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Af­gha­n*in­nen in der Türkei

Erstellt von Redaktion am Freitag 29. Oktober 2021

Flucht in die Perspektivlosigkeit

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Von Marianne Sievers und Florian Barth

Zehntausende Geflüchtete aus Afghanistan leben in der Türkei. Aktuell blüht das Schleppergeschäft wieder. Viele landen in der Illegalität.

Aman ist müde, als wir ihn nach Einbruch der Dunkelheit in einem staubigen Stadtpark in Istanbul treffen. Seit er aus Afghanistan geflohen ist, schuftet er für einen Hungerlohn. „Ich arbeite schwarz, zwölf Stunden am Tag, und mache Hosen kaputt“, erzählt der 22-Jährige, „für 100 Lira.“ Auf einem Video, das er auf seinem Handy zeigt, schmirgelt er Jeans ab. So gibt er neuer Kleidung den angesagten „used look“.

Viele der Af­gha­n*in­nen in der Türkei sind nicht erst nach der Machtübernahme der Taliban im August, sondern schon vor Jahren vor den Islamisten geflohen. Aman kam vor drei Jahren ins Land. Nach UN-Angaben sind knapp 130.000 Af­gha­n*in­nen in der Türkei registriert, doch die Zahl derer, die sich illegal aufhalten, dürfte weitaus höher sein. Die türkische Regierung spricht von etwa 500.000 Af­gha­n*in­nen im Land.

Obwohl sie in der Türkei Geflüchtete dritter Klasse sind, zwingt die Armut viele, im Land zu bleiben. Registrieren lassen können sich die Af­gha­n*in­nen zwar, doch ist dies nicht einfach: „Kayseri zum Beispiel hat die Registrierungsbüros geschlossen, nachdem Kabul eingenommen wurde“, sagt Ali Hekmat von der NGO Afghan Refugees Solidarity Association. In Ankara, Istanbul, Izmir und Antalya könnten sich Flüchtlinge schon seit Jahren nicht mehr registrieren lassen. Diejenigen, die es dennoch schaffen, bekommen lediglich eine Aufenthaltsgenehmigung. Arbeiten dürfen sie, anders als die Sy­re­r*in­nen, nicht.

Wie Aman sind auch Usman und seine Freunde Yasin und Enyat schwarz in der Istanbuler Kleidungsindustrie untergekommen. Auch sie treffen wir in dem kleinen Stadtpark, einer Mischung aus Beton, Spielplatz und ausgetrockneten Rasenflächen. Die drei sind neu in der Metropole am Bosporus. Kurz vor der Eroberung Kabuls sind sie vor den Taliban geflohen.

In Usmans Heimatstadt nahe der pakistanischen Grenze hatten die Taliban da schon längst die Kontrolle übernommen. Zu Fuß durchquerten die drei Freunde den Iran und schafften es nach mehr als 30 Tagen über die Grenze in die türkische Provinz Van. Über 1.000 US-Dollar zahlten sie pro Kopf für den beschwerlichen Weg, den sie mit Hilfe eines Schmugglers zurücklegten.

Die Türkei baut eine Mauer

Seit dem Machtwechsel in Kabul blüht das Geschäft der Schlepper. „Allein innerhalb Afghanistans haben sich die Preise für Busse an die iranische Grenze fast verdoppelt“, erklärt der türkische Migrationsforscher Hidayet Sıddıkoğlu, der in Kabul zu afghanischen Binnenvertriebenen forscht. Während Tausende Menschen täglich versuchen, in die Türkei zu gelangen, rüstet das türkische Militär auf. Mit Drohnen, Stacheldraht, Grenztürmen und einer sich noch im Bau befindlichen Grenzmauer zum Iran versucht Ankara sich abzuschotten.

„Wir werden unsere Arbeiten intensivieren und klarmachen, dass unsere Grenzen unüberwindbar sind“, gab der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar kürzlich in einem Interview zu verstehen. Die Bauarbeiten laufen auf Hochtouren. Insgesamt sollen 295 Kilometer Mauer gebaut werden. Laut dem britischen Guardian sollen für den Schutz der östlichen Grenze auch EU-Gelder zur Verfügung gestellt werden. So wurde auch bereits der Bau einer Mauer an der türkischen Grenze zu Syrien mitfinanziert.

„Die Menschen legen ihr Leben in die Hände von Schleppern und haben keine Angst vor irgendeiner Mauer“, sagt Migrationsforscher Sıddıkoğlu, „der Mauerbau wird die Migration verstärken, weil die Menschen aufbrechen werden, bevor die Grenze komplett geschlossen ist.“

Nachdem Usman, Yasin und Enyat es über die gut gesicherte Grenze geschafft hatten, nahmen sie von der Provinz Van aus den Landweg. Wie die meisten durchquerten sie die karge Region schnell weiter Richtung Westtürkei. Dort ist unter anderem die Aussicht auf Arbeit in einer der Großstädte besser.

Als wir Usman, Yasin und Enyat das erste Mal treffen, verlassen sie gerade einen Barbershop. Die jungen Männer leben wie Aman, der für einen Hungerlohn Hosen kaputt macht, im Stadtteil Küçükköy, der bekannt ist für seinen Arbeiterstrich. Auch alle anderen Afghanen, die wir im nahegelegenen Park treffen, arbeiten schwarz in der Kleidungsindustrie. Dort finden sie schnell einen Job. „Die erste Phase der Flucht endet in der Türkei, die Menschen bleiben hier und arbeiten, verdienen etwas Geld und ziehen weiter“, erklärt Sıddıkoğlu.

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Eine langfristige Perspektive aber bietet die Türkei für sie nicht. Af­gha­n*in­nen werden ausgebeutet, bekommen einen Bruchteil des Gehalts eines türkischen Arbeiters. Die türkische Wirtschaft befindet sich schon seit Jahren in einer Krise. Die Inflationsrate lag im September bei fast 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Die Preise für Grundnahrungsmittel steigen, was vor allem die Mittellosen trifft.

Er verdiene 30 Lira pro Tag, umgerechnet 2,70 Euro, erzählt der 17-jährige Enyat. Sechs Tage die Woche arbeite er in der Kleiderfabrik. Die Nachtschichten gehen von zwanzig Uhr bis drei Uhr morgens. Das Geld reicht gerade für das Nötigste. Mit elf anderen Afghanen teilt er sich eine kleine Wohnung.

Aman erzählt, er schicke den Großteil seines Gehalts zu seiner Familie nach Afghanistan. Von dem was übrig bleibt, zahle er seine Miete. Schlussendlich habe er am Tag 2,30 Euro um zu überleben. „Wenn davon noch etwas übrig ist, spare ich es für den Schmuggler in die EU.“ Auch er will auf Dauer nicht in der Türkei bleiben.

Er habe zuletzt versucht vor einem Jahr weiterzukommen, sagt Aman. „Ich war kurz vor Thessaloniki. Die griechische Küstenwache hat unser Boot auf dem offenen Meer zurückgedrängt.“ Laut Menschenrechtsorganisationen sind diese illegalen Pushbacks kein Einzelfall. Sie verstoßen gegen die EU-Grundrechts-Charta und die Genfer Flüchtlingskonvention.

Quelle        :       TAZ-online          >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

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Unten      —       Refugee father and baby with Keerfa signs in a baby carriage, the signs read ‚Beat the Neo-Nazis.

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