Brief aus Berlin
Erstellt von Redaktion am Samstag 18. Juli 2015
Brief aus Berlin
von Katharina Döbler
Viel hat sich in den letzten Jahren hier geändert, aber ein wesentlicher Eindruck ist geblieben: Unsere merkwürdige Hauptstadt ist unfertig. Viel war in den letzten 25 Jahren die Rede davon, wie Berlin einmal werden sollte, werden könnte, zu werden hatte. Infrastruktur! Industrie! Wohlstand, endlich!
Vor fünf Jahren stand die Eröffnung des Flughafens kurz bevor. In dieser Stadt vermutet man ja die Zukunft immer gleich hinter der nächsten Ecke – und dann ist alles wieder vorbei, ohne dass es jemand mitbekommt. So wie der zukünftige Flughafen, aus dem wir schon herausgewachsen sind, bevor er überhaupt nur einmal funktioniert hat.
Vielleicht ist Berlin überhaupt zu schnell für seine provinziellen Zukunftsprojekte, so dass die Gegenwart hier nie so richtig zum Zuge kommt. Andauernd wird sie von einer rasant im Werden begriffenen Vergangenheit überholt. So ist es ja auch beim Humboldtforum, dem zweiten markanten Zukunftsprojekt, seit Jahrzehnten geplant und ebenso lange umstritten.
Man erinnere sich: Kaum war die DDR Vergangenheit, kämpfte eine Clique rühriger Bürger für die Wiederauferstehung einer noch viel vergangeneren Vergangenheit. Das Hohenzollernschloss, das die DDR-Oberen für ihre eigene Zukunftsvision hatte verschwinden lassen, sollte wieder her. Ideen, wie die durch die Beseitigung alter Utopien leer gewordene Stadtmitte sonst zu füllen sei, waren fast ausschließlich provisorischer Art und lieferten nichts, was als künftiges Monument der Gegenwart, als dereinst prächtige Ruine getaugt hätte.
In Wahrheit interessiert sich hier keiner für die Gegenwart. An einem Ort, wo Zukunft und Vergangenheit einander stets in innigem Streit umklammern wie ein verbissenes altes Paar, haben Hier und Jetzt keine Chance. Sie können nur hilflos mit ansehen, wie die beiden ein Monster nach dem anderen erzeugen – entrechtete Voyeure, die fürs Zuschauen auch noch bezahlen müssen.
Quelle: le monde diplomatique
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Fotoquelle: Wikipedia – Eigener Scan
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