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RENTENANGST

Begriff-Nackentransparenz

Erstellt von Redaktion am Sonntag 22. Oktober 2017

Plötzlich ist da diese Falte im Nacken

Unsere Autorin ist schwanger. Aber Tests zeigen, dass ihr Kind wohl eine Behinderung haben wird. Nur: Ganz sicher kann ihr das keiner sagen. Nach langem Ringen entschei-det sie sich, das Kind abzutreiben und obduzieren zu lassen.

Von Laura Ewert

Alles, was ich von meinem Kind noch habe, ist ein Stapel Papier. Zettel mit Telefonnummern, mit Ärztenamen draufgekritzelt, Befunde, Einwilligungen, Broschüren und ein Blatt, auf dem ich „Sammelbestattung“ angekreuzt und meine Kontaktdaten in Druckbuchstaben eingetragen habe. Die Papiere habe ich unterschrieben. Die Mutter gebiert, die Mutter beendet. Auch ein Umschlag ist dabei, braun und fest zugeklebt mit Fotoaufnahmen von 40 Gramm und 14 Zentimetern Leben, abgetrieben, mit einer Tablette, geschluckt mit Medium-Mineralwasser und hochgezogenem Rotz.

Dabei war das alles anders geplant. Ein normaler Kontrolltermin, 11. Woche und ein paar Tage. Wieder einmal sehen, das lebt, was man kaum begreift. Die Ärztin ist eine Urlaubsvertretung und schaut in den Computer. Vor ein paar Wochen hatte ich das Herz schon schlagen gehört. Kaltes Gel, Papierunterlage, nasse Augen. Auch diesmal strecken sich wieder zuckend Arme und Beine in mir aus. Aber plötzlich ist da dieses Wort: „Da sehe ich eine recht große Nackentransparenz.“ An irgendwas erinnert das Wort mich. „Haben Sie schon mal über Pränataldiagnostik nachgedacht? Wie alt sind Sie?“ – „35.“

Beim ersten Kind war ich 30 und wir hatten uns gegen Pränataldiagnostik entschieden. Weil wir nichts entscheiden wollten, was wir nicht hätten entscheiden können. Weil wir nicht drüber nachdenken wollten.

Die Ärztin erklärt, dass sie nicht genügend Erfahrung habe, dass es nichts bedeuten müsse, dass ich überlegen sollte, das abzuklären. Sie misst nach, ohne vorher zu fragen: 5,5 Millimeter. Sie gibt mir das Foto, ohne es in den Mutterpass einzuheften, dazu einen Zettel mit Ärztenamen und Nummer. „Muss nichts bedeuten. Lassen Sie das abklären“, sagt auch die Sprechstundenhilfe und guckt verunsichert.

Der Wind draußen war stark, Äste liegen auf dem Boden. Mein Sohn singt hinten auf dem Fahrradsitz: „Hörst du die Regenwürmer husten?“ Ich schiebe und google „Nackenfalte“. Es fühlt sich unheilbar an. Hatte ich nicht sowieso Zweifel gehabt? Ein zweites Kind will man doch nur, weil man sonst nichts mit seinem Leben anzufangen weiß. Die Stimmungsschwankungen der letzten Wochen können doch nur einen Grund gehabt haben.

„Es stimmt was nicht“

Ich rufe die Ärztenummer an, spreche auf die Mailbox. Nach fünf weiteren Telefonaten – 5,5 Millimeter, ich weiß auch nicht genau, was los ist – habe ich einen Termin in zwei Wochen. Das beruhigt mich. Es gibt Bolognese zum Mittag. Bis das Krankenhaus zurückruft und sagt, dass der Chefarzt mich gleich sehen möchte. Mit diesen Werten. Ich rufe meinen Mann an. Ich versuche, Luft zu kriegen: „Es stimmt was nicht.“ „Ich komme sofort.“ „Musst du nicht.“

Erst mit dem Internet verstehe ich langsam, was gerade zu schnell passiert. „Nackentransparenz ist eine subkutane Flüssigkeitsansammlung im Nackenbereich und tritt zwischen der 11. und 14. Schwangerschaftswoche auf. Die Flüssigkeit kann noch nicht abgeleitet werden und es kommt zu einer Lymphansammlung.“ Irgendwas bei 2 oder 3 Millimetern ist nicht so viel. Über 5 schon. „Bei einer auffallenden Vergrößerung der Nackentransparenz gilt die Wahrscheinlichkeit verschiedener Fehlbildungen als erhöht.“

Ich fahre ins Krankenhaus. Der Chefarzt riecht nach diesem Parfüm, das man gerade auf allen Vernissagen riechen kann. Der Sohn will nicht draußen warten, er freut sich über das Mini-Baby auf dem riesigen Ultraschallbild, das auf die Wand projiziert wird. „Wie lustig“, sagt er, spielt mit dem Gel und der Arzt sagt: hohe Nackentransparenz. Sagt: vielleicht schwerer Herzfehler, vielleicht Trisomie 21. Sagt: eher ungünstige Prognose. Überlebensfähig? Vielleicht nicht. Und jetzt? Er sagt: Wieder Ultraschall nächste Woche, Fruchtwasseruntersuchung. Im Netz steht: „Eine große Nackenfalte bedeutet nicht zwangsweise, dass Ihr Baby behindert sein wird.“

Wenn man schwanger ist, erzählen einem die Ärzte, man solle nicht darüber reden. Damit man nicht darüber reden muss, wenn das Kind stirbt. Eins von fünf Kindern stirbt in den ersten Wochen, kann man im Netz lesen. Von allein. Und man soll auch nicht darüber reden müssen, wenn man sie sterben lässt. Ich will das nicht. Darüber nicht reden. Weil es falsch ist. Ich muss darüber schreiben, damit man drüber spricht. Natürlich, sagt mein Mann. Wie geht es den anderen? In den Foren lese ich vor allem von Kindern, die trotz schlechter Prognose gesund zur Welt kamen. Ausnahmen, sagt der Arzt.

Am Abend flüstert mein Sohn seinem Vater ein Geheimnis ins Ohr: „Mama hat ein Baby im Bauch.“ Er gibt ihm einen Namen. Verabredet sich mit ihm zum Fußball. „Weißt du, vielleicht ist das Baby nicht gesund.“ Ja, Mama. Mein Mann erzählt von den Jahren, in denen er in einer Gemeinschaft mit Gehandicapten lebte. Es gibt viel zu viele Menschen auf der Welt, warum müssen wir ein krankes Kind bekommen? Vielleicht hat es ja nur vier Zehen, ich kannte mal jemanden mit vier Zehen, dem ging es gut. Ein Kind mit einem halben Arm weniger. Das wäre schön. Oder aber unser Kind bedeutet: Pflege, 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Nicht die nächsten drei, sondern vierzig Jahre.

Es darf nicht um die Bewertung gehen, ob das Leben des Kinds lebenswert ist. Schon rechtlich nicht, sagt der Arzt. Ich kann das nicht beurteilen. Ich habe Angst davor, das Kind zu verlieren, später, wenn das Leben realer ist. Deswegen denke ich darüber nach, die Schwangerschaft abzubrechen.

„Wir wollen Leben retten“, sagt Professor Wolfgang Henrich, als ich ihn Wochen nach der Abtreibung interviewe, weil ich Antworten suche, aber kaum klare Fragen habe. Er ist der Leiter der Geburtsmedizin der Charité und gerät in eine Verteidigungshaltung, die mich verunsichert. Er sagt, dass etwa ein Prozent der Neugeborenen einen Herzfehler habe, bei dem es helfe, ihn früh zu entdecken und bei der Geburt darauf reagieren zu können. Und es gehe darum, Frauen eine Selbstbestimmung zu ermöglichen. „Keine Frau macht das leichtfertig.“ Ich nicke.

„Egal, was wir machen, das wird jetzt alles scheiße werden“, sagt mein Mann irgendwann in diesen Sommerwochen, in denen kein Sommer ist. „Satz mit x, war wohl nix.“ Seine Einschätzung ist auf absurde Weise beruhigend. Und vielleicht auch die größte Erkenntnis aus dem Besuch bei der Beratungsstelle. Da schicken sie einen hin. Sie sprechen dann leise: Gehen Sie dahin, die helfen Ihnen.

Auch die Frau in der Beratungsstelle spricht leise. Und langsam. Ich bin ungeduldig, weil sie all das erzählt, was ich schon im Internet gelesen habe. Dass nach einem auffälligen Erst-Screening die Möglichkeit besteht, eine nicht ganz risikofreie Fruchtwasseruntersuchung zu machen – oder gar nichts zu tun und sich für das Kind zu entscheiden. Dass man die Belastung aber nicht unterschätzen dürfe.

Warten oder entscheiden?

Quelle    :   TAZ     >>>>>     weiterlesen

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Grafikquellen     :

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