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Brief an die Deutschen

Erstellt von Redaktion am Dienstag 12. Mai 2020

Leben in den Mythen anderer

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Von Achille Mbembe

Worum geht es Achille Mbembe? In der taz schildert er sein „Denken des Überquerens von Identitäten“.

Ich sehe mich in Deutschland nicht auf der Anklagebank. Ich möchte jedoch ein paar Schlüssel zum Verständnis vorlegen für alle, die eine konstruktive Debatte mit meinem Werk führen wollen, das nur teilweise auf Deutsch vorliegt.

Um die Entstehungsgeschichte eines Werkes und seine möglichen Widersprüche zu verstehen, muss man den Kontext seiner Entstehung und seine Entwicklung kennen: welche großen Fragen versucht es mit welcher Ausdrucksweise zu beantworten, in welche großen Debatten greift es ein, welche großen Wendungen entstehen daraus? Das gilt für jedes geistige Produkt, egal aus welcher Region oder in welcher Sprache.

Denen, die den Sinn meiner Herangehensweise oder den Inhalt meines Denkens wirklich mit der Perspektive eines interkulturellen Dialogs verstehen wollen, werden Verhörmethoden nicht weiterhelfen. In einer Zeit der Suche nach Sündenböcken, der Exkommunizierungen und der Beschimpfungen hoffe ich, dass diese Schlüssel den Weg zu einer sachlichen Debatte über die großen moralischen und politischen Fragen öffnen, zu denen einige von uns uneinig sind.

Mein intellektuelles Herangehen kann als ununterbrochene Reise beschrieben werden, oder eher noch als endlose Wanderung von einem Ufer zum anderen. Ich nenne das das Überqueren. Es zwingt uns, die Komfortzone des Bekannten zu verlassen und sich bewusst der Gefahr der Erschütterung der eigenen Gewissheiten auszusetzen. Denken bedeutet in diesem Zusammenhang, Risiken einzugehen, auch das Risiko, falsch verstanden oder ausgelegt zu werden. Vielleicht ist das eine Eigenart derer, die irgendwo geboren wurden, sehr früh gingen und nie wieder zurückgekehrt sind.

Das doppelte Erbe meiner Heimat Kamerun

In Kamerun, wo ich geboren wurde, erhielt ich ein doppeltes Erbe. Das erste entstammt meiner Schulbildung in hervorragenden christlichen Institutionen. Ich wurde nicht nur der klassischen europäischen Kultur ausgesetzt. Die katholische Kirche, ihre Dogmen, ihr Katechismus und ihre Mythologie wurden sehr früh Teil meiner Vorstellungswelt.

Dies erklärt vielleicht, dass später das Christentum als solches zum Gegenstand meines Denkens wurde. Da ich es vor allem als Gebilde der Wahrheit verstand, widmete ich mich zu Beginn meines intellektuellen Werdegangs als Erstes der Kritik des Absoluten.

Nicht nur Religionen beruhen auf Theologien des Absoluten, auch weltliche Mächte, auch der Staat in unseren Ländern. Der Staat, kolonial oder als postkoloniale Tyrannei, wurde zum nächsten vorrangigen Objekt meiner Arbeit.

Das zweite Erbe erhielt ich von meiner Großmutter, einer des Lesens und Schreibens unkundigen Bäuerin, die sich am Kampf gegen den Kolonialismus beteiligt hatte und dabei ihren einzigen Sohn verlor, der am 13. September 1958 von der französischen Armee ermordet wurde. Sie führte mich in die Frage des Antikolonialismus ein und in die der verdrängten Erinnerungen, vor allem der Erinnerungen der Besiegten der Geschichte.

Von welchem Standpunkt auch immer man es betrachtet, gehören die Völker Afrikas zu diesen Besiegten. Wie entrinnt man als historische Gemeinschaft der Niederlage und lernt erneut zu gewinnen? Diese Frage hat mich seit meiner Kindheit beschäftigt.

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Von allen französischen Kolonialgebieten in Afrika südlich der Sahara ist Kamerun das einzige, wo die Forderung nach Autonomie in einen bewaffneten Konflikt mündete. Die nationalistische Bewegung, die den Widerstand angeführt hatte, wurde militärisch besiegt. Diejenigen, die nach der Unabhängigkeit die Macht ergriffen, nutzten die Werkzeuge des Staates, um die Erinnerung an diesen Widerstand um jeden Preis auszuradieren.

Mit der Bibel, die wir uns nicht selbst ausgesucht haben, ist Israel in unsere Welt eingedrungen.

Meine ersten akademischen Arbeiten handelten von diesem Versuch, Vergessen herzustellen.

Diese Erfahrung des Ausradierens des Gedächtnisses der Besiegten hat eine wichtige Rolle in meinen Überlegungen zur Erinnerungspolitik und meinen Analysen des postkolonialen Staates und zeitgenössischer Erscheinungsformen der Tyrannei gespielt. Erst nach und nach begriff ich, dass dies keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal afrikanischer Machthaber war.

Ich sollte hinzufügen, dass meine Großmutter mich auch in die Bibellektüre eingeführt hat. Als Jugendlicher fand ich in der Bibel ein außergewöhnliches Universum vor, das mir nach und nach vertraut wurde. Sehr früh verbanden sich in meinem Geist die Erzählung der Bibel und die antikoloniale Erzählung, bis ich sogar der Bibel und ihren Figuren verbundener war als der Kirche und ihren Dogmen, dem vergessenen Gedächtnis der Besiegten mehr als der Staatstheologie, die das Monopol der Wahrheit beansprucht.

Ein aufständischer Argwohn

Der Kern meines Werkes ist ein aufständischer Argwohn, den eine utopische Ader mäßigt. Diejenigen, die mich heute verfolgen, wissen nicht, dass ich diese utopische Ader, die auf der Idee einer radikalen Ablehnung von realen Zuständen und Machtspielen gründet, in gewissen Traditionen des jüdischen Denkens gefunden habe.

Als ich Kamerun verließ, um meine Studien an französischen Universitäten weiterzuführen, hatte ich bereits die großen Themen im Kopf, die mein intellektuelles Projekt der Jahre 1980–2000 bestimmen würden.

Das erste war eine politische Kritik des Christentums. Ich war dahingekommen, das Christentum als Traum und Vision zu begreifen statt als Institution mit einer Zentralmacht.

Ich wollte wissen, was von dieser Vision bleibt, wenn man ihr die dogmatische Ausdrucksform nimmt. Ist die Kirche mit ihren Hierarchien letztendlich Ausdruck der Gemeinschaft? Oder kann man sich Gemeinschaften vorstellen, die nicht als Erstes Machtausübung anstreben, sondern das Teilen, das Dienen und das Kümmern um die Bedürftigsten?

Jenseits der Kirche wollte ich über die Möglichkeit von Gemeinsinn, von Gemeinsam-Sein, von Gemeinschaften nachdenken, die nicht auf Glauben und Abstammung beruhen, sondern auf Vernunft und Solidarität. Nicht auf der Idee des Einen, sondern auf der der Vielfalt. Nicht auf der Verabsolutierung der Erinnerung an Leiden und Niederlage, sei sie provisorisch (das christliche Martyrium), sondern auf der Erwartung der Wiederauferstehung, also der Hoffnung auf ein anderes Leben, nie erfüllt, da immer vor uns liegend.

Wer „Afriques indociles“ (1988) aufmerksam gelesen hat, weiß, dass dies ein Schlüsselmoment dieser Suche war. Um dieses Buch zu schreiben, musste ich mich der Geschichte der Monotheismen in aller Genauigkeit widmen.

Ich musste begreifen, inwiefern der Monotheismus sich in unserem Kontext in Afrika nicht gegen den Polytheismus definiert wie einst in Griechenland, sondern gegen das, was man Animismus nennt.

In der weiteren Arbeit daran habe ich mich lange mit den vorkolonialen afrikanischen Denksystemen beschäftigt, um zu erfassen, wie der Kosmos und das gesamte Universum bei uns integraler Bestandteil der Lebenskräfte waren.

Was ich sage und schreibe, versteht man so gut wie gar nicht, wenn man nicht weiß, dass es alles seinen Ursprung in den afrikanischen Metaphysiken des Lebendigen hat, in den afrikanischen Begriffen der Lebensenergie, der Zirkulation der Welten und der Metamorphose des Geistigen. Ein sehr großer Teil meines Denkens wurzelt in diesen Systemen, in denen das Prinzip der Vielfalt an die Stelle des Einen tritt.

Wider die Identitätspolitik

Die Arbeit über das Gedächtnis der Besiegten und die Erinnerungspolitik führte zu „La naissance du maquis dans le Sud-Cameroun“ (1996), die Kritik staatlicher Tyrannei zu „De la postcolonie“ (Paris, Karthala, 2000). Dieses Werk macht aus mir, nebenbei gesagt, keinen Denker des Postkolonialismus, wie es viele Kommentatoren in Eile oftmals behaupten.

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2001 ließ ich mich in Südafrika nieder. Ich lebte in diesem Land, lehrte jedoch lange einen Teil des Jahres in den USA. Zugleich habe ich weiterhin tiefe Bindungen zu Frankreich, wohin ich oft reise und wo mein gesamtes Werk publiziert ist.

Zwischen 2001 und 2010 haben mein Leben in Südafrika und der Gang der Welt mich gezwungen, das Thema der Erinnerung zu vertiefen, nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkt von Vergessen und Niederlage, sondern unter dem der an ihrem Verhältnis zu Ethik der Freiheit leidenden Identitäten. So untersuchte ich zwei Fälle genauer: die Erfahrung der Afroamerikaner in den USA und die Geschichte der Rassentrennung in Südafrika.

Quelle        :       TAZ       >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben          —        Achille Mbembe

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2. von Oben      —       Tukufu Zuberi and the Human Equality and Respect Council at the World Economic Forum, 2008. From left: Dennis Frank Thompson, Conor Gearty, Tukufu Zuberi, Amy Gutmann, Achille Mbembe, Pumla Gobodo-Madikizela, Elie Wiesel, Thomas Sugrue, Dru C. Gladney, Homi K. Bhabha

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Unten      —    This is an image of Cultural Fashion or Adornment from

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