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Alarmierender Populismus

Erstellt von DL-Redaktion am Donnerstag 3. August 2023

Eine „Alternative für Deutschland mit Substanz“.

Rathaus 2007

Von Minh Schredle

CDU-Chef Friedrich Merz nennt seine Partei eine „Alternative für Deutschland mit Substanz“. In Stuttgart kopieren die Christdemokrat:innen Inszenierungsstrategien von rechtsaußen und wollen jetzt keine Geflüchteten mehr aufnehmen. Obwohl sie wissen, dass die Stadt das gar nicht entscheiden kann.

Im Amtsblatt der Landeshauptstadt frohlockt die AfD, die „Stuttgart Altparteienfront“ habe „in Sachen unbegrenzter Flüchtlingsaufnahme Risse bekommen“. Wie nicht anders zu erwarten, wenn sich rechte Populisten zu Wort melden, enthält ein einzelner Satz eine Menge Unsinn. Angesichts der buchstäblich tödlichen Migrationsabwehr, mit der Europa seine Außengrenzen vor dem Andrang Schutzsuchender bewahrt, braucht es erstens eine Menge Chuzpe, noch immer das Gerücht von unkontrollierter Zuwanderung oder gar „unbegrenzter Flüchtlingsaufnahme“ zu bemühen. Und zweitens setzt es eine beneidenswerte Kreativität voraus, in der Stuttgarter Kommunalpolitik eine „Altparteienfront“ herbeizufantasieren. Eigentlich genügt ein Blick in den Gemeinderat und wie dort eine Diskussion über die angemessene Höhe von Parkgebühren zum ideologisch aufgeheizten Grundsatzkonflikt zwischen Linken und Liberalen, Grünen und Konservativen ausufern kann.

Zutreffend ist allerdings, dass ein bislang humanitärer Konsens seit vergangener Woche nicht mehr gilt. Als sich Stuttgart im April 2020 unter dem Eindruck der desaströsen Bedingungen im Massenlager von Moria zum „Sicheren Hafen“ für Geflüchtete erklärte, war die CDU zwar dagegen und der heutige Bundestagsabgeordnete Maximilian Mörseburg unterstellte im Namen der Fraktion: „Wer die Legalisierung von Flüchtlingswegen über das Mittelmeer fordert, der lässt dabei außer Acht, dass er damit auch das Geschäft der Schlepper betreibt.“ Damals war es für ihn aber zumindest noch „vollkommen selbstverständlich, dass Deutschland weiter Menschen auf der Flucht aufnimmt“. Heute sieht das anders aus. Alexander Kotz, Fraktionsvorsitzender der CDU im Stuttgarter Rathaus, hält die „Belastungsgrenze hinsichtlich der Integrationsmöglichkeiten und der sozialen Infrastruktur in unserer Stadt“ für erreicht. Den Bau neuer Flüchtlingsunterkünfte in Stuttgart lehnt seine Partei daher ab.

Nun gehört das Wissen um die Zuständigkeiten bei der Unterbringung von Geflüchteten zu den Grundkenntnissen kommunalpolitischer Arbeit. Die Stadt Stuttgart hat keinerlei Entscheidungskompetenz darüber, ob und wie viele Geflüchtete sie aufnimmt. Nach einem Vorschlag der Verwaltung sollen an fünf Standorten 950 neue Plätze geschaffen werden. Und CDU-Oberbürgermeister Frank Nopper kommentiert die Forderung der CDU-Fraktion: „Wir sehen keine rechtliche Möglichkeit, dass die Landeshauptstadt Stuttgart die Aufnahme von Flüchtlingen verweigert.“ Die Alternative zum Bau neuer Unterkünfte sei daher „die Belegung von Turn- und Versammlungshallen oder von anderen öffentlichen Einrichtungen – was wir Ihnen nicht empfehlen können“.

In ihrer Pressemitteilung zur „Integrationsgrenze“ schreibt die CDU-Fraktion hingegen: „Für uns ist die Unterbringung nicht nur eine Frage der Quantität, eben gerade nicht nur Raum und Bett, sondern auch der Qualität. Es geht vor allem um das soziale Miteinander und die Integration in unsere Gesellschaft.“ Wie passt das zu einem Abstimmungsverhalten, das auf Notunterkünfte und Massenlager in Turnhallen hinausläuft und damit Schulsport verhindern würde? Eine Anfrage der Redaktion, ob diese Variante wirklich bevorzugt wird, lässt der Fraktionsvorsitzende Kotz unbeantwortet, auf ein Gesprächsangebot reagiert er nicht.

Wahlkampfmanöver statt Sachpolitik

Viel spricht dafür, dass es der CDU mit ihrer Verweigerungshaltung weniger um lösungsorientierte Sachpolitik geht als um ein Wahlkampfmanöver, das auf mangelhafte politische Bildung der Allgemeinbevölkerung setzt. „In der Konkurrenz um die Öffentlichkeit haben Politiker Professionalität in der Platzierung und Inszenierung von Ereignissen wie auch in der Sachinformation entwickelt. Im Verlauf dieser Metamorphose wandelt sich sachbezogene, auf verbindliche Entscheidungen bezogene Politik zunehmend in symbolische Politik“, lautete eine Diagnose aus dem bereits 1995 erschienenen „Bericht zur Lage des Fernsehens“, den Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Auftrag gegeben hatte. Der politische Auftritt verlange zudem „darstellerische Qualitäten, die in keinem notwendigen Zusammenhang zu politischen Leistungen stehen, aber über den politischen Erfolg entscheiden“, während umgekehrt „politische Leistungen [verblassen], sobald das Talent zur Media Performance fehlt“.

Anknüpfend daran schrieb der Politikwissenschaftler Thomas Meyer 2004 in einem Essay: „Die Regeln der medialen Politikdarstellung – unterhaltsam, dramatisierend, personalisiert und mit Drang zum Bild, allesamt der Darstellungskunst des Theaters entlehnt – greifen auf das politische Geschehen selbst über.“ Dabei vollziehe sich ein folgenreicher Rollenwechsel: „Während in der Parteiendemokratie die Medien die Politik beobachten sollen, (…) beobachten in der Mediendemokratie die politischen Akteure das Mediensystem.“ Entscheidend sei dabei die Frage, „ob das, was es dabei zu besichtigen gibt, noch Information über Politik, einen Einblick in ihr tatsächliches Geschehen erlaubt und auf diesem Wege mündige Entscheidungen über sie möglich macht“.

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Zwei Jahrzehnte nach Meyers Ausführungen haben sich die benannten Tendenzen nicht nur verschärft. Mit dem heutigen Stellenwert sozialer Netzwerke haben sich ganz neue Inszenierungsmöglichkeiten ergeben. Nicht nur weil Würdenträger auf Tiktok herumhampeln, um am Puls der Jugend zu bleiben. Sondern insbesondere, weil es inzwischen bedeutend leichter ist, politische (Pseudo-)Inhalte zu verbreiten, ohne dabei auf das Fernsehen oder eine Zeitung angewiesen zu sein.

Die AfD hat sehr früh erkannt, wie sich die Mechanismen der Mediendemokratie ausnutzen lassen – und ihr Wahlvolk scheint sich von der phänomenal schlechten Performance der Partei in den Parlamenten nicht wirklich abschrecken zu lassen. Für die Inszenierung hingegen ist Realität mitunter völlig unerheblich. Diese Strategie, für die der Tatsachenbezug zweitrangig ist, hat für die Stuttgarter CDU offenbar Vorbildcharakter. Als es im November 2022 große Aufregung um Tampon-Spender auf den Herrentoiletten des Stuttgarter Rathauses gab, versuchte die konservative Fraktion einen Beschluss zu skandalisieren, für den sie selbst gestimmt hatte. „Wir machen uns bundesweit zum Gespött“, sorgte sich damals Stadtrat Kotz. Jüngst erließ die Verwaltung unter Oberbürgermeister Nopper eine Allgemeinverfügung gegen Klimakleber, die verbietet, was bereits verboten ist – aber einen entschiedenen Einsatz im Sinne der Autofans vorgaukelt. Und im Fall der Flüchtlingsunterbringung tut die Stuttgarter CDU nun so, als ob sie etwas verweigern könnte, das sie nicht verweigern kann.

Kirchen gegen die CDU

Quelle           :           KONTEXT-Wochenzeitung-online         >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

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