Angst vor den Insektentod
Erstellt von Redaktion am Freitag 8. Juni 2018
Auge in Auge mit der Roten Waldameise
Aus Görlitz Ulrike Fokken
114 verschiedene Ameisenarten gibt es in Deutschland – 17.000 in der Welt. Für das Ökosystem sind sie extrem wichtig. Doch wie die Bienen sind viele Arten gefährdet – zu Besuch bei einem Ameisenforscher.
Wer einmal in ein Ameisennest hineinschaut, sieht die Wildnis im Mikrokosmos. Chaotisch scheinen die Ameisen hin und her zu laufen, die eine schleppt einen Kiesel heraus, die andere ein Samenkorn hinein, zwei rasen aufeinander zu, beschnuppern sich, drehen ab. Unsichtbar folgen die Ameisen einem Plan. Mit Duftstoffen weisen sie auf Futter hin – mit Giftstoffen verwirren sie Gegnerinnen im Krieg. Ameisen jagen Mücken, Falter und Fliegen, sammeln Samen und schleppen tote Ameisen zu ihrer letzten Ruhestätte. Ameisen machen Raubzüge, besetzen die Territorien der konkurrierenden Arten und schneiden mit gartenscherenartigen Gebissen die Arme und Antennen der anderen ab.
Und Ameisen können noch viel mehr: Holzameisen züchten Pilze und halten sich Blatt- und Wurzelläuse, weil die Honigtau liefern – für die Holzameise nicht nur Leibspeise, sondern wichtiger Baustoff für ihre Nester. Waldameisen schichten im Winter Myriaden von Kiefernnadeln, Fichtenzweiglein, Holzstückchen zu einem Hügel, der in extremen Kälteregionen die Größe einer Einzimmerwohnung haben kann. Was alle Ameisen-Arten eint: Sie sind supersozial und bilden erst zu Tausenden, Millionen den atmenden, fressenden, sterbenden, gebärenden Organismus, der ihre Art sichert.
Die nächsten Verwandten der Ameisen sind die Bienen, doch anders als die niedlichen Honigbienen haben es Ameisen noch nicht bis in den Bundestag geschafft. Sie haben keine politische Lobby und deswegen werden ihre Leistungen für Gemeinwohl und die große Vielfalt ignoriert. Dabei sind sie wie die Honigbienen systemrelevant. Wälder, Wiesen und sogar Parks und Gärten würden ohne Ameisen anders aussehen. Sie verbreiten Samen von Kräutern und Gräsern und tragen die blühende Vielfalt in die hintersten Winkel. Sie ackern den ganzen Tag rum, säbeln Holz, zerkleinern trockene Blätter und schichten tonnenweise Erdreich im Jahr um. Sie lockern ebenso wie Regenwürmer die Böden und schaffen damit die Basis für das Leben in Grün. In Wäldern halten sie Baumschädlinge im Zaum. Imkerinnen schätzen die Ameisen und ihre Blattlausherden, aus deren Honigtau die Bienen Honig machen.
„Der oft zitierte stumme Frühling ist längst dabei, Realität zu werden“, warnt Beate Jessel, Präsidentin des Bundesamts für Naturschutz (BfN). Sie spielt damit auf das Buch „Stummer Frühling“ der amerikanischen Biologin Rachel Carson an, das vor über 30 Jahren zum Verbot des Insektengifts DDT führte. Carson erklärte ihren Landsleuten, dass die Vögel sterben, wenn es keine Insekten gibt. Ameisen sind hierzulande allein Grundnahrungsmittel für Grünspecht, Grauspecht und Wendehals. Bunt- und Schwarzspechte kommen ohne Ameisen nicht durch den Winter und auch Dachse schätzen die eiweißreichen Larven der Waldameisen. „Vor einem Rückgang der Artenvielfalt warnen wir seit Langem“, sagt Jessel, die im März gerade die neuen Roten Listen für Insekten und Wirbellose herausgegeben hat.
Was in den 1960er und 1970er Jahren das DDT war, schaffen heute Glyphosat und die Neonicotinoide. Das große Insektensterben erfasst daher auch Ameisen (siehe Spalte rechts). Allein in Deutschland stehen die meisten Arten auf der Roten Liste als vom Aussterben bedroht, stark gefährdet oder extrem selten. Die wärmeliebende Crematogaster sordidula ist bereits verschollen. Mal betonieren Bauarbeiter den Lebensraum der Ameisen, mal kippen Bauern Gülle auf den Trockenrasen oder sprühen Pestizide bis an den Waldrand. „Ameisen verschwinden leiser und unbemerkter unter unseren Füßen als Bienen“, sagt Olaf Tschimpke, Präsident des Naturschutzbunds Deutschland NABU. „Wir müssen dringend ihre Lebensräume sichern und die EU-Agrarpolitik naturverträglich gestalten.“ Tschimpke erinnert daran, dass der wissenschaftliche Beirat von Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner diese Woche dringend empfohlen hat, Landwirte und Waldbesitzer zu belohnen, wenn sie sich für die Natur einsetzen.
Und das ist dringend nötig: Mehr als 1.000 Nester von Waldameisen mussten 2017 weichen, damit Berlin die neue Autobahn 100 durch die stadtnahen Wälder treiben konnte. Waldameisen entscheiden über die gesunde Ökologie eines Waldes und stehen seit 200 Jahren unter Naturschutz. Sie dürfen nicht gestört oder ihre Nester ausgehoben werden, doch gegen Autobahnen sind in Deutschland auch die seit 13 Millionen Jahren an ökologische Nischen angepassten Ameisen machtlos.
Also wurden die Waldameisen ausgebuddelt, die eierlegenden Königinnen in Marmeladengläsern gesammelt und die Hügel samt Hunderttausenden Arbeiterinnen woanders wieder angesiedelt. „Das klappt meistens nicht“, sagt Bernhard Seifert, der Auge in Auge mit der Roten Waldameise in der Lausitz und in finnischen Wäldern gelebt hat. Gerade mal 15 Prozent der Kolonien, schätzt der Wissenschaftler, werden nach der Umsiedlung am neuen Platz heimisch und überleben.
Seifert, der im Senckenberg Museum für Naturkunde die Abteilung Pterygota – Fluginsekten – leitet, gehört zu den weltweit anerkannten Taxonomen. So werden jene Biologen genannt, die sich auf eine Ordnung von Insekten oder anderen, nur im Detail zu bestimmenden Tieren spezialisiert haben, in Seiferts Fall: Ameisen. Kaum ein Wissenschaftler kennt sich mit ihnen so aus wie er. „Jede einzelne Art hat ihre ganz unterschiedliche ökologische Nische“, sagt Seifert. „Zwei Arten können nicht in der gleichen ökologischen Nische leben.“ Das gilt für alle Tierarten. Ameisen leben jedoch nicht nur in ökologischen Nischen – sie bilden selbst eine ökologische Nische.
Ameisen haben sich je nach Art in den vergangenen 13 Millionen Jahren perfekt an ihren jeweiligen Lebensraum angepasst, sei der nun im Moor oder im Geröll. Soweit bekannt, leben 114 Ameisenarten in Deutschland, in Mitteleuropa sollen es 175 sein. Bernhard Seifert hat allein 10 neue europäische Arten in den vergangenen 40 Jahren entdeckt, darunter die Schweizer Gebirgsameise und mehrere enge Verwandte der Schwarzen Wegameise. Die kennen auch Städter, denn sie brütet unter Pflastersteinen und fällt manchmal auf, weil sie ihre Miniaturstraßen überdacht. Weltweit rechnen BiologInnen mit 17.000 Ameisenarten.
Und viele Arten sind von ihnen regelrecht abhängig: Die Tagfalter der Bläulinge beispielsweise haben sich an das Leben der Ameisen angepasst, ja sind teilweise vollkommen auf eine bestimmte Ameisenart angewiesen. Die Raupen der Bläulinge geben ein nektarähnliches Sekret ab, auf das die Ameisen ganz wild sind. Um daran zu kommen, passen sie auf die Raupen auf, halten feindliche Wespen ab und kümmern sich um die Raupen wie um ihre eigenen Larven. Die Bläulinge wachsen also unter Ameisen auf und können teilweise nicht ohne sie überleben. Nun sind die Bläulinge nicht irgendein Schmetterling, sondern bilden etwa ein Drittel aller bekannten Tagfalterarten. Weltweit.
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Angst vor Bienentod
Von Ulrike Fokken AutorIn und
Kai Schöneberg Ressortleiter Wirtschaft und Umwelt
Umweltminister kümmern sich um Artenvielfalt
Politik ist manchmal so fürchterlich banal: Zum Auftakt der Umweltministerkonferenz in Bremen schenkte der Umweltsenator der Hansestadt, Joachim Lohse (Grüne), dem städtischen Bürgerpark einen Bienenbrutkasten. Die Lokalpresse kam – und verbreitete am Donnerstag prompt die Botschaft, die Chefs der Umweltressorts der Bundesländer kümmerten sich bei ihrem Treffen ganz besonders um den Fortbestand einer zunehmend gefährdeten Spezies: der Honigbiene.
Tatsächlich widmet sich nun auch die ganz große Politik dem Erhalt des Summenden – und das ist neu. Seit Jahren hatten Experten vor dem großen Insektensterben gewarnt, aber erst seitdem die Biologen des Entomologischen Vereins Krefeld im Sommer 2017 mit einer Studie die Öffentlichkeit aufschreckten, hat das Thema an Relevanz gewonnen. Drei Jahrzehnte lang hatten Tierfreunde für ihre Untersuchung die Menge der Insekten in Naturschutzgebieten gemessen. Drastisches Ergebnis: 2017 war die Biomasse in den Messbechern um 75 Prozent kleiner als 1987.
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Grafikquellen :
Oben — Formica rufa, worker
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2.) von Oben — Rila Mountains, Bulgaria