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Altern in Deutschland

Erstellt von DL-Redaktion am Samstag 30. September 2017

Die Lüge vom guten Altwerden

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a9/Stufenleiter_der_Gr%C3%B6%C3%9Fe_und_des_Sturzes_Napoleons.jpg

Von Jakob Simmann

Wer heute in Deutschland geboren wird, wird im Schnitt über 80 Jahre alt. Gleichzeitig hatte das Alter noch nie einen so schlechten Ruf. Warum?

Die greise Frau, mit Kohlestrichen gezeichnet, ist Albrecht Dürers Mutter Barbara. In ein loses Hemd gekleidet, ein Tuch über dem Haar, blickt sie mit blinden Augen am Maler vorbei. Der Wangenknochen schiebt sich zur Oberfläche, darunter fällt die Wange ein. Und auch das Schlüsselbein zeichnet sich unter der Haut ab. Die schmalen Lippen sind zusammengepresst, die Stirn liegt in unzähligen Falten. Sie ist 62 Jahre alt.

Dürers Porträt der eigenen Mutter von 1514 gilt als erstes realistisches Bild eines alten Menschen. Es zeigt, wie sehr das hohe Alter lange Zeit vor allem als Lebensphase des Leidens und Gebrechens galt. Wer das Erwachsenenalter überlebte, hatte vor allem gelitten. So schrieb Dürer: „Diese meine fromme Mutter hat 18 Kinder tragen und erzogen, hat oft Pestilenz gehabt, viel andrer schwerer und merklicher Krankheit, hat große Armut gelitten, Verspottung, Verachtung, höhnische Wort, Schrecken und große Widerwärtigkeit.“

500 Jahre nachdem Dürers Kohlezeichnung entstand, ist die Lebenserwartung in Deutschland auf über 80 Jahre geklettert. Die Gründe dafür sind vielfältig: Sauberes Trinkwasser und Impfungen verhindern, dass viele Kinder schon im ersten Lebensjahr sterben, soziale Sicherungs- und Gesundheitssysteme erreichten irgendwann auch die Armen, Antibiotika retten die Leben von Millionen Menschen, die an einer Lungenentzündung oder infizierten Wunden leiden, und flächendeckende Vorsorgeuntersuchungen geben Ärzten die Chance, bösartige Krankheiten früher zu erkennen und zu behandeln.

Immer fitter, mobiler, jünger

Die Medizin fand aber nicht nur Wege, das Leben zu verlängern, sondern auch Möglichkeiten, das Leben alter Menschen lebenswerter zu machen: 800.000 Menschen, die unter Grauem Star, einer Trübung der Augenlinse und typischen Alterskrankheiten leiden, werden allein Deutschland jedes Jahr operiert und können danach wieder deutlich besser sehen. Und wer sich den Oberschenkelhals bricht und vorher mobil war, hat heute dank ausgeklügelter chirurgischer Techniken gute Chancen, schon nach Stunden wieder mit dem Laufen zu beginnen.

Damit hat sich auch unsere Wahrnehmung des Alters auf den Kopf gestellt: Immer mobiler, immer fitter, immer jünger wollen die Alten sein.

„Die Lebensweise alter Menschen ist heute deutlich vielfältiger als früher, vielleicht sogar vielfältiger als die junger“, sagt Julia Twigg, Professorin für kulturelle Altersforschung an der University of Kent in England. „Das liegt auch daran, dass Alte weniger Zwängen durch Arbeit oder Familie ausgesetzt sind als junge Menschen.“

Entscheidenden Anteil daran, dass die Bilder vom Altern immer vielfältiger geworden sind, hatten die Jugendbewegungen des 20. Jahrhunderts. Zum Beispiel der Punk.

Alte Menschen beim Sex? Kein Tabu mehr

Die Punkszene entstand Ende der siebziger Jahre als Auffangbecken für Menschen, die „sich desillusioniert, machtlos und von der Gesellschaft ausgestoßen fühlten“, erzählt der Soziologe Andy Bennett. Bennett hat für seine Doktorarbeit Altpunks in Kent, Lille und Adelaide interviewt und begleitet: „Für viele war die Bewegung ein neues Zuhause.“ Sie waren jung und besetzten Häuser, verweigerten den Wehrdienst und provozierten die Bürgerlichen mit chaotischer Musik, bunten Haaren und Tattoos. Es ging gegen die Eliten, es ging um Freiheit und den Abbau von sozialen Tabus.

Was klein begann, veränderte die Gesellschaft. „Die dominante Mainstream-Gesellschaft und antihegemoniale Subkulturen wie der Punk reiben sich anein­ander. Dabei nimmt die Mainstream-Kultur langsam, aber sicher Aspekte und Ansichten der Subkultur auf.“ Bennett, der inzwischen eine Professur an der Griffith University in Australien hat, sieht darin den zentralen Mechanismus der sozialen Evolution. Zusammen mit anderen Bewegungen wie dem Feminismus und der Studentenbewegung brach der Punk auf diese Weise soziale Normen auf.

Und weil die Punks und die 68er langsam alt werden, erreicht die neu gewonnene Freiheit heute auch das Alter. Julia Twigg erklärt: „Heute sehen wir, dass die Tabus, die mit einem alternden Körper verbunden waren, radikal verschwinden.“

,,La conception de l'Empire": Tomi Ungerers Plakat-Entwurf für das Festival, der 1989 einen Eklat auslöste.Foto: Festival

Der deutsche Film „Wolke 9“ handelt von einem Ehepaar um die 70, das schon dreißig Jahre verheiratet ist, bis sich die Ehefrau in einen anderen Mann verliebt. Gleich zu Beginn des Films haben die zwei Protagonisten Sex. In der intimen Szene, die mehrere Minuten dauert, küssen sie ihre ins Alter gekommenen Körper, rollen auf einem Teppich herum und stöhnen.

Auch die Mode für alte Menschen ändert sich. Twigg forscht zu Kleidung und Mode im Alter. Es gab zum Beispiel geläufige Ideen dazu, was ältere Frauen tragen sollen: dunklere Farben, Schnitte, die weiter sind, und keine Kleidung, die aufreizend ist. Das ändert sich: Heute tragen auch ältere Frauen Körperbetontes und Farbenfrohes.

Früher war Altern natürlich, jetzt ist es eine Krankheit

Quelle   :   TAZ >>>>> weiterlesen

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Grafikquellen

Stufenleiter der Größe und des Sturzes Napoléons, Radierung, Deutschland 1814

Date
Source http://www.dhm.de/sammlungen/grafik/gr90_206.html
Author Anonymous
Other versions see also: File:Aufstieg-und-Niederfall-Napoleons.png
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HM Elizabeth II during a State Arrival Ceremony at the White House. From White House website. Uploaded 21.05.07

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Linkes Sittengemälde   — Verlinkung mit der Saarbrücker-Zeitung – Napole4on mit seinem Rotkäppchen

 

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