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„An einem Kipppunkt“

Erstellt von Redaktion am Dienstag 21. April 2020

„Deutschland verhindert, mehr nicht“

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Der Deutsche Michel als Gartenzwerg in der EI.

Interview Ulrike Herrmann und Stefan Reinecke

Steht jetzt der Euro auf dem Spiel? Dass die Groko in Berlin Coronabonds ablehnt, vertiefe die Spaltung zwischen Nord- und Südeuropa, sagt Adam Tooze.

taz: Herr Tooze, Deutschland will in der Eurozone keine gemeinsamen Anleihen, sogenannte Coronabonds, um Südeuropa aus der Krise zu helfen. Ist das klug?

Adam Tooze: Kurzfristig ist das für Scholz und Merkel vorteilhaft. Sie vermeiden es, die AfD zu stärken, die ja aus Protest gegen die Eurorettung entstanden ist. Langfristig ist es unklug.

Warum?

Deutschland profitiert enorm von der Eurozone – die durch dieses Nein geschwächt wird. Der Frust in Italien und Spanien ist enorm. Ich habe mit einem Minister in Madrid gesprochen, der keineswegs euroskeptisch ist, aber sehr wütend. Die Hoffnung in Berlin, dass es ohne Bonds geht, ist naiv.

Deutschland hat, gegen die Niederlande, immerhin durchgesetzt, dass die ESM-Kredite an keine Reformzwänge geknüpft sind. Ist der Eurorettungsschirm ein brauchbares Instrument?

Nein. Die Italiener können ESM-Mittel nicht akzeptieren, abgesehen davon, dass die Summen ohnehin zu gering sind, um die italienische Wirtschaft wieder anzukurbeln. Es ist den Deutschen nicht klar, wie viel Schaden in der Eurokrise angerichtet worden ist. Von 2008 bis 2018 hat sich die wirtschaftliche Kluft zwischen Deutschland und Italien enorm vergrößert: um 8.000 Euro pro Jahr und Kopf beim Bruttosozialprodukt. Das ist ein Desaster für die italienische Gesellschaft.

Umfragen zeigen, dass die Hälfte der Italiener mittlerweile für einen EU-Austritt ist. Die politische Elite in Berlin nimmt das nicht ernst. Warum nicht?

Ich kenne smarte deutsche Kollegen, die im Finanzministerium akribische Kleinarbeit geleistet haben, um ESM-Projekte verschiedenster Art zu entwerfen. Das ist gut gemeint – aber politisch nicht machbar. Der ESM ist in Italien ein Symbol für die Arroganz der Deutschen und anderer Nordländer. Das sehen nicht nur die Populisten dort so, die mit Anti-ESM-Ressentiments arbeiten, sondern auch proeuropäische Politiker. Man begreift in Berlin nicht, welche Narben die Eurokrise in Südeuropa hinterlassen hat.

In Krisen treten Machtverhältnisse klarer zutage. Was sieht man da? Ist Deutschland in der EU die dominierende oder hegemoniale Macht?

In der Eurokrise nach 2010 war der Hegemonialbegriff in einigen Momenten hilfreich. Es gab Situationen, in denen in der EU Führung und Ideen gefragt waren, die nur aus Berlin kommen konnten. Jetzt ist die Lage anders. Berlin muss nicht führen, es muss sich nur kooperativ verhalten und signalisieren „Ja, die Bonds sind eine gute Idee. Machen wir. Wir steuern unser Kreditrating bei, das kostet praktisch nichts.“ Alles, was von Berlin erwartet wird, ist ein Ja zu den Coronabonds. Die EU braucht Deutschland momentan nicht als Hegemon. Deutschland verhindert, mehr nicht. Es ist ein Vetoplayer.

Warum tritt Berlin so vehement auf die Bremse?

Die politische Elite in Deutschland fürchtet, dass mit den Coronabonds eine grundsätzliche Entscheidung für die Vergemeinschaftung von Schulden in der Eurozone fällt. Die Angst ist, dass Frankreich und Italien die Situation ausnutzen, um die Eurobonds durchzusetzen, die sie schon seit Langem wollen. Berlin glaubt, dass in der Ausnahmesituation ein Präzedenzfall entsteht. Außerdem neigt Deutschland dazu, seinen Beitrag zu überschätzen. Es geht darum, im Verhältnis zur Bevölkerung und zur Wirtschaftsleistung Haftung zu übernehmen. Das wären etwa 26 Prozent der Bonds, nicht mehr.

Ist der Streit um die Coronabonds nur der normale EU-Zoff um Geld? Oder geht es um eine Existenzfrage für den Euro?

Es spricht viel dafür, dass wir an einem Kipppunkt stehen, an dem sich lang aufgestaute Spannungen entladen, die nicht mehr mit den üblichen Instrumenten der Kompromissbildung bearbeitet werden können. Das Vorpreschen der neun EU-Staaten, die Coronabonds gefordert haben, war ein lautes Signal. Ich vermute, dass man im Finanzministerium in Berlin schockiert war über diesen demonstrativ öffentlichen Schulterschluss von Paris, Rom, Madrid und anderen. Und Macron lässt nicht locker. Er hat der Financial Times ein fulminantes Interview gegeben.

Woher rührt die Phobie der Deutschen vor Schulden? Hat das historische Wurzeln?

Das wird oft behauptet. Aber schauen Sie sich die Geschichte an. Wie die anderen Länder in Westeuropa hat die Bundesrepublik ab den 1970er Jahren Schulden gemacht, um den Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Bei den Staatsschulden lag Deutschland unter Kohl im EU-Mittelfeld. Der Sonderweg der Deutschen in der Fiskalpolitik ist neu. Er beginnt mit Rot-Grün und der ersten GroKo. Hartz IV und die Sparpolitik markieren einen Bruch, eine Politik der Disziplinierung und Selbstdisziplinierung, die zu Schuldenbremse und schwarzer Null führt.

Geschichte spielt bei dem deutschen Nein zu Bonds keine Rolle?

Doch, aber anders, nicht im Sinne eines fortwirkenden historischen Traumas. Es gibt von Kohl zu Merkel einen Bruch im Geschichtsverständnis. Für Kohl war die Integration Deutschlands in Europa fundamental – und die EU eine Frage von Krieg und Frieden. Und Kohl hat das Bismarck’sche Konzept vertreten: Es gibt Momente in der Geschichte, in denen große Männer handeln müssen, egal was es kostet. Die neue Politikergeneration der 90er hatte die Nase davon voll. An dessen Stelle ist in Berlin die Idee getreten, dass die Globalisierung der große Schulmeister ist, der die Staaten zwingt, ihre Hausaufgaben zu machen. Fortschritt wird als Wettbewerbsfähigkeit definiert. Denn nur durch flexible Anpassung an die Globalisierung entstehen Autonomie und Handlungsfähigkeit für Staaten. Das ist die Lektion, die Berlin Südeuropa erteilen will.

Also bräuchten wir mehr Kohl, weniger Merkel?

Quelle      :          TAZ        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben      —        German garden gnome

Unten     —     Ursula von der Leyen presents her vision to the European Parliament on 16 July 2019

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