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Als Zohra Bibi sich wehrte

Erstellt von Redaktion am Freitag 1. Dezember 2017

Der harte Alltag von indischen Hausangestellten

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von Julien Brygo

In der Abenddämmerung drehen die Affen, Eichhörnchen und Vögel im Park noch mal richtig auf. Zohra Bibi1 sitzt auf einer Bank und erinnert sich an die Ereignisse vor einigen Wochen. Die Ankunft bei ihrer Arbeitgeberin, die Ohrfeigen, die Flucht, das beschlagnahmte Handy und die Nacht, in der sie im Modern Mahagun festsaß, einer Hochhaussiedlung in dem Neu-Delhi-Vorort Noida. Und dann die Kollegen, die am nächsten Morgen mit Stöcken und Steinen bewaffnet anrückten.

Am 12. Juli 2017 betrat die 29-jährige Bibi, eine von 500 Hausangestellten des Modern Mahagun, die Wohnung von Harshu Sethi. „Ich stehe morgens immer um 5.30 Uhr auf, damit ich vor sieben bei meinen Arbeitgebern bin und ihnen das Frühstück machen kann. Ich arbeite in acht Haushalten und verdiene insgesamt 10 000 Rupien (221 Euro). Das mache ich seit 12 Jahren. Mein ältester Sohn, mein Mann und ich haben schon beim Bau des Modern Magahun mitgearbeitet. Als die Bewohner eingezogen waren, wurde ich Hausangestellte. Ich bin eines Morgens einfach hingegangen und habe gefragt.“

Seit dem 13. Juli werden Zohra Bibi und ihr Mann Abdul von der Polizei gesucht. Sie verstecken sich in einer Wohnung weit weg von Noida, die ihre offiziell nicht angemeldete Gewerkschaft angemietet hat: die 7000 Mitglieder starke Organisation Gharelu Kamgar Union (GKU). In der Nacht vom 12. zum 13. Juli hatte Abdul die Polizei angerufen und zu Frau Sethi geschickt. Als seine Frau unauffindbar blieb, alarmierte er am frühen Morgen Kollegen und Nachbarn.

Zohra Bibi sitzt mit verschränkten Armen vor uns, sie trägt eine orangefarbene Kurta, ein Hauch Puder in derselben Farbe liegt auf dem Scheitel ihres kupferfarbenen Haars, „damit man mich für eine Hindu hält, so bleiben mir unnötige Probleme erspart“. Sie ist eine von Zehntausenden, mehrheitlich Muslimen, die aus der Provinz Westbengalen in die großen Städte gekommen sind.

Die Hochhäuser in Noida mit Klimaanlage, schnellem Internet, 50-Meter-Pool, privaten Wachleuten und zahlreichen Angestellten verheißen eine strahlende Zukunft. Die großen Anlagen in den Vorstädten, die wie Pilze aus dem Boden schießen, sind bei der oberen Mittelschicht heiß begehrt und verkörpern den Traum einer indischen global class, zusammengesetzt aus selbstständigen Handwerkern, Beamten, Ärzten oder Anwälten, die vor der Überbevölkerung und den überteuerten Mieten in Neu-Delhi fliehen. Hier wohnen nicht die Superreichen – laut US-Magazin Forbes stand Indien 2016 mit 100 Milliardären an vierter Stelle nach den USA, China und Deutschland. Es sind die Besserverdienenden, die sich nach einem Leben wie im Westen sehnen. „Wohnen in Noida, leben wie in Rom“, werben die Romano-Residenzen; „Ein anderer Ort, eine andere Welt“, schwärmt das Werbeschild der Residenz Jaypee Greens, vor deren Mauern die Hausangestellten in Wellblechhütten hausen.

Der 13. Juli begann wie jeder andere Tag in den stuckverzierten, von Tennisplätzen, schattigen Gärten und Minigolfanlagen umgebenen Mahagun-Hochhäusern, die Manhattan, Venezia oder Eternia heißen. Die Damen wollten ihre Kinder zur Schule bringen oder sich für ihren Yogakurs fertigmachen, während die Ehemänner per Smart­phone bei Ola oder Uber einen Wagen bestellten, um sich ins Büro im Stadtzentrum fahren zu lassen.

Doch dieser Morgen verlief anders als gewohnt: Einige hundert Haushaltshilfen, begleitet von ihren Männern und Nachbarn aus den Elendsvierteln – Bauarbeiter, Rikschafahrer, Gemüseverkäufer –, durchbrachen die Zäune der Anlage, um Zohra Bibi zurückzuholen, weil sie glaubten, sie sei in Gefahr. Für einen kurzen rebellischen Moment traten sie aus ihrer gewohnten Unsichtbarkeit heraus.

Auf die Frage, wie genau der Streit mit ihrer Herrin eskaliert sei, antwortet Zohra Bibi ausweichend. Drei Klagen wurden noch am selben Tag von der Arbeitgeberin, deren Nachbarschaft und der Verwaltung des Modern Mahagun eingereicht: wegen „Aufruhr“, „Sachbeschädigung“ und „versuchtem Mord“. Die vierte, Abduls Anzeige gegen die Arbeitgeberin Sethi wegen „Freiheitsberaubung“, wurde nach zehn Tagen ad acta gelegt.

Der Manager fürchtet um den Ruf des Modern Mahagun

Jetzt ist die Justiz am Zug, und Zohra Bibi muss aufpassen, was sie sagt. An dem Tag, als sie ihre Lohnrückstände, ungefähr 7000 Rupien (91 Euro) abholen wollte, habe Frau Sethi sie geohrfeigt und geschubst. „Dann hat sie gedroht, mich in die Mülltonne zu werfen. Ich hatte eine Bezahlung für das stundenlange Reinigen ihrer Kleidung gefordert, das eigentlich nicht zu meinen Aufgaben gehört. Sie schrie mich an und wollte 17 000 Rupien [220 Euro] zurückhaben, aber ich hatte nichts gestohlen. Sie hat mich mehrmals ins Gesicht geschlagen und wollte mich bei den Sicherheitsleuten anzeigen, dann hätte ich alle meine Arbeitgeber verloren. Ich bin die ganze Nacht im Modern Mahagun geblieben. Am nächsten Morgen haben mich die Sicherheitsleute geholt und rausgebracht.“

Nie zuvor hat die indische Oberschicht einen solchen Aufstand ihrer Hilfskräfte erlebt. Das fühle sich jetzt an wie ein „Knöchelchen, das uns in der Kehle steckt und das wir weder runterschlucken noch ausspucken können“, erklärte später eine Bewohnerin gegenüber einer Journalistin der New York Times.2

Einen Monat nach dem Aufruhr empfängt man uns im Büro des Modern Mahagun. An den Wänden des hellen Zimmers hängen Dutzende Pläne von Großprojekten namens Mahagun Maestro, Mahagun Manor, Mahagun Mansion und so weiter. Der PR-­Mann Manish Pandey schwärmt von seinem Produkt: „Im Einkaufs­zen­trum gibt es 64 Geschäfte. Wir haben eine Grundschule und diverse Freizeitangebote: Tennis, Basketball, Fitness und einen Swimmingpool. Hier leben 2600 Menschen auf 25 Hektar – von der Standardausführung mit Schlafzimmer, Küche und Wohnzimmer bis hin zu Luxusapartments mit 137 Quadratmetern.“

Bei der Frage nach den Hausangestellten, die von früh bis spät, zu unmöglichen Zeiten und ohne Pausenraum von Wohnung zu Wohnung eilen, verzieht der PR-Mann das Gesicht. Dass die Leute keine eigene Dienstbotenwohnung hätten, sei noch lange kein Grund, den Ruf der Anlage zu beschmutzen. „Schreiben Sie nichts Negatives über uns. Erwähnen Sie nicht den Zwischenfall vom letzten Monat. Jetzt ist alles wieder normal. Unsere 120 Sicherheitsleute haben die Situation völlig im Griff.“

Am Tag nach der Auseinandersetzung ließ die örtliche Verwaltung Dutzende Obst- und Gemüsestände vor dem Haupteingang des Modern Mahagun zerstören, weil sich deren bengalische Besitzer angeblich dem Protest angeschlossen hatten. Im benachbarten Elendsviertel, dessen Bewohner den Beamten vor Ort einmalig 10 000 Rupien (130 Euro) und monatlich 700 Rupien (9 Euro) Miete zahlen müssen, wurden 58 Männer verhaftet und misshandelt und ihre Hütten von Polizisten verwüstet.3

Auf die erste Welle der Solidarität folgte die Angst, registriert oder verhaftet zu werden oder seinen Broterwerb zu verlieren. „Wir haben uns an dem Morgen versammelt, um unsere Kollegin zurückzuholen“, erinnert sich Amina Bibi, eine Nachbarin von Zohra. „Wir wussten nicht, was ihr zugestoßen war, und als die Sicherheitsleute sie rausgeschubst haben, sahen wir, wie schwach sie war. Man hatte sie die ganze Nacht drinnen festgehalten und geschlagen.“

Amina Bibis Mann ist einer von 13 Aufrührern, die Ende August immer noch im Gefängnis in Dasna saßen. Ihr Prozess soll noch in diesem Jahr stattfinden.

Bereits 2001 verabschiedete die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ein erstes Übereinkommen zum Schutz von Hausangestellten,4 deren Zahl zwischen 1995 und 2011 weltweit um 60 Prozent gestiegen ist. Doch eine Ausbildung nach dem Vorbild des rund um die Uhr verfügbaren Dienstmädchens, wie in manchen europäischen Ländern teilweise noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts üblich, wäre für die Verhältnisse im heutigen Indien zu teuer.

Die Millionen indischen Hausangestellte, die meist in mehreren Haushalten arbeiten, kommen aus wenig entwickelten Provinzen wie Bihar, Jharkhand, Uttar Pradesh, Assam oder Westbengalen. Hauptgrund für den Exodus ist die Armut in den ländlichen Gebieten. Hinzu kommt, ähnlich wie in Zentralasien, die enorme Belastung, die eine Heirat für die Familie der Braut bedeutet, weil sie nicht nur eine Mitgift aufbringen, sondern auch alle Feierlichkeiten bezahlen muss.

Die Marxistin Savita will nicht auf ihren Koch verzichten

Quelle   :    Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen

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Grafikquelle     :

Greenery surrounded by skyline’s of nehru place.

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