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Am Kipppunkt

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 8. März 2023

Zuspitzung im Nahost-Konflikt

Von   :   Judith Poppe

Es brennt in den besetzten Gebieten. Ein Besuch in der jüdischen Siedlung Yitzhar und dem Dorf Huwara, in dem es gerade heftige Ausschreitungen gab.

auchwolken hängen am Nachthimmel über dem palästinensischen Dorf Huwara, Dutzende Häuser und Autos stehen in Flammen. So ist es kurz darauf auf Fotos in den sozialen Medien zu sehen. Geschäfte brennen, Steine fliegen in dieser Nacht. Ein Palästinenser wird getötet, Hunderte werden verletzt.

Am vergangenen Sonntag hatte zunächst ein Palästinenser zwei Israelis in Huwara getötet, Siedler aus einer nahe gelegenen Siedlung, die im Auto die Hauptstraße entlangfuhren. Wenige Stunden später dringt eine Gruppe israelischer Sied­le­r*in­nen in das Dorf ein, um Rache zu nehmen. Die Armee greift erst spät in der Nacht ein.

„Ich habe solche Angst um meine Familie“, schreibt per Whatsapp Shadeen Saleem, die wir zwei Wochen zuvor in Huwara getroffen haben: „Meine Brüder und meine Eltern sind in unserem Haus, Siedler greifen sie an.“ Saleem ist während des Angriffs nicht zu Hause, sie studiert im nahe gelegenen Nablus, doch die Stadt ist vom israelischen Militär abgeriegelt. Saleem hat keine Chance, zu ihrer Familie durchzukommen.

Während Huwara brennt, tanzen nicht weit entfernt auf einem Hügel ein Dutzend Siedler*innen, Schulter an Schulter. In dieser Nacht haben sie einen neuen Außenposten besetzt. Der Knessetabgeordnete Zvi Sukkot ist einer von ihnen. „Tänze der Liebe zum Land. Tränen des Schmerzes und der Hoffnung vermischen sich“, schreibt er zu dem Video auf Twitter.

Zwei Wochen zuvor liegen diese Ereignisse noch in der Zukunft – doch im Rückblick kann man sagen, sie standen schon wie Zeichen an der Wand.

„Schade, dass es bewölkt ist“, sagt Zvi Sukkot und blickt Richtung Westen zum Mittelmeer: „Normalerweise kann man bis Netanja sehen.“ Er steht vor seinem Büro auf dem höchsten Punkt der Siedlung Yitzhar, auf der Spitze des Hügels. Von dem weißen Container aus hat er eine Rundumsicht auf das, was er „unser Land“ nennt.

Er zeigt auf das Mittelmeer und Tel Aviv, dann dreht er sich im Halbkreis. Seine Hand gleitet über das Westjordanland hinweg, über arabische Dörfer, auch über Huwara. Über weitere jüdische Siedlungen, bis sein Zeigefinger auf der Grenze nach Jordanien ruht. Eine imperiale Geste, könnte man meinen, doch dafür ist sein Blick zu kritisch, seine Bewegung zu vorsichtig. Er gleicht eher einem Wächter, der sich in Abwesenheit des Besitzers um dessen Land sorgt.

Sukkot trägt Schläfenlocken und Tzitziot, weiße Fäden, die religiöse Juden an den Oberteilen befestigen und an den Seiten der Hosen entlangfallen lassen. Auf dem Kopf hat er eine gehäkelte Kippa, Markenzeichen der Siedler.

Steile Karriere in der Politik

Er ist erst 32 Jahre alt und hat eine steile Karriere hingelegt: Zwei Tage nach dem Interview wird er für die rechtsextreme Partei Religiöser Zionismus als Nachrücker in die Knesset einziehen. Ihr Programm sieht unter anderem die Annexion von Land für Siedlungen im Westjordanland, die Ausweisung von Geflüchteten und eine Entmachtung des Obersten Gerichtshofs vor.

In Sitzungszeiten wird er von nun an in der Knesset sein, den Rest der Zeit in seinem Büro in Yitzhar arbeiten – einem Büro, das sich nach internationalem Recht illegal dort auf der Hügelspitze befindet: Es liegt in den besetzten palästinensischen Gebieten.

Im Westjordanland war das vergangene Jahr das blutigste seit dem Ende der Zweiten Intifada. 2022 starben mehr als 150 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen durch israelische Sicherheitskräfte und Zivilist*innen. Siebzehn Israelis wurden bei Anschlägen von Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen getötet. Im Jahr 2023 sind allein in den ersten zwei Monaten bereits 61 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen von israelischen Sicherheitskräften getötet worden.

Der CIA und israelische Sicherheitsapparate warnen, dass eine dritte Intifada bevorstehen könnte. Noch gibt es keinen Aufruf der großen palästinensischen Fraktionen dazu. Doch viele sorgen sich, dass die neue rechtsextrem-religiöse Regierung Israels den Konflikt zwischen Sied­le­r*in­nen und Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen weiter anheizt.

Zvi Sukkot schließt die Tür zu seinem Containerbüro auf. Seine Zusage zu dem Interview kam prompt – anders als die meisten radikalen Sied­le­r*in­nen ist er bereit, mit den Medien zu sprechen. Die Welt sei gegen die Siedler*innen, sagt er, er will das Image verbessern.

Jüdische Israelis haben unterschiedliche Gründe, in eine Siedlung zu ziehen. Die meisten Sied­le­r*in­nen leben in Pendlerstädten in der Nähe zum Kernland Israel oder in Ostjerusalem. Viele ziehen wegen der günstigen Mieten und der Lebensqualität dorthin. Aber wer nach Yitzhar zieht, macht das, um das Versprechen Gottes einzulösen: Dieses Land wurde den Jü­d*in­nen von Gott versprochen, komplett, inklusive des Westjordanlandes – davon sind die Be­woh­ne­r*in­nen Yitzhars überzeugt. Etwa 2.000 radikale Sied­le­r*in­nen leben hier.

Bezalel Smotrich, Chef der Partei Religiöser Zionismus und neuer Finanzminister, war einmal in seinem Büro, erzählt Sukkot. Beide waren in der Hilltop-Jugend aktiv – hier sammeln sich junge extremistische Siedler*innen, die Gewalt für ein legitimes Mittel halten, und die sogenannte Außenposten im Westjordanland errichten, die auch nach israelischem Recht illegal sind. Die Hilltop-Jugend ist überzeugt davon, dass die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen aus den palästinensischen Gebieten vertrieben werden müssen.

Für Sukkot ist die Hilltop-Jugend eine Gruppe junger Menschen, die sich zum Ziel gesetzt haben, Gottes Versprechen einzulösen: die Besiedlung von Eretz Israel, dem gelobten Land. Dazu gibt es Lagerfeuer auf den Hügeln des Westjordanlandes, Zusammengehörigkeitsgefühl und Pioniergeist.

Bis vor Kurzem waren die extremistischen Sied­le­r*in­nen die Outlaws der israelischen Gesellschaft, die Troublemaker unter den 500.000 Siedler*innen, die mittlerweile im besetzten Westjordanland leben. Nun lenken sie die Geschicke des Landes mit.

Judäa und Samaria

Benjamin Netanjahu hat die radikalen Siedlerparteien hoffähig gemacht und ihnen in den Koalitionsvereinbarungen weitreichende Zugeständnisse eingeräumt. Er, der derzeit in drei Korruptionsfällen vor Gericht steht, will vor allem eins: nicht ins Gefängnis. Immunität versprechen ihm seine Bündnispartner. Und die wissen, wie erpressbar Netanjahu ist. Zum ersten Mal in der Geschichte Israels steht das „exklusive und unbestreitbare Recht auf alle Teile des Landes“ in der Koalitionsvereinbarung, auch auf „Judäa und Samaria“ – die biblischen Namen für das besetzte Westjordanland.

Aus einem Haufen grüner T-Shirts, die in einer Ecke seines Büros liegen, zieht Sukkot eines hervor. „Mein Herz brennt für Josef“, steht darauf. Zurückkehren zu können an das Grab des jüdischen Stammvaters Josef – auch das ist eines der Ziele von Sukkot. Derzeit dürfen jüdische Israelis nur mit Spezialgenehmigung dorthin, an den Stadtrand von Nablus: Für Israelis gilt die palästinensische Stadt als Terrornest, für Palästinenser als eine Zentrale des Widerstands. „Manchmal lassen sie uns dorthin“, sagt Sukkot. Dann werden sie vom Militär eskortiert, es kommt dabei regelmäßig zu heftigen Zusammenstößen.

„Es kann doch nicht sein, dass wir uns nicht überall in unserem Land bewegen dürfen“, sagt Sukkot. Der Ort ist für ihn nicht nur in religiöser und politischer Hinsicht wichtig, auch privat. Im Oktober 2000, kurz nach dem Beginn der Zweiten Intifada, wurde der Vater seiner heutigen Frau am Josefsgrab von Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen getötet. Man fand ihn erschossen am Stadtrand von Nablus. Sukkots Frau war damals acht Jahre alt. Im Wohnzimmer über einem Bücherregal hängt ein Bild von ihrem Vater. Ein Mann mit spitzem Bart und Nickelbrille liest in der Bibel. Er war Rabbiner und 36 Jahre alt, als er starb. Mehr erzählt Sukkot dazu nicht.

Bis Juden im ganzen biblischen Israel ohne Einschrän­kungen leben können, werde er kämpfen, sagt Zvi Sukkot. Seine Partei ist nun Teil der israelischen Regierung.

Fragen nach Gefühlen scheinen ihm nicht zu behagen. Überhaupt private Fragen. „Mh?“, antwortet er, scheinbar abgelenkt, und kaut seinen Kaugummi fester. Über seine Eltern ist wenig aus ihm herauszukriegen: Er ist in einem ultraorthodoxen Elternhaus aufgewachsen. Damit ist das Thema erledigt.

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Politische Fragen beantwortet er geduldig, mehr oder weniger freundlich. „Als Knessetabgeordneter will ich dafür sorgen, dass alle Terroristen entweder im Knast oder tot sind“, sagt Sukkot. Die Palästinensische Autonomiebehörde ist für ihn eine Terrororganisation. In anliegende palästinensische Städte und Dörfer fahre er nicht. „Die wollen uns umbringen.“

Zvi Sukkot sorgt sich um seine fünf Töchter. Seine Waffe liegt auf dem Nachttisch in seinem Schlafzimmer. Wenn er die Siedlung verlässt, trägt er sie am Gürtel. Doch die besetzten Gebiete zu verlassen und seine Kinder in einer weniger konfliktgeladenen Gegend aufzuziehen, kommt für ihn nicht infrage.

Für ihn wäre das Verrat, und Verrat – oder das, was er dafür hält – hat ihn nach Yitzhar gebracht. Sukkot war 15, als die israelische Armee nach dem Abkoppelungsplan des damaligen Ministerpräsidenten Ariel Scharon die Sied­le­r*in­nen aus den Siedlungen im Gazastreifen evakuierte. Sukkot konnte nicht fassen, was er im Fernsehen sah: Soldaten, die ihre Landsleute aus ihren Häusern trugen und in Tränen ausbrachen. Bulldozer, die Häuser zerstörten, Männer, die ihre Haare rauften und zum Himmel beteten, Frauen, die mit ihren Babys im Arm von Soldaten aus den Häusern eskortiert wurden – für sie viel mehr als eine Bleibe. Der Inbegriff dessen, woran sie glaubten und wofür sie kämpften: Gott zu gehorchen, sein Erbe anzunehmen.

„Sie haben unser Land einfach der Hamas überlassen“, sagt Sukkot. Noch heute spürt man die Wut darüber in ihm. Nach diesem Ereignis beschloss er, seinen Weg zu ändern: Aus dem ultraorthodoxen Studenten wurde ein nationalreligiöser Zionist. Er schloss sich der Hilltop-Jugend an und zog nach Yitzhar.

Quelle        :         TAZ-online           >>>>>>          weiterlesen        

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Grafikquellen     :

Oben       —    Demonstrating against Bibi’s and Yariv Levin’s plans to suppress the Supreme Court.

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