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RENTENANGST

Ausbeutung 4.0 :

Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 2. Februar 2021

Die Digitalisierung des Menschen

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Warum sitzen immer noch Kassiererinnen und Kassierer an der Supermarktkasse? Warum laufen immer noch menschliche Roboter durch die Lagerhäuser? Warum füllen kluge Menschen immer noch langweilige Tabellen aus?“

Ich gebe diese drei Fragen in meinen Laptop ein. Auf Englisch. Drücke die Return-Taste. In Sekundenschnelle schreibt der Algorithmus des Textgenerators GPT-2, ein Pilotprojekt der Entwicklung künstlicher Intelligenz, das von Elon Musk und Microsoft gefördert wird, meinen Text automatisch weiter: „Warum bleiben diese Rätsel seit 30 Jahren oder mehr ungelöst? Dieser Beitrag wird dazu beitragen, einige dieser Dinge zu erhellen, aber vielleicht auch einige Fragen aufwerfen. ‚Wohin können Menschen arbeiten gehen?‘ Ich meine, wie viele Arbeitsplätze sind nicht auf Technologie begründet? Wir haben einen Anstieg der Zahl der selbstfahrenden Autos erlebt. Aber ist uns nicht allmählich klar geworden, dass es sich dabei eigentlich eher um Ineffizienzen als um Vorteile handelt? Und sie haben nicht wirklich Beschäftigung geschafft…“

Das ist natürlich ein Spiel, aber ein bisschen unheimlich ist das schon. Als GPT-2 mir diesen Text anbot, da hatte ich wieder einmal das Gefühl, dass ich zwanzig Jahre nicht so richtig gemerkt habe, dass da etwas ein Gang gekommen ist, dessen Konsequenzen ich noch nicht begriffen habe – aber wer hat das schon.

Das Corona-Jahr, immerhin, hat den Nebel über der Zukunft ein wenig gelüftet. Mein Wort des Jahres heißt insofern „Brandbeschleuniger“. Beschleunigt hat das Virus die Erkenntnis über den Zusammenhang der belastenden Entwicklungen der vergangenen Jahre: den Klimawandel, die Weltwirtschaft, die Migration, die Kluft zwischen Arm und Reich, den neuen Nationalismus. Beschleunigt aber hat der Lockdown vor allem die Geschäfte der Lieferdienste aller Art, der Versandhändler, der Video-on-Demand-Anbieter, der Produzenten von Hard- und Software für Telekonferenzen, Firmenbetriebssysteme, Tracking-Apps – all diese Serviceleistungen, die auf den Servern, in den Clouds der ökonomischen Infrastruktur-Großmächte der Epoche laufen: Microsoft, Google, Amazon, Facebook, Apple.

Der Lockdown hat ihnen gigantische Profite beschert und mittelständische Unternehmen in den Konkurs getrieben. Ohne die logistischen Leistungen der Plattformen wäre der Lockdown ungemütlich und anstrengender geworden. Doch das Home-Office, die Kurzarbeit und die angekündigten Entlassungen ließen die Ahnung aufkommen, dies könne nur ein Vorgeschmack sein auf das, was seit ein paar Jahren Industrie 4.0 und Arbeit 4.0 heißt.

Industrie 4.0 – ein revolutionärer Epochenbruch

Industrie 4.0, Arbeit 4.0 – die Schlagworte klingen nach Evolution, nach Fortschritt auf einer früher eingeschlagenen Bahn. Sie klingen harmlos. Aber es spricht alles dafür, dass diese Entwicklung Teil eines Epochenbruchs ist, der ebenso einschneidend sein wird wie die beiden vorigen Veränderungen im Aggregatszustand der Menschheit: der Übergang zur Sesshaftigkeit und die industrielle Revolution. Ein Epochenbruch, der sich mit zwei Großereignissen in die Menschheitsgeschichte einschreiben wird: zum einen die dramatischen Umweltveränderungen – der Klimawandel, das Artensterben, die Erschöpfung von Erde und Wasser. Und zum anderen die neuen, mächtigen Werkzeuge, die uns die Digitalisierung in die Hand gibt.

Bei Anthropologen haben wir, die Mitglieder der Gattung Homo, Unterart Homo sapiens, zwei Namen: zum einen animal laborans, das sich mit Arbeit plagende Tier, zum anderen homo faber, der Mensch, der Werkzeuge machen kann – und der von seinen Werkzeugen geformt wird. Und schon immer hat das animal laborans davon geträumt, dass die Werkzeuge ihm eines Tages die Plage abnehmen: „Wenn die Weberschiffchen von selber webten und das Plektron die Kithara schlüge, bedürften die Baumeister keiner Gehilfen und die Herren keiner Sklaven.“ So steht es bei Aristoteles. Wenn es Automaten gäbe, brauchte man keine Sklaven mehr, und die Hierarchien stünden zur Disposition. Die Technik befreit von harter Arbeit und von Herrschaft, die Maschine ermöglicht allen das Leben von Herren. Ihr Grenzfall ist der Automat – oder richtiger: die weitgehend menschenunbedürftige Produktion. Die Geschichte der Werkzeuge, der Technik ist eine Geschichte zunehmender Befreiung von den Zwängen der Natur, und damit zunehmender Freiheit auch von Herrschaft. Aber es war eine lange Geschichte; und beide, die Fortschritte der Technik und die der Freiheit, brauchten immer wieder Geburtshelfer.

Das Leben ohne die Mühsal der Arbeit: Es blieb 2000 Jahre lang ein Traum der unteren Klassen – und das waren neun Zehntel der Völker. In den Utopien der Renaissance stützten kühne technische Erfindungen zwar die Idee einer Gesellschaft von Gleichen. Aber erst in der Gleichzeitigkeit von Aufklärung und industrieller Revolution begannen sich Fortschritt in der Naturbeherrschung und Fortschritt in der Freiheit zu verbinden.

Industrie 1.0 – das war die Verbindung von Kohle und Maschinen. Industrie 2.0 – das war die Einführung der von Elektromotoren betriebenen Massenfertigung. Industrie 3.0 – das war der Beginn der Datenverarbeitung und Prozesssteuerung durch Computer. Mit jeder Stufe entkoppelte sich die Menschheit mehr von dem, was Jahr für Jahr nachwächst, und diese Kultur – manche nennen sie Kapitalismus – verbreitete sich rund um den Erdball und hat den Wohlstand, wenn auch ungleich, gesteigert. Aber diese Erfolgsgeschichte hat uns nun in eine Klemme geführt, die uns den Grund und Boden – und die Luft – entzieht für das, was Jahr für Jahr nachwächst. Aber gleichzeitig stehen am vorläufigen Ende der Technologiegeschichte die neuen, revolutionären Werkzeuge der Digitalisierung: das Netzwerk aus Computern, Software, Internet, Smartphones und die Industrie 4.0.

Das neue Elend der Arbeit 4.0

Die Einführung von Industrierobotern, die Computerisierung der Büroarbeit, die software-unterstützte Arbeit von Architekten oder Ingenieuren in der Industrie 3.0 konnte man durchaus noch als eine lineare Weiterentwicklung der Mechanisierung begreifen – immer noch geht es um die Befreiung von Routinearbeiten. Erst die Plattformökonomie und das „Internet der Dinge“ signalisieren einen Bruch oder den Übergang in eine neue Epoche.

Noch aber sind Industrie 4.0 und Arbeit 4.0 Schubladenbegriffe. Unterschiedliche Autoren füllen unterschiedliche Inhalte hinein. Wo ist das Revolutionäre an ihr? Das „Weißbuch Arbeiten 4.0“ des Arbeitsministeriums nennt „die Digitalisierung“ die „heimliche Hauptfigur“ der neuen Arbeitswelt. Das ist mehr als eine Metapher und es geht auch um mehr als um die Arbeitswelt, denn diese heimliche Hauptfigur verändert die Verhältnisse in fast allen Bereichen des Lebens, stellt Produktion, Konsum, Verteilung und Genuss auf eine neue Grundlage. Digitalisierung durchwebt die Gesellschaft als Ganze.

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In den Fabriken treibt sie den Prozess der Taylorisierung und Rationalisierung an sein Ende: Algorithmen rechnen aus, ob es nicht minimal günstiger ist, wenn der Montagearbeiter sich nicht umdreht, um die Schrauben aus dem Kasten zu holen, sondern ein gering bezahlter Zureicher sie ihm in die Hand gibt. Künstliche Frauenstimmen geben Lagerarbeiterinnen den nächsten Auftrag, die Software erkennt, wer gerade unterbeschäftigt ist und wo der nächste Kasten abgeholt werden muss. Smarte Handschuhe, Wearables, geben kleine Impulse ab, wenn beim Scannen von Barcodes ein Fehler gemacht wird, Prozesssteuerungssoftware installiert Systeme kollegialer Bewertung, die den Wettbewerb unter den Arbeitern steigern oder sie registriert, mit Hilfe von sensorischen Netzen, ob der Weg zur Toilette oder in die Entwicklungsabteilung in der Sollzeit erledigt wurde. Betriebliche Herrschaft wird so von den Personen des mittleren Managements abgekoppelt und anonymisiert und damit dieses mittlere Management tendenziell auch überflüssig gemacht. Technik befreit die Menschen, aber die Gleichung funktioniert nicht automatisch.

Auf der überbetrieblichen Ebene stellen Plattformunternehmen wie Uber, Lieferando oder Amazon nicht länger Fahrer, Zustellerinnen oder Boten ein, sondern vermitteln sie, als Scheinselbstständige, als Auftragnehmerinnen mit Netzanschluss, bei Uber mit eigenem Auto und auf eigene Rechnung. Aber wenn sie nicht „performen“ oder zu selten Lust haben zu arbeiten, verweigert ihnen die Plattform die Vermittlung. Uber dirigiert die Fahrer in jeder Hinsicht wie Angestellte, zahlt weder Lohn noch Sozialleistungen und kassiert oft mehr als 30 Prozent des Fahrpreises für die Vermittlung – und das Ganze wird verkauft mit dem Slogan: Sei dein eigener Chef, teile deine Arbeit selbst ein.

Digitale Dienstleister spalten komplexe Arbeitsvorgänge in tausende von kleinen Aufträgen auf, die an hunderten von Orten, in Heimarbeit, überall auf der Welt bearbeitet werden können. So werten in Venezuela Familien an den Küchentischen Millionen von Fotos mit Verkehrssituationen aus – und legen damit den Grund für die Entwicklung des sogenannten autonomen Fahrens.

Einen Betrieb, als den Ort, an dem Arbeiter gemeinsam tätig werden, einander begegnen, miteinander reden, gemeinsam etwas fordern, den gibt es bei diesen Arbeitsformen nicht mehr. Das schwächt die Verhandlungsmacht der Eigentumslosen. Die Taktung der Fabrikarbeit durch Roboter, die Gleichzeitigkeit von Vernetzung und Isolierung in den Welten des Home-Office und der Gig-Economy, das neue Elend der Heimarbeit – all das erinnert die Münchner Juraprofessoren Jens Kersten und Richard Giesen an die Charakteristik der frühen Fabrikarbeit in den Analysen von Karl Marx: „Im modernen Fabriksystem ist der Automat selbst das Subjekt, und die Arbeiter sind nur als bewusste Organe seinen bewusstlosen Organen beigeordnet und der zentralen Bewegungskraft untergeordnet… als lebendige Anhängsel.“ Und es lässt sie fragen: „Wer arbeitet hier selbstständig, wer abhängig? Wer instrumentalisiert hier wen? Menschen die Maschinen oder die Maschinen die Menschen? Sind und handeln wir Menschen in dieser digitalisierten Arbeitswelt noch als autonome Akteurinnen und Akteure? Ist diese neue Arbeitswelt noch unsere Welt?“[1]

Eine Marktlücke für wissenschaftliche Gurus

Quelle        :       Blätter          >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben      — Protest against Ancillary copyright in Berlin, organized by Digitale Gesellschaft 2013-03-01

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