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Bizarres aus Bayreuth

Erstellt von Gast-Autor am Dienstag 2. September 2014

Wenn das der Wagner wüsste

Datei:Festspielhaus - Panorama.jpg

Autor: Reyes Carrillo

Rationalgalerie

Datum: 01. September 2014

„Horch Draudl, kummd die Mergl odda der Goddschalch des Johr a widder?“
(„Hör mal, Waltraud, kommen die Merkel oder der Gottschalk dieses Jahr auch wieder?“)

Unsere die Waltraud fragende Freundin ist selbstverständlich frei erfunden. Es gibt keine(n) BayreutherIn, die nicht über die jeweilige detaillierte Liste derer im Kopf verfügte, deren traditionelle Premierenauffahrt zum Heiligen Gral des Festspiel-Theaters viele Hunderte von süchtigen Mit-Atmern prominenten Odems an die Straßenränder des Festtspielparks löckte. Wenige darunter, Störer ist zuviel gesagt, kämpfen aber mit antizipiertem, zuverlässigem Würgereiz in Anbetracht der eigentlich immergleichen unappetitlichen Bagage aus Politik, Wirtschaft, Kunst, Show usw., die da Frack- und Abendkleid lüpfend aus gewienerten Limousinen fällt und dreist umherlächelt. Gut, auch diese Gegen-An-Atmer sind selbstverständlich auf ihre Weise süchtig. Letztere findet man dann später schimpflallend beim dreizehnten „Zwick’l“-Bier (die Bierdeggelstrichla geben Auskunft) im „Herzogkeller“ wieder. Viele Mit-Atmer hingegen schleichen nach Vorstellungsende zum Künstlerlokal „Eule“, um dort vielleicht noch den beleidigten D-Prominenten zu treffen, der nicht auf den traditionellen „Staatsempfang der bayerischen Landesregierung“ im Neuen Schloss eingeladen ist. Und Costa, der in diesem Fall wirklich so heißt, wirklich vor langen Jahren aus Griechenland kam und wirklich Taxifahrer ist, sammelt dann in dieser langen Nacht zum Premieren-Kehraus ein paar Mit- und Gegen-An-Atmer, vereint und versöhnt nun im gemeinsamen Ausgeatmet-Haben, ein und freut sich jedes Jahr aufs Neue, ein kleines Rädchen dieser magischen Wochen Wagnerschen Hochamts sein zu dürfen. In dieser Zeit trägt er Anzug und Krawatte.

Aber wo sind die Nazis, wo der braune Sumpf, wo diejenigen, die den langjährigen intimen Freund Bayreuths, den Führer, vermissen? Wo diese typische „Bayreuther Brühe“ aus den einen Parsifal in die Gehörgänge implantiert habenden und über Schwabs „Deutsche Heldensagen“ masturbierenden Großdeutschland-Träumern? Zur mehr oder weniger großen Enttäuschung eines jeden aufrechten Antifaschisten wird es dummerweise tatsächlich schwer, unter solcherart Begriffsbildern in Bayreuth fündig zu werden. Was freilich mitnichten meint, all dies gäbe es nicht – auch. Die Realität des fast imperialen Wagner-Anteils Bayreuths ist aber längst eine andere, eine entspannte, glaubhaft entspannte. Von den traditionellen, aufgemotzten, mal interessanten, meist langweiligen Fehden innerhalb des Wagner-Clans natürlich einmal abgesehen. Wäre dies anders (auch schon länger), dann hätten sich kaum Regisseure und Dirigenten wie Patrice Chéreau, Pierre Boulet, Christoph Schlingensief, Frank Castorf, Werner Herzog, Heiner Müller, Jürgen Flimm, Daniel Barenboim usw. nach Bayreuth verpflichten lassen. Deren oft heftige Leiden unter dem bizarren und verkrusteten Paten-Onkel Wolfgang Wagner waren vor allem dem Kampf um ihre eigene künstlerische Freiheit geschuldet. Bemerkenswert ist unter anderem auch die gemeinsame Zeitachse völlig divergierender „Aggregatzustände“ in Bayreuth Mitte der 1970er Jahre: Da ist auf der einen Seite die in die Annalen der Bayreuther Festspiele eingegangene „linke“ Ring-„Skandal-Inszenierung“ von Patrice Chéreau, 1976. Und auf der anderen Seite das ebenso große Aufmerksamkeit erregende filmische 5-Stunden-Mammut-Interview von Hans-Jürgen Syberberg von 1975 mit Winifried Wagner (der Busen-Freundin Hitlers), in der diese noch einmal eindringlich die Unbelehrbare gibt (Hans-Jürgen Syberberg: „Winifried Wagner und die Geschichte des Hauses Wahnfried“). O-Ton Winifried: „Wenn der Hitler heute hier zur Tür reinkäme, ich wäre genauso fröhlich und so glücklich, ihn hier zu sehen und zu haben, als wie immer.“
Chéreaus Inszenierung unter der musikalischen Leitung des Dirigenten und Komponisten Pierre Boulez wird von Linken überdies als sozusagen erste (und letzte) „materialistische“ Inszenierung auf dem Grünen Hügel gefeiert. Nach der Wut des Publikums und der Kritik bis hin zu wüsten Schlägereien 1976 setzte Wolfgang Wagner den Provokations-Ring in einem mutigen Jetzt-erst-Recht vier Jahre hintereinander auf den Bayreuther Speiseplan. 1980 schließlich verabschiedete sich diese Inszenierung mit legendären neunzig Minuten Applaus und 101 Vorhängen. Wolfgang Wagner stand in einer seltenen wiewohl segensreichen Gespaltenheit nicht nur für einen drögen inszenatorischen Traditionalismus, sondern auch für seine innovatorische Aufgeschlossenheit, polarisierende Gastarbeiter wie Chéreau, Boulez, Götz Friedrich oder Harry Kupfer nach Bayreuth zu locken.

Mit Winifried an der Spitze und in gewisser Hinsicht auch mit Wolfgang verließen dann aber schließlich vor allem der letzte braune Stuhl und ein insgesamt zäher Konservatismus endgültig die Mauern des Festspielhauses und der von Haus Wahnfried.
Die heutigen Bayreuther Wagner-Spiele also unter den Generalverdacht zu stellen, ihre braune Vergangenheit müsse quasi mit der Lindwurm-Kraft eines Siegfrieds dauerhaft an ihr kleben bleiben, verkennt die Realitäten oder will sie bewusst verkennen. Eine klare und deutliche Vergangenheitsbewältigung des gesamten Clans, die auch strengeren Maßstäben genügen würde, gab es indes in der Tat nicht. Der sich freilich anbietende Umkehrschluss führt jedoch auf eine längst von braunen Duftmarken befreite und damit sinnlose Fährte.

Etwas anderes ist es, den Komponisten selbst, sein Wesen, sein Denken, seine Musik nicht zu mögen. Das bleibt natürlich jedem selbst überlassen, obschon sich – außer der Geschmacksfrage – um alle diese Fragen einige Mythen ranken, die dem Mann nicht gerecht werden. Richard Wagner, der wohl der in allen Einzelteilen sezierteste Komponist und Mensch der Musikgeschichte ist, war, was von niemandem ernsthaft bezweifelt wird, ein musikalisches Genie und hat vor allem mit seiner speziellen Harmonik die kompositorische Weiterentwicklung zu jener Zeit stark beeinflusst. Gesichert zudem ist, dass er – zwischenmenschlich – ein egoistisches Arschloch und eitler Sack gewesen sein muss, das und der alles und jeden nach seinem Nutzen für sich selbst beurteilte. Richard Wagner war darüber hinaus aber ein sehr politischer Genosse seiner sowieso sehr politischen Zeit. Doch wenn einer wie Springer-Chef Mathias Döpfner noch im Juli vergangenen Jahres im Stern-Interview Wagner als „einen rassistischen Reaktionär“ bezeichnet, dann klingt das zwar überraschend wohlfeil, sollte aber angesichts der Personalie, die dieses behauptet, ein gesundes Misstrauen generieren. Bis in linke (Fach-)Kreise hinein ist Richard Wagner längst vom eindimensionalen Vorwurf des Rassisten und Judenhassers befreit. Wagner wird hier – biografisch nachvollziehbar – als „Romantischer Linker“ gesehen, als Frühsozialist, der die vernichtenden Kräfte des aufkommenden Kapitalismus erkannte und fürchtete. In seinem Selbstbild begriff er sich sowieso als Revolutionär – musikalisch und politisch. Zu Wagners Pariser Zeit um 1830 war es unter den Frühsozialisten übrigens üblich, Kapitalisten und Juden als Synonym zu verwenden. Obwohl dies der damaligen Wirklichkeit freilich nicht standhielt, sondern sich aus den zu jener Zeit entstehenden Großbanken in jüdischem Besitz herleitete. So stellt Wagners gefürchtetes Elaborat „Das Judentum“ (in der Musik) die Juden gleichsam als Synonym für die Kommerzialisierung von jeglicher Kunst und Kultur dar. Wagners Hingezogensein zu den großen, schwülen Heldensagen des deutschen Mittelalters ist Teil seines Konzepts: Einer (natürlich von ihm) zu erschaffenden „deutschen Kunst“, eines komplexen „Gesamtkunstwerks“, das einst frei von jeglicher kommerziellen Ausbeutung die von ihm so erkannte revolutionäre Botschaft dieser Sagen verbreiten möge. Wagner visionierte eine Art von „Kunst-Religion“, die die Fähigkeit habe, gesellschaftliche Einheit (heute würde man wohl sagen: gesellschaftliche Solidarität) zu erzeugen und damit der Wucherung kapitalistischer Einzelinteressen vorzubeugen. Im Übrigen distanzierte er sich durchgängig von der nationalistischen und rassistischen Rechten seiner Zeit.
Auch der Vorwurf, Wagner habe erst den Nationalsozialismus möglich gemacht, ist freilich genauso absurd wie seine umgekehrte Variante, Marx als Vorhut des Stalinismus zu betrachten. Verbriefte antijüdische Äußerungen Wagners sind zudem im Kontext seiner Zeit zu verstehen, in der dieses Juden-Bashing zum gängigen Repertoire des Bildungsbürgertums hüben und drüben des Rheins gehörte. Das mag nicht jede/r gerne hören (die Autorin früher inbegriffen!), aber die Fairness verlangt (leider?) solcherart entlastende Kontextuierung wahrzunehmen. Und last not least hatte sich Hitler in seinem Judenhass nie auf Richard Wagner bezogen. Auch dies ein hartnäckiger Mythos.

Nein, das was Bayreuth mit seinen jeden Juli wie Heuschrecken einfallenden Wagnerianern gestern, heute und morgen so bizarr und skurril macht, ist die meist freakige Klientel selbst und die satirische Metamorphose eines temporär zu internationaler Bedeutung aufwachenden, biederen Provinzstädtchens mit Gartenzwergidylle. Es ist diese Mischung aus deutschtümelndem, internationalem (!) Bildungs- und Großbürgertum, intellektuellen Musik-Profilneurotikern, natürlich auch der Spezies mit eingebautem Wichtigkeits-Gen, dem armen, besessenen Schlucker aus Amazonien, der sein Leben für die Teilnahme an einer Generalprobe hingibt und natürlich das bunte Grüppchen, das sich Wagners Pathos einfach mal als Zwischendurch-Dröhnung geben muss.

Ach ja: Frau Merkel war zur Premiere nicht da (aber später), auch nicht Herr Gottschalk, dafür aber Johannes B. Kerner.

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Grafikquelle     :

Quelle Eigenes Werk
Urheber Guido Radig

Panorama (mit Hughin Software aus 4 Bildern zusammengesetzt)

Lizenz

Ich, der Urheber dieses Werkes, veröffentliche es unter der folgenden Lizenz:
w:de:Creative Commons
Namensnennung Weitergabe unter gleichen Bedingungen
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