Erstellt von DL-Redaktion am Mittwoch 8. Dezember 2021
Die kuriose Merkel-Verehrung der Linken

Fackeln für Merkel sind gut – Fackeln in Sachsen sind Feuer der Nazis ? Es kommt immer auf die Kriegseinsätze an.
Lob für die Verdienste der scheidenden Kanzlerin? Klar, eine Frage der Höflichkeit eben. Ausgerechnet unter Linken steigert sich dieses nostalgische Seufzen in eine erstaunliche Verehrung von Angela Merkel. Was ist da los?
Es begann schon vor Monaten. Vor über einem Jahr, als klar wurde, dass Angela Merkel keine fünfte Amtszeit anstrebt, ging es los mit den großen Gefühlen. »Wir werden Merkel noch vermissen«, hörte man. Oft in Kombination mit dem Satz: »Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage.«
Es waren keine Konservativen und keine CDU-Mitglieder, die das sagten. Es waren Leute, die ich vorher als stabile Antifa eingeschätzt hätte, als Linke, als Feminist*innen.
Erst waren es nur vereinzelte Statements, ein leises Seufzen hier und da, vorauseilende Nostalgie gewissermaßen, und ich dachte mir, na gut, die Pandemie hat uns alle irgendwie zu komischen Vögeln gemacht. Aber dieses sehnsuchtsvolle Seufzen, dieses eigenartig liebevoll-melancholische »ach, Merkel, wir werden sie vermissen« steigerte sich mit der Zeit, bis man heute, an Merkels vermutlich letztem Tag im Amt, sagen kann: Unter Linken hat sich eine absolut kuriose Merkel-Verehrung breit gemacht. Sagt mal, Leute, spürt ihr noch was? Reißt euch mal zusammen.
Dass Politiker*innen, die mit Merkel zusammengearbeitet haben, jetzt ihre Verdienste loben: geschenkt. Eine Frage der Höflichkeit. Abschied mit Respekt: ja klar. Dass Journalist*innen mitunter zu dem Schluss kommen, dass Merkel »uns« fehlen wird: eigenartig, aber im Rahmen des Möglichen. Im Sommer, während der Flutkatastrophe, hieß es auf »t-online«, es lasse sich »besser denn je prognostizieren, dass wir alle Angela Merkel noch schmerzlich vermissen werden«. Wer »wir alle« sind und warum so »schmerzlich« – unklar.
Laut einer Umfrage des Insa-Instituts sind rund 60 Prozent der Deutschen mit Merkels Arbeit zufrieden. 47 Prozent sagen, dass sie sie vermissen werden. Unter diesen 47 Prozent sind, wenn man sich so umhört, haufenweise Leute, die sie nie gewählt haben.
»Ich werde sie vermissen« – wenn Leute das sagen, okay, mag sein. Aber oft genug heißt es nicht »ich werde…«, sondern »wir alle werden sie noch vermissen«, mit einem so sicheren Unterton, als sei das einfach klar. Auf Twitter gab es vor ein paar Tagen über 13.000 Likes für den Witz eines »heute-show«-Autors: »Letzte Amtshandlung«, schrieb er, und dazu zwei Fotos, auf denen Angela Merkel Andi Scheuer die Hand gibt und lacht: »Ach, übrigens, was ich noch sagen wollte… Du bist gefeuert!« – Ja, witzig. Witziger wäre gewesen, sie hätte Andi Scheuer wirklich rausgeworfen und Jens Spahn gleich mit. In der Abschiedsfeier Merkels mischen sich Dinge, die sie getan hat, mit Dingen, die sie nie getan hat.
Simone Schmollack nannte Merkel in der »taz« »die heimliche Revolutionärin«: Sie habe »der Gesellschaft ein Update verpasst«, auch wenn sie »die Modernisierung nicht bewusst forciert« habe, »sie ließ sie eher geschehen«. Äh, ja, … danke Merkel, sehr großzügig.
In einem anderen »taz«-Text hieß es: »Ihren Stil – preußisch, sachlich, ironisch – werden wir vermissen. Ihre Politik nicht.« Immerhin mal eine Differenzierung. Denn die meisten, die Merkel »jetzt schon vermissen« oder erklären, dass »wir alle« sie noch »sehr vermissen« werden, erklären nicht sehr gründlich, warum genau.
Ja, warum? Sicher, bei einigen wird es an 2015 und »wir schaffen das« liegen. Aber sonst? Was werden wir vermissen? Was ist es, was da so abgekultet wird? Die Tatsache, dass Merkel wider besseres Wissen eine angemessene Klimapolitik verhindert hat? Dass sie gegen die Korruption in ihrer Partei nicht wirklich etwas unternommen hat? Dass am Ende ihrer Regierungszeit in Deutschland immer mehr Leute in Armut leben, vor allem Kinder und alte Menschen? Dass Merkel bezüglich des Adoptionsrechts für Homosexuelle erklärte, »dass ich mich schwertue mit der völligen Gleichstellung«? Und dass sie gegen die »Ehe für alle« stimmte? Dass sie von Frauenquoten nie was hielt, auch wenn sie dann – recht spät – irgendwann erklärte, Parität erscheine ihr »einfach logisch«? Dass sie Seehofers rassistische Ausfälle hinnahm? Dass die Aufklärung der NSU-Verbrechen unter ihrer Regierung nicht sehr weit kam? Dass trotz ihres »wir schaffen das« weiterhin an den europäischen Außengrenzen so unfassbar viele Menschen sterben? Oder sind es die Rüstungsexporte an Diktaturen? Das Desaster in Afghanistan?
Erfolgreiche Frauen sind nicht automatisch Feministinnen

Nein, natürlich nicht, werden jetzt manche sagen, aber immerhin hat sie gezeigt, dass eine Frau Bundeskanzlerin sein kann, ein leuchtendes Vorbild… so so. Ein so leuchtendes Vorbild, dass am Ende ihrer Kanzlerinnenschaft der Frauenanteil im Bundestag bei unter einem Drittel lag. Was für eine feministische Ikone. Frauen verdienen immer noch weniger als Männer, Alleinerziehende sind weiterhin überdurchschnittlich oft von Armut betroffen, Abtreibung ist immer noch nicht legalisiert, Gewalt gegen Frauen allgegenwärtig.
Es wird gern betont, dass Merkels Weg mit den politischen Leichen der von ihr ausgebooteten Männer nur so gepflastert ist, aber was hat sie für Frauen getan, außer selbst eine Frau zu sein? Nicht viel.
Merkel hinterlässt in ihrer Partei ein Trümmerfeld voller zerschellter Männeregos, von den Frauen kandidiert keine für den Vorsitz. Klar kann man sich als Linke auch darüber amüsieren, dass die CDU so dermaßen am Abgrund steht, aber es ist eben auch ein Beweis dafür, dass mächtige Frauen nicht notwendigerweise andere mächtige Frauen nachziehen.
Quelle ; Spiegel-online >>>>> weiterlesen
Grafikquellen :
Oben — Großer Zapfenstreich zum Anlass des fünfzigsten Gründungstages der Ramstein Air Base (2002)
Erstellt am Mittwoch 8. Dezember 2021 um 13:15 und abgelegt unter Bücher, Feuilleton, P. DIE LINKE, Positionen.
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