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Abschaffung der Sklaverei

Erstellt von Redaktion am Montag 17. Oktober 2022

Stimmen abolitionistischer Theoretiker*innen und Aktivist*innen

Datei:Black Lives Matter in Stockholm 2020.jpg

Quelle     :     Untergrundblättle – CH

Von    :    Jonathan Eibisch

In ihrem Sammelband zu Abolitionismus veröffentlichen Vanessa E. Thompson und Daniel Loick 21 wertvolle Beiträge vornehmlich Schwarzer Aktivist*innen und politischer Theoretiker*innen.

Damit importieren sie eine wichtige Debatte in den deutschsprachigen Kontext, die durch die Black-Lives-Matter-Bewegung inzwischen eine breitere Öffentlichkeit gewonnen hat.

Überwachen und Wegsperren als Programm

Im Grunde ist es leider so einfach: Mit der Durchsetzung der neoliberalen Form des Kapitalismus seit den 1970er-Jahren ging ein massiver Abbau sozialstaatlicher Absicherung und öffentlicher Infrastruktur mit dem Ausbau des Polizeiapparates, des gefängnisindustriellen Komplexes sowie verstärkter Kriminalisierung von Bagatelldelikten einher. Statt sich nach den vermeintlich besseren Zeiten des Nachkriegswirtschaftsbooms und keynesianistischen Wohlfahrtsstaates zurückzusehnen, ist es an der Zeit, danach zu fragen, wem das staatliche Polizieren – Überwachung, Kontrolle und Reglementierung der Bevölkerung – überhaupt dient.

Machen wir uns nichts vor: Auch und gerade in der BRD fällt es den allermeisten Menschen äußerst schwer, sich die Abschaffung von Polizei, Gefängnissen und Justizwesen vorzustellen. Dass der Rassismus in seinen verschiedenen Facetten als strukturelle Ausgrenzungs- und Diskriminierungsform überwunden werden muss – und kann –, ist für viele ebenfalls schwer zu begreifen. Gerade deswegen lohnt es sich, unseren Blick darauf zu richten, was es aus anarchistischer Sicht anzustreben gilt: Die Überwindung des Staates, angefangen bei der Abschaffung seiner repressiven Instanzen, welche durch selbstorganisierte Institutionen zur Gewährleistung von Sicherheit und zur Herstellung von Gerechtigkeit ersetzt werden sollen. Antirassismus, Gefängnisabschaffung und Polizeikritik

Was wie eine weltfremde Spinnerei wirken könnte, wird in US- amerikanischen Aktivist*innen- Kreisen aus Notwendigkeit heraus seit geraumer Zeit diskutiert. Statt liberalen Reformprojekten nachzugehen, versuchen jene, die Probleme bei der Wurzel fassen – und zugleich pragmatische Veränderungen zu erkämpfen. Und dies ist durchaus sinnvoll, denn worauf es ankommt, ist die Perspektive, die wir auf die Gegenwartsgesellschaft und auf Ansatzpunkte für ihre emanzipatorische Veränderung entwickeln.

Beim Abolitionismus werden Antirassismus, Gefängnisabschaffung und die Kritik an der Polizei miteinander verknüpft gedacht. Ausgehend von der Feststellung, dass es eine Kontinuität von der historischen Versklavung zur massenhaften Inhaftierung verarmter Schwarzer und der übermäßigen Polizeigewalt gegen sie gibt, wird z. B. offensichtlich, dass bei Morden durch Polizist*innen struktureller Rassismus am Werk ist. Insbesondere arme Schwarze Menschen werden im öffentlichen Bewusstsein als per se kriminell vorverurteilt. Dazu tragen auch Nachrichten und Film bei, die ein völlig verzerrtes Bild von alltäglicher Polizeiarbeit produzieren.

In Wirklichkeit beruht der moderne kapitalistische Staat auf Rassismus, ebenso wie die Klassengesellschaft ihn befördert (auch wenn die rassistisch ausgetragene Konkurrenz der Lohnarbeiter*innen nicht der einzige Faktor für Rassismus ist). Daher gilt es, die Forderung nach Emanzipation ernstzunehmen, die gesamtgesellschaftliche Entwicklung am Stand der Emanzipation diskriminierter sozialer Gruppen zu messen und solidarisch deren Perspektive einzunehmen. Nachweislich steht die umfassendere Inhaftierung der als „gefährliche Klassen“ gerahmten Bevölkerungsgruppen in keinem Zusammenhang mit einer Absenkung der statistischen Kriminalitätsrate, sondern befördert im Gegenteil soziales Elend und Gewalt in den betroffenen communities. Gefängnisse führen in fast keinem Fall zur „Besserung“ von gewalttätigen Personen. Stattdessen entziehen sie der Gesellschaft enorme finanzielle Ressourcen, welche daher nicht für die Behebung von sozialen Problemen (z. B. übermäßiger Gebrauch von Drogen und der Handel damit, miserable Wohnverhältnisse, patriarchale Gewalt, mangelnde Bildungsmöglichkeiten) eingesetzt werden können.

Was die Polizei als Institution angeht, ist deren Funktion zur Verbrechensbekämpfung eher ein Nebenprodukt zu ihrer Legitimation gegenüber liberaler Kritik. Bei ihrer Entstehung ab Anfang des 19. Jahrhunderts bestanden die Kernaufgaben von kommunalen Polizeidepartements darin, Unruhen systematischer und effektiver niederzuschlagen, als es das Militär konnte, Streiks zu brechen, rebellische Stadtviertel durch Bestreifung in Schach zu halten und Oppositionelle zu überwachen und zu bedrohen. Allein aus diesen Gründen ist die Herangehensweise, diese repressiven Staatsapparate zu überwinden und ihnen die Ressourcen zu entziehen, ein nachvollziehbarer Ansatzpunkt für Gruppen von Betroffenen und für eine radikale Kritik an der bestehenden Herrschaftsordnung. Seit einiger Zeit widmen sich dem auch Gruppen in Deutschland. (1)

Aspekte einer anarchistischen Theoriebildung

Im Sammelband werden kürzere Beiträge von Aktivist*innen wie Angela Davis, Mumia Abu- Jamal oder Che Gosset mit ausführlichen theoretischen Texten, etwa von Alex S. Vitale, Amna A. Akbar oder Allegra M. McLeod, abgewechselt. Letztere sind dabei auch Professor*innen für Rechtswissenschaften, Soziologie oder Politikwissenschaften. Mit der Zusammenstellung und dem Stil der jeweiligen Beiträge wird versucht, eine Brücke zwischen abolitionistischem „Aktivismus“ und der theoretischen Unterfütterung und Reflexion dieses Ansatzes für soziale Bewegungen zu schlagen. Wer sich über die täglichen Erfahrungen mit Polizeigewalt, rassistischer Diskriminierung und dem Elend der Gefängnisgesellschaft hinaus mit deren Entstehung, Funktionsweise und Logiken auseinandersetzen möchte, findet im Reader reichlich Material.

Die entwickelten Theorien dienen damit als Werkzeugkiste zur Bestärkung, Fundierung, Legitimierung und Vernetzung einer ganzen Sammlung unterschiedlicher abolitionistischer Bestrebungen – von lokalen Black- Lives-Matter-Gruppen, die sich für Gerechtigkeit nach Morden durch Polizist*innen einsetzen, über anarchistische Anti-Gefängnis-Initiativen, community organizing in Gemeinschaften marginalisierter sozialer Gruppen bis hin zur zivilgesellschaftlichen antirassistischen Bildungsarbeit. Wie engagiert auch immer kritische Intellektuelle dabei sind – eine dynamische, langfristige und selbstorganisierte soziale Bewegung lässt sich nicht einfach herbeischreiben. Doch was die Autor*innen in ihren jeweiligen Beiträgen verdeutlichen, ist, dass jenen eine Stimme gegeben werden muss, welche schon lange unterdrückt und zum Schweigen gebracht werden.

Die Themenwahl, Perspektive und die eigene Positionierung sind daher keineswegs selbstverständlich für Akademiker*innen. Dies sollte auch eine Inspiration für den deutschsprachigen Kontext sein, in welchem sich kritisch eingestellte Intellektuelle viel deutlicher äußern sollten. Wissenschaft in Bezug auf eine soziale Bewegung engagiert zu betreiben und die dabei erzeugten Erkenntnisse in jene zurückfließen zu lassen, ist jedenfalls eine Theoriebildung im anarchistischen Sinne. Sie kann auch jenseits von staatlichen Universitäten stattfinden, wie dieser Sammelband zeigt.

Libertär-sozialistische Transformationsbestrebungen

„Nicht-reformistische Reformen“ ist das Stichwort, an welchem sich Verfechter*innen abolitionistischer Ansätze in einer Suchbewegung entlanghangeln. Damit beschreiben sie meines Erachtens einen pragmatischen Anarchismus. Mit diesem wird auf das entfernte – aber durchaus plausible und begründbare – Ziel der Abschaffung und Ersetzung von Gefängnissystem, Polizei und Justizwesen hingearbeitet, während im selben Zuge konkrete Verbesserungen innerhalb der bestehenden Institutionen angestrebt werden. Dass uns die Überwindung der repressiven Staatsapparate als „utopisch“ erscheint, liegt in den Kräfteverhältnissen und der Beständigkeit von Herrschaftsideologie und ihrer Profiteur*innen und keineswegs in der Sache als solcher begründet.

Selbstverständlich lässt sich Gerechtigkeit mit den entsprechenden Instrumenten und Verfahren innerhalb von selbstorganisierten communities herstellen. Auch für Sicherheit kann wesentlich besser gesorgt werden, wenn Menschen in einer Nachbar*innenschaft funktionierende und solidarische Beziehungen zueinander unterhalten, statt sich aufgrund von Gewalt und Elend gegenseitig zu misstrauen und anzufeinden. Dies bedeutet mitnichten, dass es bei Abschaffung des staatlichen Überwachens, Strafens und Reglementierens keinerlei Probleme und Konflikte mehr gäbe.

Für die Annahme, dass diese sich aber anders und potenziell deutlich besser bearbeiten und lösen lassen, wenn alternative Institutionen und Verfahren entwickelt und eingeübt werden, gibt es gute Gründe. Bürger*innenhaushalte, in denen die Bewohner*innen von Stadtvierteln selbst festlegen, wofür sie ihre öffentlichen Steuergelder verwenden, sind ein Ansatzpunkt zur Umstrukturierung.

Gerade um die repressiven Staatsapparate graduell zu beschränken, zielt der Abolitionismus auf die Überwindung einer Gesellschaft, in welcher Gefängnisse überhaupt als notwendig erachtet werden. Insofern ist die „abolition democracy“ als ein Projekt zur sozial-revolutionären Gesellschaftstransformation zu begreifen. Viele der versammelten Beiträge sind dahingehend ebenso lesenswert wie das Vorwort der Herausgeber*innen.

Anmerkungen:

(1) siehe z.B. https://www.cop- watchffm.org/; https://kop-berlin. de/beitrag/neue-copwatch-gruppe-in-freiburg-gegrundet und https:// copwatchleipzig.home.blog/; https://copwatchhamburg.blackblogs.org/; http://kop-kiel.de/

Daniel Loick, Vanessa E. Thompson (Hg.): Abolitionismus. Suhrkamp Taschenbuch 2022. 619 Seiten, CHF ca. 32.00 ISBN: 978-3-518-29964-7

Zuerst erschienen in Graswurzelrevolution #472

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Grafikquellen          :

Oben      —      Black Lives Matter-Manifestation in Stockholm am 3. Juni 2020.

Verfasser Frankie Fouganthin      /       Quelle     :    Eigenes Werk KulturSthlm   /    Datum  :  3. Juni 2020

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