Bolsonaro als Zerstörer
Erstellt von Redaktion am Sonntag 14. August 2022
Das Gespenst des Bolsonarismus
Bolsonaro und seine Rocker
von Niklas Franzen
Brasilien steuert auf die vielleicht wichtigste Wahl seiner bisherigen Geschichte zu. Denn wenn am 2. Oktober im größten Land Lateinamerikas die erste Runde der Präsidentschaftswahl stattfindet, geht es um nichts weniger als die Zukunft der brasilianischen Demokratie.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass es zu einem großen Showdown zwischen dem aktuellen Amtsinhaber Jair Bolsonaro und Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva kommen wird. Damit stehen sich nicht nur zwei Personen, sondern auch zwei politische Projekte gegenüber, die über die Zukunft des Landes entscheiden werden: Autoritarismus oder Demokratie. In den Umfragen liegt derzeit der Sozialdemokrat Lula weit vorne. Der Rechtsradikale Bolsonaro hat im Laufe seiner Amtszeit viel Unmut auf sich gezogen, kann sich aber auf den harten Kern seiner Anhänger*innen verlassen. Sollte keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang über 50 Prozent der Stimmen erzielen, kommt es am 30. Oktober zur Stichwahl. Und Bolsonaro hat bereits mehrfach erklärt, die Ergebnisse nur im Falle seines eigenen Sieges anerkennen zu wollen. Viele rechnen deshalb mit Gewalt während der Wahl, einige befürchten sogar einen Putschversuch.
Die große Frage lautet: Sind die demokratischen Institutionen stark genug, um einen institutionellen Bruch aufzuhalten? Fest steht: Nach dreieinhalb Jahren der Präsidentschaft Bolsonaros ist Brasilien ein anderes Land. Der Ultrarechte hat die Zerstörung zu seinem Regierungsprogramm gemacht und das Land an den Rand des Kollapses geführt: traumatisiert durch die Pandemie, als Paria im Ausland, zernagt durch die Wirtschaftskrise. Wie konnte es so weit kommen?
Bolsonaros fulminanter Aufstieg war alles andere als vorgezeichnet.[1] Nur wenige Monate vor der Wahl 2018 hatte ihm kaum jemand Chancen ausgerechnet. Der rechtsradikale Politiker war gar als Freak und Außenseiter belächelt worden. Bolsonaro ging für die Sozialliberale Partei, die PSL, ins Rennen, eine bis dahin weitestgehend unbekannte Kleinstpartei, die keinen einzigen Gouverneur stellte und nur über einen Sitz im Kongress verfügte. Doch Bolsonaro brauchte eine Partei, die für seine Inszenierung nicht zu stark mit Korruption in Verbindung gebracht werden konnte. Für ihn war es eine Zweckehe, mehr nicht. Ein Problem für Bolsonaro: Da in Brasilien seit 2015 Privatspenden an Parteien verboten sind und diese ihre Wahlkämpfe fast ausschließlich über öffentliche Mittel finanzieren müssen, die ihnen nach Fraktionsstärke im Parlament zustehen, stand der Minipartei PSL nur ein Bruchteil der Gelder anderer Parteien zur Verfügung. Nichts sprach für Bolsonaro. Doch entgegen allen Erwartungen stieg er schier unaufhaltsam in den Umfragen auf und gewann letztlich die Wahl mit großem Vorsprung.
Dieser Aufstieg lässt sich vor allem mit den turbulenten Jahren vor 2018 erklären. Die Wirtschaft des einst gefeierten Global Players kriselte, und nach der Aufdeckung gigantischer Korruptionsskandale schlug der gesamten politischen Klasse jede Menge Wut und Ablehnung entgegen. Diese „antipolitische“ Stimmung sollte die Wahl entscheiden. Was zuvor als Bolsonaros Nachteil betrachtet worden war, war jetzt seine Stärke. Obwohl er Mitglied verschiedener Parteien gewesen war und für fast drei Jahrzehnte im Kongress gesessen hatte, hatte Bolsonaro nie ein Amt innegehabt. Doch vor allem liefen keine Korruptionsermittlungen gegen ihn. Das reichte Bolsonaro, um sich als Saubermann inszenieren zu können, als jemand außerhalb des korrupten Kreises der Eliten. Zusätzlich gelang es ihm mit einem geschickten Wahlkampf in den sozialen Medien, den Hass auf die Arbeiterpartei PT zu kanalisieren. Zugute kam ihm dabei auch, dass sein größter Widersacher, Ex-Präsident Lula, der in allen Umfragen vorne gelegen hatte, durch eine juristisch extrem fragwürdige Verurteilung von der Wahl ausgeschlossen worden war. 2019 konnten der US-amerikanische Journalist Glenn Greenwald und sein Team des Onlinemediums „The Intercept Brasil“ beweisen, dass tatsächlich ein Justizkomplott gegen Lula stattgefunden hatte.[2] Der ehemalige Star-Richter Sergio Moro und die Staatsanwaltschaft hatten zusammengearbeitet, um Lula hinter Gitter zu bringen und seine Wahl zu verhindern. Moro hatte politische Ambitionen zwar immer abgestritten und stets seine Unabhängigkeit betont. Doch nur wenige Tage nach Bolsonaros Wahlsieg ließ er sich vom Präsidenten zum Justizminister ernennen.
Auch die schwere Sicherheitskrise spielte Bolsonaro bei der vergangenen Wahl in die Hände. 2017, ein Jahr vor der Wahl, wurden in Brasilien mehr als 63 000 Menschen ermordet, so viele wie nirgendwo sonst auf der Welt. Der Law-and-order-Politiker Bolsonaro wusste die Verängstigung vieler Brasilianer*innen geschickt auszunutzen. Er forderte, alle „Banditen abzuknallen“, stellte sich demonstrativ hinter tötende Polizist*innen und erklärte vollmundig, die Bevölkerung bewaffnen zu wollen.
Im Wahlkampf umgarnte Bolsonaro zudem die evangelikalen Kirchen. Sein Wahlkampfmotto lautete: „Brasilien über alles. Gott über allen.“ Er ließ sich medienwirksam im Jordan taufen, gab dem evangelikalen Sender „Record“ Exklusivinterviews und wurde von Star-Pastor Silas Malafaia mit seiner dritten Ehefrau vermählt. Ebenso kamen bei den Freikirchen seine homo- und transfeindlichen Ausfälle, die Hetze gegen eine vermeintliche Genderideologie sowie die Ankündigung an, die strengen Abtreibungsgesetze noch weiter verschärfen zu wollen. Die Konsequenz: Erstmals unterstützten alle großen Freikirchen einen Kandidaten, nämlich Bolsonaro. Die Kirchen sind mittlerweile ein wichtiger gesellschaftlicher und politischer Faktor in Brasilien.[3] Immer mehr Menschen wenden sich den ultrakonservativen Pfingstkirchen zu. Gerade in den vom Staat vernachlässigten Armenvierteln haben sie großen Zulauf. Während sich 1990 noch mehr als 80 Prozent der Bevölkerung als katholisch bezeichneten, waren es 2020 nur noch rund 50 Prozent. 32 Prozent der Bevölkerung verstehen sich mittlerweile als evangelikal – Tendenz steigend. Laut Berechnungen könnten die bibeltreuen Christ*innen schon bald die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung stellen.
Neben den Evangelikalen suchte 2018 auch die Wirtschaftselite den Schulterschluss mit dem Rechtsradikalen. Die Agrarlobby stand treu auf Bolsonaros Seite, auch weil dieser erklärte, als Präsident „keinen weiteren Zentimeter“ für indigene Territorien ausweisen zu lassen, gegen Umweltschützer*innen hetzte und die Ausbeutung Amazoniens zu einem seiner wichtigsten Versprechen machte. Auch die Finanzelite suchte die Nähe zum Rechtsradikalen. Das hing vor allem damit zusammen, dass Bolsonaro Paulo Guedes in sein Team holte, den er später zum Wirtschaftsminister ernannte. Der ehemalige Investmentbanker ist ein Ultraliberaler, wie er im Buche steht: Studium bei Milton Friedman an der berüchtigten Chicago School, Karriere bei der rechten Militärjunta in Chile, Gründung neoliberaler Thinktanks in Brasilien. Als Bolsonaro gewählt wurde, knallten die Sektkorken in den Büros der Faria Lima, der symbolträchtigen Finanzstraße von São Paulo. Auch die meisten deutschen Firmen in Brasilien bejubelten den Sieg des Rechtsradikalen, die Deutsche Bank sprach vom „Wunschkandidaten der Märkte“.[4] Es war eine historische Koalition ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Kräfte, die 2018 dafür sorgte, dass Bolsonaro tatsächlich mit großem Vorsprung die Wahl gewann.
Eine Spur der Zerstörung
Bereits bei der Amtsübergabe am Neujahrstag 2019 ließ Bolsonaro keinen Zweifel daran, wohin die Reise mit ihm gehen würde. In einer flammenden Rede auf dem Praça dos Três Poderes, dem Platz der Drei Gewalten, in der Hauptstadt Brasília wetterte er gegen „Sozialismus, politische Korrektheit und die Umkehrung der Werte“. Und in der Tat begann der rechtsradikale Präsident ab Tag eins, sein rechtsautoritäres Projekt umzusetzen. Allerdings kann Bolsonaro dabei nicht durchregieren. Im Parlament erreicht er kaum Mehrheiten, er regiert per Dekret, und viele seiner Gesetzesprojekte sind gescheitert. Einige vertreten deshalb die Auffassung, Bolsonaro habe auf ganzer Linie versagt, er sei eigentlich ein schwacher Präsident, nichts mehr als ein zahnloser Tiger. Es stimmt zwar, dass ihm gerade der Oberste Gerichtshof immer wieder Grenzen aufzeigt. Doch in vielen Punkten war Bolsonaros rechte Revolte extrem erfolgreich – gerade in der Umweltpolitik.
Für Bolsonaro ist der Amazonas-Regenwald vor allem eines: eine Ressource, die es auszubeuten gilt. Soja-Barone und Rinder-Könige nehmen in Brasilien politisch seit jeher starken Einfluss. Eine dem Agrobusiness nahestehende Interessenvertretung im Kongress wird auf fast die Hälfte aller Abgeordneten geschätzt. Bolsonaro kann sich auf ihre Unterstützung verlassen, der Verein weißer Großgrundbesitzer*innen gehörte gar zu den Hauptunterstützer*innen seines Wahlkampfes.[5]
Für die Durchsetzung von deren Interessen scheint Bolsonaro jedes Mittel recht zu sein. Die Regierung und ihre Verbündeten setzen beispielsweise alles daran, indigene Schutzräume zu verkleinern und somit letztlich auch Stück für Stück deren in der Verfassung garantierten Rechte aufzuweichen. Allerdings blockieren der Kongress und der Oberste Gerichtshof regelmäßig die Gesetzesprojekte der Regierung – auch, weil Zweifel an der langfristigen Wirtschaftlichkeit bestehen. Im April d.J. kippte der Oberste Gerichtshof etwa ein Dekret des Präsidenten, das zum Ziel hatte, Organisationen der Zivilgesellschaft aus dem Nationalen Umweltfonds (FNMA) auszuschließen. Daher schöpft Bolsonaro andere Mittel aus, um sein Kahlschlagprojekt voranzutreiben. So hat die Regierung Umweltbehörden wie die Ibama oder die Indigenen-Behörde Funai entmachtet. Sie kürzte ihnen die sowieso schon spärlichen Mittel, setzte linientreue Funktionär*innen in Führungspositionen ein und feuerte Mitarbeiter*innen mit technischer oder umweltpolitischer Expertise. Einige wenige Beamt*innen setzen zwar weiterhin die Gesetze durch, auch gegen die Interessen der Regierung. Doch in vielen geschützten Gebieten sind die Behörden nun völlig unterbesetzt. Die Konsequenz: Es gibt immer weniger Kontrollen und immer weniger Bußgelder. Holzfäller*innen, Goldgräber*innen und Landräuber*innen verstehen das als Freifahrtschein für ihre illegalen Aktivitäten.[6] Nach Bolsonaros Amtsantritt ist die Abholzung des Regenwaldes daher sprunghaft angestiegen. Deutlichster Ausdruck der Zerstörung sind die Waldbrände, die jedes Jahr in der Trockenphase wüten. All das wird die Region nachhaltig verändern und sich nur schwer zurückdrehen lassen. Auch erbitterte Landkonflikte sind eine direkte Folge dieser Politik: An allen Ecken und Enden des Regenwaldes eskaliert die Gewalt. All diejenigen, die sich dem Raubbau entgegenstellen, leben gefährlich. Jüngster Höhepunkt dieser Gewalt war der Mord an dem britischen Journalisten Dom Phillips und dem Indigenenexperten Bruno Pereira im Juni dieses Jahres, die für ein Buchprojekt in der Region recherchiert hatten.[7]
Und noch an einem zweiten Punkt war Bolsonaros rechte Revolte durchaus erfolgreich: den Waffengesetzen. Unmittelbar nach Amtsantritt brachte er mehrere Dekrete auf den Weg, um die strengen Waffengesetze zu liberalisieren. Zwar machte ihm der Oberste Gerichtshof bei vielen Initiativen einen Strich durch die Rechnung, aber Bolsonaro konnte durchaus einige Erfolge feiern. Per Dekret ordnete er beispielsweise an, dass einfache Bürger*innen bis zu sechs Waffen erwerben können, Jäger*innen und Sportschütz*innen können sogar bis zu 60 Waffen horten. Die wenig überraschende Konsequenz: In Brasilien sind immer mehr Waffen im Umlauf. Laut Bolsonaro sei der bewaffnete Bürger „die erste Verteidigungslinie eines Landes“. Die Idee ist simpel: Gewalt mit mehr Gewalt bekämpfen. Ein Irrglauben, sagen fast alle Expert*innen.[8] Studien zeigen, dass lockerere Waffengesetze genau zum Gegenteil führen: zu mehr Morden, mehr Unfällen, mehr Suiziden. Wer unter Bolsonaros Aufrüstungspolitik besonders leiden wird, ist die arme, schwarze Bevölkerung in den Favelas. Was vielen zudem Sorgen bereitet: Bolsonaro könne versuchen, seine radikalisierte Basis hochzurüsten.
Der ultrakonservative Umbau des brasilianischen Staates
Schließlich hat mit dem Amtsantritt Bolsonaros, drittens, ein regelrechter Umbau des Staates nach ultrakonservativen Vorstellungen begonnen. Fundamentalistische religiöse Gruppen haben gezielt die Regierung infiltriert. Unter Bolsonaro wurden ganze Referate ausgewechselt und Expert*innen durch religiöse Hardliner ersetzt. Die Evangelikalen und auch einige ultrakonservative Katholik*innen versuchen zudem, alle Ausschüsse zu besetzen, in denen Themen behandelt werden, die für sie von Interesse sind: Abtreibung, LGBTIQ-Rechte, Drogen. Ebenso versuchen sie Einfluss bei der Vergabe von Radio- und Fernsehlizenzen zu nehmen, die alle fünf Jahre neu zugeteilt werden, damit sie nicht zu Ungunsten ihrer eigenen Netzwerke und Sender verändert werden. Doch auch in der vordersten Riege der Regierung befinden sich Evangelikale. Vor allem eine Personalie hat es in sich: Bolsonaros Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Damares Alves. Vor ihrer Nominierung predigte die evangelikale Pastorin in vollbesetzten Megakirchen und tourte als Abtreibungsgegnerin durchs Land. In der ersten Rede nach ihrer Nominierung erklärte sie, nun sei der Moment gekommen, in dem die Kirche regiere und Jungen wieder blau und Mädchen wieder rosa trügen.[9] Als Ministerin fungiert sie als Bindeglied zwischen der Regierung und den evangelikalen Gemeinden und treibt den ultrakonservativen Umbau Brasiliens voran.
In der ganzen Welt versuchen christliche Fundamentalist*innen die Politik mitzugestalten. Anti-Abtreibung-Lobbys agieren transnational, in vielen Ländern sind Bibeltreue bis auf die Regierungsebene vorgedrungen.[10] Der Schulterschluss zwischen Rechtsradikalen und Christ*innen ist fast überall gelungen. Doch in kaum einem anderen Land war diese unheilige Allianz so erfolgreich wie in Brasilien – und unter Bolsonaro verschwimmt die Trennlinie zwischen Politik und Kirche immer mehr.
Quelle : Blätter-online >>>>> weiterlesen
*********************************************************
Grafikquellen :
Oben — (Orlando – EUA, 11.06.2022) Presidente da República, Jair Bolsonaro durante visita à cidade de Orlando. Foto: Alan Santos/PR
Palácio do Planalto aus Brasilia, Brasilien – 11.06.2022 Encontro com a comunidade brasileira em Orlando
- CC VON 2.0
- Datei:11 06 2022 Encontro com a comunidade brasileira em Orlando (52139199729).jpg
- Erstellt: 11. Juni 2022
****************************
Unten — Brigadistas do Prevfogo/Ibama participam de operação conjunta para combater incêndios na Amazônia Foto: Vinícius Mendonça/Ibama
Ibama from Brasil – Operação Verde Brasil, Amazonas
- CC BY-SA 2.0
- File:Operação Verde Brasil, Amazonas (48682852956).jpg
- Erstellt: 30. August 2019
Erstellt am Sonntag 14. August 2022 um 12:24 und abgelegt unter Amerika, Positionen, Regierung, Umwelt. Kommentare zu diesen Eintrag im RSS 2.0 Feed. Sie können zum Ende springen und ein Kommentar hinterlassen. Pingen ist im Augenblick nicht erlaubt.