositionelle Warschauer Bürgermeister eine LGBTQ-Deklaration für Toleranz unterzeichnet, erklären sich viele Gemeinden, vor allem im Südosten Polens, zu „LGTB-Ideologie-freien Zonen“. Bei der Deklaration der Gemeinden spielt Ordo Iuris die Hauptrolle, mit der eigens für diesen Zweck vorbereiteten „Kommunalen Charta der Rechte für Familien“. Die Deklarationen haben keinen formalrechtlichen Status, leisten aber Schützenhilfe für homophobe Angriffe. Die PiS erkannte im Thema LGBTQ das Polarisierungspotenzial und setzte es erfolgreich bei der jüngsten Präsidentschaftswahl ein. Mit dem knappen Wahlsieg des PiS-nahen Kandidaten ist die politische Macht für die nächsten Jahre garantiert und der Weg für weitere Ordo-Iuris-Kampagnen geebnet.

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Dissidenz und Diaspora

Erstellt von Redaktion am 26. Mai 2021

Juden und Jüdinnen, die sich gegen das Besatzungsunrecht in Palästina stellen, verdienen unseren Respekt.

Und Schutz vor Diffamierung. Das wären wir schon im Gedenken an die Berliner-Mauer unseren Nachkommen schuldig.

Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Die „Radical Jewish Voices“ in Großbritannien bieten in ihrem Webshop einen Sticker an: Make Anarchism Jew­ish again! Das ist eine Erinnerung an eine einstmals starke Bewegung. In New York erschien fast hundert Jahre lang auf Jiddisch die anarchistische Zeitung Fraye Arbayter Shtime.

Unsere Erinnerungskultur kennt wenig Bezüge auf ein jüdisches Leben jenseits eines Staat und Kapitalismus bejahenden Bürgertums. Juden sind Opfer, als hätten sie nie gekämpft, als wären sie auch niemals Teil von Bewegungen für eine gerechtere Welt gewesen. Nur der Zionismus findet in dieser historischen Konfiguration Platz – die Opposition dagegen dann schon nicht mehr.

Es hat auch mit solchen geschichtspolitischen Prägungen zu tun, wenn einem linken, dissidentischen Judentum deutscher oder israelischer Herkunft in der hiesigen Öffentlichkeit so viel Misstrauen entgegenschlägt. Misstrauen und Abwehr sind sprungbereit, längst bevor ein Stichwort wie Apartheid fällt. Ein nicht kalkulierbares Judentum stört die Ruhe. Es zwingt zum Nachdenken.

Dass ich Juden und Jüdinnen, die sich gegen Besatzungsunrecht stellen, „dissidentisch“ nenne, ist gleichfalls Ausfluss deutscher Kräfteverhältnisse. Als Amerikanerin käme ich darauf vielleicht nicht.

Die vergangenen Wochen boten Gelegenheit, mit einer Reihe jüdischer Stimmen in den USA und Europa Bekanntschaft zu machen, die im Hinblick auf die Besatzungspolitik die Losung „Nicht in meinem Namen“ vereint. Das ließ auch eine Ahnung aufkommen, was diasporisches Judentum alles bedeuten kann. Etwa bei den „Judeobolschewiener*innen“ in Österreich; das Kollektiv beruft sich auf das Prinzip der Doikayt, verkürzt gesagt ein jiddischer Begriff für soziale Emanzipation in der Diaspora, gegen jegliche nationalistischen Identifikationen. Auf Antisemitismus antwortet das Kollektiv nach dem intersektionalen Prinzip: Judenhass wird wie Rassismus als eine Spielart von Diskriminierung bekämpft und nicht separat gestellt, nicht als ein Übel über allen anderen Übeln betrachtet.

Das ist ein Ansatz, der Kontroversen auslösen muss, gerade in Österreich oder Deutschland. Aber Juden und Jüdinnen, die bereit sind, in der Palästina-Solidarität jener Sorte Judenhass standzuhalten, die sich aus der Verzweiflung über das gemeinsam kritisierte Unrecht speist, verdienen meines Erachtens Respekt und nicht Diffamierung.

Das verpflichtet keineswegs dazu, an jeder Tonart jüdischer Opposition Gefallen zu finden. Ich erinnere eine Szene in Hebron, wo ein Vertreter von „Breaking the Silence“ die segregierte Nutzung einer Straße – getrennt nach jüdischen Siedlern und Palästinensern – mit den Worten erläuterte: „He, ihr seid doch Deutsche, woran erinnert euch das?“ Die richtige Antwort lautete: Ghetto, aber niemand von uns brachte sie über die Lippen. Auch bei dissidentischen Israelis in Deutschland klingt manches schrill: wie wenn sich jemand von der Familie lossagt und an der Haustür demonstrativ noch eine Kippe in den Vorgarten wirft.

Ich habe also eine Weile gebraucht, um mich dem Phänomen linker Jüdischkeit zu nähern. Zögerlich bezog ich vor zwei Jahren im Streit um die Vergabe des Göttinger Friedenspreises publizistisch Position, verteidigte die „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ gegen den Vorwurf des Antisemitismus – und hatte selbigen dann bald selbst am Hals. Es bedarf so wenig, um des Schlimmsten mir Vorstellbaren bezichtigt zu werden. Über eine Kolumne hieß es neulich, ich klänge wie Hitler. Wahlweise wie Martin Walser. Nicht ernst zu nehmen, gewiss – aber wo beginnt das Ernstnehmen? (Und wenn selbst ich die Antwort darauf nur tastend finde, wie findet sie dann eine Palästinenserin?)

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Eine tödliche Farce

Erstellt von Redaktion am 25. Mai 2021

Das Bild des kleinen sympathischen Staates Israel,
der von Feinden umgeben ist, verblasst.

Von Selim Nassib

Der Gazakrieg wirkte wie eine sinnlose Wiederholung des gleichen Musters. Doch zu erkennen ist: Die Machtverhältnisse in Nahost verschieben sich.

Sieg!, ruft die Hamas. Zum ersten Mal scheint sie Führerin aller Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen zu sein und nicht nur der Be­woh­ne­r*in­nen von Gaza. Sieg!, ruft auch Israel. Führende Köpfe der Islamisten wurden getötet, Tunnel sowie ein Teil der militärischen Infrastruktur der Hamas zerstört. Und auch Benjamin Netanjahu ruft Sieg! Er hat sein Image als starker Mann wiederhergestellt, der fest in der Rechten verankert ist. Das könnte es Netanjahu vielleicht ermöglichen, eine Regierung zu bilden und dem Gerichtsurteil zu entgehen, das ihm droht.

Das alles ist eine tragische und tödliche Farce, ein Nullsummenspiel, dessen Preis jene zahlen, die umsonst gestorben sind. Und die unglückseligen zwei Millionen Palästinenser*innen, die in Gaza eingesperrt sind, ohne die geringste Hoffnung auf Veränderungen. Und dennoch: Auch wenn dieser Krieg eine Wiederholung der vorherigen ist – vier Kriege in zwölf Jahren –, sind doch langsame Verschiebungen in den Tiefen dieser endlosen Geschichte zu spüren.

Erstens: Netanjahu hatte sein Volk, einen Teil der arabischen Staaten und die USA überzeugt, dass die Palästinenserfrage eines schönen Todes gestorben sei – aus Altersgründen. Die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem erregte nicht wirklich Aufsehen. Die Aufnahme offizieller Beziehungen zwischen vier arabischen Staaten und dem ehemaligen „zionistischen Feind“ sollte eine neue Ära einleiten, in der Israel und einige sunnitische Staaten unter Ausblendung der Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen sowie gleicher Widrigkeiten bezüglich des Iran nebst seiner schiitischen Verbündeten in der Region vereint sein würden. Der Gazakrieg hat, wie eine Rückkehr des Unterdrückten, diese schöne Illusion zumindest für eine gewisse Zeit zerplatzen lassen.

Zweitens: Die Palästinenserfrage hat sich der Welt in Erinnerung gebracht. Sie ist aus dem Grab gestiegen, in dem man glaubte sie beerdigt zu haben. Seit mehr als 50 Jahren hat Israel alles versucht, um dieses Volk (Palästinenser*innen aus Israel, Jerusalem, dem Westjordanland, Gaza sowie dem Exil) zu brechen. Die Hoffnung dabei war, dass die unterschiedlichen Lebensbedingungen sie langsam, aber sicher einander entfremden würden. Innerhalb weniger Tage wurde diese Annahme jedoch zunichtegemacht. Die Ausweisung aus dem Viertel Sheikh Jarrah in Ostjerusalem zugunsten von Siedlern, der Versuch, Gläubige von der Esplanade der Moscheen zu verbannen, die Antwort mittels einer wahren Feuersbrunst auf die militärischen Provokationen der Hamas, die Unterdrückung von Protestkundgebungen im Westjordanland sowie die demonstrative Solidarität derer, die man als israelische Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen bezeichnet und bürgerkriegsähnliche Zustände, die dem folgten – diese fünf Ereignisse haben alle Teile des palästinensischen Volkes erfasst. Sie haben sie daran erinnert, wer sie sind – nämlich Unerwünschte, in unterschiedlichen Graden. Das hat sie als Volk geeint. Zumindest für eine gewisse Zeit.

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Drittens: Indem die Hamas ihre Raketen aus Gaza abfeuerte, hat sie die palästinensische Abbas-Regierung diskreditiert, die gerade die sehnsüchtig erwartete palästinensische Wahl abgesagt hatte. Die Hamas hat keinen einzigen geschützten Ort geschaffen, wo die Bevölkerung ihrer Enklave Zuflucht suchen könnte. Doch das zählt jetzt nicht. Dass die selbst gebauten Raketen auf Tel Aviv und Jerusalem niedergingen, ein Dutzend Menschen töteten, die Bevölkerung in Schutzbunker trieb und zur zeitweiligen Schließung des Flughafens Ben Gurion führten, fegt die ohnmächtige Wut und die Erniedrigung hinweg, die die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen seit so langer Zeit erleiden. Obwohl sie Gaza im Würgegriff hält, zieht die Hamas symbolisch Profit aus ihren Waffen. Damit stärkt sie Netanjahu, ihren feindlichen Komplizen. Eine Friedensperspektive eröffnete das Feuerwerk der Hamas genauso wenig wie der gemäßigte Kurs der palästinensischen Autonomiebehörde.

Quelle        :       TAZ         >>>>>         weiterlesen

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Die Hoffnung der Narren

Erstellt von Redaktion am 24. Mai 2021

Perspektiven für den Nahost-Konflikt

Von Hagai Dagan

Im Nahen Osten ist trotz des Waffenstillstands kein echter Frieden in Sicht. Initiativen, die für das Zusammenleben einstehen, fegen nun die Scherben zusammen.

Dies sind düstere Tage – daran ändert der fragile Waffenstillstand von Freitag kaum etwas. Als die ersten Bilder von randalierenden Juden und Arabern über den Bildschirm flimmerten, ließ mich das an Zeilen des Dichters Nathan Alterman denken: „Die Stadt verdunkelt sich. Kein Mann weiß mehr, was ein Volk ist. Kein Volk weiß mehr, was ein Mann und was eine Frau ist.“

In diesen Tagen verdunkelt sich das ganze Land. Hier und dort tauchen irre Gesichter aus der Dunkelheit auf, blutdürstig, wie in bei einem Pogrom oder in dem Thriller „The purge“ („Die Säuberung“). Die Barbaren stehen nicht am Stadttor – sie sind hier, in den Straßen und auf den Plätzen, jüdische Barbaren und arabische Barbaren.

Gerade in Zeiten wie diesen gilt es in einigen Punkten so genau wie möglich zu sein:

1. Das jüdische Volk hat ein Recht auf ein sicheres Leben in Frieden und dem Gefühl, zu Hause zu sein. Dasselbe gilt für das palästinensische Volk.

2. Seit 1948 und vielleicht länger haben die Palästinenser unter anhaltender Ungerechtigkeit gelitten. Dieses Unrecht kann nicht mit so banalen Feststellungen, wie: „Sie haben den Krieg angefangen“, gerechtfertigt werden.

3. Seit Jahrzehnten verstärken sich in der israelischen Gesellschaft religiös-nationalistische Ströme und damit Tendenzen hin zum Separatismus, zum Rassismus und dem Gefühl, die ganze Welt sei gegen uns; dem Gefühl, dass wir die Auserwählten sind und die, die Recht haben. Die Rede ist von jungen Leuten, die ein vereinfachtes Realitätsbild haben.

Sie leben in einer Demokratie oder zumindest in einer Demokratie-ähnlichen Struktur, haben jedoch eine autoritäre, oft rassistische Mentalität. Sie sind es, die heute durch die Straßen ziehen und „Tod den Arabern“ rufen. Rechte Politiker und religiöse Parteien, die seit 1977 nahezu ununterbrochen Teil aller Regierungskoalitionen sind, hetzen den Pöbel zusätzlich auf.

4. In der palästinensischen Gesellschaft waren über die Jahre wiederholt moderate Stimmen zu hören, die eine pragmatische Lösung befürworteten. Diese Stimmen konnten sich jedoch nicht gegen andere, radikale Stimmen durchsetzen, die „alles oder nichts“ verfolgten. Die Extremisten haben die erste und die zweite Intifada vorangetrieben. Organisationen wie die Fatah, die Volksfront zur Befreiung Palästinas und andere waren weltliche Bewegungen, die nationalistische Ziele verfolgten.

Kampf um religiöse Symbole

Mit dem Aufkommen der Hamas und anderen extrem-religiösen Bewegungen in der arabischen Welt hat sich das Bild komplett gewandelt. In dem Moment, in dem sich die Hamas die Macht im Gazastreifen erkämpfte, verwandelte sie ihn in einen einzigen großen Bunker, inklusive einer unterirdischen Stadt und unterirdischen Rüstungslagern.

Man muss sich eines vergegenwärtigen: Israel ist aus Gaza abgezogen, aber die Hamas denkt noch immer in Begriffen wie „Widerstand“. Gegen wen genau? Wenn man sich die Rhetorik der palästinensischen Islamisten anhört, ist völlig klar, dass sie den gesamten Gazastreifen mitsamt seiner Bevölkerung, die sie als Geiseln hält, zum Kampf um religiöse Symbole wie die Al-Aksa-Moschee antreibt und zum Kampf um Souveränität.

Man Souveränität worüber? Souveränität über den Gazastreifen haben sie doch längst. Das Westjor­danland? Nein, die Islamisten zielen offen auf die Rückkehr nach Haifa und Jaffa. Mit anderen Worten: Solange der Staat Israel nicht von der Landkarte verschwindet, wird die Hamas den Kampf fortsetzen. In der Zwischenzeit ist Gaza arbeitslos, vom Rest der Welt abgeschnitten, hungrig.

Auch hier lohnt es sich, genauer hinzusehen: Die Blockade, unter der der Gazastreifen steht, ist Israel nur teilweise zuzuschreiben. Im Süden hält Ägypten die Grenze weitgehend geschlossen. Aber darüber redet niemand. So lebt der Gazastreifen von ausländischen Hilfsgeldern. Vor allem aus Katar fließen die Dollars in den belagerten palästinensischen Küstenstreifen. Wohin genau geht das Geld? In die Entwicklung der maroden Wirtschaft vielleicht? Nein. Es fließt in den Bau geheimer Tunnel, durch die man Terroristen nach Israel einschleusen will, es fließt in Raketenabschussbasen und Sprengstoff.

Hamas will keine Integration

5. Die Palästinenser in Israel sind Opfer andauernder Diskriminierung. Allerdings gibt es seit geraumer Zeit Tendenzen junger Araber, sich in die Gesellschaft, im Arbeitsmarkt und an den Hochschulen zu integrieren. Die Hamas wie auch Untergruppen der islamischen Bewegung in Galiläa, in Jerusalem und im Negev lehnen derartige Entwicklungen strikt ab. Wenn die israelische Polizei in die Al-Aksa-Moschee eindringt, ist das für die Hamas ein politisches Kampfmittel, denn es ermöglicht den Islamisten, mithilfe religiöser Empfindlichkeiten den Konflikt anzuheizen.

6. Wer in diesem Kessel rührt, sind die sozialen Netzwerke. Die Tendenz geht hier überwiegend dahin, die höchst komplexe Lage vereinfacht, manipulierend und propagandistisch darzustellen. Daran schließt sich die Berichterstattung im Fernsehen an. In den israelischen Sendern wird die Geschichte zuallererst aus israelischer Perspektive geschildert. Gerade jetzt werden „patriotische“ Stimmen lauter, die sich weigern, der anderen Seite Raum zu lassen. Trotzdem werden auch Palästinenser und oppositionelle Politiker in die Studios eingeladen, sodass das Bild zumindest etwas ausgewogen ist.

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Im Gegensatz dazu bleibt die Berichterstattung in Kanälen wie Al-Jazeera komplett einseitig. Al-Jazeera steht inklusive all seiner Reporter unter den Fittichen der Hamas. Hier geht es nicht um die palästinensische Version, sondern um die Narrative der Hamas. Wer die Berichterstattung dieses Kanals verfolgt, muss den Eindruck bekommen, dass Israel gezielt auf Zivilisten schießt. Angriffe auf militärische Ziele erwähnt Al-Jazeera mit keinem Wort.

Selbst wenn die Berichte der Reporter, die Israel als erbarmungslos und völlig boshaft darstellen, der Wahrheit entsprächen, würde es doch keinen Sinn ergeben, dass die israelische Armee nur auf Zivilisten schießt. Wozu genau sollte das gut sein?

Quelle      :           TAZ         >>>>>>><

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Oben         —         Deaths 2010

2.) von Oben     —       Berlin and Israel walls

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Unten          —       2003 ;  חגי דגן,

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Unser Miteinander

Erstellt von Redaktion am 23. Mai 2021

Juden pro Israel – Muslime pro Palästina 

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Von Saba-Nur Cheema und Meron Mendel

Ist Krieg in Nahost, bilden sich auch hier Lager – pro Israel, pro Palästina. Dabei sollten sich die, die ernsthaft für Frieden sind, nicht hinter Nationalflaggen versammeln.

Was ist los bei euch im Nahen Osten? Warum kriegt ihr das nicht hin mit dem Frieden? In Europa haben wir es doch auch geschafft.“ Fragen, die wohl alle hier lebenden Juden und Muslime kennen. Gerade jetzt: Alle sind wir plötzlich wieder Botschafter der Israelis oder Palästinenser, und alle sollen wir gefälligst eine einfache Lösung für ein komplexes Problem aus der Tasche zaubern.

Doch längst schon verlaufen die Konfliktlinien nicht nur „da unten“. In der Migrationsgesellschaft bestimmen globale Konflikte auch immer das Zusammenleben hierzulande. Die Auseinandersetzungen zwischen türkischen Nationalisten und Kurden, zwischen Russen und Ukrainern werden auch auf deutschen Schulhöfen ausgetragen. Die Besonderheit des Nahostkonflikts besteht darin, dass nicht nur die unmittelbar betroffenen Gruppen, Israelis und Palästinenser, mobilisiert werden. Ganz selbstverständlich stehen sich hier, scheinbar unversöhnlich, Juden und Muslime gegenüber.

Die Demonstrationen der vergangenen Tage sind ein trauriger Beweis dafür, wie dünn das Eis ist, auf dem das Zusammenleben von Juden und Muslimen hierzulande ruht. Auf der einen Seite die blau-weiße Fahne Israels; auf der anderen Seite, neben den Fahnen von Palästina und Hamas, auch die der Türkei, von Pakistan, Syrien und Afghanistan. Vornehmlich islamisch geprägte Staaten, in denen der Hass gegen den israelischen Staat weit verbreitet, oft sogar Teil der Staatspropaganda ist. Es ist tragisch, wenn gerade die nationalistischen Stimmen aus den jeweiligen Communities auf die Straße gehen. Wir glauben, dass die große Mehrheit der deutschen Muslime und Juden den Menschen in Nahost eine fried­liche Lösung wünschen. Wir glauben, dass das Erstarken von Nationalismus auf beiden Seiten Teil des Problems ist und nicht der Lösung. Wir glauben, dass diejenigen, die ernsthaft für Frieden in Nahost streiten möchten, sich nicht erst einmal hinter National­flaggen sammeln sollten.

Wie schon bei früherer Gelegenheit reagieren die offiziellen Vertretungs­organe beider Religionsgemeinschaften in Deutschland mit reflexhaften Parteinahmen. Sowohl der Zentralrat der Juden als auch der Koordinationsrat der Muslime, der die größten islamischen Verbände eint, wussten beide sehr früh, wer Schuld an der Eskalation trägt, und veröffentlichten gleichzeitig am 12. Mai ihre Statements.

Für die Muslime war klar, dass „der Ausgangspunkt der Gewalt drohende Zwangsräumungen“ durch die israelische Regierung waren. Für die Juden lag die Antwort auf der Hand: „Die Verantwortung für die Eskalation der Gewalt liegt ganz klar aufseiten der Hamas.“

Genauso schematisch reagierten die üblichen Verdächtigen in den sozialen Medien. Unter ­#gazaunderattack werden Aufrufe zur Vernichtung des Staates Israel geteilt und von einem „Holocaust gegen Palästinenser“ geraunt. Unter #israelunderattack werden Sharepics geteilt, in denen der Bezug der Muslime zu Jerusalem geleugnet und die israelische Armee angefeuert wird, möglichst hart gegen Gaza vorzugehen.

Die Lebenswelten von Juden und Muslimen entwickeln sich auseinander und damit auch die Wahrnehmung darüber, was im Nahen Osten passiert. Die einen bekommen nur noch Fotos von ermordeten palästinensischen Kindern zu sehen, die anderen nur noch Videos von zerstörten Häusern in Tel Aviv. Ohne es zu merken, wird der eigene Tunnelblick immer enger, verkriecht sich jeder im rabbit hole der sozialen Medien, die beide Seiten in ihrer jeweiligen Überzeugung und Wahrheit bestätigen. Empathie für die anderen – Fehlanzeige.

Dabei gibt es sie: Juden, die sich solidarisch mit Palästinensern zeigen, und Muslime, die Solidarität mit Israelis äußern. Wahrscheinlich ist es keine Überraschung, dass sie in den sozialen Medien als Verräter der eigenen Community dargestellt werden. So kritisierte eine jüdische Bloggerin auf Twitter das Handeln der israelischen Regierung und erntete einen regelrechten Shitstorm. Anschließend schreibt sie: „Ich wünsche euch allen, dass ihr niemals mit sowas ganz alleine sein müsst.“ Als eine Muslima die Hamas kritisiert, wird sie als „zionistische Schlampe“ beschimpft und gefragt, ob der Zuhälter sein Geld erhalten hat.

Wer von der Vehemenz auf den Straßen und im Netz überrascht ist, sollte ins Archiv gehen: Im Zuge des letzten Gazakriegs 2014 wirkten ganz ähnliche Dynamiken. Was haben wir in den letzten sieben Jahren gemacht, um die Gräben zwischen Juden und Muslimen zu überwinden? Sehr viel, nur tenden­ziell in die falsche Richtung.

Man hantierte mit hübschen Begriffen wie „Bündnissen“, „Brücken“ und „Allianzen“. Alle konnten schön in der Komfortzone bleiben, wenn jüdisch-muslimischer Dialog auf Banalitäten reduziert wurde: „Wie lässt sich mein Hummusrezept verfeinern“, „wer hat Tipps für den nächsten Anatolien- oder Israelurlaub?“ Keine Fiktion: So berichtete noch vor kurzem stolz der Initiator eines solchen Projekts in der Jüdischen Allgemeinen.

Quelle      :         TAZ         >>>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Save Sheikh Jarrah Protest, May 15, 2021

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Alter, neuer Judenhass

Erstellt von Redaktion am 21. Mai 2021

Antisemitismus in Deutschland

Von Uffa Jensen

Auch unter Geflüchteten grassiert antisemitischer Hass. Doch Judenfeindlichkeit ist immer noch ein primär deutsches Problem.

Vor der Synagoge in Gelsenkirchen skandierten De­mons­tran­t*in­nen „Scheißjuden“. Bei einer Protestkundgebung in Berlin-Neukölln riefen Teil­neh­me­r*in­nen „Kindermörder Israel“. Im Internet kursierten Anschlagsdrohungen gegen jüdische Einrichtungen. Einige scheinbar gut integrierte syrische Flüchtlinge fielen durch Hassposts auf.

Während wir kürzlich noch über versteckte antisemitische Codes bei dem Ex-Verfassungsschutz-Präsidenten Hans-Georg Maaßen diskutierten, rückt nun der eskalierende israelisch-palästinensische Konflikt einen anderen Aspekt des Antisemitismus in den Mittelpunkt. Wir reden nicht mehr über den bis ins bürgerliche Lager der Mehrheitsgesellschaft reichenden Antisemitismus, sondern über den bei Zugewandert*innen, Mi­gran­t*in­nen und Muslim*innen.

Das macht deutlich, wie chamäleonartig Antisemitismus in der Gegenwart ist – und wie verbreitet er in allen gesellschaftlichen Schichten vorkommt. Er kann lauthals und unmissverständlich herausgebrüllt oder subtil und versteckt argumentierend angeteasert werden. „Scheißjuden“ ist an Eindeutigkeit kaum zu überbieten, „Globalisten“ verstehen hingegen nur Eingeweihte und Ex­per­t*in­nen als antisemitisches Codewort.

Zudem erkennen wir, wie sehr Antisemitismus unsere Gegenwart prägt. Wir glauben gern, dass dieses alte Ressentiment der Vergangenheit angehört und mit uns nichts mehr zu tun hat. Dies traf aber zu keinem Zeitpunkt in der deutschen Nachkriegsgeschichte zu. Wer sich einredet, diesen mit ein paar wohlfeilen Verurteilungen aus der Welt schaffen zu können, hat das Problem nicht verstanden. Antisemitismus ist ein uraltes Gebilde, dessen Bekämpfung Anstrengungen und Zeit kosten wird.

9 von 10 Tä­te­r*in­nen sind rechtsextrem

Nun wollen Po­li­ti­ke­r*in­nen die Marschrichtung vorgeben. Interessanterweise verurteilt der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Armin Laschet den „eingewanderten Antisemitismus“, als habe man ihm vor Tagen mit Maaßen nicht noch ein Problem aus seinen eigenen Reihen vorhalten müssen. Soll das jetzt so ausgelagert werden?

1543 On the Jews and Their Lies by Martin Luther.jpg

Beim Reden über den Antisemitismus der anderen entsteht schnell Durcheinander. Warum sprechen plötzlich alle über Muslim*innen? Weil sie sicher sind, dass die Menschen, um die es ihnen geht, so richtig beschrieben sind? Weil deren Antisemitismus etwas mit dem Islam zu tun hat? Weil sich der Gegensatz Israelis/Palästinenser umstandslos in Juden/Muslime hier übersetzen lässt?

Wenn man die Zahlen analysiert, etwa die bundesweiten Antisemitismusstatistiken zur politisch motivierten Kriminalität (PMK) oder die Berliner Zahlen der Recherche- und Informationsstelle (RIAS), stellt man überrascht fest, wie randständig antisemitische Vorfälle von Mus­li­m*in­nen dort in den letzten Jahren waren. Laut RIAS waren in Berlin 2020 von insgesamt 1.004 Vorfällen 22 „islamisch/islamistisch“.

In der PMK-Statistik waren es 2020 maximal 71 von 2.351 antisemitischen Straftaten. Wenn man säkulare Tä­te­r*in­nen mit Migrationshintergrund noch dazuzählen würde, dürfte sich der Anteil zwar etwas erhöhen. Doch selbst dann ist klar: Mehr als 90 Prozent der antisemitischen Vorfälle gehen auf das Konto der Mehrheitsgesellschaft. Beide Statistiker zeigen zudem: Für die allermeisten antisemitischen Straftaten sind rechtsextreme Tä­te­r*in­nen verantwortlich.

Natürlich heißt das nicht, dass es in migrantischen oder islamischen Milieus kein Problem gibt. Für 2021 werden wir in den Statistiken voraussichtlich höhere Zahlen für diese Gruppe sehen. Die PMK-Statistik, die es seit 2001 gibt, hat schon in der Vergangenheit gezeigt, dass Konfrontationen im Nahen Osten die antisemitischen Straftaten ansteigen lassen.

Mehr Überfälle nach Konfrontationen in Israel

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Grafikquellen       :

Oben      —   Blick auf den Torahschrank in der Neuen Synagoge Gelsenkirchen

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Unten      —       On the Jews and Their Lies (old german: Von den Jüden und Iren Lügen, today german: Von den Juden und ihren Lügen) by Martin Luther, 1543.

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Eskalation in Nahost

Erstellt von Redaktion am 20. Mai 2021

Aufstand der Mitbürger

The Israeli Air Force bombed the press offices in Gaza 2021 (cropped).jpg

Von Rajaa Natour

Israels Palästinenser solidarisieren sich mit dem Widerstand in den besetzten Gebieten. Dabei kämpfen sie auch um ein neues Selbstbewusstsein.

Während diese Zeilen verfasst werden, fliegt die israelische Armee erbarmungslos Luftangriffe auf Gaza, und US-Präsident Joe Biden hat nichts Besseres zu tun, als sich voller Überzeugung zum Selbstverteidigungsrecht Israels zu bekennen. Biden ist nicht der erste US-Politiker und wird auch nicht der letzte sein, der das Recht Israels unterstützt, sich auf jedwede Weise zu verteidigen.

Das Problem ist allerdings nicht nur das grüne Licht, das Biden Regierungschef Benjamin Netanjahu für das Massakrieren der Palästinenser signalisiert, sondern es ist die Botschaft, die sich dahinter verbirgt und die lautet, dass das Leben der Palästinenser im Vergleich zum Leben von Juden wertlos ist. Die irrige Botschaft lautet, dass dieser Konflikt politisch und militärisch symmetrisch ist.

Die Palästinenser, die bei den Bombenanschlägen der israelischen Luftwaffe getötet wurden, werden von Israels Verteidigungsarmee als wörtlich „Nebenschaden“, definiert, gemeint ist Kollateralschaden, der als legitimer Preis für die Verteidigung Israels gilt. Weder Biden noch die westlichen Mainstream-Medien machen sich die Mühe nachzufragen, was seit 1948 im Ostjerusalemer Viertel Scheich Dscharrah, in Galiläa oder im Negev geschieht.

Die Zwangsräumungen in Ostjerusalem sind ein Schritt zur ethnischen Säuberung der Stadt. Der Kampf der um ihre Häuser bangenden Bewohner ist der Kampf aller Palästinenser, egal wo sie leben. Und doch stellt sich die Frage, wie ein im Kern nationaler Kampf so plötzlich zu einem religiösen Kampf wurde. Warum rückte al-Aqsa in den Mittelpunkt? In Scheich Dscharrah geht es um einen politischen und nationalen Kampf, keinen religiösen.

Ein kluger Mensch hat offenbar verstanden, dass die klassische palästinensische Geschichte, die der Welt einmal mehr das palästinensische „Opfer“ vorführt, nicht ausreicht. Und dass sich die Welt, wenn sie nochmal zusehen muss, wie eine palästinensische Familie aus ihrem Haus vertrieben wird, kaum solidarisch zeigen wird. Dieser kluge Mensch trieb eine Religionisierung des Kampfes voran. An die Stelle von ethnischer Säuberung und Besatzung trat der Kampfruf „Al-Aqsa ist in Gefahr“.

Auch, wenn es mir überhaupt nicht zusagt, wenn der politische palästinensische Kampf religionisiert wird, muss ich zugeben, dass das taktisch ein genialer Zug war, um Zigtausende junge Muslime aus ihrem Winterschlaf zu wecken und für Solidaritätskundgebungen zu mobilisieren. Die Religionisierung des palästinensischen Kampfes ist jedoch hauptsächlich aus zwei Gründen fatal: Erstens ist der palästinensische Konflikt mit dem Staat Israel kein religiöser.

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Die Palästinenser haben kein Problem mit dem Judentum der Bürger Israels, sondern die Palästinenser haben ein Problem mit der „Jüdischkeit“ des Staates. Zweitens kann al-Aqsa nicht die einzige Komponente sein, die Palästinenser und Araber im Kampf für die palästinensische Selbstverwaltung vereinen wird! Nicht al-Aqsa ist in Gefahr, sondern Jaffa, Lod, Haifa und der Negev sind in Gefahr, palästinensische Kinder, Studenten und palästinensisches medizinisches Personal sind in Gefahr!

Nicht weniger interessant als die Religionisierung des Konflikts ist der Blick auf die Palästinenser, die in Israel geboren wurden. Diese neue palästinensische Generation riss die physischen Grenzen zwischen dem Westjordanland und den palästinensischen Ortschaften in Israel ein und kam zu Tausenden nach Ostjerusalem, um dort zu protestieren.

Die riss aber vor allem auch die emotionalen und psychologischen Barrieren ein, die sie von den jungen Palästinensern im Westjor­danland und im Gazastreifen trennten. Die Palästinenser, die in den 2000er Jahren in Israel geboren wurden, entwickelten eine Solidarität mit ihren palästinensischen Brüdern im Westjordanland und im Gazastreifen. Mehr noch: Sie haben die palästinensische Identität, die von der Besatzung und ihren Waffen unterdrückt wurde und als Schande galt, zur Quelle des Stolzes gemacht.

Quelle        :        TAZ       >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   The Israeli Air Force bombed the press offices in Gaza قصف سلاح الجو الإسرائيلي المكاتب الصحفية في غزة مثل مكتب الجزيرة

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Schland im Nahostkonflikt

Erstellt von Redaktion am 18. Mai 2021

Vergesst die Zweistaatenlösung

Iran’s FM Javad Zarif Meets German FM Heiko Maas 15.jpg

Ein Glas ist voll, wenn die Flasche leer ist ?

Ein Kommentar von Juliane von Mittelstaedt

Die deutsche Außenpolitik hofft immer noch auf Friedensverhandlungen, an deren Ende Israelis und Palästinenser in zwei Staaten leben. Das ist eine schöne Idee – nur leider höchst unrealistisch. Es ist Zeit für neue Ideen.

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Israel – welche Utopie?

Erstellt von Redaktion am 17. Mai 2021

»Blätter«-Gespräch mit Omri Boehm, Shimon Stein und Moshe Zimmermann,
moderiert von »Blätter«-Mitherausgeber Micha Brumlik

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von Omri BoehmShimon SteinMoshe ZimmermannMicha Brumlik

Micha Brumlik: Es ist Bewegung gekommen in die Lage im Nahen Osten: Israel hat sich einstigen Gegenspielern in der Region angenähert, allen voran Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Noch vor wenigen Jahren wäre dies schier undenkbar gewesen, und infolgedessen verschieben sich auch die Kräfteverhältnisse in der Region. Zudem hat der neue US-Präsident Joe Biden gleich nach Amtsantritt betont, dass er anders als sein Vorgänger Donald Trump an der Zweistaatenlösung festhalten will. Das gibt uns Anlass, über die aufsehenerregenden friedenspolitischen Überlegungen für Israel und Palästina von Omri Boehm zu sprechen. Doch zunächst wollen wir uns mit der aktuellen politischen Lage in Israel auseinandersetzen, wo ja am 23. März eine Parlamentswahl stattfindet – zum schon vierten Mal binnen zwei Jahren. Was ist Eure Vermutung, wie diese Wahl ausgehen wird, nicht zuletzt angesichts des Amtsantritts von Joe Biden?

Moshe Zimmermann: Die Wahl ist allem Anschein nach bereits entschieden. Die Nationalisten werden haushoch gewinnen, mit vermutlich mehr als 60 Prozent der Stimmen. Die einzige offene Frage lautet, ob Netanjahu weitermachen kann wie bisher. Oder ob ihn jemand aus dem rechten Flügel ersetzen wird. Darum geht es bei dieser Wahl.

Omri Boehm: Meine Vermutung ist ganz ähnlich. Es geht darum, ob Netanjahu wiedergewählt oder durch jemanden ersetzt wird, der noch rechts von ihm steht. Aber für liberal-zionistische Parteien stellt sich eine Frage, da nicht einmal die links-zionistische Meretz klar gesagt hat, dass sie nicht in eine Koalition mit Gideon Sa‘ar, Naftali Bennett oder Avigdor Lieberman eintritt:[1] Würden sie diese rechtsextremen Politiker unterstützen, um eine Netanjahu-Regierung zu verhindern? Würden sie einer solchen Politik der Besatzung und Annexion sowie rassistischen Gesetzen Legitimität verleihen? Ich fürchte, sie bleiben deshalb so vage, weil sie den Beitritt zu einer solchen Koalition erwägen. Die meisten ihrer Wähler würden das tolerieren, wenn sie es nicht gar wollen, weil ihre Agenda nur darin besteht, Netanjahu loszuwerden.

Shimon Stein: Angesichts der systemischen Krise, die alle Facetten des Lebens umfasst – als eine politische, soziale und ökonomische Krise – und die nun durch Corona zum Vorschein kommt, ist es umso bedauerlicher, dass Israel seit geraumer Zeit keine linke Option mehr hat, sondern die Gesellschaft im Großen und Ganzen in die rechte Richtung tendiert.

Die einzige Hoffnung ist, dass die historisch einst so bedeutende Meretz-Partei – und das ist schier unglaublich – laut Umfragen fünf Mandate, von 120, bekommen könnte. Aber kann Meretz damit tatsächlich als relevante politische Kraft agieren – etwa in der von Omri beschriebenen Koalition? Ich persönlich bin der Auffassung, dass sie es nicht tun soll. Stattdessen sollte sie ihre Kernidentität noch stärker hervorheben. Insofern sollten wir uns, auch wenn es traurig ist, keine großen Hoffnungen auf einen neuen Morgen am 24. März machen.

Zimmermann: Aus meiner Sicht spielt es keine Rolle, wie die Linke sich zur neuen Koalition, zur neuen Regierung verhält. Die Linke ist so klein geworden, sie ist praktisch nicht mehr existent. Wie Shimon gesagt hat, ist das, was man bei uns noch links nennen darf, eben nur noch die Meretz-Partei. Die Arbeitspartei etwa ist nur bedingt eine linke Partei. Doch selbst wenn wir alles zusammen bündeln und davon sprechen, dass es sich um eine israelische Linke handelt, ist klar: Sie ist viel zu klein, viel zu unwichtig.

Die Linke hat in der Tat nur die Wahl zwischen zwei Übeln: Entweder votiert sie für die anderen Rechtsparteien, weil man gegen Netanjahu ist – das heißt für eine Koalition mit diesen Parteien. Oder sie entscheidet sich, weiter mit Netanjahu zu arbeiten, weil sie ihn nur für einen weichen Rechtsnationalisten hält. Aber das sind alles Fragen, die sich heute ganz am Rande des politischen Geschehens bewegen und die für die großen Entscheidungen unwesentlich sind.

Boehm: Was die Irrelevanz der israelischen Linken anbelangt, stimme ich mit dieser Einschätzung nicht völlig überein. Nicht weil ich sie für sehr lebendig oder stark hielte, sondern weil ich an der Hoffnung festhalten muss, dass wir eine linksliberale Position in Israel retten können. Ich bin aber überzeugt, dass dies nicht gelingen kann, wenn man an der alten zionistischen Zweistaatenpolitik festhält, sondern nur, wenn man diese Politik grundsätzlich überprüft und erneuert. Allerdings gibt es in Israel immer noch eine relativ große Gruppe, die für nicht-nationalistische Parteien stimmen würde, nämlich die arabischen Wähler. Dass sie fast die Einzigen sind, mit denen man Israels Demokratie noch retten kann, mag für viele enttäuschend sein. Gleichzeitig ist es ein Grund zur Hoffnung.

Bei der vergangenen Wahl im März 2020 habe ich große Hoffnungen auf die Vereinte Liste, die Listenverbindung von vier hauptsächlich arabischen Parteien, und auf ihre mögliche Kooperation mit anderen Kräften gesetzt. Ich wäre beinahe eigens aus New York nach Israel geflogen, um sie zu wählen. Selbst mein Vater, ein Sohn von Holocaust-Überlebenden, der sein Leben lang ein liberaler Zionist gewesen ist, hat für die Vereinte Liste gestimmt und nicht etwa für Meretz. Die jüngsten Entwicklungen rund um die Vereinte Liste stimmen mich zwar nicht sehr zuversichtlich. Dennoch bin ich nach wie vor überzeugt davon, dass nur aus der Zusammenarbeit einer echten israelischen jüdischen Linken, etwa des linken Meretz-Flügels, mit arabischen Politikern eine stärkere Opposition entstehen könnte – eine echte Opposition, die nicht bloß an alten Ideen festhält, sondern neue schafft. Das ist, wie ich weiß, immer noch weit hergeholt, aber ich möchte noch nicht alle Hoffnung aufgeben. Wo Moshe dem Handeln der Linken wenig Bedeutung beimisst und Shimon der Linken eine Stärkung ihrer alten Identität empfiehlt, sage ich, Israels Linke sollte und könnte sich als eine genuin post-ethnische Linke neu erfinden.

Stein: Dass Meretz eine Allianz mit der Arabischen Liste eingehen könnte, ist in der Tat mehr Wunschdenken als Realität. Allerdings kann ein Wechsel an der Macht nur stattfinden, wenn man mit diesem Tabu der Mehrheit der israelischen Parteien bricht, dem zufolge man auf keinen Fall mit der Arabischen Parteienliste koalieren darf. Das ist für die israelische Mehrheit noch immer ein Problem, und damit wird man sich zwangsläufig auseinandersetzen müssen.

Neue Hoffnung durch Joe Biden?

Brumlik: Darf ich eine noch etwas spekulativere, nämlich die jüngste internationale Entwicklung betreffende Frage stellen? Israel ist und war entscheidend von den Vereinigten Staaten abhängig. Nun gibt es einen neuen Präsidenten, der allem Anschein nach die bisherige Unterstützungspolitik Trumps nicht mitträgt. Wird sich das auf die israelische Politik auswirken?

Boehm: Was Joe Biden betrifft, sind meines Erachtens zwei Dinge entscheidend. Erstens: Wird er versuchen, zur alten und – wie ich finde – bedeutungslosen Obama-Kerry-Rhetorik zurückzukehren? Ich weiß nicht, über wie viele Jahre sie erklärt haben, das Zeitfenster für eine Rettung der Zweistaatenlösung würde sich schließen. Wenn Biden die USA jetzt also wieder – wie er angekündigt hat – zum Völkerrecht und zu internationalen Vereinbarungen zurückführt, wird er dann auch mit diesen bloßen Mahnungen fortfahren? Oder wird er versuchen, echte Fortschritte zu machen, und über eine andere Alternative zur Zweistaatenlösung nachdenken? Und zweitens steht die Biden-Regierung wegen des von Trump aufgekündigten Nuklearabkommens mit Iran unter erheblichem Druck – auch aus Israel.

Stein: Der neue US-Präsident ist ja kein unbeschriebenes Blatt. Wir kennen ihn gut und er repräsentiert auch im Rahmen der durchaus diversen Demokratischen Partei den Mainstream. Seine Haltung zu Israel hat er bereits erklärt. Das verspricht also eine gewisse Kontinuität – mit Nuancen.

Man darf dabei allerdings nicht vergessen, dass der israelisch-palästinensische Konflikt überhaupt nicht auf der Prioritätenliste von Biden steht. Wie wir alle wissen, muss er sich auch mit anderen dringenden Fragen auseinandersetzen; an denen wird er am Ende gemessen werden. Diese Interessenunterschiede zeigen sich insbesondere in der Iran-Frage: Israel fühlt sich unmittelbar von dem nuklearen Potential Irans bedroht. Die Amerikaner nehmen dagegen eine globale Sicht ein und betrachten diese Gefährdung anders. Die Biden-Administration hat daher auch entschieden, zum Iran-Deal zurückzukehren. Mit Blick auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina gehe ich insofern nicht davon aus, dass es mit Biden einen Neuanfang geben wird. Alle in der neuen US-Regierung halten bislang an der Formulierung der Zweistaatenlösung fest. Klar ist immerhin, dass Biden den „Deal of the Century“, den sogenannten Trump-Peace-Plan für Israel-Palästina, zu den Akten legen wird. Und das allein ist schon eine sehr positive Entscheidung.

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Zimmermann: Die Frage nach dem angeblichen Neuanfang unter Biden und die Frage nach der Haltung der israelisch-arabischen Parteien lassen sich durchaus verkoppeln. In beiden Fällen geht es um die Frage der Prioritäten. Was nämlich schon seit langem geschieht, ist das Abkoppeln der Iran-Frage von der Palästina-Israel-Frage. Das ist auch für Netanjahu wichtig: Er setzt alles auf den Konflikt mit dem Iran, um eine Lösung des Israel-Palästina-Konflikts zu vermeiden.

Wenn jetzt Biden mit einer neuen Politik im Nahen Osten anfangen will, ist seine erste Priorität, wie Shimon zu Recht sagt, eine friedliche Lösung in der Atomfrage mit Iran. Das ist auch die relevante Frage für die arabischen Parteien in Israel. Sie interessieren sich also nicht mehr zuvorderst für die Palästina-Israel-Frage, sind zum ersten Mal nicht mehr eindeutig auf Seiten der Palästinenser. Die Einheitsfront der arabischen Parteien ist am Ende, auch durch die jüngsten Verträge zahlreicher arabischer Staaten mit Israel und gegen den Iran. Die arabischen Parteien sind also mittlerweile nicht mehr eindeutig links orientiert, sind damit nicht mehr die klassischen Verbündeten der linken jüdisch-israelischen Parteien. Die ganze Szene hat sich also sehr grundsätzlich verändert und angesichts dessen hat die israelische national-rechte Politik eindeutig gesiegt.

Stein: Ich halte die Vorstellung, dass man die iranische an die palästinensische Sache ankoppeln könnte – Entschuldigung – für Schwachsinn! Das eine hat in der Tat mit dem anderen gar nichts zu tun. Die iranische Sache hat eine regionale, ja sogar globale Bedeutung, während die palästinensische Sache ein Streit zwischen zwei Communities ist, und momentan droht dieser nicht auszuufern. Biden wäre froh, sich mit der palästinensischen Sache überhaupt nicht auseinandersetzen zu müssen. Insofern können wir aus Washington mit einer Art schnellem Krisenmanagement rechnen, nicht aber mit einer umfassenden Konfliktlösung.

Und etwas anderes ist bemerkenswert: Die palästinensische Frage ist einstweilen auch für die israelische Gesellschaft vom Tisch. Bei den letzten Wahlen spielte sie überhaupt keine Rolle. Wir leben weiter in einer Art self denial: Wir meinen, wenn wir uns damit nicht auseinandersetzen, wird sich dieses Problem – wie man auf Englisch sagt – somehow take care of itself, sich irgendwie von selbst lösen. Insofern hat das gar nichts mit den Amerikanern zu tun, sondern in erster Linie mit uns. Deshalb werfe ich uns immer vor, auf diese Art Deus ex machina zu hoffen. Tatsächlich warten wir schon seit Jahrzehnten auf die Welt, die uns retten soll. Doch die Welt wird uns nicht retten.

Zimmermann: Natürlich, da hast Du recht, sind das zwei getrennte Fragen. Aus der Sicht von Netanjahu, das ist sein großer Erfolg, konnte man über die Iran-Frage die Palästina-Frage marginalisieren. In diesem Sinne, und so habe ich es gemeint, sind beide Fragen verbunden, aneinandergekoppelt. Das eigentliche Thema ist Iran, Palästina ist uninteressant. Somit kann Netanjahu seine Siedlungspolitik weiterbetreiben, ohne gestört zu werden – auch nicht von den Amerikanern.

Alternativen zur Zweistaatenlösung

Brumlik: Lasst uns jetzt das Thema Israel-Palästina weiter vertiefen. In diesem Sommer wird es, wenn ich richtig zähle, 54 Jahre her sein, dass der Staat Israel im Sechstagekrieg von 1967 das Westjordanland besetzt hat. Soweit meine Kenntnisse der Politik des späten 19. und 20. Jahrhunderts reichen, hat es eine so lange Besatzungszeit noch nicht gegeben. Und die Frage ist – das wird sowohl hier als auch in Israel diskutiert –, ob die sogenannten developments on the grounds, die jüdischen Siedlungen im Westjordanland, so etwas wie eine Zweistaatenlösung überhaupt noch zulassen oder ob das nicht nur leeres rhetorisches Gerede ist. Ich darf daran erinnern, dass der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh schon vor Jahren gefordert hat: Annektiert uns endlich! In diesem Zusammenhang hat nun Omri Boehm vor Kurzem ein bemerkenswertes Buch vorgelegt: „Israel – eine Utopie“. Darin wiederbelebt er auf zeitgemäße Weise eine Forderung, die bereits Martin Buber erhoben hat: „Ein Land, ein Staat und zwei Völker“. Würdest Du, lieber Omri, uns die Grundzüge Deines Programms bitte erläutern?

Boehm: Da Shimon mir gerade Wunschdenken vorgeworfen hat, möchte ich Folgendes vorausschicken…

Stein: Nimm es bitte nicht persönlich!

Boehm: Nein, keineswegs! Ich sage das nur, weil es wichtig ist, um meinen Ansatz zu verstehen: Wunschdenken ist nämlich nicht bloß Wunschdenken. Um rational zu sein, müssen wir uns gestatten, die Wahrheit zu sagen und klar über Möglichkeiten zu sprechen, selbst wenn sie weit hergeholt sind. Wenn von Wunschdenken die Rede ist, bezieht sich das oft weniger auf die Realität als auf bloße Machtpositionen – also darauf, an Lösungen festzuhalten, die den Mächtigen bequem erscheinen, auch wenn sie am Ende gar keine Lösungen sind. Genau das tun liberale Zionisten, wenn sie Alternativen zur Zweistaatenlösung als „Wunschdenken“ bezeichnen.

Meine erste These lautet in diesem Sinne, dass das Konzept eines jüdischen und demokratischen Staats einen Widerspruch in sich darstellt. Die Idee einer jüdischen Demokratie entspringt dem Wunsch, nach dem Holocaust einen jüdischen Staat zu etablieren, und war in den späten 1940er Jahren völlig verständlich. Aber nach dem gegenwärtigen Verständnis einer liberalen Demokratie, selbst nach einer Minimaldefinition, ist dies ein Widerspruch. Der Grund dafür lautet, einfach gesagt, dass Demokratien die Souveränität ihrer Bürger durchsetzen, während der jüdische Staat die Souveränität des jüdischen Volks durchsetzt. Wenn wir im 21. Jahrhundert also eine demokratische zionistische Politik begründen und legitimieren wollen, müssen wir das Konzept der jüdischen Demokratie verändern. Shimon sprach vorhin darüber, dass die jüdische Mehrheit – und selbst Meretz – nicht glücklich über die Vorstellung ist, mit den arabischen Israelis zu kooperieren. Das liegt genau daran, wie das Konzept einer jüdischen Souveränität verstanden wird – und zeigt, warum wir darüber hinausgehen müssen.

In diesem Zusammenhang müssen wir Folgendes festhalten: Die Zweistaatenlösung ist hinfällig. Das liegt nicht nur, wie oft fälschlich angenommen wird, an der Zahl der jüdischen Siedler im Westjordanland. Vielmehr ist diese Lösung hinfällig, weil es in dieser geographischen Einheit zwischen dem Jordan und dem Meer eine palästinensische Mehrheit von etwa 53 Prozent gibt, der aber selbst die „großzügigste“ Zweistaatenlösung nur um die 20 Prozent des Landes bietet. Dabei handelt es sich noch nicht einmal um ein zusammenhängendes Territorium. Und ich habe noch gar nicht über die Hunderttausenden von Siedlern gesprochen, die im Herzen dieses Gebietes leben und sicher, wenn wir ehrlich sind, nicht mehr umgesiedelt werden. Was wir also einen Kompromiss nennen, dessen Ablehnung wir den Palästinensern dann vorwerfen, ist mit den Worten des Philosophen Avishai Margalit ein fauler Kompromiss, den schwerlich mehr als 50 Prozent der Bevölkerung akzeptieren können. Daher gibt es eine Pflicht und eine Notwendigkeit, über die Zweistaatenlösung hinauszudenken. Das ist die einzige realistische Alternative, selbst wenn sie weit hergeholt erscheint. Unsere Realität ist eben sehr komplex.

Brumlik: Versucht dies aus Deiner Sicht die israelische Linke?

Boehm: Ein Grund für die Schwäche der israelischen Linken besteht darin, dass sie kein tragfähiges politisches Programm hat. Die Wähler wissen, dass die Zweistaatenlösung hinfällig ist, aber die Linke bietet ihnen kein alternatives Konzept von Staatsbürgerschaft oder Frieden. Die Rechte aber tut dies. Sie bewegt sich systematisch in Richtung einer Politik der Annexion, der Apartheid und sogar der Vertreibung. Auch Trumps „Jahrhundertdeal“ sprach von der Ausbürgerung arabischer Israelis und erhielt dafür Zuspruch aus Israels politischer Mitte. Wir sehen, wie diese Art von Politik in den Mainstream der israelischen Politik zurückkehrt. Dies wird die rechte Alternative zur Zweistaatenlösung sein.

Wenn wir demgegenüber über eine Föderation anstelle der Zweistaatenlösung nachdenken, dann ist dies nicht anti- oder post-zionistisch. Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn man sich die tieferen Wurzeln des Zionismus ansieht, stößt man nicht nur auf den von Micha angeführten Martin Buber. In gewisser Weise ist Buber sogar eine gefährliche Referenz, da er als unverbesserlicher, linker Utopist gilt, weshalb ich nicht allzu oft auf ihn verweise. Doch auch Wladimir Zeev Jabotinsky, der Begründer des revisionistischen Zionismus, dachte in diese Richtung. Bis Mitte der 1930er Jahre tat dies selbst David Ben-Gurion, der später der erste Ministerpräsident Israels wurde. Der zionistischen Idee ging es ursprünglich um Selbstbestimmung statt um Souveränität. Ich denke dabei an Selbstbestimmung im Rahmen einer binationalen Föderation mit den Palästinensern. Denken wir nur an den Begin-Plan von 1977. Viele Leute haben ihn längst vergessen, und viele Leute, die sich an ihn noch erinnern, würden dessen Inhalt lieber vergessen. Ministerpräsident Menachem Begin hatte den Palästinensern bekanntlich die Autonomie im Westjordanland und im Gazastreifen angeboten. Daher wird oft von einem Autonomieplan gesprochen, obwohl dieser tatsächlich eher eine Föderation innerhalb eines Staates vorsah, wenn auch keine perfekte. Denn mit der Autonomie bot der Plan den Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen die volle Staatsbürgerschaft, volle ökonomische Rechte sowie das aktive und passive Wahlrecht für das israelische Parlament. Er verband die Selbstbestimmung für die Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen also – und das ist die Essenz des Plans und viel wichtiger als die Autonomiefrage – mit ihrer Rolle als Bürger des Staates Israel.

Nun stimmt es zwar, dass man ihnen auch in einem jüdischen Staat die Staatsbürgerschaft verleihen könnte. Aber genau dies würde die Grenzen dessen, was man unter jüdischer Souveränität versteht, über das gewöhnliche Maß hinaus verschieben. Das ist der Grund, warum nicht einmal links-liberale Schriftsteller wie David Grossmann oder Amos Oz daran denken konnten, den Palästinensern die Staatsbürgerschaft zu verleihen – weil selbst nach ihrer Auffassung der jüdische Staat die Souveränität des jüdischen Volkes durchsetzt. Daher dürfen nicht zu viele Palästinenser die israelische Staatsbürgerschaft erhalten. Können wir also heute noch zu so etwas wie dem Begin-Plan zurückkehren? Die Knesset stimmte übrigens seinerzeit über dieses Vorhaben ab: 64 Abgeordnete waren dafür, 40 enthielten sich, acht votierten dagegen. Eine solche demokratische Alternative zur Zweistaatenlösung möchte ich heute wieder auf die Tagesordnung setzen.

Zimmermann: Im Prinzip geht es für mich nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Die Zweistaatenlösung kann meines Erachtens weiterbestehen, kann weiter erfolgreich sein. Und im selben Atemzug werde ich für eine konföderative oder föderative Lösung plädieren.

Es ist klar, die Grundlage für die Existenz des Staates Israels ist das Recht auf Selbstbestimmung für das jüdische Volk. Da im Lande Palästina oder Eretz Israel nicht nur das jüdische Volk lebt, sondern auch ein Volk, das sich Palästinenser nennt, muss auch für dieses Volk das Recht auf Selbstbestimmung gewährleistet werden. Das ist die Ausgangsposition: Wir sind dafür, dass jedes Volk für sich das Selbstbestimmungsrecht in Anspruch nimmt.

Handing over ceremony of the first INS Magen, November 2020. III.jpg

Das Oslo-Abkommen im Jahr 1993 war Ausdruck jener Hoffnung, dass das gelingen kann. Aber es war schon damals klar erkennbar, dass diese Vorstellung von ethnisch weitgehend homogenen Nationalstaaten, die man auch schon im Europa des 19. Jahrhunderts anstrebte, sich für Israel und Palästina nicht verwirklichen lässt. Und in dem Moment, in dem man das Recht auf Selbstbestimmung für die Palästinenser akzeptiert, muss man daher den nächsten Schritt wagen: nämlich eine Art von Konföderation oder Föderation schaffen. Man darf dabei nicht dogmatisch sein mit den zwei Begriffen, die wir hier benutzen. Erstens muss der Begriff des Staates nicht so verstanden werden wie noch im 19. Jahrhundert oder am Ende des Ersten Weltkrieges. Und zweitens kann der Begriff oder die Bezeichnung jüdisch etwas ganz anderes meinen als nur die ethnische Dimension; allerdings wird er so leider Gottes derzeit in Israel gebraucht. Erweitert man dagegen das Verständnis, kann man durchaus jüdisch und liberal zugleich sein.

Micha Brumlik hat Martin Buber erwähnt. Martin Buber hat diese Alternative genau vor hundert Jahren benannt: Entweder wird dieser Judenstaat ein jüdisches Albanien werden, also ethnisch abgeschlossen, wofür er nicht war, oder er wird zum Zentrum der Weltkultur. Was sich derzeit aber herausbildet – ein jüdisches Albanien in den Köpfen der israelischen Politiker –, das muss man überwinden. Das ist eine echte Utopie im Moment – zugegeben –, aber im Prinzip ist das möglich.

Das große Beispiel dafür ist die Europäische Union. Deren Mitgliedstaaten wurden nicht aufgelöst, sie sind noch immer da. Es gibt aber eine föderale oder konföderale Konstruktion, die man EU nennt. Das kann man auch im Nahen Osten implementieren. Es gibt auch Möglichkeiten, nach unten größere, regionale Freiheiten zu schaffen. Denkt man so, hat man im Prinzip alles mit dabei: Wir haben die Anerkennung des Rechtes auf nationale Selbstbestimmung auf beiden Seiten. Man hat im Prinzip zwei Staaten akzeptiert und de facto hat man nachher diese föderative Entwicklung, die auf die Autonomie der beiden Völker in diesem neuen Gebilde baut.

Quelle       :         Blätter        >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   This is a photo of a place that is recognized as a heritage site by the Council for Conservation of Heritage Sites in Israel. The site’s ID in Wiki Loves Monuments photographic competition is

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Unten       ––     Hier trifft sich, was zusammengehört     –      טקס העברת דגל של ספינת הטילים מדגם ‚סער 6‘, אח“י ‚מגן‘, הראשונה בצי ספינות הטילים הישראלי, מדגל גרמניה לדגל ישראל. הטקס נערך במעמד מפקד זרוע הים, אלוף אליהו שרביט, סמנכ“ל וראש מנהל הרכש במשרד הביטחון, מר אבי דדון, ובכירים נוספים שלקחו חלק בהבאת הספינות למדינת ישראל. ספינת הטילים נמסרה מידי חברת המספנות ‚Thyssenkrupp marine systems‘ שבגרמניה לידי זרוע הים הישראלית, ולראשונה הונף על הספינה החדשה דגל ישראל.

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Die „Jüdische Stimme“

Erstellt von Redaktion am 16. Mai 2021

Stellungnahme zur Demonstration mit „Palästina Spricht“
am 12.5.21 in Berlin

Quelle:    Scharf  —  Links

Von Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost – EJJP Deutschland

Stellungnahme der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost zur Demonstration am 12. Mai in Berlin zu #SaveSheikhJarrah und #FreeGaza

Gestern, am 12. Mai, organisierte die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost gemeinsam mit Palestine Spricht und dem Jüdischen Antifaschistischen Bund eine spontane Demonstration im Berliner Stadtteil Neukölln unter dem Motto “Raise Your Voice to #SaveSheikhJarrah #FreeGaza“.

Während Deutschland die israelischen Verbrechen gegen das palästinensische Volk mit Diplomatie und Waffen unterstützt, und zu Kriegsverbrechen schweigt, kamen wir zusammen, um unsere Stimme zu erheben. Vielen von uns in Berlin gehen die Ereignisse in Palästina und Israel sehr nahe. Es geht um unsere Liebsten, unsere Familien und Freunde. Es war eine extrem schwierige Woche, mit Familien, die aus ihren Häusern in Ost-Jerusalem vertrieben wurden, mit Hunderten von Verletzten und über 80 Toten (bisher wurden 72 Palästinenser und Palästinenserinnen in Gaza von der israelischen Armee getötet; 7 Menschen wurden in Israel durch Raketenbeschuss aus Gaza getötet, darunter eine Wanderarbeiterin aus Indien und zwei Palästinenser), mit ziviler und polizeilicher Gewalt gegen palästinensische Demonstrant:innen in Israel, und organisierten Pogromen überall. In diesem schmerzlichen Moment haben wir einen kollektiven Raum für Trauer, für Wut über das Unrecht und für Solidarität geschaffen.

Die bei unserer Demonstration anwesende Berliner Polizei agierte mit Provokation, Brutalität und Gewalt, die gewollt und eindeutig politisch motiviert zu sein schien. Es stellt sich die Frage, wer die Polizei angewiesen hat, einen von Jüd:innen und Palästinenser:innen gemeinsam organisierten Protest zu behindern, und warum? Es muss hier erwähnt werden, dass die deutsche Polizei regelmäßige Schulungen mit der israelischen Polizei durchführt. Gestern hat die Polizei systematisch versucht, die Reden durch laute Durchsagen über Covid-19-Vorschriften zum Schweigen zu bringen. Sie unterbrachen Palästinenser:innen, die von ihren Familienmitgliedern erzählten, die sie gerade verloren haben und die von der israelischen Armee getötet wurden. Dreimal unterbrach die Polizei die Rede des Vertreters der Jüdischen Stimme durch Durchsagen über Vorschriften, offensichtlich mit der Absicht vom Inhalt der Rede abzulenken und die Stimmung zu eskalieren.

Immer wieder gingen Polizeibeamte zwischen die Teilnehmenden und nahmen jedes Mal scheinbar willkürlich eine Person aus der Menge fest, wobei alle 16 Festgenommenen junge farbige Männer waren, hauptsächlich Palästinenser. Der Umgang der Polizei mit den jüdischen Organisator:innen des Protests war aggressiv und einschüchternd. Als absurder Grund für die Verhaftungen wurde die Nichteinhaltung der Covid-19-Vorschriften angeführt, obwohl die Vorschriften während der gesamten Demonstration vorbildlich eingehalten wurden. Massenveranstaltungen von Covid-Leugner:innen und Neonazis ohne Masken gehen hingegen oft ohne größere Störungen durch die Polizei über die Bühne.

Die Organisator:innen baten, mit einem Kommunikationsteam zu sprechen, das von der Polizei oft bei potentiell kompliziert eingestuften Demonstrationen eingesetzt wird, doch ihnen wurde mitgeteilt, dass es ein solches Team nicht gibt. Als einer unserer Mitglieder einen Polizisten fragte, warum er einen Demonstranten nicht einfach wegen Maske anspricht, anstatt ihn brutal anzugreifen – so wie wir als jüdische Frauen angesprochen würden – erhielt er die Antwort: “Ich komme aus Polen, wir haben uns integriert!!!”.

Als Juden und Jüdinnen in Deutschland ist es nicht das erste Mal, dass wir Rassismus der deutschen Polizei so hautnah erleben. Vor mehr als zwei Jahren griff die Bonner Polizei Prof. Dr. Ytzhak Melamed im Bonner Hofgarten auf rassistische Art und Weise an. Den beteiligten Bonner Polizeibeamten wurde später nachgewiesen, dass sie antisemitische Beiträge veröffentlichten. Die hessische Polizei ist dafür bekannt, rechtsextreme Gruppen zu unterstützen, und die Berliner Polizei sowie die Staatsanwaltschaft erlauben rechtsextremen Gruppen, weitestgehend ungestört in Neukölln zu operieren und Minderheiten und linke Aktivist:innen ins Visier zu nehmen. Hans-Georg Maaßen, der dafür kritisiert wird, dass er rechtsextreme Straftaten gegen Migrant:innen anzweifelt, war mehr als 7 Jahre Chef des Verfassungsschutzes und wurde dafür vom damaligen Bundesinnenminister Friedrich vorgeschlagen. Der jetzige Innenminister Seehofer sieht in uns jüdischen Migrant:innen die “Mutter aller Probleme”.

Zusammen mit der Polizeibrutalität während der 1. Mai-Demonstration, die sich insbesondere gegen den internationalistischen Block richtete, sehen wir einen eindeutigen strukturellen Rassismus – einschließlich antimuslimischem Rassismus und Antisemitismus – und eine gewaltsame Unterdrückung von Migrant:innen und People of Color in Berlin, insbesondere wenn sie ihre Stimme erheben. Rassismus und Racial Profiling sind bei der deutschen Polizei weit verbreitet und stehen im Einklang mit der andauernden Kriminalisierung von Solidarität und zivilen Aktionen für die palästinensischen Menschenrechte sowie anderer von Migrant:innen geführter autonomer sozialer Bewegungen. Dieser Angriff auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sollte jeden Menschen beunruhigen, der daran glaubt, dass deutsche staatliche Institutionen zum Schutz grundlegender demokratischer Freiheiten bestimmt sind.

https://twitter.com/LeilZahra/status/1392560513960267786

Deutsche Politiker:innen, auch aus der SPD – der größten Partei im Berliner Senat – instrumentalisieren immer wieder Jüd:innen und Antisemitismus, um antimuslimischen und antiarabischen Rassismus und konservative Politik zu rechtfertigen. Berlins Innensenator Andreas Geisel, der wie viele Antisemiten stolz auf seine jüdischen Freund:innen ist, unterscheidet zwischen guten und schlechten Juden. Er hat Einwander:innen und Geflüchtete für “importierten Antisemitismus” verantwortlich gemacht und den Geheimdienst aufgefordert, gegen Aktivist:innen der gewaltfreien BDS-Bewegung zu ermitteln. Geisels Aussagen machen deutlich, dass er Jüd:innen und Israel ebenso gleichsetzt wie Antisemitismus und den Kampf für palästinensische Menschenrechte. Dieser Diskurs impliziert, dass Jüd:innen als Ganzes für israelische Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, was nicht nur antisemitisch ist, sondern auch Jüd:innen in Gefahr bringt. Geisel ist mit dieser Haltung nicht allein. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, ebenfalls von der SPD, hat sich zuvor gegen eine Initiative für sozialen Wohnungsbau und die Verstaatlichung von Wohnungsgesellschaften ausgesprochen, mit der Behauptung, mit solch einer Maßnahme würden Jüd:innen enteignet werden – eine Behauptung, die wir als antisemitisch zurückgewiesen haben.

Wenn die SPD und andere deutsche Politiker:innen so besorgt um die Sicherheit von Jüd:innen sind, hätten sie begeistert sein müssen, dass Jüd:innen, Palästinenser:innen, Deutsche und andere Bewohner:innen Berlins gemeinsam in Neukölln für Freiheit und Gerechtigkeit im Nahen Osten demonstrieren. Stattdessen störte die Berliner Polizei auf jede erdenkliche Weise. Ist es den deutschen Politiker:innen tatsächlich lieber, dass ihre Juden Angst haben, nach Neukölln zu gehen? Wollen sie unsere weißen Retter:innen spielen? Welchen Vorteil hat das deutsche Establishment, wenn es jüdische Solidarität mit den Palästinenser:innen untergräbt – anstatt sie zu begrüßen? Es besteht kein Zweifel, dass wir eine Politik des Teilens und Herrschens erleben. Als in Deutschland lebende Juden und Jüdinnen weigern wir uns, uns von antimuslimischem und antipalästinensischem Rassismus instrumentalisieren zu lassen. Wir wissen, dass unsere Sicherheit in unserer Solidarität liegt.

Es ist an der Zeit, dass deutsche Politiker:innen aufhören, “auf der Seite Israels zu stehen”, und anfangen, auf der Seite der Menschenrechte zu stehen.

Wir werden weiter Widerstand gegen Zwangsräumungen und ethnische Säuberungen in Sheikh Jarrah leisten. Wir werden uns weiterhin gegen die Bombardierungen und die Zerstörung von Leben in Gaza wehren. Wir unterstützen die Palästinenser:innen von Haifa bis Jaffa und Lydd (Lod), die sich gegen ein System erheben, das Human Rights Watch erst kürzlich als Apartheid bezeichnet hat. Wir sind entsetzt über bewaffnete gewalttätige Mobs jüdisch-israelischer Siedler und rechter Aktivisten, die Palästinenser:innen und palästinensische Häuser, Geschäfte und Moscheen in Israel angreifen. Die Gewalt muss aufhören, und der einzige Weg, die Gewalt zu beenden, ist die Beendigung der andauernden Kolonisierung Palästinas, die Aufhebung der andauernden Belagerung des Gazastreifens, die Beendigung der Besatzung des Westjordanlandes und die Gewährleistung der vollen Bürgerrechte für alle Bewohner:innen Israels und Palästinas. Für Deutschland muss der erste Schritt sein, die militärische und diplomatische Unterstützung für das verbrecherische Verhalten Israels zu beenden.

Wir laden Euch dazu ein, Euch uns bei den Demonstrationen zum Nakba-Tag am kommenden Samstag, den 15. Mai, in ganz Deutschland anzuschließen. Die Demonstration in Berlin beginnt um 16:00 Uhr auf dem Oranienplatz.

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Oben         —     Hate speech

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Eskalation im Nahen Osten

Erstellt von Redaktion am 16. Mai 2021

Ein Konflikt an drei Fronten

Von Susanne Knaul

Die Gewalt von jüdischen und arabischen FanatikerInnen wirft die brüchige Koexistenz um Jahrzehnte zurück. Es ist auch ein Ergebnis jahrzehntelanger Besatzung.

Probleme auszusitzen klappt in den seltensten Fällen. Über Jahre ließen Regierung und Öffentlicheit in Israel das sogenannte Palästinenserproblem außen vor. Es blieb überwiegend ruhig, das machte es bequem, sich anderen Problemen zuzuwenden, wohl wissend, dass das Pulverfass jederzeit explodieren kann. Jetzt knallt es, und es knallt an drei Fronten.

In Jerusalem kämpfen PalästinenserInnen gegen Häuserenteignungen, gegen Freiheitseinschränkungen und gegen die sozialen Ungleichheiten. Im Gazastreifen heizt die islamistische Führung der Hamas die Gewalt an, weil sie frustriert ist über das Aussetzen der geplanten Parlamentswahlen, bei denen sie gute Chancen gehabt hätte, als stärkste politische Macht abzuschneiden. Und in arabisch-israelischen Ortschaften entlädt sich die Wut über die Zweiklassengesellschaft und über die unterschiedlichen Bedingungen für Israels jüdische und arabische BürgerInnen.

Auch wenn die Hamas bislang recht erfolgreich daran arbeitet, die Fronten verschmelzen zu lassen, wenn sie verlautbaren lässt: „Wir kämpfen für Jerusalem“, und wenn sie die arabischen UnruhestifterInnen bejubelt, die Autos und sogar Synagogen in Brand stecken, so sind es doch drei Fronten mit unterschiedlichen Hintergründen und unterschiedlichen Auswegen aus der Gewalt.

Die Hamas nutzte die Gunst der Stunde, als in Jerusalem der Protest gegen die geplante Zwangsräumung mehrerer palästinensischer Wohnhäuser hochkochte. Drohende Zwangsräumungen gehören zum Alltag Hunderter Familien in Ostjerusalem. Sie boten noch nie Grund für die islamistische Führung im Gazastreifen, Raketen abzufeuern.

Mahmud Abbas‘ politisches Eigentor

Die plötzliche Solidarität der Hamas ist ein heuchlerischer Vorwand für die Angriffe gegen Israel, mit denen in Wirklichkeit ein ganz anderer Feind gemeint ist: Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Er erschütterte die von ihm selbst geschürte Hoffnung auf ein Ende der palästinensischen Teilung und der politischen Isolation des Gazastreifens, als er zuerst Wahlen ansetzte, um sie dann wieder abzusagen. Diesmal dürfte ihm sein Taktieren ein Eigentor verschafft haben. Bei den aktuellen Entwicklungen zieht nicht er, sondern die Hamas die Fäden und punktet in Ostjerusalem, im Westjordanland und im Gazastreifen.

Quelle       :      TAZ          >>>>>       weiterlesen

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Oben     —       Israel Collective Punishment

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Neue Generation der Wut

Erstellt von Redaktion am 14. Mai 2021

Der Status quo ist nicht die Lösung, sondern das Problem

Von Karim El-Gawhary

Die neue Eskalation zeigt: Nur wenn die Sicherheit Israels mit den Rechten der Palästinenser verbunden wird, kann es eine Lösung des Konflikts geben.

Fast hatte man ihn vergessen, den Nahostkonflikt. Nach außen hin hatte sich kaum etwas verändert, wenngleich sich die Situation der Palästinenser mit jedem Jahr weiter verschlechtert hat. Aber das fand jenseits der Schlagzeilen statt. Selbst als Donald Trump und sein Schwiegersohn Jared Kushner letztes Jahr die von ihnen initiierte Normalisierung zwischen Israel und den Arabischen Emiraten sowie Bahrain als große neue Friedensinitiative zelebrierten, waren die Palästinenser noch nicht einmal als Statisten dabei.

In den letzten Tagen hat die internationale Gemeinschaft gelernt: Es geht nicht um die Beziehungen, die Israel mit einigen Golfstaaten unterhält. Der Kern des Problems ist der Konflikt mit den Palästinensern. Und deren Unmut und Frust über den Status quo drückt sich in dem aus, was wir nun erleben. Die jüngsten Unruhen haben eine neue Qualität. Bisher ging es immer um den vom Rest der Welt abgeschnitten Gazastreifen oder um die Rechte der Palästinenser in Ostjerusalem oder im Westjordanland, die unter israelischer Besatzung leben. Nun treten alle Palästinenser, auch jene, die innerhalb Israels leben, gemeinsam zu Protesten an – mit einer noch nie dagewesenen Vehemenz.

„Hier geht es nicht um eine Zweistaatenlösung oder um Territorium, sondern um gleiche Rechte als Bürger in einem israelischen Staat“

Welche Brisanz in den Aufstands-Newcomern steckt, den sogenannten 48er-Arabern, also jenen Palästinensern, die im israelischen Staatsgebiet leben und ein Fünftel der Staatsbürger Israels ausmachen, wurde deutlich durch die Lynchmorde und gegenseitigen Jagdszenen. Die Grenzen zwischen den von Israel besetzten Gebieten und dem israelischen Staatsgebiet verschwimmen dieser Tage. Der Konflikt mit den Palästinensern ist diese Woche zu allen Israelis nach Hause gekommen. Mit dem Eintreten der 48er-Palästinenser in den Konflikt, verändert sich auch die palästinensische Perspektive: Hier geht es nicht um eine Zweistaatenlösung oder um Territorium, sondern um gleiche Rechte als Bürger in einem israelischen Staat.

Neu ist auch, dass die Proteste in Ostjerusalem nicht mehr mit der Hamas oder Fatah verbunden sind. Die Jugendlichen, die in Ostjerusalem auf die Straße gehen, stellen eine neue Generation dar, die nicht nur von der täglich gelebten Diskriminierung genug hat. Sie ist auch desillusioniert gegenüber der eigenen politischen Führung – egal, ob sie Fatah oder Hamas heißt.

Verheerende Bilder für das kollektive arabische Gedächtnis

Nein, die Hamas-Raketen werden hier nicht ausgeblendet. Als die israelische Polizei die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem stürmte und verheerende Bilder lieferte, die sich in das kollektive arabische Gedächtnis eingebrannt haben, witterte die Hamas ihre Chance, auf die neue Protestbewegung aufzuspringen. Über tausend Raketen wurden Richtung Israel abgeschossen, terrorisierten die Bevölkerung und kosteten unschuldige zivile Opfer.

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Das hat einen doppelten Effekt: Die Raketen bieten Israels Premier Netanjahu die Gelegenheit, den Konflikt dorthin zu ziehen, wo er den längeren Hebel hat: auf die militärische Ebene. Und schon hat sich die internationale Aufmerksamkeit abgewandt von den drohenden Zwangsräumungen im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah.

Aber auch der Hamas-Logik ist die internationale Gemeinschaft gefolgt. Als die Palästinenser in Ostjerusalem von Siedlern terrorisiert wurden und einigen die Räumung drohte, hatte sie unbeteiligt zugesehen. Sie schreckte erst auf, als die ersten Raketen flogen. Das ist das Traurigste: Die Palästinenser werden international erst wahrgenommen, wenn sie die Schwelle der Gewalt überschreiten.

Quelle        :       TAZ           >>>>>          weiterlesen

die dritte Meinung:

Tut etwas gegen die Armut in Ostjerusalem

East Jerusalem - panoramio (2687).jpg

sagt Nasreen Haddad Haj-Yahya

Araber sollten jede Form der Gewalt verurteilen, egal welche Gründe es dafür geben mag. An diese Grundregel will auch ich mich halten. Denn ich bin zutiefst der Überzeugung, dass niemand aufgrund seiner Gruppenzugehörigkeit angegriffen werden darf.

Jerusalem ist von jeher eine komplexe Stadt. Schon der schwächste Funke kann die Straßen in Brand setzen. Ein Grund dafür ist die Armut. Und die Ungleichheit. Untersuchungen des Jerusalem Institute for Policy Research zeigen, dass 59 Prozent der arabischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. Unter den jüdischen Bürgern sind es nur halb so viele.

Der Staat und die städtischen Sozialeinrichtungen tun aber nicht viel gegen Armut. Sie tun auch nicht viel, um unterprivilegierte Gruppen im Bildungssystem zu unterstützen. Der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zum Trotz existieren in Ostjerusalem noch immer Tausende Klassenräume zu wenig. Für arabische Schüler wird deutlich weniger Geld ausgegeben als für jüdische. Mehr als jeder dritte arabische Schüler in Jerusalem schafft keinen Schulabschluss. Das ist ein Grund für das hohe Einkommensgefälle zwischen Juden und Arabern.

Quelle         :           TAZ          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Wahlplakat der Hamas in Ramallah, Aufruf zu einer Ein-Staat-Lösung: „Palsetine [sic!] from Sea to Rever [sic!]“ (übersetzt: Palästina vom (Mittel-)Meer bis zum (Jordan-)Fluss)

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2.) von Oben         —       Karim El-Gawhary, 2012 bei den Roemerberggespraechen in Ffm.

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Digitaler Antisemitismus

Erstellt von Redaktion am 13. Mai 2021

Aus latentem Judenhass wird offener Judenhass

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Eine Kolumne von Sascha Lobo

Nach dem Angriff auf Israel ist eine neue Form von Hass im Netz zu beobachten: In sozialen Medien verschmelzen verschiedene Formen des Judenhasses zu einem gefährlichen Impulsiv-Antisemitismus.

Es sind goldene Zeiten für Judenhasser. Eine weltweite Pandemie, wo Seuchen schon immer Juden in die Schuhe geschoben wurden. Eine aufflammende Diskussion über Kolonialismus, bei der sich alter, antisemitischer Wein in mittelmäßig neue Israel-Schläuche füllen lässt. Und jetzt flammt das auf, was man wunderbar haltungsarm »Nahostkonflikt« nennen kann – stets ein Hochamt des deutschen, des linken, des rechten, des Israel-bezogenen, des postkolonialen, des antikapitalistischen, des islamistischen Antisemitismus und überhaupt aller verfügbaren Antisemitismen und angrenzender ideologischen Verblendungen. Gerade auch der Sonderformen wie intellektuell anmutendem Diskurs-Antizionismus oder in Memes gegossenem, digitalem Judenhass, den »Stürmer«-Karikaturen des 21. Jahrhunderts.

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Hessische Gesetzesinitiative

Erstellt von Redaktion am 9. Mai 2021

Verschärfungen im Namen der Pressefreiheit

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Dort, wo der rechte Arm nach oben zeigt – betont ein Bouffier eigene Wichtigkeit?

Quelle     :     Untergrundblättle CH

Von Peter Nowak

Es ist wohl einmalig in Deutschland, dass am Tag der Pressefreiheit, die eigentlich ein Schutzrecht gegen den Staat ist, über Gesetzesverschärfungen im Namen der Pressefreiheit diskutiert wird.

Im Diskurs der Staatsapparate und ihr nahestehender Nichtregierungsorganisationen wird es nicht als Einschränkung der Pressefreiheit in Deutschland gesehen, dass das staats- und machtkritische Onlineportal Indymedia-Linksunten seit 2017 abgeschaltet und die vermeintlichen Verantwortlichen kriminalisiert wurden. Auch die häufigen Angriffe von Polizist*innen auf Journalist*innen bei linken Demonstrationen kamen an diesen Tag kaum zur Sprache.Vielmehr werden als grösste Bedrohung der Pressefreiheit in Deutschland Angriffe auf Journalist*innen durch verschiedene Protestszenen in den Fokus gerückt. Dabei geht es wahlweise um linke oder rechtsoffene Demonstrationen, beispielsweise der Gegner*innen der Corona-Massnahmen. Schon wird ein neues Gesetz gegen die „Störung der Tätigkeit der Presse“ vom Bundesland Hessen in die Diskussion geworfen.Es soll demnächst im Bundesrat eingebracht werden. Dass es sich hier um eine weitere Einschränkung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts handelt, wird aus dem in der FAZ vorgestellten Katalog der Strafverschärfungen klar, die von der hessischen CDU-Justizministerin Eva Kühne-Hörmann vorgestellt wurden.Da soll es schon justiziabel sein, wenn eine Personengruppe durch laute Sprechchöre oder Trillerpfeifen ein Interview behindert oder Fahnen und Transparente vor eine Kamera hält, so dass keine Filmaufnahmen mehr gemacht werden können. Auch, wenn jemand Journalist*innen das Aufnahmegerät aus der Hand reisst und es – womöglich sogar unbeschädigt – an einem anderen Ort ablegt, soll das strafrechtlich sanktioniert werden. Ein anderes Szenario könnte dem Ministerium zufolge sein, dass Demonstrant*innen einem Übertragungswagen mit Reporter*innen den Weg versperren. „Auch gewaltlose Störungen können die freie Berichterstattung durch die Presse massiv behindern. Zum Schutz der überragend wichtigen Pressefreiheit muss beides jedoch wirksam verhindert werden“, erklärt Kühne-Hörmann.

Nicht in meinen Namen

Hier sollten wir Journalist*innen mal Haltung zeigen, indem sie sich dagegen verwahren, für die weitere Verschärfung von Gesetzen herzuhalten.

Schliesslich können wir Journalist*innen es verschmerzen, wenn wir in einer Protestszene gerade nicht erwünscht sind. Wenn wir dann keinen Abstand halten, müssen wir auch mal Sprüche wie „Kameramann/frau – Arschloch“ anhören. Die gibt es bereits seit Jahrzehnten auch in linken Protestszenen, in den letzten Jahren wohl auch zunehmend in rechtsoffenen Kreisen. Das mag nicht schön sein, ist aber nicht mit der Verfolgung von Journalist*innen durch Staatsapparate zu vergleichen.

Wenn ich in einer Protestszene nicht erwünscht bin, kann ich mich entscheiden, zu dieser auf Abstand zu gehen. Wenn ich von Staatsorganen verfolgt werde, bin ich mit unterschiedlichen Formen von Kriminalisierung konfrontiert. Diese Unterschiede sollten nicht verwischt werden. Natürlich soll nicht in Abrede gestellt werden, dass beispielsweise linke Journalist*innen oft auch in ihren Privatleben verfolgt und belästigt werden. Dagegen sollen sie sich wehren und dafür verdienen sie auch Solidarität und Unterstützung.

Ein solches Solidaritätsnetzwerk sollten Kolleg*innen aufbauen, um beispielsweise Journalist*innen, die in rechten Netzwerken recherchieren, zu unterstützen. Was wir dazu bestimmt nicht brauchen, sind Staatsapparate, die mit dem Argument, die Pressefreiheit zu schützen, weitere Gesetzesverschärfungen vorbereiten. Daher lehne ich sie ab und werde mich auch noch nicht auf sie berufen, wenn sie nicht verhindert werden sollten. Zuvor aber wünsche ich mir, dass sich viele Kolleg*innen ähnlich positionieren.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquelle      :

Oben        —         Vereidigung von Minister Eva Kühne-Hörmann im Hessischen Landtag durch Ministerpräsident Volker Bouffier am 18.1.2019

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Hans will bleiben

Erstellt von Redaktion am 7. Mai 2021

In den Dokumenten waren für die Ausweisung „andere Gründe“ angekreuzt

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Spieglein – Spieglein an der Wand  wer ist am Größere in seinen Land?
Jeder schiebt wo er kann ! Dort die Klerikalen – hier die Afghanen?

Von Issio Ehrich

Freie Evangelikale werden vermehrt aus der Türkei ausgewiesen. Einer von ihnen ist der Deutsche Hans-Jürgen Louven. Die Bundesregierung schweigt wohl aus diplomatischen Gründen.

Der Weg zum Abendmahl windet sich von der österreichischen Stadt Feldkirch zwischen Nadelwäldern und Kalkmassiven einen Hang hinauf. Die harte Erde ist von Wurzeln durchzogen und von Steinen durchsetzt.

Rund 30 Mitglieder der Freien Evangelikalen Gemeinde Feldkirch stapfen den Pfad empor. Sie lesen sich dabei aus der Bibel vor. „Das Reich, dessen König ich bin, ist nicht von dieser Welt …“ Am Ende des Weges ist zwischen den Tannen eine mittelalterliche Burg zu erkennen, darüber schwarze Wolken. Jeden Moment könnte es regnen.

Es ist Anfang April, Karfreitag, Hans-Jürgen Louven, die Arme hinterm Rücken gekreuzt, den Kopf beim Laufen weit nach vorn geneigt, sticht mit seinen 1,89 Meter aus der Gruppe hervor. „Wenn nicht alles so schief gelaufen wäre, wäre ich dieses Ostern vielleicht ans Meer gefahren“, sagt er. „An einen der schönsten Strände der Türkei.“ Louven sehnt sich nicht nach Urlaub, er sehnt sich nach einem Lebensgefühl.

Louven wurde 2019 aus der Türkei ausgewiesen – seiner Wahlheimat, seinem Sehnsuchtsort. Er wurde von seiner türkischen Gemeinde getrennt, von seinen türkischen Freunden und Nachbarn.

Kaum bemerkt von der Öffentlichkeit ist in der Türkei eine Abschiebewelle im Gange, die religiös motiviert zu sein scheint. Nach Angaben der Vereinigung Protestantischer Kirchen wurden in den vergangenen zwei Jahren 65 Christen aus verschiedensten Ländern aus der Türkei ausgewiesen.

Der Wind bläst feuchtkalt über die Hänge. Louven und seine neue Gemeinde finden hinter den Mauern der Burg Schutz. Plastikbecher gehen herum, Traubensaft und Brotecken. Louven senkt den Kopf, schließt die Augen und hört den Versen zu. „Dieser Becher ist der neue Bund, besiegelt mit meinem Blut, das für euch vergossen wird …“

Nach dem Abendmahl kommt Louven erbittert auf seine erzwungene Ausreise zurück: „Dass wir von der türkischen Regierung auf diese krasse Weise behandelt wurden, ist’ne harte Nummer“, sagt er. „Die Bundesregierung müsste das laut und deutlich zur Sprache bringen.“ Das tut sie aber nicht. Louven ist deutscher Staatsbürger, trotzdem weigert sich das Auswärtige Amt, sich zu äußern.

Die deutsch-türkischen Beziehungen sind aufgeladen: das ewige Ringen um den EU-Beitritt, umstrittene Wahlkampfauftritte, das Flüchtlingsabkommen. Kräftig auf den Tisch zu hauen, war in all diesen Fragen nie der Kurs der Bundesregierung. In der Diplomatie heißt es oft, dass Gespräche im stillen Vertrauen zielführender sind. Aber nach zwei Jahren noch immer Schweigen? Louven glaubt, dass Berlin mit der Religionsfreiheit nicht noch ein diplomatisches Minenfeld betreten will. „Wir sind da vielleicht nicht wichtig genug“, sagt er.

Verglichen mit Zehntausenden Türken, die vom Regime Recep Tayyip Erdoğans als Putschisten festgenommen wurden oder mit den Abgeordneten der linken Oppositionspartei HDP, die in die Illegalität getrieben werden, mag das Schicksal von ein paar Dutzend Christen tatsächlich nicht so bedeutsam wirken. Doch für die betroffenen Menschen geht es um viel.

Nicht weit von der Burg entfernt, sitzt Louven in seiner neuen Wohnung. Er ist jetzt das, was man in der Türkei „Hanım Köylü“ nennt: Ein Mann, der im Dorf seiner Frau wohnt. Die ist Österreicherin. Zwischen Küche und Esszimmer hat Louven in dem modernen Neubau eine türkische Ecke eingerichtet. Dicke Kissen liegen auf feingemusterten Teppichen. Daneben stehen ein glänzendes Teeservice und Mokka-Pötte. Louven packt ein Fotoalbum aus. Mehr als 20 Jahre Leben in der Türkei – zusammengepresst auf ein Stoß Papier. „Ich habe das Land und die Leute geliebt“, sagt Louven. Er zeigt auf ein Bild der denkmalgeschützten Altstadt von Muğla. „Die Straßen sind da so schmal, dass keine Autos fahren“, sagt er. Louven spricht von „Herrn Hassan“, der beim Restaurieren seines Grundstücks geholfen hat, er erinnert sich an den Walnussbaum in seinem Innenhof. „Ein einzigartiger Ort.“ Louven hat sich in der Türkei eine Existenz aufgebaut. Er hat sich eine kleine Welt geschaffen, die im Einklang mit seinem Glauben steht.

Louven kam 1961 in Uerdingen am Niederrhein zur Welt. Abitur, Sportwissenschaft an der Uni Köln, Biologie auf Lehramt. Er traf auf eine Gruppe von Studenten, die einmal die Woche über „Lebensfragen“ sprachen. Louven entdeckte, was er heute eine „lebendige Beziehung zu einem lebendigen Gott“ nennt. Er entschied sich, sein Leben Jesus zu widmen. Dann spürte er schnell, dass er dieses „Geschenk“ weitergeben möchte. Louven begann eine theologische Ausbildung. Zum Abschluss reiste er erstmals in die Türkei. Organisiert wurde der Trip von einer christlichen Missionsgesellschaft.

Angekommen in der Provinz Muğla war Louven überwältigt. Ein großer Teil der neutestamentlichen Geschichte spielt in der Türkei. Louven erkundete die Ruinen von Ephesos, Hierapolis und Laodizea, und er dachte an die Bibel: „Sie haben alle Versammlungsstätten Gottes im Land verbrannt … Kein Prophet ist mehr da, und keiner bei uns ist da, der weiß, bis wann.“ Noch als junger Mann kam Louven immer wieder in die Türkei. Bald stand für ihn fest, dass er nicht nur seinen Glauben, sondern auch seine Art, das Land zu erkunden, teilen wollte. Louven entschied, selbst Reisen für Christen in die Türkei zu organisieren. Mitte der 1990er Jahre zog er mit seiner Frau nach Muğla.

Grande place à Muğla (2842629592).jpg

Vielleicht ist auch das ein Grund, warum die Bundesregierung sich nicht öffentlichkeitswirksam für die Verstoßenen einsetzt. Viele der Ausgewiesenen sind Missionare. Wenn im Kalkül diplomatischer Wagnisse das Solidarisierungspotenzial der Gesellschaft mit den Betroffenen eine Rolle spielt, ist es in diesem Fall womöglich kein Argument. Anders als bei provokanten Journalisten oder mutigen Menschenrechtsaktivisten. Beim Stichwort „evangelikal“ ist die Skepsis wohl besonders groß. Louven klagt über „Gender-Mainstreaming“, er vergleicht die Zahl täglicher Coronatoter mit der Zahl abgetriebener Kinder, und er weiß, dass er damit in Deutschland aneckt.

Louven hat viel in die Türkei investiert. Er kaufte einen alten Ford Transit, um seine Besucher zu den heiligen Stätten zu bringen. Er baute zwei Gästehäuser auf. Er renovierte eine 3.000 Quadratmeter große Farm mit Volleyballfeld und Grillplatz. Alles im Rahmen der türkischen Gesetze. Jetzt kämpft er um sein Recht – mit einem Staat, der kein Rechtsstaat mehr ist.

In der Türkei sind fast alle Bürger Muslime, doch das Land ist eigentlich eine laizistische Nation. Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk sah die Zukunft im Westen, deshalb ließ er die Trennung von Staat und Religion in der Verfassung verankern. Seit 1991 sind ausdrücklich auch religiöse Missionstätigkeiten erlaubt.

Louven zückt ein Schreiben des Bürgermeisteramts von Muğla aus dem Jahr 2000. „Wie es ja auch in der türkischen Verfassung durch die Trennung von Staat und Religion gewährleistet ist, versichern wir Ihnen, dass sowohl die Beschäftigten Ihrer Gesellschaft als auch Ihre Gäste sich gemäß ihres Glaubens frei verhalten und bewegen können“, steht darin. „Ich bin überzeugt, wenn sich Menschen unterschiedlicher Kultur- und Glaubensüberzeugungen gut verstehen, leistet das einen wichtigen Beitrag zum Weltfrieden und zur Völkerverständigung.“ Ein ähnliches Schreiben hat Louven von der Provinzregierung bekommen. Louven, der fließend Türkisch spricht, glaubt, dass auch die Bürger ihn herzlich aufgenommen hätten. „Wir haben Touristen in die Türkei gebracht, die sich wirklich für Land und Leute interessieren“, sagt er. Seine Gästen seien positiv aufgefallen, weil sie nicht schon mittags alkoholisiert am Strand gelegen hätten oder in den Augen der Einheimischen halbnackt herumgerannt seien.

Quelle        :         TAZ       >>>>>         weiterlesen

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Oben     —   Istanbul – aerial overview about historical Sultanahmet and Galata district

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»Ich stehe vor Ihnen —

Erstellt von Redaktion am 16. April 2021

— als stolze Deutsche – obwohl alles dagegensprach«

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Ich stehe vor Ihnen – als stolze Deutsche. Wie einst meine Großmutter Albertine Neuland, seligen Angedenkens. Mit meinem Großvater treu ihrer deutschen Heimat verbunden. Hoch angesehen in der Bayreuther Kaufmannsgesellschaft. Passionierte Wagnerianerin. Ermordet in Theresienstadt im Januar 1944. Von meiner Großmutter habe ich die Liebe zu den Menschen geerbt – trotz der Menschen. Ich stehe als stolze Deutsche vor Ihnen. Wie einst mein g‘ttseliger Vater Fritz Neuland. Als treuer deutscher Patriot 1919 zutiefst empört über den Versailler Vertrag. Ein dekorierter Veteran des Ersten Weltkriegs, der für sein deutsches Vaterland an der Front gekämpft hatte. Seine Loyalität, sein Eisernes Kreuz, schützten ihn unter den Nationalsozialisten vor keiner Demütigung – nicht vor Berufsverbot, Enteignung, der Deportation seiner Mutter, der Trennung von seiner Tochter, der Zwangsarbeit. Mein Vater hat mich Liebe zu Deutschland gelehrt – trotz dem.

Am 9. November 1938 hat Deutschland das Tor zu Auschwitz aufgestoßen – vor den Augen der Welt und unter dem Beifall weiter Teile der Bevölkerung. Die Nationalsozialisten, Hass und Gleichgültigkeit besiegelten das Schicksal von Millionen Juden in Europa. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Die Gleichgültigkeit wich der Gewissheit über ein singuläres, präzedenzloses, bis heute kaum vorstellbares Menschheitsverbrechen. 76 Jahre später erzähle ich Ihnen im Bundestag aus meinem Leben – einem deutschen Leben. Ende Oktober 1932 werde ich in München geboren. In der Stadt kommt das nach Jahrhunderten der Diskriminierung und Verfolgung erlangte jüdische Selbstbewusstsein in drei Synagogen zum Ausdruck. Die meisten deutschen Juden sind deutsche Patrioten. Sie wollen sich assimilieren, wollen dazugehören.

Als Hitler an die Macht kommt, bin ich drei Monate alt. Doch auch erwachsene Freunde und Bekannte begreifen nicht die Verheerung dieses Tages. Die gut 500 000 deutschen Juden sind zu tief in ihrer Heimat verwurzelt, um zu zweifeln: Über 1600 Jahre leben damals Juden auf diesem Boden – seit 1871 als gleichberechtigte Staatsbürger. Und Gesetz ist schließlich Gesetz. Oder nicht?

Als ich vier Jahre alt bin, verlässt uns meine Mutter. Sie war dem Druck gewichen, dem sie durch Konversion und Ehe mit einem Juden ausgesetzt war. Was blieb, war Schmerz. Meine Großmutter zieht zu uns. Sie möchte mir ein annähernd normales Leben ermöglichen: Wir spielen, singen, lachen. Sie lehrt mich die Grundlagen unseres Glaubens. Aber keine Bemühung kann überspielen: Das Leben wird für uns Juden immer beschwerlicher: Erlasse, Verbote, Verunglimpfung machen den Alltag – unerträglich. Eines Nachmittags will ich zum Spielen raus. Im Hof gegenüber treffe ich mich oft mit Mädchen und Buben aus der Nachbarschaft. Heute ist das Gatter verschlossen. Ich rufe. Sie drehen sich weg. Von hinten raunt mich die Hausmeisterfrau an: „Judenkinder dürfen hier nicht spielen!“ Tränen schießen mir in die Augen. Zuhause nimmt mich Großmutter auf den Schoß. Sinnlos, das Erlebte kleinzureden. Sie spricht von finsteren Zeiten, die bald vergehen würden. – Es ist meine erste Begegnung mit dem Anderssein. Danach darf ich nicht mehr allein aus dem Haus. Die finstere Zeit vergeht nicht. Im Jahr 1938 wird sie immer dunkler. Seit dem Frühjahr gehe ich auf die jüdische Schule. Ich hatte mich auf das Lernen gefreut. Doch jetzt sitzt die Furcht mit im Klassenzimmer. Der Schulweg ist ein Spießrutenlauf voller Parolen und Pöbeleien. Egal wie stark man sein will: Ausgrenzung und Anfeindung hinterlassen tiefe Verletzungen.

Ende der 1930er ist die Arisierung in vollem Gange. Systematisch werden die geschäftlichen und beruflichen jüdischen Existenzen vernichtet – sichtbar, inmitten der deutschen Gesellschaft. Unser Leben findet nur noch zuhause statt. Aber Privatsphäre gibt es nicht mehr: Meist abends – wenn es dunkel und Juden verboten ist, das Haus zu verlassen – klingelt es Sturm. Männer in langen Mänteln streifen durch die Wohnung, als sei es die ihre. Porzellan, Teppiche, Besteck, Bilder, Antiquitäten, Leuchter – sie bedienen sich nach Belieben und quittieren, akkurat. Deutschland. Schikane, Bedrohung, Beleidigung und nicht nur verbale Gewalt sind inzwischen der übliche Umgang mit Juden. – Angst, Verunsicherung, Verschüchterung begleiten jeden Gedanken. Und die bange Frage: Was passiert als nächstes? Einmal wollen mein Vater und ich kurz an die Luft. Männer springen von einem Wagen. Mitkommen! Vater wird mir von der Hand gerissen. Eine mir Unbekannte greift meine Hand und legt sie an ihren Kinderwagen. Sie begleitet mich ein Stück. Zuhause warte ich mit Großmutter. Schreckliche Stunden später kehrt mein Vater zurück. Wir hatten noch einmal Glück.

Wer Corona-Maßnahmen mit der nationalsozialistischen Judenpolitik vergleicht, verharmlost den antisemitischen Staatsterror und die Schoah.

Lassen Sie es mich hier klar sagen: Wer Corona-Maßnahmen mit der nationalsozialistischen Judenpolitik vergleicht, verharmlost den antisemitischen Staatsterror und die Schoah. Das ist inakzeptabel!

Im Juni 1938 besucht Hitler München. Die Hauptsynagoge – sticht ihm ins Auge. Tags darauf ordnet er den Abriss an. Stahlbirne und Sprengungen machen das G’tteshaus dem Erdboden gleich. Der 9. November. Am Abend verlassen wir eilig die Wohnung. Keine Zeit für Fragen. An der Hand meines Vaters irre ich durch die Straßen. Lärm. Geschrei. Rauch qualmt aus den Fenstern der Ohel-Jakob-Synagoge. Zwei SAler zerren Justizrat Rothschild – Opa Rothschild – aus seinem Haus. Blut läuft ihm übers Gesicht. Ich darf nicht stehen bleiben. Nicht stolpern. Nicht weinen. Nur nicht auffallen!

Als die Wehrmacht in Polen einmarschiert, bin ich sieben. Mit Kriegsbeginn stehen die Chancen für Juden, ihre deutsche Heimat zu verlassen, nahe null. Meinem Onkel in New York gelingt es, zwei Bürgschaften zu organisieren. Großmutter ist nach den US-Bestimmungen zu alt. Sie will, dass wir gehen. Vater und ich würden sie nie verlassen. Thema erledigt. Ich höre, was die Menschen erzählen, die zu meinem Vater kommen. Seit ihm die Anwaltszulassung entzogen wurde, ist er Rechtshelfer für jüdische Mandanten. Sie berichten von Verwandten, die ins KZ Dachau verschleppt wurden. Ich verstehe nicht alles – aber ich begreife: Es geht um Leben und Tod. Mit wenigen Habseligkeiten müssen wir ins Souterrain ziehen. Die letzte scheinbare Geborgenheit ist fort.

Seit November 1941 fahren Züge aus München in Richtung Osten. Darin: jüdische Münchnerinnen und Münchner allen Alters, zusammengepfercht. Bekannte und Freunde verschwinden für immer. Mehr und mehr Verzweifelte ersuchen meinen Vater um Hilfe. Deportationsbefehle in Händen. Sie weinen. Schreien. Flehen. – Ich höre sie noch heute. – Aber Vater kann ihnen nicht helfen. Niemand kann es. Wir alle wissen es.

Ich bin neun, als wir informiert werden: ein Alten- und Kindertransport nach Theresienstadt. Großmutter oder ich müssen in den Zug. Meine starke Großmutter trifft augenblicklich die unmögliche Entscheidung. Früh am nächsten Tag wird Vater mich wegbringen – in erhoffte Sicherheit. Zuvor, der schwerste Moment meines Lebens: Großmutter sagt, sie gehe zur Kur und komme bald zurück. Ich weiß, was das bedeutet. Weinend klammere ich mich an sie – an Liebe, Zärtlichkeit, Geborgenheit. Sie werden für lange Zeit aus meinem Leben verbannt sein.

Mein Vater bringt mich in ein Dorf in Franken. Die Familie von Zenzi Hummel, dem ehemaligen Dienstmädchen meines Onkels, nimmt mich als Zenzis uneheliches Kind auf. Ich muss mich von Vater verabschieden – vielleicht für immer. Ich werde Lotte Hummel. Gewöhne mich an Plumpsklo, eine Waschwanne Warmwasser für alle, karge, eiskalte Zimmer, körperliche Arbeit – an Angst, Heimweh und unsagbare Einsamkeit. Zenzi ist eine strengreligiöse Frau. Sie war mit Gott einen Pakt eingegangen: Wenn sie mich beschützt, werden ihre Brüder heil aus dem Krieg wiederkehren. So kam es.

Ende Mai 1945 fahre ich mit Leitkuh Alte vor dem Karren zum Hof. Ein Auto hält. Mein Vater steht vor mir. Es ist kein unbeschwertes Wiedersehen. Bis heute ahne ich nur, welche Qualen sie ihm zufügten. Säure hat sein Augenlicht fast gänzlich zerstört. Aber er lebt und ich lebe! Ich will nicht zurück nach München! Zurück zu den Leuten, die uns beleidigt, bespuckt, uns in jeder Form gezeigt haben, wie sehr sie uns plötzlich hassten! Aber ich habe keine Wahl. Und so begegne ich ihnen allen. Ich will weg aus dieser Stadt, aus diesem Land.

Mit 16 lerne ich Samuel Knobloch aus Polen kennen. Im Ghetto wurden seine Mutter und fünf Geschwister ermordet. Im KZ Plaszow erschossen sie den Vater vor seinen Augen. Er und sein Bruder Ruben überlebten die Konzentrationslager Plaszow und Buchenwald und den Todesmarsch gen Süden. Am 8. Mai 1945 wurden sie von russischen Soldaten befreit. Samuel ist die Liebe meines Lebens. Wir kommen zusammen und wünschen uns nichts sehnlicher als ein neues Leben in der Neuen Welt. Für die Auswanderung lerne ich Damenschneiderei, um ein Visum zu erhalten. Alle zwei Tage suchen wir unsere Namen auf der Liste der Einreisegenehmigung. Ende 1951 kommt mein Sohn Bernd zur Welt. Sobald er laufen kann, soll es losgehen. Es heißt: „Wenn Du G’tt zum Lachen bringen möchtest – mach Pläne.“ Saint Louis, Missouri, das Ziel unserer Ausreise, hat mich nie gesehen. Wir bekamen noch zwei Töchter, Sonja und Iris.

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Na – wenn er nicht Politiker wäre ?

Im schweigsamen Nebeneinander mit dem nichtjüdischen Umfeld versuchte die jüdische Gemeinschaft aus dem Überleben ein Leben zu formen. – Ein Leben, das sechs Millionen Töchtern, Söhnen, Brüdern, Schwestern, Müttern, Vätern, Großeltern genommen wurde. Ein Leben in Trauer. In Schmerz. In Wut. Ein Leben in Deutschland. Aber: Heimat ist Heimat.

Erst in den 60er und 70er Jahren wird das Schweigen durchbrochen. Auf nichtjüdischer Seite wuchs das Bewusstwerden über die Verbrechen der Vergangenheit. Es wuchs die Erkenntnis, dass Auseinandersetzung und Aufarbeitung unerlässlich sind für das Bauen der Zukunft. So konnte auf jüdischer Seite das Vertrauen wachsen – in die neue Bundesrepublik, in der es gelang, auf den Trümmern der Geschichte eine tragfähige freiheitliche Demokratie zu errichten. Einen positiven Akteur im vereinten Europa, in der liberalen Welt. Einen Staat, der die unverbrüchlichen Menschenrechte jeder und jedes Einzelnen wahrt und verteidigt. Ich fing an, mich zu engagieren. Zunächst sozial in der eigenen Kultusgemeinde und dann immer mehr dafür, dass aus dem Nebeneinander ein Miteinander wurde. Ein gesellschaftlicher Kraftakt! Wir haben Brücken über unüberwindbar scheinende Abgründe gebaut und beschritten. Heute gibt es wieder jüdische Gemeinden im ganzen Land. Oft klein. Aber sie sind da. Und sie bleiben! Allen Rückschlägen zum Trotz!

Neue Synagogen wurden gebaut. In meiner Heimatstadt bildet das jüdische G’tteshaus wieder eine Symbiose mit der Frauenkirche und dem Rathaus. Jüdische Schulen, Lehrstühle, Studienwerke, Sportvereine, Rabbinerseminare – eine Vielzahl von Institutionen, Vereinen und Gruppierungen zeugen davon: In unserer Gesellschaft ist das pluralistische, vitale deutsche Judentum wieder eine anerkannte Kraft. Die Zuwanderung jüdischer Kontingentflüchtlinge aus dem postsowjetischen Raum zeigte schließlich der Welt am Ende des 20. Jahrhunderts: Deutschland ist für Juden wieder eine gute, mit Hoffnungen verbundene Heimat. Heute danke ich G’tt dafür, dass ich daran mitarbeiten darf, dem jüdischen Leben in Deutschland eine Perspektive auf Dauer zu geben. Ich danke der großen Mehrheit der Menschen in unserem Land, die sich genau das wünschen. Und ich danke meinen Mitstreitern in Politik und Gesellschaft, die mir dabei geholfen haben – unbeirrbar, mutig, beherzt.

Wir dürfen stolz sein auf unsere Bundesrepublik, verehrte Damen und Herren! Aber wir müssen sie wehrhaft verteidigen! Nicht einen Tag dürfen wir vergessen, wie zerbrechlich die kostbaren Errungenschaften der letzten 76 Jahre sind! Ich muss Ihnen nicht die Chronologie antisemitischer Vorfälle in unserem Land darlegen. Sie erfolgen offen, ungeniert – beinahe täglich. Verschwörungsmythen erfahren immer mehr Zuspruch. Judenfeindliches Denken und Reden bringt wieder Stimmen. Ist wieder salonfähig – von der Schule bis zur Corona-Demo. Und natürlich: im Internet – dem Durchlauferhitzer für Hass und Hetze aller Art.

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Oben        —       48. Münchner Sicherheitskonferenz 2012: Am Sonntag: Claudia Roth (re), Parteivorsitzende Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Charlotte Knobloch (mi), Präsidentin, Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern, Tawakkul Karman (li), Friedensnobelpreisträgerin 2011, Journalistin.

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Die reine Wahrheit

Erstellt von Redaktion am 5. April 2021

Kleine Betrachtung über das Identitäre und uns.

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Eine Kolumne von Thomas Fischer

Kann Wahrheit nur noch durch Betroffenheit entstehen? Oder ist das am Ende ein asoziales Missverständnis?

In dieser Kolumne steht, regelmäßige Leser wissen es, die Wahrheit und nichts als sie. Sollte ich jemals auf die Idee kommen, Ihnen eine scripted reality darzubieten, werde ich dies selbstverständlich zuvor ankündigen. Notfalls, also nur für den ausgeschlossenen Fall, dass es einmal einen kleinen Ausrutscher geben sollte, werde ich den Ehrenpreis für die berührendste Darstellung der trostlosen Wahrheit natürlich gern wieder zurückgeben. Wer spricht schon über diejenigen, die ihn erst gar nicht bekommen haben?

Sie wissen natürlich, Leser, worauf ich anspiele. Ich sage nur: Wohnwagenstrich, Lovemobil, Lehrenkraut. »Der Skandal um den Film ›Lovemobil‹ hat die Branche aufgerüttelt.« Dieser Satz stammt aus der Überschrift einer deutschen Wochenzeitung, deren Mitarbeiter schon Preise dafür erlangten, dass sie Wahrheiten »wie Staatsanwälte« ermittelten; sie kennen sich also aus. Der zitierte Teaser ist aber nur ein wahlloses Beispiel aus dem Kosmos der »Branche«. Hier taucht die Frage auf: Von welcher Branche ist die Rede? Ist es die Branche der Prostitution-im-Wald-Filmer? Gibt es eine Branche der Prostitutions-Dokumentarfilmer? Oder müssen wir die Kategorie noch weiter öffnen: Dokumentations-Branche? Freie Journalisten-Branche? Fernsehbranche? Oder gar: Medienbranche, Presse überhaupt?

Man weiß es nicht genau, könnte es aber unter der Voraussetzung herauskriegen, dass der Aufrüttel-Satz die Wahrheit ist, und wenn man eine Methode hätte, den Zustand des Aufgerütteltseins festzustellen. Gar nicht so einfach! Fragen wir mal so: Kennen Sie jemanden, verehrte Leser, den Sie im Hinblick auf das opus »Lovemobil« und die Wahrheit seiner Entstehung als aufgerüttelt bezeichnen würden? Sind Ihnen in Ihrer Umgebung Anzeichen eines Rütteltraumas aufgefallen? Seien wir ehrlich: Davon kann mit hoher Wahrscheinlichkeit und beim Heiligen Relotius, dem Schutzheiligen der Höheren Wahrheit, nicht wirklich die Rede sein. Es sei denn, man hält den unangenehm riechenden Abwind des Bedauerns für ein »Rütteln«, der uns ein paar Tage lang in die Nase zog.

Damals, als uns alle der Fall Claas R. aufrüttelte, war es ja so, dass der Bösewicht es zwar auch gut meinte, allerdings vielleicht vorwiegend mit sich selbst, was im Zeitalter des durch ganz neue »Studien« hoffnungsvoller Nachwuchsforscher entdeckten karrieristischen Hedonismus zwar erwünscht ist, aber sich bescheidener kleiden sollte. Da rüttelt der Fall Lehrenkraut schon etwas geschickter, was allerdings nicht am Genie der Protagonistin, sondern daran liegt, dass die Wahrheit über das Sujet ja sowieso schon bekannt ist und es in der Frage der Wahrhaftigkeit der als Filmemacherin bezeichneten Frau L. gar nicht darum geht, ob Scharlieh aus Radebeul May und Winnetous Schwester Marie Versini nun wirklich etwas ethno-identitär Unzulässiges miteinander getrieben haben oder nicht, sondern nur darum, ob es Frau L. eigentlich wirklich gut gemeint hat. Und daran kann, das sagt uns ja schon das Thema (Wohnwagen-Prostitution »in der deutschen Provinz«), nun wirklich nicht der leiseste Zweifel bestehen!

Oder könnten Sie sich vorstellen, dass irgendjemandem auch nur der allerkleinste Preis dafür verliehen werden könnte, dass er einen Film dreht, in dem Prostitution »verharmlost«, Leid und Gefahr der Branche bagatellisiert oder gar strukturelle Gewalt beschönigt werden? Außerdem war die Regisseurin – in diesem Fall passt die Funktionsbezeichnung wirklich mal besonders gut –, wie sie berichtet, zumindest auch persönlich im Wald, um sich das ganze Elend einmal von ganz nah anzuschauen, während Herr May in Wahrheit keine 100 Indianerdialekte sprach und Herr Relotius gar nicht auf

Darüber hinaus ist es, wie jeder Tierfilmer weiß, sehr zeitraubend, sich im Puff oder im Geäst über einem Vollzugswohnmobil mit einer Kamera auf die Lauer zu legen und zu warten, bis ein Mord geschieht oder ein Mafiakiller in den Armen einer Königin der Nacht das Versteck eines Seeräuberschatzes verrät. Da kann das Warten länger dauern als für eine Doku über das Leben der Lachse und der Bären, in der immer zuerst der Winter vergeht und dann der Sommer, oder für einen preisgekrönten Film über die Reisen der Kaiserpinguine und der Gnus einmal hin und zurück durch die Serengeti. Deshalb ist Professor Grzimek aus Frankfurt schon früh dazu übergegangen, Geparden und Schimpansen von Komparsen darstellen zu lassen. Und niemand kann behaupten, die gefakten Profis hätten die wahren Tiere nicht besser gespielt, als diese selbst es gekonnt hätten! Wer’s nicht glaubt, mag auf YouTube erst Hilde Nocker mit Herrn Grzimek und Schimpansin »Uschi« (gespielt von einer blutjungen Kameraassistentin) anschauen und dann zum Vergleich das Sportstudio mit Herrn Kürten, Frau Weissmüller und Schimpansin »Cheetah«, original aus dem Urwald von Hollywood und deshalb zwar wirklich, aber nicht wahr.

Früher, als die Menschen noch einen oder zwei Götter hatten und einen Herrn Generaldirektor oder einen Cheftrainer, war es mit der Wahrheit nicht ganz so schwierig. Zwar gab es einen gewissen Widerspruch zwischen der erbärmlichen Wirklichkeit des Lebens und der goldenen Wahrheit der naturgewollten Herren, aber das ließ sich mit etwas Demut, einer Faust in der Tasche und ein bisschen Wilderei einigermaßen innenregulieren. In der modernen Welt der voll entwickelten oder erträumten Vernetzung ist das anders. Wahrheit und Wirklichkeit, so lehrt uns heute das Bachelor-Studium der Weltkunde, sollen eins sein für immer in der Geschwindigkeit des Lichts: Ein Bit und zwei Bit sind drei Bit, und das ist nicht nur die Wahrheit, sondern die Wahrheit ist auch in ihnen. Herrn Johannes Gutenberg wäre schwerlich in den Sinn gekommen, die Wahrheit über Gott sei eine Druckletter.
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Oben       —     Traditionele glasbewassing

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Unten      —        Thomas Fischer auf der re:publica 2016
Ot – Eigenes Werk
Thomas Fischer (Jurist)
CC-BY-SA 4.0
File:Thomas Fischer-Jurist-rebuliva16.JPG
Erstellt: 4. Mai 2016

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Wahrheit der Religionen ?

Erstellt von Redaktion am 4. April 2021

Mit Weihrauch verqualmte Höhle

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Ein Weihrauchbaum im Oman

Von Corinna Stegemann

Jesus, die faule kleine Socke, kommt einfach nicht in die Pötte mit seiner Auferstehung zu Ostern. Ein erschütternder Jugendreport.

Gott walkte am Ostersonntag wütend seinen weißen Rauschebart, während er seine beachtlich wuchernde Braue sturmumwölkt in Falten zog und mit seinem glühenden Stirnauge düster umherblickte. Der Stammhalter machte wieder Ärger. Am dritten Tag nach seiner Kreuzigung fläzte der Lümmel immer noch faul auf seinem Totenbett herum, qualmte unablässig Weihrauch, philosophierte über den Urknall und hetzte sämtliche Engel und Erzengel herum, damit sie ihm irgendwo Naschwerk besorgten.

Der Messias dachte tatsächlich nicht im Traum daran, am dritten Tage wieder aufzuerstehen, wie es das himmlische Protokoll vorsah. Er vertrat rotzfrech die Meinung, sein scheußlicher Kreuzigungstod am vergangenen Freitag würde für die nächsten paar Jahrtausende einen exzessiven Müßiggang rechtfertigen. Auferstehung? Nein, danke!

Gott hatte es mit vernünftigen Argumenten versucht: „Hey, Sohn! Nur ein einziges Mal noch, zeig ein bisschen Gesicht, dann verehren die uns für immer und du kannst voll karacho in den Himmel auffahren und zu meiner Rechten sitzen.“ Nullo Erfolgo!

Gott versuchte es mit Drohungen: „Wenn du nicht auf der Stelle auferstehst, dann sperre ich dir für die kommenden Jahrhunderte sämtliche Ablasszahlungen, sobald sie erfunden werden! Und überhaupt! Lass dir mal die Haare schneiden.“

Jesus gewährte seinem Vater nur ein freches Grinsen. Er konnte sowieso alles herbeizaubern, was er nur haben wollte. Das hatte ihn bei den Menschen ja so beliebt gemacht.

Gott versuchte es mit zärtlicher Bestechung: „Mein kleiner Messi, du musst doch nur ganz kurz auferstehen, das tut doch nicht weh. Danach machen wir zusammen einen richtig schönen Vater-Sohn-Tag, und du kriegst den Frieden auf Erden, den du dir schon so lange wünschst. In Sonderlackierung und mit extra schön viel glänzendem Chrom.“

Der Heiland verdrehte die Augen. Der Vater kriegte tatsächlich gar nichts mehr mit. Für wie alt hielt der ihn eigentlich? Den schicken Weltfrieden hatte Jesus sich damals gewünscht, als er noch jung, naiv und anspruchslos war. Heute würde er sich damit bei seinen Kumpeln, den anderen Propheten und Wesenheiten, nur lächerlich machen. Zu Vaters Rechten sitzen … pah! Er war doch kein Baby mehr.

Beelzebub zu Besuch

Während Gott noch zürnte und sich fragte, wie sein Sohn nur so aus der himmlischen Spur geraten konnte, klopfte es. Ehe der Allmächtige auch nur „Zefix!“ rufen konnte, rollte der schwere Stein, der Jesu Grabhöhle verschloss, auch schon zur Seite und der stets etwas verrottet wirkende Beelzebub quetschte sich mit den kurzen, grußlosen Worten „Jesus da?“ an Gott vorbei und warf sich zu Jesus aufs Lager. Sofort begannen die beiden wie besessen, Schiffe versenken zu spielen. Gott seufzte. Das würde wieder ein berechtigtes Wehklagen der Menschen nach sich ziehen. Resignierend flog er zurück in den Himmel.

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Die Hölle der Buddhisten

„Die Alten nerven, was?“, fragte Beelzebub mit übertriebenem Augenrollen und nahm mit sardonischem Lachen noch einen Zug aus der Weihrauchpfeife. „Lulli ist genauso, nur am Rumnörgeln. ‚Mach dies, lass das …‘ Echt nicht auszuhalten.“

„Lulli?“, fragte Jesus, nicht wirklich interessiert. „Ja, so nenne ich meinen Alten. Luzifer – Lulli! Wie nennst du deinen?“ Der Heiland antwortete unsicher: „Vater …“

Beelzebub wollte sich schier ausschütten vor Lachen: „Echt? Vater? Haha, Mann ey, du bist echt nicht cool, weißt du das? Vater …“

Doch der Messias beeilte sich zu versichern: „Nein, nein, ich hab mich versprochen, ich nenne ihn … Goooo … Gooott … Gottchen! Ich nenne ihn Gottchen!“

Beelzebub überlegte kurz, dann lachte er: „Gottchen ist gut, hähä, Gottchen! Klein-Gottchen, hähä!“ Er senkte verschwörerisch seine Stimme, strich seine Haare zur Seite und zeigte Jesus sein linkes Ohr. „Cool, was? Willst du sowas auch?“ Jesus fiel die göttliche Kinnlade runter …

Derweil kam es im Himmel beinahe zu einem gewaltigen Donnerwetter. Denn der Schöpfer des Himmels und der Erde machte dem Heiligen Geist schwere Vorwürfe: „Dein Sohn ist völlig verzogen, du hast ihn viel zu sehr verwöhnt. Wenn er so weitermacht, dann landet er noch in irgendeiner Sekte, er ist ja überhaupt nicht mehr zu beeinflussen. Aber du steckst ja wie immer den Kopf in den Sand.“

Wohlgefallen durch Wunder

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Oben        —     An old tree of Boswellia sacra in Dhofar (Oman)

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Protest und Urteil

Erstellt von Redaktion am 28. März 2021

Fall Faisal Jahangir

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Von 

Der Fall von Faisal Jahangir bewegt die Politik: Er ist in Meißen verheiratet, hat einen Job. Trotzdem soll er abgeschoben werden.

ieser Freitagvormittag Mitte März ist bitter für Frank Richter, DDR-Bürgerrechtler und SPD-Politiker. Richter steht vor dem Abschiebegefängnis von Dresden. Gemeinsam mit einem Bekannten, einem Seelsorger, will er Faisal Jahangir besuchen, einen abgelehnten Asylbewerber aus Pakistan. Jeden Moment könnte Jahangir abgeholt und in einen Flieger in seine Heimat gesetzt werden. Es wäre das Ende eines Kampfes, den Richter seit Wochen kämpft: dafür, dass Faisal Jahangir bleiben darf. Jetzt, hier vor der Haftanstalt, sieht es aber so aus, als sei der Kampf verloren.

Jahangir hat Geburtstag an diesem Tag, er wird 41. Was bringt man einem mit, der hinter Gittern sitzt? Richter zieht ein Kruzifix aus seiner Tasche. „Das hat meine Großmutter von der Flucht aus Oberschlesien mitgenommen“, sagt er. „Ich mag den Faisal, ich schenke dem von mir aus fast alles.“

Frank Richter ist als früherer Chef der Landeszentrale für politische Bildung bekannt. Und als katholischer Priester, der er einst war. Dass er sich jetzt für Faisal Jahangir einsetzt, sagt Richter, habe einen einfachen Grund: Dessen geplante Abschiebung sei „skandalös“. Binnen kürzester Zeit hat Richter all seine Kontakte aktiviert, in der sächsischen Politik, in der Kirche, sogar beim katholischen Bischof hat er Alarm geschlagen: „Religiös verfolgter Christ soll nach Pakistan abgeschoben werden“, das schrieb er in einer Mitteilung.

Auf den ersten Blick scheint Jahangirs Geschichte ein Musterbeispiel deutscher Abschiebehärte zu sein: Ein Mann, der seit Jahren in Meißen eine neue Heimat gefunden hat und Arbeit, der verheiratet ist mit einer Deutschen, integriert wirkt und glücklich.

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Vielleicht lässt eine „lame Duck“ den IMI über das Wasser Reiten ?

Auf den zweiten Blick steht diese Geschichte aber auch dafür, wie kompliziert es in Deutschland noch immer ist mit der Frage, welche Asylbewerber eigentlich bleiben können. Bleiben dürfen. Abschiebungen finden regelmäßig statt, nicht selten ähneln sich die Schwierigkeiten. Und immer wieder hört man die Fragen: Trifft es die Falschen? Trifft es besonders häufig diejenigen, die schon gut integriert sind? Diejenigen, welche die Polizei bei der Arbeit oder zu Hause antrifft, die nicht untertauchen?

Immer wieder gibt es dann Debatten um einzelne Fälle. Doch so viel Aufmerksamkeit wie für Faisal Jahangir? Der Abschiebehäftling ist in den vergangenen Wochen zu einem Mann geworden, der die höchsten Kreise der Politik des Freistaats Sachsen beschäftigt. Die Aufregung betrifft etwas Grundsätzliches: Ist das, was hier geschieht, gerecht?

Frank Richter fragt ihn: Hast du Angst? – „Sehr viel Angst“, antwortet er

Faisal Jahangir ist 2008 nach Deutschland gekommen, zuerst nach Dortmund, später nach Sachsen. Frank Richter kennt ihn aus Meißen, der Stadt, in der er für das Amt des Oberbürgermeisters kandidiert hat, in der er als Landtagsabgeordneter der SPD ein Bürgerbüro betreibt. Jahangir und seine Frau Carmen Bittner, eine Meißnerin, seien regelmäßig zum Plaudern bei ihm vorbeigekommen. Richter beschreibt Faisal Jahangir als gut integriert, gläubig, in Pakistan katholisch getauft. Dort sei er gemobbt worden wegen seiner Religion. In Deutschland hat Jahangir ein soziales Umfeld und einen festen Job in der Küche eines Landgasthofs. „Was braucht es denn mehr?“, fragt Richter. Auch der katholische Bischof Heinrich Timmerevers setzt sich für Jahangir ein.

„Kein Täuschungsmanöver“

Die andere Seite ist: Die Anerkennungsquoten für pakistanische Asylbewerber in Deutschland sind niedrig. Faisal Jahangir hangelt sich seit Jahren von Duldung zu Duldung. Würde Jahangir nach Pakistan ausreisen, dort ein Visum beantragen, statt als Flüchtling zu kommen – dann könnte er eventuell zurückkehren. So argumentieren die Behörden. Sie glauben ihm nicht, dass er in seinem Heimatland religiös verfolgt wird. Und sie werfen ihm vor: Er habe mit Angaben zu seiner Identität die Ämter getäuscht. Man wirft ihm auch vor, auf Dokumenten verschiedene Nachnamen angegeben zu haben. Aber Frank Richter hält das für „eine Verwechslung, nicht für ein Täuschungsmanöver“. Faisal sei Legastheniker und mit der Bürokratie überfordert, sagt er.

Auf dem Gefängnishof, an besagtem Märztag: Hochsicherheitsbedingungen. Die Anlage ist mit hohen Zäunen, mehreren Toren und Stacheldraht abgeschirmt. Frank Richter und der Seelsorger treffen einen weiteren Kirchenmann, der gerade vom Besuch bei Jahangir gekommen ist. Richter zeigt sein Geschenk, das Kreuz. Ob er das überhaupt überreichen, mit ins Gefängnis nehme dürfe, überlegen sie. Vermutlich zu spitz. Der Kirchenmann zieht ein weiches Holzkreuz hervor, das kann man in zwei Teile zerlegen. „Hier, das ist besser. Ein Teil für Faisal, das andere geben wir seiner Frau.“

Wachen bringen die Besucher, auch die Reporterin der ZEIT, zu einem kargen, abgeriegelten Raum, nur Tisch und Stühle stehen darin.

Dort sitzt Faisal Jahangir.

Niedergeschlagen sieht er aus, unruhig. Als er seinen Besuch sieht, kommen ihm die Tränen. Und er erzählt. Vor allem: von seiner Festnahme vor einigen Tagen. Er sei mit seiner Frau in der Meißner Ausländerbehörde gewesen, sagt er. Eigentlich hätten sie dort eine weitere Duldung abholen wollen. „Aber neben der Tür des Büros standen zwei Polizisten, die haben meine Hände gefesselt und mich mitgenommen“, sagt er.

Fragt man Faisal Jahangir nach dem Vorwurf, den die Behörden ihm machen, vor allem nach den unterschiedlichen Namen, die er verwendet hat, sagt er: Er werde missverstanden. Auf seinem Asylantrag steht der Nachname „Khokhar“. Es sei der Name seines Vaters, sagt Faisal, in seinem Land sei es üblich, auch diesen zu benutzen. Auf anderen Dokumenten habe er später Jahangir angegeben, einen Namen, der ebenfalls zu seinem Familiennamen gehöre. „Täuschen wollte ich niemanden.“

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Frank Richter nickt. „Das mit den Namen scheint mir einleuchtend. Das ist doch in eurer Sprache anders als bei uns. Im Russischen gibt es so etwas auch.“

Faisal Jahangirs Frau hat ihm einen Koffer ins Gefängnis gebracht, mit ein bisschen Kleidung und Medikamenten, denn er leidet an Asthma. Frank Richter fragt ihn: „Hast du Angst?“ – „Sehr viel Angst“, sagt Jahangir. Als die Besucher die Haftanstalt wieder verlassen, geht schon ein Gerücht um: In den nächsten Tagen werde von Leipzig aus ein Abschiebeflug nach Pakistan starten.

Quelle        :           Zeit-online          >>>>>         weiterlesen

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Die kämpferische Christin

Erstellt von Redaktion am 26. März 2021

Nachruf : Uta Ranke-Heinemann ist tot

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Die Letzte : Wer jetzt noch an Religionen glaubt, sollte sich Bleistift und Papier holen um sich einen Gott zu malen! Solange es noch Papier gibt !

Von Jan Feddersen

Uta Ranke-Heinemann stritt gegen eine Kirche der Dogmen. Nun ist die erste katholische Theologieprofessorin Deutschlands mit 93 Jahren verstorben.

Ihre öffentliche Wirkung, beginnend mit den aufrührischen Jahren der Siebziger bis weit in die frühen Neunziger hinein, lässt sich gar nicht im klassischen, inhaltlichen Sinne allein ermessen. Sie, Uta Ranke-Heinemann, hochbegabte Tochter des Bundespräsidentenpaares Gustav und Hilda Heinemann, mischte sich ein: in Katholisches, dessen letzte Worte zu sagen nur dem Papst vorbehalten war. Religiöses war Männersache und ist es ja bei den Papsttreuen bis heute. Frauen – das buchstabierte und lebte sich in Frauen wie Mutter Teresa vor, aber eben nur dienend, helfend, stumm.

Uta Ranke-Heinemann kannte ihren Glauben und dessen theologisch verhandelte Verästelungen

Bei den Evangelischen gab’s ein paar mutige Frauen, Dorothee Sölle oder Luise Schottroff – und dann kam in deren nächster spiritueller Verwandtschaft, den Katholen, plötzlich sie. Kein Aschenputtel des Glaubens, kein bisschen nonnige Aura, dafür stets auf sehr Hochhackigen, kniefrei, ladylike – und oft, manche sagen: immer – im türkisgrünen Kostüm aus dünnstem Leder, dazu eine opulente Perlenkette stets. Das hatte Glam, und anderen, vor allem in ihrer Kirche der Bischöfe und ihren Zuträgern, machte es Angst: Ihre Art, auch körperlich sich nie zu ducken und Augenhöhe mit den Hierarchen herzustellen. Das war nichts für frömmlerische Gemüter.

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Zumal sie keine performative Mogelpackung war: Uta Ranke-Heinemann kannte ihren Glauben und dessen theologisch verhandelte Verästelungen, sie las die Bibel nicht wie eine Offenbarung des Wörtlichen, sondern eben, wie sie es verstand, heutig, biblisch aktualisiert. 1927 in Essen geboren, wollte sie immer schon Theologin werden, heißt es. 1969 habilitierte sie sich als erste Frau der Welt in ihrem Fach, später Professorin, zuletzt an der Universität Essen, in ihrer Heimatstadt.

1987 verlor sie ihren Lehrstuhl – auf Intervention der päpstlich angehaltenen Vorgesetzten, dem sich der dienstgebende Staat zu fügen hatte. So ist das kirchenrechtlich ja bis heute: Wer lehrt, darf der geltenden vatikanischen Lehre nicht fundamental widersprechen. Das tat Ranke-Heinemann nach eigener Auffassung aber auch nie. Okay, sie glaubte nicht an die Jungfrauengeburt Marias im realistischen Sinne, sondern hielt sie für eine phantasmatische Überlieferung, die als solche natürlich Geltung hat, doch eben auch nur in diesem Sinne.

Beliebt und streitbar

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Grafikquellen      :

Oben       —         Uta Ranke-Heinemann

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Unten        ––       Uta Ranke-Heinemann, World Youth Day 2005, Cologne, Germany

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Die Posaunen von Köln

Erstellt von Redaktion am 21. März 2021

Wurden selbst in München gehört!

File:Pressekonferenz zur Ernennung von Kardinal Woelki zum Erzbischof von Köln-3064.jpg

Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Nach 5 Monaten gutachtern bzw. Posaune spielen sind auch die stärksten Mauern zerstört (Buch Josua, Kap. 6), oder soll man treffender sagen die „Brüder im Nebel“ endlich öffentlich bloßgestellt. Das am Donnerstag vorgestellte Gutachten mag zwar die Hoffnungen oder Erwartungen der Betroffenen nicht erfüllt und damit enttäuscht haben, aber die Prüfung und Bewertung der unmittelbaren Missbrauchstaten war ausdrücklich vom Auftrag des Erzbistums Köln nicht umfasst. „Die Gutachter wurden am 26.10.2020 vom Erzbistum Köln mit der Erstellung eines Gutachtens zu der Frage beauftragt, ob es im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs im Erzbistum Köln im Zeitraum von 1975 bis 2018 zu Fehlern gekommen ist und wer hierfür die Verantwortung trägt“, so auf Seite 1 des Gutachtens in der Vorbemerkung. Dass es die Fälle gibt, wird vom Erzbistum Köln demnach bestätigt, beim Ergebnis des pingeligen und bis ins letzte Detail konsequenten Gutachtens müssen der Kirchenleitung aber Hören und Sehen vergehen. „Es ist das erste veröffentlichte Gutachten eines deutschen Erzbistums mit konkret öffentlich benannten Pflichtverletzungen, konkreter, namentlich benannter Personen in dieser Reichtweite und es ist ungeschwärzt“, so der Gutachter Prof. Dr. Björn Gercke. Stante pede rollten drei Köpfe und es werden sicherlich noch mehr. Dabei ist das nach eigener Aussage des Gutachters nur ein Teil der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. Also kein Freispruch oder Schlusswort.

Mit diesem Gutachten steht nun endgültig fest, dass sich die Catholica bei uns ganz und gar undemokratisch und in flagranter Missachtung des §140 GG verhalten hat. Danach nämlich ordnet und verwaltet jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Selbständig hat sie in ihrem System von Vertuschungen und z.B. in einer Akte mit dem bezeichnenden Namen „Brüder im Nebel“ Straftaten gedeckt oder durch Aktenvernichtung sublimiert, die nach allen Regeln der für alle geltenden Gesetze einem ordentlichen Gericht hätten vorgelegt werden müssen. Einer solchen Religionsgemeinschft müsste unser Staat unverzüglich jegliche finanzielle oder auch andere Unterstützung verweigern.

Kölner Dom003 (Flight over Cologne).jpg

Damit, dass ihm derart die Leviten gelesen werden, hatte der auftraggebende Kardinal wohl nicht gerechnet. Wie aus allen Wolken gefallen steht er jetzt vor einem riesigen Scherbenhaufen, den er wohl für den Rest seiner Amtszeit aufzuräumen hat. Denn mit dem Feuern zweier Amtsträger ist die Sache nicht erledigt. Ab jetzt geht’s ans Eingemachte. Jetzt geht es um das System Catholica, in dem systematisch und unter Berufung auf das eigene Kirchenrecht Taten wider unser geltendes Recht begangen werden.

Insofern ist das Gutachten ein wahre Sprengstoffkiste für die Betroffenen bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche und Forderungen. Jetzt wird sich auch zeigen, ob die Vollständigkeitserklärung für die 236 Akten und für den untersuchten Zeitraum zutrifft, oder ob es sich wieder nur um eine systemische Erklärung nach canonischem Recht handelt. Die Posaunen von Köln werden wir hoffentlich noch lange hören.

Urheberrecht
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Oben       —        Deutsch: Pressekonferenz zur Ernennung von Rainer Maria Kardinal Woelki zum Erzbischof von Köln
Foto: Rainer Maria Kardinal Woelki

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Die Katholische Kirche

Erstellt von Redaktion am 20. März 2021

Schuld und Sühne

File:Pressekonferenz zur Ernennung von Kardinal Woelki zum Erzbischof von Köln-3064.jpg

Jeden Tierchen sein Pläsierchen – auf jeden Pott passt auch ein Gott.

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Die Erzdiözese Köln hat das lang erwartete Gutachten veröffentlicht. Dass es der Christenheit wirklich wichtig ist, was drinsteht, erscheint fraglich. Und vor allem: Was kommt nach der Empörung?

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Abschaffung der Herrschaft

Erstellt von Redaktion am 24. Februar 2021

Raus aus dem Käfig der bürgerlichen Form!

Prof. Giovane Irribarem de Mello dentro da Gaiola de Faraday.JPG

Quelle     :    Untergrund-blättle CH.

von  Streifzüge Redaktion

Das moderne bürgerliche Exemplar hat die Zwänge von Wert und Geld völlig aufgesogen, kann sich selbst ohne diese gar nicht mehr vorstellen.

Es beherrscht sich wahrlich selbst, Herr und Knecht treffen sich im selben Körper. Geld ist unser aller Fetisch. Niemand, der es nicht haben will. Wir haben das zwar nie beschlossen, aber es ist so. Geld ist ein gesellschaftlicher Imperativ und kein modellierbares Werkzeug. Als eine Kraft, die uns ständig zum Berechnen, zum Ausgeben, zum Eintreiben, zum Sparen, zum Verschulden, zum Kreditieren zwingt, demütigt und beherrscht sie uns Stunde für Stunde. Geld ist ein Schadstoff sondergleichen. Der Zwang zum Kaufen und Verkaufen steht jeder Befreiung und Selbstbestimmung im Weg. Geld macht uns zu Konkurrenten, ja Feinden. Geld frisst Leben. Tauschen ist eine barbarische Form des Teilens.

Ein beträchtlicher Teil aller Produkte und Leistungen dient ausschliesslich der Geldvermehrung, zwingt zu unnötiger Plage, vergeudet unsere Zeit und gefährdet die natürlichen Grundlagen des Lebens. Manche Technologien sind nur noch als apokalyptisch zu begreifen.

Nicht nur, dass eine Unzahl von Berufen sich ausschliesslich damit beschäftigt, ist absurd, auch alle anderen Kopf- und Handarbeiter sind permanent am Kalkulieren und Spekulieren. Wir sind abgerichtete Rechenautomaten. Geld schneidet uns von unseren Möglichkeiten ab, erlaubt nur, was sich marktwirtschaftlich rechnet. Wir wollen das Geld nicht flott-, sondern wegkriegen.

Ware und Geld sind nicht zu enteignen, sondern zu überwinden. Menschen, Wohnungen, Produktionsmittel, Natur und Umwelt, kurzum: nichts soll eine Ware sein! Wir müssen aufhören, Verhältnisse zu reproduzieren, die uns unglücklich machen. Tätig sein ist etwas anderes, wenn es nicht für Geld und Markt geschieht, sondern als Geschenk, Gabe, Beitrag, Schöpfung für uns, für das individuelle und kollektive Leben frei verbundener Menschen.

Befreiung heisst, dass die Menschen sich ihre Produkte und Dienste zukommen lassen. Dass sie sich direkt aufeinander beziehen und nicht wie jetzt sich in ihren gesellschaftlichen Rollen und Interessen (als Kapitalisten, Arbeiter, Käufer, Staatsbürger, Rechtssubjekte, Mieter, Eigentümer etc.) konfrontieren. Bereits heute erleben wir geldfreie Sequenzen in der Liebe, in der Freundschaft, in der Sympathie, in der Hilfe. Da schenken wir uns etwas, schöpfen gemeinsam aus unseren existenziellen und kulturellen Energien, ohne dass Rechnungen präsentiert werden. Da spüren wir in einigen Momenten, dass es ohne Matrix ginge.

Es geht um nichts weniger als um die Abschaffung der Herrschaft, egal ob diese sich in persönlicher Abhängigkeit oder in Sachzwängen äussert. Es geht nicht an, dass Menschen anderen Menschen unterworfen bzw. ihren Geschicken und Strukturen hilflos ausgeliefert sind. Selbstherrschaft wie Selbstbeherrschung sind unsere Sache nicht. Herrschaft ist mehr als Kapitalismus, aber der Kapitalismus ist das bisher entwickelteste, komplexeste und destruktivste System von Herrschaft. Unser Alltag ist so konditioniert, dass wir den Kapitalismus täglich reproduzieren, uns verhalten, als gäbe es keine Alternativen.

Wir sind blockiert, Geld und Wert verkleben unsere Gehirne und verstopfen unsere Gefühle. Die Marktwirtschaft funktioniert wie eine grosse Matrix. Sie zu negieren und zu überwinden ist unser Ziel. Ein gutes und erfülltes Leben setzt den Bruch mit Kapital und Herrschaft voraus. Es gibt keine Transformation der gesellschaftlichen Strukturen ohne Änderung unserer mentalen Basis und keine Änderung der mentalen Basis ohne die Überwindung der Strukturen.

Wir müssen raus aus dem Käfig der bürgerlichen Form. Politik und Staat, Demokratie und Recht, Nation und Volk sind immanente Gestalten der Herrschaft.

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquelle     :       Gaiola de Faraday 23/04/2012

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Laschet, der Luftikus

Erstellt von Redaktion am 21. Februar 2021

Kanzlerkandidatur der Union

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Hier in einer Reihe mit seinen Vorgänger von 2019. Wir sehen er Läuft immer hinterher !

Mag er es wohl auf den steinernen Kackstuhl  „Des heiligen Kaiser Karl des Großen“, einer der größten Mörder seiner Zeit, als einer  seiner Nachfolger Probe zu sitzen? Die Klette eines Narren wurde ihm 2020 um gehangen.

Von Pascal Beucker

Der CDU-Chef wirbt um die wachsende Zahl der Lockdown-Gegner-Innen. Die Vorstellung, er könnte im Herbst Bundeskanzler werden, beunruhigt.

Armin Laschet fühlt sich missverstanden. Mal wieder. Mit seinem misslungenen Auftritt auf dem digitalen Neujahrsempfang des baden-württembergischen CDU-Wirtschaftsrates am vergangenen Montag hat sich der potenzielle Kanzlerkandidat der Union keinen Gefallen getan.

Bei seinem Versuch, die Konservativen und Wirtschafts­liberalen in der CDU zu bezirzen, hat er auf fatale Weise den falschen Ton angeschlagen. „Man kann nicht immer neue Grenzwerte erfinden, um zu verhindern, dass Leben wieder stattfindet“, sagte er.

Was soll man davon halten, wenn der Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens einen Satz von sich gibt, der auch von einem irrlichternden „Querdenker“ stammen könnte? Laschet hat in den Tagen danach versichert, damit nicht die von ihm selbst mit verabschiedeten Beschlüsse des letzten Bund-Länder-Gipfels infrage gestellt zu haben.

Aber genau diese Wirkung haben seine Worte: Sie lassen beschlossene Coronaschutzmaßnahmen als Willkürakte erscheinen. Es ist ihm abzunehmen, es nicht so gemeint zu haben. Aber das macht es nicht besser.

Laschet rechtfertigt sich, auf jene „Aktivisten“ gezielt zu haben, die sich erst für Lockerungen des Lockdowns aussprechen, wenn der Wocheninzidenzwert unter 10 Neuinfektionen pro 100.000 Ein­woh­ne­r:in­nen gesunken ist. Es geht ihm also um die Ablehnung der No-Covid-Strategie. Allerdings müsste Laschet eigentlich wissen, dass sich hier nicht irgendwelche „Aktivisten“ irgendeinen Grenzwert ausgedacht, sondern anerkannte Wis­sen­schaft­le­r:in­nen einen gut begründeten Vorschlag vorgelegt haben.

Es ist infam, ihnen zu unterstellen, sie wollten „verhindern, dass Leben wieder stattfindet“. Das Gegenteil ist richtig. Dass sich Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder und Kölns parteilose Oberbürgermeisterin Henriette Reker als An­hän­ge­r:in­nen des „No-Covid“-Ansatzes bezeichnet haben, sollte Laschet zu denken geben.

Laschets Geraune

Gleichwohl lässt sich darüber streiten, ob ein solcher Weg in Deutschland politisch gangbar wäre. Aber darum geht es Laschet nicht. Er versucht vielmehr durch Geraune die Stimmung der wachsenden Zahl der Unzufriedenen gerade in der Wirtschaft zu bedienen, die lieber heute als morgen den Lockdown beendet sehen wollen – koste es, was es wolle.

Man müsse halt „eine gewisse Sterblichkeit hinnehmen, um dauerhaft zur Normalität zurückkehren zu können“, formulierte das in dieser Woche unverblümt Michael Hüther, der Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Hüther gehört dem von Laschet einberufenen Ex­per­t:in­nen­rat Corona in NRW an.

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Grafikquellen   :

Oben     —     Charlemagne Prize 2019.

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Unten      —     Die Stufen hinauf zum Thron

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Acht Meter tief Geschichte

Erstellt von Redaktion am 14. Februar 2021

Seit mindestens 1.700 Jahren gibt es jüdisches Leben in Köln

Rathaus, Koeln, from SW.jpg

Aus Köln von Klaus Hillenbrand

In Köln begann alles. Mitten in der Stadt schaufeln derzeit Archäologen das alte Judenviertel aus. Ein Besuch in der wohl spannendsten Grube der Republik

Ein ockerfarbenes Stück Stein befindet sich in einem Klarsichtbeutel, es ist vielleicht zwei Zentimeter groß. „Wandputz“ steht auf dem Etikett der Tüte, darunter Angaben zum Fundort im Nordwesten des Grabungsgeländes. Hunderte solcher Plastikbeutel lagern in einer Kunststoffwanne, Hunderte solcher Kunststoffwannen stehen in hohen Regalen. Größere Fundstücke wie ein Säulenkapitell sind einzeln verpackt. Wie viele Objekte hier lagern? „Vielleicht 300.000“, schätzt Grabungsleiter Michael Wiehen.

Der junge Archäologe hebt eine der Wannen aus einem Regal und packt eines seiner „Lieblingsobjekte“ aus, wie er sagt. Zum Vorschein kommt ein etwa 30 Zentimeter langer zylinderförmiger Stein, der einer Säule ähnelt. Er ist das Ergebnis eines natürlichen Prozesses, erklärt Wiehen. Es handelt sich um Kalkablagerungen aus einer römischen Wasserleitung, die einst die Stadt mit Frischwasser aus der Eifel versorgte. Aquäduktenmarmor wird das ausgesprochen harte Material genannt, das auch selbst verbaut wurde.

Wir befinden uns im Kellergeschoss des Kölner Rathauses; über uns eine Betondecke, darüber ein profaner Neubau aus der Nachkriegszeit. Wiehen sperrt die Tür des Magazins auf. Dahinter verbirgt sich ein Gewölbe aus dem 12. Jahrhundert, in der Mitte abgestützt durch eine romanische Säule. Über diesem Keller stand einst ein von Juden bewohntes Haus, das im späten Mittelalter der Erweiterung des Rathauses zum Opfer fiel. Teile des Rathauses wiederum wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Der Keller ist geblieben.

Es dürfte derzeit in Deutschland keine spannendere Baustelle geben: Mitten in der Kölner Altstadt an der Judengasse gräbt ein Team von Archäologinnen und Archäologen seit bald 14 Jahren ein ganzes Stadtviertel aus – an dem Ort, an dem im Mittelalter die Juden von Köln lebten. In einigen Jahren werden Besucher durch die historischen Keller und Gebäude laufen können. Sie werden die Synagoge aus dem frühen 11. Jahrhundert entdecken können, in die Mikwe, das rituelle jüdische Tauchbad, hinuntersteigen, aber auch auf die Überbleibsel des römischen Statthalterpalastes stoßen.

Über ihnen werden sich die Räume des Jüdischen Museums von Köln erheben, das dem jüdischen Leben in der Stadtgeschichte gewidmet sein soll. „MiQua“, so soll das Museum über dem Ausgrabungsfeld heißen. Die Bezeichnung leitet sich aus der Abkürzung von „Museum im archäologischen Quartier“ ab. Sie erinnert aber auch an die Mikwe – kein Zufall, zählt das Tauchbad doch zu den herausragenden Ausstellungsobjekten.

Die Eröffnung des Museums ist für 2025 geplant. Doch schon in diesem Jahr wird ein Jubiläum groß gefeiert: Seit mindestens 1.700 Jahren gibt es jüdisches Leben in Deutschland. Es begann hier in Köln.

Das belegt ein Dekret des römischen Kaisers Konstantin. In dem Schreiben vom 11. Dezember 321 antwortet er auf eine Nachricht aus Köln: „Durch reichsweit gültiges Gesetz erlauben wir allen Stadträten, dass Juden in den Stadtrat berufen werden. Damit ihnen [den Juden] selbst aber etwas an Trost verbleibe für die bisherige Regelung, so gestatten wir, dass je zwei oder drei […] aufgrund dauernder Privilegierung mit keinen [solchen] Berufungen belastet werden.“ Es ist der Beweis, dass Juden damals in Köln lebten.

Um das Dekret zu verstehen, muss man wissen, dass das Amt des Stadtrats damals eine kostspielige und unbeliebte Angelegenheit war – für die Räte selbst. Denn sie mussten für die Steuereinnahmen der ihnen unterstellten Einwohner bürgen und Fehlbeträge aus ihrer Privatschatulle begleichen, so auch in der „Colonia Claudia Ara Agrip­pinensium“, wie Köln damals hieß. Das, was auf den ersten Blick wie eine Gleichstellung der Juden wirkt – deren Berufungsmöglichkeit in den Stadtrat –, markiert in Wahrheit also das Ende eines Privilegs.

Von einer jüdischen Gemeinde ist in dem Dekret nicht die Rede. Allerdings argumentieren Historiker, aus dem Schreiben gehe hervor, dass es damals in Köln wohlhabende Juden gegeben haben muss, denn nur für sie kam eine Berufung in den Stadtrat überhaupt infrage. Dann dürfte es auch ärmere Angehörige der Minderheit gegeben haben. Vermutlich hat eine größere Gruppe, eine Gemeinde, dort gewohnt. Und diese Gemeinde lebte wohl schon länger in der römischen Stadt, wahrscheinlich schon seit dem ersten Jahrhundert nach Christus, als die aus Palästina vertriebenen Juden in das ganze römische Weltreich emigrieren mussten.

Archäologische Zone Köln - Grabungen nördlich Rathauslaube-5990.jpg

Allerdings sagt der Archäologe ­Thomas Otten: „Eine Siedlungskontinuität von der Antike bis zum Mittelalter lässt sich nicht nachweisen.“ Zwar seien vereinzelt jüdische Objekte aus der Römerzeit in Deutschland gefunden worden, etwa in Augsburg eine Öllampe mit dem Bild einer Menora, des siebenarmigen Leuchters. Der Kölner Boden hat aber nichts dergleichen ausgespuckt. Es lasse sich auch nicht nachweisen, dass in der Merowingerzeit – in den sogenannten dunklen Jahrhunderten nach dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft – Juden in Köln ansässig waren, sagt Otten, auch wenn das wahrscheinlich ist. Nur das Dekret von 321 belegt ihre Anwesenheit schon vor dem zweiten Jahrtausend.

Der Platz vor dem Rathaus ist mit einem Bauzaun abgesperrt. Die Bodenplatte für das künftige Museum wurde schon in großen Teilen gegossen. Darunter sind immer noch Archäologen mit der Sicherung von Artefakten beschäftigt, ausgestattet mit gelben Warnwesten und roten Bauhelmen. Einer von ihnen ist Gary White, der stellvertretende Stabsleiter der archäologischen Zone. Der gebürtige Brite hat in Deutschland Archäologie studiert und ist geblieben. Er erklärt, dass an einigen Stellen noch gegraben wird, während anderswo die Vorbereitungen für den Neubau des Museums weitergehen. White weist auf einen der beiden Fahrstuhlschächte, die in den Himmel wachsen. Unmittelbar daneben sind die Überreste einer römischen Therme zu erkennen. „Das war Millimeterarbeit“, sagt er, „der Fahrstuhl durfte die Therme nicht beschädigen.“

Es ist ziemlich einmalig, dass mitten in einer Stadt derart großflächige archäologische Grabungen stattfinden können. Nach den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs, dem die Kölner Altstadt fast vollständig zum Opfer fiel, entschied die Stadt, das Gelände am Rathaus nicht mehr neu zu bebauen. Stattdessen entstand ein Parkplatz. Schon damals fanden Grabungen statt, die einen Teil des römischen Statthal­terpalastes und die Mikwe, das Tauchbad, zum Vorschein brachten.

Als die neuen Grabungen 2007 begannen, stießen die Archäologen in den aufgefüllten Kellergewölben der im Krieg zerstörten Häuser auf die erste Schicht Geschichte: die Trümmer aus der Kriegszeit. Einen ganzen Topf Soleier haben sie geborgen, erinnern sich Gary White und Michael Wiehen. Glühbirnen, zwei Zahnprothesen nebst Wassergläsern. Es fanden sich verkohlte Zeitungsreste, zertrümmerte Möbelstücke, Porzellan und ein wertloser „Münzschatz“, bestehend aus 2-Mark-Geldstücken aus der Nazizeit.

Die Archäologen bargen aber auch einen Sederteller mit einem Davidstern. Einen solchen Ritualgegenstand benutzen Juden beim Pessachfest in Erinnerung an den Exodus. Wie er 1943 zwischen die Kriegstrümmer geraten ist, vermag niemand zu sagen. War er das Beutestück eines christlichen Kölners, erstanden auf einer der Versteigerungen von geraubtem Eigentum? Juden gab es damals in der Altstadt nicht mehr. Sie waren schon ab 1941 zusammengetrieben worden, zunächst in „Judenhäuser“, dann in das Sammellager im Vorort Müngersdorf, schließlich in die Messehallen, wo sie auf ihre Deportation in den Tod warten mussten, ab dem Bahnhof Deutz-Tief in Richtung Osten. In die Gettos und Vernichtungslager. Fast 6.000 jüdische Kölner sind damals verschleppt worden, nur wenige von ihnen haben überlebt.

Auch die ab 1890 errichtete ­Synagoge der Jüdischen Gemeinde Köln in der Roon­straße außerhalb des Zen­trums ist in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 von den Nationalsozialisten gebrandschatzt und verwüstet worden. Im ­April 1945 fanden in den Trümmern wieder erste Gottesdienste statt. Nur wenige Juden waren da zurückgekehrt, manche hatten die Verfolgungen im Versteck überlebt.

Das Gotteshaus wurde wiederaufgebaut; gewaltig und in der Formensprache fast einer Kirche gleich. Der Innenraum ist schlicht gehalten, mit geweißten Wänden und Mosaiken in den Fenstern. Große Tafeln erinnern im Eingang zum Betsaal an die Opfer während der NS-Zeit.

Über 20.000 Jüdinnen und Juden lebten um 1930 in der Rheinmetropole. Knapp ein Viertel davon sind es heute wieder, berichtet Abraham Lehrer, der im Vorstand der Gemeinde sitzt und auch als Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland fungiert. „Ein bisschen stolz“ auf 1.700 Jahre jüdische Geschichte in Köln sei er schon, sagt Lehrer am Telefon, aber das mache die Kölner Juden nicht zu einer besseren Gemeinde. Dem 66-Jährigen ist vor allem wichtig, dass die „mittelgroße Gemeinde“ wieder über eine fast komplette Infrastruktur verfügt, mit Begegnungszentrum, Seniorenheim und Kindertagesstätte. Nur ein jüdisches Gymnasium fehle noch, aber „daran arbeiten wir“.

Archäologische Zone Köln - Überblick Juni 2014-1477-78.jpg

Mit den Archäologen, die das einstige jüdische Viertel in der Altstadt ausgraben, ist die Gemeinde in engem Kontakt. Die Pläne für das Museum begrüße er, sagt Lehrer, „weil dort nicht ein Shoah-Museum entstehen soll, sondern ein Museum für jüdisches ­Leben, um Vorurteile abzubauen.“ Lehrer möchte im Jubiläumsjahr weniger an die Verfolgung erinnern, sondern eher das Positive betonen, er will auch das jüdische Leben von heute zeigen.

Quelle        :         TAZ         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben        —     Rathaus (Town Hall), Köln. Photo taken from SW

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2.) von Oben      —     Archäologische Zone Köln – Grabungen nördlich der Rathauslaube

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Heidegger und die Folgen

Erstellt von Redaktion am 14. Februar 2021

Antisemitismus an Hochschulen: no problem –
Antizionismus: no chance

Ritualmord-Legende.jpg

Der Bluttest

Quelle       :      Scharf  —   Links

Von Johannes Schillo

Der Fall Heidegger gilt im akademischen Betrieb als der vielleicht „dornigste in der Geschichte der Philosophie“ (philomag.de). „Zweifellos“ war der Mann „ein Nazi“, heißt es heutzutage – das aber nur als Auftakt dazu, letztlich die Größe seines Denkens zu feiern und ihn mitsamt seinem metaphysischen Antisemitismus als anerkannten Besitzstand der Philosophiegeschichte zu würdigen (siehe Scharf links, 5.1.21).

So gibt es, alles in allem, eine Kontinuität seit 1933, als Professor Heidegger in seiner berühmten Freiburger Rektoratsrede den Anbruch der Naziherrschaft als Einlösung seiner philosophischen Blütenträume begrüßte – und als Ernst Bloch kommentierte: Natürlich hat Hitler (wie Wilhelm II. zum Kriegsbeginn 1914) sofort „die Universitätshure“ gefunden, „die den Kitsch latinisiert und den Betrug mit Finessen à la Schmitt oder Freyer oder Heidegger verbessert“. (Bloch 1973, 74)

Wie die aktuelle Würdigung des „Philosophie-Magazins“ vorführt, soll die Tatsache, dass der „heimliche König“ (H. Arendt) im Reich der Philosophie ebenfalls seinen festen Platz im Dritten Reich hatte und sich von seiner Befürwortung des NS-Aufbruchs auch später nie distanzierte, sofort weiteres Fragen notwendig machen: danach, ob nicht beide Rollen nur zufällig korrespondierten, ob nicht das eine vom anderen unabhängig war? Das führt dann zu dem Fazit, man solle sich in diesem Fall trotz alledem – auch wenn man sich der leidigen Nazi-Angelegenheit bewusst ist – „an der Kraft einer Philosophie erfreuen, die uns einlädt, die Geschichte der Metaphysik neu zu überdenken“.

Trotz alledem

Im deutschen Wissenschafts- und Kulturbetrieb ist mittlerweile klargestellt, dass Heidegger ein bekennender Faschist war. Seit Ende des 20. Jahrhunderts werden die einschlägigen Dokumente veröffentlicht, die diese Haltung belegen (siehe „Sein zum Faschismus“). So hat sich der hiesige Modus der Reinwaschung etwas geändert. Wurde die faschistische Einstellung des Philosophen früher ignoriert, dann als biographisches Randproblem abgetan, so muss heute zuerst eine explizite Trennung von Person und Werk vorgenommen werden, um Letzteres dann hochleben zu lassen.

Im Endeffekt hat das aber für die akademische Rolle dieses Meisterphilosophen keine negativen Auswirkungen. Der Historiker Jan Eike Dunkhase hat in einem Literaturbericht zum neuesten Stand der fachlichen Debatte nach der Veröffentlichung von Heideggers „Schwarzen Heften“ (die noch einmal den genuinen, nie revidierten Standpunkt einer NS-Philosophie verdeutlichten) festgehalten: Während die schwäbische Deutschtümelei „noch als regionale Schrulle zu bewerten ist, bewegen sich Heideggers Stellungnahmen zum Judentum, zu den Juden, zum ‚Jüdischen‘ in einer anderen Dimension … da können nur Unbeirrbare Antisemitismus in Abrede stellen.“ (Dunkhase 2017) In Abrede stellt der Autor dann aber, dass Heidegger damit ein erledigter Fall ist. Er resümiert vielmehr etliche konstruktive akademische Diskurse und Tagungen, begrüßt z.B. bei einem Sammelband, dass „eine nachdenkliche Stimme am Ende steht, die daran gemahnt, dass die ‚Schwarzen Hefte‘, mehr noch als andere Texte Heideggers, ‚von einer schillernden Mehrdeutigkeit und von teils kaum auflösbaren Spannungen durchzogen‘ sind“.

Heidegger 1 (1960).jpg

Dunkhase findet Ansätze hilfreich, die „Heideggers ‚Judenkritik‘ im Kontext seiner Zivilisationskritik relativieren, um letztere als zeitgemäße Globalisierungskritik zu retten“. Er registriert auch anhand einschlägiger Analysen „mit Erleichterung, dass Heidegger wohl ‚in seinem persönlichen Verkehr mit echten Jüdinnen und Juden weitgehend von handgreiflicher Angriffslust freizusprechen‘ sei“. Der Professor hatte sogar, wie man weiß, eine Liebschaft mit einer „echten“ Jüdin (was übrigens auch bei KZ-Wächtern vorgekommen sein soll), wobei der Freispruch mit der Einschränkung „weitgehend“ genial diplomatisch formuliert ist (dass Männern schon mal die Hand ausrutscht, kann ja vorkommen). Letztlich gelangt die Übersicht zu der rettenden, von Habermas 1953 aufgebrachten Formel „Mit Heidegger gegen Heidegger denken“ und zu dem befriedigenden Endresultat, dass mittlerweile im Philosophiebetrieb – nach der medialen Aufregung angesichts der letzten Enthüllungen – „der allgemeine Erregungsgrad vergleichsweise niedrig“ ist.

Das gilt, obwohl in jüngster Zeit, mit dem Erstarken der AfD und verwandter Strömungen, ein neues Moment hinzugekommen ist: Heidegger wird immer deutlicher zur Berufungsinstanz des modernen Rechtsradikalismus. „Die Beschäftigung mit Heidegger in den Medien und auf den Foren der Neuen Rechten ist umfassend und intensiv“, heißt es etwa bei Klaus-Peter Hufer in einer einschlägigen Bestandsaufnahme (Hufer 2018, 92). „Was macht Hei­deg­gers Denken so attrak­tiv für die anti­de­mo­kra­ti­sche Rechte?“, fragt der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik und kommt zu dem Schluss, dass Heideggers frühes Jahr­hun­dert­werk, das 1927 erschie­nene, als Mark­stein der Exis­tenz­phi­lo­so­phie hochgelobte Buch „Sein und Zeit“, auch als „Inbe­griff einer völ­ki­schen Phi­lo­so­phie gelten“ dürfte (Fücks/Becker 2020, 49).

Einen solchen Angriff auf Heideggers Philosophie selber, also auf die Sache, für die der Mann als Erstes steht und für die er sich – über die verschiedenen Regime hinweg – ein Leben lang engagiert hat, findet man sonst kaum. Explizit vertreten und in deutschen Universitäten bekannt gemacht hat eine solche Kritik die damalige Marxistische Gruppe (MG), die 1988 ihre Schrift „Martin Heidegger – Der konsequenteste Philosoph des 20. Jahrhunderts – Faschist“ vorlegte. Diese ist jetzt in einer aktualisierten Neuausgabe wieder aufgelegt worden (Decker 2020). Sie deckt sich aber nur scheinbar mit dem, was neuerdings an kritischen Einschätzungen kursiert. Deren Schwäche zeigt sich exemplarisch an dem Projekt „Gegneranalyse“, aus dem die Publikation „Das alte Denken der Neuen Rechten“ von Fücks und Becker hervorgegangen ist (Näheres dazu in: Telepolis).

Brumlik hält hier zwar fest, dass der berüchtigte § 74 von „Sein und Zeit“ völkische Philosophie in Reinform ist, wiederholt aber letztlich in bester neudeutscher Tradition die bekannte Würdigung Heideggers und spricht den von ihm erklommenen philosophischen Höhen die Anerkennung aus. An seiner „Bedeutung für die Philosophie des 20. Jahrhunderts (dürfte) weder sein Eintreten für Hitler noch seine zuletzt unübersehbar gewordene antisemitische Haltung etwas ändern“ (Fücks/Becker 2020, 52), heißt das Fazit. Der ganze Aufwand landet also wieder da, wo man im Adenauerstaat war: Wer wie Heidegger „uralte Fragen der abendländischen Philosophie“ aufgreift (ebd., 53), hat uns heute – Faschismus hin oder her – immer noch viel zu sagen.

Was aber gar nicht geht

Der allgemeine Erregungsgrad ist in der Tat an dieser Stelle niedrig. Die heutige „Universitätshure“ kann aber auch anders, dann wird sie vergleichsweise fuchtig und verabschiedet z.B. in Gestalt der Hochschulrektorenkonferenz 2019 nach der Terrorattacke in Halle eine Erklärung, die entschieden feststellt, dass an „deutschen Hochschulen kein Platz für Antisemitismus“ ist („Kein Platz für Antisemitismus – Entschließung der HRK-Mitgliederversammlung“). Man denkt natürlich, das ginge gegen rechts. Doch die Entschließung beginnt so: „Die Mitgliederversammlung der HRK unterstützt die Resolution ‚Gegen BDS und jeden Antisemitismus‘ des Jungen Forums der Deutsch-Israelischen Gesellschaft“ sowie weiterer Organisationen bis hin zum RCDS.

BDS steht für die internationale propalästinensische Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“. Diese will (laut Wikipedia-Eintrag) „den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren, um ihre im Jahr 2005 beschlossenen Ziele durchzusetzen: Israel müsse die ‚Okkupation und Kolonisierung allen arabischen Landes‘ beenden, das ‚Grundrecht seiner arabisch-palästinensischen Bürger auf volle Gleichheit‘ anerkennen und ‚das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf eine Rückkehr in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum gemäß UN-Resolution 194 schützen und fördern‘.“ Dazu teilt die HRK mit, der Deutsche Bundestag habe „mit Annahme des Antrags Ds. 19/10191 ‚Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen‘ beschlossen, die BDS-Kampagne und den Aufruf zum Boykott von israelischen Waren oder Unternehmen sowie von israelischen Wissenschaftlern, Künstlern oder Sportlern zu verurteilen.“ Diesem Beschluss von oben schließt sich die HRK umgehend und hundertprozentig an, mit der Folge, dass ein Gegenboykott in Kraft tritt, nämlich gegen die BDS-Initiative bzw. ihr nahestehende Personen, denen Universitätsräume verwehrt werden etc.

Das betrifft auch jüdische Dissidenten, die den proisraelischen Kurs der BRD nicht teilen, so z.B. das ehemalige Zentralratsmitglied Rolf Verleger, dessen Auftritte an Universitäten verhindert werden sollten. Verleger hat sich Ende 2019 in einem Offenen Brief an den HRK-Präsidenten gewandt und die Behinderung seiner Veranstaltungen geschildert. In seinem Brief betont er, das Konstrukt des „israelbezogenen Antisemitismus“, das dem Bundestagsbeschluss zu Grunde liege, diene dazu, das Eintreten für palästinensische Menschenrechte zu kriminalisieren und Kritiker der israelischen Politik mundtot zu machen.

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Nun mag man von der BDS-Bewegung halten, was man will – sie ist erkennbar ein Derivat des Völkerrechtsidealismus und kopiert auch die offizielle Sanktionspolitik der Staatenwelt, wird dabei dann von den hiesigen Behörden mit demselben Instrument, einem Veranstaltungs-Boykott, traktiert –, ihr Kritikpunkt ist jedenfalls eindeutig die zionistische Politik und nicht die Natur oder Wesensart „des Juden“. Sie hat also nichts mit einer Position zu tun, wie sie etwa bei Heidegger vorliegt und weitgehend rehabilitiert ist: die Wesensbestimmung des Judentums mithilfe eines (in diesem Fall: nicht-biologistischen) Rassismus, der eine spezielle Degenerationsstufe in der allgemeinen „Seinsvergesseheit“, dem Grundübel der seinsphilosophisch unbedarften Menschheit, diagnostiziert und zum existenziellen Problemfall stilisiert. Eine Position übrigens, die für den heutigen Rassismus, der eher „kulturalistisch“ als „naturalistisch“ argumentiert, direkt anschlussfähig ist.

Der Antizionismus, der im Fall BDS gebrandmarkt wird, kommt aber von links und stört die Regierungslinie – das erklärt, warum rigoros durchgegriffen wird. Gegen linke Positionen zu mobilisieren, sofern sie sich außerhalb der geregelten Spannbreite des hiesigen Pluralismus bewegen und sich universitär bemerkbar machen, ist sowieso selbstverständlich. Ja es gibt sogar viel Verständnis, wenn konservative Bedenken gegen progressive Entwicklungen des Hochschulbereichs angemeldet werden. So wurde 2020 die Klage laut, dass dort eine linke Meinungshoheit die offene Debatte verhindere. Laut einem Bericht der „Welt am Sonntag“ (15.11.2020) begannen Uni-Professoren, ein Netzwerk zur Unterstützung von Forschern zu gründen, die aufgrund ihrer Thesen unter Druck geraten. Seit der ersten Februarwoche ist jetzt es offiziell als „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ etabliert (siehe FAZ, 10.2.21)

Die Wissenschaftler beklagen mangelnde Meinungsfreiheit, politischen Druck und Einschüchterung an den Hochschulen. Oft genüge bereits der Verdacht, sich mit Thesen und Arbeiten nicht der Kollegenmehrheit anzuschließen, um unter Druck zu geraten (so das Interview mit dem Bonner Soziologen Rudolf Stichweh, General-Anzeiger, 8.12.20). Auch der Deutsche Hochschulverband DHV warnte vor „Einschränkungen der Meinungsfreiheit an Universitäten“. Zur Erläuterung erfährt man in dem Interview mit dem Bonner Soziologen: „Vor allem Vertreter des rechts-konservativen politischen Lagers würden angegangen und eingeschüchtert.“ Stichweh beklagt, es „fehle ein entsprechender Diskurs mit den Vertretern des konservativen und rechten Spektrums“, dieser sei in Deutschland „sogar bewusst vermieden worden und gelte mittlerweile als verpönt“.

So wurde etwa – das eine von zwei Beispielen, die Stichweh anführt – die Vorlesung des AfD-Mitbegründers Lucke gestört, und zwar von einem „guten Dutzend Demonstranten“! Unglaublich, mehr als 12 Studenten kritisieren lautstark einen Professor in einer Lehrveranstaltung statt brav zuzuhören! Möglicher Weise, so wird aus den Beispielen gefolgert, droht eine „Cancel Culture“, vor der die Rechtspopulisten in den USA immer wieder warnen. Ein Thema, das Sarrazin hierzulande ja schon mit seinem millionenfach verkauften Gemeinplatz „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“ breit getreten hat.

Und warum gibt es diese bedauerliche Diskursverengung im deutschen Universitätsbetrieb? Der Soziologe-Professor klärt auf: Es ist natürlich „historisch begründet – seit dem Ende des Nationalsozialismus gab es bei uns keine relevanten Rechts-Intellektuellen mehr, außer Carl Schmitt und Martin Heidegger, die aber nicht an die Universität zurückkehren konnten.“ Ein typisch deutsches Defizit, so heißt es weiter, das andere Länder wie Frankreich oder Niederlande nicht kennen! Dabei ist die Bemerkung zu Heidegger falsch, die Lehrerlaubnis wurde ihm nur kurz entzogen, danach lehrte er munter an seiner alten Uni weiter. Und seitdem der ehemalige hochaktive Hochschulrektor das Zeitliche gesegnet hat, ist sein Geist in der deutschen Hochschullandschaft, wie gezeigt, immer noch heimisch. Wer da mit einer Antisemitismus-Resolution im philosophischen Seminar aufträte, würde natürlich sofort im Namen der bedrohten Meinungsfreiheit ausgeschlossen, wahrscheinlich unter hohem Erregungsgrad der Lehrkräfte.

Nachweise

Peter Decker, Martin Heidegger – Der konsequenteste Philosoph des 20. Jahrhunderts – Faschist. München (Gegenstandpunkt) 2020, https://de.gegenstandpunkt.com/.

Jan Eike Dunkhase, Beiträge zur neuen Heidegger-Debatte, H-Soz-Kult, 2017: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25610.

Ralf Fücks/Christoph Becker (Hg.), Das alte Denken der Neuen Rechten – Die langen Linien der antiliberalen Revolte. Frankfurt/M. (Wochenschau) 2020, www.gegneranalyse.de.

Klaus-Peter Hufer, Neue Rechte, altes Denken – Ideologie, Kernbegriffe und Vordenker. Weinheim (Beltz-Juventa) 2018.

Urheberrecht
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Grafikquellen   :

Oben     —   Martyrdom of Simon von Trent, depiction from the Nuremberg World Chronicle by Hartmann Schedel.

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Unten        —       Tristan Anderson and all the activists wounded or killed by Israeli Occupation Forces

  

 

 

 

 

 

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Laizismus in Frankreich

Erstellt von Redaktion am 12. Februar 2021

Das französische Dilemma

Wenn sich ein Staat an seine von ihm selbst verordneten Gesetze nicht halten will ? Dann stinkt es nicht nur in Paris !

Ein Artikel von Harriet Wolff

Immer stärker wächst sich staatliches Misstrauen in Frankreich zum Generalverdacht gegen Mus­li­m:in­nen aus. Wird der Laizismus Kampfbegriff?

Ich grüße Sie, herzlich willkommen!“ Abdelhamid Khamlichi, 50, steht in einem lichten Gebetsraum der Al-Fath-Moschee in Noisy-le-Sec, nicht weit entfernt von der Pariser Stadtgrenze. Wir sprechen per Video-Interview. Khamlichi ist von Beruf Sozialarbeiter, seit 30 Jahren engagiert er sich im Gemeindeleben von Moscheen. Mittlerweile ist er Imam, leitet als Vorbeter die religiösen Belange der Moschee. Seit einigen Jahren wirkt er auch als Gefängnisseelsorger. Er spricht mit Häftlingen, die beim „Islamischen Staat“ (IS) waren, „die psychisch zerstört sind und keine Ahnung vom Islam als Religion haben“. Khamlichi versucht, friedliches Denken zu fördern – „viele von ihnen waren noch nie in einer Moschee“. Solche Menschen seien fast nur in den sozialen Medien unterwegs, vor allem dort passiere die Radikalisierung. „Die Moscheen“, so sieht es dieser Imam, „spielen dabei, zumindest in Frankreich, nur selten eine Rolle.“

Khamlichi, ein zugewandter, kontaktfreudiger Mensch, verkörpert ein, in jener Schärfe, spezifisch französisches Dilemma. Er engagiert sich für eine humane, aufgeklärte Form des Islam. Doch was er tut, stößt zum Teil bei Staat und Gesellschaft auf Misstrauen, das sich nicht die Mühe macht, zwischen radikaler Einflussnahme und Dialogangebot zu unterscheiden. Immer stärker wächst sich jenes Misstrauen zum Generalverdacht gegen Mus­li­m:in­nen aus. Der wird befeuert durch islamophobe Sendungen auf privaten TV-Kanälen wie „CNews“ – mit dem rechten Querschläger und Figaro-Kolumnisten Éric Zemmour, der jüdisch-algerische Wurzeln hat.

Auch das Gesetz, über das die französische Nationalversammlung kommenden Dienstag nach wochenlangen heftigen Debatten abstimmt, wurzelt letztlich in antiislamisch geprägter Einflussnahme auf die Gesellschaft – vor dem Hintergrund einer islamistisch motivierten Attentatsserie in Frankreich seit 2015. Derzeit „Loi républicaine“ (republikanisches Gesetz) genannt, zielt diese Initiative der Parlamentsmehrheit von Präsident Emmanuel Macrons Regierungspartei LREM, die eigentlich alle weltanschaulichen und religiösen Gruppen adressiert, auf verschärfte Beobachtung und Sanktionierung islamischer Kulturvereine und Verbände. Ihnen unterstehen die Moscheen in Frankreich. Sie sind, ähnlich wie fast alle deutschen muslimischen Verbände, keine öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften und unterliegen dem Privatrecht. Auch die katholische und die protestantische Kirche sind im Nachbarland juristisch wie Vereine organisiert.

Gesetzlich, und das seit 1905, sind die Sphären der Religion und des Staates also strikt getrennt. „In der Realität angekommen, beginnen die Fragen“, so Éric Vinson. Der 50-Jährige ist pädagogischer Leiter des interreligiösen Programms Emouna an der Pariser Hochschule Sciences Po. „Es gibt hierzulande“, so Vinson, „keinen Konsens beim Thema Laizität.“ Den studierten Politikwissenschaftler beunruhigt, in welchem Zustand die französische Gesellschaft ist. „Ich sorge mich um mein Land. Wir dividieren uns gerade unversöhnlich auseinander, so wie die USA beim Thema Rassismus und Black Lives Matter.“ Der Islam müsse gleich behandelt werden wie alle anderen Religionen auch. Die immer wieder passierenden Attentate seien „furchtbar und unverzeihlich“, doch die übergroße Mehrheit der Muslime sei friedlich. „Der andauernde Aktionismus, das zur Schau gestellte Beschützertum Macrons vor dem Islam“, glaubt Vinson, „führt jedoch nur noch tiefer in eine gesellschaftliche Spirale der Angst.“

Imam Khamlichi hat vorletztes Jahr das Programm Emouna durchlaufen. Emouna bedeutet „Amen“ und wurde 2016 von Ver­tre­te­r:in­nen aller größeren Religionsgemeinschaften Frankreichs gegründet. Das Ziel: mehr Wissen übereinander, Austausch und Diskussion der Religionen. Buddhisten, Juden und orthodoxe Christen, ebenso wie Katholiken, Protestanten und Muslime, die meist in Gemeinden arbeitend, besuchen gemeinsam die Veranstaltungen an der Sciences Po – Frauen wie Männer. Nach einem knapp dreiwöchigen Studienkurs, der trotz der rigiden laizistischen Vorgaben des Staates dann doch diskret mitfinanziert wird vom Innenministerium, erhalten die Teil­neh­me­r:in­nen ein Zertifikat.

Éric Vinson, Leiter eines interreligiösen Programms „Ich sorge mich um mein Land. Wir dividieren uns gerade unversöhnlich auseinander“

Von Emouna hat Khamlichi für sich und seine Aufgaben in der Moschee al-Fath viel mitgenommen. „Es war ein ganz unverstelltes Eintauchen in andere Religionen, ein ganz praktischer interreligiöser Dialog“. Endlich habe man hier offen, durchaus auch kritisch und stets vertrauensvoll miteinander sprechen können. Das, so Khamlichi, sei leider sonst höchst selten im öffentlichen Raum. Es herrsche ein Klima der Verunsicherung, „Muslime werden vielerorts stigmatisiert.“ Knapp 9 Prozent der Bevölkerung gehören, so das unabhängige Pew Research Center 2016, dem Islam an – rund 5,7 Millionen. In Deutschland sind es knapp 5 Millionen. Schätzungen gehen in Frankreich von 30.000 bis 40.000 gewaltbereiten Salafisten aus. Glaubende wie Säkulare sind unter den Muslim:innen, die Mehrheit von ihnen mit algerischen oder marokkanischen Wurzeln.

Auf dem Papier vertreten werden sie vom CFCM, dem Rat des muslimischen Kults. Er ist der große islamische Dachverband in Frankreich, 2003 auf Betreiben des damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy gegründet – und von Anbeginn „zerstritten“, wie es Imam Khamlichi beschreibt. Seine These: Die aktuelle Regierung und Macron sprächen meist nicht mit den richtigen Leuten, „die einzelnen Verbände sind fast alle abhängig von ihren Heimatländern, werden von ihnen politisch gesteuert. Diese Verbandsmenschen lieben Frankreich nicht.“ Khamlichi kritisiert aber auch seine eigene Gemeinschaft. Viel zu selten engagierten sich gläubige Muslime sicht- und hörbar für einen fortschrittlichen Islam. Ein weiteres Problem sei, dass viele Leiter von islamischen Kulturvereinen wenig gebildet seien.

Was denkt der Imam über das „loi républicaine“, über die aktuelle Gesetzesinitiative der französischen Regierung? Er überlegt kurz, dann sagt er knapp: „Es ist ein Dokument des Misstrauens gegen uns Muslime.“ Der französische Staat habe bereits alle polizeilichen und juristischen Möglichkeiten, islamistischen Umtrieben ob im Netz, in der Moschee oder sonst wo nachzugehen und sie zu ahnden. Die Republik „braucht nicht mehr draufzusatteln, sie muss nur zielführender durchgreifen“.

Vieraugengespräch mit Macron im Élysée-Palast

So schätzt es auch Ghaleb Bencheikh, ein Franzose mit algerischen Wurzeln, Islamologe und Präsident der liberal eingestellten „Fondation d’Islam de France“ ein. Am Telefon stellt er glasklar fest: „Es gibt für den Islam keine wirklich zentralen Autoritäten – das sehe ich als Problem für die Auseinandersetzung mit dem Staat, nicht für den Reichtum der Religion. Der eine Islam existiert nicht.“ Der 60-Jährige, der letztes Jahr zum Vieraugengespräch mit Macron im Élysée-Palast eingeladen war, sieht gedankliche und handfeste Unschärfen bei der Haltung des Staatschefs zur Laizität.

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Xavier Chavane, katholischer Priester „Wir sind in so vielem so fortgeschritten, aber in unseren Identitäten verhaken wir uns gnadenlos“

Der ging in seinem Wahlkampf 2017 rhetorisch noch mit einer entspannteren, den Islam proaktiv einbindenden Form der Laizität hausieren – um liberal Denkende für sich zu gewinnen. Davon ist heute bei ihm nichts mehr zu spüren. Bencheikh drückt es so aus: „Macron will einen Islam nach Maß. Aber wie passt dieser autoritär anmutende Wunsch mit der eigentlich strikten französischen Laizität und dem Ziel zusammen, sich aus allen Religionen herauszuhalten?“

Regelmäßig wirbt Bencheikh in den Medien für einen aufgeklärten Islam – „der Versuch, den Islam zu verstehen, heißt nicht, ihn zu entschuldigen“. Diesen Eindruck habe er aber bei den Regierenden – „sie wollen sich nicht darauf einlassen, genauer hinzuschauen“. Das, was derzeit in Frankreich passiere, sei auf gewisse Weise vergleichbar mit dem Kulturkampf Ende des 19. Jahrhunderts, als sich im „Guerre des deux France“ die katholische Kirche und säkulare Kräfte erst mal zerlegten, bevor sie dann 1905 das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat aushandelten – das theoretische Fundament der französischen Laizität heute.

Quelle        :        TAZ         >>>>>       weiterlesen

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Verordnete Laizität per Gesetz

AUS PARIS EIN KOMMENTAR VON RUDOLF BALMER

Die Gesetzesvorlage, die derzeit von den französischen Abgeordneten in der Nationalversammlung debattiert wird, ist ein politisches Mehrzweckobjekt. Gemäß dem offiziellen Titel soll dieses Paket an Artikeln „die Republik“ und insbesondere ihre Laizität „stärken“. Staatspräsident Emmanuel Macron nannte im Oktober 2020 in einer Grundsatzrede im Vorort Les Mureaux die von ihm ausgemachte Gefahr für den Zusammenhalt der Nation beim Namen: „Wir müssen den islamistischen Separatismus anpacken.“

Sein Ausgangspunkt ist die terroristische Bedrohung durch radikalisierte Islamisten. Noch unter dem Schock der Ermordung des Lehrers Samuel Paty, der zuvor auf Netzwerken mit vollem Namen angeprangert und bedroht worden war, soll es ein eigenes Delikt werden, wenn Ver­tre­te­r:in­nen des öffentlichen Dienstes in dieser Weise im Internet attackiert werden. Aus Sicht der Staatsführung besteht zudem das noch größere Risiko des „communautarisme“. Darunter sollen separatistische Bestrebungen von religiösen Gemeinschaften verstanden werden, die ihren Glaubensgeboten einen Vorrang vor den Gesetzen der Republik geben und ihre Anhänger so vom Rest der Gesellschaft isolieren.

Einer der zahlreichen Vorschläge in der Gesetzesvorlage geht daher in die Richtung, den obligatorischen Schulbesuch aller Kinder zu bekräftigen und den Unterricht in der Familie nur auf Ausnahmefälle zu reduzieren. In anderen Artikeln des Laizitätsgesetzes soll der Einfluss ausländischer Geldgeber, die den Bau und Unterhalt von Moscheen finanzieren, gemindert oder zumindest transparenter gemacht werden. Parallel zur Parlamentsdebatte hatte sich Macron mit den Repräsentanten des Rates des muslimischen Kults mühsam auf eine Charta der republikanischen Grundwerte und auf ein einheitliches Diplom für in Frankreich ausgebildete Imame geeinigt.

Quelle       :         TAZ          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen    :

Oben      —     Pariser Moschee 2006

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Unten        ––     Notre-Dame im November 2019 (nach dem Brand)

 

 

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Die absolute Absolution

Erstellt von Redaktion am 7. Februar 2021

Missbrauch in der katholischen Kirche

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Der oberste Gott ist immer der Staat – denn er bezahlt.

Eine Kolumne von Thomas Fischer

Im Schatten des Kölner Doms ist der Teufel los, die Aufklärung der örtlich-katholischen Missbrauchs- und Vertuschungsgeschichte stockt. Das Publikum debattiert derweil über Gutachten – die es gar nicht kennen kann.

Predigten

Ich muss gestehen, dass ich nicht zu den regelmäßigen Lesern des Blattes »Christ und Welt« (C & W) zähle, der »Wochenzeitung für Glaube, Geist und Gesellschaft«. Es fehlt mir an einer der drei genannten Profilvoraussetzungen. Wenn aber der Partner einer bekannten Münchner Rechtsanwaltskanzlei drei Seiten lang berichtet, er sei Opfer eines »Gewaltangriffs« des Erzbischofs von Köln geworden, bin ich natürlich elektrisiert wie alle anderen, die sich Tag für Tag im publizistischen Kampf gegen die allgegenwärtige Gewalt aufreiben: Die psychische und emotionale, die wörtliche und bildliche, die angedeutete und drohende, heimliche und gefühlsmäßige, akustische und sensitive, konkludente und sprachliche Gewalt hat ja Besitz ergriffen von der ganzen Gesellschaft, die so gern friedlich wäre, aber einfach nicht gelassen wird »in diesen Zeiten«. Dass jetzt sogar Kardinäle gewaltsam gegen Rechtsanwälte vorgehen, ist wirklich unerhört oder, um einmal eine ganz seltene Formulierung der objektiven Beschreibung zu zitieren, »eine neue Qualität«.

Wir lesen also und sind besorgt: »Das ist ein Gewaltangriff« in »C & W« vom 4. Februar. Auf allen drei Fotos sieht Herr Rechtsanwalt Wastl von Westpfahl Spilker Wastl (WSW) zum Glück unversehrt aus; das ist beruhigend. Der Gewaltangriff vom 30. Oktober 2020, so erfahren wir alsbald, bestand darin, dass der Kardinal Woelki aus Köln ein Gutachten, das WSW in seinem Auftrag erstellt hatte, »unter Verschluss« zu halten beschloss. Dieser Angriff hält seither an, was Rechtsanwalt Wastl verbittert und die deutsche Öffentlichkeit auf das Unterhaltsamste durch die Zeit des Heimbüros bringt, vor allem, seit der Kardinal zu Weihnachten verkündete, er entschuldige sich.

Na ja, nicht so direkt und nicht so, wie es »Bild« für weihnachtlich angemessen gehalten hätte, also mittels tränenüberströmten Herumrutschens auf den Fliesen des Doms plus Selbstgeißelung. Er entschuldigte sich dafür, dass die Schafe und Schafinnen seines Sprengels unter allerlei Vorwürfen leiden mussten, die auch gegen ihn, den Kardinal, erhoben wurden. Das war eine schöne Formulierung, deren Auslegung ein theologisches Consilium generale glatt drei Tage und Nächte lang beschäftigen könnte. Nach kurzer Atemstockung einigte sich die publizistische Laienschar auf die Interpretation, es tue dem Bischof leid, dass er Anlass für unberechtigtes Missvergnügen gegeben habe. Das ist zwar noch nicht ganz, was man als beispielhaften Anlass für eine donnernde Absolution ansehen könnte, lässt diesen Weg aber zumindest theoretisch offen.

Gutachten

Ach, das Gutachten! Es handelt sich um ein Werk (§ 631 BGB), dessen Anfertigung die Erzdiözese Köln bei der Münchner Kanzlei in Auftrag gegeben hat. Ein Folgeauftrag sozusagen, nachdem die Kanzlei zunächst in München und Freising und sodann auch in Aachen nach dem Unrechten sehen durfte. Als das Werk vollendet war und seine Abnahme verlangt wurde, trat ein, was Herr Wastl von WSW von der »C & W« als »Gewaltangriff« bezeichnete: Der Besteller machte zunächst Vorbehalte und dann Mängel geltend und weigerte sich, in das von der Kanzlei errichtete Gedankengebäude feierlich einzuziehen. Wer jemals ein Eigenheim errichtet und gewagt hat, das Werk eines Installateurs oder Dachdeckers nicht abzunehmen, weiß, dass »Gewaltangriff« den Eindruck emotionaler Erschütterung recht zurückhaltend beschreibt, welche der Werkunternehmer empfindet und alsbald den allerschärfsten Rechtsanwalt, den er kennt, in passende Worte kleiden lässt.

Nun handelt es sich beim hiesigen Werkstück um ein ganz besonderes, und die drei Handwerker, die es erstellten, kommen aus einer Meisterschule höchster wissenschaftlicher Kunst. Ein Michelangelo, lieber Leser, bemalt nicht die Zimmerdecke, damit der Papst sie anschließend mit Seidentapeten überklebt, da mag der Werkbesteller noch so mit der Schönheit hadern!

Das alles ist natürlich nicht geeignet, das Bedürfnis nach Klarheit zu befriedigen, welches allenthalben behauptet wird.

Das Gutachten für das Bistum Aachen sollte sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen durch Kleriker zwischen 1965 und 2019 aufklären und trug den Untertitel »Verantwortlichkeiten, systemische Ursachen, Konsequenzen und Empfehlungen«. Entsprechend war der Auftrag für das Erzbistum Köln formuliert. Das Aachener Gutachten umfasst über 500 Seiten; es ist anzunehmen, dass das Kölner Pendant ähnlich umfangreich ist. Der Kölner Erzbischof Kardinal Woelki veröffentlichte das Gutachten nicht, sondern beauftragte die beiden Strafrechtsprofessoren Matthias Jahn (Frankfurt) und Franz Streng (Erlangen-Nürnberg) mit einem methodenkritischen Gutachten zur Prüfung der fachlichen Qualität. Dieses Gutachten kam zu dem Schluss, dass die Münchner Kanzlei erhebliche methodische Fehler gemacht habe und dass ihr Gutachten teilweise tendenziös und daher fehlerhaft sei. Die Münchner Kanzlei wiederum wirft den beiden Hochschullehrern seither vor, ihrerseits methodische Fehler bei der Methodenüberprüfung begangen zu haben. Derweil hat die Diözese einen weiteren Gutachter, den Kölner Rechtsanwalt Björn Gercke, mit der Erstellung eines Zweitgutachtens beauftragt. Dieses soll am 18. März vorliegen. Das Publikum fiebert.

Das alles ist natürlich nicht geeignet, das Bedürfnis nach Klarheit zu befriedigen, welches allenthalben behauptet wird. Dies wiederum ist ein Boden, auf dem Verschwörungsfantasien blühen. Die entwirft ein jeder, wie er möchte und wie es ihm seine Voreinstellung nahelegt. Ganz überwiegend läuft das unter dem fiktiven Drehbuch »Mächtiger Kardinal versucht, Aufklärung zu verhindern«. Dass diese eher schlichte Geschichte einen erheblichen Realitätsgehalt hat, ist zu bezweifeln. Das gilt selbst unter der Bedingung, dass man von Verantwortlichen der katholischen und anderer Kirchen einiges an Dreistigkeit oder bigotter Selbstgerechtigkeit gewohnt ist.

Das Ganze wird auf einem Niveau abgehandelt, auf dem ernsthafte Zweifel am Sachverhalt gar nicht mehr als diskutabel angesehen, vielmehr öffentlich Schlachten um das gebotene Maß von »Abscheu« und moralischer Verurteilung der »Verantwortlichen« gefochten werden.

Das Gutachten von WSW zum Erzbistum Köln kennen derzeit nicht viele; es ist nicht öffentlich. Rechtsanwalt Wastl deutete im »C & W«-Interview an, er habe einen (durchsetzbaren) rechtlichen Anspruch darauf, das Werk zu veröffentlichen. Das mag klären, wer will oder muss. Öffentlich ist jedenfalls das Gutachten zum Bistum Aachen; es steht unter anderem auf der Homepage von WSW. Öffentlich ist auch das Gutachten von Jahn und Streng. Es ist kurz, übersichtlich und auftragsgemäß aufs Thema »Methodenkritik« beschränkt.

Es geht also bislang noch gar nicht darum, ob die Inhalte stimmen, die Tatsachenermittlung sachgerecht und die Schlussfolgerungen plausibel sind. Es geht nur ums theoretische Handwerkszeug. Bei allem anderen kann schon deshalb niemand mitreden, weil das Werk ja gar nicht bekannt ist. Es ist auch stark zu bezweifeln, dass die Öffentlichkeit, die sich seit 15 Monaten über die Nichtveröffentlichung erregt, es kaum erwarten kann, die 511 Seiten zu lesen. Das Ganze wird vielmehr auf einem Niveau abgehandelt, auf dem ernsthafte Zweifel am Sachverhalt gar nicht mehr als diskutabel angesehen, vielmehr öffentlich Schlachten um das gebotene Maß von »Abscheu« und moralischer Verurteilung der »Verantwortlichen« gefochten werden. Am Rande geht es auch um viel Geld, um Schadensersatzforderungen, um den Zusammenhang von Zölibat, Hierarchie, Homosexualität und Pädophilie, um Biografien und Selbstbilder, Verhältnis von Kirche und Staat.

Ich will hier nur ein paar Bemerkungen zum strafrechtlichen Teil des WSW-Gutachtens für das Bistum Aachen machen, das insoweit möglicherweise vom Kölner Gutachten nicht sehr verschieden ist. Er erscheint mir suboptimal. Soweit »Grundzüge der Entwicklung des Sexualstrafrechts« abgehandelt werden (S. 102 ff.), benötigt das Gutachten vom Hochmittelalter bis zum StGB von 1871 genau neun Zeilen. Dann geht’s unter Erwähnung des Jahres 1943 zügig weiter mit den Sechzigerjahren. Sachdienliche Erkenntnisse erlangt der Leser hier nicht; das gilt für den Abschnitt »Stellung des Opfers« gleichermaßen.

Quelle     :          Spiegel-online         >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben      —       Rainer Maria Kardinal Woelki (links) legte als neuer Erzbischof von Köln den Treueeid gegenüber Staat und Land in der Staatskanzlei NRW ab. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (mitte) und Staatssekretärin Jacqueline Kraege (rechts) als Vertreterin des Landes Rheinland-Pfalz beurkunden die Eidesleistung.

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Jedes Leben ist lebenswert

Erstellt von Redaktion am 5. Februar 2021

Der assistierte Suizid wird kommen

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Von Hans Bartosch

Doch in evangelischen Einrichtungen sollte er nicht möglich sein. Auch wegen der deutschen Geschichte. Ein Plädoyer

Der legale assistierte Suizid wird kommen. So hat es das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 26. Februar 2020 vom Gesetzgeber eingefordert. „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und in Anspruch zu nehmen“, so die Begründung des Bundes­verfassungsgerichts. Das wird nun umgesetzt, gewiss mit hohen Auflagen. Aber wir werden es mit einer erheblich veränderten Rechtspraxis zu tun haben. Es drängt sich daher aktuell eine weiter gehende Frage auf: Wie reagiert die evangelische Kirche?

Darf oder gar soll auch in evangelisch-diakonischen Krankenhäusern, Altenheimen, Hospizen, ambulanten Diensten, Wohneinrichtungen von Menschen mit sogenannten Behinderungen, soll auch dort assistierter Suizid möglich sein? Weil Bewohnerinnen, Hospizgäste und Patienten dies schlicht wollen und demnächst ein Recht darauf haben. Diese Frage ist nicht nebensächlich. Wir sprechen hier über den Lebens-und Arbeitsalltag von weit mehr als einer Million Menschen sowie die PatientInnenperspektive von einer weiteren Million Menschen.

Für katholische Einrichtungen stellt sich diese Frage nicht. Da gibt es ein ganz klares Nein. Für die evangelische Kirche aber haben namhafte TheologieprofessorInnen sowie Diakoniepräsident Ulrich Lilie in einem viel beachteten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 11. Januar etwas gänzlich anderes gefordert. Im Namen der Selbstbestimmung und der Freiheit müsse assistierter Suizid gerade auch in der Diakonie möglich gemacht werden, natürlich in sorgfältiger qualitätsvoller Prüfung und möglichst auch begleitet durch besonders ausgebildete Seelsorgerinnen und Berater. Auch Landesbischof Ralf Meister unterstützt diese Position.

Ich persönlich sage zu diesen Vorschlägen: Nein. Als Christ sagt mir meine persönliche Glaubensvorstellung: Es gibt vor Gott kein nicht lebenswertes Leben. Es gibt ausschließlich lebenswertes Leben. Menschen, die sich suizidieren, sind zu achten und moralisch null und gar nicht zu verurteilen. Kirche und Diakonie bleiben aber gut beraten, von jeglicher Mitwirkung an assistiertem Sui­zid die Finger zu lassen.

Ist dies herzlos? Diese Frage ist absolut berechtigt. Gar nicht so selten höre ich als Krankenhaus-und Hospizpfarrer:„Bitte sorgen Sie mit dafür, dass mein Leid bald ein Ende hat, so wie in Holland, so wie in der Schweiz. Warum denn geht das hier nicht!?“ Nein, ich predige dann niemandem, sie müsse durchhalten, oder gar Gott würde ihn ablehnen, wenn sie den Suizid begehren. Weiß ich denn, wie ich selbst, wenn ich wirklich und schon lange gar nicht mehr kann, wie ich dann schreien, elendig sprechen würde?

Was ich aber aus jahrzehntelanger klinischer Praxis weiß: Niemand muss unendlich und mit unerträglichen Schmerzen weiterleben, wenn er oder sie das nicht will. Es gibt so viele Mittel. Ärztinnen und Ärzte wissen von Jahr zu Jahr mehr über die Segnungen der Morphiumtherapie. Und sie trauen sich immer mehr, damit klug umzugehen.

Unser Problem in Deutschland ist viel weniger der nichtselbstbestimmte Tod, sondern der einsame Tod oder der als zu früh erlebte Tod oder jener Tod vor dem Tod, den viele demenzerkrankte Menschen zu erleben und deren Familien zu erleiden haben. Die Hospizbewegung und die weltweite palliative care arbeiten mit großer Weisheit und Mut daran, genau an jenen Toden nicht vorbeizuschauen. Politisch ist es unabdingbar, diese Entwicklungen noch viel weiter auszubauen, deren Finanzierung zu sichern und die Ausbildungen medizinischer und sozialer Berufe daraufhin noch weiter zu verbessern.

Quelle        :        TAZ       >>>>>        weiterlesen

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Grafikquelle        :      Suizide    –  кримзон VI

 

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Astrologie und Religionen

Erstellt von Redaktion am 6. Januar 2021

Sind auch nicht rationaler

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Eine Kolumne von Margarete Stokowski

Unwahrscheinlich, dass die Konstellation im Weltall in der Minute, in der man geboren wurde, einen Einfluss auf die Persönlichkeit hat. Und doch: Schlimmer als der neue Astrologie-Trend ist die Kritik daran.

Frohes neues Jahr! Sind Sie auch so froh, dass dieses eklige 2020 endlich vorbei ist? Ich auch, muss aber sagen: Wie bescheuert ist das denn? Dass man denkt, irgendwas wird besser, weil sich das Datum ändert, oder anders gesagt, weil jetzt eben die Erde noch mal um die Sonne rum ist, aber ehrlich gesagt auf derselben Bahn weiterläuft wie zuvor. Womit wir auch schon beim Thema wären: dem Blick in die Sterne. Seit ein paar Jahren gibt es unter Leuten, die ungefähr meiner Generation angehören und oft auch Feministinnen und/oder queer sind, einen Trend, der hin zur Beschäftigung mit Astrologie geht. Modelabels drucken Kleidung mit Horoskop-Motiven, Astro-Apps werden befragt, Instagramfilter mit Löwe- oder Waagesymbol übers Selfie gelegt, in Dating-Apps suchen manche Leute nur nach bestimmten Sternzeichen, man kann das so einstellen.

Um es gleich zu sagen: Ich glaube nicht an Horoskope. Ich halte es für extrem unwahrscheinlich im Sinne von ausgeschlossen, dass irgendeine Konstellation im Weltall in der Minute, die in der Geburtsurkunde vermerkt wird, einen Einfluss auf die Persönlichkeit haben soll. Trotzdem finde ich die meiste Kritik am Astrologie-Trend ähnlich albern wie Astrologie selbst oder manchmal auch deutlich schlimmer. Ich glaube nicht (das wird jetzt manche überraschen), dass Leute, die Astrologie für Teufelszeug erklären, prinzipiell sexistisch oder rassistisch sind. Es gibt diese Ansicht, weil Astrologie eben traditionell eher von Frauen und oft von nicht weißen Menschen betrieben wird – was aber nicht immer so war: In den Anfängen der Naturwissenschaften waren Astrologie und Astronomie noch nicht so getrennt wie heute, es gab lange Zeit Hofastrologen im Dienste ganz unterschiedlicher Herrscher, und Ronald Reagan verschob öfter mal Termine, wenn es astrologisch nicht passte.

Freitag, der 13., ist auch Zahlenmagie

Jedenfalls: Leute, die Astrologie für dusselig und gefährlich erklären, müssen nicht unbedingt sexistisch oder rassistisch sein, sie machen es sich oft allerdings zu einfach. Denn erstens glauben sehr viele Leute an irgendeine milde Art von Zahlenmagie, siehe »Freitag, der 13.« oder siehe oben die Freude, dass 2020 vorbei ist, und sie schaden damit niemandem. Zweitens sind sich Leute, die ihr Horoskop zurate ziehen, oft vollständig bewusst, dass es sich nicht um eine wissenschaftlich abgesicherte Faktenlage handelt. Die sternengläubigen Leute, die ich kenne, gehen ihrem Glauben meist mit einer Mischung aus Interesse, Ironie und Selbstfürsorge nach, und ich kann es ihnen nicht übel nehmen, zumal sie mit ihrem Hobby nicht Gefahr laufen, sich selbst für überdurchschnittlich rational und ideologiefrei zu halten: Sie wissen üblicherweise, dass nichts die Glaubwürdigkeit von Horoskopen belegt.

MJK63210 Margarete Stokowski (Frankfurter Buchmesse 2018).jpg

Und drittens: Bei Leuten, die sich hobbymäßig mit Astrologie beschäftigen, ist es eher unwahrscheinlich, dass sie gleichzeitig religiöse FundamentalistInnen sind – obwohl es natürlich Verbindungen zwischen Religionen und Astrologie gibt, und auch zwischen Esoterik und Faschismus, aber eher nicht bezüglich der Frage, wie viel ein Leben abhängig vom Sternzeichen wert ist. Es gibt auch Ingenieure, die Mörder werden, aber nicht, weil das irgendwie im Ingenieurtum schon drinstecken würde. Viertens, aber das nur kurz: Die oft als Gegenpol zu Astrologie herangezogene Naturwissenschaft ist auch nicht frei von Ideologie.

Es gibt gefährliche Esoterik, z.B. Impfgegnerschaft, und es gibt Überschneidungen zwischen Astrologie und Verschwörungstheorien, aber es gibt auch Überschneidungen zwischen Bio-Ernährung und Verschwörungstheorien und Bio ist dadurch nicht schlechter. Ein besonders lustiges Beispiel für politisch unsympathische Astrologie habe ich in einem Podcast gefunden (ca. 21:05), der sich mit der Coronakrise beschäftigte: »Merkur regiert unsere Kommunikation und die Medien und während er sich mit Neptun verbindet, ist uns klar, dass man uns nicht die Wahrheit sagt. (…) Seien Sie sich also bewusst, dass die Fakten nicht die Fakten sind, wenn sie von den Medien kommen!« Was aber, wenn ein astrologisches Medium das sagt?

Religionen sind nicht rationaler als Astrologie

Quelle        :        Spiegel-online        >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben        —        Tableau pour servir à l’étude de l’astrologie et de la géomancie (par le Mage Edmond). Cette représentation s’inscrit dans une très vieille tradition selon laquelle le zodiaque tout entier s’inscrit dans l’ensemble du corps humain, chaque constellation gouvernant une partie spécifique.

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Unten       —       Margarete Stokowski at the Frankfurt Book Fair 2018

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Überleben der ruth weiss

Erstellt von Redaktion am 30. Dezember 2020

Erinnerung an Beat-Poetin ruth weiss

Pierre-Auguste Renoir: In the Summer

Auguste Renoir – En été – La bohémienne

Von Benno Schirrmeister

Die Beat-Poetin ruth weiss floh aus dem Nazi-Deutsch ins Englische. Von den Beatniks ausgegrenzt, hat sie das Vergessenwerden schon hinter sich.

ruth weiss soll gestorben sein, am 31. Juli dieses verkackten Jahres schon, in Albion, einem Kaff in Kalifornien. Aber das wollen wir mal lieber nicht glauben. Warum sollte ausgerechnet die Göttin des Beat sterblich sein? Diese großartige kleine Frau mit den leuchtend grünen Haaren? In ihrer Waldhütte? Wozu? „There is no such thing as an end“, sagt ruth weiss ja selbst im biografischen Film „The Beat Goddess“, der im November beim Mendocino-Festival lief: So etwas wie ein Ende gibt es nicht. Und sie glaube an die stetig fort sich drehende Spirale. Wie könnte sie dann sterben?

Geboren wird sie im Frühsommer 1928 als Ruth Elisabeth Weisz in Berlin, 1933 siedelt die Familie um nach Wien. Dort dann Schulbesuch, heimisch geworden, Prägungen. Bis zur Flucht.

Wien war die Geburtsstadt ihres Vaters gewesen: Oskar Weisz, aus guter ungarisch-jüdischer Familie und Journalist, hatten die Nazis selbstverständlich sofort aus Wolffs Telegraphischem Bureau entfernt, der Top-Presseagentur der 1920er. Kein Job mehr, kein Geld, also zurück ins Elternhaus, Neunter Bezirk, es gibt Schlimmeres.

Die orthodoxe Schwiegermama nimmt die Familie auf, verwöhnt das fraglos hochbegabte Kind, das schon mit fünf Jahren nicht nur lesen kann, sondern sogar erste Gedichte schreibt, eines ist erhalten, von einem Bären, der hin und her geht, braune Augen hat, und schon damals wie jeder gute Beatnik zu gar nichts taugen wollte.

Sie zankt sich mit der Mutter Fani Zlata, geborene Glück aus dem slawonischen Daruvar, in Jugoslawien. ruth weiss hat auch verwandtschaftliche Beziehungen zu Roma vermutet. An der Middle School in New York wird sie Anfang der 1940er trotzdem wegen ihrer so deutschen Herkunft als Nazi gemobbt werden. Unschuldige Kinder eben.

Grüne Haare als Zeichen des Friedens

Umzug nach Iowa, Umzug nach Chicago. Als die Eltern nach dem Krieg kurz nach Europa zurückziehen, muss sie noch mit, ein verlorenes Jahr im Internat. Ab 1949 färbt sie dann die Haare grün – nach dem Vorbild des märchenhaften Films „The Boy with Green Hair“, in dem ein Kriegswaise zum Propheten des Friedens auserkoren ist. Und zum Zeichen seiner Berufung wachsen ihm die Haare grün, natürlich in Technicolor.

Auch sonst geht sie jetzt eigene Wege. Das heißt vielmehr: Sie trampt. Nach New York. Nach New Orleans. Dass San Francisco ihr Ziel ist, wird ihr erst klar, als sie dort ankommt, 1952. Für volle 30 Jahre wird das ihre Stadt sein.

Dass weiss das Personalpronomen „i“ in ihrer Dichtung nur als Minuskel nutzt, ist poe­to­lo­gisch motiviert, dass sie ihren eigenen Namen konsequent kleinschreibt, politisch: ruth weiss hat ihn so ab den 1950ern zum Protestzeichen gemacht, gegen die Law-and-Order-Mentalität ihrer Heimat, die vergeblich versucht hatte, sie auszulöschen.

Das Verbrechen, entronnen zu sein

Sie habe keine Geschwister, so hat ruth weiss ihren Antrieb geschildert, „and all my relatives died in concentration camps“. Alle meine Verwandten sind in Konzentrationslagern gestorben: „So my work is the thing that will continue my life“ – mein Werk wird mein Leben fortsetzen. Man kann auch sagen: rechtfertigen. Denn da bleibt das Gefühl einer Schuld, „my concentration camp guilt. that / i got away“, wie es 1993 in „full circle“ heißt. Das Verbrechen, entronnen zu sein – dieses unwahrscheinliche Leben. Dieses Überleben. Darf das jemals aufhören?

Sie hat immer weitergemacht. Hat täglich Bier und Eiscreme gefrühstückt, um gesund zu bleiben. Hat produziert, unermüdlich; unbändig: Sie explodiere in alle möglichen Medien, so ihre eigene Beschreibung, aber stets sei es Dichtung. Noch in diesem Frühjahr hatte sie Auftritte, mit 91 Jahren; nicht mehr als Tänzerin und Performerin, wie früher, in ihrem eigenen Kunstfilm „The Brink“ oder in denen von Dalí-Schüler Steve Arnold, die eine eigenständige Ästhetik der Queerness überhaupt erst denkbar gemacht haben. Aber immer noch mit umwerfender Präsenz.

Sie hat halt einfach auf die Spirale vertraut, that keeps on going. Klar doch. Selbstverständlich hört sich das nach C.-G.-Jung-Geraune an und westküstenesoterischem New-Age-Gebrasel. Dem neigt sie wirklich zu: „AQUARIUS is here to steer us“, heißt es etwa im Gedicht „speak for yourself“ von 1995, und das wird im Band „a fools journey“ korrekt übersetzt als „der WASSERMANN lenkt uns“. Aber meist ist Sinn in Lyrik eine fragwürdigere Kategorie.

Von der source zur Sour Sauce

Und das gilt in besonderem Maße für Gedichte von ruth weiss, die sie zu großen Zyklen arrangiert hat, wie im Band „Light“ von 1976, der in fast hegelianischer Gliederungsfreude daherkommt, oder wie beim über Jahrzehnte komponierten „Desert-Journal“ (1977), das sich so sinnig wie symbolträchtig in 40 Tage unterteilt.

Da stellt dann ein Tag – der dritte – eine klanglich-analytische Verbindung von der Suche nach der Quelle, also der source zur Sour Sauce her, die dann, wie eine Göttin, um Beistand angefleht wird: „SOUR SAUCE / SOUR SAUCE / MARINATE THIS LIFE“.

Oder, auch schön: Am „Siebten Tag“ trennt kaum mehr als ein Zeilensprung ein Epigramm aus dem „Cherubinischen Wandersmann“ des barocken Mystikers Angelus Silesius von einem absolut praktikablen Rezept für Kaffeelikör. Die Bedeutung ergibt sich auch aus dem dichten Klangbild solcher Verse, der Assonanz, den Binnenreimen, dem Rhythmus, der über die Textfläche hinausdrängt. Auf die Bühnen, dorthin, wo sie sich im Zusammenspiel mit den Instrumenten in Musik verwandelt.

Sehr Österreich, viel Balkan

Quelle       :     TAZ-online          >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben      —   Auguste Renoir – En été – La bohémienne – Google Art Project

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Quarantäne und Kultur

Erstellt von Redaktion am 26. Dezember 2020

Erzählen aus der Ferne

Haweis - Griselda's Sorrow.jpg

Von Martin Hielscher

Quarantäne und Kultur – Giovanni Boccaccios „Decamerone“ kämpfte literarisch gegen Pest und Tod. Auch in der heutigen Pandemie kann nichts die unmittelbare körperliche Nähe ersetzen

Die hundert Novellen des „Il Decamerone“ von Giovanni Boccaccio (1313–1375), die zwischen 1348 und 1353 entstanden sind und deren teilweise Vorveröffentlichung, wie Boccaccio selbst am Anfang des vierten Tages ausführt, Neid erregte und ihm Vorwürfe empörter Zeitgenossen einbrachte, haben nicht nur die Erzählform der Novelle etabliert. Die Gesamtstruktur des Prosawerkes mit ihrer Verbindung aus einer Rahmenhandlung und der zyklischen Anordnung der Novellen ist zum Vorbild für viele andere, ähnlich konstruierte Werke der Weltliteratur geworden, von Chaucers „Canterbury Tales“ bis zu Goethes „Ausgewanderten“ und darüber hinaus. An zehn Tagen werden von zehn jungen Patriziern, sieben Frauen und drei Männern aus Florenz, die sich in ein weitläufiges Landhaus mit schönen Gartenanlagen zwischen Florenz und Fiesole zurückgezogen haben, jeweils zehn Novellen zu einem Thema, das von der den Tag regierenden Person vorgegeben wurde, reihum erzählt, also jeden Tag zehn Novellen. Dieses Buch hat nach Dante mit seiner „Divina Commedia“ den Bereich des literarisch Darstellbaren und Erzählbaren erweitert wie nie zuvor, eine ebenso feine wie zugängliche Sprache dafür geschaffen, und es sorgt zugleich für Aufsehen bei der immanenten Bestimmung seiner Adressaten und seiner Intention. Denn es sind die lesenden Frauen, an die sich die Novellen des „Decamerone“ richten, da sie „des Trostes bedürfen“, und es ist sicher auch ein Signal, dass sie in der Erzählgesellschaft, die sich vor der Pest auf dem Land hinter Mauern verschanzt hat, die Mehrheit bilden: „Und wer wird wohl leugnen, dass es richtiger ist, diesen Trost, wie wenig oder wie viel er bedeuten mag, den holden Damen als den Männern zu spenden? Sie tragen voll Furcht und Scham die Liebesflammen im zarten Busen verborgen, und wie viel größere Gewalt geheime Gluten haben als offenbare, das wissen die, welche es erfahren. Überdies sind die Frauen, abhängig von Willen, Gefallen und Befehl ihrer Väter, Mütter, Brüder und Gatten, die meiste Zeit auf den kleinen Bezirk ihrer Gemächer beschränkt, und es ist unmöglich, dass sie immer heiter sein können, während sie den ganzen Tag fast müßig sitzen und im selben Augenblick, wollend und nichtwollend, widerstreitende Gedanken in sich beherbergen.“ Die Frauen sind in der vom Patriarchat dominierten Gesellschaft zu einem fremdbestimmten, eingehegten, reglementierten Leben gezwungen, in eine Häuslichkeit gedrängt, zu einem weitaus passiveren Dasein verdammt als die Männer und deshalb auch unerfahrener, unberatener als diese. Boccaccios Novellen verfolgen daher auch eine Absicht, die über Trost, Unterhaltung und Feier des Lebens angesichts des Massensterbens, das die Pest 1348 in Florenz anrichtet, hinausgeht: „Aus ihnen werden die Damen, welche sie lesen, gleichermaßen Lust an den spaßhaften Dingen, die darin vorkommen, schöpfen können als auch guten Rat und Belehrung, was zu fliehen und was zu erstreben ist.“ Immer sorgt sich Boccaccio um die Empfindsamkeit der Leserinnen, um die Gefahr, dass sie sich der vernichtenden Realität der Pest auch im Nacherleben nicht erwehren können, und erhofft sich, dass die vielfach erheiternden und glückhaften Episoden des „Decamerone“ Lebensfreude und Lebensklugheit gleichermaßen befördern. So gesehen, ist das ganze Werk ähnlich wie die Erzählsituation in den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht ein Erzählen gegen den Tod, den physischen, den geistigen, den psychischen.

Der Gedanke liegt nahe, dass die Struktur des „Decamerone“, die zehn mal zehn Novellen, von zehn Personen an zehn Tagen erzählt, in ihrer einleuchtenden Ordnung wie ein Bollwerk gegen das willkürliche, massenhafte, chaotische und anonyme Sterben, das vor nichts und niemandem haltmacht, die Idee einer sinnhaften Logik und Schönheit errichtet, wie die Zahl selbst, die von jeher für Vollkommenheit steht. Die meisten Novellen loben und feiern Charakterstärke, Geschick, Geistesgegenwart und eine gewisse Schlitzohrigkeit, vor allem aber die Macht der Liebe, nicht zuletzt die der körperlichen Liebe, und hier betonen sie insbesondere die Notwendigkeit einer angemessenen Triebbefriedigung, da sonst Trübsinn und Melancholie, ja der Tod drohten. Dabei zelebrieren die Novellen die sexuelle Überlegenheit der Frauen, besonders komisch in der siebenten Geschichte des zweiten Tages, die über das Schicksal Alatiels berichtet. Alatiel ist die Tochter des Sultans von Babylon, deren Anreise zum König von Algarbien, dem sie von ihrem Vater als Frau zugedacht ist, sich allerdings verzögert und so umständlich gerät, dass sie über einen Zeitraum von vier Jahren an immer neue Orte verschleppt wird und in immer neue Hände gerät und mit insgesamt acht Männern vermählt wird und mit ihnen schläft, bis sie endlich durch glückhafte Umstände zu ihrem Vater zurückgebracht wird. Er schickt sie ein zweites Mal, diesmal erfolgreich, zum König von Algarbien, dem sie ebenso erfolgreich als Jungfrau gegenübertritt, obwohl sie, wie Boccaccio schreibt, „vielleicht zehntausendmal beschlafen worden war“. Nachdem die Geschichte, von Panfilo erzählt, verklungen ist, heißt es: „Die Damen hatten häufig geseufzt, als sie die mannigfachen Schicksale vernahmen, welche die schöne Alatiel betroffen. Wer weiß aber, was die Ursache jener Seufzer war? Vielleicht war die eine oder andere unter ihnen, die aus Verlangen nach ebenso zahlreichen Hochzeiten nicht minder als aus Mitleid seufzte.“

In dem geschützten Rahmen des Erzählrituals, das durch gemeinsames Essen, Spielen, Singen und Tanzen ergänzt wird und eine gute Versorgungslage voraussetzt, kann sich die Sehnsucht nach Liebeserfüllung, nach einer glückhaften Partnerwahl, nach Unversehrtheit und Anerkennung, Belohnung und Wohlstand Ausdruck verschaffen, vor allem die Hoffnung auf Überwindung des Schreckens, die in vielen Novellen insofern beschworen wird, als sie immer wieder auf die eine oder andere Weise, schon vorgegeben durch die Tageslosung, von dem erfolgreichen Kampf gegen ein Meer von Widrigkeiten erzählen.

Es ist ein kontrolliertes, intentionales, geselliges und doch geschütztes, abgeschiedenes Erzählen aus der Rückschau auf die Schrecken der Pest, die am Anfang des „Decamerone“ schonungslos beschrieben werden, das hier inszeniert wird und das nicht nur die Hoffnung auf ein Weiterleben und auf die Unbesiegbarkeit der (menschlichen) Natur (Eros) nährt, sondern auch die Unberatenheit vor allem der Frauen durch eine Art poetischer Lehre aufheben will.

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Die Seuchen, die Quarantäne, die Flucht und Abschottung und ein Erzählen, meist aus der Rückschau, das eine Art Chronik, aber auch ein Gegenanerzählen, ein Zukunftsentwurf sein kann, gehören zusammen. Bei Boccaccio wird auf zwei Ebenen ein Gegenentwurf zu den Schrecken der Pestpandemie geschaffen: zum einen in der geselligen Erzählrunde selbst, die gleichberechtigt und spielerisch, heiter und transparent, förderlich und utopisch angelegt ist, zum anderen im Gehalt der Novellen, die letztlich das irdische und humane, egalitäre Glück beschwören. Man könnte diese Struktur als Maßstab nehmen, um literarische Reaktionen auf Pandemien zu betrachten.

Camus’ Roman erlaubt keine Flucht wie Boccaccios Novellensammlung

Sechshundert Jahre nach Boccaccio wirkt der Roman „Die Pest“ (1947) von Albert Camus, der nicht unmittelbar auf eine reale Epidemie reagiert wie Boccaccios Werk, sondern dessen Seuchenpanorama oft als Metapher für die Heimsuchung durch den Nationalsozialismus gelesen wird, der tapfere Widerstand etwa des Dr. Rieux als Bild für den Kampf der Résistance gegen den deutschen Faschismus, dennoch hoffnungslos. Die Menschen wollen zunächst gar nicht glauben, was da über sie hereinbricht, und erweisen sich dann als kaum in der Lage, die Folgen der Quarantäne, der Abriegelung der Stadt Oran und die nötigen Ausgangsbeschränkungen zu ertragen: „Plagen sind ja etwas Häufiges, aber man hat Mühe, es ist schwer, an Plagen zu glauben, wenn sie über einen hereinbrechen. Es hat auf der Erde genauso viele Pestseuchen gegeben wie Kriege. Und doch treffen Pest und Krieg die Menschen immer unvorbereitet … Wenn ein Krieg ausbricht, sagen die Leute: ‚Das wird nicht lange dauern, das ist doch zu dumm.‘ Und zweifellos ist ein Krieg mit Sicherheit zu dumm, aber er dauert trotzdem lange. Dummheit ist immer beharrlich, wenn man nicht immer an sich selbst dächte, würde man das merken. In dieser Hinsicht waren unsere Mitbürger wie jedermann, sie dachten an sich selbst, anders gesagt, sie waren Humanisten: Sie glaubten nicht an die Plagen. Eine Plage ist nicht auf den Menschen zugeschnitten, daher sagt man sich, dass sie unwirklich ist, ein böser Traum, der vorübergehen wird. Aber er geht nicht immer vorüber, und von einem bösen Traum zum nächsten sterben Menschen, und die Humanisten zuerst, weil sie sich nicht vorgesehen haben.“

Quelle     :        TAZ       >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben        —     Illustration from Mary Eliza Haweis‘ Chaucer for Children (1882).

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Die reine Wahrheit

Erstellt von Redaktion am 26. Dezember 2020

Menschen im Frohlockdown!

Von René Hamann

Die wahre Weihnachtsgeschichte anno domini 2020 nach Lukas 2, 1–20. Aktueller denn je! Jetzt auch mit dem großen und hohen C.!

1 Und es begab sich, dass sich nichts begab. Es geschah aber, dass nichts geschah. Obwohl nicht überhaupt nichts, eher fast nichts. Also, nahezu nichts. Klar, Kaiser Augustus hatte den Befehl erlassen, den ganzen Erdkreis in Wartelisten für die Apotheke einzutragen, und die Bundesliga fand immer noch statt, aber sonst geschah eher: wenig. Fast gar nichts. Also quasi überhaupt nichts.

2 Trotzdem: Es war Weihnachten. Frohlockdown, Anno Domini 2020. Und die Darts-WM, natürlich. Und Weihnachten verlangte nach einer Geschichte, und sehet, hier soll sie kommen über euch und die Ihrigen. Und diese Aufzeichnung der Geschichte des heiligen Festes, die auch die erste war, jedenfalls an dieser Stelle, denn immer noch war Assad Statthalter in Syrien. Aber das tut nicht so viel zur Sache. Denn überall, wo es noch ging, ging jeder in ihre oder seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. Also, noch vor dem Frohlockdown.

3 Außer Josef, der war wegen Angst vor der Quarantäne mitsamt seiner Verlobten Maria gleich ganz zu Hause geblieben. Stay home, stay rebel. Nur, dass die beiden eben in bescheidenen Verhältnissen lebten. Und sehr romantisch, mit Tieren und Stroh und so. „Die schönste Zeit meines Lebens fand im Lockdown statt“, dachte Josef noch am Vorabend der Geburt, und in der Nacht träumte er von den entblößten Brüsten seiner Verlobten; allerdings träumte er auch von Gott, derdiedas ihm vermittelte, dass nicht er der Vater des kommenden Kindes war, sondern eben Ersiees, also Gott höchstüberpersönlich.

4 „Wie er mir vor einem Jahr sagte, ‚in einem Jahr werde ich dich geschwängert haben!‘, und ich so voll lachen musste“, sagte Maria am nächsten Morgen oder an einem anderen Tag, entweder zu ihm oder ihm, also zu Josef oder Gott, einer der beiden Liebhaber wird es schon gewesen sein. Beide hatten sich die Chance auf Vaterschaft einfach nicht nehmen lassen wollen. Übrigens die einzige Stelle, in der Maria Text hat, da vergleiche man mal die Originale, da hat Maria absolut keinen Text.

5 Aber ja. So fing sie also an, die Weihnachtsgeschichte. Und es geschah also, dass sie dort waren, da, wo sie waren, und da erfüllten sich die Tage, dass sie gebären sollte, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen – was irgendwie ja ein zweites Kind suggeriert, doch dazu schweigen die Quellen. Kann es denn einen Erstgeborenen ohne Zweitgeborenen geben? Jedenfalls, sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil die Herberge, nun ja, geschlossen war.

6 Und das Christkind verlebte das Gegenteil eines Lebensabends, also einen Lebensmorgen, und die Tiere im Stall trugen alle Maske. Es waren ein Ziesel, ein Esel, ein paar faule Hühner, ein Schaf, ein Alpaka und ich. Alle trugen die Munaske, die Mund-Nasen-Maske. Auch Maria und Josef. Nur das Baby nicht! Ein Kind, das keine Maske trug! Auch die Herrlichkeit des Herrn umstrahlte sie nicht, und Engel kamen auch keine vorbei, aus triftigen Gründen.

File:Masken vom Maskenbrunnen (Flensburg 2014-10-28), Bild 02.jpg

7 Mittlerweile kamen einem Texte ohne „Mund-Nasen-Schutz“ auch komisch vor. Bleiwüsten ohne „Infektionszahlen“ und „Impfstraßen“ waren völlig unglaubwürdig geworden. Wie die Bibel. Und von der haben wir es ja.

8 Also, in diesem Sinne. Sandsturm in der Bleiwüste, in der Die Heiligen Drei Könige (DHDK) stecken blieben. Ging sowieso nichts mehr, Autobahn vollgestopft, Grenzen zu, Quarantäne drohte.

9 Weiter passierte erst mal nichts. Später dann: Hubschrauber über Bethlehem, Luftaufnahmen aus der Vogelperspektive vom Stall, kreischende Sirenen, Live-Interviews mit langer Stange und Mikro in Plastikschutzhülle, man kennt das.

10 So ein Stall hat ja glücklicherweise gute Lüftungsmöglichkeiten. Sonst müssen sie halt alle mal vor die Tür. Aber wieso hing das eine faule Schaf kopfüber die Dachrinne hinab? Waren wir denn in Brüssel? Und wieso komme ich eigentlich in dieser Weihnachtsgeschichte vor?

Quelle         :         TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen         :

Oben       —          Jouluseimen useita hahmoja.

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Wir lieben den Kapitalismus

Erstellt von Redaktion am 23. Dezember 2020

Weihnachten, das Fest der Liebe

Passage, The Hague, December 2017, img 10.jpg

Quelle      :    untergrundblättle ch.

Von Klaus Hecker

Weihnachten ist das Fest der Liebe und der Hilfsbereitschaft.

Es gibt in Deutschland etwa 600 000 Hilfsorganisationen. Es gibt im Kern keinen Lebensbereich, bei dem nicht per privaten Spenden geholfen wird. Das offenbart flächendeckende Notlagen.

Es gibt Ratgeber bei Stiftung Warentest, wohin kann ich spenden, aber auch wie, damit das steuerlich absetzbar ist. Also, so etwa lieber einmal 100 Euro, dann geht das, 2×50 Euro an unterschiedliche Organisationen, dann geht das nicht. Viele Organisationen haben auf ihrer Internetseite auch einen link „Karriere“ Wenn man also gern mal Geschäftsführer sein möchte, bitte anschauen. Hier ist also ein ganzer Wirtschaftszweig unterwegs. Bei Wikipedia kann man in Tabellen nachlesen, wieviel Millionen Euro die grossen Organisationen an Umsatz angeben: Z.B. Brot für die Welt, Misereor und andere 12 aus der ersten Liga – so um die 65 Millionen pro Jahr.

Aber jeder weiss doch zugleich auch, dass Hilfe nicht mit Abhilfe gleichzusetzen ist. In den Programmatiken der Hilfsorganisationen ist davon die Rede, dass, wenn schon die Lage schwierig bis aussichtslos ist, Zuversicht vermittelt werden könne und solle. Wir selbst sollten zudem nicht vergessen, dass es breitgefächert Not und Elend auf dem Globus gebe, so in den Ansprachen. Komischerweise oder besser gerade nicht führt die UNESCO an, dass trotz des ganzen Helfens die Armut rapide ansteigt – so in den letzten 2 Jahren weltweit um das Vierfache

Warum wird dann – wenn es doch erklärtermassen so viele üble Lebenslagen gibt – nur auf Hilfe gesetzt.

Könnte es sein, dass eines nicht gefolgert werden sollte: Der Grund für die Hilfsbedürftigkeit, die Systematik, mit der Hunger und Elend hervorgebracht wird, welche ursächlich in der kapitalistischen Wirtschafts- und Eigentumsordnung auszumachen wäre, darf und soll nicht in Misskredit gebracht werden.

Es ist also der Kapitalismus, der Weihnachten und nicht nur Weihnachten geliebt wird. Der Nächste, die Nächsten im klassischen Sinne, also unsere Mitmenschen, können es ja nicht sein. Die vegetieren weiterhin dahin, das wäre eine seltsame Liebe.

Über eine Milliarde Menschen auf der Welt leiden allein an Hunger – auch weiterhin. Aber auch in den sogenannten reichen Ländern wie Deutschland ist Hunger keineswegs ein unbekanntes Phänomen: Die Soester Tafel beispielsweise schreibt auf ihrer homepage : „Mehrere tausend Menschen in Soest leben in Armut und haben kaum genug, das Nötigste zu kaufen“ .

In England versorgt inzwischen die UNICEF Hungernde, In Spanien, wie leicht zu googlen und durch viele Artikel bezeugt, hat Armut und Hunger ein bisher nie dagewesenes Ausmass erreicht. Die Schlangen an Essensausgaben sind inzwischen mehrere hundert Meter lang. Dass Armut auch in den Metropolen das Leben des Einzelnen um bis zu 12 Jahre verkürzt, ist ebenfalls bekannt. Über die Zustände in der Dritten Welt rede ich lieber erst gar nicht.

Theater District, New York, NY, USA - panoramio (10).jpg

 Wer an dieser so umfassenden Elendsproduktion und Elendsverwaltung Zweifel bekommt, sich auch einmal mit einer anderen, gegenteiligen Sichtweise befassen möchte, dem möchte ich folgende Buchempfehlung geben:

Argumente gegen die Liebe zum Kapitalismus finden sich in dem Werk „Warum hungern Menschen in einer reichen Welt“ von Hermann Lueer, Dort wird auch die oben aufgestellte These eingeholt, dass als Ursache für das allüberall verbreitete Elend die kapitalistische Eigentums- und Wirtschaftsordnung zu identifizieren wäre.

 In diesem Sinne fröhliche Weihnachten.

Halt, so Leid mir das jetzt tut: Warum sind so viele Mitmenschen so herzlos zu ihren Nächsten, schauen zu, wie diese vor sich hinvegetieren, das Elend von Jahr zu Jahr zu sogar zunimmt. Warum stellt diese so rührig spendenden Bürger nicht die Systemfrage. Warum haltet sie in Denken und Praxis an der Marktwirtschaft und der Eigentumsordnung fest. Sind denen ihre Nächsten möglicherweise völlig egal?

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.

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Grafikquellen    :

Oben      —     The historic „Passage“ shopping mall in The Hague, December 2017, with Christmas decorations (series of photo’s). This shopping mall in the city center of The Hague opened in 1885 and it is the oldest still existing shopping mall in the Netherlands. The building complex is protected as a national monument. During Christmas time the big Christmas tree at the roundaboud in the mall has become a hotspot for taking selfies or photographing loved ones.

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Urteil im Halle-Prozess

Erstellt von Redaktion am 21. Dezember 2020

Der Gesellschaftsprozess

File:MKBler - 393 - Synagogen-Mahnmal (Halle).jpg

Am Montag wird das Urteil gegen den Halle-Attentäter Stephan Balliet gesprochen. Doch das Besondere an diesem Verfahren war nicht der Umgang mit dem Täter – sondern der mit den Überlebenden.

Von Martin Nejezchleba und Valerie Schönian

Es gibt Momente in diesem Prozess, in denen kann man dem Rechtsstaat förmlich dabei zusehen, wie er um Haltung ringt. An Verhandlungstag sieben etwa, an einem Mittwoch im August.

Seit Stunden beschäftigen sich die Anwälte der Nebenklage nicht mit Stephan Balliet, dem mutmaßlichen Attentäter von Halle, dem vorgeworfen wird, in der Nähe der Synagoge und in einem Dönerladen zwei Menschen erschossen zu haben.

Stattdessen befragen die Nebenkläger mehrere Ermittler des Bundeskriminalamts, die als Zeugen geladen sind. Sie befragen sie so eindringlich, dass es zuweilen wirkt, als säßen diese Ermittler selbst auf der Anklagebank. Als sollten die BKA-Beamten gestehen – ihr eigenes Scheitern, ihr Versagen womöglich.

21 Nebenklage-Anwälte sind zugelassen in diesem Prozess, einem der bedeutendsten und größten, die Sachsen-Anhalt je erlebt hat nach 1990. In ihren schwarzen Roben nehmen die Opfer-Anwälte gleich drei Sitzreihen im Gerichtssaal ein. Und hinter dem, was sie tun, steckt eine Strategie. Sie haben nicht nur das Ziel, die Schuld des Täters nachzuweisen. Sie wollen mehr: Sie wollen in diesem Prozess das große Ganze sichtbar machen. Die Gefahren des internationalen Rechtsterrorismus. Den Rassismus, den es in Deutschland gibt und der, so sehen das nicht wenige Nebenkläger, von den Behörden sträflich unterschätzt wurde. Sie wollen über Polizeiversagen sprechen, über gesellschaftliche Zusammenhänge. Über die Ignoranz derer, die Menschen wie Stephan Balliet jahrelang gewähren ließen.

Sie wollen, dass dieser Prozess leistet, was ein Prozess eigentlich gar nicht leisten kann. Oder doch?

Am kommenden Montag wird das Urteil gegen Stephan Balliet gesprochen, und dass ihn eine lebenslange Freiheitsstrafe erwartet, gilt als sicher. Die Beweislage ist eindeutig, er hat sich selbst gefilmt bei seinen Taten. Am 9. Oktober 2019 zog Balliet durch Halle, bewaffnet mit einem Arsenal an selbst gebauten Gewehren und Sprengsätzen. Er wollte in die Synagoge eindringen, dort ein Massaker anrichten. Er scheiterte an der mittlerweile berühmt gewordenen Tür in der Friedhofsmauer. Stattdessen tötete er eine Passantin auf der Straße und einen Kunden in einem Dönerladen. Balliet ist wegen zweifachen Mordes angeklagt, wegen des versuchten Mordes an 68 Menschen, Volksverhetzung, Holocaust-Leugnung.

Aber die Erwartungen an diesen Prozess, von Anfang an, beinhalteten eben nicht nur eine strafrechtliche Aufklärung. Sondern auch eine Form der gesellschaftlichen Aufarbeitung eines antisemitischen, rassistischen Anschlags. Manche wünschen sich, dass dieser Prozess eine Debatte in Gang setzen möge, wie sie in Ostdeutschland wohl noch zu wenig geführt wurde: über das rechtsextreme Problem hier, auch über das Milieu, aus dem der Täter stammt.

Das ist in keinem Gesetzbuch vorgesehen. Die Macht so eines Staatsschutzsenats, mit seiner Vorsitzenden Richterin, ist eng begrenzt. Er soll über Schuld und Unschuld richten. Und eine gerechte Strafe für den Angeklagten bemessen.

Doch wenn man sich den Halle-Prozess in der Rückschau betrachtet, wenn man viele Prozesstermine gesehen, mit Zeuginnen und Zeugen, mit Experten und Politikern gesprochen hat, festigt sich der Eindruck: Ein bisschen ist diesem Senat, ist der Vorsitzenden Richterin sogar der Beginn einer breiteren Auseinandersetzung gelungen.

An jenem Augusttag, an dem die Anwälte das BKA ins Verhör nehmen, mahnt die Bundesanwaltschaft: Man solle sich doch bitte auf das konzentrieren, worum es gehe, die Bemessung der individuellen Schuld des Angeklagten. Daraufhin beharken sich die Anwälte, die Opfervertreter, alle fallen einander ins Wort. Stephan Balliet, der mutmaßliche Täter, krümmt sich einmal vor Lachen auf seiner Anklagebank. Kichert. Genießt es, als sei es seine Show.

Bis Ursula Mertens, die Richterin, allem ein Ende setzt. „Sie hören jetzt auf zu lachen, Herr Balliet!“

Und Balliet verstummt. Die Dinge ordnen sich wieder.

„Ich habe in vier Sprachen keine Worte gefunden, um diesen Tag zu beschreiben. Für den Mörder habe ich ein Wort gefunden: Feigling. Sie haben nicht gewonnen, Sie haben auf ganzer Linie versagt. Mein Bruder lebt, ich lebe. Entstanden ist noch mehr Liebe und Zusammenhalt. Wir werden nicht weggehen. Und wissen Sie was? Ich werde Vater, ich bekomme ein Kind. Und ich werde das Beste geben, es hier großzuziehen.

I., erlebte den Anschlag am Kiez-Döner mit

Dass Balliet versuchen würde, dieses Verfahren zu seinem Podium zu machen, das hat sich schon viel früher gezeigt, schon am Tag des Prozessauftakts, am 21. Juli 2020 im Landgericht Magdeburg, Saal C24.

Es gibt Tage, da gleicht das Verfahren eher einer Bewältigung

Eigentlich führt das höchste Strafgericht Sachsen-Anhalts, das Oberlandesgericht Naumburg, das Verfahren. Aber es brauchte den größten Verhandlungssaal des Bundeslands. Der Raum wurde umgebaut, weil es selten Prozesse mit so vielen Nebenklägern gibt. Vor allem viele derer, die sich zur Tatzeit in der Synagoge aufgehalten haben, die von Stephan Balliet in Todesangst versetzt wurden, wollen teilhaben. Graue Kabinen für Dolmetscher wurden aufgestellt, mindestens sieben Übersetzer sind immer da. An die 280 Journalisten haben sich akkreditiert, auch aus den Niederlanden, aus den USA, aus Israel. Zwei Stunden zu spät beginnt die Verhandlung, weil die Einlasskontrollen den Andrang nicht bewältigen können.

HalleSynagoge 01.JPG

Ich kann für mich sagen, ich fühle mich nach dem 9. Oktober hier wesentlich mehr zu Hause als vor dem 9. Oktober. Weil ich gesehen habe, dass die absolute Mehrheit der Menschen absolut verschieden, aber geeint ist gegen Hass, Mord und Nazis.

Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Halle, erlebte den Anschlag ebenfalls in der Synagoge.

Als dann Stephan Balliet den Raum betreten hat, an Händen und Füßen gefesselt, in eine dünne schwarze Jacke gekleidet, dauert es nicht lange, bis er sagt: „Die Übertragung der Tat ist wichtiger als die Tat an sich.“ Der Anschlag, das Töten von Menschen: War das für Balliet vor allem ein Mittel, um sein Weltbild zu verbreiten? Er ist, das zeigt schon der erste Prozesstag, überzeugt von der angeblichen Überlegenheit weißer Männer. Balliet will Nachahmer motivieren, seine Fantasie vom Rassenkrieg in die Tat umsetzen. Wenn im Zeugenstand vom Holocaust gesprochen wird, grinst Balliet. Als eine Zeugin aus der Synagoge darüber spricht, wie froh sie sei, dass ihre Freunde überlebt haben, aber dass es ihr lieber gewesen wäre, selbst zu sterben anstelle der beiden Mordopfer, da flüstert Balliet seinem Anwalt zu: „Mir auch.“ Das jedenfalls wollen Anwälte der Nebenklage so gehört haben. Einmal sagt Balliet: Natürlich hätte er auch Kinder getötet, „damit meine Kinder das in Zukunft nicht machen müssen“. Balliet verteidigt sich nicht, er eskaliert. Einem Psychologen hat er erzählt, dass ihm die höchste Strafe recht sei, am liebsten die Todesstrafe. Er will den Effekt.

Quelle     :             Zeit-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen:

Oben        —           Auf dem Jerusalemer Platz in Halle an der Saale befindet sich das Synagogen-Mahnmal. Von der 1870 gebauten Synagoge konnte nur das Portal, welches nun das Mahnmal darstellt, erhalten werden, während das sonstige Gebäude in der Reichspogromnacht von den Nationalsozialisten zerstört wurde.

MKBler (CC BY-SA 4.0)

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Unten    —         Synagoge in Halle (Saale), Jüdischer Friedhof, Humboldtstraße

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Linker Antisemitismus ?

Erstellt von Redaktion am 17. Dezember 2020

Marx und der „Antisemitismus der Linken“

Bronzedenkmal Marx und Engels. Bild 2.JPG

Quelle      :    untergrundblättle ch.

Von Johannes Schillo

Der heutzutage angesagte Rückblick auf Karl Marx soll meist das enthüllen, was Antikommunisten schon immer wussten: Utopismus und prognostisches Desaster, so die verständnisvolle Variante, Weichenstellung für lauter Menschheitsverbrechen, wenn Klartext geredet wird.

Das ist das Praktische an der biographischen Mode, die beim Marx- und Engels-Jubiläum 2018/20 die Leitschnur abgegeben hat. Sie liefert nicht einfach ein paar anekdotische, lebensgeschichtliche Zusätze zum Rückblick auf die Begründung der wissenschaftlichen Kapitalismuskritik im 19. Jahrhundert – sie kann vielmehr ganz zielsicher von einer Auseinandersetzung mit der Sache ab- und zur Vervollständigung des marxistischen Sündenregisters hinlenken, das der Antikommunismus im Grunde seit der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests führt (seitdem ein Gespenst in Europa umgeht…). Dies war jüngst im Untergrund-Blättle Thema (1). Hier eine Fortsetzung, die noch einmal den Streitpunkt Antisemitismus aufgreift.

Linker Antisemitismus?

Die Behauptung vom linken Antisemitismus und der Rolle, die Marxens Artikel „Zur Judenfrage“ von 1844 (MEW 1) bei dessen Entstehung und Ausbreitung gespielt haben soll, geht in der Hauptsache auf die Totalitarismustheoretikerin Hannah Arendt zurück, jedenfalls wurde sie mit deren Gleichsetzung von „Rot“ und „Braun“ populär. Arendt schrieb in „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“, übrigens mit einer vorsichtigeren Formulierung als in der Zitatversion, die dank Wikipedia im Netz kolportiert wird: „Der Antisemitismus der Linken, wie wir heute sagen würden, blieb nur insofern von Bedeutung, als er eine bestimmte Tradition theoretischer Art in der späteren Arbeiterbewegung begründete, deren klassisches Werk Marx‘ Jugendschrift ‚Zur Judenfrage‘ ist.“ (Arendt 1986, 75)

Was Arendt hier, wie sie selber vermerkt, im übertragenen (nämlich vom 20. Jahrhundert aus formulierten) Sinne als Antisemitismus der Linken bezeichnet, sind nicht die sozialistischen, sondern diverse liberale und radikal-bürgerliche Strömungen, die sich in den 1820er und 1830er Jahren in Preussen oder in Frankreich herausbildeten und die im „Geldjuden“, der den absolutistischen Staat kreditierte, ihren Feind sahen. Diese bürgerliche Richtung folgte laut Arendt auf den aristokratischen Antisemitismus, der den „Pressejuden“ als Symbol einer zersetzenden Intelligenz angriff, während er das „Geldjudentum“ schätzte (ebd., 73), was danach vom liberalen bürgerlichen Lager unter umgekehrten Vorzeichen fortgeführt worden sei.

„Links“ steht bei Arendt also für „(links-)liberal“, wie überhaupt ihr Kapitel über den „Antisemitismus der Linken“, vielleicht dem US-Sprachgebrauch folgend, beide Kategorien gleichsetzt. Dies zeigt sich auch an den Stellen, die explizit auf die Arbeiterbewegung, so weit sie von Marx beeinflusst war, zu sprechen kommen. Arendt schreibt: „Als einzige Schicht (blieb) die Arbeiterschaft verhältnismässig immun gegen den Antisemitismus, vor allem in Deutschland, wo sie marxistisch geschult war.“ (Ebd., 62) Die Arbeiter hätten „primär mit einer anderen Gesellschaftsklasse, der Bourgeoisie, in Kampf“ gestanden, „aber nicht mit dem Staate als solchem. Da die Juden zu dieser Bourgeoisie nicht gehörten, waren die Arbeiter antisemitischen Einflüssen nicht zugänglich“ (ebd.).

Arendts Theorie des Antisemitismus ist, wie man hier schon sieht, ein seltsames Gebilde, die Erklärung jedenfalls nicht schlüssig. Denn die angeführte „linke“, liberale Opposition gegen den „Geldjuden“ identifizierte diesen doch mit der Geld- und Kapitalmacht, die im Lande herrschte; sie sah in ihm den „Staatsbankier“, ohne dessen Zustimmung keine wichtigen politischen Entscheidungen getroffen werden konnten. Und die Arbeiterklasse befand sich in einer ähnlichen gesellschaftlichen Frontstellung; dass sie also per se vor einer solchen Sichtweise gefeit gewesen wäre, leuchtet nicht ein.

Die neu auf den Plan tretende Arbeiterbewegung sah, vor allem soweit sie marxistisch geprägt war, im Staat den geschäftsführenden Ausschuss der Bourgeoisie, wie es im Kommunistischen Manifest hiess. Und die jüdische Finanzmacht stützte diesen Staat, auch wenn sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts ihre frühere herausragende Bedeutung verlor. Aber noch Bismarck schätzte das „Geldjudentum“, wie Arendt (1986, 73) zitiert, da dessen Interessen „mit der Erhaltung unserer Staatseinrichtungen“ verknüpft seien, während Bismarck dem „besitzlosen Judentum in Presse und Parlament“ nichts abgewinnen konnte.

Marx, so Arendt, habe sich mit seiner frühen Schrift in die genannte liberale Tradition gestellt, woran die Interpretin folgende Bemerkung knüpft, die nebenbei auch noch die beliebte These vom „jüdischen Selbsthass“ zurückweist: „Man hat Marx, da er Jude war, oft und sehr zu Unrecht des ‚Selbsthasses‘ beschuldigt; in Wahrheit ist die Tatsache, dass der Jude Marx die Argumente der Radikalen aufgreifen und auf seine Weise systematisieren konnte, nur ein Zeichen dafür, wie wenig sie mit dem Antisemitismus späterer Zeit zu tun hatten.

Hannah Arendt 1975 (cropped).jpg

Marx fühlte sich natürlich durch seine Argumente gegen das Judentum so wenig als Person oder als ein Individuum betroffen wie etwa der Deutsche Nietzsche durch seine Polemik gegen die Deutschen. Dass Marx nach dieser Jugendschrift sich nie wieder zur Judenfrage geäussert hat [was nicht stimmt, s.u.], hat gar nichts damit zu tun, dass er Jude war, sondern ist die Folge dessen, dass für ihn der Staat nur die Maskierung der wirklichen Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft ist und er sich daher an allen Fragen, welche die Staatsstruktur betreffen, desinteressierte. Innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft und in der industriellen Produktion, der er seine ganze Aufmerksamkeit widmete, kamen die Juden einfach nicht vor, weder als Verkäufer oder Käufer von Arbeitskraft, weder als Unternehmer noch als Ausgebeutete. Für die Kämpfe innerhalb der Gesellschaft blieben die Juden in der Tat ohne jede Bedeutung.“ (Ebd., 75f)

Ohne hier auf Arendts Theorie des Antisemitismus weiter einzugehen, kann man zumindest im Blick auf den frühen Marx-Text festhalten: Die Totalitarismustheoretikerin belegt gerade nicht, dass er als Dokument oder Ausgangspunkt eines „linken“, d.h. sozialistischen oder kommunistischen Antisemitismus zu lesen sei. Im Gegenteil, man soll hier die Nachwirkungen einer „radikalen“, d.h. bürgerlichen Position spüren, die übrigens wie ihr Vorläufer, der aristokratische Antisemitismus, in die Vorgeschichte des modernen Antisemitismus gehöre. Marx selber habe mit dessen Rassenideologie nichts zu tun.

Als diese Ideologie zum Ausgangspunkt eines politischen Programms wurde – Arendt: „Antisemitische Bewegungen gibt es erst seit dem letzten Drittel des vorigen [= 19.] Jahrhunderts“ (ebd., 76) –, hätten sich die Schüler von Marx und Engels entschieden dagegen gestellt. So weit der Theoretiker Marx gewirkt hat, wurde also der Gegensatz der Klassen (und der Staat als Hüter und Garant dieser Klassengesellschaft) in den Mittelpunkt gerückt – und nicht die Verschiedenheit von „Rassen“.

Ein Etikettenschwindel

Zwar entschuldigt sich Arendt in gewisser Weise, wie oben angeführt, für ihre unsaubere Formulierung, nichtsdestotrotz muss man das genannte Kapitel als dreisten Etikettenschwindel bezeichnen. In ihm behandelt Arendt mit Blick auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die beiden Länder Österreich-Ungarn und Frankreich, d.h. vor allem die politischen Formationen, die dort Träger des Antisemitismus waren: im einen Fall die „Deutsche Liberale Partei“ und die „Christlich-Sozialen“, im andern die klerikalen und antiklerikalen Strömungen, die im Verlauf der Dreyfus-Affäre eine Rolle spielten.

In dem Zusammenhang sind also der Liberalismus und das Kleinbürgertum gemeint, explizit nicht die Arbeiterbewegung. Es wird z.B. ausdrücklich erwähnt, dass sich die Führung der französischen Sozialisten angesichts des erstarkenden Antisemitismus entschloss, „judenfeindliche Propaganda aus ihren Reihen auszumerzen und schliesslich sogar gegen die Judenhetze zur Zeit der Dreyfus-Affäre aufzutreten“ (ebd., 96f).

Dass Arendt von Antisemitismus der Linken spricht, begründet sie damit, dass man der Auffassung entgegentreten müsse, Judenfeinschaft sei schlichtweg „reaktionär“ (ebd., 88) gewesen. Ihre Übersicht bringt zwar zahlreiche Belege dafür, dass es eine mächtige reaktionäre, also aus der konservativ-aristokratischen Reaktion gegen die bürgerliche Umwälzung gespeiste judenfeindliche Linie gab. Die Autorin findet aber Ähnliches im liberalen Lager, speziell beim radikalen Kleinbürgertum.

Bei dieser Gelegenheit bringt Arendt denselben Hinweis an wie im Fall des Artikels „Zur Judenfrage“ und verweist auf Marx und Börne. Die beiden jüdischen Polemiker hätten in der bürgerlich-liberalen Tradition gestanden, wie sie in Frankreich am deutlichsten spürbar war: „Es gab in Frankreich etwas, was es weder in Deutschland noch in Österreich je gegeben hat, nämlich ein revolutionäres Kleinbürgertum“ (ebd., 97).

Mit dessen Position, die sich vor allem gegen die Macht des jüdischen Bankhauses Rothschild richtete – „zwischen 1815 und 1914 war die Familie Rothschild im Besitz der weltgrössten Bank“ –, bringt Arendt Marx und Börne in Verbindung. Dabei betont sie zugleich den Unterschied: Die beiden seien eindeutig „witziger und schärfer, weil in ihnen die ganze Erbitterung der mit Recht sich betrogen fühlenden jüdischen Intelligenz zum Ausdruck kommt“ (ebd., 98). Arendt ordnet sie also einem Konflikt in der jüdischen Community zu, wie er zum Ende des 19. Jahrhunderts etwa in dem Roman „Reuben Sachs“ von Amy Levy dargestellt wurde. So kommentiert sie auch an einer späteren Stelle, wo sie noch einmal aufs frühe 19. Jahrhundert zu sprechen kommt: „Die antijüdischen Äusserungen von Marx und Börne kann man nur verstehen als Ausdruck dieses innerjüdischen Konflikts“ (ebd., 127).

Auch wenn solche Präzisierungen erfolgen, muss man es als eine intellektuelle Unredlichkeit der Totalitarismustheoretikerin bezeichnen, dass sie das Schlagwort vom „Antisemitismus der Linken“, das seitdem in der Öffentlichkeit kursiert, derart kontrafaktisch in die Welt gesetzt hat. Wie gesagt, das betreffende Kapitel befasst sich mit liberalen und christlich-soziale Strömungen, die im Prinzip – von zufälligen oder taktischen Übereinstimmungen abgesehen – stets Gegner der Arbeiter- und Linksparteien waren. Letztere standen natürlich auch in Gegnerschaft zum konservativen Lager. Im Länderbericht zu Frankreich hält Arendt beiläufig fest, dass der Adel eine wesentliche antisemitische Triebkraft darstellte, dass also, anders als in ihrer Eingangsbemerkung behauptet (ebd., 88), reaktionäre Kräfte bei der Durchsetzung des rassistischen Weltbildes durchaus eine wichtige Rolle spielten. Ähnliches dürfte für die österreichischen Verhältnisse gelten, wo die christlich-soziale Richtung mit ihrer Orientierung an der römisch-katholischen Kirche ebenfalls eine reaktionäre Kraft darstellte, jedenfalls nicht als linksliberal eingestuft werden kann.

Dabei ist der Vorwurf der Unredlichkeit nicht allein der Autorin, sondern vor allem den zahllosen Nachbetern ihrer Theorie zu machen, die wie selbstverständlich davon ausgehen, dass die Totalitarismustheorie den sachlichen Befund eines linken Antisemitismus bei Marx und seinen Nachfolgern erbracht habe; und die von dort aus eine Linie ziehen – anders als Arendt mit ihren Hinweisen auf eine bürgerlich-liberale Position, deren Nachwirkungen sich noch beim jungen Marx, aber nicht mehr in dessen Kritik der politischen Ökonomie finden sollen –, die zum heute so titulierten linken Antisemitismus (Antizionismus, Solidarität mit der PLO, Kritik am Staat Israel…) führe.

Einer der heutigen Nachbeter der These vom linken Antisemitismus, Stephan Grigat, schreibt in seinem Text über „Antisemitismus und Antizionismus in der Linken“ rückblickend z.B. Folgendes: „Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Linken schon immer zu den entschiedensten Gegnern des Antisemitismus gehörten, lässt sich eine Tradition des linken Antisemitismus bis zum Frühsozialismus zurückverfolgen. Von Blanqui bis Fourier, von Saint-Simon über Proudhon bis Bakunin lässt sich von der Verharmlosung antisemitischer Ressentiments bis zu offen rassistisch-antisemitischen Argumentationen alles nachweisen.“ (Grigat 2002)

Ja, wenn man alles Mögliche zusammenwirft, was irgendwann von einzelnen Linken gegen jüdische Personen oder Einrichtungen gesagt wurde, dann kann man eine solche Traditionslinie konstruieren. Dafür muss man natürlich die Kontroversen ihres Sinns entkleiden, z.B. die Tatsache unterschlagen, dass Bakunins antisemitische Äusserungen – in dem Fall handelt es sich wirklich um solche, und zwar im Grunde um Vorwegnahmen der späteren NS-Position (Wall Street und Bolschewismus als Varianten jüdischen Weltmachtstrebens) – explizit gegen Marx und den Marxismus gerichtet waren.

Natürlich greift Grigat auch Arendts These vom linken Antisemitismus auf. So spricht er von den „strukturell antisemitischen Prämissen der grundsätzlichen Kapitalismuskritik in der Arbeiterbewegung“ und fügt als Beleg einen Hinweis auf das einschlägige Kapitel Arendts an: „Nicht ganz zufällig konnte sich der radikale Antisemit Georg von Schönerer, einer der wichtigsten Stichwortgeber Hitlers, der sich über Jahre mit demagogischen Angriffen gegen die Rothschilds hervortat, gewisser Sympathien bei Teilen der Sozialdemokratie erfreuen.“ Gezielt wird hier auf die Arbeiterbewegung, obwohl Arendt gerade nicht von der politischen Linken im heutigen Sinne handelt, wie sie Grigat im Auge hat.

Ihm geht es ja um Sozialismus und Kommunismus, um Marx und seine Nachfolger. Grigat stützt seine Beurteilung auf Arendt (1986, 91), die Folgendes über Schönerer, den Führer der Deutschen Liberalen Partei, mitteilt: Sein Antisemitismus habe sich anfangs „nahezu ausschliesslich gegen den Einfluss der Rothschilds“ gerichtet und habe damit als radikale Gesellschaftskritik gewirkt, „so dass gerade diese sozialdemagogische Note ihm in Österreich (zum Unterschied von Deutschland) die Sympathien der Arbeiterbewegung gewann.“ Dem hat Arendt eine Fussnote angefügt, die die Sympathie – nicht der in ihren „strukturell antisemitischen Prämissen“ befangenen Arbeiterbewegung, sondern: – der österreichischen Sozialdemokraten belegen soll. In der Wiener Arbeiterzeitung habe es nämlich 1912 folgende Würdigung des liberalen Antisemiten Schönerer gegeben: „Und wenn wir Flintenschüsse mit ihm wechselten, so würde die Gerechtigkeit doch erfordern, noch während der Salve einzugestehen: er ist ein Mann; jene aber sind alte Weiber.“

Aus dem Zitat (das angeblich eine Bismarck-Äusserung variiert) geht natürlich als Erstes hervor, dass Sozialdemokraten und Liberale in feindlichen Lagern standen und sich bis aufs Messer bekämpften; von einer Übereinstimmung in politischen Auffassungen kann also – zumindest was diesen Beleg betrifft – keine Rede sein. Was hier ausgedrückt wird, ist der persönliche Respekt vor dem politischen Gegner: Als Mensch soll er beeindruckend sein, als Politiker wünschen ihm die Sozialdemokraten den Untergang. Von dieser bürgerlichen Art, im parlamentarischen Umgang den Kontrahenten zu achten, mag man halten, was man will. Eine inhaltliche Übereinstimmung dokumentiert das gerade nicht.

Interessant an dieser Stelle ist zudem, dass Arendt selber den beklagten Blickwinkel teilt, also streng genommen unter Grigats Verdikt fallen müsste. Arendt schreibt: „Schönerer (war) weder ein Betrüger noch ein Scharlatan noch eigentlich ein Demagoge“. Es folgen Bemerkungen zur Person des liberalen Politikers, die ihn als ehrliche Haut, als einen Menschen, der leidvolle Erfahrungen mit dem Haus Rothschild gemacht habe, charakterisieren, der „niemals die Judenfrage lediglich als eine Propagandawaffe gebraucht“ habe etc.

Arendt kann also dasselbe vertreten, was die österreichische Sozialdemokratie praktizierte, nämlich menschlichen Respekt vor einem Vorläufer des modernen Antisemitismus äussern. Bei ihr geht das als Einblick in die damaligen Verhältnisse durch, bei Sozialdemokraten ist es ein Beleg für politische Verirrung. Nur nebenbei sei noch bemerkt, dass Arendt (wie so oft in ihrem Text) unbekümmert Widersprüchliches hinschreibt: Zunächst soll der Führer der Liberalen mit der „sozialdemagogischen Note“ seiner Politik Sympathien bei den Linken gewonnen haben, drei Zeilen später heisst es, dass er eigentlich kein Demagoge war…

„War Marx Antisemit?“

So lautete die Überschrift einer Kontroverse, die die „Blätter für deutsche und internationale Politik“ 2014, also noch vor dem bundesweit abgefeierten Marx-Jubiläum, veröffentlichten. Den Aufschlag machte der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik mit einem unsäglichen Beitrag, der die Frage rundum bejahte (Brumlik 2014). Unsäglich ist der Beitrag deshalb, weil seine Argumentation im Grunde aus nicht viel mehr als der Wiederholung ein und desselben Zitats (s.u.) besteht, das am Anfang und am Schluss gebracht wird und das gewissermassen für sich selbst sprechen soll.

Im zweiten Teil des Aufsatzes „Zur Judenfrage“ aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern finden sich, wie Brumlik einleitend schreibt, „jene Sätze, die Marx bis heute den Vorwurf des Antisemitismus, des Judenhasses einbringen. Genannt sei hier nur eine Textstelle“ (Brumlik 2014, 114). Bevor diese – wie gesagt zweimal gebrachte – Stelle Thema sein soll, noch ein Wort zur Einleitung und Einkleidung dieser wieder aufgefrischten Denunziation. Brumlik resümiert zur Orientierung des Lesers den Stand der Judenemanzipation in Preussen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, d.h. vor allem das Roll Back gegen die Gleichstellung, die mit den napoleonischen Reformen Einzug gehalten hatte, und skizziert Bruno Bauers Position, der die Gleichberechtigung der Juden im christlichen Staat ablehnte, da sie nur den vorhandenen ein weiteres Privileg hinzufügen würde.

Marx wendete sich nun mit seiner Schrift – explizit – gegen Bauer. Brumlik kommentiert: „Im Streit zwischen Marx und Bauer ging es, wenn man so will, um einen Radikalitäts- und Überbietungsdiskurs innerhalb der linken Hegelianer.“ (Ebd., 118) Dies ist bezeichnend für den Duktus des Textes: „Wenn man so will“, kann man den Aufsatz von Marx so oder anders lesen. Und Brumlik will natürlich die negative Variante, er lässt keine Möglichkeit aus, Marx am Zeug zu flicken. Wenn man das nicht will, muss man festhalten: Der Sache nach trennen sich mit den Stellungnahmen des jungen Marx die Wege der Linkshegelianer – was Brumlik übrigens weiss.

Marx wendet sich von den alten Bündnisgenossen ab und der Kritik der politischen Ökonomie als der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft zu; er kümmert sich – in seiner theoretischen Stossrichtung – nicht mehr um die Demokratie- oder Säkularisierungsdefizite des autoritären preussischen Staates. Bei Brumlik heisst es am Schluss der Passage: „Dem Marx der ‚Judenfrage‘ … ging es vor allem darum, das Wesen der Demokratie zu verstehen. Zu diesem Zweck unterzog er – Jahre vor dem Erscheinen des ‚Kapitals‘ – vor allem die Geldwirtschaft einer scharfen Kritik, was zur Basis seiner gesinnungsbezogenen Judenfeindschaft wurde.“ (Ebd., 118f)

Auch das sind merkwürdige Aussagen. Um die Demokratie zu verstehen, soll sich Marx nicht um diese, sondern um etwas anderes, nämlich die Geldwirtschaft (die übrigens vom Kapitalismus unterschieden und älter als dieser ist) kümmern? In dem Aufsatz kritisiert Marx, wie jeder nachlesen kann, die republikanische Freiheits- und Gleichheits-Forderung. Im „Kapital“ analysiert er den Kapitalismus, wobei dort, was Brumlik wohl kaum bestreiten kann, von Judenfeinschaft nichts zu finden ist. Aber diese Feindschaft soll gerade die Basis seines späteren theoretischen Bemühens darstellen? Alles zusammen sehr eigenartige Konstruktionen!

Das passt auch nicht mit den anderen Informationen zusammen, die Brumlik mitteilt. Der Aufsatz endet z.B. mit der Feststellung, dass Marx „weit weniger originell“ gewesen sei, „als man glauben möchte“, denn er habe „seinen vulgärmaterialistischen Reduktionismus des Judentums schlicht aus Ludwig Feuerbachs Schrift über das ‚Wesen des Christentums‘ aus dem Jahr 1841 übernommen“ (ebd., 120). Es folgt dazu ein verstümmeltes Feuerbach-Zitat: „Die Juden haben sich in ihrer Eigentümlichkeit bis auf den heutigen Tag erhalten. Ihr Prinzip, ihr Gott ist das praktischste Prinzip von der Welt – der Egoismus, und zwar der Egoismus [in] der Form der Religion.“

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Damit variiert Brumlik Arendts Urteil, Marx hätte wie Börne Positionen der radikalen kleinbürgerlichen Franzosen übernommen bzw. eine innerjüdische Kontroverse fortgeführt, wobei Arendt immerhin noch darauf hinweist, dass dies eben nicht unter die Rubrik Antisemitismus fällt, sondern zu seiner Vorgeschichte gehört (s.o.). Solche Differenzierung unterlässt Brumlik, legt sogar noch mit dem Vorwurf des „Vulgärmaterialismus“ nach. Marx war demnach ein Radikalinski, der andere links überholen wollte, im Grunde aber von ihnen abschrieb, deren Vulgärmaterialismus reproduzierte, also überhaupt nicht über sie hinausging etc. (2).

Es passt z.B. auch nicht mit dem Anfang von Brumliks Aufsatz zusammen, wo aus einem Brief von Marx an Arnold Ruge vom 13. März 1843 zitiert wird. Marx schrieb aus Köln nach Paris: „Soeben kömmt der Vorsteher der hiesigen Israeliten zu mir und ersucht mich um eine Petition für die Juden an den Landtag und ich wills tun. So widerlich mir der israelitische Glauben ist, so scheint mir Bauers Ansicht doch zu abstrakt. Es gilt so viel Löcher in den christlichen Staat zu stossen als möglich und das Vernünftige, so viel an uns, einzuschmuggeln. Das muss man wenigstens versuchen – und die Erbitterung wächst mit jeder Petition, die mit Protest abgewiesen wird.“ (Brumlik 2014, 113)

Der Brief dokumentiert, dass es haltlos ist, dem jungen Marx (er war bei der Abfassung des inkriminierten Textes 25 Jahre alt) Judenfeindschaft zu unterstellen. Ihm ist der israelitische Glaube zuwider, nicht das Anliegen, sich aus politischer Unterdrückung und Diskriminierung zu befreien. Brumlik bringt sogar noch ein weiteres Zitat von Marx und Engels aus der „Heiligen Familie“ (1845), in dem die beiden Autoren erläutern, wie die früheren Aussagen im „Judenfrage“-Aufsatz zu verstehen sind. Dazu schreibt Brumlik: „Ein Jahr später klingt diese Meinung schon weniger drastisch“ (ebd., 114). Es wird also gleich wieder die Erläuterung, wie die Aufhebung des Judentums gemeint ist, ins Gegenteil umgedeutet, nämlich in die Relativierung eines ursprünglich vorhandenen Antisemitismus.

Marx und Engels halten dagegen in der zitierten Schrift, die ihre Auseinandersetzung mit den Junghegelianern fortsetzt, zur Klarstellung fest, „dass die Aufgabe, das jüdische Wesen aufzuheben, in Wahrheit die Aufgabe sei, das Judentum der bürgerlichen Gesellschaft, die Unmenschlichkeit der heutigen Lebenspraxis, die im Geldsystem ihre Spitze erhält, aufzuheben“ (MEW 2, 116). Klarer kann man dem Antisemitismus-Missverständnis nicht entgegentreten, wobei natürlich zu beachten ist, dass die Klassiker von der politischen, d.h. rassistischen Wucht des Antisemitismus keine Ahnung hatten und Anfang der 1840er Jahre auch nicht haben konnten. Aber so weit damals Judenfeindschaft existierte, sind Marx und Engels, die in den drei Abschnitten der „Heiligen Familie“ auf den früheren Aufsatz zurückkommen, dem Missverständnis entgegengetreten, sie wollten eine bestimmte Volksgruppe angreifen und nicht das Kapital.

Jetzt also die alles begründende Stelle aus dem Aufsatz von 1844. Brumlik zitiert Marx (Brumlik 2014, 114): „Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element, welches durch die geschichtliche Entwicklung, an welcher die Juden in dieser schlechten Beziehung eifrig mitgearbeitet, auf seine jetzige Höhe getrieben wurde, auf eine Höhe, auf welcher es sich notwendig auflösen muss. Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.“ Brumlik fährt fort: „Das Judentum aber reduziert sich für Marx in dieser Schrift auf die moderne Geldwirtschaft: ‚Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein anderer Gott bestehen darf‘“. Das soll der ganze Beweis sein. Bei der Wiederholung des Zitats gibt es dann noch den Kommentar, dass Marx „die Gesellschaft der Geldwirtschaft wiederum mit dem Judentum“ (ebd., 119) gleichsetze.

Hier wird dann noch erwähnt, dass sich Marx dadurch in Übereinstimmung mit den „französischen Frühsozialisten“ befunden habe. Dabei hatte Brumlik kurz vorher noch festgestellt, dass sich Marx mit seinen frühen Texten zur Kritik der politischen Ökonomie hinarbeite, wo diese Gleichsetzung bekanntlich keine Rolle spielt. Trotzdem erfolgt das Resümee: „Auch Marx … unterlag diesem Kurzschluss“, nämlich der Gleichsetzung, und habe so „eine reduktionistische, nein: nicht Kritik, sondern hasserfüllte Verächtlichmachung des Judentums“ betrieben.

Fazit

Man kann nur über die Interpretationskunststücke eines Wissenschaftlers staunen, der sich immerhin als Marx-Kenner versteht. Wenn in der hegelianischen Tradition von der Aufhebung des Judentums, von der Emanzipation der Menschheit vom Judentum die Rede ist, dann ist damit nicht dessen Ausrottung gemeint. Marx wurde ja sein Judentum los, ohne sich selbst physisch aufzulösen. Es handelt sich um ein gewolltes, groteskes Missverständnis (worauf auch Hauke Brunkhorst in den Blättern für deutsche und internationale Politik, Nr. 8, 2014, mit dem Beitrag „Die falsch gestellte Frage – War Marx Antisemit?“ aufmerksam gemacht hat). Marx kritisiert den Standpunkt einer bürgerlichen, „politischen“ Emanzipation, die sich mit dem Status des anerkannten Staatsbürgers zufrieden gestellt sieht. Bauers Art der Zurückweisung des jüdischen Antrags lehnt Marx ab, er nimmt nicht wie dieser die vollwertige staatsbürgerliche Gleichheit zum Massstab, um eine solche Forderung zu beurteilen. Praktisch-politisch unterstützt Marx das Petitionsvorhaben der jüdischen Gemeinde mit der Forderung nach Gleichberechtigung; er sieht im christlichen Staat einen Feind, den es zu überwinden gilt, und hält – mit einem eigenartigen Argument – das Einreichen von Bittschriften samt nachfolgender Ablehnung für einen politischen Lernprozess. Als generelle Zielsetzung will er das allerdings nicht mittragen, der vollendete bürgerliche Staat könne nicht das Endziel sein. Der Aufsatz über die Judenfrage entwickelt dazu als theoretische Grundlage den Unterschied von Bourgeois und Citoyen. Die bloss politische Emanzipation, die sich des Citoyens annimmt, lasse das Kritikable der bürgerlichen Gesellschaft bestehen; auf die habe sich aber, damit eine vernünftige Praxis, eine „menschliche Emanzipation“ zustande kommt, das theoretische Augenmerk zu richten – Marx entscheidet sich ja zu diesem Zeitpunkt, angestossen durch Engels, die Kritik der politischen Ökonomie zu seiner Sache zu machen.

Diese Orientierung schlägt er auch den Juden vor, die mit den „Deutschen Zuständen“ (so der Titel der polemischen Artikelreihe von Engels aus der selben Zeit) unzufrieden sind. Anerkennung der religiösen und völkischen Besonderheiten verwirft er, dagegen setzt er Religions- und Ökonomiekritik. Insofern will er nicht das Judentum fördern – das stimmt –, sondern fordert die Juden dazu auf, sich an der allgemeinen menschlichen Emanzipation zu beteiligen. Und das ist alles andere als Antisemitismus.

Im zeitgenössischen Judentum erkennt Marx den jüdische Schacher als Hindernis; das ist keine Verunglimpfung, sondern die Feststellung der überlieferten jüdischen Sonderrolle, die – erzwungenermassen – auf die Sphäre von Handels- und Geldgeschäften konzentriert war. Daraus entwickelte sich bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts die starke Stellung jüdischer Banken. Das jüdische Kreditgeschäft, das bereits im Absolutismus eine führende Rolle bei der Staatsfinanzierung errungen hatte, geriet so bei radikalen bürgerlichen Kreisen ins Visier der Kritik. Auf diese Kritik bezog sich Marx. Er blieb aber nicht bei ihr stehen. Er rückte gerade nicht eine bestimmte Sphäre des Kapitalismus mit ihren – temporären – ethnischen Besonderheiten in den Mittelpunkt, machte nicht das Finanzgeschäft zur Basis seiner Analyse; im Gegenteil.

Was er endlich nach jahrzehntelangen Studien als sein Hauptwerk vorlegte, ist eine Kritik der kapitalistischen Produktionsweise. Hier figuriert das Personal nur als „Charaktermaske“, als Personifikation ökonomischer Funktionen, und wird in dieser Hinsicht, also als deren Exekutor, zum Gegenstand der Kritik. Basis dieser Funktionen ist dabei nicht das Geld- und Handelskapitel. Beide thematisiert Marx im dritten Band des „Kapital“ als abgeleitete Grössen, die sich aus der Bestimmung der kapitalistischen Warenproduktion ergeben. Die in dieser enthaltene objektive Zwecksetzung, den Wert und dessen Verwertungsprozess zum Massstab der Versorgung mit Gebrauchsgegenständen zu machen, greift Marx an. Die kleinbürgerliche oder frühsozialistische Wendung gegen das Wucherkapital hat Marx damit definitiv hinter sich gelassen. Und der Artikel „Zur Judenfrage“, in dem er sich auf die einschlägigen Topoi vom jüdischen Schacher einlässt, ist der Schritt dahin, die Vermengung der Kapitalismuskritik mit dem Angriff auf profitgierige Personen zu beenden.

Anmerkungen:

(1) Siehe: Marx und das Elend der biographischen Mode. Am Beispiel des Marx-Jubiläums 2018 hat das die IVA-Reihe „Marx is back“, Vol. 1-10, dokumentiert; siehe den Start der Reihe: https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts17#%E2%80%9Emarx_is_back_vol_1. Dort u.a. Vol. 5, wo es einleitend heißt: „Das Interessanteste beim aktuellen Marx-Jubiläum scheint die Privatperson zu sein – diese verkrachte bürgerliche Existenz aus dem 19. Jahrhundert. Zwar sehr gelehrt, doch offen gesagt: als Familienmensch ein autoritärer Sack, voll von ‚wütendem Antisemitismus‘ und mit null Ahnung in puncto Gender Mainstreaming“.

(2) Worin der Vulgärmaterialismus Feuerbachs bestehen soll, ist auch nicht ersichtlich. Es geht anscheinend nur darum, der Religionskritik des materialistischen Philosophen (und damit deren Epigonen Marx) einen weiteren Vorwurf reinzureichen – ganz nach Brumliks Devise des „wenn man so will“. Derselbe Vorwurf wurde übrigens von Edmund Silberner („Sozialisten zur Judenfrage – Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914“, Berlin 1962) erhoben, der auch schon, 50 Jahre vor Brumlik, die Behauptung vom Überbietunsgdiskurs, die Gegenüberstellung der Zitate von 1844 mit der „Heiligen Familie“, den Brief an Ruge etc. brachte (vgl. z.B. Silberner 1962, 124, 126, 127). Feuerbach behandelt an der besagten Stelle den Unterschied von jüdischem Monotheismus und griechischem Polytheismus sowie die weitere Entwicklung. Der „jüdische Schacher“ ist hier nicht das Hauptthema. Das von Brumlik angeführte Zitat geht so weiter: „Der Egoismus ist der Gott, der seine Diener nicht zuschanden werden läßt. Der Egoismus ist wesentlich monotheistisch, denn er hat ja nur eines, nur sich zum Zweck. Der Egoismus sammelt, konzentriert den Menschen auf sich; er gibt ihm ein konsistentes Lebensprinzip.“ (Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums. Gesammelte Werke 5, Berlin 1984, 210) Dieser religiöse Egoismus wird nicht moralisch klassifiziert – wie es in der kleinbürgerlichen Kritik am Schacher geschieht –, sondern ähnlich wie bei Hegel als notwendige Stufe im religiösen Entwicklungsgang genommen. Im selben Kapitel finden sich dann einige Seiten später die einschlägigen Sätze Feuerbachs, die seine Religionskritik berühmt gemacht haben: „Erst schafft der Mensch Gott nach seinem Bilde, und dann erst schafft wieder dieser Gott den Menschen nach seinem Bilde. Dies bestätigt vor allem der Entwicklungsgang der israelitischen Religion. Daher der Satz der theologischen Halbheit, dass die Offenbarung Gottes gleichen Schritt mit der Entwicklung des Menschengeschlechts hält. Natürlich; denn die Offenbarung Gottes ist nichts andres als die Offenbarung, die Selbstentfaltung des menschlichen Wesens.“ (Ebd., 215) Marx, von dem übrigens der Vorwurf des Vulgärmaterialismus stammt – bei Feuerbach sah er einen ahistorischen Materialismus am Werk –, hat solche Überlegungen seiner eigenen Religionskritik zu Grunde gelegt. Die besteht ja explizit darin, die philosophische Kritik an der Religion, die bis zu den Junghegelianern einschließlich Feuerbach geleistet wurde, zu resümieren; Originalität hat Marx dafür nie reklamiert.

Literatur:

Hannah Arendt (1986), Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft (1951). München.
Micha Brumlik (2014), Karl Marx: Judenfeind der Gesinnung, nicht der Tat – War Marx Antisemit? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 7, S. 113-120.
Stephan Grigat (2002), Antisemitismus und Antizionismus in der Linken. HaGalil.com – Jüdisches Leben online, 18.4., http://www.hagalil.com/antisemitismus/europa/linker-antisemitismus.htm#_ftn1

Soweit nicht anders angegeben und keine Quellenangabe (Name einer Organisation oder Internet-Adresse) vorhanden ist, gilt für die Texte auf dieser Webseite eine Copyleft (Public Domain) Lizenz.


Grafikquellen         :

Oben     —       Denkmal am Park der Opfer des Faschismus. Kulturdenkmal im Chemnitzer Zentrum.

2.) von Oben       —     Hannah Arendt in 1975


3.) von Oben       —      Stephan Grigat, 2018

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Berechtigte Islamkritik ??

Erstellt von Redaktion am 2. Dezember 2020

Die andere Freiheit

File:Kuala Lumpur, Oct 2008 (04).jpg

Von Charlotte Wiedemann

Rücksichtnahme auf religiöse Empfindlichkeit ist keine Selbstzensur und Macrons Variante von Laizismus kein universeller Wert.

Lange bevor Prophetenkarikaturen ein globales Thema wurden, hörte ich mir in Malaysia die Freitagsansprache eines Predigers an, dessen Scharfzüngigkeit gerühmt wurde. Es war Ramadan und ich bat meine Dolmetscherin, mir aus dem Malaiischen nur politische Aussagen zu übersetzen. Lange sagt sie nichts. Ich wurde ungeduldig: Wovon spricht er denn? Sie antwortete: Wie der Prophet duftete. Nach einer Weile fragte ich erneut: Und jetzt? Sie sagte: Wie gepflegt sein Bart war. Und beim dritten Versuch: Wie zart seine Haut war.

Vielleicht ist die Liebe zu Mohammed, sogar seine Körperlichkeit umfassend, eine Möglichkeit, dem transzendenten, fernen, nicht abbildbaren Gott des Islams ein wenig näher zu kommen. Jedenfalls ist dieses ganz besondere Verhältnis eine Voraussetzung dafür, dass die Herabsetzung des Propheten von vielen Muslimen – nicht von allen – als Stich ins eigene Herz empfunden wird.

An Religionen wirkt vieles bizarr – umso mehr an einer, in die man selbst nicht von Kind an hineingewachsen ist. Die Frage ist vielmehr, ob das eigene Nichtverstehen ausgehalten wird. In Deutschland, wo bald 40 Prozent konfessionslos sind, hat sich eher das Dogma durchgesetzt, alles müsse in medialer Kürze verständlich sein und für Unverstandenes brauche die Mühe der Toleranz eigentlich nicht aufgebracht zu werden.

Nein, ich verkehre hier nicht die Fronten; niemand muss mich über Terror aufklären. Aber ich definiere Freiheit anders als Emmanuel Macron. Zurückhaltung und Respekt für die Sensibilität anderer ist weder ein Einknicken vor Islamismus noch Selbstzensur. Seit vor anderthalb Jahrzehnten eine dänische Zeitung den jüngeren Reigen der Mohammedkarikaturen eröffnete, hat diese Auseinandersetzung nichts Gutes hervorgebracht, nur vermehrten Hass. Ist etwas deshalb wertvoll, weil es angegriffen wird? Die sexualisierte Häme, wie sie im Stil von Charlie Hebdo gepflegt wird, berührt mich unangenehm. Die Ermordung der Zeichner war entsetzlich, so wie jüngst die von Samuel Paty. Aber ist es deswegen untersagt, für den Verzicht auf diese Art von Karikaturen zu plädieren?

Tagtäglich wird vieles nicht kritisiert, nicht verspottet, aus Rücksicht auf die Interessen anderer, oft die von Mächtigen. Und wenn die Verletzung religiöser Gefühle ein Lackmustest auf die Meinungsfreiheit ist, wo sind dann vor Weihnachten die gehässigen Karikaturen der Jungfrau Maria? Tatsächlich wird die Freiheit des Spotts unterschiedlich dosiert. Frauenfeindliche Karikaturen sind seltener geworden, weil viele sie nicht mehr als Meinungsfreiheit, sondern als Diskriminierung empfinden.

Batu Caves (18791500420).jpg

Beim Thema Antisemitismus bleibt hingegen, wie der Fall Lisa Eckhart zeigt, hoch umstritten, was Satire ist und was sie darf. Im antirassistischen Milieu, sonst sensibel gegenüber Beleidigungen, wird kaum über eine fortschrittliche Haltung gegenüber religiösen Schmähungen debattiert. Wenn wir es falsch finden, die Verwendung des N-Wortes mit Redefreiheit zu legitimieren, sollten uns anders gelagerte Verletzungen nicht gleichgültig lassen. Von links werden Muslime gern abstrakt umarmt, soweit sie als Opfer von antimuslimischem Rassismus gelten können, doch mit ihrer Religiosität will man lieber nichts zu tun haben.

Tätergemeinschaft?

Die überwiegende Zahl der Opfer von islamistischem Terror sind Muslime, meistens Nichtweiße. Was in Europa geschieht, ist ein sehr kleiner Ausschnitt des weltweiten Terrorgeschehens. Dennoch bilden Muslime aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft stets eine Tätergemeinschaft, nie eine Opfergemeinschaft. Als parallel zu dem Anschlag in Wien die Universität Kabul angegriffen wurde, ging niemand zu den österreichischen Muslimen, um zu kondolieren.

Quelle         :         TAZ         >>>>>       weiterlesen


Grafikquellen       :

Oben      —          A view of Kuala Lumpur in October 2008.

Author Phalinn Ooi     /       Source  :

Flickr, phalinn’s photostream

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Unten      —         Batu Caves is a limestone hill that has a series of caves and cave temples in the Gombak district, 13 kilometres (8 mi) north of Kuala Lumpur, Malaysia. It takes its name from the Sungai Batu (Batu River), which flows past the hill. Batu Caves is also the name of the nearby village. The cave is one of the most popular Hindu shrines outside India, and is dedicated to Lord Murugan. It is the focal point of Hindu festival of Thaipusam in Malaysia. Wooden steps up to the Temple Cave were built in 1920 and have since been replaced by 272 concrete steps. Of the various cave temples that comprise the site, the largest and best known is the Temple Cave, so named because it houses several Hindu shrines beneath its high vaulted ceiling [Wikipedia.org]

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Die Mendel´schen Regeln 7

Erstellt von Redaktion am 1. Dezember 2020

Jana aus Kassel und der Araberhasser

Von Meron Mendel

Erinnerungspolitik ist eigentlich ganz einfach, könnte man meinen. Folgt man Theodor W. Adorno, ist ihre einfachste Definition, Erziehung so einzurichten, dass sich Auschwitz nicht wiederhole, nichts Ähnliches mehr geschehe. Eine Forderung, die so offenkundig ist, dass der Philosoph schon die Frage nach ihrer Begründung als Fortsetzung des Unheils empfand.

Erinnerungspolitik ist gleichzeitig sehr kompliziert – sofern sie eben das ist: Politik. Die vor Kurzem gestorbene Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger prägte den Begriff „KZ-Kitsch“, als sie inhaltsleere ­Erinnerungsrituale und Instrumentalisierungsversuche der Schoah kritisierte. Ein Glück, dass sie nicht erleben musste, wie sich aktuell eine Jana aus Kassel als Sophie Scholl inszeniert und ein Mädchen aus Karlsruhe glaubt, wie Anne Frank zu leben, weil ihr Geburtstag im kleinen Kreis gefeiert werden musste.

Die Erinnerungspolitik ist ein Meer, in dem Fische aller Sorten schwimmen, linke, rechte, Querdenker und Veganer gleichermaßen. So wurde der AfD-nahe Siegfried Reiprich zum Vorsitzenden der Stiftung Sächsischer Gedenkstätten, der #Black­Lives­Mat­ter-­Proteste in Stuttgart mit der „Kristallnacht“ verglich. Man denke auch an die Nichtjüdin Lea Rosh, die Initiatorin des Berliner Holocaustmahnmals, die eine Einmischung jüdischer Organisationen empört zurückwies, als sie mit der geschmacklosen Idee aufwartete, im Stelenfeld einen Backenzahn zu beerdigen. „KZ-Kitsch“ produzierte auch ein linkes Künstlerkollektiv, das angebliche Asche von Holocaustopfern vor dem Bundestag zur Schau stellte.

Die Instrumentalisierung der Holocausterinnerung ist aber keinesfalls eine deutsche Erfindung. In Israel erleben wir seit Jahrzehnten, wie die „Lehre“ aus der Schoah als Begründung für nationalistische und rassistische Ideologie verwendet wird. Der aktuelle Plan des israelischen Premiers Netanjahu, den ultrarechten Effi Eitam zum Vorsitzenden von Yad Vashem zu ernennen, ist eine Sternstunde dieser Ideologie.

Was Eitam für diese Stelle qualifiziert? Er hat sich noch nie mit Holocaustforschung oder Erinnerungskultur beschäftigt. Ihm gebührt nur ein über Jahrzehnte erarbeiteter Ruf als Araberhasser. Unter Befehl des Kommandanten Eitam wurde während der ersten Intifada ein palästinensischer Zivilist zu Tode geprügelt. Arabische Israelis seien „eine tickende Bombe innerhalb der Grünen Linie“ und eine „tückische Bedrohung wie Krebs“, sagte er. Mehrfach forderte er ihre Vertreibung aus Israel und aus „Judäa und Samaria“ (wie er die besetzten Gebiete nennt).

Die Vorstellung, dass die wichtigste Holocaustgedenkstätte der Welt, Yad Vashem, künftig von einem Rechtsextremen geleitet werden könnte, ist so aberwitzig, dass auch der Protest dagegen eigentlich keiner Begründung bedürfte. Und das ist nicht nur eine inner­israe­lische Angelegenheit: Yad Va­shem definiert sich als internationale Holocaustgedenkstätte und beansprucht für das „jüdische Volk“ zu sprechen, also auch im Namen aller Jüdinnen und Juden in Deutschland, auch in meinem.

Quelle       :      TAZ           >>>>>           weiterlesen

Zur gleichen Thematik :

Die Mendel’schen Regeln 6

Die Mendel’schen Regeln 4

Die Mendel’schen Regel 3

Die Mendel’schen Regeln 2

Streit ums Jüdische Museum


Grafikquellen     :

Oben          —       Meron Mendel 2018

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Unten      —      Gedenkstele an Anne Franks Geburtshaus

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Religion und Staat

Erstellt von Redaktion am 1. Dezember 2020

Laizität vs. Autokratie

Pro-Laizismus-Demonstration in Ankara (2007)

Quelle:    Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Man reibt sich ungläubig die Augen, wenn man aktuelle Kommentare von katholischen Autoren zu den widerlichen Morden in Frankreich liest. Zur eigentlichen Mordtat wird nichts gesagt. Sie wird vielmehr „hinterfotzig“ genutzt, um gegen die demokratisch legitimierte Laizität zu wettern. „Laizismus ist keine Lösung“ titelte die katholische Wochenzeitung Die Tagespost, um dann in einem wilden Reigen die Laizität zu verteufeln.

Zum richtigen Verständnis der in Frankreich wurzelnden Laizität muss man bis auf deren Entstehung zurückgehen. Mit der Ausrufung der 3. Republik 1870/71 kam Frankreich wieder auf den politischen Weg zurück, den es mit der französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte1789 eingeschlagen hatte: Liberté, Egalité, Fraternité. Einigkeit und Recht und Freiheit lassen grüßen. In der ganzen Entwicklung seitdem lag für die Republik ein Bereich allerdings total im Argen, die Bildung. Sie war noch immer fest in der Hand der Catholica und eher an doktrinären als an pädagogischen Zielen ausgerichtet.

In dieser Situation beauftragte die neue republikanische Regierung Ferdinand Buisson, einen Pädagogen und liberalen Protestanten, mit der Organisation des Schulwesens in Frankreich. Ihm wird die Wortschöpfung Laizität (Laïcité, Laienstand) als Kontrapunkt zum Clergé (Geistlichkeit) zugeschrieben. Er packte an und krempelte um. Als Qualifikation für das Lehramt an öffentlichen Schulen forderte er eine sachbezogene, pädagogische Ausbildung an dafür neu geschaffenen Hochschulen mit vom Staat vorgegebenen Lehrprogrammen. An diesen waren zum ersten Mal auch Frauen willkommen und erwünscht. Diese Öffnung einer akademischen Ausbildung und Laufbahn für Frauen war eine nicht unwichtiger Nebeneffekt der von Buisson eingeführetn Neuerungen. Ein langer schwarzer Rock und/oder eine noch so turtelige Haube waren keine Qualifikation mehr für ein Lehramt an öffentlichen Schulen. Diese wurden ab sofort vom Staat organisiert und für alle zugänglich und Pflicht. Erst als das Grundgerüst eines von Religion befreiten Bildungswesens stand, konnte dann 1905 die Trennung von Staat und Kirche per Gesetz festgeschrieben werden. Seit 1946 ist die Laizität für das gesamte Staatswesen in der Französischen Verfassung verankert.

Also nichts von „Nivellierung zu einer staatlich betriebenen, einheitlichen Zivilreligion“, wie das der hochgetakelte katholische Sozialethiker und Erziehungswissenschaftler arrogant in der Tagespost schrieb. Was hat denn seine Catholica zur Demokratie beigetragen? Nichts! Die bis heute für unsere Demokratie fundamentale Gewaltenteilung nach Monstesquieu wurde von der Catholica unverzüglich auf den Index gesetzt und ist bis heute bei ihr verbannt. Dort gilt: Alle Macht in einer Hand. Was Wunder, dass sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechtvon 1948 bis heute nicht ratifiziert hat, siehe deren Präambel: „da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen“.

Während die Laizität eine demokratisch legitimierte Ausformung von Politik ist, ist die Lehre der Catholica spätestens seit Augustinus ein Heilsversprechen unter der Direktive eines autokratischen Herrschers mithilfe einer ebenso gebürsteten Klerisei.

Urheberrecht
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Grafikquelle    :      Protect Your Republic Protest that had taken place at Anıtkabir on 14 April 2007

Photo by Selahattin Sonmez

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 24. November 2020

Wenn Gott dich liebt

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Von Nina Apin

Plötzlich geht es religiös zu. Auf einem der bekanntesten Fotos von den „Coronademos“ hält eine Frau der Polizei ein riesiges Holzkreuz entgegen.

Zählen Sie noch oder beten Sie schon? Wenn das Robert-Koch-Institut meldet, dass es im Mittel der letzten sieben Tage 18.338 Corona-Neuinfektionen pro Tag gegeben habe und wenn das 1,2 Prozent weniger sind als eine Woche zuvor; wenn aber gleichzeitig die Zahl der Tests um 13 Prozent abnimmt, während die Zahl der durchgeführten Schnelltests steigt und auf den Intensivstationen (Stand Donnerstag) 3.588 Coronapatient*innen und damit 13 Prozent mehr als vor einer Woche liegen, dann heißt das – ja, was eigentlich?

Keine Ahnung, wie es Ihnen geht, aber ich komme da mit Zählen nicht mehr weiter. Ich weiß nicht, was die Zahlengewitter, die täglich neu auf uns niedergehen, eigentlich bedeuten. So ganz konkret. Ob etwa die Schule weiter offen bleiben wird, obwohl bereits die Parallelklasse in Quarantäne ist und damit auch einige LehrerInnen, die meine Kinder unterrichtet hätten. Noch werden die entstehenden Minus-Stunden so gut es geht durch Vertretungen ersetzt. Letzte Woche allerdings stieg die Unterrichtsaus­fallkurve doch recht steil an. Und andere, düstere, Rechnungen bieten sich ebenfalls an: Wenn der Verdienstausfall eines Soloselbständigen mehr als 90 Prozent beträgt und die Prüfung des Anspruchs auf Finanzhilfen 7 Tage dauert, wie lange reicht das Geld dann noch, ohne dass Insolvenz oder Grundsicherung … Ach, lassen wir das.

Auch in den USA scheinen sie inzwischen durch zu sein mit dem Zählen: Nicht nur in Georgia, wo nach erneuter Auszählung der Stimmen schon wieder Joe Biden als Sieger herausgekommen ist, egal was Rudy Giuliani so behauptet – sondern auch in South Dakota, wo die republikanische und besonders Trump-treue Gouverneurin selbst angesichts einer Corona-Infektionsrate von 60 Prozent ihrer Einwohnerschaft und horrenden Todeszahlen nichts von staatlich verordneten Hygienemaßnahmen hält – und alle Läden, Sportstadien und Kirchen offen lässt. Besonders die Kirchen. Offenbar hoffen die Trump-Anhänger aus dem evangelikalen Milieu, gegen die ablaufende Amtszeit ihres Idols anzubeten und das „China-Virus“ mit dem Kruzifix zu bannen. So help me God.

Auch in Deutschland geht es plötzlich recht religiös zu. „Gott liebt Dich“ lassen großflächige Anzeigentafeln neuerdings mitten in der Berliner City wissen. Und eins der meistverbreiteten Fotos von der Anticoronamaßnahmendemo am Mittwoch zeigt eine Frau, die der Polizei am Brandenburger Tor ein riesiges Holzkreuz entgegen hält. Der Glaube als Widerstandssymbol, in einer Reihe mit Deutschlandflaggen und weißen Friedenstauben auf himmelblauem Grund. Ähnliche Holzkreuze, nur weiß angemalt, waren zuletzt beim sogenannten Marsch für das Leben von Abtreibungs- und Sterbehilfe-gegnerInnen durch die Stadt getragen worden.

File:Apocalypse.jpg

Der Boss mit seinen Blas-Engeln

Drängt sich das Kreuz als religiöses Machtsymbol wieder zurück in den öffentlichen Raum? Droht da ein fundamentalistischer Geist, den der Spiegel geografisch in den „Bible Belts“ Erzgebirge und Stuttgarter Umland verortet, das säkularisierte Herz der Berliner Republik zu besetzen? Irritierender Weise bin ich diese Woche, in der das hastig durch den Bundestag gepeitschte Infektionsschutzgesetz beschlossen wurde, mehrmals wuchtigen Kruzifixen begegnet, die ostentativ an Autorückspiegeln, Ohrläppchen und in einem Fall als Applikation auf einer Jacke durchs Stadtbild getragen wurden.

Quelle         :         TAZ       >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben         :          Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

Date between 1450 and 1500
Source http://bibliodyssey.blogspot.com/2008/01/apokalypse.html
Author Unknown author
Public domain This work is in the public domain in its country of origin and other countries and areas where the copyright term is the author’s life plus 100 years or fewer.

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Wir hatten Juden erwartet,

Erstellt von Redaktion am 21. November 2020

– aber es kamen Russen

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Von Erica Zingher

Unsere Autorin kam 1995 aus Moldau nach Deutschland, so wie viele andere Jüdinnen und Juden aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Sie sollten das jüdische Leben wieder erblühen lassen – doch eine echte Chance gab man ihnen nicht

Es ist der 22. Januar 2020, und ich sitze auf der Beerdigung meines Opas. Draußen reihen sich Gräber aneinander, ein Friedhof, wie es ihn tausendfach in Deutschland gibt, drinnen, in der Trauerhalle, kann ich meinen eigenen Atem sehen, während ich auf den glänzenden Sarg blicke. Ich friere. Aus den Boxen kommt Debussys „Clair de Lune“, später Chopin. Mein Opa hat klassische Musik geliebt. Nachdem meine Familie vor 25 Jahren aus Moldau nach Deutschland gekommen war, verkroch er sich in einem kleinen Zimmer, las staatsnahe russische Nachrichten, hörte Musik, meistens Klassik Radio. Geredet hat er selten.

Als die Musik verstummt, ist nur noch das Schluchzen meiner Oma zu hören. Niemand spricht. Weil ich nicht weinen will, bohre ich meine Fingernägel immer tiefer in meine Handinnenseite. Die Tränen fließen trotzdem. Ich weine über den Tod meines Opas. Über sein Leben, das für ihn in der Fremde endete. Über die vielen Versäumnisse unserer Familie, die sein Tod offenlegte. Ich weine, weil sich endlich ein Knoten in mir löst.

Später, nach der Beerdigung, sitzen meine Familie und ich im Wohnzimmer meiner Oma. Es ist mit Teppichen ausgelegt, russisches Klischee. Von der Decke hängt ein Kronleuchter, an den Wänden hängen seit jeher drei Bilder, die gratis mit den Rahmen kamen: ein Wasserfall, eine Blumenvase, eine Schlucht. David, mein 16-jähriger Bruder, und mein Onkel Tolja streiten sich um den Radiosender, aus der Küche dirigiert meine Oma, wo Kartoffeln, geräucherter Fisch, eingelegte Tomaten und Kaviarbrötchen ihren Platz auf dem Esstisch finden sollen. Wir sprechen russisch und essen russisch, so wie früher in Moldau.

Mein Bruder und mein Onkel haben sich geeinigt, wir hören russischen Rock, Sender Awtoradio, heben unsere Gläser, trinken auf meinen Opa: mein Onkel, mein Vater und seine Partnerin Natascha, ihre Mutter, mein Bruder David, meine Oma, meine Mutter, eine Nachbarin. Wir essen und trinken so viel Wein und Wodka, bis wir uns wieder erinnern wollen. An unsere 25 Jahre Deutschland.

Oma sagt: Gena, also mein Opa, habe es ja versucht mit dem Arbeiten. Er fing als Müllmann an, den Job hatte das Arbeitsamt ihm kurz nach der Einreise zugeteilt. Eines Tages saß er mit seinen deutschen Kollegen zusammen, sie machten Pause und aßen, als sie ihn beschimpften: Du scheißrussisches Schwein, hau ab mit deinem nach Knoblauch stinkenden Essen, hätten sie gesagt. Kotlety hatte er gegessen, Frikadellen. Danach ging Gena nicht mehr hin. Er wollte sich von niemandem beschimpfen lassen.

Ich habe viele solcher Erfahrungen in mich hineingefressen, sagt Oma. Es hat lange gedauert, bis die Leute verstanden haben, dass ich auch ein Mensch bin.

Wir haben in Deutschland sofort aufgehört, Knoblauch ins Essen zu tun, sagt die Nachbarin, eine Russlanddeutsche.

Und Papa sagt: Vor dem Leben in Deutschland warst du Schweißer, wie Opa, vielleicht Ärztin, Ingenieurin oder Jurist. Und dann kommst du hierher, hops, und du bist niemand.

Viele haben damit ihren Frieden gefunden, ist man sich einig am Tisch. Nur einer nicht, denke ich, mein Opa. Er hat alles hinter sich gelassen, um ein Leben in der Fremde aufzubauen, in einem Land, das ihn, uns, unbedingt wollte, und am Ende starb er, krank und enttäuscht, und es reichte nur für eine billige Sozialbestattung.

Wir sollten das jüdische Leben in Deutschland wieder aufblühen lassen, wünschte man sich

So wie meine Familie und ich kamen zwischen 1995 und 2005 mehr als 200.000 Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Menschen, die man später als „jüdische Kontingentflüchtlinge“ bezeichnete. Lange galt ihre Einwanderung als Erfolgsgeschichte. Sie, wir, waren die guten Migrant:innen. An unsere Ankunft war Hoffnung geknüpft: Wir sollten das jüdische Leben in Deutschland wieder aufblühen lassen. Bald darauf, Mitte der 1990er Jahre, wurden Migrant:innen aus dem ehemaligen Ostblock als Problem wahrgenommen – und dann gar nicht mehr. Man hat diese Menschen, uns, ­vergessen.

25 Jahre später frage ich mich, was eigentlich dran ist an dieser Erfolgsgeschichte. Sicher, einige von uns sind heute in der deutschen Mittelschicht angekommen. Aus uns ist etwas geworden: Wir sind Journalist:innen, Au­to­r:in­nen, Musiker:innen, Theater­ma­che­r:in­nen. Einer ist sogar Europaabgeordneter.

Doch über die Kränkungen, Enttäuschungen und Anstrengungen, die diese Erfolge mit sich gebracht haben, spricht niemand. Von denen, die es nicht nach oben geschafft haben, weiß kaum eine:r. Wer denkt an unsere Großeltern, unsere Eltern?

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Auch in meiner Familie wurde nicht über Ängste, Hoffnungen und zerplatzte Träume gesprochen. Auch nicht über Erdniedrigungen und Verletzungen. Es war, als hätten wir uns 1995 mit der ersten Sekunde auf deutschem Boden zum Schweigen verpflichtet. Vielleicht weil es so einfacher war, klarzukommen. Vielleicht aus Scham. Und weil wir nie einen Ort, eine Sprache fanden. Denn viele Erlebnisse passten nicht ins Bild, das man für uns vorgesehen hatte. Das der Bilderbuchjuden, deren Lebensinhalt darin bestehen sollte, irgendwie jüdisch zu sein und Deutschland damit einen Dienst zu erweisen.

Am Abend der Beerdigung meines Opas ruft meine Oma mich zu sich. Sie hält seine alte Kamera in der Hand. In den ersten Jahren in Deutschland hatte er noch viel fotografiert, irgendwann ließ er es bleiben. Ob ich die Kamera nicht haben möchte, fragt meine Oma, ich fotografiere ja gerne. Zurück in Berlin, wo ich wohne, finde ich einen alten Film in der Kamera, wahrscheinlich von Anfang der 2000er. Auf den entwickelten Fotos sind meine Großeltern zu sehen, mein Vater und Onkel. Es sind Fotos von einem Geburtstag. Mittagessen in der Küche, mein Bruder beim Spielen.

Ich beginne Fragen zu stellen: Wie war das mit unserer Ausreise? Ich selbst war zwei Jahre alt und kann mich nicht erinnern. Was ist schiefgelaufen bei unserer Einwanderung, unserer Integration? Was wollten wir von Deutschland – und was wollte dieses Land von uns? Ich lese die wenigen wissenschaftlichen Texte, die es über russisch-jüdische Einwanderung gibt, lese Politiker:inneninterviews, alte Reportagen.

Der Umbau der Sowjetunion, die Perestroika ab Ende der 1980er Jahre, war eine Zeit, die von großer Unsicherheit geprägt war. Der damalige Generalsekretär und spätere Präsident Michail Gorbatschow hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Land wirtschaftlich und politisch umzukrempeln. Das Ergebnis waren leere Regale in den Geschäften und Kriminalität im Land. Die Menschen waren verängstigt und hatten die Schuldigen schnell gefunden: die Juden. Die nationalistischen Bewegungen wurden immer lauter, Gerüchte über anstehende Pogrome verbreiteten sich, es kam zu Übergriffen. Viele jüdische Familien packten damals ihre Sachen und brachen auf nach Israel und in die USA.

Andere wollten nach Ostberlin. Im Juli 1990 bekannte sich die erste und letzte frei gewählte DDR-Regierung dazu, bedrohte jüdische Zuwan­de­r:in­nen aufzunehmen. In der Sowjetunion verbreitete sich die Nachricht schnell. Allein 2.000 russische Jüdinnen und Juden kamen im Sommer 1990 in die DDR.

An der Spree in Berlin-Treptow.jpg

Ungefähr zur selben Zeit flüsterte ein Freund meines Opas ihm etwas von Kanada ins Ohr. Der Freund erzählte, einige Familien hätten sich entschieden, dorthin auszureisen. Ob wir nicht mitkommen wollten? Mein Opa war unsicher. In ein fremdes Land reisen, ohne Zusage, dort bleiben zu können? Er winkte ab. Es brauchte einen Krieg, bis mein Opa den Mut fand, zu gehen.

1991 schaute die Welt auf Deutschland, Wiedervereinigung, endlich wieder ein Land. Die Ministerpräsidentenkonferenz beschloss am 9. Januar 1991 die Aufnahme jüdischer Migran­t:in­nen. Parallel: Freidrehende Nazis, täglich rechte Übergriffe, Brandanschläge auf Asylbewerberheime. Da kam es ganz gelegen, Jüdinnen und Juden aufzunehmen und zu zeigen: Von diesem neuen Deutschland geht keine Bedrohung aus. Doch ein Einwanderungsland wollte man nicht sein. Und auch der israelische Botschafter betonte, dass Jüdinnen und Juden kein Asyl in Deutschland bräuchten, da sie ja in Israel willkommen seien. Also beschloss man, eine besondere politische Grundlage zu schaffen: Die russisch-jüdischen Einwander:innen wurden zu Kontingentflüchtlingen. Dies gab ihnen die Möglichkeit, nach dem damals geltenden Aufenthaltsrecht in die Bundesrepublik einzureisen, ohne eine Verfolgung nachweisen zu müssen.

Quelle       :        TAZ          >>>>>            weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben      —         The en:Treptower Park war memorial in Berlin. Self taken, 2006.

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2.) von Oben      —     Alt-Treptow, Berlin, Germany – Treptowers and Molecule Man as seen from Spree (image edited: perspective corrected)

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Unten       —    The Spree, Treptow, Berlin, Germany, June 2019

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Verlorene Generationen

Erstellt von Redaktion am 18. November 2020

Die verlorenen Generationen der 80-ger Jahre

Ein Beitrag von Jimmy Bulanik

Die Epoche des so bezeichneten Strukturwandels im negativen Sinne muss zeitnah enden. Sie dauert bereits viel zu lange. Sichtbar wurde dies in der Mitte der achtziger Jahre.

Damals wurde am Weststreifen zwischen der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich Belgien, Luxemburg, Frankreich bis hin zur Schweiz betroffen. Dies traf viele Millionen von Menschen. Die Menschen in der Schwerindustrie beispielsweise.

Die Eheleute wurden unmittelbar betroffen. Erschwerend die Kinder. Gerade wenn es deren Lebensqualität tangiert und deren Versuche des sozialen Aufstieg.

Sie waren und sind in der Armut gefangen. Mit der angeblichen falschen Postleitzahl, der angeblich falschen Stadtteil, der angeblich falschen Straße. Bei machen obendrein noch die falschen Nachnamen wenn diese nach einer anderen Abstammung klingen.

Die Armut hat sich durch die Zeit erweitert. Weitere Generationen wurde in die Verelendung geboren. Auch Betriebe welche in der ökonomischen Verkettung gearbeitet haben wurden getroffen.

Ganze Stadtteile und Kommunen wurden schwer getroffen. Die Politik und die Betriebe glänzen durch Untätigkeit. Den Menschen in diesen Lebensräumen wurde keine neue Industrien als Ausgleich gegeben.

Die öffentliche Daseinsvorsorge als ganzes nahm sichtbaren Schaden. Der Wohnungsmarkt und der Arbeitsmarkt ist seitdem nicht mehr funktional. Was ganz unmittelbar die Millionen von Menschen in mehreren Ländern betroffen hat, ist die Entwertung der humanen Wertschöpfung per Räson.

Die Gesellschaft des Mittelstandes wurde immer weiter abgebaut. Dadurch auch die Betriebe für den Mittelstand. In der Bundesrepublik Deutschland können als Beispiel „Karstadt“, „Tengelmann“, „Neckermann“ benannt werden.

In den öffentlichen Stadtbildern entstanden überall Discounter bis hin zu Restposten Geschäfte. Im Laufe der Jahre gingen alle Segmente einer Gesellschaft zu diesen Discounter Betriebe einkaufen. Die Sicherheit in der Öffentlichkeit veränderte sich bemerkbar negativ.

Die Menschen mit ihrer gedemütigten Menschenwürde mussten ohnmächtig Phänomene konstatieren. Diese haben sie nicht verursacht. Darunter kann benannt werden Zusammenbrüche bei Kreditinstitute, die Börsen der Welt, Kapitalverbrechen in Form von Terror. Daraus entstanden heiße Kriege.

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Jede wirksame Investition durch die Politik und Wirtschaft ist in den sozialen Frieden ist sinnig

Trotz der Europäischen Union innerhalb des Europäischen Kontinentes als auch außerhalb. Die Schattenseiten der Globalisierung traf die Menschen erschwerend. Die politische Landschaften veränderten sich weltweit negativ.

Neue, rechtsextreme Organisationen nutzen die Gesamtlage als Geschäftskonzept. Die Stimmung in den Ländern wurden vergiftet. Die Gewalt der extremen Rechten betraf auch konservative Politiker.

Ob verbale Angriffe, der Versuche von Kapitalverbrechen wie Mord als auch vollendete Kapitalverbrechen wie Mord an Politiker. Das was eine Gesellschaft noch etwas zusammengehalten hat sind funktionale Organe in der Rechtspflege. Doch Menschen in der Justiz sind nicht für das Schreiben von besseren Gesetzen verantwortlich.

Was die Menschen auf internationaler Ebene brauchen sind Vernunft in der Ökonomie und Politik. Eine Räson welche sich auszeichnet durch Ökologie, sozialer Gerechtigkeit. Die bereits bekannten Ausmaße der Gegenwart haben die Größenordnungen und Auswirkungen von Kriegen.

Deshalb braucht es die Erhebung der Lebensqualität. Die notwendigen Maßnahmen sind auch jene wie nach einem Aufbau wie nach einem Krieg. Investitionen sind notwendig.

Faktisch ist Europa ein Ort für Baustellen. Dabei sollte allen Menschen bekannt sein das die Politik es braucht das die Zivilgesellschaft sich bemerkbar macht. Auch mit der Ökonomie muss dahingehend Kommunikation aufgenommen werden.

Die Botschaft muss darin lauten das die Menschen mit ihrer Würde und Wertschöpfung im Zentrum stehen. Es gibt bereits auf dem Globus zu viele verlorene Generationen. Die Zukunft ist von Herausforderungen geprägt.

Darin gibt es nichts zu verschwenden. Über die Profite hinaus geht es in der Zukunft um die eigene Rolle in der Welt. Damit verbunden ist ob wir in einer tatsächlichen sozialen Marktwirtschaft oder demokratisch verfassten Land leben werden.

Die Zukunft ist offen und wird das werden, was wir in der Gegenwart daraus gestalten. Dies darf die Zivilgesellschaft als auch demokratische politische Parteien in den Verfassungsorganen als Auftrag verstehen. Es gibt viel gutes zu Gewinnen.

Nützlicher Link im Internet:

Ludwig von Beethoven, 9. Sinfonie – Ode an die Freude

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Grafikquellen  :

Oben        —       Sorry Day poster

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Unten       —        Camp in front of Old Parliament House for Apology to the Stolen Generations

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Rechte Tätos in B.-Bethel

Erstellt von Redaktion am 18. November 2020

Frau mit jüdischem Hintergrund sah sich gezwungen die Gruppentherapie zu verlassen

Quelle:    Scharf  —  Links

Offener Brief: Von Antonia, Lu und Unterstützer:innengruppe

In Bielefeld sah sich eine Frau mit jüdischem Hintergrund gezwungen eine Therapiegruppe in Bethel zu verlassen. Zuvor hatte sie gemeinsam mit einer anderen Patient:in auf den rechtsextremen Hintergrund einer Mitpatient:in hingewiesen.

Im Herbst 2020 sind die beiden Patient:innen (nachfolgend Antonia und Lu (Namen geändert)) auf Nazi-Symbolik an einer ihrer Mitpatient:innen (nachfolgend N. (Name geändert)) aufmerksam geworden.

Dabei handelte es sich um Tätowierungen, die die Schwarze Sonne und die Odal-Rune zeigten, sowie um einen Aufnäher der Band Skrewdriver.

Skrewdriver war eine der bedeutendsten britischen Rechtsrockbands der 80er Jahre, ihre Mitglieder bekannten sich offen zum Nationalsozialismus. Die Schwarze Sonne dient in der Naziszene als Ersatzsymbol für das Hakenkreuz und als szeneinternes Erkennungszeichen.

Sie kann auch als drei übereinanderliegende Hakenkreuze interpretiert werden. Die Odal-Rune ist eine alte nordische Rune. „Wiederentdeckt“ wurde sie durch die Nationalsozialist:innen. In der BRD wurde sie durch die verbotene Neonazi-Organisation Wikingjugend als Symbol genutzt. Seit dem Verbot der Wikingjugend ist auch die Odal-Rune im neonazistischen Kontext verboten.

Die beiden Patient:innen wendeten sich mit diesem Wissen an die Gruppentherapeut:innen und teilten ihren Unmut und ihre Ängste über die Situation mit. Insbesondere, da Antonia jüdischer Herkunft ist. Ihre Vorfahren wurden von den Nazis verfolgt und während der Shoah ermordet.

Die Gruppentherapie sollte eigentlich auch für privateste Informationen einen geschützten Raum darstellen. Antonia und Lu fühlten sich in diesem Rahmen jedoch nicht mehr sicher. Sie befürchteten, dass private Informationen an gewaltbereite Nazis weitergegeben werden könnten.

Zunächst sah es so aus, als zeigten die Therapeut:innen viel Verständnis für ihr Problem mit der Situation. Sie sagten, sie nähmen die Ängste der beiden Patient:innen ernst und lehnten N.’s Einstellung ab.

Allerdings wollten sie nochmal mit der betreffenden Person sprechen, um ihr die Chance zu geben, sich dazu zu äußern.

Eine Woche später wurde Antonia und Lu von einem der Therapeut:innen mitgeteilt, was das Gespräch ergeben hat. Demnach sei N. tatsächlich vor einigen Jahren mehrere Jahre lang der Neonaziszene angehörig gewesen, sei dann aber ausgestiegen. Allerdings habe N. bis heute noch vereinzelt Kontakte dorthin. Die Band Skrewdriver habe N. gut gefunden, bevor sie politisch rechts wurde. Den Aufnäher habe N. dann einfach an der Jacke gelassen. Die Tattoos habe N. sich nicht überstechen lassen, da sie Teil ihrer Geschichte seien. N. beurteile Menschen nicht nach Äußerlichkeiten sondern würde auch immer dahinter schauen. N. könne aber verstehen, dass die Tattoos anderen Angst machen könnten.

Der Therapeut fragte die beiden Patient:innen, ob sie sich vorstellen könnten, in der Gruppe mit N. über die Situation zu sprechen. N. sollte sich in der Gruppe dann zu den Symbolen äußern und sich distanzieren.

Antonia und Lu hielten N.’s Darstellung eines Ausstiegs jedoch nicht für glaubhaft.

Ein Ausstieg aus der rechten Szene ist erst dann abgeschlossen, wenn alle Brücken zu anderen Rechtsextremen abgebrochen werden und die menschenverachtende Ideologie nach einem längeren Prozess der Selbstreflexion glaubhaft abgelehnt wird. Solange es noch private Kontakte zur rechten Szene gibt, nazistische Symbole (in diesem Fall als Tattoos) offen getragen werden und nichtmal Aufnäher von Rechtsrockbands entfernt werden, kann wohl kaum von einem Ausstieg gesprochen werden.

Auch die Aussage, dass N. die Band Skrewdriver gut fand, bevor sie rechts wurde, ist wenig überzeugend. Skrewdriver gehörte seit den frühen 80ern zu den bedeutensten Rechtsrockbands. Ihre Bedeutung in der Nazimusikszene überdeckt die kurze Phase, in der die Band andere Musik gemacht hat, bei weitem. Da N. nach eigenen Aussagen Teil der rechten Szene war, muss ihr die Bedeutung der Band bewusst gewesen sein.

Antonia und Lu lehnten also das Gesprächsangebot in der Gruppe ab, da sie befürchteten, dass es zu einer unwidersprochenen Scheindistanzierung von N. kommen könnte, die offensichtlich mit ihrer rechtsextremen Vergangenheit noch nicht komplett gebrochen hat. Stattdessen vereinbarten sie mit dem Therapeuten einen neuen Termin um nochmal ihre Einschätzungen zur Darstellung ihrer Mitpatient:in zu besprechen.

In der darauffolgenden Woche zog der Therapeut dieses Gesprächsangebot jedoch kurzfristig zurück. In Rücksprache mit einer zweiten Therapeutin hätten sie beschlossen, das Thema doch zeitnah in der Gruppe anzusprechen. Außerdem dürfe N. in der Gruppe bleiben, wenn sie sich auch dort nochmal von ihrer Vergangenheit distanzieren und zukünftig die Symbole verdecken würde. Daraufhin wurden Antonia und Lu vor die Wahl gestellt, sich entweder an der für den darauffolgenden Tag angedachten Gruppendiskussion zu beteiligen, oder aber die Gruppe zu verlassen. So sahen sich die beiden dazu gezwungen, die Therapie vorzeitig zu beenden.

Sie rechneten aus oben genannten Gründen nicht mit einer glaubhaften Distanzierung seitens N. und wollten vermeiden, sich N. gegenüber in einer offenen Diskussion als diejenigen „outen“ zu müssen, die die ganze Thematik angesprochen hatten. Aufgrund der nicht abgebrochenen Kontakte in die rechte Szene sahen sie darin immer noch ein direktes Risiko.

Es ist inakzeptabel, dass Therapeut:innen ihre Patient:innen vor die Wahl stellen, sich entweder einer möglichen Bedrohung durch Nazis auszusetzen oder andernfalls die Therapie zu beenden. Insbesondere eine Patientin mit jüdischem Hintergrund aufzufordern, eine Gruppentherapie gemeinsam mit jemanden zu führen, die sich nicht glaubhaft von einer Ideologie distanziert, die für den industrialisierten Mord an Jüd:innen verantwortlich ist, ist nicht hinnehmbar.

Wir fordern, dass Therapien als Schutzräume begriffen werden und Menschen nicht in gemeinsame Therapiegruppen mit Rechten gezwungen werden. Dazu muss Bethel die Therapeut:innen im Erkennen von und dem Umgang mit Rechtsextremismus schulen, wobei mit professionellen Beratungsstellen zusammengearbeitet werden sollte.

Urheberrecht
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Oben         —       Bethelplatz: Assapheum (Tagungshaus)

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Von Charlie-Hebdo-Linke

Erstellt von Redaktion am 8. November 2020

„Anstatt in Ideen wird in Identitäten gedacht“

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Caroline Fourest im Gespräch mit Doris Akrap – TAZ

Die französische Journalistin Caroline Fourest rechnet sich zur „Charlie-Hebdo-Linken“: Menschen, die über Religion, Rassisten und Fanatiker lachen und Meinungsfreiheit und Säkularismus verteidigen. Ihr neues Buch handelt von der „beleidigten Generation“

taz am wochenende: Frau Fourest, Sie sind bekannt als Kritikerin des radikalen Islamismus und als Verteidigerin eines radikalen Säkularismus. Ihr neues Buch „Generation Beleidigt“ handelt aber nicht von empfindlichen Islamisten, sondern von der entsprechenden Leberwurstigkeit der sogenannten identitären Linken. Wieso auf einmal so ein Nebenschauplatz?

Caroline Fourest: Es handelt sich zwar um eine relativ kleine Gruppe antirassistischer Linker, aber es ist eine wahnsinnig laute, die sich überall Gehör verschafft. Der eigentliche Grund ist aber, dass wir ständig über den Islam reden, wenn es eigentlich um Meinungsfreiheit gehen sollte.

Die diese Linken gefährden?

Wir leben in einer Zeit, in der ein Antisemit, ein Nazi oder ein Islamist ohne größere Probleme seine Weltanschauungen auf den sozialen Medien verbreiten kann, während es für radikal säkulare Linke immer schwieriger wird, ihre Ansichten zu vertreten. Und zwar auch, weil sie von diesem Teil der Linken, den identitären Linken, daran gehindert wird. In meinem Buch will ich zeigen, dass diese Strömung den Vorwurf der kulturellen Aneignung so instrumentalisiert wie der türkische Präsident Erdoğan den Islam: Es geht ihnen darum, jene zum Schweigen zu bringen, die nicht ihrer Meinung sind.

Sie sind nicht nur in Frankreich eine viel gefragte Journalistin. Fühlen Sie sich ernsthaft zensiert?

Es ist mittlerweile einfacher geworden, einen antisemitischen Entertainer wie Dieudonné zu einer Veranstaltung einzuladen als einen Mitarbeiter von Charlie Hebdo, der den Laizismus verteidigt. Früher ging es in linken Jugendkulturen darum, die Zensurversuche religiö­ser oder patriarchaler Tyrannen lächerlich zu machen. Erinnern Sie sich an Madonnas Video zu „Like a Prayer“. Heute halten junge Linke antireligiöse Zeichnungen für respektlos. Die Bigotten haben die Herzen und Hirne junger Antirassisten erobert. Anstatt in Ideen wird in Identitäten gedacht. Anstatt den Himmel für Möglichkeiten zu öffnen, werden Möglichkeiten verringert.

Sie kritisieren, dass diese identitäre Linke nicht mehr zwischen Protest und Zensur, zwischen Demokratie und Diktatur unterscheiden kann. Gleichzeitig bezeichnen Sie diese Linke als „Inquisitoren“ und „Kultur-Taliban“, die „Zensur“ üben würden. Mir ist nicht bekannt, dass die Linke, von der Sie sprechen, Folterverhöre durchführt und Todesurteile ausspricht.

Die Inquisitoren haben ja selbst nicht geköpft. Aber sie haben die Jagd auf die Häretiker und Hexen angetrieben. Für mich ist das auch eine feministische Referenz. Die Linke, die Meinungsfreiheit verteidigen und Feministinnen schützen sollte, steht auf der Seite der Zensur, wenn sie der Meinung ist, dass eine Frau mit weißer Haut kein Bild malen darf, auf dem eine Frau mit schwarzer Haut zu sehen ist.

Sie erinnern in diesem Zusammenhang irgendwo in Ihrem Buch an eine Idee, die ich sehr gut fand: den Aneignungspreis.

Ja, der sollte an einen Autor oder eine Autorin verliehen werden, der oder die am besten über Menschen schreibt, die nur ganz entfernt etwas mit ihm selbst und seiner Kultur zu tun haben. Aber Hal Niedzviecki, der als Chefredakteur einer kanadischen Literaturzeitschrift diese Idee in seinem Magazin formulierte, hat deswegen seinen Job verloren. Dank der Gedankenpolizei der identitären Linken.

Sie beschreiben in „Generation Beleidigt“ aber auch, dass Sie aufgrund eigener Erfahrungen in der radikalen Linken verstehen können, dass sich Schwarze Lesben von dieser abwenden.

Ja. Ich war Teil eines radikalen lesbischen Feminismus. Ich weiß, was es heißt, Teil einer Minderheit zu sein, die manchmal die Geduld verliert: Ich musste früher unter Feministinnen dafür kämpfen, dass man Vergewaltiger auch dann denunziert, wenn es Arbeiter sind. Heute fordern intersektionale Feministinnen, Vergewaltiger nur zu denunzieren, wenn sie nicht Opfer von Rassismus sind. Also Harvey Weinstein: ja, Tariq Ramadan: nein. Das ist das Ende des Feminismus.

Sie werden in Frankreich auch „La Polémiste“ genannt. In Deutschland sind Leute schon fast beleidigt, wenn man das Wort Polemik nur ausspricht.

Vorsicht, als Polemiker in Frankreich gelten vor allem engagierte Intellektuelle. Damit ist weniger der Stil gemeint.

Gut. Dann Polemikerin mit polemischem Stil.

Ja, es kann sein, dass wir in Frankreich ein bisschen zu sehr in die Polemik verliebt sind. Manchmal ist es sehr stimulierend und man kann ein paar Fanatiker wütend machen. Auch wenn ich nicht sicher bin, ob nicht am Ende die Wut siegen wird. Nach der Terrorattacke auf Charlie Hebdo 2015 rief mich eine amerikanische Journalistin an, um zu fragen, wie es mir geht. Am Ende sagte sie: „Und jetzt wird Marine Le Pen gewählt.“ Ich sagte ihr, dass wir das verhindern würden, und ich sollte recht behalten: Marine Le Pen wurde nicht gewählt, aber Donald Trump.

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Die „Generation Beleidigt“ ist Ihr erstes Buch, das auf Deutsch erscheint. Ihr Buch „Lob der Blasphemie“ von 2015 fand außerhalb Frankreichs keinen Verlag, obwohl Sie eine für internationale Medien arbeitende Journalistin sind. Wie zum Teufel wurde ausgerechnet die Blasphemie das letzte Tabu der globalisierten Welt?

Fragen Sie die Verlage. Es war offenbar allen zu heiß. Dabei hilft es nur dem Populismus, wenn immer weniger Leute den Mut haben, delikate Probleme anzusprechen. Interessanterweise redet die identitäre Linke übrigens auch nicht von kultureller Aneignung, wenn sich ungläubige Weiße einen Hidschab aufsetzen.

Wann fühlten Sie sich zum letzten Mal beleidigt?

Es ist nicht leicht, mich zu beleidigen. Aber als eine Feministin ablehnte, dass ich in ihrem Podcast über meine Erfahrungen spreche, war ich sehr beleidigt. Sie wollte lieber eine schwarze oder muslimische Feministin. Ich musste ihr sagen, dass ich mich nicht als weiß definiere und auch nicht so definiert werden will. Ich hab den Preis dafür bezahlt, mein Leben lang offen eine Lesbe zu sein. Ich hab einen Job deswegen verloren, bin von Nazis auf der Straße verprügelt und beschimpft worden. Nur, weil die jungen Feministinnen nicht mit mir einer Meinung sind, was die Meinungsfreiheit und den Säkularismus betrifft, haben sie entschieden, dass ich Teil der Welt der Herrschenden bin und nicht reden sollte.

Sie fordern dagegen einen „safe space für geistige Auseinandersetzung“.

Quelle         :          TAZ          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen           :

Oben        —       Caroline Fourest au rassemblement organisé par l‘Inter-LGBT place Baudoyer à Paris pour fêter le vote de la loi instituant le mariage et l’adoption pour les couples de même sexe en France.

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Mutter ist lange nicht Mutti

Erstellt von Redaktion am 6. November 2020

Mutter Mechthild muss vor Gericht

Aus Kirchschletten (Kreis Bamber) von Dominik Baur

Was Äbtissin Mechthild Thürmer gerade widerfährt, gibt es nur in Bayern: Die Geistliche gewährte geflüchteten Frauen Kirchenasyl im oberfränkischen Kirchschletten – und bekam dafür einen Strafbefehl.

Mutter Mechthild sieht nicht aus wie eine, die mit einem Bein im Knast steht. Flott, aber ohne Geschwindigkeitsüberschreitungen fährt sie mit ihrem himmelblauen Mitsubishi Space Star durch die oberfränkische Landschaft. Am Vormittag war sie noch drüben in Zapfendorf in der Schule, hat Religionsunterricht gegeben. Es regnet, ist kalt und ungemütlich. Den Regen, den hätten sie hier schon etwas früher gebrauchen können. Die Benediktinerin erzählt von dem trockenen Sommer, unter dem sie hier wie in ganz Franken gelitten hätten. Die Salaternte – ein totaler Reinfall.

Kaum hat sie den Wagen geparkt, führt sie auf direktem Weg in die Klosterkirche – der größte Stolz der Nonnen von Kirchschletten. In den Siebzigern haben sie die damals noch überwiegend philippinischen Nonnen zum Teil in Handarbeit aufgebaut, in einem Seitenflügel des Gebäudes. In dieser Phase ist auch Mechthild Thürmer, damals noch Teenager, zu ihnen gestoßen. Nur mal so zu Besuch, Freundinnen hatten sie mitgenommen. Natürlich haben die Mädchen gleich mit angepackt, „Die Zusammenarbeit mit den Schwestern war unendlich schön, wir haben miteinander Brotzeit gemacht, sind miteinander zum Beten gegangen.“ Und um Mechthild, die damals noch Anna hieß, war es geschehen. „Und dann habe ich eines Tages gesagt: So wie die möchte ich auch werden.“

Nein, es braucht wirklich nicht viel Menschenkenntnis, um zu erkennen, dass die kriminelle Energie der Äbtissin Mechthild Thürmer ein doch sehr überschaubares Ausmaß annimmt. Und doch ist es genau diese Frau, die im Februar plötzlich Post von der Staatsanwaltschaft Bamberg bekam, einen Strafbefehl über 2.500 Euro. Der Vorwurf: Beihilfe zum illegalen Aufenthalt. Und später, Thürmer hatte Widerspruch eingelegt, folgte die Vorladung vor Gericht. Dreimal platzte der Termin, zuletzt weil zu dem ursprünglich angeklagten Fall noch zwei weitere hinzugekommen waren, wie sie das Amtsgericht in einem Schreiben wissen ließ. Und sie solle doch bitte ihr Verhalten überdenken, habe sie der Richter noch gewarnt, und dass ihr andernfalls eine „empfindliche Freiheitsstrafe“ drohe.

Ihr Verhalten? Was die Staatsanwälte und offenbar sogar das Amtsgericht an diesem so ungebührlich finden, das dürfte in Mutter Mechthilds Milieu unter christlicher Nächstenliebe laufen: Die Ordensfrau hat Frauen und Männern, die nach Deutschland geflüchtet waren und denen die Abschiebung drohte, Kirchenasyl gewährt. Über 30 Menschen hat sie so schon geholfen.

Erst vor ein paar Tagen seien zwei von ihnen hier gewesen, die inzwischen eine Bleibeperspektive hätten, erzählt Mechthild Thürmer, während sie in dem schlichten Speisesaal des Gästehauses Kaffee einschenkt und Mohnstreuselkuchen reicht. Die eine der beiden Frauen sei fünf Jahre auf der Flucht gewesen. „In Libyen hat sie erlebt, wie die Kinder, Frauen, Männer reihenweise enthauptet worden sind. Und hat sich gedacht: Vielleicht bin ich die nächste. Das können wir uns nicht vorstellen, was die erlebt haben.“

Die 62-Jährige ist eine konservative Frau, die ihr Kloster mit viel Liebe und Strenge führt. Sie sagt auch Sätze wie „Deutschland kann nicht alle retten“ und ist dafür, dass man denjenigen, die sich nicht integrieren wollten, „sagt, wo’s langgeht“. Aber sie hat eben auch ihre Prinzipien. Und dazu gehört, dass man denen, die in Not sind, hilft.

Eigentlich wollte sie in die Entwicklungshilfe gehen, machte deshalb nach der Real­schule eine Ausbildung zur Krankenschwester. Aber nachdem sie Kirchschletten kennengelernt hatte, kam für sie nichts anderes mehr in Frage. Aufgewachsen ist sie auf einem kleinen Bauernhof in der Fränkischen Schweiz, nur 50 Kilometer entfernt, als ältestes von sechs Geschwistern.

2011 wählten sie ihre Mitschwestern zur Äbtissin von Kirchschletten. Neun Schwestern sind sie derzeit noch, die hier beten und arbeiten, wie es das alte Benediktiner-Motto will. Die Standbeine des Klosters sind die ökologische Landwirtschaft, das Gästehaus, die Kerzenmanufaktur und die Lehrertätigkeit der Äbtissin.

Noch heute kann sie aus einem Radiobeitrag aus den Siebzigern über Kirchschletten zitieren: „Da lagen sanftnasige Schafe in pastoraler Ruhe hingebettet unterm Apfelbaum.“ Es ist ein friedliches, fränkisches Idyll, in dem Mutter Mechthild ihre angeblichen Straftaten begeht.

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„Ich weiß es ehrlich nicht.“ Mehrfach sagt die Äbtissin diesen Satz. Sie weiß nicht, warum sie unter Anklage steht, was bei den drei angeklagten Fällen von Kirchenasyl anders gewesen sein soll als sonst. Konkret geht es um eine Eritreerin, eine Irakerin und eine Nigerianerin, die nach der Dublin-III-Verordnung nach Italien und Rumänien hätten abgeschoben werden sollen und die die Schwestern von Maria Frieden zwischen Oktober 2018 und Februar 2020 bei sich aufgenommen haben. Mechthild Thürmer ist überzeugt, dass alle drei Härtefälle sind, dass sie die Frauen etwa vor der Zwangsprostitution bewahrt habe und davor, unter Brücken zu schlafen.

Den Strafbefehl zu zahlen, nur um ihre Ruhe zu haben, kommt für sie nicht in Frage – „weil ich mir keiner Schuld bewusst bin“. Angst vor dem Gefängnis habe sie keine, sagt Mutter Mechthild und deutet mit dem Kopf zum vergitterten Fenster: „Gitter habe ich schon 42 Jahre.“ Doch sofort wird sie wieder ernst: „Dann müssten alle verurteilt werden, die je Kirchenasyl gewährt haben.“

Allerspätestens hier stellt sich die Frage, was es mit diesem Kirchenasyl überhaupt auf sich hat? Die romantische Vorstellung eines Don Camillo, der Menschen auf der Flucht in der Sakristei versteckt, das Kirchenportal verriegelt und seine Gewissenskonflikte allenfalls im Gespräch mit dem Gekreuzigten höchstpersönlich austrägt, hilft hier jedenfalls kaum weiter. Das zeigt sich schon daran, dass Mutter Mechthild, wenn immer sie jemanden aufnimmt, als Erstes die Behörden informiert.

Quelle             :         TAZ       >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben      —          Benediktinerabtei St. Michael – Benedictine monastery

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Unten         —          Bundeskanzlerin Deutschland Federal Chancellor Germany

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Feind und Kunde

Erstellt von Redaktion am 5. November 2020

Kiyaks Deutschstunde  / Islamismus

Besuch Bundeskanzlerin Angela Merkel im Rathaus Köln-09916.jpg

Hier – wird Schreiben gelernt! Mutti nuschelte immer vom „Wir“ . Sie hatte nie gelernt ein Deutsches „ICH“ auszusprechen, was zeigt wie lange sie hinter der Mauer auf ihre Freiheit gewartet hatte.

Eine Kolumne von Mely Kiyak

Angela Merkel sagte nach dem Attentat von Wien, der Kampf gegen die Anstifter von Terror sei ein „gemeinsamer Kampf“. Das stimmt nicht ganz.

Nein, Verzeihung, mit Verlaub: Der islamistische Terror ist nicht, wie Angela Merkel nach dem Attentat von Wien sagte, „unser gemeinsamer Feind“. Wer genau ist mit diesem „uns“ gemeint? Die Österreicher und die Deutschen? Der Westen, die Europäer, wer? Falls mit dem gemeinsamen Feind jene Staaten gemeint sind, die islamistischen Terror unterstützen, dulden oder gar rekrutieren, so möchte man festhalten, dass es die gleichen Staaten sind, die zu den Stammkunden der deutschen Waffenindustrie zählen. Angefangen von Saudi-Arabien bis zur Türkei werden ununterbrochen Waffen, Panzer, Munition geliefert. Sie landen von dort aus direkt oder indirekt bei islamistischen Kriegern. Der islamistische Terror scheint dann ein Störfaktor zu sein, wenn er die Europäer betrifft und auf europäischem Gebiet stattfindet. Ansonsten wird mitverdient.

Der islamistische Terror ist natürlich nicht nur das Werk von Einzeltätern, sondern hat ähnlich wie der Rechtsextremismus Strukturen. Je nach Ausprägung und je nach Land findet die Rekrutierung mal mehr, mal weniger staatlich geduldet statt. Wenn türkische militärische Interventionen, bei denen islamistische Milizen, in der Kurdenregion Rojava beispielsweise, zuvor mit theologischem oder patriotischem Geist auf allen möglichen öffentlichen Kanälen aufgewertet wurden, dann hat man es eben nicht nur mit Attentätern zu tun, sondern mit staatlichen Strukturen. Kurz: Der gemeinsame Feind ist je nach deutscher politischer Befindlichkeit mal ein Feind und dann wieder ein Kunde.

In einer 60-seitigen Broschüre, die kostenlos im Internet abrufbar ist und nur wenige Monate alt ist, hat Dr. Simone Wisotzki für das Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung im Auftrag von Greenpeace eine Bilanz der vergangenen 30 Jahre über deutsche Rüstungsexporte in alle Welt zusammengetragen. Da kann man sehen, dass deutsche Waffen in Pakistan oder Katar zu einer Bewaffnung islamistischer Terroristen führten.

Widerspruch auch bei diesem Satz der Kanzlerin: „Der Kampf gegen diese Mörder und ihre Anstifter ist unser gemeinsamer Kampf.“ Nun möchte man doch erinnern: Hatte man mit einem der eifrigsten Anstifter der islamistischen Gewalt nicht vor Jahren einen sogenannten „Türkei-Europa-Deal“ vereinbart. Schon vergessen? Man schaute bewegt und bewundernd vom fernen Deutschland aus zu, wie Kurdinnen in Gummischlappen gegen bärtige Krieger kämpften, und nahm es hin.

Genauso als Amnesty International der Türkei und ihren islamistischen Milizen in Nordsyrien schwere Verbrechen zur Last legte, da sprang die deutsche Regierung den tapferen Kurdinnen und Kurden, die gegen diese Mörder kämpften, nicht etwa bei. Sondern sie setzte die Politik des türkischen Machthabers auf deutschem Boden fort, indem sie in Deutschland diejenigen bestrafte, die Fahnen der YPG, der Frauenmiliz YPJ und der PYD schwenkten. Diese drei syrischen Antiterrororganisationen waren es, die sich mit dem IS anlegten. Nicht, dass Fahnenschwenken irgendeinen Nutzen hätte, aber so mancher Kurde hielt in Deutschland diese Symbole hoch, um seinen Respekt und seine Solidarität mit der kurdischen Widerstandbewegung im Kampf gegen islamistische Mörder zu bekunden, und wurde dafür verurteilt.

Die Opfer sind sehr allein

Welchen Symbolwert hat es, wenn man die Politik eines türkischen Dulders von islamistischem Terror auf deutschem Boden weiterführt? Es bedeutet, dass einem der Terror komplett wurscht ist, wenn er fremde Kinder, Frauen und Männer betrifft und dass es eben keinen „gemeinsamen“ Feind gibt. Beweise lassen sich andauernd finden.

Quelle       :        Zeit-online         >>>>>        weiterlesen

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Grafikquelle        :

Chancellor Angela Merkel signs the Golden Book of Cologne during her visit to the City Hall.

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Die Wahl als Farce

Erstellt von Redaktion am 5. November 2020

Donald Trump und der Aufstieg der Autokraten

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Die Mendel´schen Regeln 6

Erstellt von Redaktion am 3. November 2020

Es genügt nicht, defensiv zu sein

Von Meron Mendel

Ist der 9. 11. ein „Schicksalstag“ der Deutschen? Ist die Tatsache, dass die friedliche Revolution in der DDR an einem 9. 11. im Mauerfall kulminierte, Anlass genug, ihrer zusammen mit den Pogromen 1938 zu gedenken? Geht man nach der hessischen AfD, soll beiden Ereignissen künftig gleichermaßen gedacht werden, soll der 9. 11. zu einem „Gedenk- und Feiertag“ werden. Wie sich das darstellen soll, ob etwa am Vormittag gedacht und am Nachmittag gefeiert werden soll, ließ Frank Grobe, parlamentarischer Geschäftsführer der hessischen AfD, in seiner Rede vor dem Landtag offen. Unter dem Motto „Wo Licht ist, ist leider auch immer Schatten“ trug er stattdessen diverse Ereignisse vor, die sich ebenfalls am 9. 11. zutrugen: etwa das erste NSDAP-Verbot, der Geburtstag von Björn Engholm oder die Gründung der Caritas. Alles unter dem Motto: „Nur ein geeintes Volk, welches über einen symbolkräftigen Gedenk- und Feiertag verfügt, kann sich neuen Herausforderungen leichter stellen.“

Es ist nur eines von vielen geschichtspolitischen Schlachtfeldern, die die Rechten derzeit eröffnet haben, auf denen sie die Deutungshoheit über Begriffe, Symbolik, Daten und Namen beanspruchen. Wenn die Novemberpogrome nur mehr ein Ereignis unter vielen Feier- und Gedenkanlässen sind, so das Kalkül, muss sich Deutschland mit seiner lästigen Vergangenheit nicht mehr herumschlagen – oder gar Konsequenzen daraus ziehen.

Diese geschichtspolitischen Manöver mögen weniger bedrohlich erscheinen als drastische „Ausländer raus“-Kampagnen – es ist jedoch kein Zufall, dass die Rechten so viel Energie auf sie verwenden. Erste Aufgabe der leider wohl bald aus Steuermitteln geförderten AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung wird ein Geschichtsrevisio­nismus light sein; ein Bild der Vergangenheit, in welchem man wieder unbekümmert stolz darauf sein kann, ein Deutscher zu sein. Teil dieser Strategie sind subtile Umdeutungen von Begriffen wie „Demokratie“, „Pluralismus“ und „Menschenrechten“, die in dieses Narrativ passen. So wird unter Demokratie etwa die Herrschaft des Volks als einer einzelnen ethnischen Gruppe verstanden oder wie von Gauland neulich als Widerstand gegen die vermeintliche „Corona-Diktatur“ stilisiert; unter „Pluralismus“ ein Ethnopluralismus, in welchem die Menschheit wieder nach Herkünften verteilt werden soll. Wenn Konservative einen „Rassismus gegen Weiße“, „Sexismus gegen Männer“ oder gar „Rassismus gegen Polizisten“ feststellen, ein Bundesinnenminister gar „deutschenfeindliche Straftaten“ zählen will, sind sie stets schon dieser Strategie auf dem Leim gegangen.

Auch hier hat sich die Rechte wieder einmal ein Tool emanzipatorischer Bewegungen und marginalisierter Gruppen angeeignet – in diesem Fall das „Reclaimen“, das Wiederaneignen von Begriffen, die ursprünglich zur Abwertung der eigenen Gruppe dienten. Prominentes Beispiel sind die ursprünglich pejorativen Vokabeln „gay“ bzw. „schwul“, die von der Schwulenbewegung affirmativ besetzt wurden. Hier hat die Rechte von Gramsci gelernt – sie streben kulturelle Hegemonie an, verändern den vorpolitischer Raum („Metapolitik“), um die Grenzen des Sagbaren auszuweiten und den eigenen randständigen Diskurs in den Mainstream zu tragen. Die Entwertung des 9. 11. als zentraler Bezugspunkt des Nachkriegsgedenkens gehört dazu.

Quelle         :       TAZ           >>>>>          weiterlesen

Zur gleichen Thematik :

Die Mendel’schen Regeln 4

Die Mendel’schen Regel 3

Die Mendel’schen Regeln 2

Streit ums Jüdische Museum

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Grafikquellen     :

Oben          —       Meron Mendel 2018

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Unten      —      Gedenkstele an Anne Franks Geburtshaus

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Armageddon für Trump

Erstellt von Redaktion am 26. Oktober 2020

Evangelikale Christen werben für Israel

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Ein Artikel von Marina Klimchuk

Evangelikale lieben Israels Regierung – und sie gelten zugleich als wichtige Unterstützer der Wiederwahl des US-Präsidenten.

Weniger als zehn Minuten Autofahrt liegen zwischen der US-Botschaft, die Donald Trump 2018 feierlich von Tel Aviv nach Jerusalem verlegen ließ, und Bethlehem, dem Geburtsort Jesu im Westjordanland. Die Coronapandemie hat in der Stadt ihre Spuren hinterlassen: Wo früher Massen von christlichen Pilgern Schlange standen, um die Geburtskirche zu betreten, breitet sich triste Leere aus. Die aufdringlichen Taxifahrer und Tourguides sind verschwunden, Reise­büros und Hotels haben ihre Mitarbeiter*innen entlassen. Die Kirchentore schließen schon am frühen Nachmittag.

2019 war ein Rekordjahr für Bethlehem. Beinahe zwei Millionen Besucher*innen hatte die Geburtskirche. Doch für die meisten Pilger ist der Aufenthalt in Bethlehem nur kurz. Der Führung durch die Kirche folgt ein Mittagssnack mit Hummus oder Falafel, und schon eilt man zurück zum Reisebus. Eine klassische Pilgerreise im Heiligen Land spielt sich nicht im Westjordanland ab, sondern in Israel. Dass sich die Geburtskirche auf palästinensischem Territorium befindet, ist ein unbequemer Zufall.

„Wer Israel flucht, der wird verflucht! – Wer Israel segnet, wird gesegnet!“

„Wer Israel flucht, der wird verflucht! – Wer Israel segnet, wird gesegnet!“ Auf diesen Satz im 1. Buch Mose 12,3 gründen viele evangelikale Christen ihre politischen Vorstellungen. Sie fordern eine bedingungslose Unterstützung der israelischen Regierung einschließlich deren Siedlungspolitik im Westjordanland.

Bis zum Ausbruch der Coronapandemie brachte die US-Lobbyorganisation Christians United For Israel (CUFI) jedes Jahr Hunderte amerikanische Pastoren nach Israel. Als größtes proisraelisches Bündnis in den USA zählt CUFI über 8 Millionen Mitglieder. Der robuste 80-Jährige Fernsehprediger John Hagee aus Texas ist stolz auf sein Lebenswerk. Als die USA 2018 als erster Staat der Welt Jerusalem als offizielle Hauptstadt Israels anerkannten und den neuen Botschaftsstandort in Jerusalem einweihten, war Hagee als Prediger eingeladen.

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„Sie haben die politische Unsterblichkeit erreicht“, so hatte der TV-Prediger noch vor der Eröffnung Donald Trump gelobt, „denn Sie hatten den Mut, das zu tun, was sich andere Präsidenten nicht getraut haben.“ In der Vergangenheit hat Hagee immer wieder bizarre Thesen verbreitet, etwa dass Hitler ein Erfüllungsgehilfe Gottes gewesen sei. Alle Juden hätten dem Ruf des Zionismus folgen und nach Palästina auswandern sollen.

Seiner Karriere geschadet hat das nicht: Bei den jährlichen CUFI-Konferenzen sind hochkarätige Poli­ti­ker*innen und Diplomaten aus den USA und Israel vertreten. Als Hagee Anfang des Monats an Covid-19 erkrankte, wünschte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu ihm auf Twitter eine schnelle Genesung, denn Israel habe „keinen besseren Freund“.

Rund ein Fünftel der US-Amerikaner*innen verstehen sich als evangelikale Christen. 2016 stimmten 81 Prozent von ihnen für Donald Trump und verhalfen ihm somit zum Wahlsieg. Eine ähnliche Unterstützung benötigt Trump auch für seine angestrebte Wiederwahl am 3. November, schätzen Wahlkampfanalysen.

Unterstützung für den göttlichen Heilsplan

Was Evangelikale vereint, ist, dass sie die Bibel nahe am Text auslegen, sozial konservativ eingestellt sind und bedingungslos hinter dem Staat Israel stehen. Eine Untergruppe der Evangelikalen, die mit großer Treue zu Trump hält, bezeichnet sich als christliche Zionist*innen, so wie John ­Hagee. US-Vizepräsident Mike Pence und Außenminister Mike Pompeo gehören zu ihnen, aber auch Robert Jeffress, Leiter einer Megakirche in Texas und einer der engsten Berater*innen des Präsidenten.

Der christliche Zionismus wird als Sammelbegriff für eine Reihe von proisraelischen Einstellungen verstanden. Eine davon läuft darauf hi­naus, dass Trumps Israelpolitik die Erfüllung eines göttlichen Heilsplans bedeute. Demnach sind Politik und Religion untrennbar verwoben.

Wie kein anderer US-Präsident hofiert Trump diese Wählergruppe: Im August machte er Schlagzeilen, als er bei einem Wahlkampfauftritt erstmals öffentlich zugab, die US-Botschaft in Israel seiner evangelikalen Wähler*innen wegen verlegt zu haben. Diese hätten ihm mehr Dankbarkeit gezeigt als das jüdische Volk.

2018 kündigte Trump den Rückzug der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran an, den Evangelikale als permanente Existenzbedrohung für Israel fürchten. 2019 erkannte seine Administration Israels Annexion der Golanhöhen an. Wenige später erklärte die US-Regierung, die is­rae­lischen Siedlungen in den besetzten Gebieten seien nicht mehr völkerrechtswidrig. In seinem „Friedensplan“ im Januar dieses Jahres gab Trump zumindest vorübergehend grünes Licht für eine Annexion aller Siedlungen im Westjordanland. Und auch mit seinem Coup, den Normalisierungsabkommen der Emirate und Bahrains mit Israel im September, wollte Trump offenbar vor allem bei seinen evangelikalen Wähler*innen im eigenen Land punkten. Das scheint ihm auch bei dem jüngst geschlossenen Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und dem Sudan gelungen zu sein.

„Die Wahrheit über Israel erzählen“

In einer der israelischen Siedlungen lebt ­Moshe Rothchild. Von seiner Terrasse in Efrat aus blickt der amerikanischisraelische Rabbiner und Tourguide auf Bethlehem. Dort war er allerdings noch nie, denn aus Sicherheitsgründen ist es Israelis nicht gestattet, in palästinensische Städte zu reisen. Dabei würde er Weihnachten gern einmal mit seinen Freund*innen aus den USA in Bethlehem verbringen.

Für Rothchild ist die politische Allianz zwischen evangelikalen Christ*innen und jüdischen Israe­lis unentbehrlich. Während früher amerikanische Juden die wichtigsten Verbündeten Israels waren, sind mittlerweile evangelikale Christen die bedeutendste Interessengruppe, die sich finanziell und politisch nicht nur für den Staat Israel, sondern auch für die rechtsnationale Siedlerbewegung starkmacht.

Rotchild begrüßt diese Entwicklung: „Wir sind zu sehr damit beschäftigt, was Christen und Juden historisch trennt.“ Das sei ein Fehler, sagt er. Mit seiner eigenen Organisation, Global Israel Alliance, versucht er, Brücken zu bauen. Dafür bringt er Pastoren auf Reisen ins Heilige Land – und zwar kostenlos. „Die Wahrheit über Israel zu erzählen ist der wirksamste Weg, es zu verteidigen“, verspricht Global Israel Alliance auf ihrer Internetseite. Darunter ist ein Bild von israelischen Soldaten an der Klagemauer zu sehen. Im Wind flattert die blau-weiße israelische Fahne.

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Laut einer Recherche der israelischen Zeitung Haaretz zahlten christliche Organisationen und Geldgeber*innen aus den USA, oft nach einer ­emotionalen Pilgerreise, von 2008 bis 2018 bis zu 65 Millionen US-Dollar an israelische Siedlungen.

Einst stellten Christ*innen die Mehrheit in Bethlehem. Heute gehören sie einer schrumpfenden Minderheit an. Als Grund für den Exodus führen sie fast ausnahmslos die unerträgliche politische Lage an. Eingekesselt von 22 jüdischen Siedlungen, hat die dicht besiedelte Stadt kaum Platz für Wachstum. Die israelische Sperranlage, eine acht Meter hohe Betonmauer, umkreist weite Teile der Stadt. Während Tourist*innen vor Ausbruch der Pandemie problemlos ein- und ausreisen konnten, müssen Palästinenser*innen oft lange am Checkpoint warten, bis israelische Soldat*innen sie aus ihrer Heimatstadt herauslassen.

Von den amerikanischen Pilgern in der Geburtskirche hat kaum einer von palästinensischen Christen gehört. „Wir sind für christliche Zionisten keine echten, koscheren Christen, deshalb unterhalten sie mit uns auch keine Beziehungen“, lacht Mitri Raheb bitter. Wegen seiner Kritik an Israel wurde der prominente lutherische Pastor und Hochschulpräsident in Bethlehem wiederholt attackiert und des Antisemitismus bezichtigt. „Für Menschen wie John Hagee ist Gott ein Business. Netanjahu hat kein Problem damit, mit denen ein Bett zu teilen, solange sie Israel moralisch und finanziell unterstützen“, kommentiert er die Allianz zwischen Israel und den Evangelikalen.

Quelle        :       TAZ           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen         :

Oben     —        Nicholas Roerich „Armageddon“

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2. von Oben       —    The harlot Babylon. Detail from a woodcut by Albrecht Dürer

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 14. Oktober 2020

Statt zu meckern, lieber in den Abgrund gucken

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Durch die Woche von Ariane Lemme

Manchmal wundere ich mich. Zu unkontrovers hieß es gestern über die neue Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück. Ganz so, als sei’s recht gewesen, als letztes Jahr der sehr kontroverse Peter Handke gewonnen hat. Gut, da gab’s immerhin wochenlang Feuilletonstreit und Popcorn gratis, und hochpolitisch war’s obendrein.

Aber woher zum Teufel kommt eigentlich diese Annahme, dass Kunst politisch sein soll? Das geht für mich immer an jedem echten Verständnis vom Sinn und Zweck der Kunst vorbei. Streiten und kämpfen für eine bessere Welt sollte man unbedingt – auf der Straße, nicht auf der Leinwand. Auch wenn – das will ich ja auch nicht leugnen – viele Künstler es geschafft haben, beides sehr kunstvoll zu verbinden. Zugegeben, es ist also nicht ganz leicht, beides immer zu trennen.

Aber die Essenz, die Vollendung aller Kunst ist doch immer, wenn jemand über Milieus und unterschiedliche Lebenserfahrungen hinaus es schafft, etwas zu sagen, was alle Menschen gleichermaßen berühren kann. Weil er oder sie einen Funken dessen gefunden und geschliffen hat, was alle Menschen verbindet. Ehrlich gesagt kenne ich die Gedichte von Louise Glück nicht, bis auf ein paar, die ich seit gestern gelesen hab. Aber die Themen, die sie bearbeitet – Verrat, Verlust, Sterblichkeit – scheinen mir doch geeignet, ein paar dieser Funken zu bergen.

Vielleicht also – steile These – war die Entscheidung des Nobelkomitees keine konfliktscheue, sondern eine, die darauf abzielte, in einem Jahr, in dem alles auseinanderzufliegen zu scheint, in dem Kontroversen und gesellschaftliche Spaltung einfach the new normal sind, den Blick auf das zu lenken, was alle verbindet: die Angst vorm Sterben, die Angst, zurückgelassen, allein zu sein, die Angst, zu lieben und verletzt zu werden, und – damit verbunden – immer die Bereitschaft, zu betrügen. Sorry, viel komplexer ist der Mensch nicht, auch wenn infame Ungleichheit und brutale Unterdrückung ihm ganz unterschiedliche – manchmal keine – Möglichkeiten geben, zu leben und damit auch, mit dieser Angst umzugehen.

Klar, auch Louise Glück wird die US-Amerikaner nicht gegen Trump vereinen oder den Rassismus zähmen. Aber politischen Frieden stiften ist halt auch nicht die Aufgabe von Kunst, sondern, der Name verrät’s bereits, der Politik. Alles was Kunst kann und soll, ist ein bisschen tiefer unter die Laken der Diskurse und Debatten zu gucken. Im besten Fall bis runter auf den nackten Grund der Existenz. Was die Leser und Betrachter dann damit machen, ist ihre Sache.

Schöner Nebeneffekt: Oft erreicht man mit einem gemeinsamen Blick in den Abgrund mehr Verständnis bei den Menschen als mit ganz viel mit geschwungenem Zaunpfahl vorgetragener politischer Haltung.

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Vielleicht aber auch nicht, denn es gibt ja wahnsinnig viel gute Kunst auf dem Markt, und trotzdem jährt sich heute – nur so als bitteres Beispiel – das Attentat von Halle.

Dieser grässliche Tag, an dem zwei Menschen ermordet wurden, zynischerweise auch noch an Jom Kippur, dem – einzigartiges und wunderschönes Judentum – Tag der Versöhnung, ist natürlich nur eine Erinnerung von vielen daran, dass es mit ein bisschen „Erkenne im anderen dich selbst“ nicht getan ist.

Quelle         :       TAZ         >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben      —          Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Unten     —      Synagoge in Halle (Saale), Jüdischer Friedhof, Humboldtstraße

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Schönes neues Heiliges Land

Erstellt von Redaktion am 6. Oktober 2020

Einstaatenlösung für Israel und Palästina

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Von Susanne Knaul

Im Vergleich zu den Problemen, die ein Staat für beide Völker mit sich brächte, erscheint die Umsetzung der Zweistaatenlösung wie ein Kinderspiel.

Ein Essay in der New York Times reichte aus, um Israels Printmedien mit heftigsten und kontroversen Kommentaren zu füllen, sechs davon allein in der liberalen Tageszeitung Haaretz. Autor des umstrittenen Textes ist der US-amerikanische Politologe und Publizist Peter Beinart. Der praktizierende Jude, der, als man noch reisen konnte, regelmäßig zu Gast im Heiligen Land war, nimmt Abschied von der Zweistaatenlösung. „Ich glaube nicht mehr an den jüdischen Staat“, so der Titel seiner Abhandlung. Stattdessen stellt er sich eine jüdische Heimat in einem Staat vor, in dem Gleichberechtigung für alle BürgerInnen gilt.

Mit seinem bereits im Juli erschienenen Essay, der kürzer ist als dieser Text, fordert Beinart die liberalen Zionisten auf, sich loszulösen von dem Ziel einer über die Jahre mehr und mehr zur Utopie gewordenen jüdisch-palästinensischen Trennung. „Akzeptiert das Ziel der jüdisch-palästinensischen Gleichberechtigung.“

Beinart erfindet keineswegs das Rad neu. Schon in den frühen 1980er Jahren erklärte der israelische Politologe, Autor und ehemals stellvertretende Bürgermeister Jerusalems, Meron Benvenisti, es sei „unmöglich, dieses Land zu teilen“. Es sei „fünf Minuten vor Mitternacht“, warnte er in einem 1982 von der New York Times gedruckten Interview. Mithilfe einer umfassenden Datenbank dokumentierte Benvenisti die Verbreitung israelischer Siedlungen in den besetzten Palästinensergebieten und kam zu dem Schluss, Israel verhalte sich einerseits „wie eine vollblütige Demokratie, aber wir haben eine Gruppe von Leibeigenen, die Araber, für die wir diese Demokratie nicht gelten lassen“. Das Ergebnis sei, wie Benvenisti in einem Interview in Haaretz 2012 erklärte, „eine Situation extremer Ungleichheit“.

Vor zwei Wochen starb der 86-Jährige am jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana, desillusioniert vom Zionismus und bis zum Ende festhaltend an der Überzeugung, dass die beiden Völker einfach lernen müssten, miteinander zu leben. Sein Tod stieß im Vergleich zum Aufruhr um Beinart auf wenig Aufmerksamkeit. Selbst Haaretz, die Zeitung, für die er regelmäßig Kolumnen verfasste, brachte keinen sehr umfassenden Nachruf auf den Mann, der in seiner Heimat ein einsamer Querdenker blieb.

Anders als Benvenisti galt Beinart bislang als überzeugter Zionist. „Ich glaube, dass das jüdische Volk, nachdem es zweitausend Jahre heimatlos war, einen eigenen Staat verdient hat, der es in seiner historischen Heimat schützt“, schrieb er in dem 2013 veröffentlichten Buch „Die amerikanischen Juden und Israel“. Sein aktuelles Essay markiert eine recht dramatische Kehrtwende. Beinart zieht die Konsequenz aus dem mittlerweile 27 Jahre währenden, fruchtlosen Friedensprozess und – ähnlich wie Benvenisti – aus der massenhaften Ansiedlung von israelischen StaatsbürgerInnen im besetzten Palästinensergebiet.

Beifall erntet er beim Nationalen Sicherheitsberater von Ex-US-Präsident Barack Obama, Ben Rhodes. Beinart sei „mutig, umsichtig und in der Lage, Vorstellungen zu entwickeln“, twittert Rhodes und empfiehlt, den Essay „gründlich zu lesen“. Staranwalt und Trump-Verteidiger Alan Dershowitz hingegen wirft Beinart vor, er trete für eine „Endlösung“ ein.

Dabei könnte doch alles ganz wunderbar sein. Das alte Palästina, das Heilige Land, müsste nicht geteilt werden. Die frommen Juden und Jüdinnen könnten zum heiligen Versöhnungstag Jom Kippur nach Hebron pilgern, und umgekehrt würde die PalästinenserInnen keine Straßensperre mehr aufhalten, wenn sie ihre Verwandtschaft in Nazareth oder Jaffa besuchen wollen.

„Seit dem Wegfall der alten Grenzen brauchte man nur in ein Auto oder einen Bus der staatlichen Gesellschaft Egged zu steigen, um einen Ausflug an die Strände Tel Avivs zu machen“, schreibt der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh in seinem autobiografischen Buch „Es war einmal ein Land“. Nusseibeh, der seine Kindheit im einst von Jordanien besetzten Teil der geteilten Stadt Jerusalem verbrachte, erinnert sich gern zurück an seine erste Landung am Flughafen Ben Gurion kurz nach dem Sechstagekrieg 1967, als seine über so viele Jahre geteilte Heimat endlich wiedervereint war. Über Jahrzehnte predigte Nusseibeh die Einstaatenlösung und blieb wie Benvenisti mit seiner Haltung allein. Bis heute bilden die Palästinser, die sich eine friedliche Einstaatenlösung mit gleichen Rechten für Araber und Juden vorstellen können, eine kleine Minderheit. Zu schwer fällt der Abschied vom Traum der Eigenstaatlichkeit.

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Und in Israel? Da gibt es einen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, der zwar die Annexion großer Teile des palästinensischen Gebiets ankündigt, sich gleichwohl hütet, das Wort „Einstaatenlösung“ laut auszusprechen. Netanjahu zielt auf das Land, nicht auf die Leute. Nicht zuletzt wäre es um die Zukunft seiner Likud-Partei schlecht bestellt, wenn die arabische Bevölkerung im Land mal eben auf die dreifache Größe anwüchse. Schließlich soll Israel jüdisch und demokratisch bleiben. Seit zehn Jahren sind Neubürger sogar gesetzlich dazu verpflichtet, einen Eid auf ihre neue „jüdische und demokratische“ Wahlheimat zu leisten. In einem Staat für beide Völker funktioniert das nicht.

Die jüdische Bevölkerung im Land hängt mehrheitlich an beiden Werten, und so stößt Beinarts Essay in Tel Aviv, Haifa und Westjerusalem auf ähnlich wenig Zuspruch wie in Ramallah oder Hebron, davon ausgehend, dass ihn auch dort jemand liest. Die Sorge um das jüdisch-demokratische Israel ist das zentrale Argument von PolitikerInnen wie Zipi Livni, einst Justizministerin und letzte Delegationschefin bei Friedensverhandlungen mit der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation), für die Zweistaatenlösung. Was weltliche, aufgeschlossene NormalbürgerInnen in dem vergleichsweise reichen Staat an der Perspektive auf nur einen Staat zusätzlich schreckt, ist das ökonomische Gefälle. Wer möchte sich schon gern zwei bis drei Millionen neue Arbeitslose ins Haus holen, noch dazu in Krisenzeiten wie diesen? Und dann ist da noch die Frage der Flüchtlinge.

Quelle        :         TAZ        >>>>>        weiterlesen

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Oben      —       A view of the Dome of the Rock and the Old Jerusalem city from the top of the Mt. of Olives.

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Niemand ist ohne Makel

Erstellt von Redaktion am 30. September 2020

Wer vors Bücherregal tritt, findet daran heute nur begrenzt noch Halt

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Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Eine unfertige Betrachtung darüber, was Antirassismus sein kann, woher die allgemeine Unduldsamkeit rührt und was sich daran ändern ließe

Es gibt diesen Moment, wenn man absichtslos in ein älteres Buch blickt und dann etwas findet, was immer da war, aber nicht gefunden wurde. So erging es mir dieser Tage mit zwei Werken von ikonografischem Rang.Bei Primo Levi, „Ist das ein Mensch?“, las ich: „Wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als der roheste Pygmäe (…)“.Kurz darauf Albert Camus, „Der Mensch in der Revolte“. Zu jenen, die keinen Begriff von Revolte haben können, schreibt Camus, zähle der „Primitive aus Zentralafrika“.

Zwei großen Humanisten des 20. Jahrhunderts dient die Gestalt eines ihnen unbekannten Wesens aus Afrika als Folie, um Maßstäbe zu entwickeln. Wie geriet ein Völkchen des Regenwalds in die gedankliche Nähe zu Auschwitz? Die Metapher ließe sich bei Primo Levi theoretisch einfach tilgen, ohne dass dies den Inhalt berührte – sie verweist schlicht auf den Umstand, dass Levi, der Überlebende, als italienischer Jude auch ein weißer Europäer war.

Camus hingegen, der in Algerien geborene Franzose, definiert die Revolte gleich so, dass sie ein Merkmal „abendländischen Denkens“ ist, mit Sinn nur in der westlichen Gesellschaft. Er spricht vom Menschen im Allgemeinen, meint aber den Europäer. Ein exkludierender Universalismus, Taschenspielertrick von so vielen in unserem Fundus geachteter Intellektueller.

Wer vors Bücherregal tritt, findet daran heute nur begrenzt noch Halt. Hannah Arendt, die Große, die Kluge: zum Rassismus einiges fragwürdig, mit blind spots gegenüber den Forderungen ihrer schwarzen US-Mitbürger. Und manche Sätze in „Elemente und Ursprünge …“ hätte ich lieber nicht gefunden. Niemand ist ohne Makel.

Um zu sehen, was man vorher nicht sah, bedarf es bereits des antirassistischen Initialfunkens; doch je mehr man dann sieht, desto schwerer fällt die Antwort, was Antirassismus eigentlich sein kann und wohin eine Dekolonisierung des Denkens führen wird. Weil sich Dimensionen auftun, gegenüber denen die Fragen von Brechts lesendem Arbeiter („Wer baute das siebentorige Theben?“) arg bescheiden wirken.

Welche Fragen heute gestellt werden müssen, umreißt Achille Mbembe so: „Wie kommt es zu den Archiven der Menschheit? Wie kommt es, dass wir etwas wissen? Wofür steht Wissen? Woher wissen wir, dass wir es wissen? Woher wissen wir, dass wir es nicht wissen?“ Bei Mbembe ist die Dekolonisierung schon ins Planetarische getreten. Der ­portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos formuliert es so: keine globale so­ziale Gerechtigkeit ohne „kognitive Gerechtigkeit“.

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Die Architektur von Wissen zu dekonstruieren, Kulturgeschichte neu zu schreiben, das sind Ziele an einem sehr fernen Horizont. Aber sie können helfen, die Richtung zu peilen – und immer wieder die Ahnung zu tanken, um was für ein fantastisches großes Unterfangen es sich handelt, während die kleine graue Gegenwart mit Bahnhofsumbenennungen ringt.

Die Entkolonisierung der Weltbetrachtung ist eine im Wortsinn unendliche Aufgabe. Wird sie vielleicht auch deshalb wenig in Angriff genommen, weil sichtbare Erfolge – weg mit dem XY-Wort – hier kaum zu haben sind? So nötig es ist, Beleidigendes zu entfernen und zu unterlassen: Mit wachsender Sensibilität wirkt ja immer mehr anstößig, auch für jene Weißen, zu denen ich mich zähle. Entsteht daraus unsere Nervosität, auch Unduldsamkeit?

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Grafikquellen    :

Oben      —        a bookshelf full of Books, papers, CD, notebooks

Author Penarc
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Unten       —       Description: „Colored Waiting Room“ sign from segregationist era United States. Medium: Black-and-white en:photograph Location: Greyhound bus station[1]Rome GA, United States Date: September 1943 Author: Esther Bubley Source: Library of Congress Provider: „Images of American Political History“ at the College of New Jersey [2] License: Public domain Misc: Borders cropped with GIMP

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Dogma und Tristesse

Erstellt von Redaktion am 23. September 2020

Maria wurde unbefleckt empfangen?

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Von Steffen Greiner

Eine neue Biografie zeigt, wie Papst Pius IX. im 19. Jahrhundert dem Katholizismus eine neue Tradition erfand – und damit die Kirche bis heute prägt.

Er habe ein „Herz aus Stein“, kein Mensch nehme „es mit der Wahrheit weniger genau“, sagen Zeitzeugen von Rang. „Manche Teilnehmer an Audienzen berichten sogar davon, seine Reden hätten irr gewirkt. Auf andere Besucher machte er den Eindruck von Größenwahn. Einige hielten ihn schlicht für verrückt“, schreibt Hubert Wolf über den Gegenstand seiner neuen biografischen Forschung. Was klingt, als reihe sich die Veröffentlichung des Kirchenhistorikers nahtlos in die ausufernde Deutungsliteratur zum gegenwärtigen US-Präsidenten, sind Charakterzüge, die einer gewichtigeren weltpolitischen Größe zukommen. Eine schwache Persönlichkeit mit Papas Netzwerk und Allmachtfantasien an der Spitze einer sich auf unabänderliche Wahrheiten berufenden Institution, die es – im Gegensatz zu Donald Trump – aber schaffte, tatsächlich den Machtapparat komplett zu kontrollieren und das System, in dem sie aufstieg, zu ihren Gunsten umzubauen.

Die unlautere Parallele zieht Wolf freilich nicht. „Der Unfehlbare“ heißt die biografische Studie zu Papst Pius IX., jenem Heiligen Vater, der das Bild, das innerhalb wie außerhalb der römisch-katholischen Kirche zum modernen Papsttum vorherrscht, entscheidend prägte: Ein Charismatiker, der sich den Bedrängnissen der Moderne nicht unterwirft: gebeugt von der Last der Welt, aber nicht gebrochen. Statt um den barocken Bombast fülliger Prälaten des 17. und 18. Jahrhunderts geht es hier also um die Tristesse der Neoromanik, um Marienerscheinungen als „kollektive Dramen“, um hagiografische Kitschikonografie: Um eine Kirche im Umbruch, am Beginn des Zeitalters der Massenmedien. Der künftige Papst wird 1792 in die Zeit der Französischen Revolution geboren, die auch die weit verzweigten ideologischen Fronten innerhalb des Katholizismus verhärtet, zwischen Liberalen und Zelanti, Eiferern, die um das kirchliche Verhältnis zur sich verändernden Welt ringen.

Auch als Gianmaria Mastai Ferreti im Jahr 1846 den Papstthron besteigt, sind diese Kämpfe noch nicht ausgefochten – sie werden sein beinahe 32 Jahre währendes Pontifikat prägen. Unter Pius schwindet der politisch-weltliche Einfluss der Kirche, der Kirchenstaat löst sich in einem vereinigten Italien auf und im Erstarken des Konzepts republikanischer Nationalstaaten. Gleichzeitig setzt sich das Papsttum als absolute, zentralistische Herrschaft über die Gesamtheit der Katholik*innen der Welt durch, regieren die Päpste nach dem Papst, der das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit durchsetzte, noch in jede Landgemeinde hinein. Am Ende steht der Kulturkampf Bismarcks gegen die als ausländischen Agent*innen verstandenen Katholik*innen im Deutschen Reich.

Pope Pius IX at the First Vatican Council.jpg

Auch auf theologischer Ebene spaltet Pius’Vatikanisches Konzil im Jahr 1871 die Gemeinschaft der Gläubigen: „Man hat eine neue Kirche gemacht“, zitiert Wolf den Theologen Ignaz von Döllinger, Vordenker der Altkatholischen Bewegung, die sich den zentralistischen Reformen verweigert und schließlich von Rom abspaltet.

„Man hat eine neue Kirche gemacht“, sagt Ignaz von Döllinger, Vordenker der Altkatholiken

Als „Invented Tradition“ bezeichnet die Kulturwissenschaft Traditionen, die aus Gründen der Identitätsfindung einer Gruppe als solche erfunden werden. Geprägt von Eric Hobsbawm, versammelt der heute umstrittene Begriff – welche Tradition könne schon ‚authentisch‘ sein?

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Grafikquellen        :

Oben       —        Papa Pio IX (Pius IX) (1871)

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Unten        —        Pope Pius IX at the First Vatican Council. It reads: „The great pontiffs“ (above), „Pius IX opens the Vatican Council.“ (below), „Chocolate factory of Aigebelle editions (Drôme)“ (all down)

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Abkommen mit Israel

Erstellt von Redaktion am 20. September 2020

Keine Hürde für Frieden

Von Susanne Knaul

Die Emirate und Bahrain wollen eine Botschaft in Tel Aviv eröffnen. Der Nahe Osten unternimmt damit kleine Schritte in die richtige Richtung.

Innerhalb von kaum vier Wochen verdoppelt Israel die Zahl der Staaten, mit denen es ein Friedensabkommen verbindet, von bislang zwei auf vier. Mitte August kam die Nachricht von der Annäherung an die Vereinigten Arabischen Emirate, und wenig später wehten die weißen Fahnen auch über dem Königreich Bahrain. Weitere Abkommen sollen folgen, verspricht US-Präsident Donald Trump, der sich zu Recht als Vermittler inszeniert, seinem Freund Benjamin Netanjahu. Ein schöner Grund, die Gläser klirren zu lassen.

In Israel wirft das Spektakel vor dem Weißen Haus jedoch so recht niemanden vom Hocker. Die Stimmung im heimischen Lockdown ist Welten entfernt von der einstigen Euphorie, die herrschte, als der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat 1977 nach Jerusalem kam und auch als 20 Jahre später erst der Chef der PLO (Palästinensische Befreiungsbewegung), Jassir Arafat, und schließlich König Hussein von Jordanien dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Itzhak Rabin die Hand reichten.

Doch weder mit den Emiraten noch mit Bahrain, die beide rund 2.000 Kilometer von Israel entfernt liegen, gab es je Krieg. Was nützt dem David-­Normal-Israeli schon ein Abkommen mit Bahrain, außer vielleicht der günstigeren Flugverbindung auf dem Weg nach Indien? Und Shopping in Dubai wird sich bei der aktuellen Wirtschaftsmisere allenfalls die Haute­volee der IT-Branche leisten können.

Die großen Probleme des Judenstaats löst die neue Annäherung schon gar nicht, weder die Besatzung in den Palästinensergebieten, noch die Raketen aus dem Gazastreifen, die Aufrüstung der Hisbollah im Libanon, die iranischen Revolutionsgarden in Syrien und schließlich Iran. Wobei sich der Erzfeind letzthin auch als ganz nützlich erweist. Schließlich wäre es ohne die drohende Atommacht der Ajatollahs wohl kaum zu der wunderbaren Freundschaft zwischen Jerusalem und den zwei kleinen Golfstaaten gekommen.

Die Geister scheiden sich darüber, ob die neuen Abkommen die Perspektiven für einen gesamtnahöstlichen Frieden verbessern oder nicht. SkeptikerInnen sagen, dass Netanjahu nun noch weniger zu Kompromissen in der Palästinenserfrage bereit sein werde. SkeptikerInnen sagen auch, dass die Chancen durch den Alleingang Bahrains und der Emirate schwinden, weil eine Normalisierung der Beziehungen zur arabischen Welt der Preis für die Beendigung der Besatzung in den besetzten Palästinensergebieten sein sollte. Die aber dauert bekanntermaßen unverändert an.

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Oben        —     Der Handschlag zwischen Jitzchak Rabin und Jassir Arafat am 13. September 1993 gilt als Sinnbild des Friedensprozesses

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Unten        —    Solidarity with Tristan Anderson

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Klimakrise des Südens ?

Erstellt von Redaktion am 18. September 2020

Langer Schatten des Kolonialismus

Calle de Rafael Cordero in San Juan, Puerto Rico LOC 2179157820.jpg

Von Hans von Storch

Die Klimawissenschaft ist vor allem eine Wissenschaft des Westens. Sie ist zudem überwiegend männlich.

Vor einiger Zeit schrieb Imeh Ituen in der taz über Klimakrise und Rassismus. Ein bemerkenswertes und überfälliges Unterfangen, die Frage des Klimawandels beziehungsweise den Umgang damit vom Globalen Süden aus zu betrachten. Hauptpunkt dieses Beitrags war, dass die Kli­ma­bewegung vor allem eine Sache von Akteuren aus dem Westen wäre. Bemerkenswert war ihr Hinweis, dass das „Future“ in „Fridays for Future“ Ausdruck für das Übersehen der wirklichen Probleme des Globalen Südens sei – einfach, weil die Probleme dort eben schon seit Langem die Menschen belasten und es sich nicht zuallererst um ein Problem der Zukunft handelt. Interessant war auch, dass sie das Thema „Klima“ als Oberbegriff für jede Art von Ungerechtigkeit und Ungleichheit zwischen dem reichen Westen und dem Globalen Süden verwendet (unter anderen Rassismus, Sexismus).

Für einen Klimaforscher wie mich, alt und männlich, war das überraschend und irritierend, aber doch auch angemessen. Diese breite Verwendung des Klimathemas, jenseits von Fragen des geophysikalischen Wandels und dessen Folgen, stellt einen wesentlichen Perspektivwechsel dar. Er mag auch erklären, warum behauptet wird, der Globale Süden habe seit Jahrzehnten mit den Folgen des Klimawandels zu kämpfen. Hier werden die Gefahren des „normalen“ Klimas mit den verschärften Gefahren des durch menschliche Eingriffe veränderten Klimas verwechselt. Tatsächlich gab es gerade in den Zeiten ohne Video und TV immer wieder schrecklichste Wetterkatastrophen, die die westliche Öffentlichkeit kaum berührten. Ein bedrückendes Beispiel ist ein Taifun in Bang­la­desch 1970, der mit dem Tod von bis zu einer halben Million Menschen einherging.

Aber ein Thema bleibt unerwähnt: der lange Schatten des Kolonialismus, wonach die Kolonialisten es besser wissen als die Indigenen. Es wird unkritisch übernommen, was im Westen behauptet wird. Ein Beispiel ist das Narrativ, wonach jedes Klima-/Wetter-Extremereignis eine Folge des Klimawandels sei. Aber bei dem besagten 1970er Taifun konnte keine Rede vom menschengemachten Klimawandel sein, und auch jetzt sind die Belege dafür, dass tropische Stürme schon jetzt schlimmer oder häufiger geworden sind, dürftig.

Ein prototypisches Ereignis war das Aufeinandertreffen von Al Gore mit der Premierministerin Hasina von Bangladesch auf dem World Economic Forum 2017. Es ging um ein neues Kohlekraftwerk. Al Gore meinte, das Recht zu haben, Frau Hasina belehren zu dürfen. Ein alter weißer Mann, der weiß, wo es langgeht, und eine Frau aus Bangladesch, von der er meinte, sie wisse es nicht. Bei dem Beispiel geht es nicht darum, ob das Kraftwerk nun gebaut werden sollte, ob es wesentlich für die Lebensqualität von vielen Menschen dort ist, sondern dass dieser Mann aus dem Westen sich anmaßte, der Premierministerin aus dem Süden Vorschriften machen zu dürfen.

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Auch die Kritik, dass dieses oder jenes Land Umweltsünden zugunsten wirtschaftlicher Interessen begehen würde, hat – wenn im Westen formuliert – einen unangenehmen Beigeschmack, wenn man sich vergegenwärtigt, wie denn die Landschaften des Westens vor der „Kultivierung“ aussahen. Forderung nach einer Renaturierung der Kulturlandschaft Lüneburger Heide hört man selten.

Woher weiß der Globale Süden, wie der menschengemachte Klimawandel sich dort, im Globalen Süden, ausprägt, und wie man dagegen vorgehen kann oder gar muss? Er weiß es vor allem, weil der reiche Westen es ihm mitteilt. Es gibt zwar mehr und mehr Universitäten und Forschungsinstitute im Globalen Süden, aber das sind meist Abbilder dessen, was im Westen läuft. Die Leistungsträger werden im Westen ausgebildet, aber selten genug ernst genommen.

Quelle       :        TAZ        >>>>>       weiterlesen

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Grafikquelle         :

Oben      —        Street in San Juan, Puerto Rico. Photograph shows Coca-Cola sign in foreground.

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Schuldabwehr als Spektakel

Erstellt von Redaktion am 16. September 2020

Gab es im Nationalsozialismus überhaupt deutsche Täter?

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Ein Schlagloch von Charlotte Wiedemann

Wenn sich Demonstranten als verfolgte Juden verkleiden, ist das nur ein Symptom.

Ist es mit Verschwörungsmythen zu erklären, wenn sich im Land der Shoah Impfgegner gelbe Judensterne anheften? Solche Deutungen umschiffen etwas Wesentliches – weil es dem offiziellen Selbstbild des geläuterten Landes zu sehr widerspricht: Die Deutschen haben wenig Bewusstsein für die eigene Täterschaft im Nationalsozialismus.Ein furchtbarer Satz, er schreibt sich nicht leicht. Aber es ist an der Zeit zu untersuchen, warum sich eine Minderheit so sicher fühlt, wenn sie Symbole auf die Straße trägt, die mit Bezugnahme auf deutsche Verbrechen eine Opferidentität halluzinieren und reklamieren.

Es war ein Erinnerungsort in Erfurt, der mich angeregt hat, neu über Täterschaft nachzudenken. Wo die Wilhelm-Busch-Straße den Nonnenrain kreuzt, wurden einst die Verbrennungsöfen für Auschwitz konstruiert. In großen Lettern steht heute an der Fassade des einstigen Verwaltungsgebäudes: „Stets gern für Sie beschäftigt …“ Mit dieser Grußformel unterzeichnete die Firma Topf & Söhne ihre Briefe an die Waffen-SS im Lager.

Ein Familienunternehmen; seine Inhaber waren weder fanatische Nazis noch handelten sie unter Zwang. Es war nicht zuletzt die technische Herausforderung, in Auschwitz immer größere Mengen von Leichen zu beseitigen, die den Ehrgeiz der Firmen-Ingenieure anstachelte. Als Arbeitgeber waren die Gebrüder Topf anständig und liberal, beschäftigten sogar Kommunisten und andere Verfolgte. Aber nichts hinderte sie, zum Dienstleister der Endlösung zu werden.

Eine Täterschaft im Gewand bürgerlicher Normalität (übrigens nie geahndet), unideologisch, ohne besondere individuelle Bösartigkeit. Diese mausgraue Täterschaft, verbreiteter als die grelle, ist im Licht der Jahre verblasst, als hätte es sie nie gegeben. Verschwunden aus der eigenen Familie; kaum ein heutiger Deutscher vermag sich dort einen Täter, eine Täterin vorzustellen. Umfragen zeigen auch, wie verbreitet die Ansicht ist, die Masse der Deutschen sei frei von Schuld gewesen, nur eine kleine Riege von „Verbrechern“ habe den Judenmord auf dem Gewissen.

Fast wortgleich hatte es Konrad Adenauer 1951 in einer Bundestagsrede formuliert: Die „überwältigende Mehrheit der Deutschen“ habe die Verbrechen gegen Juden verabscheut und viele hätten keine Gefahr gescheut, ihren jüdischen Mitbürgern zu helfen. Heute glaubt ein Drittel der Deutschen, in der eigenen Familie hätte es solche Helfer gegeben (Historiker sehen deren Anteil bei 0,3 Prozent), und jeder Zweite findet unter seinen Vorfahren Opfer.

Die Katze lasst das Mausen nicht!.jpg

Wenn sich Demonstranten Judensterne und gestreifte Häftlingskleidung anlegen und Anne Frank für sich vereinnahmen, inszenieren sie Schuldabwehr und Täter-Opfer-Umkehr auf großer Bühne. Das Spektakel spiegelt im Extremen, was als Haltung gegenüber der eigenen Geschichte auf stillere Weise weit verbreitet ist. Die sogenannte rechtsoffene Minderheit nur als Negation der löblichen Gedächtniskultur einer Mehrheit zu sehen ist deshalb zu einfach.

Am Rande einer Kundgebung erklärte mir ein Beteiligter: Sein Großvater sei im KZ umgekommen; gerade deshalb kämpfe er nun gegen die neue Diktatur. Ich war zunächst sprachlos, aber es war der Opferstatus des Großvaters, der diesem Narrativ eine innere Logik verlieh. Das ist furchtbar wirr, aber ist es wirklich so viel wirrer als die Normalität eines weitgehend täterfreien Erinnerns im Land der Shoah?

Quelle      :         TAZ        >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen         :

Oben      ––        The Liberation of Bergen-belsen Concentration Camp, April 1945 Dr Fritz Klein, the camp doctor, standing in a mass grave at Belsen. Klein, who was born in Austro-Hungary, was an early member of the Nazi Party and joined the SS in 1943. He worked in Auschwitz-Birkenau for a year from December 1943 where he assisted in the selection of prisoners to be sent to the gas chambers. After a brief period at Neungamme, Klein moved to Belsen in January 1945. Klein was subsequently convicted of two counts of war crimes and executed in December 1945.

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Unten        —       Parole der Woche

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Dominostein zum Frieden

Erstellt von Redaktion am 7. September 2020

Verhältnis zwischen VAE und Israel

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Von Markus Bickel

Die Annäherung zwischen Abu Dhabi und Jerusalem könnte eine regionale Lösung der Konflikte in Nahost zurück auf die Tagesordnung bringen.

Zweimal in zehn Tagen leuchte das Rathaus von Tel Aviv zuletzt in den Farben arabischer Staaten: Nachdem Anfang August eine gewaltige Explosion die Innenstadt Beiruts verwüstet hatte, war es das Rot-Weiß der libanesischen Fahne mit der grünen Zeder – als Ausdruck der Solidarität mit den Betroffenen. Mitte des Monats dann strahlte das Gebäude im Schwarz-Weiß-Rot der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Der Grund: Unter Vermittlung der USA hatten Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und der Thronfolger der Emirate, Mohammed bin Zayid Al Nahyan, eine Absichtserklärung unterzeichnet, diplomatische Beziehungen zwischen den beiden Staaten aufzunehmen.

Den Kriegszustand Israels mit seinen arabischen Nachbarn zu beenden, war lange Ziel internationaler Friedenspolitik

Dass die Stadtverwaltung aus diesen Anlässen das Rathaus anstrahlen ließ, sind symbolische Akte, mehr nicht, sicherlich. Doch noch vor wenigen Wochen wäre das unvorstellbar gewesen, insbesondere mit Blick auf den Libanon, dessen Regierung von der Hisbollah kontrolliert wird, Irans Stellvertreterarmee an den Grenzen zu Israel. Seit dem Krieg mit der schiitischen Parteimiliz Hassan Nasrallahs 2006 ist kaum ein Sommer vergangen, an dem auf beiden Seiten der nach dem Waffenstillstand 1949 von den Vereinten Nationen gezogenen Grünen Linie nicht mit einem neuen bewaffneten Konflikt gerechnet wurde.

Diesen Kriegszustand Israels mit seinen arabischen Nachbarn zu beenden, war lange Ziel internationaler Friedenspolitik. Noch 2008 verhandelte ein Team des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert unter Vermittlung der Türkei mit syrischen Gesandten über einen Friedensschluss mit der Diktatur Baschar al-Assads. Bis ins Detail waren bereits Vereinbarungen über eine Rückgabe der 1967 von Israel besetzten Golanhöhen getroffen worden. Erst die Anklage wegen Korruption gegen Olmert bereitete der diplomatischen Annäherung ein Ende, die Hoffnung auf einen syrisch-israelischen Friedensschluss zerbrach – und auf einen mit dem Libanon, der bis zum Abzug syrischer Truppen 2005 unter Kuratel von Damaskus stand.

So betrachtet nimmt die Absichtserklärung von VAE und Israel einen Faden wieder auf, der durch das Scheitern des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses aus dem Blick geraten ist: Schließlich bestand die internationale Nahostdiplomatie vor Beginn der arabischen Aufstände 2010/11 nicht nur auf der Schaffung eines palästinensischen neben dem israelischen Staat, sondern auch auf regionale Entspannung. Die Friedensinitiative der Arabischen Liga, präsentiert 2002 vom damaligen saudischen Kronprinzen Abdullah in Beirut, hatte ebenfalls die Normalisierung diplomatischer Beziehungen mit Jerusalem zum Ziel – freilich erst nach Rückzug Israels aus den 1967 besetzten Gebieten.

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Anders als die Führung der Emirate, die lediglich die vorläufige Nichtannexion dieser Gebiete zur Bedingung für die Annäherung an Israel gemacht hatten, pocht Saudi-Arabien weiter auf einem souveränen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 als Gegenleistung für eine Normalisierung der Beziehungen. Doch so eng wie das Verhältnis zwischen Mohammed bin Zayid und dem saudischen Thronfolger Mohammed bin Salman ist, wird Abu Dhabi den Schritt nicht ohne vorherige Rücksprache mit Riad gemacht haben. Das dürfte dem Ziel dienen, die Friedensinitiative zur Grundlage für künftige Verhandlungen zu machen.

Absichtserklärung ist eine Zäsur

Bei aller Vorsicht über die vor allem aus wirtschaftlichen Motiven – und der gemeinsamen Abwehrhaltung gegen den Iran – betriebene Normalisierung zwischen den Emiraten und Israel bedeutet die Absichtserklärung deshalb eine Zäsur. Sie könnte der Dominostein sein, der die festgefahrenen Verhältnisse im Nahen Osten wieder in Bewegung bringt.

Quelle      :      TAZ        >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben        —       Israel vs. Arabs

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Unten     —      Panorama of parts of Tel Aviv and Ramat Gan. Taken from Azrieli Center Circular Tower

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Die Mendel’schen Regeln 4

Erstellt von Redaktion am 1. September 2020

Düsenjäger-Kitsch taugt nicht zur Hitlerbeseitigung

Von Meron Mendel

Gedenken und Luftwaffe – Stolz auf militärische Stärke – Israelische und deutsche Düsenjäger flogen gemeinsam über die KZ-Gedenkstätte Dachau. Doch das ist eine eher peinliche Geste.

Es gehört wohl zur Kindheitsfantasie fast aller Juden, nachträglich Hitler zu töten. Mir ging es in meiner Kindheit in Israel nicht anders: Die Nazis waren die ultimativen Schulhof-Bullys, die ich in meiner Fantasie ebenso erbittert bekämpfte wie das jüdische Guerilla-Kommando in Tarantinos Kriegsfilm-Groteske „Inglourious Basterds“.

Eine Variante beschreibt David Grossman in seinem autobiografisch geprägten Roman „Stichwort Liebe“: Der achtjährige Momik hört aus den Gesprächen der Erwachsenen die Existenz eines „Nazi-Biests“ heraus, das im Land „Dort“ seine Angehörigen quälte und das Momik zu gern besiegen möchte, um die Wunden seiner Familie zu heilen.

Die Gesten, mit denen das „Nazi-Biest“ symbolisch besiegt werden soll, sind im Kindesalter verständlich, können aber als politisches Instrument zur Peinlichkeit werden. Für mich gehören Düsenjägerflüge über KZ-Gedenkstätten, wie unlängst über Dachau, zu solchen peinlichen Gesten: „F-16 Kampfjets der israelischen Luftwaffe und deutsche Eurofighter, am Rumpf das Eiserne Kreuz der Luftwaffe, passieren gemeinsam das ehemalige Konzentrationslager Dachau“, jubelt die Bild. Das Manöver führte auch über das Flugfeld Fürstenfeldbruck, wo palästinensische Terroristen 1972 elf israelische Olympia-Sportler ermordeten.

Das Eiserne Kreuz

Gar nicht satt sehen kann sich die Bild am Eisernen Kreuz: „An ihren Uniformen tragen die Piloten besondere Abzeichen. Darauf zu sehen: die deutsche und israelische Fahne, die Kampfjets beider Nationen und – ineinander verwoben – der Davidstern und das Eiserne Kreuz.“ Wie man den wiederholten Hinweisen aufs Eiserne Kreuz anmerkt, entlastet dieses Ritual vor allem die Deutschen.

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Das Eiserne Kreuz war eine Jagdtrophäe, wie Dieter Pohl in der Zeit ausführte: „Vor allem die nahe der Front operierenden Sonderkommandos, die sowohl Juden ermordeten als auch an der Partisanenbekämpfung beteiligt waren, wurden von den Armeegenerälen reichlich mit Eisernen Kreuzen bedacht. Um nur die größten Verbrecher unter ihnen zu nennen, sei auf Rudolf Lange verwiesen, der für den Mord an den Juden Lettlands verantwortlich war, und auf Friedrich Jeckeln, der Massaker um Massaker organisierte, in der Westukraine, in Kiew (Babij Jar) und in Riga.“ Welche Erlösung fürs „wiedergutgewordene“ Deutschland (Eike Geisel): Die Nachfahren der Opfer sprechen das Symbol von seiner blutigen Vergangenheit frei.

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Zur gleichen Thematik auf DL :

Die Mendel’schen Regeln 2

Streit ums Jüdische Museum

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Grafikquellen      :

Oben          —       Meron Mendel 2018

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Unten      —     An F-16 Fighting Falcon flies over Aviano Air Base, Italy on Oct. 20, 2016. The 555th and 510th Fighter Squadrons deter aggression, defend U.S. and NATO interests, and develop Aviano through superior combat air power, support and training. (U.S. Air Force photo by Staff Sgt. Krystal Ardrey/Released) www.dvidshub.net

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Vier aufwühlende Tage

Erstellt von Redaktion am 28. August 2020

Lebenslang ohne mögliche Bewährung

Christchurch Mosque, New Zealand.jpg

Aus Christchurch Anke Richter

90 Überlebende und Opferangehörige haben vor Gericht ausgesagt. Nach der Verkündung der lebenslangen Haft für den Attentäter brechen sie in Jubel aus.

Lauter Applaus und „Allahu Akbar“-Rufe schallen über den Vorplatz. Schilder mit „Aroha“ (Liebe) werden hochgehalten und Lieder zur Gitarre angestimmt. Die Jubelparty in der Nachmittagssonne entsteht spontan, als am Donnerstag rund zweihundert Menschen nach vier hochemotionalen Tagen aus dem Gerichtsgebäude in Christchurch strömen.

Viele umarmen sich und weinen. Einige sind für diesen Tag extra um die halbe Welt geflogen. 17 Monate, nachdem der australische Rechtsextremist Brenton Tarrant im Alleingang zwei Moscheen in Christchurch gestürmt hatte, ist er wegen 51-fachen Mordes, 40-fachen versuchten Mordes und eines Terroranschlags zu „lebenslänglich“ ohne eine Chance auf Bewährung vor seinem Tod verurteilt worden.

Auch Premierministerin Jacinda Ardern reagiert darauf sofort. „Es gibt mir Erleichterung zu wissen, dass diese Person nie mehr das Tageslicht sehen wird“, sagt Ardern im Radiosender RNZ nach dem Urteil – ein Echo der Stimmen vor dem Gerichtsgebäude. Ein solch hohes Strafmaß, erstmalig unter dem „Terrorism Suppression Act“ von 2020 verhängt, hat es bisher in Neuseeland nicht gegeben. Richter Cameron Mander sagte zuvor, die Tat sei inhuman und gnadenlos gewesen und habe Neuseelands friedliche multikulturelle Vielfalt im Kern angegriffen.

Die Erleichterung nach dem Urteil ist auch deshalb groß, weil der Extremist keine Plattform für seine faschistische Ideologie bekommen hat und sich nicht zu inszenieren versucht hat. Statt einer abschließenden Äußerung sagt Tarrant nur knapp „no, thank you“. In den Stunden vor dem Urteil hört er unbewegt zu, als der Richter ihn als narzisstisch bezeichnet, von Rassismus, Hass und Übermenschentum getrieben.

Trauer und Wut, aber auch Verzeihen

Obwohl Tarrant im Polizeiverhör über seine Tat geprahlt hat, gibt er später an, sich vom Nazi-Gedankengut abgewandt zu haben. Er sei „tief unglücklich gewesen“, in einem „vergifteten emotionalen Zustand“. Angebliche Depressionen kann der Richter aufgrund der ihm vorliegenden psychologischen Äußerungen aber nicht bestätigen. „Sie sind eine zutiefst unempathische Person“, ist sein Fazit.

Ob der Mörder ihres Sohnes Reue spürt oder in der Haft tatsächlich einen Sinneswandel vollzogen hat – das alles interessiert Noraini Milne an diesem Donnerstagnachmittag nicht mehr. „Er ist für mich gestorben. Es geht nicht um ihn.“ Milne hat sich für diesen Tag einen zitronengelben Hidschab angelegt – die Lieblingsfarbe von ihrem Sohn Sayyad, ein Geschenk seines Sportvereins. Der 14-jährige Schüler aus Christchurch war am 15. März 2019 in der Al-Nur-Moschee erschossen worden. „Es ist vorbei“, sagt Milne hinter ihrer Brille und lächelt in die Sonne. „Wir müssen weiterleben.“

Das viertägige Verfahren begann im Nieselregen und mit bewaffneten Polizisten an jeder Ecke. Düsterheit und Anspannung mischten sich mit der Trauer und Angst, die 230 Menschen – einige mit Krücken oder im Rollstuhl – mit in das streng gesicherte Gerichtsgebäude brachten. Da der Täter sich im März schuldig bekannt hatte, kam es nicht mehr zum Hauptverfahren. Selbst wenn er nicht nur sich selbst, sondern seinen Opfern einen langwierigen Prozess ersparen wollte – als mildernder Umstand reichte das späte Geständnis jedoch nicht aus. Reue hat er keine gezeigt.

Flower carpet at Christchurch mosque shooting memorial, Thursday 21 March 2019.jpg

Überlebende und Angehörige konnten vor dem Urteil ihre „victim impact statements“ vortragen, um Zeugnis darüber abzulegen, was die Tat mit ihnen gemacht hat. So wie Yama Nabi. Am Montagmorgen läuft der Mann aus Afghanistan an den Wartenden in der Sicherheitsschlange entlang, einen vertrockneten Blumenstrauß in der Hand, Tränen in den Augen. Nabi ist seit 17 Monaten psychisch so sehr geschädigt, dass er nicht mehr in seinem Beruf – er ist Schlachter – arbeiten kann. Zu viel Blut. Er sah das Massaker im Livestream auf Facebook, während er auf die goldene Kuppel der Al-Nur-Moschee am Rand des Botanischen Gartens zulief.

Dort stand sein 71-jähriger Vater in der Tür, als Tarrant am Mittag des 15. März 2019 mit Gewehren, Bajonett, kugelsicherer Weste und einer Go-Pro-Kamera am Helm aus seinem Auto stieg. Das Freitagsgebet hatte begonnen, 190 Menschen befanden sich in der Al-Nur-Moschee. Der alte Mann im Kaftan begrüßte den 29-Jährigen in Kampfmontur freundlich mit „hello brother!“. Kurz darauf wurde auch Haji Daoud-Nabi von dem Fanatiker erschossen, der das Massaker in zwei Moscheen akribisch im Alleingang geplant und eine weitere im Visier hatte.

19 Minuten dauerte der erste Terroranschlag und schwärzeste Tag in Neuseelands Geschichte. Der islamophobe Hass, der ihn auslöste, wurde durch das „Great Replacement“-Manifest untermauert, das der White Supremacist zum Auftakt an eine extremistische Webseite und Medienorganisationen schickte.

Nicht nur die friedliche Gemeinschaft der rund 50.000 Muslime und Flüchtlinge im Fünf-Millionen-Staat war im Schock, auch die gesamte Welt. Neben den 50 Betenden, die an dem schwarzen Freitag gezielt hingerichtet wurden – darunter zwei Teenager und ein Dreijähriger, der sich ans Bein seines Vaters klammerte –, wurden 40 weitere Menschen verletzt und verkrüppelt, einer starb nach 17 Operationen und wochenlangem Koma.

Etliche Augenzeugen und Angehörige wie Yama Nabi wurden traumatisiert. Ihre Stimmen waren in dieser Woche im Obersten Gerichtshof in Christchurch zu hören. Von den 220 Opfer-Berichten aus der muslimischen Community sollten 66 vorgetragen werden. Am Ende wurden es 90 – ein aufgestauter Vulkan an Emotionen, der sich entlud.

Premierministerin trauert im Hidschab

Auf das Einwickelpapier der Blumen, die Nabi den Journalisten am ersten Tag hinhält, hat er in Großbuchstaben „Wanted: dead“ geschrieben. Eine verzweifelte Geste, denn wie etliche der Überlebenden will er die Todesstrafe für den Australier, der in dieser Woche erstmals wieder – mit einer Militärmaschine eingeflogen – in der Stadt seines rassistischen Amoklaufs weilt. Der verwelkte Strauß in Nabis Faust erinnert an das Meer der Blumen, die wochenlang entlang des Botanischen Gartens lagen als Ausdruck der einzigartigen Anteilnahme. Premierministerin Ardern änderte das Waffengesetz und trug einen Hidschab, als sie Trauernde tröstete. Sie schwor, den Namen des Täters nie mehr zu nennen.

NZ PM Jacinda Ardern - Kirk HargreavesCCC.jpg

Seine Opfer hören ihn in dieser Woche mehrmals täglich, wenn der Richter den abgemagerten, blassen Mann im grauen Jogginganzug bittet, aufzustehen und abzutreten. Erstmals sehen sie in Saal 12 den Massenmörder im Glaskasten vor sich, stets von vier Beamten umringt. Er vertritt sich selbst, seine Anwälte hat er im Juli überraschend entlassen. Wegen strenger Covid-Bestimmungen verteilen sich die anwesenden Familien auf sieben Räume mit Bildschirmen. 300 weitere Betroffene in 15 Ländern verfolgen die Verhandlung per Live-Übertragung.

Die erste Stunde ist für die Anwesenden schwer auszuhalten. Im Detail rekonstruiert die Staatsanwaltschaft, mit welchem Ausmaß an Kaltblütigkeit Tarrant vorging und wen er wie traf, Schuss für Schuss – ein Marathon an gezielter Brutalität, über Monate akribisch mit Drohnenflügen und Lageplänen geplant. Es gab Helden, die sich ihm in den Weg stellten, und Verletzte, die Sterbende hielten. Etliche von ihnen sitzen nun im Gericht. Tarrant hört sich die Zeitlupenversion des Horrors unbewegt an, die Mundwinkel meist nach unten gezogen, der Blick ins Leere.

Quelle       :        TAZ       >>>>>       weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben       —         Christchurch Mosque (Al Noor Mosque (Arabic: مسجد النور‎‎, Masjid al-Noor)), Christchurch, New Zealand

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2-) von Oben         —        The memorial of flowers at Rolleston Ave, Christchurch on Thursday 21 March 2019 for victims of the two mosque shootings on March 15

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Ettore Gotti Tedeschi

Erstellt von Redaktion am 17. August 2020

Überraschungs-Humanismus?

Quelle        :     Scharf   —   Links

Kommentar von Georg Korfmacher, München
Formularbeginn

Haben schon viele Verständnisschwierigkeiten mit dem Humanismus an sich, gibt es jetzt auch noch eine ganz neue Doktrin: den Überraschungs-Humanismus. Ausgedacht hat sich den der Bankmanager und Finanzethiker Ettore Gotti Tedeschi, seines Zeichens ebenso päpstlicher Berater wie dubioser Banker.

In der typischen Art eines Verschwörungstheoretikers nutzt er die aktuelle Pandemie, um hinterfotzig seinen Verdacht zu äußern, „dass jemand den Kompass in der Hand hält und sehr genau weiß, wohin wir geführt werden sollen.“ Es gibt demnach eine geheime Macht mit geheimen Plänen, die gezielt die Corona-Pandemie nutzt, um uns alle im Sinne geheimer, menschenfeindlicher Ziele zu lenken. Und diese dunkle Macht ist für den katholikalen Finanzethiker der Humanismus mit einem langen „Marsch Richtung Heidentum“.

Geradezu obszön qualifiziert Tedeschi die weltweit gegen Corona ergriffenen Maßnahmen als ein Damoklesschwert über der Menschheit. Dieser Vergleich ist  ebenso abstrus wie die Zitierung von Aristoteles zur Stützung seiner Thesen. Da möchte man eher Karl Marx mit seiner Qualifizierung der Religion als „das Opium des Volkes“ folgen.

„Wegen der mysteriösen Pandemie und der nicht minder mysteriösen staatlichen und kirchlichen Reaktion“ seien wir nach Tedeschi ohnmächtig und orientierungslos und so der Macht mit dem Kompass in der Hand ausgeliefert. Dabei ginge es „von der Handbremse bei der Geburtenrate bis zur Reduzierung einer überschüssigen Bevölkerung“ weltweit. „Sind die Corona-Maßnahmen und die durch sie ausgelöste Krise der Einstieg zu einem globalen neuen Humanismus?“, fragt sich der Wirrkopf bei dümmlicher Verwechslung von Ursache und Wirkung bzw. Pervertierung des Vorrangs des Menschenwohls vor dem Erfolg einer profitgetriebenen Wirtschaft. So sieht er ökonomisches, soziales, politisches und moralisches Chaos und versteigt sich zu der Behauptung einer „heidnischen Ökologie als universale Weltreligion“. Digital und Grün seien die strategischen Grundlagen der zukünftigen Welt, wobei der Umweltschutz unter den Menschen als Krebsgeschwür für die Natur leide. Noch wildere Verschwörungstheorien kann man sich kaum vorstellen. Gerade die großen Industrienationen wie China, Südkorea, Japan und Deutschland haben doch bei der Pandemiebekämpfung tatsächlich dem Wohl der Menschen den Vorrang gegeben.

Fassungslos erstarrt man bei der Behauptung dieses Verschwörungsquacksalbers, dass nach dem neuen Überraschungs-Humanismus „bald einige Menschen nicht nur eliminiert werden können, sondern gemäß Verfassung und Moralgesetz zu eliminieren sein werden“. Und das alles veröffentlicht in einer erzkatholischen Publikation! Dieser Verschwörungsideologe übersieht ganz offenbar, dass er selbst im Dienst einer geheimen Macht mit geheimen Plänen steht, denn des Allmächtigen Wege sind unergründlich. Jede Religion ist eine menschengemachte Ideologie mit Heilsversprechen und Androhung ewiger Verdammnis dann, wenn man der Ideologie nicht folgt. Es ist schon erstaunlich, welche wirren Hirngespinste der Finanzethiker, Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Präsident der Vatikanbank da von sich gibt. Von Humanismus – in welcher Form auch immer – hat dieser Geleerte keine Ahnung. Noch dümmer  kann man eine Verschwörungstheorie als Lügenmärchen kaum darstellen – und noch einfacher enttarnen.

Urheberrecht
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Grafikquelle     :

Oben      —       Die Aula magna des Mailänder Campus

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All die sozialen Fragen

Erstellt von Redaktion am 16. August 2020

R2G oder Schwarz-Grün im Bund

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Nicht Schröder wars – der Scholz gab Gas – bei Hartz  ?

Von Ulrike Winkelmann

Die SPD hat mit Scholz den ersten Move zum Wahlkampf gemacht, von links kam milde Unterstützung. Kann der grüne Traum von Schwarz-Grün noch aufgehen?

Dass der amtierende Bundesfinanzminister Olaf Scholz pannenfrei zum Kanzlerkandidaten der SPD gekürt werden konnte und dies auch nach fünf Tagen den Selbstzerstörungstrieb der Sozialdemokraten noch nicht aktiviert hat, kann natürlich als Erfolg durchgehen. Tatsächlich pampte etwa CSU-Chef Markus Söder, kein Mensch brauche jetzt schon Wahlkampf.

Linkenchefin Katja Kipping war besser gerüstet. Sie sagte zu Scholz’ Ausrufung: „Ich bin nicht die Zielgruppe.“ Sollte heißen: Die SPD darf mit diesem Ultra-Pragmatiker der Union gern Stimmen abjagen, solange er auch pragmatisch genug für eine rot-rot-grüne Koalition ist. Was Scholz immerhin nicht rundheraus verneinte.

In Kippings überraschender Milde tauchte ein Motiv auf, das bei den Grünen vor Jahren den gedanklichen Weg von Rot-Grün nach Schwarz-Grün zu ebnen half: Statt in einer „Projektkoalition“ gemeinsame Werte hochzuhalten (und dadurch nur Enttäuschungen zu produzieren), muss man sich in einer „Ergänzungskoalition“ bloß die Jobs aufteilen – jeder macht seins, quasi. Das wird der Linkenchefin in ihren Reihen noch Ärger machen.

Skulptur Wilhelmstraße 140 (Kreuz) SPD Würfel.jpg

Der Würfel fiel auf Holz, so wurde es der Scholz

Glückliche Grüne – sie müssen sich jetzt nur zurücklehnen, können den rot-rot-grünen Verrenkungen von SPD und Linkspartei zusehen und sich die Fingernägel lackieren, sollte man meinen.

Farbenspiel frei

Denn: An den Grünen führt zur Regierungsbildung nach der Wahl im kommenden Jahr sowieso kein Weg vorbei. Der Klimawandel schaufelt ihnen wie von selbst Aufmerksamkeit und Wähler*innenstimmen zu – die Grünen-Spitze muss bloß regelmäßig in die Kamera flöten, dass es „für Farbenspiele zu früh“ sei und den Grünen „Inhalte vor Koalitionsoptionen“ gingen.

Quelle        :        TAZ       >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben       —         Olaf Scholz bei der SPD Regionalkonferenz zur Wahl des SPD-Vorsitzes am 10. September 2019 in Nieder-Olm.

  • CC BY-SA 3.0 de
  • File:2019-09-10 SPD Regionalkonferenz Olaf Scholz by OlafKosinsky MG 2566.jpg
  • Created: 2019-09-10 18:54:29

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Unten       —       Sculpture, SPD Würfel, Wilhelmstraße 140, Berlin-Kreuzberg, Germany

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Die Mendel’schen Regel 3

Erstellt von Redaktion am 6. August 2020

In Deutschland werden nicht einfach Vorträge, sondern gleich Karrieren gecancelt

Von Meron Mendel

Es gibt ja Streit darüber, ob die vielbeschworene „Cancel Culture“ wirklich existiert. In den USA ist ein Kulturkampf um die Frage entbrannt. Sind Ausladungsforderungen an umstrittene Redner*innen in Social Media Teil einer neuen Verbotskultur – oder nicht doch ganz normale Politik, nur über Twitter und Co.?

Sollte die These stimmen, dass es sich bei „Cancel Culture“ um einen US-Import handelt, hat sie sich binnen Kurzem an deutsche Tradition und Sitte angepasst: preußische Kanzellierungs-Kultur. Wo sie in den USA die Gesellschaft bewegt, wendet sie sich gut preußisch an die Bürokratie: Ziel sind Be­am­t*in­nen und Funktionär*innen. Damit es spannender ist, ist der Einsatz höher: Wo in den USA nur Vorträge verhindert werden, muss in Deutschland die gesamte Laufbahn einer Person beerdigt werden.

Wie sind die Spielregeln?

1. Such dir eine Person im öffentlichen Dienst, die dir missfällt.

2. Such ihren Namen bei Google in Kombination mit einigen Schlagwörtern (Extremismus, Antisemitismus, Islam, Verfassungsschutz …).

3. Mache dir eine Liste von Zitaten, die genug Interpretationsspielraum bieten.

4. Schreib einen Protestbrief an Merkel, Maas, Seehofer oder Papst Franziskus, in dem du den Rücktritt der Person forderst.

5. Mobilisiere deine „Freun­d*in­nen“ und „Fol­lower*innen“ in den sozialen Medien.

6. Nun ist die Gegenseite dran und kann ihrerseits einen Rücktritt fordern – vielleicht sogar deinen. Immerhin hast du gerade versucht, jemanden zu canceln! Klingt paradox, ist aber ein legitimer Spielzug.

Gewonnen hat der*die Spieler*in, der*die als erste*r den Rücktritt erzwungen hat. Freude am Spiel haben anscheinend alle: Linke, Rechte, Konservative, Liberale, Parteilose, Lobbyisten und Briefmarkensammler.

Zwei aktuelle Beispiele: die Rücktrittsforderungen an den Antisemitismusbeauftragten Felix Klein und an die Vizepräsidentin des Zentralrats der Muslime Nurhan Soykan nach ihrer Berufung zur Beraterin im Auswärtigen Amt. Auch wenn die Fälle sehr unterschiedlich sind, kommt in beiden die gleiche Ausschlusslogik zum Zug. Im Fall Felix Klein wandten sich sechzig „besorgte“ Wissenschaftler*innen aus Deutschland und Israel mit einem offenen Brief an Merkel – weil Klein es regelmäßig wagt, israelbezogenen Antisemitismus zu thematisieren. Peinlich, wie anerkannte Professor*innen sich bei der Dienstherrin eines Beamten beschweren – und dabei so tun, als sei ausgerechnet der Antisemitismusbeauftragte die Ursache von Judenhass in Deutschland.

Die gleiche Gruppe hatte sich schon Anfang Mai in einem offenen Brief (was sonst?) an Seehofer auf die Seite des umstrittenen Historikers Achille Mbembe gestellt. Ich persönlich vermisse unter den Unterzeichner*innen einen Sprachphilosophen, der sich wissenschaftlich mit dem Paradox befasst, wie man glaubwürdig im Namen der Meinungsfreiheit ein Sprechverbot für Herrn Klein erlassen soll.

Wieso fiel mir eigentlich Frau Soykan nie auf ?

Quelle          :        TAZ         >>>>>        weiterlesen

Zur gleichen Thematik :

Die Mendel’schen Regeln 2

Streit ums Jüdische Museum

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Grafikquellen       :

Oben          —       Meron Mendel 2018

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Unten      —      Gedenkstele an Anne Franks Geburtshaus

 

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Wo der Hass beginnt

Erstellt von Redaktion am 1. August 2020

Das Begehren nach dem Schweigen der Anderen

Graffiti in Shoreditch, London - Hatred by Ben Slow (9422248989).jpg

Quelle       :        INFOsperner CH.

 

Martina Süess / Wo Hass im Netz beginnt und warum er allen schadet.

Das Unglück mit der Tigerin im Zürcher Zoo erschüttert mich. Immer wieder stelle ich mir den Moment vor, in dem es zur Begegnung zwischen Pflegerin und Tier kam, und es ist, als würde ich an etwas erinnert, das ich selbst schon einmal erlebt habe. Als wäre diese Angst im Stammhirn gespeichert, ein Erbe meiner steinzeitlichen Verwandten.

«Aus Respekt vor den Opfern und ihren Angehörigen haben wir die Kommentarfunktion bei diesem Artikel deaktiviert», schreibt SRF-online unter dem ersten Bericht zum Zoo-Vorfall und erinnert daran, dass wir nicht in der Steinzeit leben, sondern im Silicon Age: Nicht das Raubtier müssen wir fürchten, sondern die verbale Gewalt im Netz. Leider unterschätzen wir diese Gefahr. Hass-Kommentare werden als «Meinungsfreiheit», «Ironie» oder «Auseinandersetzung in der Sache» verteidigt oder missverstanden. Noch ist vielen nicht bewusst, was eine Sprache anrichtet, die darauf abzielt, Leute öffentlich zu diskreditieren und in ihrer Würde anzugreifen.

Hater wollen bestimmen, wer sprechen darf

Welchen Schaden Kommentare anrichten können, das zeigte jüngst ein Vorfall beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). (WOZ 9. 7.) Das BAG wollte Videos in verschiedenen Sprachen ins Netz stellen, die über Covid-19 informieren. Damit sollten auch jene Personen erreicht werden, die keine Landessprache beherrschen. Das Projekt startete mit einem Pilot-Video, in dem eine Mitarbeiterin des BAG auf Tamil informierte. Das Video wurde am 30. Mai veröffentlicht – und wenige Stunden später vom BAG wieder gelöscht, denn «der Rassismus und Sexismus, den die Mitarbeiterin des BAG auf Facebook und Instagram über sich ergehen lassen musste, war derart massiv», dass sich das BAG verpflichtet fühlte, sie zu schützen, wie Gregor Lüthy, Leiter der BAG-Kommunikationsabteilung in der WOZ erklärte. Auch wolle man offen fremdenfeindlichen Inhalten keine Bühne geben.

Vermutlich war dies die einzige Möglichkeit, die Hetze zu stoppen. Anders als bei SRF lässt sich die Kommentarfunktion auf vielen Social Media-Kanälen nicht ausschalten. Und einen Shitstorm redaktionell zu betreuen, ist aufwändig. Doch genau damit rechnen Hater. Sie wollen weder diskutieren noch einen inhaltlichen Beitrag leisten. Es geht auch nicht um die angegriffene Person. Sexistische und rassistische Kommentare zielen darauf ab, die öffentliche Debatte zu beeinflussen. Hater wollen bestimmen, wer in der Öffentlichkeit eine Stimme haben darf und wer unsichtbar bleiben soll. Genau das wurde in diesem Fall erreicht. Die tamilische Stimme ist verschwunden, das Projekt abgebrochen.

Muss man Hass-Kommentare ernst nehmen?

Dieser Fall zeigt besonders deutlich, dass Hass-Kommentare allen schaden. Es kann niemand ein Interesse daran haben, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht über Corona informiert sind. Wir alle bezahlen einen Preis, wenn sich Behörden von Hass-Kommentaren beeindrucken lassen – auch wenn sie das in guter Absicht tun, wie in diesem Fall. Es ist richtig, Hasskommentaren keine Plattform zu geben. Aber es ist falsch, Rassismus und Sexismus unsichtbar zu machen. Wir müssen im Gegenteil darüber reden, wie Rassismus und Sexismus funktionieren, was sie bewirken und was wir dagegen tun können.

Nun kann man sich fragen, ob man solche Kommentare ernst nehmen muss. Shitstorms sind nicht repräsentativ für die Mehrheitsmeinung, und sie sind inhaltlich meist so dumm, dass man darüber lachen könnte. Für den Schaden, den sie anrichten, spielt das aber keine Rolle. Die zentrale Aussage von Hasskommentaren liegt nicht in der eigentlichen Bedeutung der Worte, sondern darin, was diese Worte tun.

«Ich werde dir den Kopf abschneiden»

Die meisten Frauen, die publizieren oder in der Öffentlichkeit stehen, kennen Angriffe unter die Gürtellinie. Der Polizeiskandal in Hessen (FAZ 19.7.TA 20.7.) ist nur die Spitze des Eisbergs. Bekannt wurde 2019 auch der Fall der deutschen Politikerin Renate Künast, die in Kommentaren zu einem Facebook-Post als «Schlampe» und «Drecks Fotze» bezeichnet wurde. Das Landesgericht entschied, dass es sich dabei nicht um Beleidgungen handle, sondern um eine «Sachauseinandersetzung». Erst als klar war, dass der Betreiber der Seite als Hetzer bekannt ist und seit Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet wird, wurden einige der Beschimpfungen als «Schmähkritik» eingestuft.

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Die amerikanische Altphilologin Mary Beard, die über eine sehr grosse Sammlung von sexistischen Beleidigungen gegen ihre Person verfügt, hat sich mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. Solche Angriffe, sagt sie, seien keine Reaktion auf das, was eine Frau sage, sondern darauf, dass sie etwas sage. Sie selbst hat einmal folgenden, bezeichnenden Tweed bekommen: «Ich werde dir den Kopf abschneiden und dich dann in den Mund f…» (das F-wort war ausbuchstabiert). In der New York Times erklärte sie 2014: «Ein gewisses männlich-kulturelles Begehren nach dem Schweigen der Frau haben wir noch lange nicht überwunden.»

Die Mechanismen sind dort wirksam, wo sie kaum bemerkt werden

Das Begehren nach dem Schweigen der Anderen tritt in online-Kommentaren besonders deutlich – und besonders wirkmächtig – zu Tage. Dieses Begehren schadet unserer Gesellschaft: Es führt dazu, dass die Stimmen von wenigen – nämlich von denen, die diesen Attacken nicht ausgesetzt sind – bestimmen, was in der Öffentlichkeit verhandelt wird, und dass sich andere zurückziehen. Es führt dazu, dass viele Menschen in der Schweiz tatsächlich glauben, dass es in diesem Land keinen Rassismus und keinen Sexismus gibt, weil sie die Diversität unserer Gesellschaft nicht einmal wahrnehmen. Die Mechanismen, mit denen die Anderen zum Schweigen gebracht werden, sind so früh wirksam, dass man sie kaum bemerkt. Auch der Shitstorm, der dazu geführt hat, dass das BAG sein Video in kürzester Zeit zum Verschwinden gebracht hat, wurde kaum wahrgenommen. Niemand hats gesehen, niemand hats gehört, und schon ist die Welt wieder in Ordnung.

Dieses Begehren nach dem Schweigen der Anderen bestimmt auch die Polemiken gegen die sogenannte Political Correctness oder die diskriminierungsfreie Sprache. Diskriminierungsfreie Sprache will diesem Verdrängen etwas entgegensetzen und bietet jenen eine Orientierungshilfe, die gewaltfrei kommunizieren möchten. Niemand ist rechtlich dazu verpflichtet, sich diskriminierungsfrei auszudrücken, schon gar nicht im privaten Raum. Es gibt aber viele, die ein Interesse daran haben. Weil sie verstehen, dass Sprache nicht Wirklichkeit abbildet, sondern die Wahrnehmung von Wirklichkeit steuert.

Windige Argumente und ermüdende Witzchen

Das generische Maskulin zum Beispiel verdrängt Frauen aus der Sprache und aus dem Denken, unabhängig davon, wie es gemeint ist. Dazu gibt es belastbare Studien aus verschiedenen Disziplinen. Sie können das aber auch leicht selbst überprüfen. Bitten Sie zwanzig Personen, drei bekannte Schauspieler (Politiker, Sportler …) zu nennen. Notieren Sie die Namen. Bitten Sie dann zwanzig andere Personen, drei bekannte Schauspielerinnen oder Schauspieler (Politikerinnen oder Politiker, Sportlerinnen oder Sportler…) zu nennen. Notieren Sie auch diese Namen. Und nun entscheiden Sie selbst, wie Sie es in Zukunft mit der weiblichen und männlichen Form halten wollen.

Viele wundern sich darüber, dass diskriminierungsfreie Sprache überhaupt Widerstand provoziert. Eine erhellende Erklärung liefert der Autor einer bekannten Sprachglosse: «Die dauernde Doppelung (‹Journalisten und Journalistinnen›) nervt.» (TA 15.6.2020). Ich verstehe das. Ich habe jüngere Geschwister, und es hat mich auch genervt, dass sie immer mitspielen wollten. Vor allem, wenn sie nicht nach meinen Regeln spielen wollten. Die windigen Argumente und die immer gleichen Witzchen, die man in solchen Polemiken wie der genannten Sprachglosse findet, sind aus sprachwissenschaftlicher Sicht uninteressant. Sie dienen einzig dazu, die Idee der diskriminierungsfreien Sprache lächerlich zu machen und das Begehren nach dem Schweigen der Anderen zu pflegen – bei der eigenen Community.

Filmmaking of "Black Thursday" on ulica Świętojańska in Gdynia - 07.jpg

Das natürliche Verhalten der Raubkatze

Natürlich handelt es sich bei den KritikerInnen der diskriminierungsfreien Sprache und ihren applaudierenden KommentatorInnen nicht um Hater. Sie sorgen lediglich dafür, dass die Glut schön heiss bleibt, so dass das Feuer jederzeit auflodern kann. Und: Es ist verständlich, dass wir die Gefahren einer diskriminierenden Sprache unterschätzen. Unser Stammhirn ist darauf nicht vorbereitet. Doch es ist uns nicht verboten, nachzudenken. Im Fall der verstorbenen Tierpflegerin wurde entschieden, dass die Tigerin am Leben bleiben soll. Schliesslich entspricht es dem natürlichen Verhalten einer Raubkatze, dass sie eine Frau, die in ihr Territorium eindringt, angreift, selbst wenn diese Frau ihr das Futter bringt. Als Menschen haben wir hingegen die Wahl. Bei jedem Kommentar, den wir schreiben, bei jedem Text, den wir veröffentlichen, können wir entscheiden, wie, warum und mit welchen Mitteln wir welches Territorium verteidigen wollen, welche Verletzungen wir in Kauf nehmen und was wir dadurch gewinnen – oder verlieren.

FREIE NUTZUNGSRECHTE

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Grafikquellen      :

Oben       — Hanbury Street

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2.) von Oben       —       On the 75th anniversary of the liberation of the Auschwitz concentration camp, Jan. 27, 2020, MTA Chairman and CEO Patrick J. Foye announced that the authority is launching a sweeping public messaging campaign aimed at combating hate crimes. Messages promoting kindness, respect and solidarity are appearing starting today on thousands of digital screens across the region’s subways buses and commuter railroads. This is an example of one of the ads. Credit: Metropolitan Transportation Authority (MTA)

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Unten     —     Filmmaking of „Black Thursday“ on ulica Świętojańska in Gdynia. People on this picture were actors, background actors, other workers of film crew or workers of subcontractors. „Black Thursday“ is film about Polish 1970 protests.

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Alles Rassisten ?

Erstellt von Redaktion am 28. Juli 2020

Über eine neuartige Maßlosigkeit in der Rassismuskritik

Antideutsche rassisten.jpg

Von Levent Tezcan

Kinder von Eltern, die nach Deutschland gekommen sind, melden sich zu Wort. Sie sind gebildet, wortgewandt. Sie wollen den Rassismus anprangern, nicht mehr nur den Rassismus, der von faschistischen Parteien unverblümt propagiert wird; auch nicht den, der noch in den Gesetzen und Institutionen steckt. Sie wollen ihn aus den entlegensten Ecken der Sprache, Kultur, Erinnerung herauszerren. Sie initiieren #MeTwo-Debatten.

Seit einiger Zeit wird in Deutschland und der Welt heftig über Rassismus diskutiert. Die Debatte kann dabei, wie einige Indizien andeuten, auch eine gefährliche Wendung nehmen. Die Rassismuskritik führt dann nicht mehr zu neuer Solidarität, sondern dient dem Zelebrieren eines affirmierten Opferstatus und droht zur Selbstbestätigung auszuarten. Einige Entwicklungen deuten durchaus auf diese Richtung, wenn auch nicht klar ist, wie wirksam sie sind. Mit einem quasireli­giö­sen Furor will eine neue Generation People of ­Color jede auch noch so verborgene rassistische Regung in der Seele ausrotten. Selbst die Liberalen, gar die Linken, die immer schon ein sicherer Hafen für die Fremden im Lande waren, sind nicht mehr davor gefeit, als Rassisten gebrandmarkt zu werden. Kürzlich sagte in einem Spiegel-Interview die Erziehungswissenschaftlerin DiAngelo, dass sich „mit Liberalen am Schwersten reden“ lasse. Sie würden nicht akzeptieren, dass sie rassistisch sind. Rassismus habe nichts mit Intentionen zu tun, heißt es. Er sei bereits in die Strukturen eingebaut. Wer nicht Schwarz/PoC ist (und also automatisch „weiß“), ist demnach unvermeidlich ein Rassist aufgrund seiner privilegierten Geburt.

Gewappnet mit dem moralischen Panzer des Minderheitenstatus, sind diese neuen Minderheitsvertreter immer schon im Recht, sprechen sie doch aus Diskriminierungserfahrung. Diskriminierungswahrnehmung, diese scheinbar unbestreitbare Erfahrung, stattet ihre Sprecher gleich mit dem moralischen Anspruch aus, bereits dadurch im Besitz der Wahrheit zu sein. Unablässig prangern sie das rassistische Ressentiment an, sind aber selbst voll Ressentiments gegenüber denjenigen, die sie für die Dominanten halten.

Im postchristlichen Zeitalter wird wohl niemand die altbekannte kirchliche Lehre von der Ursünde gelten lassen wollen. Selbst die Kirchen sprechen kaum mehr darüber. Die neue Ursünde Rassismus schlägt hingegen voll ein, jedenfalls in liberalen Kreisen. Wer weiß, vielleicht ist die neue Ursündenlehre so mächtig wie ihre christliche Vorgängerin.

School Begins (Puck Magazine 1-25-1899).jpg

Der Autor dieser Zeilen hat das ihm qua Geburt bescherte Glück (!), von dieser Ursünde nicht betroffen zu sein. Als Hochschullehrer genieße ich zweifellos viele Privilegien, die die große Mehrheit der Gesellschaft (ob schwarz, weiß oder türkisch) nicht besitzt. Nach der Logik der neuen Rassismuskritiker kann ich aber meinem germanischen Kollegen, einem beschlagenen Soziologen, der sich von einem Drittmittelantrag zum nächsten bis zur Rente durchschlagen muss, jederzeit seine „Privilegien“ vorwerfen und, bei Bedarf, daraus Rassismus ableiten.

Man muss sich die perverse Logik genau vor Augen führen, die hier am Werke ist: Selbst wenn ich wollte, könnte ich mich dem neuen kulturellen Paradigma „Gestehe, wie rassistisch du bist“ nicht unterziehen. Während „Weiße“ nicht keine Rassisten sein können, kann ich gar nicht rassistisch sein. Welch ein Glück? Ich fühle mich ganz und gar diskriminiert, wenn mir die Möglichkeit genommen wird, rassistisch sein zu können. Rassistisch sein zu dürfen, ist und bleibt ein „weißes Privileg“. Der Guru der Microaggressionsthese, Derhard Wing Sue, wollte es etwa nicht gelten lassen, dass ein „weißer“ Lehrer ebenfalls Opfer von Micro­aggressionen gewesen sein wollte.

Quelle      :     TAZ         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben        —       selbst gemacht

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Unten     —      Louis Dalrymple – This image is available from the United States Library of Congress’s Prints and Photographs division under the digital ID ppmsca.28668. This tag does not indicate the copyright status of the attached work. A normal copyright tag is still required. See Commons:Licensing for more information.

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 28. Juli 2020

Vorwärts federn nach Corona-Lockdown

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Johanna Roth

Eine dänische Studie belegt, dass die Ausgangsbeschränkungen die Zahl der Frühgeburten drastisch reduzierte. Corona ist einmal mehr auch eine Chance.

Vor ein paar Tagen stand in der New York Times, dass die Frühgeburtenrate während der Corona-Lockdown-Zeit in vielen Ländern zurückgegangen sei. Ein Forscher*innenteam in Kopenhagen war angesichts sich leerender neonatologischer Stationen neugierig geworden und verglich die Zahl der landesweit von Mitte März bis Mitte April geborenen Frühchen unter 28 Wochen mit den Daten des gleichen Zeitraums in den vergangenen fünf Jahren. Wie sich herausstellte, waren es sagenhafte 90 Prozent weniger.

Ähnliches berichteten Ärzt*innen aus ­Calgary, Rotterdam, Melbourne und Nashville, auch wenn ihre Schätzungen nicht ganz so drastisch ausfallen. Was sagt uns das? Im Gegensatz zu PatientInnen mit Herzbeschwerden, die sich aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus weniger zum Arzt trauten, werden Schwangere kaum Frühgeburten zu Hause absolviert und Brutkästen aus dem Terrarium im Wohnzimmer improvisiert haben, um nicht ins Krankenhaus fahren zu müssen.

Die Forscher*innen vermuten, dass diese Ergebnisse einer Mischung aus Stress, Luftverschmutzung und verschiedenen Krankheitserregern zuzuschreiben sind, denen werdende Mütter aufgrund des Lockdowns weniger ausgesetzt waren als sonst und deshalb seltener vorzeitige Wehen bekamen. Dabei könnte man meinen, dass doch gerade eine Viruspandemie und ein dadurch verursachter quasi-globaler Stillstand psychosozialen Stress verursachen würden, der sich auch körperlich niederschlägt.

Für Ursachen der gesunkenen Frühgeburtenrate gibt es nur Mutmaßungen, keine Beweise, auch ist die dänische Studie noch nicht peer-reviewed. Und natürlich sind diese Berichte nur eine Momentaufnahme innerhalb komplizierterer Zusammenhänge. Dennoch erzählen sie etwas über, pardon, die Beschissenheit der Welt, wie wir sie kennen: dass es so unmittelbar spürbare Auswirkungen auf die Gesundheit zu haben scheint, wenn Autos und Wirtschaft stillstehen.

Corona stellt und beantwortet Systemfragen

Plötzlich, sagt eine Forscherin, habe die jahrelang stagnierte Ursachenforschung zum Thema Frühchen wieder neue Impulse bekommen: „Offenbar musste erst eine Virusattacke kommen, um uns auf die Spur zu bringen.“ Corona stellt viele Systemfragen und beantwortet manche gleich mit. Die vielleicht drängendste und gleichzeitig unerwartetste lautet: Wie verwundbar sind wir eigentlich?

File:Rear view mirror view in Mt. Rainier National Park, driving to Longmire.jpg

Der politische Blick in den Spiegel – nie nach vorn

Das Frühchen-Phänomen legt nahe, dass Menschen erstaunliche Fähigkeiten zur psychischen Resi­lienz angesichts einer unerwarteten Bedrohung wie einer Viruspandemie besitzen, gegenüber diversen Umwelteinflüssen der industriellen Hochleistungsgesellschaft aber umso verletzbarer zu sein scheinen. Insofern ist, wie die Forscherin in der New York Times beschreibt, die aktuelle Krise als Chance für gesellschaftliche Transformationsprozesse gar nicht zu unterschätzen.

Quelle     :      TAZ      >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben       —         Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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Attribution: Joe Mabel

 

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Die Habgierigen

Erstellt von Redaktion am 24. Juli 2020

Wenn Gier die Erde frisst

Quelle          :         Scharf  —  Links

Ein Kommentar von Georg Korfmacher, München

Die aktuelle Pandemie zwingt uns alle, darüber nachzudenken, in welcher Welt wir leben wollen. Vielen Menschen fällt es wie Schuppen von den Augen, dass ein gelingendes Leben wichtiger ist als das Aufrechterhalten der profitorientierten Finanzmärkte und Wirtschaft. So ziemlich alles, was wir planen und über das wir bisher verfügen konnten, ist nicht mehr möglich oder stark eingeschränkt. Urlaub, Sport, Kultur, Biergarten, ja sogar Beruf sind nicht mehr so, wie es einmal unsere Gewohnheit war. Das fällt vielen schwer und sie reagieren mit Panik oder Aggression.

Zwei Instanzen reagieren überraschend gar nicht: die Wirtschaft und die Kirchen. Die Wirtschaft ist ratlos, weil sie plötzlich mit noch so viel Geld und Businessplänen nichts mehr im Sinne ihrer Profitziele erreichen kann, die Kirchen, weil sich all ihre Versprechen und Allweisheitsvorstellungen wie Schnee in der Sonne in Luft auflösen. Beide haben in der Pandemie weder Erklärungen noch überzeugende Rezepte für die Zukunft unserer Gesellschaft und das praktische Leben.

Natürlich ist die Pandemie für viele Menschen ein manchmal harter Lernprozess. Festzustellen, dass Konsum eher Zwang und Abhängigkeit bedeutet als ein erfülltes Leben, ist für viele eine neue Erkenntnis, und Ohnmacht ist für so manche Wohlhanden eine unerträgliche Qual. Wir alle müssen lernen, mit Verzicht umzugehen und mit mehr Demut und Achtsamkeit zu leben und zu handeln.

Während gesundheitspolitisch im Wesentlichen gut regiert wurde, sind die finanzpolitischen Maßnahmen eher saurer Wein aus alten Schläuchen. Wer in Pandemiezeiten üppige Dividenden und unanständig hohe Gehälter auszahlen kann, braucht wahrlich keinerlei Staatshilfe aus Steuergeldern. Den wirklich Bedürftigen in Grundsicherung wird hingegen arrogant nicht geholfen. Die kurze MWSt.-Senkung ist eine grandioser Flopp, und selbst die fetten Zuschüsse beim Autokauf sind laut Umfrage nicht entscheidend für einen Neukauf. Jetzt werden Versäumnisse und Fehler aller Art sichtbar, von der menschenunwürdigen Grundsicherung bis hin zur gerechten Besteuerung der Superreichen und in der Finanzwirtschaft generell. Hier sind neue Ideen und Initiativen gefragt, keine alten Rezepte und Machenschaften.

Täglich flimmern Katastrophenberichte über die Verschmutzung der Meere und Flüsse, die brutale Zerstörung und Ausplünderung der Natur, die Klimaerwärmung, vergiftete Narung, die krasse Not vieler Menschen auf der Welt in unser Wohnzimmer. Das alles ist menschengemacht. Hauptsache, der Gewinn stimmt. Wir müssen uns endlich und schnell entscheiden, wie wir unsere Leben zum Wohl der Menschen gestalten wollen. Es darf nicht sein, dass die oberen 10 Prozent 83 Prozent des Weltvermögens besitzen. Das ist kein Neid, das ist einfach ungerecht und ungesund, weil es im Wesentlichen durch Ausbeutung aller Art angehäuft worden ist. Wir dürfen nicht mehr zulassen, dass Gier unsere Erde frisst.

Vielleicht hilft da ein einfacher Vers, den ein weiser oder verzweifelter Mensch vor ca. 1000 Jahren in eine Kirchentüre in Burgund geritzt hat: Nicht alles haben wollen, was man sieht; nicht alles glauben, was man hört; nicht alles sagen, was man weiß; nicht alles tuen, was man kann.

Urheberrecht
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Grafikquelle          :              Abendmahl‘ von Arno Funke

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Die neue Soziallehre

Erstellt von Redaktion am 12. Juni 2020

Die neue Soziallehre als Zukunftschance

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Von Jimmy Bulanik

in Solidarität für Caro(lin) – Helga H. aus Saarlouis

Geldern – In einer Zeit in der Menschen überall auf dem Globus von den Schattenseiten der Globalisierung ungefragt betroffen geworden sind, braucht es durch die Zivilgesellschaft ein beschützendes Netzwerk das wirkungsvoll ist. Dabei gibt es bereits gute Partner. Der Paritätische, der Sozialverband VdK, der DGB oder die Caritas sind solche Organisationen. Gleichwohl ist daran zu erinnern das die Kirchen im Land über sehr viel ökonomischen und politischen Einfluss verfügen.

Der gesellschaftliche Einfluss der Kirchen schwindet. Das hat diverse Hintergründe. Zum einen hat die Kirche juristische Vorteile, welche die Arbeitnehmerschaft nicht hat.

Leider waren die Funktionäre in den Kirchen über Jahrzehnte hinweg vielfältig schlechte Vorbilder für Kinder und Erwachsene

Die Kirche steht vor der Frage ihrer Entscheidung der Bedeutungslosigkeit oder glaubwürdiger Partner für jene Menschen welche Solidarität, Empathie, Hilfe brauchen. Die Soziallehre der Kirchen ist ihre bedeutsame Gelegenheit für die Zukunft. Diese gilt es der Transformation in das 21. Jahrhundert zu bewerkstelligen.

In jedem Fall können die Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland ihren Einfluss auf sämtliche demokratische Parteien im Bundestag geltend machen. Im Grunde sich an die Spitze der sozialen Bewegungen setzen. Der Kaufkraft Abstand zwischen den Einkommensverhältnissen und den Preisen im Alltag sind gesellschaftliches Gift.

Die christliche Soziallehre gehört unveräußerlich zu der DNA der christlichen Kirchen

Den Kirchen kann die Zusage gemacht werden, das sie als Partner für die Menschenwürde der Menschen an der Basis der Gesellschaft immer von Herzen willkommen sind. Die Agenda 2010 in der gegenwärtigen Form darf und wird nicht bestehen bleiben. Die Kirchen können mit den Gewerkschaften, und politischen Parteien zum guten Beitragen.

Bei den Konzepten, neuen Gesetzen haben die Kirchen viel daran zu gewinnen sich im progressiven Sinne zu beteiligen. Das ist erheblich besser im Vergleich zu den zweifelhaften Konzernen Bertelsmann (mit ihrer Bertelsmann Stiftung siehe „Die Anstalt“), Burda geschweige Springer. Ein guter Sozialstaat gemäß dem Grundgesetz muss öffentlich sein und bleiben.

Die Kirchen sind gut beraten für die Menschen sozial und charismatisch zu sein

Die gegenwärtige Zeit ist ernst genug. Sie hat das Potential sowohl zum erfreulichen mit den Phänomenen der Zukunft wie der Digitalisierung oder zum Trauern um verschwendete Menschenleben. Eines ist dabei sicher, die Entscheidung prägt die bevorstehende Jahrzehnte in einer global abhängig und vernetzten Welt.

Dabei geht es auch um die Beantwortung, bzw. Bekräftigung dessen wer wir sind und um unseren öffentlichen Platz, Ansehen in der Welt.

Nützliche Links im Internet:

Der Paritätische

http://www.der-paritaetische.de

DGB

https://www.dgb.de

VdK

https://www.vdk.de

Caritas

https://www.caritas.de

Klosterpforte e.V. Kleve

http://www.endoplasmatischesretikulum.de/klosterpforte

Jeder einzelne Cent als Spende für die Klosterpforte e.V. hilft in der Praxis bedürftige Menschen welche im Kreis Kleve in verbesserungswürdigen Umständen leben.

IBAN: DE42 3245 0000 0005 4583 69 – BIC: WELADED1KLE

Ich als Autor werde in jedem Fall eine Spende für die Menschen tätigen.

Milva – Hurra, wir leben noch

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Grafikquelle      :

Chancé (Ille-et-Vilaine, France) ; lotissement La Fontaine

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Rechtstellung aus Göttingen

Erstellt von Redaktion am 7. Juni 2020

Göttingen. Corona und Zuckerfest

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 Moschee  in:   Göttingen, Königsstieg

Heute erreicht uns aus Göttingen über eine seriöse Quelle die Gegendarstellung einer der betroffenen Migrantenfamilien zu den öffentliche Vorwürfen im Zusammenhang mit „Corona und Zuckerfest“. Ob die Göttinger Presse diese Gegendarstellung auch bringt und ob diese Gegendarstellung auch den tatsächlichen Fakten entspricht, kann ich nicht sagen, wollte aber doch über die Gegendarstellung und eventuelle bisher scheinbar einseitige Berichterstattung informieren.

Gegendarstellung

Sehr geehrte Damen und Herren der Presse,

mit großem Befremden haben meine Familie und ich die einseitige, unkorrekte und unvollständige Berichterstattung ihrer Zeitung zur Kenntnis genommen.

Um verschiedene Dinge klarzustellen:

– eine Zusammenkunft mehrerer Personen fand nur anlässlich des Gebets in der Moschee statt (Genehmigung des Ordnungsamtes lag vor). Hier wurden sämtliche Abstands- und Hygieneregeln eingehalten.

– eine Feierlichkeit, wie von Ihnen propagiert, fand nicht statt.

– der wahrscheinliche Patient „Null“ ist nicht Bestandteil unserer Familie, sondern ist ein Einwohner des Wohnkomplexes.

– das Nicht-Einhalten von Hygiene- und Quarantäneregeln anderer Personen sollte nicht uns angelastet werden (wie im vorliegenden Fall geschehen).

– Familienmitglieder von uns haben das zuständige Amt im Vorfeld mehrfach telefonisch über die Quarantäneverletzungen des mutmaßlichen Patienten „Null“ in Kenntnis gesetzt.

– die resultierenden Infektionen basieren auf Kontakten im häuslichen Bereich, da, wie bekannt, das COV 19 über die größeren Aerosole übertragen wird, welche gerade in Hausfluren eine längere Verweildauer haben.

– die Berichte über Familienmitglieder, die nicht zu Corona-Tests erschienen seien, sind für uns nicht nachvollziehbar. Tatsache ist, dass mehrere Familienmitglieder von Teststationen weggeschickt wurden, mit dem Hinweis, dass sie symptomfrei seien.

Meine Familie und ich sorgen sich sehr über das Bild, das von meiner Familie und meinen Mitmenschen gezeichnet wird. Die daraus resultierenden Anfeindungen meiner Familie bewegen sich am strafrechtlichen Bereich, und für diese Entwicklung zeichnen sie sich durch Ihre unvollständige Berichterstattung kausal.

Wir fordern Sie auf, diese Richtigstellung entsprechend zu verbreiten.

Mit freundlichen Grüßen

für die betroffenen Familien

Pepe Pepe Tahiri

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Grafikquelle      :       Mosque in en:Göttingen, Königsstieg
Author Simon-Martin
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Stadtgespräch aus Berlin

Erstellt von Redaktion am 4. Juni 2020

Ein bisschen Spaß mit Corona

"Narrenschiff" by Thomas Bühler.jpg

Von Uli Hannemann

Die heilige Dreifaltigkeit aus Kirche, Clubs und Corona macht derzeit Schlagzeilen. Allen dreien steckt die Rücksichtslosigkeit tief in der DNA.

Es sind nicht nur die Schlachthöfe des Schweins, sondern auch die des Herrn, in denen sich ideale Bedingungen für ein gepflegtes Superspreading finden. So haben Gottesdienste in Frankfurt am Main und Bremerhaven für bislang über 250 Neuinfektionen an Covid-19 geführt. Zum Teil wurde die Maskenpflicht nicht eingehalten, und gesungen wurde ebenfalls.

Dabei weiß man doch nach diversen Vorfällen bei Chören, dass selbst unter gewissenhafter Einhaltung der Regeln, für das Singen in geschlossenen Räumen schlicht kein „plausibles Hygienekonzept“ zu existieren scheint, von dem der Bremerhavener Bürgermeister dennoch schwadroniert, nachdem das Kind schon längst in den aerosolgefüllten Brunnen gefallen ist. Gewiss dachten die Christen, dass der Herr Jesus sie beschützt. Dieser Professor Drosten macht zwar einen sympathischen Eindruck, aber alles kann der auch nicht wissen.

Apropos Jesus. Am Pfingstsonntag hätte der trockenen Fußes über den Berliner Landwehrkanal joggen können. Tausende Clubgänger fanden sich dort zu einer Schlauchbootdemo gegen das drohende Clubsterben. Dicht an dicht, keine Masken, wenig Klamotten, null Abstand zwischen den Booten, einer rauschenden Coronaparty unter dem inoffiziellen Motto: „Eure Gesundheit ist unser Tod!“

Diese Scheißegalmentalität kennt zur Genüge, wer am Schlesischen Tor wohnt und nachts schlafen möchte. Wo Leute unterwegs sind, deren empathischer Horizont zwar räumlich und intellektuell an den Grenzen der eigenen Person, aber zeitlich selten vor acht Uhr morgens endet, bleibt anderen Menschen nur noch die Wahl zwischen Flucht, Wahnsinn und Verzweiflung.

Gott oder Pillen

Zumindest erstere Möglichkeit ist den Patienten des Urban-Krankenhauses verwehrt, vor dem besagte Seuchensause ihren Abschluss feierte. Sie sind dort an ihre Betten gefesselt, während vor ihren Fenstern die Gottseibeiuns-Armada wummert. Party, party, party!! Ich mein, ey, warum sind die krank, ist doch schönes Wetter, lol, einfach mitfeiern!

Heiligste Dreifaltigkeit (Kronburg) 26.JPG

Die einen nehmen Pillen, die anderen nehmen Gott. Die einen sind jung, die anderen sind alt, zumindest im Kopf. Gemein scheint beiden Lagern das feste Wissen um die eigene Unverwundbarkeit und eine allem anderen übergeordnete Mission zu sein, die Rücksichtslosigkeit gegenüber Außenstehenden – man könnte auch sagen: gegenüber gemeinschaftlichen Belangen – geradezu zwingend erfordert. Denn es geht um Höheres. Was das Höhere ist, bestimmen natürlich immer sie. Dummheit und Selbstüberschätzung regieren hier wie dort.

Quelle         :         TAZ           >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben       —     Narrenschiff, Ölbild Thomas Bühler. Beschreibung des Bilds durch das Presse- und Informationsamt Osnabrück

Thomas BühlerArchiv des Künstlers

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Unten        —     Heiligste Dreifaltigkeit Kronburg, Landkreis Unterallgäu, Bayern

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DER ROTE FADEN

Erstellt von Redaktion am 27. Mai 2020

 Phasen des Zusammenzuckens

Roter Faden Hannover rote Zusatzmarkierung.jpg

Durch die Woche mit Ariane Lemme

Die Angst vor Corona weicht gerade anderen Ängsten. Auch alte Reflexe schnappen wieder zu. Klar ist: Stärkere Mächte sind nicht per se die Schlechten.

Gefühlsmäßig geht’s ja seit März rund. In meinem Kopf, aber wenn ich mich so umgucke, auch all around the world. Klar, jeden treibt was anderes an und um, für mich gab es bisher drei Phasen: Erst kam die Angst. Nicht um mich, aber um meine Eltern, um all die Menschen in meinem Umfeld, die ich von Covid-19 unmittelbar bedroht sah.

Eine auf andere projizierte Todesangst war das, sie war immer da und ließ mich nachts nicht schlafen, bis sie irgendwann verblasste und Phase zwei einsetzte: euphorische Ruhe. All das pandemieverordnete Weniger, wurde mir klar, ist, zumindest für mich, ein existenzielles Mehr. Weniger Gewusel, weniger Monologe, die einem andere ungefragt ins Ohr drehen, mehr Zeit für alles Mögliche. Klar, ich schämte mich dafür, als Luxus zu empfinden, was andere in tiefe Einsamkeit und wirtschaftlichen Ruin treibt. Der Euphorie war die Scham egal, aber dann kam Phase drei: die Scham.

Nicht mehr nur die über meinen Shutdown-Egoismus, sondern mehr und mehr über einige Mitmenschen, die glauben (und das auch gern in jede Kamera rotzen), dass es doch verdammt noch mal Leute geben muss, die an dieser insgesamt doch recht misslichen Lage schuld sind.

Ohne Schuldige, (am besten irgendwelche leicht zu dämonisierenden Stärkeren) scheint es, ist das alles für einige mal wieder nicht zu ertragen, und wenn es nicht Merkel allein ist, dann mindestens Bill ­Gates und – na ja, Sie wissen schon.

Könnten mir die paar Tausend Spinner nicht egal sein? Nein, hier schließt sich der Kreis zu Phase eins: Menschen, die freiwillig einen gelben Stern tragen, in dem statt des Worts „Jude“ „ungeimpft“ steht, jagen mir unerträgliche Angst ein, weil sie eben nicht einfach den Verstand verloren haben, sondern vielmehr – zur monströsen Karikatur geronnen – das auf die Spitze treiben, was wir Deutschen (ich sag das jetzt mal so pauschal, weil ich mich einschließe, Ausnahmen sind natürlich ausgenommen) seit Jahrzehnten praktizieren: Schuldabwehr.

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Ich würde – steile These, ich weiß – mal behaupten, keiner, der in den vergangenen 75 Jahren hier aufgewachsen ist, hat sich nicht mit der Frage der Kollektivschuld beschäftigt, mit der Verantwortung, die die Vergangenheit für uns heute bedeutet, und irgendeinen Schluss für sich daraus gezogen. Allermeistens in bester Absicht. Die Schlüsse reichen von wortreicher Wiedergutmachungsrhetorik bis hin zu Über-Empathie mit bestimmten Menschengruppen; ich würde sagen, alles fast immer getrieben vom Wunsch, endlich gut zu sein. Offene Schuldabwehr findet man eigentlich nur bei echten Nazis.

Und trotzdem finden sich Impulse zur Schuldumkehr und antisemitische Grundmuster – trotz all unserer Anstrengungen – auch weit weit entfernt von Spinnern und Nazis. Sie finden sich bei Menschen, denen ich ein eigentlich gutes Herz und gute Absichten unterstelle, ja, wahrscheinlich fände ich sie, wenn ich gründlich nachguckte, auch in meinem eigenen Kopf.

Quelle         :         TAZ        >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben        —       Roter Faden in Hannover mit beschriftetem Aufkleber als Test für einen möglichen Ersatz des auf das Pflaster gemalten roten Strichs

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