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RENTENANGST

Ära der Konterrevolution

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 6. Juli 2022

Von Putin bis zum Obersten Gerichtshof in den USA

Ein Schlagloch von Robert Misik

Radikalkonservative Freiheitsfeinde machen sich daran, die Uhren der Welt zurückzudrehen. Orban, Salvini und Kurz sind Teil der globalen konter­revolutionären Bewegung, so wie Elon Musk und Peter Thiel – wo bleiben die anderen Trolle aus Deutschland?

Abendnachrichten im Fernsehen gleichen mehr und mehr einem Horrorfilm. Aber bei Dracula, Zombie und Co. ist es ein flüchtiger Schauer, weil Fiktion. News-Shows dagegen sind heute eine Direktübertragung vom Weltuntergang: Krieg in der Ukraine, Liveschaltung zum Massaker des Tages.

Danach wird schnell zur Innenpolitik gewechselt: Im Herbst kann das Gas ausgehen. Möglicherweise bleiben die Wohnungen kalt und die Fabriken werden abgestellt. Nächste Schaltung: Italien. Da trocknen die Flüsse aus, die Behörden können sich gerade noch aussuchen, ob sie die Stromproduktion stoppen oder doch besser die Bewässerung der Landwirtschaft. Womit wir schon bei der nächsten Krise wären: Putins Krieg provoziert eine globale Hungerkatastrophe. Trockenheit, Hitzewellen schon im Juni, Wassermangel, und ganze Wochen, während derer es in den Straßenschluchten der Städte kaum mehr auszuhalten ist.

All das macht etwas mit uns. Ein Geist der Dystopie legt sich über alles. Aber das sind nicht einmal die korrekten Begriffe. Tief in die Psyche schleicht sich Panik, Gereiztheit und Hilflosigkeit ein. Diese Angst lähmt, gerade in einer Zeit, in der man eigentlich handeln müsste.

All das ist teils direkt, teil mittelbar verbunden mit einer Ära der globalen Konterrevolution, in der rechtsextreme Bewegungen und konservative Revolutionäre alle Errungenschaften zurückdrängen wollen, die in den letzten 50, 60 Jahren erkämpft worden sind. Wir haben uns für diese neue Form der Reaktion alle möglichen Begriffe ausgedacht – Regression, populistische Revolte, was auch immer –, aber im Grunde ist es eine klassische, waschechte Gegenrevolution, die nicht einfach so geschieht, sondern die von Konterrevolutionären vorangetrieben wird. Diese Begriffe aus dem Geschichtsbuch wirken ja manchmal etwas angestaubt, aber die Flucht in neue Begrifflichkeiten ist oft auch eine ins Wolkenkuckucksheim.

Konterrevolution also. Die vergangenen 50, 60 Jahre haben global durchaus widersprüchliche Entwicklungen gebracht, mit allen Ambi­gui­täten: Das Wachstum der Ungleichheiten in den reichen Ländern gehört genauso dazu wie die Entwicklung von relativ wohlhabenden Mittelschichten in einst armen Ländern, der ehemaligen Dritten Welt. Es gibt neue Ungerechtigkeiten und ökonomischen Stress, zugleich aber auch den Aufstieg von Milliarden Menschen aus bitterer Armut in neue Wohlstandslagen. Das ist die ambivalente, ökonomische Seite des neoliberalen Kapitalismus.

Wenn die Politik als die Master auf Desaster ihre Mörder einsetzen konnten, fühlten sie sich immer stark. Wo die Zeiten vergehen bleiben Regierungen stehen.

Im Westen hatten wir seit den 1960er Jahren die Aufstiegskulturen der sozialen Wohlfahrtsstaaten, aber auch massive Freiheitsgewinne. Konformitätsdruck löste sich auf, einfach, weil die Lebenskulturen im Alltag viel heterogener wurden und weil sich ein Liberalismus des „Leben und leben lassen“ durchsetzte. Diversität ist in jeder möglichen Hinsicht heute viel akzeptierter als noch vor 20 Jahren. Frauenemanzipation, zunehmend gleiche Lebenschancen gehören zu diesen Fortschritten, liberalere Abtreibungsregelungen, und auch ein Konsens darüber, dass bestimmte „Gewohnheiten“, die lange als normal angesehen wurden, einfach nicht mehr gehen – diese ganze MeToo-Kiste, salopp gesagt. Dazu: gleichgeschlechtliche Ehen und Partnerschaften (vor 15 Jahren nahezu undenkbar) und eine selbstverständlichere Akzeptanz von ethnischer Heterogenität.

Natürlich gibt es noch unendlich viel Diskriminierung und Rassismus, aber man muss nur Wertestudien des Jahres 1990 mit jenen aus jüngster Zeit vergleichen, dann sieht man – da liegen überall Welten dazwischen. In Ost- und Mitteleuropa setzten sich nach 1989 stabile (manchmal auch labile) Demokratien durch. Weite Teile der Welt, nicht zuletzt Lateinamerika, erlebten eine regelrechte Woge der Demokratisierung, gesellschaftlicher Liberalisierung und Modernisierung.

Linke neigen ja dazu, diese Fortschritte zu übersehen, einige wegen einer gewissen stalinoid-autoritären Schlagseite („ist doch nur bürgerliche Demokratie“), häufiger aber auch wegen einer kritischen Grundmentalität. Da man stets – und mit gutem Recht – den Status quo kritisiert, übersieht man gelegentlich, dass es schon genug gibt, was auch wert ist, verteidigt zu werden.

Quelle       :        TAZ-online           >>>>>         weiterlesen

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