Eiligste Eilmeldungen

Während die Zeit vergeht, kommen und gehen die Nachrichten aus der Welt des Sündigens, Strafens, Büßens und Vergebens. Sie springen unten rechts in den Bildschirm und versinken unten links. Wir haben diese Woche nichts verpasst.
Woche im Umfeld des Strafrechts. Die Eilmeldung, bei den transatlantischen Verbündeten des Wiesbadener Einzelhandels und der südpfälzischen Handwerkerschaft „Breaking News“ genannt, ist das Gelée royale des Nachrichtenwesens. Weil es so schön ist, sind die Laufzeilen mit den Eiligstmeldungen heutzutage als fester Designteil ins jeweils zu brechende Programm eingeblendet. Das wirft die Frage auf, ob beim Publikum überhaupt noch eine Art von Konzentration existiert, die durch News gebrochen werden kann. Und die Frage, wie man der Kaskade von Eiligst-Brechungen begrifflich Herr werden soll, die zwangsläufig entsteht, wenn die Ausnahme zur Regel wird: Welche Art von News brechen die Breaking News? Wir machen es uns heute einfach und behaupten, dass alles gleich wichtig ist. Also jedenfalls irgendwie total.
Ganz schwer
Torgelow liegt nicht in der Uckermark. Aber knapp daneben. Das weiß ich, wie ich zugeben muss, nicht aus dem Heimatkundeunterricht, sondern von einer Suchmaschine. Philipp Amthor ist auch nicht der Ziehsohn der Bundeskanzlerin und erst recht nicht der Neffe von Herrn Maaßen, der uns aus Fotos heraus anblickt, auf denen auch der hoffnungsvoll früh vollendete Torgelower Stern leuchtet. So ein Zufall kommt vor, und immerhin hat von Herrn Amthor noch niemand einen heimlichen Schnappschuss auf dem Times Square gemacht, wie es einst dem Ehemann der Freifrau von und zu Guttenberg passierte, die zusammen mit Dorothea von Eberhardt, Marina von Achten, Donata von Hardenberg, Alice von Seldeneck und Julia von Weiler weltweit für die Innocence von Kindern kämpft.
Jetzt hat Herr Amthor, der 27 Jahre alt ist und, wie man hört, demnächst gern Ministerpräsident werden möchte, ein Problem mit einem guten Freund, dem Weltökonomen Friedrich M. aus Brilon im Hochsauerland, der nach Mitteilung gut unterrichteter Kreise über Amthor gesagt hat: „Ich hoffe, dass er die Sache aufklärt und seine politische Arbeit danach fortsetzen kann.“ Mit solchen Solidaritätsadressen wird in der Partei, welcher die beiden Schlaumeier angehören, in der Regel mitgeteilt, dass der Ofen aus ist. Aber angesichts der ohrenbetäubenden sauerländischen Stille „in diesen Zeiten“ seit März weiß man momentan nicht so recht, ob in Brilon überhaupt noch eine Feuerpatsche ist, die der amthorschen Glut den Garaus machen könnte.
So viel in der Abteilung Schadenfreude und Moralbuttercreme. Wie man liest, ist schon wieder Dreivierteldeutschland empört und fordert den „Rücktritt“ Amthors von allen Ämtern, die er noch nicht hat, wegen der Aktienoptionen, die er nicht mehr hat, aber von Freunden erhielt, die er nie hatte. Und natürlich wegen all dem teuren Champagner mit den Milliardären von morgen, den Rechthabern von gestern und den Freiherrn von Dingsda. Was ja ein anständiger deutscher Verbraucher, Steuerzahler, Wähler und Patient niemals saufen würde, und sich auch bestimmt nie dazu einladen ließe, und erst recht nicht seinem Chef sagte, dass er einen sehr empfehlenswerten Lieferanten kenne, und dabei ganz zu erwähnen vergäße, dass es sich um den Neffen seines Schwagers handele.
Nun soll, wie man hört, schon eine Staatsanwaltschaft begonnen haben, ein „Vor-Ermittlungsverfahren“ durchzuführen, das es nach dem Gesetz eigentlich gar nicht oder nur eine logische Sekunde des Paragrafen 152 Absatz 2 der Strafprozessordnung lang geben darf. Bei zukünftigen Ministerpräsidenten jeden Alters kann es auch mal etwas länger dauern, bis sorgfältigst ausermittelt ist, ob vielleicht ein Anhaltspunkt für irgendetwas besteht. Im vorliegenden Fall muss man dazu in Paragraf 108e Strafgesetzbuch (StGB) nachschauen, „Bestechlichkeit von Mandatsträgern“, ein Verbrechen, das so schrecklich ist, dass es wahrscheinlich schon wegen der hohen Strafdrohung nie vorkommt: Mindeststrafe fünf Tagessätze à einen Euro (Paragraf 40 Absatz 1 und 2) oder ein Monat (Paragraf 38 Absatz 2). Die Vorschrift wurde vor wenigen Jahren nach jahrzehntelangem Anlauf so gründlich renoviert, dass das auch in Zukunft so bleiben wird, falls sich der Mandatsträger nicht wirklich ungewöhnlich blöd anstellt. Und auch wenn Friedrich M. meint, Amthor habe „Mist gemacht“, scheinen dessen Intelligenz und Wichtigtun-Neigung doch im Rahmen des durchschnittlich Erwartbaren zu liegen.
Minder schwer
Apropos schreckliches Verbrechen: „Einen minder schweren Missbrauch“, sprach Frau Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz am 18. Juni 2020 im Deutschen Bundestag, „wird es nicht mehr geben.“ Das ist ein kryptischer Satz, in dem sich zusammenballt, was an inhaltlichen, sprachlichen, logischen und moralischen Missverständnissen auf so engem Raum möglich ist. Der Satz hat aber auch einen Vorteil: Es versteht ihn von denen, an die er gerichtet ist, praktisch niemand. Das weiß die Justizministerin; deshalb sagt sie ihn ja.

Es gibt in der Strafrechtswelt Deutschlands drei Straftaten, bei denen es einen minder schweren Fall nicht gibt: Mord (Paragraf 211 StGB), Völkermord in Fällen des Paragrafen 6 Absatz 1 Nummer 1 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Fällen des Paragrafen 7 Absatz 1 Nummer 1 VStGB. In diesen drei Fällen ist nämlich eine „absolute“ Strafe angedroht: lebenslange Freiheitsstrafe. „Absolut“ heißt sie, weil sie nicht aus einem „Strafrahmen“ zu bestimmen, sondern durch die Lebenszeit des Verurteilten begrenzt ist.
Das heißt natürlich nicht, dass es keinen Mord gibt, den nicht irgendjemand „minder schwer“ findet. Probe gefällig? Fall eins: A entführt ein fünfjähriges Kind und tötet es aus sexueller Motivation. Fall zwei: Der Vater des Kindes, B, erschießt den Mörder A auf dem Flur des Gerichts von hinten. Fragen: Finden Sie, dass beide Fälle moralisch genau gleich zu bewerten sind? Meinen Sie, dass ein Fall „schwerer“ ist und einer „weniger schwer“? Wenn Sie einen Strafrahmen von 10 bis 30 Jahren zur Verfügung hätten: Welche Strafen hielten Sie in den beiden Fällen für angemessen?
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Philipp Amthor auf dem CDU Parteitag 2019 am 22. November 2019 in Leipzig.
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- File:2019-11-23 Philipp Amthor CDU Parteitag by OlafKosinsky MG 6331.jpg
- Erstellt: 23. November 2019
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Unten — Thomas Fischer auf der re:publica 2016